Aufklärende Rationalisierung: Ein Versuch, Max Weber neu zu interpretieren [1 ed.] 9783428539062, 9783428139064

Die Studie versucht, anhand ausgewählter Texte und Textpassagen Weber in neuer Weise zum Sprechen zu bringen. Weber wird

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Aufklärende Rationalisierung: Ein Versuch, Max Weber neu zu interpretieren [1 ed.]
 9783428539062, 9783428139064

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ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 107

Aufklärende Rationalisierung Ein Versuch, Max Weber neu zu interpretieren

Von Wolfgang Hellmich

Duncker & Humblot · Berlin

WOLFGANG HELLMICH

Aufklärende Rationalisierung

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 107

Aufklärende Rationalisierung Ein Versuch, Max Weber neu zu interpretieren

Von

Wolfgang Hellmich

Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 21 Alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-13906-4 (Print) ISBN 978-3-428-53906-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83906-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Studie ist die überarbeitete Fassung meiner im Wintersemester 2011 / 12 an der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität in Tübingen eingereichten Doktorarbeit. Ihr Ursprung liegt in der motivierenden Einladung von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Otfried Höffe zur Teilnahme an seinem Oberseminar. Nachdem das Studium der Politischen Wissenschaft und des Öffentlichen Rechts mehr als 20 Jahre zurückliegt, hatte ich dort Gelegenheit, die einzelnen Kapitel vorzutragen. Den anschließenden Diskussionen, vor allem den Kommentaren des Seminarleiters, verdanke ich wertvolle Hinweise. Danken möchte ich auch meinem Zweitgutachter, Herrn Privatdozenten Dr. Wolfgang M. Schröder. Ein Dankeschön geht an den Verlag Duncker & Humblot, der diese Arbeit in sein Programm aufgenommen hat, sowie an die Mitarbeiterinnen der Landesbibliothek in Stuttgart, die die eingearbeitete Literatur, darunter viele Werke immer wieder von neuem, bereitgestellt haben. Dankbar bin ich meiner Frau und meinen Kindern, die es hingenommen haben, dass diese Studie in sechsjähriger nebenberuflicher Arbeit entstehen konnte. Tübingen, im November 2012

Wolfgang Hellmich

Inhaltsverzeichnis Einleitung

Max Webers „polyphones“ Denken 

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Kapitel 1

Aufklärende Rationalisierung I. Zu einem Motiv des Denkens25

  1. Begriff der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25   2. Licht, Schatten, Blendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28   3. Wider den Substantialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31   4. „Versachlichung“ der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34   5. Antinormativer Normativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36   6. Die Eröffnung von Möglichkeitshorizonten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42   7. Lernen für die Zukunft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44   8. Übergang: zum weiteren Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Kapitel 2

Aufklärende Rationalisierung II. Zum Erfahrungshintergrund des Denkens49

 1. Polytheismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50   2. Entzauberung und Sinnkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53   3. Die „Lieblosigkeit“ der modernen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54   4. Eine alternative „Systematik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57   5. Der Intellektuelle als tragische Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58   6. Die „metaphysischen Bedürfnisse des Geistes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62   7. Defizite der Sinnkrisendiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65  8. Sinnbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69   9. Die Präsenz Nietzsches  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 10. Das Zeitalter des Zählens und Messens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 11. „Desillusionsprosa“: der Einfluss von Lukács  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 12. Kritik der „vollendeten“ Vernunft: Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

8 Inhaltsverzeichnis Kapitel 3

Pluralismus der Rationalität – die erste Konsequenz

94

1. Vernunft und Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Theorie der Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Die vermeintliche Präferenz für Zweckrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Ein wertrationaler Begriff von Zweckrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5. Die Rationalität emotionalen und traditionalen Handelns  . . . . . . . . . . . . . . . 107 6. Die Vielfalt rationalen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Kapitel 4

Pluralismus der Werte – die zweite Konsequenz 115

1. Wertbegriff und philosophischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Auf dem Weg zu einer eigenen Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Überlegungen zu einer Theorie der Werte: allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4. Überlegungen zu einer Theorie der Werte: konkret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5. Das diskursive Arrangement mit Wertekonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Kapitel 5

„Krieg der Töne“ oder Die Geburt der Rationalisierung aus dem Geist der Musik139

1. Das eigentliche Thema: Rationalisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Rationalisierung: eine Kategorie des Unbehagens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Rationalisierte Musik als Zeichen des Verfalls  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4. Die Entdeckung der Rationalität im Irrationalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5. Dialektik der Rationalisierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6. Musik und Heilsgeschehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 7. Fortschritt in der Musik und die Regression des Hörens . . . . . . . . . . . . . . . . 153 8. Rebellische Töne: der Einfluss der Musikethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 9. Webers Irrtum: Kreativität statt „Untergang“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Kapitel 6

Minissima Moralia. Zur Kritik des „parzellierten Menschentums“ in den Briefen

162

1. Die Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Ethik vs. Moral – zum Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Inhaltsverzeichnis9 3. Moralische Reflexionen – fünf Diskursfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Diskursfeld 1: „Vollmenschentum“: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Diskursfeld 2: „Ehe und Sexualmoral“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Diskursfeld 3: „Erfolgs- und Gesinnungsethik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 d) Diskursfeld 4: „Ehre und Ritterlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 e) Diskursfeld 5: „Politische Ethik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4. Die potenzierte Parzellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Kapitel 7

Weber The Would-Be Pragmatist. Untersuchung einer „Wahlverwandtschaft“187

1. Zum Begriff der „Wahlverwandtschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Das Erzählen einer „lehrreichen Geschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3. Peirce, Dewey, Schiller und James’ „Anti-Philosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4. Eine neue Fundstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5. James und Weber: vergleichende Textstellenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 6. Das pragmatistische Fundament der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 7. „Nichtphilosophische Philosophie“ im Objektivitätsaufsatz . . . . . . . . . . . . . . 213 8. Amerika als ein Fixpunkt des Denkens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 9. Ein Pragmatist vor dem Pragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Kapitel 8

Blendwerke der feinen Verführung. Max Weber über die Zukunft

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1. Die Metapher als „Substruktur des Denkens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Metaphernbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3. Zur Theorie der Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. „Moderne“ oder „Zukunft“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 5. Begriff der Zukunft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 6. Was heißt „empirisch“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 7. Zukunftserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 8. Die ewige Wiederkunft des Gleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Abkürzungen und Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Namensverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken In dieser Studie möchte ich versuchen, Max Weber neu zu interpretieren. Dies wird nur in bescheidenem Maße möglich sein. Angesichts der Vielzahl von Auseinandersetzungen mit Weber erscheint es wenig wahrscheinlich, eine Interpretation erarbeiten zu können, die einen grundlegend neuen Zugang zu Weber ermöglicht. Allerdings möchte ich in dieser Arbeit gerade auch davon wegkommen, Weber bestimmten Deutungsmustern zu unterwerfen. Es geht um eine Erweiterung, um die Eröffnung neuer und anderer Deutungshorizonte, um ein möglichst komplexes Weber-Bild entstehen zu lassen. Webers Zeitgenossen haben ihn nicht nur als eine intellektuelle Ausnahmeerscheinung wahrgenommen, sondern gerade auch sein komplexes Wesen hervorgehoben. Robert Michels, der in Turin lebende Soziologe der oligarchischen Tendenzen des Parteienbetriebs, mit dem Weber viele Jahre befreundet ist, mit dem er sich später jedoch überwirft – er zeichnet in seinem Nachruf von 1920 das folgende Bild: „Max Weber war eine sehr komplexe Natur; ein Mann strenger und exakter Wissenschaft, Gelehrter vom Scheitel bis zur Sohle, der die Wissenschaft feurig wie eine Braut liebte, Nationalökonom, Staatsrechtler, Soziologie, Religionshistoriker, dann aber auch praktischer Politiker, Organisator, nicht zuletzt eine wahrhaft dämonische Natur.“ (Michels 1987, 256).

Komplex und vielfältig, schillernd und vielstimmig, von „Dämonen“ getrieben – tatsächlich erwähnt Weber in seinen „Briefen“ mehrfach (s)einen „inneren Dämon“, und dies keineswegs nur in einem metaphorischen Sinne – dies erscheint mir als eine treffende Beschreibung nicht nur der Person, sondern auch ihres Denkens. Dem steht das überlieferte Bild gegenüber, wonach Weber der „große Soziologe“ und Systematiker ist, der „Forschungsprogramme“ „abarbeitet“. Weber erscheint gleichsam als Autor von soziologischen „Meistererzählungen“, dabei verkennend oder auch ausblendend, dass Weber einen solchen Anspruch für sein Werk gerade ausschließt. Mein Eindruck ist, dass diese Interpretationsansätze Gefahr laufen, den Blick zu verstellen für die Vielfältigkeit und Offenheit, für den Facettenreichtum und die Vieldeutigkeit, auch für die Widersprüchlichkeit seines Denkens. Um dies zu zeigen, wird in dieser Studie der Fokus auf die thematischen Bereiche gerichtet, die unterbelichtet und wenig oder noch gar nicht bearbeitet worden sind. Zum anderen möchte ich versuchen, auch

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teilweise vielfach gedeutete Weber-Texte in einem anderen und neuen Licht erscheinen zu lassen. Ziel ist es, ein Bild des Phänomens Weber zu zeichnen, das der Michelschen Charakteristik des komplexen und nicht ganz leicht zu fassenden Denkers gerecht wird. Die Unterscheidung zwischen einer „orthodoxen“ und einer „heterodoxen“ Weber-Interpretation, die Hans-Peter Müller (2007, 21) trifft, ist hilfreich und orientierend, befriedigt aber nicht ganz, denn auch die heterodoxen Interpretationen erheben den (häufig impliziten) Anspruch, den „richtigen“ Zugang zu Weber gewählt zu haben. Sie fallen also eigentlich in Orthodoxie zurück. Wenn aber unter „heterodox“ nicht nur „von anderer Meinung“ oder „von der herrschenden Lehre abweichend“ verstanden wird, sondern vielmehr Heterodoxie Offenheit und Diskursfreudigkeit bei gleichzeitigem Verzicht auf Absolutheitsansprüche bedeuten soll, könnte man an der Unterscheidung festhalten. Diese Studie versteht sich als eine heterodoxe WeberInterpretation in diesem Sinne. Einer der besten Weber-Kenner und bekanntesten Weber-Interpreten, der Mitherausgeber der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG), Wolfgang Schluchter, schreibt in einer seiner jüngeren Arbeiten, Weber sei es um „das Verhältnis der wirtschaftlichen Ordnung und der wirtschaftlichen Mächte zu den übrigen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten“ zu tun, „wie sie aufeinander einwirken, wie sie sich wechselseitig obstruieren oder begünstigen“ (2009, 77). Davon inspiriert, nennt er sein eigenes, „im Anschluss an Weber“ entwickeltes „Programm“ eine „strukturalistisch-individualistisch verstehende Soziologie, die nach dem Dreiklang von Ideen, Interessen und Institutionen in historischen Konstellationen“ fragt (2009, 37). In früheren Arbeiten konkretisiert Schluchter, worin er Webers Forschungsinteresse sieht: in der Analyse der „okzidentalen Sonderentwicklung“, die jenen „eigentümlichen Rationalismus“ hervorgebracht habe, der die „verschiedenen Ordnungen“ durchdringe; darauf bleibe Webers Blick „immer“ gerichtet.1 Müller sieht in Schluchter − wohl nicht zu Unrecht − einen Vertreter der „orthodoxen“ Lesart. Die „heterodoxe“ Sicht vertritt Wilhelm Hennis.2 Seine Arbeiten (1986, 1996, 2003) haben die Weber-Forschung provoziert, herausgefordert und bereichert. Hennis lenkt die Aufmerksamkeit (wieder) auf Thesen und Inhalte des Weberschen Werks, die seit den Arbeiten von 1  So Schluchter in der neuen Einleitung zu seiner Weber-Studie von 1978, deren Titel er in der Neuausgabe leicht verändert hat (vgl. Schluchter 1998, 9 ff.; das Zitat auf S. 14.) Seit seinen ersten Weber-Arbeiten sieht Schluchter Webers Werk vom „materialen Apriori“ der „Entscheidung für den okzidentalen Rationalismus“ geprägt (Schluchter 1972, 305). 2  Weitere „heterodoxe“ Interpreten sind nach Müller Scaff (1989), Peukert (1989) und Lepsius (2003). Müller nennt seine eigene Interpretation auch heterodox.



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Karl Löwith (1988 c, d, e) und Karl Jaspers (1958) weitgehend aus dem Blick geraten waren.3 Dazu gehört eine gewisse Nähe Webers zur Lebensphilosophie, seine Rezeption von Nietzsche, die durch sein Handexemplar von Simmels Vortragszyklus „Schopenhauer und Nietzsche“ (1907) dokumentiert ist, sein mitunter „existentialistischer“ Gestus und das humanistische Pathos. Dazu gehören seine tiefen Zweifel am „Fortschritt“ und daran, was er noch nicht mit dem Kollektivsingular als „Moderne“ bezeichnet, sondern schlicht „Zukunft“ nennt. Neuerdings deutet Stefan Breuer (2006 a) Webers Werk als eine „tragische Soziologie“. Auch auf diesen Aspekt des Weberschen Werks macht zunächst (und erneut) Hennis aufmerksam. Mit Weber sei „die Dimension der Tragik in die Geschichte zurückgekehrt“ (1987, 30). Verwunderlich ist, dass dies lange Zeit kein Thema in der Weber-Literatur ist, denn, wie ich auch herausarbeiten werde, ist doch das Bewusstsein für einen letztlich „tragischen Weltverlauf“ bei Weber stark ausgeprägt. „Tragisch“ ist für Weber nicht zuletzt die okzidentale Entwicklungsgeschichte. Es ist der „Erfolg“ „rationaler“ Entwicklung, der die institutionellen Ordnungen, die entstanden sind, in ein „stahlhartes Gehäuse“ verwandelt, in dem frei und unabhängig zu leben kaum mehr möglich ist. Es ist die „rational“, methodisch praktizierte Religion, sprich: der Puritanismus bzw. die protestantische Ethik, die zwar ein ökonomisch hoch effizientes Wirtschaftssystem hervorbringt, die aber zugleich die „Welt“ säkularisiert, die Religion „entzaubert“ und damit, tragischerweise, ihre eigenen Grundlagen untergräbt. Hennis meint, „Max Webers Fragestellung“ sei die nach dem „Schicksal“ des Menschen und dessen, eine Vokabel Webers aufgreifend, „Lebensführung“ (1987, 15 ff.). Er neigt zu einer, so möchte ich es nennen, aristotelisierenden Lesart, sichtbar daran, dass er Weber in die Tradition der klassischen Moralwissenschaft stellt. Hennis, der selbst auf seine aristotelisch inspirierte Lesart aufmerksam macht (1987, 54), deutet Weber als einem Protagonisten der Praktischen Philosophie und unterstellt ihm eine „erzieherische Absicht“ (1996, 93 ff.). Einen analytischen Schwerpunkt legt Hennis auf Webers kultur- und kapitalismuskritische Positionen, für die es in der Tat zahlreiche Belege gibt.4 Eine Intention von Hennis ist auch, Weber der 3  Die Weber-Aufsätze von Löwith, auf die hier Bezug genommen wird, stammen aus den 30er Jahren. Jaspers hat seine Trauerrede von 1920 und zwei andere Arbeiten zu einem erstmals 1946 erschienenen Buch verarbeitet. Auf beide Publikationen komme ich zurück. 4  Vgl. etwa die Passage in der „Vorbemerkung“ (1920) zur Religionssoziologie, in der Weber den Kapitalismus die „schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens“ (RS I, 4) nennt. Schon im „Geleitwort“ zur Übernahme der Redaktion des

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angeblichen Usurpation durch die Soziologie zu entziehen und ihn in die Tradition der Politischen Wissenschaft einzureihen.5 Das Problem von Hennis’ Ansatz ist, dass er sich zwar als „heterodox“ versteht, aber letztlich auf eine neue Orthodoxie hinausläuft. Vermutlich liegt genau in diesem Punkt scheinbar unversöhnlicher Deutungskonkurrenz der tiefere Grund, warum orthodoxe und heterodoxe Richtung wenig bis gar nicht miteinander kommunizieren. Hennis deutet die Deutungskontroverse sogar als „Kampf um Weber“ (2003, 55 ff.). Dabei könnten beide Interpretationen durchaus ins Gespräch kommen, etwa in der Frage: „Was bleibt von Weber?“ Wenn Schluchter Webers methodische Komplexität würdigt und die analytische Verschränkung von Mikro- und Makroebene sowohl in entwicklungsgeschichtlicher als auch in vergleichender Perspektive für vorbildlich hält (vgl. Schluchter 2009, 61), dann ist dies nichts grundsätzlich Anderes als das, was Hennis Webers „peristatisches Denken“, ein „In-Umständen-Denken“ nennt (Hennis 2003, 172). Beide Interpretationsrichtungen sind sich im Prinzip auch darin einig, dass ein wichtiges Ziel Webers ist, die Folgen vor allem der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Psyche und das soziale Zusammenleben des Menschen zu untersuchen. Während allerdings Schluchter in Weber einen mehr oder weniger überzeugten „Theoretiker der Modernisierung“ sieht, deutet Hennis Webers Werk als eine traurige und bedauernde, so die Formulierung in einer Fußnote, „Abschiedssymphonie“ auf „die Welt von gestern“ (1987, 80, Anm. 55). Bei Hennis wird Weber zu einem modernitätskritischen, fast schon antimodernen Denker. Diese Interpretation blendet Webers Sympathie für und seine Neugierde auf „die Welt von heute“ weitgehend aus. Diese zeigt sich etwa, als er in Ascona auf dem „Monte Veritá“ zwar distanziert, aber doch anerkennend die neuen „ethischen“ Lebensformen von Künstlern, Literaten, Vegetariern, theosophischen Sinnsuchern, Anhängern der „freien“ Liebe und Anarchisten beobachtet. Weber zeigt eine spezifische Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber Haltungen, die nicht der seinen entsprechen. Dies artikuliert sich nicht zuletzt in seiner Freundschaft mit veritablen „Gesinnungsethikern“ wie Georg Lukács und Robert „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (1904) spricht Weber (der alleinige Autor) vom „grundstürzenden Umgestaltungsprozess, den unser Wirtschaftsleben und damit unser Kulturdasein überhaupt durch das Vordringen des Kapitalismus“ erlebt (Weber 2002, 70). 5  Zur Weber-Interpretation von Hennis vgl. auch Schlak 2008, 200 ff., der schreibt: „Hennis wertete all das auf, was in den Achtziger Jahren auf den Index des politischen wie theoretischen Zeitgeistes stand. Persönlichkeit, Charakter, Lebensführung. Er hielt an der geistesgeschichtlichen Schlüsselfrage nach dem ‚Typus‘ Mensch fest, als sie noch nicht unter die akademischen Projektemacher gefallen war.“ (2008, 221)



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Michels oder auch in dem Angebot kurz vor seinem Tod, einer kommunistischen Kommune als wirtschaftspolitischer Berater zur Seite zu stehen. Allerdings darf man diese Haltung der sympathisierenden Neugierde und Weltzugewandtheit nicht überinterpretieren in dem Sinne, dass Webers Werk einer „Willkommenssymphonie“ gleiche für alles, was da noch kommen möge. Es ist weder eine Willkommens- noch eine Abschiedssymphonie, sondern eine nüchterne und kritische Bestandsaufnahme des „So-und-nichtanders-Gewordenseins“, wie Webers Formulierung im Objektivitätsaufsatz lautet (WL, 171). Dies ist nicht aufzufassen als ein bloß positivistisches Konstatieren dessen, was ist, sondern damit ist letztlich der Anspruch verbunden, die Chancen auszuloten, „es anders (zu) machen“. Diesen Halbsatz im abschließenden Absatz seines Vortrags „Wissenschaft als Beruf“ (WL, 613) meint Weber in dem Sinne, es „besser“ zu machen. Allerdings lässt er die inhaltliche Ausgestaltung dieses „Besseren“ im Dunkeln. Dies geschieht mit Absicht, denn die Wissenschaft ist nach Webers Verständnis für materia­ le Aussagen nicht zuständig. Wenn man bei Weber von etwas Programmatischem sprechen will, dann liegt es in diesem Punkt. Weber sieht sich nicht in der Rolle desjenigen, der sagt, was zu tun sei, gerade auch nicht in einem advokatorischen, in seinen Augen letztlich bevormundenden Sinne. Ihm geht es schlicht darum, der „Forderung des Tages“ gerecht zu werden, wie es im selben Satz heißt. Weder schaut Weber zurück in die Vergangenheit noch begnügt er sich mit dem Erreichten in der Gegenwart, sondern er verfolgt das Ziel, zu überlegtem Handeln anzuleiten, wohl abgewogene Entscheidungen zu treffen, dahin zu führen, den Problemen mit dem notwendigen Bewusstsein zu begegnen. Dieses Motiv seines Denkens versuche ich mit dem Begriff „aufklärende Rationalisierung“ zu fassen. Hier soll keine Synthese zwischen orthodoxer und quasi-heterodoxer Interpretation versucht, sondern, um den einleitenden (keineswegs vollständigen) Literaturüberblick über Grundrichtungen der Weber-Interpretation abzurunden, auf eine dritte, eigenständige, vielleicht wirklich „heterodoxe“, jedenfalls um Unabhängigkeit bemühte Position hingewiesen werden. Sie nimmt der amerikanische Weber-Forscher Stephen Kalberg mit seiner (allerdings schmalen) Weber-Einführung (2006) und der Weber-Forscher Joachim Radkau mit seiner (nicht unumstrittenen) Weber-Biographie (2005) ein. Kalberg widmet in seiner Darstellung dem geistigen Zusammenhang und dem gesellschaftlichen Kontext ein eigenes Kapitel und verortet Webers Denken so in einer Weise, dass es zu einem besseren Verständnis des Werks und seines Anliegens führt. Dieses sieht Kalberg in einer spezifischen Negation: „Keine Suche nach wahren Werten, allgemeinen Gesetzen und objektiven Fakten“ (2006, 19 ff.). Damit deutet Kalberg Weber keineswegs als

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„Nihilisten“, als welchen ihn die ältere Literatur zum Teil sieht; Strauss (1956, 38 ff.) und Sternberger (1986, 135 ff.) sind dafür Beispiele. Weber wehrt sich vielmehr gegen quasi-religiöse Werte und angeblich universal gültige „Gesetze“. In der Konsequenz lehnt er es auch ab, das Bestehende absolut zu setzen. Kalberg schreibt: „Mit seiner Soziologie kristallisiert sich eine neue Position des Menschengeschlechts heraus, eine, die der Vorstellung entschieden entgegengesetzt war, dass die Geschichte einen eigenen, unabhängigen Sinn besitze. Nun waren die Personen unbestritten die Schmiede ihres Schicksals, Mittelpunkt und Ursache ihrer Handlungen.“ (2006, 17). Wie ich im ersten Kapitel dieser Arbeit zeigen möchte, ist es der Kern des Weberschen Wissenschaftskonzepts, die Aufmerksamkeit auf die handelnden Akteure zu lenken. Weber duldet keine „Metaphysik“ von Strukturen und Gesetzen; er will vielmehr die Haltlosigkeit einer solchen „Metaphysik“ erweisen. Mit einem von Kant gelegentlich benutzten Begriff könnte man von „Blendwerken“ sprechen, deren Schein aufgeklärt oder wie Kant sagt: „aufgedeckt“ werden muss.6 In diesem Sinne deute ich Max Weber als einen Aufklärer, der die Zusammenhänge und kausalen Beziehungen aufzuzeigen und im nächsten Schritt alternative Handlungschancen auszuweisen versucht. Die Biographie von Radkau ist zwar wegen ihres, allerdings nicht das gesamte Buch tragenden, „körpergeschichtlichen“ Ansatzes nicht unproblematisch,7 aber er arbeitet doch in beeindruckender Weise die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit der Person und ihres Werks heraus. Der Biograph beschreibt Weber als einen schwer zu fassenden, widersprüchlichen, zum Teil „dämonischen“ und „gesinnungsethischen“, am „Rationalismus“ nicht nur zweifelnden, sondern verzweifelnden, teilweise apokalyptischen Denker. Radkaus Fazit lautet: „Weber war nicht die geschlossene Persönlichkeit, als die er vielen erschien.“ Mit einer schönen Pointe heißt es, dem von Weber diagnostizierten „‚Polytheismus der Werte‘ entsprachen Brüche in seinem Selbst.“ (2005, 806). In dieser Unabgeschlossenheit und Widersprüchlichkeit sehe ich kein Problem, sondern eine gleichsam „ehrliche“ Reaktion auf spezifische Erfah6  Von „Blendwerken“ spricht Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ (Kant 1974), z. B. A XIII und B 325 sowie in der Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (Kant 1977), B 88. 7  Radkau hat auch ein Buch über „Das Zeitalter der Nervosität“ vorgelegt (1998) und deutet Weber mit einem Begriff des New Yorker Psychiaters George M. Beard als „Neurastheniker“. Er unterstellt ihm einen Hang zum Sado-Masochismus und thematisiert Webers angebliche Alkohol- und Drogen- bzw. Schlafmittel-Exzesse. Für Letzteres gibt es in der Tat in Webers Briefen zahlreiche Hinweise.



Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken17

rungen, die Weber in einem Zeitalter der Umbrüche macht. Diesem, wie ich es hier nenne, Erfahrungshintergrund des Denkens möchte ich in Kapitel 2 anhand der historischen Entwicklungstendenzen und der intellektuellen Einflüsse nachgehen, die vor allem von Nietzsche, von Lukács, ja indirekt auch von Hegel stammen. Ohne die hier genannten Arbeiten (und einige mehr), vor allem auch ohne die vorzüglichen „Einleitungen“ in die Bände der Weber-Gesamtausgabe, hätte diese Studie nicht geschrieben werden können. Als wichtiger Fundort zum besseren Weber-Verständnis haben sich gerade auch die bislang erschienenen fünf Bände mit Briefen von Weber erwiesen. Sie umfassen etwa 4.500 Seiten und sind bislang noch nicht zusammenhängend bearbeitet worden. In den meisten der acht Kapitel dieser Studie werde ich immer wieder auf Brief-Zitate zurückkommen. Diese Quelle hat sich als so ergiebig erwiesen, dass ich versucht habe, anhand der dort enthaltenen moralischen Reflexionen eine Minissima Moralia Webers herauszuarbeiten (Kapitel 6). Dabei bin ich mir der Problematik bewusst, dass seine Wertungen als Briefschreiber nicht ohne weiteres dem Werk zugeschlagen werden können. Denn es handelt sich fast ausschließlich um private Aufzeichnungen, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Gleichwohl erscheint es mir legitim, die Briefe als Quelle zu nutzen, denn, um es nochmals zu betonen, es geht in dieser Arbeit darum, ein möglichst komplexes Weber-Bild zu zeichnen. Überraschend ist, dass es eine solche „kleinste Moralphilosophie“ gibt. Man kann darin einen Hinweis sehen, wie groß Webers Selbstdisziplin gewesen sein muss, sich in seinem veröffentlichten Werk „moralischer“ Wertungen möglichst zu enthalten (was ihm freilich nicht immer gelingt). Im Übrigen behauptet Weber einmal von sich, sich dann am wohlsten zu fühlen, „wenn Stuhlbeine anfangen zu fliegen“.8 Als Hypothese sei schon formuliert, dass sich gerade hinter der auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Kampfes- und Konfliktbereitschaft Webers eine besonders ausgeprägte moralische Sensibilität verbergen könnte.9 Wer von „Rationalisierung“ spricht, darf ein Zitat Webers nicht verschweigen. Ich betrachte den folgenden Satz als ein Schlüsselzitat, denn es führt dahin, worin ich einen Kern des Weberschen Denkens sehe: 8  Das

Stuhlbein-Zitat hat Baumgarten (1964, 625, Fn.) überliefert. der seiner ersten Arbeit über „Max Weber und die deutsche Politik“ (1959) einen Aufruf Webers zum „scharfen Polemisieren“ als Motto voranstellt, sieht in Webers „Kampfeslust“ auch eine programmatische Seite: Statt Widersprüche zu „versöhnen“, lege es Weber darauf an, diese zuzuspitzen (Vgl. z. B. Mommsen 1989, 515 ff.). 9  Mommsen,

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Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken

„Man kann eben – dieser einfache Satz, der so oft vergessen wird, sollte an der Spitze jeder Studie stehen, die sich mit ‚Rationalismus‘ befasst – das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin ‚rationalisieren‘.“ (RS I, 62)

Weber hat diesen Satz zwar nicht „an die Spitze“ seiner eigenen Studien über „Rationalismus“, sondern an fortgeschrittener Stelle der ersten Untersuchung zur „Protestantischen Ethik“ gesetzt. Er könnte aber, ohne Parenthese und als ein Leitmotiv, als Motto über dem eigenen Werk stehen. Das Verb „rationalisieren“ gebraucht Weber, wie auch den Begriff der „Rationalisierung“, in einem mehrdeutigen Sinne. Das Wort kommt vor der Jahrhundertwende auf und stammt aus der Psychoanalyse. Dort bezeichnet es einen Abwehrmechanismus des Ichs, und zwar als Versuch, Handlungen, die unbewusst, „irrational“, zum Beispiel triebhaft, erfolgen, nachträglich einen Sinn zu verleihen, „rational“ zu machen (vgl. Art. „Rationalisierung“, HWdP Bd. 8, 42 ff.). Weber versteht in dem obigen Zitat „rationalisieren“ allerdings nicht in einem psychoanalytischen Sinne, sondern als Umschreibung für die Ausrichtung des Handelns nach ganz unterschiedlichen Zielen, die sich durchaus widersprechen können. Je nachdem, welches Ziel gesetzt wird, ist das diesem Ziel entsprechende Handeln „rational“, „vernünftig“ oder schlichtweg: begründet. Es gibt freilich andere Verwendungsweisen des Rationalisierungsbegriffs bei Weber. Diejenige, die Thema von Kapitel 1 ist, ist die Gleichsetzung von „Rationalisierung“ mit Erfolgsorientierung, mit Effektivität und Effizienz, mit technischer Rationalität, Funktionalität. Diese Form der „Rationalisierung“ betrachtet Weber als die in der zeitgenössischen Gesellschaft vorherrschende. Ihre Janusköpfigkeit, man könnte sagen: ihre destruktive Potentialität, arbeitet er heraus, aber nicht, um dieser „Rationalisierung“ generell eine Absage zu erteilen; er betrachtet sie vielmehr als Voraussetzung für materiellen und auch kulturellen Reichtum. Allerdings hält er sie für ambivalent, weshalb es ihm darum geht, die Sensibilität zu steigern für die Nebenfolgen. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Kosten, auf den Preis, der unweigerlich gezahlt werden muss, wenn diese Form der „Rationalisierung“ zum beherrschenden Maßstab wird. Dieser thematische Komplex von Rationalisierung wird in Kapitel 1 bearbeitet. Dort werden die Thesen angeschnitten, die in den folgenden Kapiteln weiter entfaltet und bearbeitet werden. Webers Sensibilisierungsbemühen versuche ich mit dem Begriff der Aufklärung zu fassen. Aufklärung verstehe ich als einen dynamischen Prozess, als eine Aufgabe, die sich immer wieder von neuem stellt. Um diesen Prozesscharakter sprachlich auszudrücken, spreche ich von aufklärender Rationalisierung. Ein solches Denken ist in gesellschaftliche Kontexte und soziale Entwicklungen eingebettet. Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus um die Jahrhundertwende, der Verlust an „Sinn“ und die Erfahrung von „Entzauberung“, um



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nur einige Faktoren hier zu nennen, sind die spezifischen Erfahrungshintergründe, denen sich Weber ausgesetzt sieht und auf die sein Denken reagiert. Dies ist das Thema von Kapitel 2. Aus diesem Erfahrungshintergrund zieht Weber vor allem zwei Konsequenzen: Wie ich in Kapitel 3 zeigen möchte, entwickelt er eine Theorie der Rationalität, deren hervorstechendes Merkmal der Pluralismus ist. Weber unterscheidet nicht nur zwischen Zweck- und Wertrationalität, sondern schreibt, was in der Forschung weitgehend übersehen wird, auch dem traditionalen und dem emotionalen Handeln Rationalitätspotenzial zu. Die zweite Konsequenz, die Weber zieht, ist eine Theorie der Werte, die, analog zur Rationalitätstheorie, pluralistisch verfasst ist. Weber selbst umschreibt seine Position im Wertfreiheitsaufsatz als „Anerkennung des absoluten Poly­theismus der Werte“ (WL, 506). Man kann Webers Theorie der Werte rein methodologisch auffassen, wie es die meisten Weber-Interpreten tun. Das Postulat nach Wertfreiheit steht dann im Mittelpunkt dieser Theorie. Man kann die Theorie aber auch als eine Art Philosophie der Werte betrachten. Diese geht davon aus, dass sich in jeder Interaktion, wie Weber formuliert, „die Wertsphären … kreuzen und verschlingen“ (WL, 507). Weber zieht daraus die Konsequenz, dass sich die Werte, die in den einzelnen Wertsphären herrschen, nicht in ein hierarchisches Gefüge bringen lassen. Sie befinden sich vielmehr in einer Ordnung prinzipieller Gleichrangigkeit. Webers Wertetheorie steht im Gegensatz zu dem, was Max Scheler einige Jahre vor Weber „materiale Wertethik“ nennt. Auch Hugo Münsterberg und Heinrich Rickert arbeiten damals an einer Philosophie materialer Werte, die Weber entschieden ablehnt. Ihren Autoren wirft er eine „tiefe Schwäche und Ratlosigkeit allen echten Lebensproblemen gegenüber“ vor.10 Jene Theorie, die offensichtlich einen höheren Lebens- und Weltgehalt aufweist, ist, wie in Kapitel 4 gezeigt werden soll, Webers Theorie der Anerkennung von differenten und miteinander in Konflikt stehenden Werten. Wertekollisionen kann auf dem in der Literatur häufig übersehenen, von Weber aber vorge10  So die Formulierung in einem Brief (v. 12. Dezember 1912; MWG II / 7, 801) an den deutschbaltischen Philosophen Hermann Graf Keyserling. Keyserling, der einen stark irrationalistisch orientierten Zweig der Lebensphilosophie vertritt und nach Webers Tod die „Gesellschaft für Freie Philosophie“ gründet, ist ein weiteres Beispiel für Webers sympathisierendes Interesse an unkonventionellen Denkern. Ein anderer Brief an Keyserling (v. 21. Juni 1911; MWG II / 7, 233 ff.) zeigt, dass sich Weber intensiv mit dessen Schriften auseinandersetzt. In dem Brief findet sich auch der folgende Satz: „Ein Volk, welches (wie wir Deutschen) niemals den traditionellen Gewalten den Kopf vor die Füße zu legen die Nerven gehabt hat, wird nie die stolze Sicherheit seiner selbst gewinnen, welche die Angelsachen und Romanen uns in der Welt so überlegen macht.“ (237).

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Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken

sehenen Wege des Kompromisses, des – wie man sagen könnte – diskursiven Arrangements begegnet werden. Begriffe wie Pluralismus oder Formulierungen wie Anerkennung von Differenz deuten an, wie ich Weber vor allem verstehe: als einen Denker, der Vielfalt und Differenz nicht nur als Ausdruck von Lebensnähe, sondern gerade auch als Bereicherung betrachtet. Weber ist, worauf schon Wolfgang J. Mommsen aufmerksam macht, kein Homogenitäts-, sondern ein Heterogenitätstheoretiker. Es geht ihm jedoch nicht um Konfrontation, sondern gegenüber Positionen, die seiner eigenen nicht entsprechen, zeigt er ein für damalige Verhältnisse bemerkenswert hohes Maß an Toleranz. Diese Haltung erweist sich auch für sein wissenschaftliches Werk als fruchtbar. Ungeachtet mancher eurozentristischer Note in seinen Studien zu den Weltreligionen ist doch die Untersuchung prinzipiell gleichberechtigter Religionen ein neues Paradigma und in der damaligen Zeit selten. Dieses Denken könnte man mit einem Begriff aus der Musik, die für Weber ja eine große Bedeutung hat, als „polyphones“ Denken charakterisieren. Polyphonie soll ein „mehrstimmiges“ Denken kennzeichnen, ein Denken, das eine Vielzahl an „Stimmen“ zulässt und dabei jeder einzelnen Stimme Eigenständigkeit und „Berechtigung“ einräumt. Für die Polyphonie ist charakteristisch, dass die Vielfalt der Stimmen keinem Harmonisierungszwang unterliegt. Die stimmliche Eigenständigkeit gilt als akustisch reizvoll und genießt Priorität vor harmonischem Zusammenklingen.11 Auch Weber räumt der Vielfalt und Abwechslung Priorität ein vor der „Einstimmigkeit“ und Harmonie. Seine spezifische Haltung ist, Vielfalt anzuerkennen, Differenzen zur Sprache zu bringen und dadurch den Komplexitätsgrad zu steigern. Es geht ihm nicht um „Wohlklang“, um das, was Hegel „Versöhnung“ nennt, sondern vielmehr sieht er in einem „mehrstimmigen“, Spannungen und Inkongruenzen belassenden „Konzert des Denkens“ die Chance der Weiterentwicklung und der Innovation. Webers denkerische Grundhaltung kommt in einem selten zitierten Satz in den „Soziologischen Grundbegriffen“ zum Ausdruck: 11  Zur Definition von „Polyphonie“ mit einigen Beispielen vgl. Eggebrecht 1984, 64 f. Siehe auch den Art. von Eggebrecht in Riemanns Musik Lexikon (1967, 739). Der Begriff der Polyphonie kommt um 1250 als Gegensatz zur Einstimmigkeit auf. Damals setzt im mittelalterlichen Europa ein kultureller Wandel ein, der auch die Tonkunst erfasst. Das Besondere an der Mehrstimmigkeit ist, dass die Stimmen im Zusammenklingen ihre Eigenständigkeit behalten. Die Bedingungen für polyphonische Musik sind damals auch deshalb günstig, weil harmonisches Empfinden wie in der heutigen „okzidentalen“ Musikkultur noch nicht entwickelt ist (vgl. Tewinkel 2007, 54 f.). Unter Polyphonie wird häufig auch die außereuropäische, archaische Klanggestaltung verstanden, die keine Gleichzeitigkeit mehrerer Stimmen kennt.



Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken21 „Es macht der Soziologie keine Schwierigkeiten, das Nebeneinandergelten verschiedener, einander widersprechender Ordnungen innerhalb des gleichen Menschenkreises anzuerkennen.“ (WG, 16)

Dahinter steht die Überzeugung von der Kontingenz oder Relativität der Lebensordnungen. Die Wissenschaft hält Weber, so sein bekanntes Credo, für ungeeignet, zu begründen, welche Lebensordnung „die beste“ sei. Denn dies hängt eben vom Wertestandpunkt ab, den jemand einnimmt. Auf „anerkennende“ Weise entwickelt er größtmögliches Verständnis für die Gegenposition. Diese Denkhaltung schlägt sich etwa auch nieder in einem ebenfalls häufig überlesenen Satz im Wertfreiheitsaufsatz: „Diejenigen, welche Rationalisierungen opponieren, sind durchaus nicht notwendig Narren.“ (WL, 530)

Diese Verteidigung der Rationalisierungskritiker findet sich im Kontext einer Diskussion des Begriffs des „Fortschritts“, den Weber nicht nur in Anführung setzt, sondern für „sehr inopportun“ hält (WL, 530). Sein Argument ist: Die Betrachtung von etwas als „fortschrittlich“ hängt vom Maßstab ab, der angelegt wird. Da Weber davon ausgeht, dass sich der Begriff des „Fortschritts“ trotzdem nicht aus dem Vokabular streichen lässt, formuliert er ein auf den ersten Blick bescheidenes, aber doch „klärendes“ Erkenntnisziel, nämlich „mögliche Missverständnisse (zu) vermeiden“ (WL, 531). Im Objektivitätsaufsatz findet sich dafür die Formulierung von der „diskursiven Natur unseres Erkennens“ (WL, 195). Weber geht es also darum, mehr zu sehen und zu wissen, als es vereinfachende und nicht problematisierende Betrachtungen zulassen. Dafür will er ein Beispiel geben und ein begriffliches Instrumentarium bereitstellen. Adressaten dieses Denkens sind nicht nur die Zeitgenossen; es zeichnet Weber aus, dass er den Blick in die Zukunft richtet. Bei aller Problematik der Freiburger Antrittsvorlesung, in der Weber einen nationalistischen und chauvinistischen Ton anschlägt, der sich nicht mit seinem Werben für Anerkennung von Differenz verträgt, finden sich doch an zwei Stellen Aussagen, dass es ihm im Ansatz um die Begründung dessen geht, was man heute auch unter „Nachhaltigkeit“ diskutiert: ein Denken, das über die eigene Zeit hinausreicht, das sich um die Zukunft sorgt, und das dafür steht, die Gegenwart so einzurichten, dass Zukunft möglich ist. Man muss diese beiden Stellen freilich von ihren zeitgeschichtlichen Hintergründen befreien, sie quasi neutralisieren, „objektivieren“. Das eine Zitat lautet: „Wir, mit unserer Arbeit und unserem Wesen, wollen die Vorfahren des Zukunftsgeschlechts sein.“ (PS, 13). Das andere: „Unsere Arbeit ist und kann, wenn sie einen Sinn behalten soll, nur sein wollen: Fürsorge für die Zukunft, für unsere Nachfahren.“ (PS, 13) Über Webers gesamtes Werk finden sich Formulierungen, die man im Sinne eines solchen in die Zukunft, „über das Grab der eigenen Generation

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Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken

hinweg“ (PS, 12) gerichteten Denkens deuten kann. Weber fordert die „Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen“ (Objektivitätsaufsatz, WL, 150) und die „Selbstbegrenzung“ (Wertfreiheitsaufsatz, WL, 494). Er appelliert an das „Verantwortungsgefühl“ (Wissenschaft als Beruf, WL, 608) und spricht in der Religionssoziologie von „Bändigung“ und „rationaler Temperierung“ (Vorbemerkung, RS I, 4). Wenn man sich genauer anschaut, welche Erwartungen Weber von der Zukunft hat, bekommen diese Aufrufe zum gründlichen Nachdenken, zum Abwägen von Vor- und Nachteilen, zur Berücksichtigung auch der ungewollten Nebenfolgen, wie man vielleicht interpretieren könnte, einen Sinn. Webers Erwartungen an die Zukunft sind pessimistisch. Dies möchte ich in Kapitel 8 in einer Untersuchung der Metaphern von Weber zeigen. Metaphern betrachte ich als „Blendwerke der feinen Verführung“, dabei Überlegungen von Hans Blumenberg zu einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“ und zur „Metaphorologie“ aufgreifend. Webers in die Zukunft gerichtetes Denken lässt sich auch als pragmatisches oder pragmatistisches Denken charakterisieren. Pragmatistisch ist eine Philosophie, die sich gegen erfahrungsunabhängiges, apriorisches Denken richtet, die sich als pluralistisch und antidogmatisch versteht, die die Extreme als Gefahr ansieht und deshalb meidet. Die Beziehungen Webers zum amerikanischen Pragmatismus sind bislang so gut wie kein Thema in der Weber-Forschung.12 Wie ich in Kapitel 7 in der Untersuchung eines „Wahlverwandtschafts-Verhältnisses“ zeigen möchte, ist Weber, einen Aufsatz-Titel von Guenther Roth variierend, ein „Would-Be Pragmatist“, ein „Wäre-Beinahe-Pragmatist“. Auch in diesem Kapitel betrete ich weitgehend Neuland und zeige Beziehungen und Parallelen zum amerikanischen Pragmatismus und seinen Hauptvertretern, insbesondere zu William James, aber auch zu dem weitgehend vergessenen Vertreter des pragmatischen „Humanismus“, F. C. S. Schiller, auf. Das Kapitel 5 über den „Krieg der Töne“ will zeigen, dass die Ursprünge von Webers Rationalisierungstheorie zwar in seinem Interesse an der Wirkungsmacht von religiösen Ethiken wurzeln, dass aber doch seine Beschäftigung mit Musik dabei eine ganz entscheidende Rolle spielt. In der unvollendeten „Musiksoziologie“ finden sich die argumentativen Grundlini12  Auch die neue Untersuchung von Lawrence A. Scaff, „Max Weber in America“ (2011) behandelt nicht die strukturellen Parallelen des Denkens, wie ich sie herausarbeiten möchte. Scaffs akribische Studie zeigt allerdings Webers große Sympathien für die Vereinigten Staaten und viele Anstöße auf, die dieser während seiner Amerika-Reise 1904 erfährt. Sein Buch versteht er auch als Beitrag zur „Genealogie“ des Weberschen Denkens (Preface, XII) (vgl. dazu auch die Rezension v. Verf. 2012, 292 ff.). Auf seine Erfahrungen in Amerika kommt Weber in seinem Werk immer wieder zu sprechen (dazu Kapitel 7).



Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken23

en der Rationalisierungstheorie, allerdings in einer spezifischen Engführung. Unter dem Einfluss der zeitgenössischen Musikethnologie stehend, enthält die Musikstudie zahlreiche Passagen, in denen Weber die Rationalisierung der Musik als Zerstörungswerk betrachtet und die sich ergebenden musikali­ schen Weiterentwicklungsperspektiven weitgehend ignoriert bzw. „überhört“. Der Aufbau dieser Studie könnte zu der Annahme verleiten, Weber habe systematisch auf ein „Programm“ der Bewältigung und Steuerung von Problemen moderner gesellschaftlicher Entwicklung hingearbeitet. Man könnte meinen, zu Beginn stehe die Janusköpfigkeit des Prozesses der Rationalisierung. Zum Ende stehe das Plädoyer für pragmatische Problembewältigung, verbunden mit einer Ethik des Aushaltens und Widerstehens, des Standhaltens, überschattet von tragischer Verzweiflung und pessimistischer Furcht vor der Zukunft. Ein „Programm“ des Gegensteuerns möchte ich Weber nicht unterstellen. Gleichwohl ist diese Denklinie als roter Faden vorhanden. Es gibt diesen Strang, der stark ausgebildet ist, und es ist verführerisch, ihn in den Mittelpunkt zu stellen. In dieser Studie kann ich nicht alle Weber-Schriften berücksichtigen. Die Herrschaftssoziologie, ursprünglich als eigenes Kapitel vorgesehen, musste aus Gründen des Umfangs, aber auch, weil sie für mein Thema nicht einschlägig ist, entfallen. Auch ein Kapitel über die politischen Schriften, dabei vor allem der Vortrag „Politik als Beruf“ mit seinem hinteren Teil, in dem Weber so etwas wie eine „Ethik der Macht“ entwickelt, konnte ich aus demselben Grund nicht aufnehmen, werde darauf jedoch unter dem Stichwort „Politische Ethik“ im Zusammenhang mit der Interpretation der Briefe in Kapitel 6 eingehen. Unberücksichtigt bleiben mussten auch die vergleichenden Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, da sie für meine Interpretation thematisch nicht ergiebig sind. Wichtig ist mir in der Studie, ausgewählte Texte und Textpassagen einer gründlichen Interpretation zu unterziehen, dabei möglichen Ursprüngen und Zusammenhängen nachzugehen, Kontexte aufzuklären. Auf diese Weise soll Weber in neuer Weise zum Sprechen gebracht werden: als ein ungemein vielseitiger, offener, „polyphoner“, auch widersprüchlicher Denker. Dieser „Inhalt“ korrespondiert, wie ich meine, mit der „Form“. Nicht nur „Wirtschaft und Gesellschaft“, sondern das Werk insgesamt ist fragmentarisch, ein Torso. Jaspers schreibt einmal, Weber habe „gigantische Trümmer“ hinterlassen (1958, 85). Tatsächlich hat er außer Dissertation und Habilitationsschrift keine Monographie verfasst.13 Seine Ausdrucksform ist, darin der Darstellungstechnik Nietzsches nicht unähnlich, der Aufsatz, der essayistische Einschub (was er bei anderen Autoren, z. B. Lukács, wiederum 13  Darauf

weisen auch Hennis (1987), Peukert (1989, 52) und Scaff (1989, 2) hin.

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Einleitung: Max Webers „polyphones“ Denken

als „unwissenschaftlich“ kritisiert), manchmal die über mehrere Seiten gehende Fußnote, der unbearbeitete Schachtelsatz, die „bündelnde“ Substantivierung, und er hat eine große Vorliebe für Metaphern. Ein hohes Maß an Spontaneität kennzeichnet seine Texte; Marianne Weber spricht einmal vom „Ausspucken von Gedanken“. Ohne zu viel hineininterpretieren zu wollen, könnte man darin einen Ausdruck für ein antisystemisches, nicht strukturalistisches, den Phänomen zugewandtes und nicht zuletzt zeittypisches Denken sehen, in dem sich die Fragmentierung und die Umbruchsituation, der bevorstehende Aufbruch in eine ungewisse Zukunft niederschlägt. Diese „Trümmer“ lassen sich nicht zu einem „Bauwerk“ „rekonstruieren“. Weber wollte nie „Bauwerke“ errichten. Er hinterlässt hingegen einen „Berg“ von Fragen, Themen und Anregungen, von denen ich hier versuche, in acht Kapiteln einige in möglichst origineller Weise zu bearbeiten.

Kapitel 1

Aufklärende Rationalisierung I. Zu einem Motiv des Denkens 1. Begriff der Aufklärung Diese Studie deutet Max Weber als Denker einer aufklärenden Rationalisierung. Was ist aufklärende Rationalisierung? Der Begriff Aufklärung kann auf verschiedene Art und Weise verwandt werden. Aufklärung bezeichnet ursprünglich einen Vorgang, der zur Klärung von Begriffen, zur Behebung von Unwissenheit und zur Befreiung von Vorurteilen führen soll. Dies ist der rationalistische Aufklärungsbegriff (Schneiders 2008, 7). Aufklärung bezeichnet auch einen Prozess der Emanzipation. Aufgeklärt ist, wer sich nicht nach fremden Vorgaben richtet, sondern sein Leben selbst bestimmt und selbst denkt. Das ist der emanzipatorische Aufklärungsbegriff. Er geht vor allem auf Kant zurück, der in seiner Aufklärungsschrift Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt (1977, A 481).  „Unmündigkeit“ ist nach Kant „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Warum fordert Kant das Selbstdenken? Um Selbständigkeit und Autonomie und damit Freiheit zu ermöglichen. Wer sich der Anstrengung zum Selbstdenken nicht stellt, kann kaum zu einer Persönlichkeit werden, die Selbstbewusstsein und einen eigenständigen Willen auszeichnet. Ein wichtiger Punkt ist die These, dass die Unmündigkeit selbst verschuldet ist. Kant sagt, sie erfolgt aus „Faulheit und Feigheit“, und es gilt: „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Zur Emanzipation bedarf es deshalb gerade eigener Anstrengungen. Dies setzt allerdings die Freiheit voraus, von seiner Vernunft „öffentlich“ Gebrauch zu machen. „Freiheit“ meint in diesem Zusammenhang, dass die entsprechenden politischen Voraussetzungen erfüllt bzw. institutionelle Vorkehrungen getroffen sein müssen. Kant denkt dabei etwa an Meinungs- und Publikationsfreiheit. Denn vor allem dann kann zustande kommen, was er die „Reform der Denkungsart“, also den Übergang zum Selbstdenken nennt (1977, A 485).1 1  Zur Aufklärungsphilosophie vgl. neben den Arbeiten von Schneiders (1990 und 2008) auch die klassische Studie von Cassirer von 1932 (Neuauflage im Rahmen

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

Vom rationalistischen und emanzipatorischen Aufklärungsbegriff lässt sich Aufklärung als Epochenbegriff unterscheiden (Stuke 1972, 244 ff.). Als solcher bezeichnet er einen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzenden und im 18. Jahrhundert kulminierenden Prozess der Säkularisation. Die Säkularisierung leitet ein, was Weber die „Entzauberung der Welt“ nennt. Darunter ist die Emanzipation des Menschen zunächst von „magischen“ Glaubenspraktiken zu verstehen. An die Stelle von Magie und Zauber tritt die „rationale“ Religion, die aber ihrerseits entzaubert wird, wie alle traditionellen Autoritäten, Lehren, Ordnungen, Institutionen und Konventionen entzaubert werden. Als entzaubert gilt, was der Überprüfung durch die kritische Vernunft nicht standhält. Der Prozess der Entzauberung hinterlässt eine große Leere und führt deshalb zum Bedürfnis nach „Wiederverzauberung“. „Erhellend“ ist die Wortgeschichte des Aufklärungsbegriffs. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gelangt zunächst das Verbum „aufklären“, dann das entsprechende Substantiv in den öffentlichen Sprachgebrauch. Diese Wortkreationen gehen vermutlich auf die Übersetzung des französischen „éclairer“ bzw. „éclairissement“ und des englischen „to enlighten“ bzw. „enlightment“ zurück. Damit spiegelt sich in der Wortgeschichte wider, dass die Aufklärung zwar ein europaweites Phänomen ist, aber von England und Frankreich ausgeht (vgl. Schneiders 2008, 21 ff.). Eine semantische Wurzel des Aufklärungsbegriffs findet sich in der Meteorologie. Das Bild vom „schönen Wetter“ und „klaren Himmel“ wird auf den Menschen und die Bildung seines Verstandes übertragen. Noch bis ins 19. Jahrhundert werden „aufklären“ und „Aufklärung“ synonym mit „erleuchten“ und „Erleuchtung“ gebraucht. „Erleuchtet“ werden soll, was zuvor im Dunkeln lag oder unerkannt war. Das Synonym umschreibt das Phänomen zwar präziser, kann sich aber nicht durchsetzen. Heute lässt sich die Lichtmetapher im Aufklärungsbegriff nur noch erahnen. Das Mittel, dessen sich Aufklärung bedient, ist die Vernunft. Sie ist ein bestimmendes Merkmal. Das „Zeitalter der Aufklärer“ ist zugleich das der Werkausgabe 2003). Vgl. auch Enskat 2008, der die Aufklärung mit Sokrates und Platon beginnen lässt und neben Kant vor allem Rousseau zu ihren bedeutendsten Vertretern zählt. Zur Begriffsgeschichte vgl. die schon ältere Studie von Stuke 1972, 243 ff., dort auch eine Interpretation der Aufklärungsschrift von Kant, 265 ff. Nach Stuke steht der Aufklärungsbegriff zwar nicht im Zentrum der kritischen Philosophie Kants, hat jedoch den Rang eines geschichtsphilosophischen Fortschrittsund Perspektivbegriffs. Zur Aktualität von Aufklärung im Anschluss an Kant vgl. Schnädelbach (2004 a, 66), der im Sinne Kants für ein „strukturelles“ Aufklärungsverständnis plädiert, d. h. in der Aufklärung eine Aufgabe sieht, die sich immer wieder von neuem stellt (79). Im Unterschied zum 18. Jahrhundert, als das Problem der Aufklärung der Informationsmangel gewesen sei, sieht Schnädelbach das Problem heute in der „Desinformation im Informationsüberfluss“ (88).



1. Begriff der Aufklärung27

„Zeitalter der Vernunft“. Erst im Lichtschein der Vernunft, so schon die Frühaufklärung bei Thomasius und im Thomasianismus, werden die Dinge erkennbar.2 Einen eigenen Weg geht Kant mit seiner Aufklärungsdefinition. Nicht die Vernunft, sondern den Verstand, dessen sich jeder selbst bedienen muss, macht er zum Merkmal der Aufklärung. Er setzt also auf das selbständige Denkvermögen des Einzelnen. Die „Waffe“ der Aufklärung ist die „Kritik“. Deshalb nennt Kant das „Zeitalter der Aufklärung“ das „eigentliche Zeitalter der Kritik“. Der Kritik stellen muss sich nicht nur die Reli­ gion, sondern auch die Politik (KdrV, Vorrede, A XI), und Kant denkt nicht zuletzt an die Aufklärer selbst. Aufklärung ist immer auch die kritische Reflexion der Aufklärung, sprich des eigenen Handelns. Ein für diese Studie wichtiger Punkt ist die programmatische These Kants, dass wir keineswegs in einem „aufgeklärten“, sondern in einem „Zeitalter der Aufklärung“ leben (1977, A 485). Damit will er ausdrücken, dass Aufklärung eine ständige Aufgabe und im Grunde nicht abzuschließen ist. Aufklärung bedeutet, sein eigenes Denken und Handeln immerfort zu reflektieren, selbst dann noch, wenn gleichsam die höchste Reflexionsstufe erreicht ist. Diesen Gedanken nehme ich auf, wenn ich von „aufklärender“ Rationalisierung spreche. Aufklärung ist eine fortlaufende, sich immer wieder neu stellende Aufgabe. Ich bevorzuge den Begriff aufklärende Rationalisierung aus zwei Gründen, zum einen weil er dieses dynamische Moment, den Prozesscharakter der Aufklärung, ausdrückt, zum anderen weil er nicht den Anspruch erhebt, je aufgeklärte Rationalisierung zu sein. Mit aufgeklärter Rationalisierung könnte man ein mehr oder weniger fest umrissenes Projekt im Sinne einer wahren Rationalisierung assoziieren. Ein solches Projekt wäre Weber jedoch fremd. Das heißt jedoch nicht, dass in den Begriff aufklärende Rationalisierung kein normatives Moment einginge. Aufklärende Rationalisierung ist zugleich aufzuklärende Rationalisierung, aber eben ohne dass dahinter eine fest umrissene Vorstellung „wahrer“ Rationalisierung stünde. Man könnte auch sagen, es geht Weber um die Bedingungen der Möglichkeit einer aufgeklärten Rationalisierung. In diesem Punkt ist er ein Aufklärer im Sinne Kants, denn auch Kant geht es um die fortgesetzte Aufklärung, um eine Aufklärung, die sich auf dem Wege der Kritik und Selbstkritik immer wieder selbst finden muss, um eine Aufklärung der Vernunft. Für Kant gehören „Vernunft“ und „Kritik der 2  Schneiders 2005 a, 271 ff, der zeigt, dass der Aufstieg der Vernunft verbunden ist mit einem Abstieg des Verstandes. Während sich der Verstand auf ein Begriffsund Regelvermögen reduziert, wird die Vernunft, zumal dann bei Kant, zum „Vermögen zu einer transzendierenden Schau“, zum „Organ der Restmetaphysik“ (2005 a, 294 f.).

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

Vernunft“ zusammen. Die „Kritik der reinen Vernunft“ hat nicht zuletzt das Ziel, dem Absolutheitsanspruch der reinen Vernunft selbst Grenzen zu setzen. Kant benutzt die Metapher des „Gerichtshofs“, der die „gerechten“, sprich: berechtigten Ansprüche der Vernunft sichert, hingegen alle „grundlosen Anmaßungen“ verwirft (KdrV, Vorrede, A XI). Mit großem Gespür nimmt Kant mögliche Verfehlungen der Vernunft vorweg, die zu kontrollieren nach seiner Überzeugung nur die Vernunft selbst, und zwar als selbstkritische, zu leisten vermag. Der „Wahlspruch“ der Aufklärung lautet deshalb nicht nur: „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, sondern auch: „Misstraue dem möglichen Schein, misstraue Dir selbst!“ Kants „vernünftige Skepsis“ bewahrt ihn vor einer spekulativen Geschichtsphilosophie. Seine geschichtsphilosophischen Schriften enthalten zwar auch eine Kritik der empirischen Vernunft. Im Unterschied zu den Fortschrittshoffnungen von Aufklärungsphilosophen wie Voltaire sieht jedoch er in der Geschichte „nur“ eine Geschichte von Rechtsfortschritten, die konkreter Ausgestaltung durch die reine praktische Vernunft bedürfen (vgl. Höffe 2007 a, 247 ff.). Seine Geschichtsphilosophie hat den Status einer „Idee“, die keinen Absolutheitsanspruch erhebt und Aussagen vermeidet, die Entwicklung steuere „notwendig“ auf diesen oder jenen Punkt zu, obgleich eine optimistische Tendenz unverkennbar ist (Rohbeck 2004, 43 ff.). Man kann Kants kritisch-skeptische Zurückhaltung als Ausdruck eines tieferen Problembewusstseins für die Gefahren und Ambivalenzen von Vernunft und Aufklärung sehen. Kant problematisiert, was in der Lichtmetaphorik angelegt ist, die frühen Aufklärungsphilosophen aber noch ausblenden. 1). Licht kann die Eigenschaft haben zu blenden. Je direkter die Einstrahlung und je stärker die Intensität der Lichtquelle, desto größer die Blendung und auch Verwirrung der Sinne. Daraus können Fehlhandlungen resultieren. 2). Licht blendet nicht nur, Licht wirft auch Schatten. Während es bestimmte Dinge erleuchtet, treten andere zurück, bis hin zum fast vollständigen Verschwinden.

2. Licht, Schatten, Blendung Blendung, Schatten und Täuschung sind schon ein Thema der antiken Literatur von der „Ilias“ über die drei Tragiker Sophokles, Aischylos und Euripides bis Platon und dem Rousseau des 1. und 2. Discours oder Nietzsche, der die „alte Aufklärung“ als verkappte Theologie zu entlarven sucht und eine „neue Aufklärung“ postuliert. Spätere Autoren wie Horkheimer und Adorno machen die Aufklärung selbst für Verblendungen verantwortlich. Aufklärung sei das krasse Gegenteil ihres eigenen Anspruchs: „Massenbetrug“. Sie totalisieren Vernunft und Aufklärung in spezifisch negativer



2. Licht, Schatten, Blendung29

Weise. Wie inspirierend, aber zu Pauschalisierungen verleitend, die Lichtmetapher noch im Kontext der radikalen Vernunftkritik ist, zeigt Adornos „Negative Dialektik“ mit der These vom „universalen Verblendungszusammenhang“. Horkheimer spricht in den „Notizen“ statt von „Aufklärung“ von „Dämmerung“. Heidegger zielt in eine ähnliche Richtung, wenn er von „Seinsvergessenheit“ spricht. Das Metaphern-Gespann Licht-Schatten-Blendung eignet sich, so meine Ausgangsthese, ein Leitmotiv des Weberschen Denkens zu umschreiben. Als „Licht“ wird allgemein empfunden, was vor und um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert als Rationalisierung in die Welt tritt. Rationalisierung, so wie Weber den Begriff einführt, bedeutet das methodische Streben nach regelhafter Ordnung, zielt auf Berechen- und Beherrschbarkeit, Steigerung der Effizienz, Effektivität, „Erfolg“, bedeutet „Fortschritt“ im Sinne des Voranschreitens der instrumentellen oder Zweckrationalität (ausführlich dazu Kap. 3). Weber gebraucht den Begriff analytisch und mit kritischem Unterton, denn er sieht die Schatten, die Rationalisierung wirft, Schatten, die in der allgemeinen Wahrnehmung um die Jahrhundertwende zum Teil ausgeblendet werden. Es ist Weber, so meine These, der daran geht, das Voranschreiten der Rationalisierung als potentielles Blendwerk zu identifizieren. Wohlgemerkt: als potentielles, denn Weber verwirft nicht die Rationalisierung als solche, sondern arbeitet ihre Ambivalenz heraus. Den Kritikern der Rationalisierung fühlt er sich zwar verbunden und bescheinigt ihnen, dass ihre Kritik berechtigt sei.3 Er verweigert jedoch die Konsequenzen, die diese zu ziehen bereit sind. Stattdessen verspottet er sie als „große Kinder“, als Tagträumer und Illusionisten, etwa in „Wissenschaft als Beruf“ (1919), weil sie glaubten, Rationalisierung lasse sich rückgängig machen. Webers Spott trifft Kollegen, in „Politik als Beruf“ zieht er über die „Literatenpolitiker“ in und im Umkreis der Münchener Räterepublik her. Seine Kritik zielt auch auf den Heidelberger George-Kreis und den „Meister“ selbst, den Weber ironisch als „Weihen-Stefan“ bezeichnet.4 Ausdrücklich nennt Weber auch Georg Lukács (WL, 610), der für ihn als intellektueller Widerpart wichtig ist. Mit Lukács ist er über viele Jahre befreundet, will ihm zu einer Professur verhelfen, hält sich im Budapester Elternhaus auf, fördert dessen Arbeiten, auch wenn Lukács „Essayistik“, die mehr oder weniger offen mit dem Sozialismus sympathisiert, den eigenen 3  „Diejenigen, welche Rationalisierungen opponieren, sind durchaus nicht notwendig Narren.“ (Wertfreiheitsaufsatz, WL, 530) 4  Nachdem George und Weber sich 1910 erstmals persönlich begegnen, sieht Marianne Weber darin das Aufeinandertreffen von zwei „polaren Möglichkeiten des Menschentums“ (Lebensbild, 468). Die Hauptdifferenz besteht im Verhältnis zur Modernität, die Weber grundsätzlich bejaht, George hingegen ästhetisch überwinden will. Zum Verhältnis Weber / George vgl. Weiller 1994, 61 ff.

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit zuwiderläuft (zum Verhältnis Weber / Lukács ausführlich Kap. 2). Der zweite zentrale Gegenpol ist Robert Michels, der, nach einer Formulierung von Mommsen, Webers „gesinnungsethisches Alter Ego“ verkörpert.5 Die fortschreitende Rationalisierung aller Lebensverhältnisse, der öffentlichen, aber auch der privaten, gilt es nach Weber trotz ihrer Schattenseiten anzuerkennen, denn sie ist weder aufzuhalten noch rückgängig zu machen. Webers Haltung, seine „Lebensphilosophie“, kommt in kaum einem anderen schriftlichen Zeugnis so pointiert zum Ausdruck wie in einem Brief an Robert Michels (v. 4. Aug. 1908). Weber lässt nur zwei Optionen gelten: Entweder Negation und Überwindung der bestehenden Verhältnisse oder aber Arrangement damit und Engagement für Verbesserung. Weber nennt das: „(Cultur-)Bejahung unter Anpassung“. In einer aufschlussreichen persönlichen Note merkt Weber an, dass er „längst“ jener „Denkweise“ anhänge. Das „längst“ zeugt von Ernüchterung und dass er ein nicht näher bezeichnetes „Ideal“ vertreten hat. Weber nennt sich einen „‚bürgerlichen‘ Politiker“, der aber an Veränderung festhält und ankündigt, „das Wenige, was man … wollen kann“, auch zu verfolgen (MWG II / 5, 615 f.). Dass Weber sich hier als „Politiker“ sieht, korrespondiert mit seinen Versuchen, insbesondere vor und während des Ersten Weltkriegs auf dem Wege der Publizistik (abgesehen von einer erfolglosen Kandidatur für den Reichtag) Einfluss auf die deutsche Politik zu nehmen. Mina Tobler, der Freundin (und Geliebten), gesteht er seine „alte, heimliche Liebe“ zur Politik. Es scheint, als zöge er die Politik der Wissenschaft nicht nur als bessere Chance zum Broterwerb vor (Brief v. 27. Mai 1917, MWG II / 9, 653). Aber man sollte diesen angeblichen Präferenzen nicht zu großes Gewicht geben. Weber spielt nur mit dem Gedanken, in die Politik zu gehen, weil er erzürnt ist über die aus seiner Sicht grenzenlose Inkompetenz der deutschen Politik. „Dilettierenden Fatzkes wie Wilhelm II. und seinesgleichen“ spricht er die Eigenschaft als Politiker ab (Brief an Hans Ehrenberg v. 16. Juli 1917; MWG II / 9, 708). Wenn Weber über seine „politischen“ Ambitionen spricht, dann meint er damit, dass es ihm als Wissenschaftler durchaus auch um ein politisches Interesse geht, das zu verfolgen er für legitim hält, sofern die Rollen strikt getrennt werden. Nach diesem Muster des „klassischen“ Intellektuellen verfährt 5  Damit wirft Mommsen (1988 a, 198) auch ein Schlaglicht auf Webers Anerkennung von „gesinnungsethischen“ Motiven. Allerdings lehnt Weber den Gesinnungs-Rigorismus ab, dem die verantwortungsethische „Temperierung“ fehlt. Michels und Lukács sind Beispiele für die Gefahren dieses Denkens. Der eine entwickelt sich zum Apologeten des italienischen Faschismus, der andere zum Stalinisten. Beide berufen sich dabei auch auf Weber. Mommsen (1988 a, 215) führt dies auf eine spezifisch politische Indifferenz Webers zurück, eine These allerdings, die man nicht teilen muss, denn es geht Weber um den Ausschluss von politischem Extremismus jedweder Art. Dies ist keine politisch indifferente Haltung.



3. Wider den Substantialismus31

Weber selbst. Zeitweilig verlegt er sogar seinen Wohnsitz nach Frankfurt, nur um in die Debatte um die politische Neuordnung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg besser eingreifen und die örtliche Zeitung schneller beliefern zu können.

3. Wider den Substantialismus Interessant ist die Formulierung „das Wenige, was man … wollen kann“. In diesem Halbsatz steckt, so meine These, eine tugendethische Forderung nach Selbstbeschränkung, Nüchternheit und Augenmaß. In dem „wollen kann“ deutet sich Webers Begriff der Verantwortung an, den er in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ als eigenen Typus der Ethik entwickelt. Die ethische Trias der Selbstbeschränkung, der Nüchternheit und des Augenmaßes zu erfüllen fordert Weber vom Wissenschaftler und vom Politiker. Die Eigenschaften sind Elemente einer normativen Persönlichkeitstheorie, der er in der Sphäre der Politik den Machtwillen und Führungskompetenz addiert. Die beiden letzten Elemente scheint er sogar den anderen überordnen zu wollen, wodurch eine nicht unproblematische Spannung in seine Theorie der politischen Führungspersönlichkeit gelangt. Der Sinn der Wissenschaft liegt nach Weber darin – hier besteht eine interessante Parallele zum Begründer des Pragmatismus, Charles Sanders Peirce, (dazu Kapitel 7) –, Klarheit über das eigene Denken und Handeln zu gewinnen, mögliche Konsequenzen zu erkennen und zur Entwicklung von Verantwortungsgefühl und zur Selbstbesinnung beizutragen.6 Wissenschaftliche Tätigkeit, könnte man Weber weiterdenken, kann wie ein erzieherisches Programm wirken: Die Erkenntnis der Vielfalt berechtigter Wertstandpunkte und Deutungen kann (und soll) dazu führen, Maximalpositionen als unverantwortlich zu erweisen. Dies könnte mit dem Schritt gemeint sein, den Weber, im Gegensatz zu Michels, „längst“ hinter sich zu haben meint. Während jener die politische Gegenwart überwinden will, sieht Weber da­rin eine Gefahr. Webers Perspektive ist eine dezidiert reformerische. Ich möchte behaupten, dass er die Aufgabe der Wissenschaft gerade darin sieht, den Möglichkeitssinn für Reformen und Verbesserungen zu schärfen. Diese Leistung erbringt sie gerade auch dann, wenn sie strikt empirisch und wert6  Darauf zielt auch der Pragmatismus ab. „Klarheit“ erreichen, „Konsequenzen“ sehen, „Verantwortungsgefühl“ entwickeln und „Selbstbesinnung“ erreichen sind nach Weber die Ziele wissenschaftlicher Arbeit (WL, 607, 608, 609). Peirce bringt dies in „Wie unsere Ideen zu klären sind“ (1878) – der Aufsatz, der allgemein als Gründungsdokument des amerikanischen Pragmatismus gilt – so auf den Punkt, dass Wissenschaft dazu diene, „zu wissen, was wir eigentlich denken“, um auf diese Weise „eine solide Grundlage für große und schwerwiegende Gedanken zu schaffen“ (Peirce 1991 b, 185 f.)

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

frei ausgerichtet ist, in dem sie zum Beispiel die Folgen und Nebenfolgen, die beabsichtigten und die unbeabsichtigten, aufzeigt. In diesem Sinne kann die Wissenschaft „nützlich“ sein, ohne ihren Objektivitätsanspruch aufgeben zu müssen und instrumentalisiert zu werden. Man kann sagen: Weber kämpft an zwei Fronten. Zum einen tritt er ein für eine strikt reformerische Perspektive. Was darüber hinausgeht, hält er für gefährlich und unverantwortlich. Zum anderen: Es ist derselbe „Geist“ der Selbstbeschränkung und des Maßhaltens, der Vorsicht und Skepsis, der den Kampf an der zweiten Front motiviert: dies ist der Kampf gegen den Historismus, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts als Antwort auf einen beschleunigten sozialen Wandel entwickelt. Seine Vertreter sehen die Aufgabe der Wissenschaft darin, Ideale und Normen zu begründen, um das Werte-Vakuum aufzufüllen, das die säkularen Industriegesellschaften angeblich hinterlassen. Vertreter sind, in der Geschichtswissenschaft, Johann Gustav Droysen und Friedrich Meinecke, auch Theodor Mommsen, in der Philosophie vor allem Dilthey (Jordan 2002, 171 ff.). Die Entstehungsgründe des Historismus spiegeln sich in einem Wandel des Denkens wider. Der Historismus kommt in dem Augenblick stärker auf, als Hegels Philosophie einer alles umfassenden Vernunft ihre Integrationskraft verliert (vgl. Schnädelbach 1983, 138). Während sich unter der Dominanz der Philosophie Hegels die Notwendigkeit einer Selbstverständigung über den künftigen Weg der „Geschichte“ nicht ergibt – denn es handelt sich nach Hegel um per se vernünftiges Fortschreiten –, zerfällt nunmehr die unterstellte Einheit von Vernunft und Geschichte. Vernunft wird „historisch“. Der Historismus versucht den „Verstehensbedarf“, der aus dem „Verlust“ der Vernunft entsteht, zu stillen. Der Historismus ist mit einer spezifischen Denkform verbunden, die ich Substantialismus nennen möchte. Substantialistisch ist die Annahme, dass es bestimmte überzeitliche Werte gibt. Aus dieser Überzeugung heraus erklärt sich die grundlegende Skepsis des Historismus gegenüber dem „Fortschritt“. Die Vertreter des Historismus bekämpfen die Historisierung des Denkens, weil diese negative Auswirkungen auf die Gültigkeit bestehender Werte habe.7 Die Aufgabe des Historismus sehen sie gerade in der Verteidigung bestehender Werte und  /  oder der Neubegründung eines Wertesystems. Einen solchen Versuch unternimmt auch Heinrich Rickert. Sein Vor7  Eine Ausnahme ist Ernst Troeltsch, mit dem Weber einer „FachmenschenFreundschaft“ (Friedrich Wilhelm Graf) verbindet. Troeltsch sieht in der Historisierung des Denkens über den Menschen, seine Kultur und Werte gerade ein Grundcharakteristikum des Historismus (vgl. Jordan 2002, 172 f.). Troeltsch vertritt auch die These von der Endlichkeit allen Seins und Tuns. „Historistisch“ in seinem Sinne ist damit, was die Historisten gerade ausschließen. Weber teilt Troeltschs Sicht und macht sie zum Angelpunkt seiner entzauberten und entzaubernden Soziologie.



3. Wider den Substantialismus33

schlag einer hierarchisierten Werteordnung (vgl. Rickert 1999 c, 73 ff.) führt zu einer Differenz mit Weber, die grundlegend ist. Deshalb ist irritierend, wenn Weber und Rickert in einem Atemzug „Neukantianer“ genannt werden. Denn die Verpflichtung von Wissenschaft als Wertewissenschaft kommt für Weber einer Instrumentalisierung gleich. Wissenschaft wird aus seiner Sicht dann ideologisch entwertet; darin liegt bekanntlich der Ursprung der Werturteilstreits. Substantialistisch ist auch der Erkenntnisanspruch des Historismus, insofern nämlich, als er, wie Ranke dies bescheiden-unbescheiden formuliert, „bloß“ zeigen will, „wie es eigentlich gewesen ist“. Der Satz aus der „Vorrede“ der „Geschichten der romanischen und germanischen Völker“ (1824) kann als Motto des Historismus gelten. Später knüpft Droysen an Ranke an und schreibt ihn fort, wenn er in seiner „Historik“ (1857) das Verstehen als den „Inbegriff der historischen Methode“ bezeichnet, das ein vollständiges Erkennen ermögliche. „Nichts, was den Geist bewegt und sinnlichen Ausdruck gefunden hat, das nicht verstanden werden könnte …“ (Droysen 1977, 26). Er glaubt, durch „forschendes Verstehen“ und Interpretieren den „mehr oder minder zerstörten oder verwischten Formgebungen aus den Vergangenheiten“ ihre Gestalt zurückgeben zu können und damit in ihrem Wesensgehalt zu erfassen (1977, 27).8 Weber bestreitet das Erkenntnispotenzial der Verstehenstheorie des Historismus. Während dieser glaubt, Geschichte „intuitiv“ und „endgültig“ erfassen zu können, bedarf nach Weber jede auf dem Weg des Verstehens gewonnene Beobachtung (zusätzlich) der kritischen Überprüfung durch das Erfahrungswissen. In seinem Aufsatz „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ ist genau dies sein Kritikpunkt. Nach Weber ist das intuitive Erfassen von noch dazu subjektiven „Erlebungen“ (WL, 110) keineswegs schon Erkenntnis, sondern allenfalls der Weg dorthin. Er tritt ein für Verstehen und empirische Forschung, für ein Erforschen aller denkbaren Kausalitäten, für eine Berücksichtigung auch von „Umfeldtatsachen“ (Mommsen), wohl wissend, dass immer auch die Erkenntnis leitende Interessen im Spiel sind, weshalb es keine im strengen Sinn „objektive“ Forschung gibt. Aus diesem Grund setzt Weber im Objektivitätsaufsatz „Objektivität“ in Anführung, was so viel bedeutet wie: Erkenntnis wird zwar angestrebt, aber trotzdem nicht vollständig erreicht; Erkenntnis ist eine relative Größe.9 8  Zu Droysen als Geschichtstheoretiker des 19. Jahrhunderts vgl. Nippel 2008. Dort auch eine ausführliche Schilderung der Vermischung von Wissenschaft und Politik bei Droysen. Nach Nippel geht es Droysen vor allem um eine „sinnstiftende Darstellung der Vergangenheit“ (2008, 220). 9  Darauf werde ich später zurückkommen. Zur Debatte um den Verstehensbegriff im Historismus und der Kritik daran vgl. Mommsen 1988 b, 200 ff.

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

4. „Versachlichung“ der Philosophie Weber tritt nicht nur gegen den Historismus an, sondern er verwirft damit auch den Ansatz der Philosophie Hegels. Hegels Philosophieren in der Perspektive des Absoluten ist unvereinbar mit dem Wissenschaftsverständnis Webers. Strukturell ähnelt der Anspruch Hegels dem des Historismus. Das hat philosophiehistorische Gründe: Der Historismus versucht, die Lücke zu füllen, die die Hegelsche Philosophie hinterlassen hat, kann sich jedoch nicht vollständig von den Hegelschen Prämissen und Motiven lösen. Auch noch der Historismus glaubt, substantialistisch Antworten finden zu können. Darin könnte der Grund liegen, warum Weber in seiner Kritik des Substantialismus nicht zwischen der Hegelschen Philosophie und dem Historismus differenziert. Es widerstreben ihm jedwede Absolutheitsansprüche, wobei er für den Holismus Hegels, paradox genug, sogar anerkennende Worte findet (vgl. den Schluss von Kap. 2). Es lässt sich nicht feststellen, ob Weber Hegel gründlich studiert hat, aber in der „Vorrede“ zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ findet sich ein Satz, der gerade auch unter dem Aspekt der Kritik des Substantialismus interessant ist: „Darauf kommt es dann an, in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen.“ (1970, 25).

Die „Substanz“ und das „Ewige“ zeigen sich nicht unmittelbar, zur Erkenntnis bedarf es gerade der Philosophie. Darin liegt ihre Aufgabe, ihre spezifische Legitimation. An einer anderen Stelle sagt Hegel, die Aufgabe der Philosophie sei es, „das, was ist, zu begreifen“ (1970, 26). Alternative Formulierungen lauten: „das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen“ oder „das Ergründen des Vernünftigen“ (1970, 24 – kursiv im Original). Wenn Hegel schreibt, dass es ihm um die Erkenntnis des „Gegenwärtigen“, um das „Was ist“ geht, dann ist er eigentlich nicht so weit von Weber entfernt. Auf etwas durchaus Verwandtes zielt der Terminus „Wirklichkeitswissenschaft“. Weber will „die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenheit verstehen“; er will die Erscheinungen in ihrem „geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordensein“ begreifen (Objektivitätsaufsatz, WL, 170 f.). Diese Parallele verblüfft. Dennoch besteht eine grundlegende Differenz: Bei Hegel steht das Ergebnis bereits fest. Das „Erfassen des Gegenwärtigen“ ist schon zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hat. Denn Hegel will den „Staat als ein in sich Vernünftiges“ (26) begreifen. „Das, was ist“, erklärt er, ist die Vernunft (26). Philosophie wird so zur Legitimationswissenschaft; sie analysiert nicht, sondern sanktioniert (so auch Schnädelbach 2007, 120 ff.).



4. „Versachlichung“ der Philosophie35

Die Schlusspartien der „Vorrede“ belegen diese Interpretation. Hegel lehnt es ab, die Wirklichkeit an normativen Kriterien zu messen. Weber nicht unähnlich, schreibt er: „(Es) kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll …“; keine Philosophie, so Hegel, „geht über die gegenwärtige Welt hinaus“ (26); „ohnehin“ komme die Philosophie „immer zu spät“; wenn sie ihr „grau in grau malt“, „ist eine Gestalt des Lebens alt geworden“ (27 f.). Hegel gebraucht die Metapher von der Vernunft als „Rose im Kreuze der Gegenwart“ (26). Dieses „Kreuz“ möchte ich im Sinne von Leid oder Leiden interpretieren. Hegel geht davon aus, dass Leid überwunden werden kann und schon teilweise überwunden ist. Daher schreibt er, es gelte, sich an der „Rose“ zu „erfreuen“. Die „Rose“ versinnbildlicht die Hoffnung und das Licht; dies gilt es zu „erkennen“.10 Weber geht es nicht um das „Entzünden eines Lichts“, sondern darum, was man die Entsubstantialisierung oder Versachlichung der Philosophie nennen könnte. Darunter verstehe ich einen Ansatz, der sich gegen eine empirisch unkontrollierte normative „Aufladung“ von Begriffen wendet. Diese Transformation beginnt ansatzweise im Kategorienaufsatz, wo Weber in provozierender Weise den Staatsbegriff „entzaubert“: „Staat“ sei „nur ein Ablauf von menschlichem Handeln besonderer Art“ (WL, 440). Damit korrespondiert ein Selbstkommentar Webers zu den „Soziologischen Grundbegriffen“: „Es ist die seltsamste und asketischste Arbeit, die ich gemacht habe; die Leute werden zunächst kopfschüttelnd davor stehen.“11 Ein „Asket“ ist Weber nicht nur in normativer, sondern auch in sprachlicher Hinsicht. Wider seine sonstige Gewohnheit sind seine Sätze in den „Grundbegriffen“ kurz und knapp; die Paragraphen werden geradezu im Stakkato-Ton vorgetragen; es handelt sich um „Begriffsansagen“, die „gleichsam Schlag auf Schlag“ (Marianne Weber, Lebensbild, 689) erfolgen. Weber betont ei10  Es verwundert nicht, dass diese Passagen mit dem Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ Hegel den Vorwurf eingebracht haben, er verkläre alles Bestehende. Hegel verfasst die distanzierende Vorrede allerdings unter dem Eindruck möglicher politischer Repressionen, und das, was er in den Grundlinien“ als „vernünftig“ und „wirklich“ schildert, erweist sich im Vergleich zu den tatsächlichen Verhältnissen als weitgehend fortschrittlich. Insofern gelangt dann doch ein normatives Kriterium in das bloße „Erfassen des Gegenwärtigen“, und wenn die Philosophie einer „Gestalt des Lebens“ „grau in grau“ malt, dann zeichnet sich unter der grauen Oberfläche möglicherweise eine farbenfrohe Alternative ab. In diesem Sinne z. B. die Interpretation von Jaeschke 2003. 11  Zitiert bei Hanke 2001, 45 f.; auch in Mariannes „Lebensbild“ (1927, 688) ist der Satz, allerdings verkürzt, wiedergegeben. Wie Marianne erläutert, bezieht er sich auf die „Grundbegriffe“, die auch sprachlich in höchstem Maße „versachlicht“ sind. Es handelt sich quasi um definitorische Begriffsansagen („… soll heißen …“), die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, die wider Webers sonstige Gewohnheit kurz und knapp sind und „gleichsam Schlag auf Schlag“ (Lebensbild, 689) erfolgen. Vgl. hierzu auch den Anfang von Kapitel 8.

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gens, dass seine Begriffe keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, sondern sich vielmehr als Ausdruck eines methodischen Individualismus verstehen. Es gibt eine andere Stelle in einem Brief an den Freiburger Rechtswissenschaftler Hermann Kantorowicz, die den spezifischen Charakter seiner Soziologie auf den Punkt bringt: Sie ist der „Versuch, alles ‚Organizistische‘ … Überempirische, ‚Geltende‘ (= normhaft Geltende) zu beseitigen … (Brief v. 29. Dezember 1913; MWG II / 8, 442 f.). Dieses Bekenntnis zur antinormativen Begriffsaskese12 hat einen Preis: Es findet sich bei Weber nicht nur kein Bekenntnis zu einem politischen „Ideal“, sondern auch die Demokratie behandelt er „wertneutral“ als Regierungstechnik, um jeden normativen Anschein auszuschließen.13 Seit Mommsens Weber-Dissertation von 1959 ist jener Brief bekannt, in dem es heißt, Staatsformen, wie auch die Demokratie eine sei, „sind für mich Techniken wie jede andere Maschinerie“.14 Dieser Satz, ergänzt um Webers Plädoyer für ein „charismatisches Führertum“, hat in der Vergangenheit immer wieder dazu gedient, Weber aus der Tradition demokratischen Denkens auszuschließen – in der zu stehen er übrigens gar nicht in Anspruch nimmt; dies hat für ihn sekundäre Bedeutung.15

5. Antinormativer Normativismus Man sollte Weber jedoch kein rein technizistisches Politikverständnis unterstellen. Sich ein faires Urteil zu bilden setzt die Berücksichtigung des Kontextes voraus. Der Satz fällt, als Weber die politische Führung kritisiert, 12  Sternberger (1980, 143) spricht in seinem Aufsatz über „Max Weber und die Demokratie“ von der geradezu „wütenden Askese der Weberschen Epistemologie“. 13  Ich werde im Laufe dieser Arbeit und vor allem in dem Kapitel über die moralphilosophischen Reflexionen zeigen, dass für Webers Texte trotzdem ein stark normativer Impuls charakteristisch ist, den er zwar herauszuhalten strikt bemüht ist, was ihm jedoch nicht immer gelingt. 14  Der Brief an den Heidelberger Privatdozenten und späteren Mitbegründer der Bekennenden Kirche, Hans Ehrenberg, v. 17. Juli 1917 ist jetzt zugänglich in MWG II / 9, 707 ff. 15  Zum Thema „Max Weber und die Demokratie“ siehe neben dem erwähnten Beitrag von Sternberger (1980) aus jüngerer Zeit Schönberger (2007, 157 ff.), der Webers „Cäsarismus“ als Gegenprinzip zur drohenden „totalen“ bürokratischen Herrschaft deutet. Demokratie identifiziere Weber mit Herrschaftsfreiheit. Sie sei damit gegen die Bürokratie unwirksam. Siehe auch Schluchter (2009, 91 ff.), der in Weber einen Anhänger der Demokratie präsidialen Zuschnitts sieht. Schluchter meint, Weber hätte die heutige bundesdeutsche parlamentarische Demokratie als „führerlose Demokratie“ betrachtet. Mit Blick auf die große Macht begründende „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers wäre dieser unterstellte Einwand jedoch nicht zutreffend.



5. Antinormativer Normativismus37

die „Charakterlosigkeit“ des „gekrönten Dilettanten“ und die Unselbständigkeit seiner „Adjutanten“. In einer „rücksichtslosen Parlamentarisierung“ sieht Weber den Weg, „diese Leute ‚kaltzustellen‘“ (MWG II / 9, 708). Zahlreiche Briefe, die Weber in den Jahren 1916–17 schreibt, beklagen das Nichtvorhandensein eines „Staatsmannes“, und die Schlusspassagen von „Politik als Beruf“ entwerfen das Modell einer politischen Führung, die nicht nur Machtbewusstsein und politisches Geschick, sondern auch und vor allem Urteilskraft und Moralität besitzt (dazu auch Kapitel 6). Der berühmte Satz von Burkhardt, „Größe ist, was wir nicht sind“, hätte auch von Weber stammen können.16 Webers Problem sind weniger die Institutionen als vielmehr die Personen und deren angebliche Inkompetenz. Dieser Blickwinkel hat freilich den Preis eines spezifischen Indifferentismus gegenüber der Demokratie als politischer Wertordnung. Sternberger meint, „die gesamte Dimension der Zivilität, des Bürgerlichen oder des eigentlich und buchstäblich Politischen“ falle heraus (1980, 149). In der Tat würde man Weber kein Unrecht tun, spräche man von einer spezifischen Leidenschaftslosigkeit, dabei den oft zitierten Satz im Sinn: „Denn nichts ist für den Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“ (MWG I / 17, 81). Weber betrachtet Demokratie primär unter dem Blickwinkel eines geeigneten Instrumentariums der „Führerauslese“; sie ist für ihn ein Mittel, politischen Führungsnachwuchs zu rekrutieren. Als normatives Ideal, das bestimmte Werte ermöglicht und schützt, rückt die Demokratie nicht in sein Blickfeld. Der Gegenstand seiner Politischen Soziologie ist nicht die Demokratie, sondern sind Herrschaft und deren Legitimation, die auf verschiedenen Wegen erfolgen kann, wobei Weber den demokratischen Legitimitäts­ typus durchaus erwähnt, ihm jedoch keine den drei anderen Legitimitäts­ typen gleichwertige Darstellung widmet.17 Weber ist auf dem normativen Auge aber nicht einfach nur blind; er suspendiert absichtlich die normativen Fragen.18 Dies hat problematische Fol16  Die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“, 1905 erstmals ediert, hat Weber intensiv studiert. Bei seinen Studenten setzte er die Kenntnis dieses Buchs voraus. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Burkhardts Vortrag über den Einzelnen und historische Größe, dem das Zitat entnommen ist (Burkhardt 1978, 209), Weber bei der Bildung seiner Theorie des „charismatischen Führers“ beeinflusst hat. In der Literatur wird meist als Einflussquelle Nietzsche angegeben. Auch Burkhardts Vortrag über „Glück und Unglück in der Weltgeschichte“ könnte Spuren hinterlassen haben. 17  Der demokratische Legitimitätstypus erscheint an dem ungewöhnlichen Ort des Kapitels „Die herrschaftsfremde Umdeutung des Charismas“ der Herrschaftstypologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WG, 156). Weber erwähnt ihn nicht, weil er ihn normativ für wichtig halten würde, sondern weil er ein zeitgeschichtlich zunehmend wichtiger werdender Legitimationsmodus sei. 18  Sukale (2002, 439) meint, Weber wende sich „ausdrücklich gegen die aristotelische Wissenschafts- und Begriffslehre“ (2002, 439). Weber nennt Aristoteles aller-

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gen: Nicht nur der Demokratie als Werteordnung, auch den Menschenrechten schenkt er kaum Aufmerksamkeit. Er setzt sie sogar durchweg in Anführung und nennt sie „extrem rationalistische Fanatismen“ (WG, 2). Dieser Punkt ist bisher kaum oder nur lückenhaft untersucht worden.19 Es lohnt sich, gerade vor dem Hintergrund versteckter normativer Implikationen, genauer hinzusehen. Weber interpretiert die Menschenrechte selektiv. Die Herrschafts- wie die Rechtssoziologie zeigen, dass er sie weitgehend gleichsetzt mit „ökonomischer Bewegungsfreiheit“ (WG, 726). „Menschenrechte“ sind für ihn weniger individuelle Schutz- und Abwehrrechte als „Vorbedingungen für das freie Schalten des Verwertungsstrebens des Kapitals“ (WG, 726). Sie kämen „in ganz spezifischer Art der Expansion des Kapitalismus entgegen“. Das erinnert an Marx. In seiner Schrift „Zur Judenfrage“ thematisiert dieser das innere Spannungsverhältnis der Grund- und Menschenrechte und interpretiert sie als Rechte der Besitzbürger (bourgeois), während sie als Aktivrechte der Staatsbürger (citoyen) wirkungslos seien (Marx 1971, 192). Für Marx zielen die Menschenrechte nicht auf eine Verbindung der Menschen mit den Menschen, sondern setzen die Trennung voraus. Marx unterscheidet den „egoistischen Menschen“ vom „Gattungswesen“ (1971, 194). Sein Vorwurf lautet: Die Menschenrechte blendeten das „Gattungswesen“ aus. Dahinter steht die grundsätzliche Kritik der Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, wie sie Hegel in der Rechtsphilosophie vollzieht und dann glaubt, über den Staat als metaphysisches Konstrukt wieder „aufheben“ zu können. Marx lässt es gewissermaßen gar nicht so weit kommen und steuert eine eigentumslose Ordnung an, in der Menschenrechte (angeblich) überflüssig sind.20 dings nicht „ausdrücklich“. Er richtet sich vielmehr gegen normative Ansätze im Allgemeinen. 19  Vgl. den Aufsatz von Joas (2003), der allerdings einen Schwerpunkt auf Georg Jellinek legt. In seinem neuen Buch „Die Sakralität der Person“, das eine „neue Genealogie der Menschenrechte“ zu begründen versucht, geht Joas ausführlicher auf Weber ein (2011, 54 ff.). Von König (2002) stammt eine Arbeit über Menschenrechte bei Durkheim und Weber. Der Autor hebt hervor, dass das Freiheitsverständnis Webers deckungsgleich sei mit dem Freiheitsverständnis in den Menschenrechten. Er weist (wohlwollend) auf Webers „ausgeprägtes Bewusstsein“ für die Ambivalenz der Menschenrechte hin (2002, 78 ff.). In der Tendenz ähnlich die Weber-Studie von Brugger (1980) zu „Menschenrechtsethos und Verantwortungspolitik“, der in Webers Konzept einer verstehenden Sozialwissenschaft eine „kommunikationseröffnende“ Chance sieht, „Wirklichkeits- und Prinzipienebene“ miteinander zu vermitteln (310 f., 322.) und damit in Webers wissenschaftlichem Ansatz indirekt einen Beitrag zur Begründung einer normativen Ethik, wie sie die Menschenrechte implizieren, sieht. 20  Diese Prämisse geht freilich nur auf, wenn Eigentumsfragen als alleiniger Konfliktherd betrachtet werden. Wie unverzichtbar Menschenrechte als gegen den Staat gerichtete Abwehr- und Freiheitsrechte sind, hat die Praxis der politischen



5. Antinormativer Normativismus39

Vor dem Hintergrund seiner juristischen Vorbildung ist es mindestens irritierend, dass Weber die Menschenrechte mit Marx lediglich als Rechte zur Entfaltung wirtschaftlicher Aktivität und deren Sicherung in Form von Eigentumsrechten auffasst. Ihre fundamentale Bedeutung als Herrschaft begrenzende und staatliche Willkür ausschließende Freiheitsrechte scheint ihn nicht zu interessieren. Es ist zwar nicht ganz klar, ob dies aus einem falsch verstandenen Antinormativismus erfolgt, aber Webers antinormative Haltung dürfte, wie schon bei seiner Sicht der Demokratie, desensibilisierend gewirkt haben, denn nicht eine Überlegung widmet er diesem Fragekomplex. Das verwundert nicht zuletzt deshalb, weil Georg Jellinek, einer seiner engsten Gefährten, 1895 eine noch heute gelobte Studie zur Ideengeschichte der Menschenrechte vorlegt, die Weber maßgeblich zur ersten Protestantismusstudie inspiriert.21 Dieses kleine Buch ist auch wegweisend für das Verständnis von individuellen Rechten. Jellinek führt aus, dass sich mit der Amerikanischen Revolution ein System persönlicher und einklagbarer Rechte herausbildet, die ein „Unterlassen des Staates“ begründen. Es handelt sich mithin um Abwehrrechte des Bürgers, die nicht zuletzt eine Wurzel im Naturrecht haben (vgl. Jellinek 1996, 61 u. 94). Jellinek interessiert insbesondere die Schutz- und Abwehrfunktion der Menschenrechte. In diesem Kontext entwickelt er die These, dass Rousseau nicht als einer der Väter der Menschenrechte in Anspruch genommen werden könne, denn in seiner vertragstheoretischen Konstruktion des Staates seien keine Individualrechte vorgesehen. Jellineks Studie inspiriert Weber zwar, die tragende Funktion der stark religiös orientierten Siedler bei der Entstehung des Kapitalismus herauszuarbeiten, aber sie trägt nicht dazu bei, seinen Blick zu weiten und die Schutz- und Abwehrfunktion der Menschenrechte als wichtiges Gut zu erkennen.22 Bei einer Bewertung ist jedoch zu berücksichtigen, dass es zum Systeme gezeigt, die sich auf Marx beriefen. Zur Bedeutung der Menschenrechte als einer absoluten und universell gültigen politischen Idee vgl. Höffe 1996 b, 49 ff. sowie Menke / Pollmann 2007. 21  Jelinek führt aus, dass eine kleine Zahl christlicher Amerika-Einwanderer die Menschen- und Bürgerrechte als kodifizierte individuelle Rechte erfunden hat. Die Menschenrechte haben nach Jellinek zuerst in Amerika verfassungsrechtliche Anerkennung gefunden, und zwar mit den „Bill of Rights“ (Jellinek 1996, 87). Damit bezieht er Position gegen die damals vorherrschende Auffassung, die Menschenrechte seien mit der Französischen Revolution entstanden. Jellinek führt ihre Entstehung auf das Interesse der Siedler an uneingeschränkter wirtschaftlicher und politischer Freiheit, insbesondere auch auf das Streben nach Unabhängigkeit vom Mutterland England zurück. Zur Debatte über Jellineks Schrift vgl. die Beiträge in Schnur 1964. Dort auch ein Wiederabdruck der Schrift von Jellinek. 22  Zum Verhältnis Weber  / Jellinek vgl. den Aufsatz von Anter 2000, 67 ff. 1898 hält Jellinek in Wien einen zukunftsweisenden Vortrag über „Das Recht der Mino-

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

Zeitpunkt des Erscheinens der Jellinek-Abhandlung in Deutschland nur in den Verfassungen der Länder Menschen- und Bürgerrechtsgarantien gibt. Die Verfassung des Reiches sieht keine solchen vor und die Staatsrechtslehre lehnt sie als überflüssig, auch als „ungermanisch“ und „politisch“ ab. Erst in der ersten Hälfte der 20er Jahre avancieren die Grundrechte zu klassischen subjektiv-öffentlichen Schutz- und Abwehrrechten. In Form eines Grundrechtskatalogs finden sie Eingang in den hinteren Teil der Weimarer Reichsverfassung. Sie verkörpern so etwas wie eine objektive Werteordnung, die eine Abkehr vom positivistischen Rechtsverständnis bedeutet (vgl. Stolleis 2000, 110 ff.). Wenn Weber den Wert der Menschenrechte eher gering schätzt, dann entspricht dies also durchaus der damals herrschenden Lehre in der Jurisprudenz. Allerdings kann man nicht behaupten, Weber hätte nicht um die normative Dimension des Rechts gewusst, deren Ausdruck die Menschenrechte auch sind. In der Rechtssoziologie findet sich eine interessante Reflexion. Nicht zuletzt gegen den herrschenden Rechtspositivismus gerichtet, konstatiert Weber eine „fortschreitende Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen Axiome“. Dafür macht er den „juristischen Rationalismus“ und die moderne intellektualistische Skepsis verantwortlich (WG, 502). Den Punkt führt er jedoch nicht weiter aus. Offensichtlich geht er von einer „Entzauberung“ des normativen Rechts zugunsten einer „rationalisierten“ Rechtspraxis aus. Eine Verlustgeschichte andeutend, bemerkt er, die naturrechtlich geprägten Rechtsvorstellungen hätten das Recht mit einer „überempirischen Würde“ ausgestattet, während es heute zum „Produkt und Mittel eines Interessenkompromisses“ degeneriert sei. Diese Passagen zeigen, dass sich Weber der normativen Dimension des Rechts sehr wohl bewusst ist. Interessant ist die angedeutete These, dass das Recht seine Normativität offensichtlich selbst herausfordert, ja zerstört. Dies korrespondiert mit der These der ersten Protestantismusstudie, wonach die Religion als Geburtshelfer des kapitalistischen Wirtschaftssystems fungiert, dadurch jedoch in den Sog eines Prozesses der Säkularisation gerät, der an ihrer Substanz rührt und sie in Frage stellt. Wenn Weber die Menschenrechte als „extrem rationalistische Fanatismen“ bezeichnet, könnte man, in Analogie zu seinen Ausführungen über den Verlust der „überempirischen Würde“ des Rechts, zu dem Schluss kommen, dass er diese Formulierung kritisch meint. Weber spräche dann über eine degenerierte Form der Menschenrechte, über ihre Reduktion auf bloße Wirtritäten“, das durch die Mehrheitsregel gefährdet werde und deshalb einer verfassungsrechtlichen Sicherung bedürfe. Zu Jellinek vgl. aus jüngerer Zeit den Band von Paulson / Schulte 2000, in dem der Anter-Aufsatz enthalten ist.



5. Antinormativer Normativismus41

schaftsbürgerrechte. Aber das bleibt eine Spekulation, da Weber zu den Gründen seiner Wortwahl nichts sagt. Es geht hier vor allem um den Punkt, dass die wissenschaftliche Perspektive, die Weber verfolgt, zwar bewusst antinormativ ist; dies heißt aber nicht, dass er Normativität generell ablehnend gegenüberstünde. Eine These dieser Arbeit (die ich in Kapitel 6 über Webers „Minissima Moralia“ entfalte) ist vielmehr, dass der zum Teil rigide Ausschluss von normativen Fragen ein Indiz für starke normative Antriebe ist, um deren „Irrationalität“ Weber weiß, die er deshalb von einer Wissenschaft, die sich als „rational“ versteht, fernzuhalten bemüht ist. Aus diesem Grund wertet Weber Wertfragen nicht ab – denn er hält sie ja für legitim und wichtig –, sondern sagt nur: Sie sind nicht Sache der empirischen Wissenschaften. Weber billigt deshalb keine normativen Grenzüberschreitungen, weil er fürchtet, dass dann die Dämme brächen und die Wissenschaften ihre gebotene Neutralität aufs Spiel setzten. Die Philosophie hingegen besitzt als methodische Reflexion die Legitima­ tion für normative Fragen, das sagt Weber ausdrücklich im Objektivitätsaufsatz, wobei er von der „Sozialphilosophie“ spricht und keinen Unterschied zur Moralphilosophie macht (WL, 150). Die Philosophie hält er für legitimiert, in Geltungsfragen Stellung zu beziehen, die nicht Gegenstand einer „Erfahrungswissenschaft“ sein können, wie er schreibt (WL, 152). Weber denkt an eine strikte Arbeitsteilung zwischen normativen und empirischen Wissenschaften und berührt sich damit im Übrigen erneut mit dem Hegel der „Vorrede“. Hegel spricht zwar nicht von der normativen Kompetenz der Philosophie, sondern hat eher ihre legitimatorische Funktion im Sinn, aber beide treten ein für eine strikte Arbeitsteilung, verorten sich nur an entgegengesetzten Polen, ohne dabei die jeweils andere Seite abzuwerten. In diesem letzten Punkt besteht große Übereinstimmung: die jeweils eigene Wissenschaft soll nicht erhöht werden, vielleicht können sich beide sogar sinnvoll ergänzen. Die Aufgabe, die Weber den empirischen Wissenschaften zuschreibt, geht freilich weit über ein „positivistisches“ Faktensammeln hinaus. Paragraph 1 der „Soziologischen Grundbegriffe“ sagt, die Soziologie als empirische Wissenschaft will „soziales Handeln deutend (verstehen) und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich (erklären)“ (WG, 1). Das Neue daran ist, dass Weber Verstehen und Erklären zusammendenkt, was in der Tradition Diltheys bis dato getrennt ist (Schluchter 2009, 117 f.; vgl. auch Mommsen 1986). Für Weber sind Verstehen und Erklären zwei Seiten der Medaille; er verbindet beide zum verstehenden Erklären bzw. erklärendem Verstehen. Dahinter steht der Gedanke, dass sich Handeln erst verstehen lässt, wenn es sich erklären lässt, d. h. es muss für dieses Handeln rechtfertigende Gründe geben. Dabei ist es für Weber unerheblich, ob die rechtfertigenden Gründe berechtigt in einem normativen Sinne sind. Darin

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

liegt eine Pointe seines Ansatzes: dass er prinzipiell jedem Handeln „Ratio­ nalität“ zubilligt; „Rationalität“ versteht er als standpunktabhängig. „Rationalität“ ist ein relativer Begriff, von einem Standpunkt aus kann etwas „rational“, von einem anderen aus „irrational“ sein. Das Kriterium ist: Nachvollziehbarkeit vom jeweiligen Standpunkt aus. Aus dieser Perspektive kann auch festgestellt werden, ob ein Handeln normativ richtig ist, aber normativ richtig im Hinblick auf die subjektive Überzeugung, was normativ richtig ist. Eine objektive normative Richtigkeit gibt es für Weber nicht. Dahinter steht die Überzeugung, dass handlungsorientierende Wertmaßstäbe relativ sind. Es gibt keine allgemein und zeitlos gültigen Wertmaßstäbe (dazu Kapitel 3 und 4).

6. Die Eröffnung von Möglichkeitshorizonten Weber ist in diesem Punkt ein seiner Zeit voraus denkender Autor. Er anerkennt die Vielfalt und Heterogenität der Handlungsmotive. Seine Aufgabe sieht er darin, Handlungsmotivationen erklärend zu verstehen bzw. verstehend zu erklären. Damit ist Wissenschaft keineswegs auf die Rolle eines Statisten oder Protokollanten der Wirklichkeit reduziert. Meine These ist, dass Webers Verfahren weitreichende Implikationen hat. Mein Eindruck ist, dass dies in der Literatur unterschätzt wird. Wer etwas versteht und erklären kann, hat etwas be-griffen. Er „besitzt“ und „kontrolliert“ es. Eine Handlung ist entschlüsselt und wird nachvollziehbar: welche Motive ihr zugrunde liegen, wie es zu bestimmten Ergebnissen kommen kann, was passiert wäre, wenn andere Motive zugrunde gelegen hätten. Verstehen und Erklären haben aufklärende Wirkung. Man weiß darum, wie etwas zustande gekommen ist, auch wie es hätte anders gemacht werden können. Verstehen und Erklären eröffnen einen Möglichkeitshorizont: um zu korrigieren, neu zu justieren, andere Akzente zu setzen, Fehlentwicklungen abzuwenden, die Richtung zu ändern, bei einer sich erneut bietenden Chance von vornherein anders, klüger und informierter zu handeln. Ich möchte einen Moment bei einem Begriff bleiben, dem in der Literatur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird: beim Begriff der Chance.23 Die Suchabfrage der auf CD-ROM erfassten Werke, rund 12.000 Seiten, ergibt fast 280 Nennungen, und zwar in den methodologischen wie auch in den religionssoziologischen und politischen Schriften (vgl. Weber 2001). Es kommt zu teilweise kuriosen Wortverbindungen. In der kürzlich veröffentlichten Vorlesung über „Allgemeine Staatslehre und Politik“ (1920) definiert er die Schulen als „Prügelchance“. Der „Schutzmann“ ist eine Sicherheits23  Radkau (2005, 171) schreibt: „Die vorgestellte Praxis blieb stets ein Antrieb seines Denkens; er dachte am liebsten in Handlungschancen, nicht in Strukturen.“



6. Die Eröffnung von Möglichkeitshorizonten43

chance. Das Zusammentreffen von „Gericht“ und „Gesetzen“ nennt er ebenfalls „Chance“. Dies darf man wohl so auffassen, dass mit der Rechtsprechung die Chance gegeben ist, Gesetzesübertritte zu bestrafen. Künftige Rechtsverstöße können damit eher ausgeschlossen werden. Rechtsprechung birgt also eine „Abschreckungschance“. „Herrschaft“ ist die „Chance, für einen Befehl Gehorsam zu finden“ (MWG III / 7, 74). „Staat“ bestimmt er nicht wie die Juristen noch heute im Anschluss an Jellineks Drei-Elemente-Lehre als gleichzeitiges Vorhandensein von Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet, sondern (wie Herrschaft) als „Gehorsams-Chance“. Staat ist die „Vorstellung einer Ordnung“, die die „Chance“ hat, dass die Menschen ihr gehorchen, weil sie sie für legitim halten (MWG III / 7, 68). Wenn der Staat keine Chance auf Gehorsam hat, geht er unter (MWG III / 7, 69). Weber bringt nicht das Kriterium für den Staat, das immer wieder mit ihm in Verbindung gebracht wird: das „Monopol der legitimen Gewaltsamkeit“, sondern er hebt ab auf die Legitimationsbedürftigkeit. Das könnte, mitten im Konstituierungsprozess einer neuen politischen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg, auch politische Gründe haben. Den Staat sieht er als ein brüchiges Konstrukt, das eine andere Form annimmt, sobald der „Legitimitätsglaube“ wechselt. Bezeichnend ist hier die Wortverbindung „Legitimitätsglaube“. Weber schlüpft in die Perspektive derjenigen, die den Staat rein subjektiv für legitim halten. Der wissenschaftliche Beobachter nimmt sich vollständig zurück. Er beschreibt eine Praxis und billigt ihren Motiven Legitimität zu, weil nur die Perspektive der Handelnden zählt. Man muss einmal darüber nachdenken, warum Weber so verfährt und was er mit dieser Art der Forschung erreicht. Er entwickelt Verständnis für gänzlich heterogene Handlungsmotive. Aus Sicht des Handelnden ist es rational, so und nicht anders zu handeln, oder eine politische Ordnung ist deshalb legitim, weil die und die Gründe für sie sprechen. Weber lehnt absolute Maßstäbe ab, denn die Welt, in der wir leben, ist ein Konstrukt, und auch die Ordnungen, in denen wir leben, sind Konstrukte, die nie endgültig sind, sondern einem fortlaufenden Wandel unterliegen und je nach Perspektive unterschiedlich gesehen werden können, „Chancen“ eben. Mit dem konzeptionellen Gebrauch des Begriffs der Chance ruft Weber die grundlegende Dynamik des Lebens in Erinnerung, die die historistische und die deterministische Geschichtsauffassung ausblenden. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass Weber auch gegen konkurrierende Forschungsansätze antritt, die er pauschal als „metaphysisch“ oder auch „spiritualistisch“ charakterisiert. Das ist Gegenstand seiner zum Teil heftigen Kritik an Roscher und Knies, denen er vorwirft, eine besonders triviale Variante deterministischen Geschichtsdenkens zu vertreten.

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

In diesem Zusammenhang ist auf Webers Theorie „objektiver Möglichkeitsurteile“ hinzuweisen, die er im zweiten Teil seiner kaum interpretierten „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ (WL, 266  ff.) entwickelt. Als „objektive Möglichkeitsurteile“ bezeichnet er begriffliche Vorentwürfe von sozialen Entwicklungen, die auf Wahrscheinlichkeitsannahmen beruhen. Möglichkeitsurteile basieren, wie er schreibt, auf „Tatsachenwissen“ und „Regelwissen“, das sich durch empirische Forschung gewinnen lässt. Weber sieht bestimmte „Gradabstufungen“ vor, die unterschiedliche Grade der Plausibilität von möglicherweise eintretenden Entwicklungen bezeichnen (WL, 284). Eine Aufgabe der Wissenschaft sieht Weber darin, solche „objektiven Möglichkeitsurteile“ zu treffen. Damit bekommt Wissenschaft praktische Relevanz und kann etwa der Politikberatung dienen. Chancen alternativer Entwicklung können aber nur gesehen werden, wenn die tatsächliche Entwicklung nicht als statisch und irreversibel angesehen wird. Dafür gilt es, so würde ich Webers Theorie objektiver Möglichkeitsurteile interpretieren, Bewusstsein zu schaffen.

7. Lernen für die Zukunft Durch sprachliche Feinheiten bestärkt Weber sein Motiv. Er setzt häufig Anführungen, um den Eindruck zu vermeiden, es handele sich um Feststehendes oder Festgefügtes. Kollektivsingulare wie „Gesellschaft“ oder „Gemeinschaft“, „Nation“ oder „Rasse“ sucht Weber entweder zu vermeiden oder setzt sie zumindest in Anführung. Er verflüssigt die Begriffe und bevorzugt dynamisierende Wortkreationen: statt „Gesellschaft“ „Vergesellschaftung“, statt „Gemeinschaft“ „Vergemeinschaftung“, statt „Rationalismus“ „Rationalisierung“. Dahinter steht die Absicht, möchte ich behaupten, scheinbar unverrückbare Normen aufzulösen und „Chancen“, sprich: Entwicklungspotenziale und Handlungsalternativen aufzuzeigen. Meine These ist: Weber zielt darauf ab, Lernchancen für die Zukunft zu eröffnen. Es geht ihm um die „Chance“ eines Denkens in Alternativen. Darin liegt die spezifisch aufklärende Intention dieses Denkens. Aufgeklärt ist es insofern, als es nicht sagt, ob und welche Chancen ausgeschlagen oder ergriffen werden sollten. Im Sinne Kants und des „Wahlspruchs der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ setzt Weber auf Einsichtnahme, auf Selbstverantwortung, auf Mündigkeit. Diese Kompetenzen können nur auf dem Boden von Wissen und Erfahrung wachsen. Aufgabe (nicht nur, aber auch) der Wissenschaft ist es, dieses Wissen zu ermöglichen. Insofern leben wir noch nicht in einem „aufgeklärten Zeitalter – wohl aber in einem Zeitalter der Aufklärung“ (Kant 1977, A 485)



7. Lernen für die Zukunft 45

Wenn Weber darangeht, den Prozess der Rationalisierung erklärend zu verstehen bzw. verstehend zu erklären, dann geschieht dies auch in der Absicht, einerseits die kritische Frage nach den Folgekosten und andererseits die Frage nach den Lehren aufzuwerfen, die daraus zu ziehen sind. Dies machen die drei letzten Seiten des ersten Protestantismusaufsatzes besonders deutlich. Hier fallen die berühmten und vielfach zitierten Worte vom „stahlharten Gehäuse“ der Hörigkeit und den „Fachmenschen ohne Geist“ und den „Genussmenschen ohne Herz“ (RS I, 203, 204). Hier deutet Weber sogar einen möglichen Untergang an, wenn er meint, der „mächtige Kosmos der modernen … Wirtschaftsordnung“ werde das Schicksal jedes Einzelnen „vielleicht“ so lange bestimmen, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“ (RS I, 203). Die eigentliche Pointe ist aber nicht diese düstere, kulturpessimistische Gegenwartsdiagnose, sondern eine zweifache soziologische Erkenntnis: Erstens: „Rationalisierung“, d. h. die möglichst effiziente Unterwerfung „der Welt“ unter die menschliche Verfügungsgewalt, verursacht Folgekosten. Die wichtigste: der Zugewinn an Effizienz ist erkauft durch einen Verlust an Menschlichkeit. Der markante (aber selten zitierte) Satz, in dem Weber dies ausdrückt, lautet: „Das seines religiös-ethischen Sinnes entkleidete Erwerbsstreben (neigt) heute dazu, sich mit rein agonalen Leidenschaften zu assoziieren …“ (RS I, 204). Später, in der „Zwischenbetrachtung“, spricht Weber dann sogar, alles andere als „wertfrei“ und durch und durch „kathederprophetisch“, von der „Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit“ (MWG I / 19, 520). Zweitens: Es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, dass Geschichte nicht-linear und unvorhersehbar verläuft. Weber bricht hier mit dem geschichtsphilosophischen und deterministischen Denken, das in den zeitgenössischen Wissenschaften tonangebend ist. Vor allem zwei Paradoxien hat er vor Augen: Dass es ausgerechnet die weltabgewandte Askese des Puritanismus ist, die das effizienteste Wirtschaftssystem der Welt: den Kapitalismus hervorgebracht hat; und dass dieselbe Ordnung, die ihr Entstehen religiösen Kräften verdankt, diesen sukzessive ihre Existenzbedingungen entzieht. Man könnte dies die Selbstdestruktion puritanischer religiöser Ethik im Augenblick ihrer vollständigen Entfaltung nennen. Die Selbstzerstörung der asketischen Religion ist aber nur der oberflächliche Ausdruck einer tiefer reichenden Selbstzerstörung infolge der Rationalisierung. Webers Thema ist der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der nur berechnenden, kalkulierenden Vernunft, die er „Zweckrationalität“ nennt. Wenn Weber die „Rationalisierung“ anspricht, meint er das praktische Wirksamwerden von Zweckrationalität, und dies in kritischer Absicht. Meist die Schlusspassagen seiner Texte lassen deutlich erkennen: die berechnende

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

Vernunft hält er für ein großes, wenn nicht das größte Verhängnis. Gibt es eine „Chance“, dem Verhängnis zu entrinnen, oder ist es „Schicksal“, dem wir uns fügen müssen? Immer wieder kommt Weber an diesen Punkt, immer wieder steuert die Argumentation auf diese Frage zu. In „Wissenschaft als Beruf“, in „Politik als Beruf“, auch schon in dem frühen Vortrag „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“, obwohl er doch in einer ganz anderen historischen Zeit angesiedelt ist, und eben in der ersten Protestantismusstudie: „Niemand weiß …, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sichwichtig-Nehmen verbrämt.“ (RS I, 204)

Weber gibt hier keine eindeutige Antwort, wenngleich man zu der Auffassung neigen könnte, dass das kursivierte „oder“ anzeige, dass er zur Alternative „Versteinerung“ neigt. Jedoch wechselt er im Folgesatz in den Konjunktiv: „Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung …“ Ich möchte dies so interpretieren, dass nach Weber die Weichen noch nicht endgültig so gestellt sind. Die Gefahr ist hoffentlich erkannt. Weber spricht also eine Warnung aus. Wenn in dieser Studie das Motiv des Weberschen Denkens als „aufklärende Rationalisierung“ bezeichnet wird, dann habe ich dabei auch dieses im Sinn: die „Ermächtigung“, das „Instandsetzen“, einen anderen Weg einzuschlagen, einen Weg, der sich nicht als Irrweg erweist. Alternativ könnte man Webers Motiv den Versuch einer „Neufundamentierung der Vernunft“ nennen. Aber die Subsumtion Webers unter den Begriff der „Vernunft“ ist problematisch. Weber meidet den Begriff, weil er substantialistischen Charakter hat, und setzt ihn in Anführung. Die Suchabfrage auf der CD-ROM ergibt lediglich 26 Nennungen. An einer Stelle, am Ende der älteren, nicht mehr überarbeiteten Fassung der Herrschaftssoziologie, spricht Weber von der „charismatischen Verklärung der ‚Vernunft‘“ (WG, 726) gemeint im Sinne einer Verklärung des Charismas der Vernunft, also einer Überschätzung ihrer Ausstrahlungskraft. Er fügt dann noch eine Klammer an, in der er Robespierre nennt und damit auf dessen Legitimierung von Gewalt „im Namen der Vernunft“ anspielt. Robespierre, der sich auf Rousseau beruft und dessen „Contrat social“ umzusetzen vorgibt, ist bekanntlich der Auffassung, ohne Terror sei die Tugend machtlos. Eine vorübergehende Terrorherrschaft sei deshalb als notwendiges Übel hinzunehmen. Weber warnt also vor einem übertriebenen Vertrauen in die Vernunft („Verklärung“) und vor ihrem missbräuchlichen Potenzial (Robespierre und der Terror). Deshalb distanziert er sich auch vom Vernunftbegriff, hält aber trotzdem am Vernunftdenken in einer spezifischen Weise fest. Er



8. Übergang: zum weiteren Vorgehen47

entfaltet eine Theorie der Rationalitäten, die in einem engen Zusammenhang mit einer Theorie der Werte steht (siehe Kap. 3 u. 4). Webers Theorie der „Vernunft“ ist eine Theorie der Anerkennung von verschiedenen Vernünftigkeiten, man könnte auch sagen: der Anerkennung von Differenz. Mit der Haltung der Anerkennung von verschiedenen Wertmaßstäben und der bewussten Tolerierung unterschiedlicher und gleichberechtigter Standpunkte und des Plädoyers dafür, Widersprüche auszuhalten, erscheint er als ein gerade auch heute moderner Denker, von dem wichtige Inspirationen ausgehen können.

8. Übergang: zum weiteren Vorgehen In den folgenden Kapiteln möchte ich die initialisierenden Thesen aus Kapitel 1 weiter entfalten und belegen. Ich gehe in folgenden Schritten vor: Erstens: Webers Denken darf nicht isoliert von den zeitgenössischen Diskursen betrachtet werden. Webers Denken ist nicht zuletzt eine Reaktion auf den grassierenden Zukunftsoptimismus und das neue Effizienzdenken bei gleichzeitiger Empfindung von Leere und Sinnlosigkeit. Webers denkeri­ scher Haltepunkt ist ein „Nicht-Haltepunkt“. Er steht im Zusammenhang damit, was er die „Entzauberung“ nennt. Zweitens: Entzauberung ist nur ein anderes Wort dafür, was Georg Lukács in seiner „Theorie des Romans“ „transzendentale Obdachlosigkeit“ nennt. Nicht nur Lukács ist von Weber, sondern gerade auch Weber von Lukács beeinflusst. Während es Lukács jedoch um eine „transzendentalen Neubehausung“ oder auch um eine „Wiederverzauberung“ geht, lehnt Weber das strikt ab. Weber macht die „Entzauberung“, die er diagnostiziert, geradezu zum Anliegen seines wissenschaftlichen Programms. In Lukács’ Romantheorie fällt der Begriff des „Desillusionsromans“. Weber Werk, ein Torso, in Aufsätze zersplittert, ist Desillusionsprosa und will gerade dadurch auch aufklärend in abklärender Hinsicht wirken. Drittens: Webers Verständnis von Vernunft ist durch den Vernunftbegriff bei Hegel geprägt. Diesen Vernunftbegriff lehnt er ab, weil er als substantialistischer Begriff Ideologie transportiere. Ideologie ist für Weber das Hegelsche Gewissheitsdenken, wonach die Vernunft sich auf dem Wege ihrer Vollendung befinde, wenn sie nicht schon vollendet sei. Allerdings interpretiert Weber Hegels Geschichtsphilosophie in verkürzender Weise. Die Ambivalenz der Geschichte, die auch ein Thema bei Hegel ist, blendet (nicht nur) Weber aus. Im Übrigen ist Weber mehr „Hegelianer“, als er selbst ahnt oder sich einzugestehen bereit ist. An die Stelle der Hegel unterstellten „positiven“, „optimistischen“ Geschichtskonzeption setzt er eine negative, die mit dem Gedanken des Untergangs spielt. Dies lässt sich auch an seiner metaphorischen Sprache ablesen.

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Kap. 1: Aufklärende Rationalisierung I

Viertens: Weber lehnt zwar den substantialistischen Begriff von Vernunft ab, aber trotzdem hält er an einer bestimmten Vorstellung von „Vernunft“ fest. Statt von „Vernunft“ spricht Weber bevorzugt von „Rationalität“. An die Stelle der einen Vernunft setzt er die vielen Rationalitäten. Dies ist die erste Konsequenz, die er aus dem Empfinden der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, des Verlusts von Sinn zieht. Die zweite Konsequenz ist eine spezifische Theorie der Werte, für die, wie für die Rationalitätstheorie, die pluralistische Verfassung das entscheidende Merkmal ist. Fünftens: Weber entwickelt seine Rationalisierungstheorie zwar im Kontext seiner Beschäftigung mit der religiösen Ethik, die Wurzeln liegen jedoch schon in seiner Beschäftigung mit Musik. In der Entwicklung der okzidentalen Musik entdeckt er das Wirken von Rationalisierung. Die Gestalt der Rationalisierungstheorie in seiner unvollendeten Musiksoziologie ist, wie auch die Beschäftigung mit der „Zukunft“, stark negativ gefärbt. Das musikalische Entwicklungs- und Innovationspotential unter Bedingungen der Rationalisierung gerät Weber aus dem Blick. Sechstens: Webers Denken changiert zwischen dem Aufruf zum nüchternen, pragmatischen Engagement in der Gegenwart und pessimistischen Zukunftserwartungen, die er in eine angedeutete negative Geschichtsphilosophie kleidet. Die Grundargumentation dafür entwirft er in seiner unvollendeten Musiksoziologie, die freilich tiefschwarz, sprich: pessimistisch eingefärbt ist. Einerseits glaubt Weber, in der Gegenwart die Weichen für die Zukunft umstellen zu können. Andererseits glaubt er, die „Apparate“ hätten „das geistige Antlitz des Menschengeschlechts“ bereits bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt (GAzSS, 60). Weber widerspricht sich, wenn er zum einen eine „dunkle Zukunft der menschlichen Kultur“ erwartet, dann in derselben Schrift, nämlich im Objektivitätsaufsatz, sämtliche Prognosen als haltlos verwirft (WL, 213). Einmal betrachtet er den „Untergang“ sogar als Bedingung für einen Neuanfang. Mit Vorliebe zitiert er einen Satz aus dem Inferno-Kapitel von Dantes „Göttlicher Komödie“ („Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate“ – „Lasst alle Hoffnung fallen, wenn Ihr eintretet“). Ein zentrales Motiv der Divina Commedia ist es, angesichts vielfältiger Bedrohungen mahnend auf Fürsten, Städte und Völkerschaften einzuwirken und sie zur Umkehr zu bewegen. Es wäre vermutlich eine Überinterpretation, Weber ein ähnliches Motiv zu unterstellen. Aber, unter der Hand, möchte ich behaupten, verfolgt er ein ähnliches Motiv: die Rationalisierung muss „aufgehellt“, von ihren Verblendungen befreit, sie muss aufgeklärt werden.

Kapitel 2

Aufklärende Rationalisierung II. Zum Erfahrungshintergrund des Denkens Karl Jaspers erinnert daran, dass Webers Schriften nicht losgelöst vom spezifisch zeitlichen Erfahrungshintergrund verstanden werden können. Die Umstände sind nach Jaspers außergewöhnlich. Pathetisch meint er: „Das Zeitalter aber war im Brechen.“ (Jaspers 1958, 71). Derselbe Aufsatz, der Weber zum Existenzphilosophen zu machen versucht, enthält auch eine zwar kühne, aber doch bedenkenswerte These. „Max Weber hat keine Philosophie gelehrt, er war eine Philosophie.“ (Jaspers 1958, 65).1 Diese Zuspitzung will besagen, dass Webers Publikationen zwar wichtig, aber letztlich sekundär sind; hingegen besitze sein Leben, sein „Sein“, philosophische Tiefe. Dieses sieht Jaspers in einem heroischen „Scheitern“.  Modifizierend möchte ich formulieren: Weber erfährt die Umbrüche der Zeit, die auf die Herausbildung einer neuen Kultur hinauslaufen; daraus zieht er bestimmte Konsequenzen, die sein Werk, aber auch seine persönliche Lebensführung betreffen. Anders ausgedrückt: Webers Werk enthält eine „Meta-Philosophie“, eine philosophische Grundhaltung, die er auch persönlich „lebt“. Diese These möchte ich ausarbeiten. Dabei lasse ich mich von einer Prämisse leiten, die Quentin Skinner in einer neueren Studie im Hinblick auf die Schriften von Thomas Hobbes formuliert, dass nämlich „selbst die abstraktesten Werke der politischen Theorie nie über dem Kampfgeschehen stehen; sie sind stets Teil des Kampfes selbst“ (Skinner, 2008, 18). Ob dies in dieser Ausschließlichkeit gilt, mag dahingestellt sein. Aber im Falle Webers trifft dies zu, wenngleich er sich große Mühe gibt, sich den „Kämpfen“ zu entziehen. Das Postulat der Wertfreiheit lässt sich als Versuch auffassen, sich vom „Kampfgeschehen“ fernzuhalten. Doch je mehr er den Grundsatz beschwört, desto tiefer ist er bereits verstrickt. Das, was ich hier „Erfahrungshintergrund“ nenne, ist immer präsent. Mit „Erfahrungshinter1  Jaspers’ Buch über Weber als „Politiker, Forscher, Philosoph“ ist zuerst 1932 erschienen. Jaspers ist in den letzten Lebensjahren Webers ein enger Gefährte und Teilnehmer der sonntäglichen „Jours“. Marianne Weber hat er bei der Abfassung ihres „Lebensbildes“ beraten. Jaspers’ Interpretation richtet sich vor allem auch gegen die neukantianische Vereinnahmung des Weberschen Werks. Jaspers macht aus Weber „einen nur aus Versehen unter die Neukantianer geratenen Existenzphilosophen“ (Radkau 2005, 841).

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

grund“ meine ich die grundlegenden Veränderungen der modernen Kultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Stichwörter dafür lauten industrielle Revolution, technologischer Wandel, soziale Frage, Beschleunigung, Wertverlust, Säkularisierung und Sinnkrise. Diese Veränderungen sind zum Teil Thema und spiegeln sich in den Schriften von Nietzsche und dem frühen Georg Lukács wider. Nietzsche gehört zu Webers bevorzugten Autoren, auch wenn er selten auf ihn Bezug nimmt, geschweige denn ihn zitiert. Mit Lukács ist er zeitweilig eng befreundet. Auch mit Hegel beschäftigt er sich; dieser dient ihm vor allem als Negativfolie, aber nicht nur. Es ist eine Reihe von gedanklichen Parallelen festzustellen; zum Teil scheint Hegel, gar nicht mal unbedingt Nietzsche, Webers Begrifflichkeit zu inspirieren (dazu der letzte Teil dieses Kapitels). Vor allem diese drei Autoren gehören zu Webers „literarischem“ Erfahrungshintergrund. Besondere Nähe besteht vor allem zu Nietzsche, dem er in der Analyse oftmals folgt, bei den Lösungen sich jedoch kritisch abwendet. An Nietzsche arbeitet sich Weber regelrecht ab, übernimmt, was der Nachprüfung standhält. Nietzsches inhaltliche Lösungen, etwa das Postulat nach dem „Übermenschen“ oder den „Willen zur Macht“, weist Weber zurück. Dennoch sind seine Alternativen oftmals nur Modifikationen der Aussagen von Nietzsche. Die gliedernden Stichwörter dieses Kapitels sind „Polytheismus“, „Entzauberung“ und „Sinn“ – diese beiden letzteren vor allem –, „Intellektuelle“ und „Intellektualisierung“, „Erlösung“, „Tragik“. Entlang dieser Gliederungspunkte soll Webers Kulturdiagnose entwickelt werden, die zwar stark pessimistisch, aber nicht defätistisch ist. Weber ist zwar der Diagnostiker der Entzauberung, aber Entzauberung hat für ihn eine aufklärende und desillusionierende Wirkung und macht damit erst „realitätsfähig“. Weber ist der Diagnostiker der Entzauberung, und er praktiziert sie zugleich. Seine Konzeption von Wissenschaft könnte man als „entzaubert“ in dem Sinne verstehen, als sie mit keiner „Idee“ zum Beispiel einer „besseren Gesellschaft“ oder vom „guten Leben“, auch nicht mit einem bestimmten „Projekt“ antritt. Alles „Systemische“ und „Auf ein bestimmtes Ziel-Hinsteuernde“ ist Weber fremd. Sein Denken ist entschieden auf Immanenz, nicht Transzendenz gerichtet.

1. Polytheismus In einer Diskussion über das Verhältnis von Weber zu Marx macht HansUlrich Wehler die interessante, aber nicht ganz zutreffende Bemerkung, Weber sei ein Denker, „der keine Götter mehr anerkennt“ (Wehler 1988, 105). Die Pointe des Weberschen Denkens liegt jedoch gerade in der An­ erkennung der „Götter“, und zwar – die Betonung liegt auf dem Plural – der



1. Polytheismus 51

vielen „Götter“. Darin liegt der Sinn der sog. Polytheismus-These in Webers Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ (WL, 604 f.), die allerdings missverständlich ist, und zwar in dem Sinne, als sie den Eindruck erweckt, Weber drücke damit einen religionsgeschichtlichen Befund aus, dass nämlich der Monotheismus sich auflöse und an seine Stelle der Polytheismus, die „Vielgötterei“, trete. Das ist aber gar nicht seine Absicht. Weber geht es hier weniger um einen religionsgeschichtlichen Befund, vielmehr dient ihm der „Polytheismus“ als eine Metapher für die Auflösung tradierter Einstellungen und das Entstehen eines Pluralismus der Werte.2 Nach Weber gibt es eine Vielzahl von Wertstandpunkten, die man gegenüber „der Welt“ einnehmen kann; diese sind für ihn prinzipiell gleichberechtigt. Weber schätzt den Wertepluralismus, denn er sieht damit ein dynamisches Moment verbunden, das Weiterentwicklung (nicht Höherentwicklung) ermöglicht. Die Betonung liegt auf dem „Weiter“, denn Höherentwicklung wäre substantialistisches Denken, das von einem Übergeordneten ausgeht, an dem alles gemessen wird. Ein solches Denken, darauf werde ich im Teilkapitel über das Verhältnis Weber zu Hegel zurückkommen, lehnt Weber ab; sein Denken ist antisubstantialistisch und entsubstantialisiert. Wenn er vom Wertepluralismus spricht, verweist er auf John Stuart Mill, dessen Philosophie er zwar „sonst nicht loben will“ (WL, 603), der aber in diesem Punkt, als „nüchterner Empiriker“ (PS, 145), eine richtige Beobachtung gemacht habe. Weber sagt nicht, an welche Schrift von Mill er dabei denkt. 1874 erscheinen die „Drei Essays zur Religion“; ein Aufsatz handelt über den „Theismus“. Dort behauptet Mill, „dass der Glaube an Götter dem menschlichen Geiste unendlich viel natürlicher ist als der Glaube an einen einzigen Urheber und Lenker der Natur …“ (Mill 1984, 113). Odo Marquard denkt in seinem „Lob des Polytheismus“ quasi Mill zu Ende, wenngleich er sich nicht auf Mill beruft. „Polytheismus“ definiert er als „Gewaltenteilung im Absoluten“, und die Neuzeit betrachtet er als polytheistisch verfasst. Anzeichen dafür sind die politische Gewaltenteilung, das Konkurrenzprinzip in der Wirtschaft, ein „unendlicher Dissens der Theorien“, der Weltanschauungen und der Werte (1981, 107 f.). Damit kommt er Weber sehr nahe, den er auch zustimmend zitiert. Es gibt für Weber noch eine weitere, nicht genannte, aber wohl entscheidende Quelle: Im Aphorismus 143 der „Fröhlichen Wissenschaft“ definiert Nietzsche den Polytheismus als „die wundervolle Kraft, Götter zu schaffen“ 2  Vgl. den Wertfreiheitsaufsatz (WL, 507), die Vorträge „Wissenschaft als Beruf“ (WL, 604) und „Politik als Beruf“ (PS, 554) sowie „Zwischen den Gesetzen“ ( PS, 145). Nur einmal in „Wirtschaft und Gesellschaft“ benutzt er „Polytheismus“ im Sinne eines religionsgeschichtlichen Begriffs (WG, 315). Siehe zu diesem Komplex auch Kap. 4.

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

(KSA 3, 490 f.). Sein Gegenstück, der Monotheismus, lehrt nach Nietzsche den „Normalmenschen“, damit jedoch den Lebensentwurf des Stillstands. Der Polytheismus dagegen eröffnet neue Perspektiven und ermöglicht es, sich eigene Ideale zu geben (KSA 3, Nr. 143, 490 f.). Der Polytheismus ist die Philosophie der Vielfalt und Freiheit, der Monotheismus dagegen hemmt den Drang nach kreativer Selbstbestimmung. In dem Aphorismus verabschiedet Nietzsche die Vorstellung vom „guten Leben“, von der menschlichen Natur oder auch vom Sinn der menschlichen Existenz zugunsten einer „Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere“ (KSA 3, 491). Diese „Kraft“ ist der Polytheismus. Weber zitiert zwar Mill, aber im Hintergrund steht Nietzsche, wenn er im Wertfreiheitsaufsatz den Polytheismus zustimmend eine „echte Wertphilosophie“ nennt (WL, 507). Der „unüberbrückbar tödliche Kampf“ der Werte, von dem dort auch die Rede ist, ist für Weber wie für Nietzsche Voraussetzung für dynamischen Wandel. Weber betrachtet Konflikt und Gegensätzlichkeit als notwendige Bedingung der Fortentwicklung. Seine Perspektive ist nicht Befriedung und „Normalisierung“, sondern die gezielte Eskalation. Auf diese Weise sollen die „Fronten“ geklärt und „falsche“ Kompromisse ausgeschlossen werden (vgl. auch Kap. 4). Burkhard Gladigow zeigt in einer Untersuchung der Hintergründe der Polytheismusthese, dass das Aufkommen des Polytheismusbegriffs auch mit der sich steigernden gesellschaftlichen Komplexität an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu tun hat. Der Polytheismus entwickelt sich u. a. dann, wenn unter beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen eine einzelne Religion nicht mehr alle Bedürfnisse abdecken kann (Gladigow 2001, 136).3 Er ist damit auch die Folge von Orientierungsproblemen, von kaum mehr zu bewältigender gesellschaftlicher Komplexität. Genau darüber spricht Weber an einer bekannten Stelle im Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“: Er konstatiert das Wiederauferstehen der „vielen, alten Götter“, die ihren Gräbern entsteigen, allerdings nunmehr „entzaubert“ und in Gestalt „unpersönlicher Mächte“. Sie nähmen nunmehr „wieder“ ihren „ewigen Kampf“ auf (WL, 605). Dieses Zitat zeigt aber auch, dass der Polytheismus nicht unbedingt ein neues und modernes Phänomen ist („wieder“). Es hat ihn auch schon zu früheren Zeiten gegeben. Allerdings ist der neue Polytheismus offensichtlich mit größeren und gravierenden Orientierungsproblemen verbunden. Die 3  Allerdings dürfte auch der umgekehrte Fall gelten, dass eine sich steigernde gesellschaftliche Komplexität eine Bündelung von Kräften, Konzentration und die Entstehung von „Monotheismen“ nach sich zieht, um auf diese Weise Komplexität besser bewältigen zu können. Darauf deutet zumindest die Geschichte der politischen Ideologien hin.



2. Entzauberung und Sinnkrise53

Erklärung dafür ist, dass es zu früheren Zeiten noch keine Entzauberung gegeben hat. Ausdrücklich spricht Weber von den Orientierungsproblemen des „modernen Menschen“. Die spezifische Herausforderung für die jungen Generationen in der modernen Zeit sieht er darin, der Entzauberung und den Orientierungsproblemen, die alltäglich geworden sind, gewachsen zu sein (WL, 605).

2. Entzauberung und Sinnkrise Die Polytheismus-These folgt aus der Entzauberungs-These, die im Unterschied zu dieser einen religionsgeschichtlichen Hintergrund hat. Auf den Begriff „Entzauberung“ stößt Weber beim Studium des mittelalterlichen Klosterwesens, als er sich in den Jahren 1901 / 02 mehrfach in Rom aufhält (vgl. Winckelmann 1980, 12 ff.). Allerdings gebraucht er ihn erst ab 1913, zuerst im Kategorienaufsatz (WL, 433). Deshalb fehlt er noch in der ersten Fassung der Protestantismusstudie von 1904, ist jedoch in der Überarbeitung von 1919  /  20 enthalten (RS I, 94, 113, 155, 157). Der „körpergeschichtlichen“ Deutung Webers in seiner Biographie (2005, 253 ff.) entsprechend, stellt Radkau in einem neueren Text (2009, 402) fest, „Entzauberung“ tauche in dem Moment auf, als Weber den sog. „Zauberweibern“ auf dem Schweizer Monte Veritá begegne. Schluchter (2009, 1 ff.) meint, Weber habe sich von dem Buch „Wagner oder die Entzauberten“ inspirieren lassen. Dabei handelt es sich um eine populärwissenschaftliche Wagner-Biographie von Emil Ludwig, die 1912 erscheint und mehrere Auflagen erreicht. Dagegen wird hier die Ansicht vertreten, dass „Entzauberung“ eine mehr oder weniger originelle Begriffskreation von Weber ist, die er in die Sozialwissenschaften einführt und mit der eine konzeptionelle Weichenstellung erfolgt bzw. ein spezifisches Selbstverständnis verbunden ist. Weber verwendet den Entzauberungsbegriff zweifach: zunächst in einem engeren, mystisch-religiösen Sinne. „Entzauberung“ bedeutet hier das Zurückdrängen von Magie und die Eliminierung von Göttern und Dämonen. An deren Stelle tritt die „rationale“, dogmatische Religion, die jedoch ihrerseits „entzaubert“ wird. „Entzauberung“ bedeutet in diesem Zusammenhang die Marginalisierung des Religiösen. Zum anderen benutzt er „Entzauberung“ in einem weiten, generalisierenden oder typisierenden Sinne. „Entzauberung“ ist hier ein „Gedankengebilde reflexiver Stufe“ (Winckelmann 1980, 15), denn Weber verarbeitet die „Entzauberungen“ und beschreibt „Entzauberung“ als generelle Entwertung all dessen, was „heilig“ ist, was „gilt“.4 Er 4  Vor allem amerikanische und britische Weber-Interpreten weisen auf diesen doppelten Sinngehalt des Entzauberungsbegriffs hin und beziehen ihn nicht nur auf Religion, sondern auch auf politische und kulturelle Probleme. Literaturhinweise bei

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

sagt dies ausdrücklich an einer Stelle der Religionssoziologie in „Wirtschaft und Gesellschaft“, und zwar im Kapitel über „Stände, Klassen und Religion“, in dem man nicht unbedingt eine Konkretisierung der Entzauberungsthese erwarten sollte.5 Betont sachlich − angesichts des beschriebenen existenziellen Dilemmas fast schon zu sachlich − heißt es, dass „die Vorgänge der Welt“ nur noch „‚sind‘“ und „‚geschehen‘“, aber nichts mehr „‚bedeuten‘“.6 Dies ist eine Schlüsselstelle nicht nur für Webers eigenes existentielles Befinden, sondern er gibt damit dem Zeitalter eine Signatur: Es gibt nichts mehr, woran man sich halten könnte, was „Sinn“ zu stiften vermag. Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen. Diese Sinnkrise, legt Weber nahe, ist neu, ein spezifisch modernes, mit der Jahrhundertwende auftretendes Phänomen. Allerdings gibt es, was Weber ausblendet, bereits in früheren Epochen Sinnkrisen (dazu unten mehr). Dennoch scheint das Krisenniveau zum damaligen Zeitpunkt eine neue Qualität zu erreichen.7

3. Die „Lieblosigkeit“ der modernen Welt Weber trifft seine Diagnose von der Sinnkrise in einem nachgelassenen, 1913 verfassten Text, der Aufnahme findet in der posthumen Ausgabe von „Wirtschaft und Gesellschaft“ und den er in einem Brief an Rickert „meine Religionssystematik“ nennt (Brief v. 3. Juli 1913, MWG II / 8, 262). Die „Systematik“ oder besser: die durchgehende Idee besteht darin, Religionen als im Verborgenen wirkende Mächte anzusehen, die menschliches Handeln, mitunter entscheidend, steuern und motivieren. Lehmann 2009, 7 Fn. 1. Lehmann verweist auf den hohen Stellenwert des Begriffs, der im Kontrast zur Verwendungshäufigkeit stehe, macht jedoch selbst über den religiösen Kontext hinaus keinen Gebrauch davon (vgl. Lehmann 2009 a und b, 9 ff. bzw. 125 ff.). 5  Inzwischen ist der Text in der Weber-Gesamtausgabe ediert (MWG I  / 22-2). Auch der Herausgeber hebt die Bedeutung des Sinn-Zitats hervor (Kippenberg 2001 a, 4 und 65). 6  Vollständig lautet die Stelle: „Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt und so die Vorgänge der Welt ‚entzaubert‘ werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch ‚sind‘ und ‚geschehen‘, aber nichts mehr ‚bedeuten‘, desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und ‚Lebensführung‘ je als Ganzes, dass sie bedeutungshaft und ‚sinnvoll‘ geordnet seien.“ (WG, 308) 7  Indiz dafür ist auch das sog. „expressionistische Jahrzehnt“ von 1910–1920 in der Malerei (Egon Schiele oder Ernst Ludwig Kirchner mit einer „Ästhetik des Hässlichen“) oder in der Lyrik. Vgl. dazu die Sammlung von Vietta (1999), die eine Gedichtgruppe unter der Überschrift „Weltende“ enthält (vgl. 103 f.). Nach Vietta geht damals die Epoche der Theologie und Metaphysik zu Ende. Typisch für die neue Zeit seien die „Ichdissoziation“ und ein „messianischer Expressionismus“ (vgl. 2 ff.).



3. Die „Lieblosigkeit“ der modernen Welt55

Wie Weber nicht zu Beginn, sondern später einfließen lässt, liegt sein Erkenntnisinteresse darin, zu erweisen, dass religiöse Motive zwar nicht unbedingt, aber doch „in sehr starkem Maße“ Einfluss nehmen auf die individuelle „Lebensführung“, und zwar gerade auch auf das ökonomische Verhalten (WG, 321). Man könnte sagen: Gerade auch religiöse Motive machen den „Wirtschaftsbürger“ aus. Der Text steht damit in einem systematischen Zusammenhang mit der ersten (früheren) Protestantismusstudie und der (späteren) „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“.8 Zu Beginn seiner „Systematik“ schließt Weber zwar aus, definieren zu wollen, was Religion sei; dies könne allenfalls am Schluss einer Untersuchung erfolgen. Dann jedoch definiert er Religion als „eine bestimmte Art von Gemeinschaftshandeln“. Es steht damit auf gleicher Stufe mit anderen Arten gemeinschaftlichen Handelns wie dem politischen oder wirtschaft­ lichen Handeln. Seine Aufgabe sieht er darin, die „Bedingungen und Wirkungen“ dieser Art des Gemeinschaftshandelns zu untersuchen. Als durchaus überraschendes Charakteristikum führt er ein, dass religiöses Handeln ursprünglich rein diesseitig ausgerichtet gewesen sei (WG, 245). Selbst Menschenopfer, so Weber, wurden einst ohne alle Jenseitserwartung erbracht. Religion hat für die Handelnden die Funktion, diesseitige Zwecke, so könnte man sagen, besser als ohne Religion zu erreichen. Dazu bedient man sich eines Gegenstandes, etwa eines Steines, der zum Fetisch avanciert, oder ekstatischer Tänze oder der besonderen Kräfte eines Zauberers. Nach Weber können sowohl Gegenstände als auch Personen rein als solche als auch Personen durch bestimmte Praktiken religiös wirken. Das entscheidende Kriterium dafür, dass ein Objekt, eine Person rein als solche bzw. mit bestimmten Praktiken erfolgreich religiös wirken kann, ist das Vorhandensein von „außeralltäglichen Kräften“, die Weber hier wie in seiner Herrschaftssoziologie „Charisma“ nennt (WG, 245). Anders als in der Herrschaftssoziologie existiert „Charisma“ in der Religionssoziologie jedoch auch personenunabhängig. Mit seinem Ansatz verfolgt Weber eine Alternative zu substantialistischen Vorgehensweisen, denen es darum geht, Aussagen über das „Wesen“ von Religionen zu treffen. Religion gilt ihm als das, was der Einzelne dafür hält. Weber will keine religiösen Praktiken „an sich“ bewerten, sondern sie als solche, „für sich“, ernst nehmen. Dies folgt aus der programmatischen Idee seiner „verstehenden Soziologie“, der es nicht darum geht, menschliches Handeln an einer apriorischen Idee zu messen oder damit zu konfrontieren, sondern darum, dieses selbst bzw. den „Sinn“, den der einzelne Handelnde 8  Zur detaillierten werkgeschichtlichen Einordnung der „Religionssystematik“ vgl. Schluchter 1991 b, 564 ff. Zur inhaltlichen Analyse vgl. die Beiträge in dem von Kippenberg / Riesebrodt (2001) herausgegebenen Band sowie im Überblick die „Einleitung“ in MWG I / 22-2 von Kippenberg 2001 a, 1 ff.

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

damit verbindet, zu analysieren. Das handelnde Individuum derart in den Mittelpunkt rückend, hat dies in der Religionssoziologie die Konsequenz, dass er auch den Glauben an Dämonen oder andere „übernatürliche“ Mächte als religiöse Praktiken anerkennt. Der Unterschied zu den modernen Religionen besteht für Weber darin, dass sie noch nicht jenen Abstraktionsgrad erreicht haben, wie er für diese charakteristisch ist. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide ein Heilsangebot machen. Die „Systematik“ macht insgesamt einen unfertigen Eindruck. Nicht immer werden die Begriffstypen klar und scharf. Das gilt etwa für das (zu) kurze Theodizee-Kapitel. Bereits die Begriffsdefinition, dass es bei der Theodizee um die Frage der „Unvollkommenheit“ der Welt gehe, ist eigenwillig, denn gemeinhin wird darunter die Problematik verstanden, wie angesichts des Bösen in der Welt Gott gerechtfertigt werden kann (vgl. Lex. Ethik, 34 f.). Man hätte auch gern mehr erfahren über die Entstehungsgründe von Theodizeen, wann es zeitlich dazu kommt: Hat es das, was Weber „Weltunvollkommenheit“ nennt, schon in der Antike gegeben? Worin genau besteht die „Unvollkommenheit“, warum besteht überhaupt die Erwartung von „Vollkommenheit“? Wie ist der Lösungsversuch von Leibniz zu bewerten („die beste aller möglichen Welten“), der bekanntlich den Begriff der Theodizee in die Debatte einführt? Auch das Erlösungskapitel wirkt unabgeschlossen. Das Streben nach „Erlösung“ will Weber nur insoweit behandeln, als es Konsequenzen für das praktische Handeln, für die „Lebensführung“ hat. „Warum“ und „wovon“ jemand erlöst werden will, interessiert ihn hier zumindest noch nicht. Erst im Stände- und Klassenkapitel geht er näher darauf ein, sieht im Erlösungsbedürfnis – er spricht sogar von der „Erlösungssehnsucht“ (WG, 320) –, die Folge eines Mangelzustands und setzt das Erlösungsstreben der Intellektuellen gleich mit aktiver Weltflucht (vgl. unten). Doch man sollte weder zu hohe Ansprüche an den unvollendeten Text stellen, noch die innovative Fragestellung, die er aufwirft, unterschätzen: Wie groß ist die Machtwirkung von Religionen auf das menschliche Handeln? Wie beeinflussen die unterschiedlichen Typen von Religionen das Entstehen von unterschiedlichen Kulturen? Wie wirken Religionen selbst dort, wo keine religiösen Einflüsse vermutet werden? Der rund 140-seitige Text zeichnet sich nicht zuletzt durch eine besondere und überraschende zeitdiagnostische Schärfe aus. Im vorletzten Kapitel über „Religiöse Ethik und ‚Welt‘“ zeigt sich, worauf ich im Verlauf meiner Studie noch eingehen werde, wie Weber in scheinbar „unverdächtige“ Textstücke kritische, zeitdiagnostische Überlegungen einstreut, wie sich in seiner wissenschaftlichen Publizistik ein Unbehagen an der modernen Kulturentwicklung artikuliert, mit der sich konstruktiv auseinanderzusetzen Webers Analyse gilt.



4. Eine alternative „Systematik“57

In dem Kapitel arbeitet Weber „universalgeschichtlich“, sprich: in systematischen Kulturvergleichen, und fördert einen Dualismus von Ethik und „Welt“ zutage. Er behauptet, erst in der Gegenwart komme dieser vollends zum Tragen. Seine These lautet: Es gibt einen „prinzipiellen Kampf der ethischen mit der ökonomischen Rationalisierung der Wirtschaft“ (WG, 352). Weber macht einen grundlegenden Widerspruch zwischen dem „versachlichten Kosmos des Kapitalismus“ und den normativen Postulaten, wie sie Ethik und Religion erheben, aus (WG, 353). Das Kapitel enthält auch eine Kurzform seiner Theorie der Eigengesetzlichkeiten und kollidierenden Wertsphären, wie er sie in der „Zwischenbetrachtung“ (freilich mehr verdeckt als klar und systematisch, auch wenn in der Literatur immer der gegenteilige Eindruck erweckt wird) herausarbeitet. Aber auch wenn alle „Brüderlichkeitspostulate“ an der „lieblosen Realität der ökonomischen Welt“ abprallen (WG, 355), bleibt diese doch bemerkenswert stabil. Mit ihren Widersprüchen scheint sie gut leben zu können. Weber thematisiert nicht, welche Kräfte es sind, die stabilisierend wirken.

4. Eine alternative „Systematik“ Wenn man die Frage nach der Systematik der „Systematik“ etwas anders stellt, könnte man auch eine alternative „Systematik“ am Werke sehen: Die einzelnen Kapitel entwickeln so etwas wie eine Krisendiagnose der modernen Zeit. Vor allem die ethische Problematik scheint Weber im Blick zu haben. In der „Zwischenbetrachtung“ spricht er schließlich von der „Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit“ (RS I, 571). Weber beginnt, erstens, mit Überlegungen zur sozialen Bedingtheit von Religionen. Er zeigt, zweitens, wie Religionen ihrerseits soziale Realitäten schaffen und wie ihnen dies gelingt: mit Hilfe von Priestern, Zauberern oder Propheten. Er setzt sich, drittens, mit dem Theodizeeproblem auseinander, nach Weber ein Problem der „Weltunvollkommenheit“ und mangelhafter Ausgleichsgerechtigkeit. Dies ist ein interessanter Punkt für sich. Weber spricht von einem „gerechten Ausgleich“, den ein „gewaltiger Held“ oder Gott „bald, später, irgendwann“ gewährt. Das funktionale Äquivalent in der modernen Zeit, das bei Weber anklingt, ist die Sozialpolitik (vgl. WG, 315). Das Theodizeeproblem bleibt jedoch „für alle Zeiten“ ungelöst. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaftsform spitzt es sich sogar zu. Die Schere zwischen den religiös-ethischen Postulaten und der „harten“ Realität der modernen Wirtschaft geht immer weiter auseinander. Die Ethik wirkt zwar regulativ, kann der Wirtschaft aber keine Fesseln anlegen. Angesichts der daraus resultierenden „Unvollkommenheit“ der Welt, fünftens, entsteht ein spezifisches Erlösungsbedürfnis. Die einzelnen Erlösungsarten und deren Trägerschichten sind dann das Thema des Stände- und Klassen-

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

kapitels. Weber glaubt indes nicht, die moderne Welt zerbreche an ihrem ethischen Widerspruch; vielmehr scheint es, dass er den Widerspruch begrüßt, denn in der Spannung zwischen Ethik und ökonomischer Rationalisierung sieht er ein „starkes dynamisierendes Entwicklungsmoment“ und damit die Chance der Veränderung (WG, 350). Allerdings, dies ist der sechste Punkt, muss dafür ein hoher Preis entrichtet werden: Der Einzelne muss den Widerspruch aushalten. Es gibt weder Trost noch Aussicht auf Versöhnung. Das moderne Leben charakterisiert Weber als ein in verschiedene Lebenssphären zerrissenes. In jeder Sphäre würden andere Erwartungen gestellt, die zu inneren und äußeren Konflikten führten. Ein Punkt, den Weber hervorhebt, ist die Versachlichung der interpersonalen Beziehungen. Das Soziale tritt zurück zugunsten des Geschäftlichen, zugunsten „liebloser“ (WG, 355) „rationaler ökonomischer Vergesellschaftung“ (WG, 353). Mit Tönnies könnte man von einem Verlust der „Gemeinschaft“ in der Gesellschaft sprechen. Die Konfrontation von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, erstere als „organisches“ Zusammenleben in Freundschaft und Nachbarschaft, letztere dagegen als „mechanisches“ Aggregat und Artefakt, in der die abstrakten Verstandesbeziehungen vorherrschen − diese Herabsetzung der „Gesellschaft“, die bei Tönnies angelegt ist, teilt Weber allerdings nicht.9

5. Der Intellektuelle als tragische Gestalt Im Stände- und Klassenkapitel, in dem Weber seine Diagnose vom Sinndefizit trifft, geht es im Wesentlichen um die verschiedenen Erlösungsarten, denen verschiedene Trägerschichten zugeordnet werden können. Weber trifft eine interessante Unterscheidung, wonach die intellektuellen Schichten nach Erlösung von „innerer“ und die „nicht privilegierten Schichten“ nach Erlösung von „äußerer Not“ suchen (WG, 307). Damit will er wohl andeuten, dass sich die „nicht privilegierten Schichten“ eher durch materielle Erleichterungen des Lebens „erlösen“ lassen, als dies bei den „privilegierten“, vornehmlich intellektuell geprägten Schichten der Fall ist. Eine Erklärung 9  Vgl. den § 1 von Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie“ (1897), in dem er den Sprachgebrauch von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ untersucht und darin Gründe für einen pejorativ verstandenen Gesellschaftsbegriff zu finden glaubt. Gemeinschaft sei „gegeben“, Gesellschaft „gebildet“. In der Gemeinschaft befinde man sich „von Geburt an“, in die Gesellschaft gehe man „wie in die Fremde“. Man könne sich in „schlechter Gesellschaft“ befinden, es gebe aber keine solche in der Gemeinschaft (Tönnies 1970, 3 ff.). Zur Interpretation vgl. neuerdings Rosa 2010, 39 ff., der auch auf die zeitdiagnostischen Implikationen der Tönniesschen Begriffsdichotomie eingeht und ein spezifisches „Untergangspathos“ wahrnimmt.



5. Der Intellektuelle als tragische Gestalt59

könnte sein, dass die „privilegierten Schichten“ als Privilegierte das Problem „äußerer Not“ bereits gelöst haben. Es könnte aber auch sein, dass diese aufgrund ihrer primär „geistigen“ und „denkenden“ Lebensführung leichter „innere Not“ empfinden bzw. eher die „Sinnfrage“ aufwerfen, die sich aber nicht leicht lösen lässt. So kommt es zu unterschiedlichen, wie man sagen könnte: Erlösungsreaktionsweisen. Weber, der sich nur für die privilegierten Schichten interessiert, nennt die „Weltflucht“ als Möglichkeit. „Weltflucht“ kann die Flucht in die Einsamkeit oder in die von menschlicher Ordnung unberührte Natur sein kann. Weber nennt als Stichwort „Rousseau“. Unter „Weltflucht“ fasst er auch das kontemplative und das stärker asketisch orientierte Leben. Weltflucht kann auf individuelles Heil zielen, aber auch auf aktiv-revolutionäre, kollektive Veränderung der Welt. Wer in diesem Sinne aus der Welt flieht, ist meist sozial und ökonomisch versorgt. Es erinnert an Nietzsches „Pathos der Distanz“, wenn Weber die „weltflüchtigen“ Klassen „vornehm“ intellektualistisch nennt. Er spricht auch von „Intellektuellenreligiösität“ oder vom „apolitischen Intellektuellen“ (WG, 308). Davon unterscheidet er den „proletarischen“ Intellektualismus, dessen Akteure mit den „vornehmen“ Intellektuellen das Erlösungsbedürfnis teilen und es im Sozialismus als befriedigt ansehen. Auffällig ist, dass Weber den Intellektuellen pauschal Weltfluchtmotive bzw. ein weltflüchtiges Erlösungsstreben unterstellt. In der späteren „Zwischenbetrachtung“ spricht er auch von einem „spezifisch intellektualistischen Erlösungsbedürfnis“ (RS I, 565), das aus der Enttäuschung über die Heil- und Sinnlosigkeit der Welt resultiere (RS I, 567). Die Ansprüche der Intellektuellen „an die Welt“ scheinen so groß zu sein, dass sie regelmäßig enttäuscht werden. Der Intellektuelle befindet sich nach Weber in einem Dilemma: Dadurch, dass er den „Weltverlauf“ als einen „irgendwie sinnvollen Vorgang“ zu betrachten bestrebt sei, zumeist jedoch das Gegenteil eintrete, gerate er ins außerweltliche Abseits. Diese These versucht Weber „universalgeschichtlich“ mit dem Streben der Intellektuellenschichten nach Erlösungsreligionen zu belegen. Das von ihm als „spezifisch intellektualistisches Erlösungsbedürfnis“ beschriebene Phänomen artikuliert sich auch bei den Intellektuellen im Kaiserreich in einer intensiven und zumeist apologetischen Auseinandersetzung mit der Ethik Tolstois, die für Weber ein Grundtypus der „Gesinnungsethik“ ist.10 10  Es gibt im Kaiserreich um die Jahrhundertwende geradezu einen Tolstoi-Kult, der sich weniger auf dessen Romane als vielmehr auf dessen Traktate und sozialpolitische Flugschriften gründet. Vgl. Hanke 1993 a, 158 ff. u. Hanke 1993 b. Siehe auch Kap. 6.

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

Wenn Weber die Intellektuellen in den Fokus rückt, dann hat dies auch damit zu tun, dass der Begriff im damaligen Sprachgebrauch wachsende Bedeutung erfährt. Das Wort kommt im späten 19. Jahrhundert auf (Bering 2010, 34). Erfinder ist der Schriftsteller Maurice Barrès, der in den Intellektuellen „Logiker des Absoluten“ sieht, für die ein „Missverhältnis zwischen Wollen und Können“ charakteristisch sei. Geprägt wird das Wort im Zuge der Dreyfus-Affäre, als eine Gruppe von Intellektuellen die Rehabilitierung des zu Unrecht der Spionage bezichtigten jüdischen ArtillerieHauptmanns fordert (vgl. Bering 2010, 24 ff.). Eine zweite Quelle ist der positiv besetzte Begriff der russischen und polnischen „Intelligenzia“. Dagegen überwiegen im französischen Begriff der „intellectuels“ die pejorativen Attribute. Intellektuelle gelten als „Verräter“, „Müßiggänger“ oder „Egoisten“. Das Wort ist ein Kampfbegriff und Schimpfwort.11 Von Frankreich ausgehend, verbreitet sich der Begriff in Deutschland. Die maßgeblichen Vermittler sind Durkheim und Weber. Im Gegensatz zu Durkheim ist Webers Verhältnis zu den Intellektuellen ambivalent.12 In der „Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ spricht er „unseren modernen Intellektuellen“ die Authentizität ihrer religiösen Gefühle ab; sie wollten nur „ihr inneres Ameublement stilvoll mit garantiert echten alten Gerätschaften auszustatten“ (MWG I / 20, 101). In dem zusammenfassenden Kapitel über die „asiatische Religiösität“ in der Hinduismus- und Buddhismusstudie schildert er die Intellektuellen als diejenigen, die „den ‚Sinn‘ der Welt und des eigenen Lebens denkend zu ergründen“ trachten, dabei jedoch regelmäßig scheitern, um dann Entlastung zu finden in den „hinterweltlichen Gefilden“ der Mystik (RS II, 277). Zugleich jedoch sieht er in den Intellektuellen eine, wenn nicht die entscheidende Trägerschicht der modernen Welt. 11  Vgl. jetzt Bering 2010, 24 ff. Zu Webers Intellektuellenbegriff schreibt Bering, dass es keine „entschieden positive Festlegungen“ gibt (2010, 255). Aber auch keine nur negativen. In der Soziologie gilt der Intellektuelle als der „unorganisierte Einzelne“, der seine Aufgabe in einer „Kritik der Macht“ sieht und glaubt, „in Vertretung einer rationalen Vernunft“ zu handeln (Lepsius 1990, 270 ff.). Eine ältere Umschreibung findet sich im Kapitel „Soziologie des Intellektuellen“ in Schumpeters „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (engl. Original 1942). Danach besteht „ein großer Teil ihrer Tätigkeit darin, sich gegenseitig zu bekämpfen und Lanzen zu brechen für Klasseninteressen, die nicht ihre eigenen sind“. Weitere Merkmale sind nach Schumpeter das Fehlen von „Kenntnissen aus erster Hand“ und von „direkter Verantwortlichkeit für praktische Dinge“ (2005, 236 f.). Eine anspruchsvolle Theorie des „Intellektuellen“ findet sich in Kants Aufklärungsschrift, wenngleich er den Begriff des Intellektuellen nicht benutzt und stattdessen von „einigen Selbstdenkenden“ spricht, die von ihrer Vernunft „öffentlichen Gebrauch“ machen. Zur Interpretation vgl. Höffe 2010, 784 ff. 12  Dazu vor allem Hübinger 2001, 297 ff. und Krech 2009, 83 ff. sowie bereits der auch sonst anregende Aufsatz von Kippenberg 1989, 181 ff.



5. Der Intellektuelle als tragische Gestalt61

Man kann eine Pointe der religionssoziologischen Untersuchungen Webers darin sehen, dass er die Ursprünge der modernen Kultur nicht auf Ideen wie Vernunft und Aufklärung zurückführt, sondern auf die Intellektuellen und ihr religiöses Verhältnis zur „Welt“. Allerdings werden die Ideen keine ganz unmaßgebliche Rolle gespielt haben. Eine weitere Pointe findet sich an anderer Stelle, und zwar zu einem Zeitpunkt vor 1913, als er den Begriff des Intellektuellen noch gar nicht „offiziell“ verwendet, nämlich in der Protestantismusstudie von 1904. Dort erzählt er zwar die Geschichte der „Wahlverwandtschaft“ von Puritanismus und Kapitalismus, aber eigentlich ist es die Geschichte einer bestimmten Idee, die einen tragischen Verlauf nimmt. Wer sind die wahren Schöpfer der modernen Kultur? In der Protestantismusstudie sind es die puritanischen Mönche, gleichsam religiöse „Intellektuelle“. In ihren einsamen Gebetszellen haben sie jene Verhaltensweisen entwickelt, die in die Außenwelt dringen, dort eine spezifische Arbeitsethik formen und eine kongeniale Verbindung eingehen mit einer bestimmten Form des Wirtschaftens bzw. diese erst auf den Weg bringen. Letztlich haben religiöse Intellektuelle und hat ihre Idee einer asketischen Lebensweise die moderne Welt ermöglicht. Webers Pointe ist: Dies ist gleichsam aus Versehen, unbeabsichtigt geschehen, denn die asketische Lebensweise ist nicht für die Außen-, sondern allein für die mönchische Binnenwelt bestimmt gewesen. „Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller Einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ (RS I, 203).

Die Mönche sind damit wider Willen zu Kulturschöpfern geworden. Überdies hat der Vorgang eine tragische Dimension, denn die Welt, die mit Hilfe der Mönche entstanden ist, entzieht der Religion sukzessive die Lebensgrundlagen, insofern als die Industrialisierung einen Prozess der Säkularisierung in Gang setzt. In der entzauberten Welt wird der religiöse Glaube fragwürdig. Nicht zuletzt Weber sieht sich betroffen. Gegenüber Ferdinand Tönnies (Brief v. 19. Februar 1909; MWG II / 6, 65) bezeichnet er sich als „religiös absolut ‚unmusikalisch‘“. Das heißt nicht, dass er antireligiös oder irreligiös wäre, aber er sieht sich zum Glauben außerstande.13 Die Intellektuellen, die als Träger von Ideen als „Weichensteller“ fungieren – so die berühmte Charakterisierung in der „Einleitung in die Wirt13  Die viel zitierte Formulierung stammt übrigens ursprünglich von Schleier­ macher (Hinweis von Schluchter 2009, 16).

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

schaftsethik der Weltreligionen“14 –, sind im konkreten Fall der Entstehung der modernen Welt tragische Gestalten, denn diese Welt können sie nicht gewollt haben. Weber arbeitet nicht nur die große Bedeutung der Ideen gegenüber den Interessen heraus, sondern er verweist auf eine Tragik in der Geschichte, die darin besteht, dass der Idee, die eine bestimmte Entwicklung erst auf den Weg gebracht hat, die Bedingungen ihrer Fortexistenz entzogen werden. Man könnte auch von einer negativen Dialektik der Geschichte sprechen, die darin besteht, dass oftmals das genaue Gegenteil dessen erreicht wird, was angestrebt war.

6. Die „metaphysischen Bedürfnisse des Geistes“ Im Stände- und Klassenkapitel führt Weber das Aufkommen der Sinnfrage auf einen Prozess der „Intellektualisierung“ zurück. Er spricht auch häufiger von „Intellektualismus“, worunter er die spezifische Tätigkeit des Intellektuellen versteht: das Nachdenken und Reflektieren. Er macht eine überraschende und, soweit ich sehe, in der Literatur nicht weiter verfolgte Bemerkung über den Ursprung der Sinnfrage. Normalerweise setzt Weber in den Fällen, in denen er über nichtempirische Gegebenheiten schreibt, oder wenn er sich vom Alltagssprachgebrauch abgrenzen will, eine Anführung. Beispiele dafür sind „Rasse“, „Nation“, „Dämon“. Nicht in diesem Fall. Er benennt „metaphysische Bedürfnisse des Geistes“ als Grund für das Aufkommen der Frage nach „Sinn“. Es gibt im Menschen offensichtlich eine Regung („Geist“), die ihn veranlasst, einen Haltepunkt zu suchen, den er in der Metaphysik zu finden glaubt. Der „Geist“, so Weber, wird durch „eigene innere Nötigung“ dazu getrieben, „die Welt als einen sinnvollen Kosmos (zu) erfassen und zu ihr Stellung (zu) nehmen“. In äußerste Spannung gerät der „Geist“, wenn die materielle Lage von Menschen ethischen oder religiösen Prinzipien oder Erfordernissen widerspricht (WG, 304). Webers Überlegungen laufen auf den Schluss zu, dass die Sinnfrage womöglich gar nicht in der Welt wäre, wenn es keine Reflexion über die Welt, keinen „Intellektualismus“ gäbe. Diese „Pointe“ legt er nahe, führt sie jedoch nicht aus. Verblüffend für einen erklärten Gegner der Metaphysik ist der Hinweis auf einen „Geist“ und dessen „metaphysische Bedürfnisse“. Hier hätte man gern mehr erfahren. Allerdings geht es Weber in diesem Kapitel vor allem um eine Typologisierung von Erlösungsarten, die er bestimmten Träger14  „Interessen (materielle und ideelle) nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen werden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“ (MWG I / 20, 101)



6. Die „metaphysischen Bedürfnisse des Geistes“63

schichten zuordnet. Dabei hat er, wie die letzten Seiten zeigen, auch (und gerade) aktuelle Entwicklungen im Blick, die er, indem er sie thematisiert, auch kommentiert. Weber schildert, wie es angesichts des Aufkommens der Sinnfrage zur Herausbildung einer Vielzahl von religiösen Lehren kommt, die offensichtlich weder kontinentale noch kulturelle Grenzen kennen, sondern sich vielmehr mischen. Das Motiv ist die Hoffnung, durch Kombina­ tion von Eigenem mit Fremden die Sinnproblematik besser lösen zu können (vgl. WG, 314). Ausführlicher geht er auf den Typus der „Intellektuellenreligiösität“ ein, den er im vor- und nachrevolutionären Russland wirken sieht; Repräsentanten sind Tolstoi und Dostojewski und deren Anhänger. Intellektuellenreli­ giösität hat es nach Weber bereits im Westeuropa des 17. Jahrhunderts gegeben, als sich unitaristische, atheistische oder freikirchliche Gemeinden konstituieren. In Deutschland, so Weber, finden diese Gemeinden Rückhalt vor allem bei ökonomisch Nichtinteressierten, Universitätsprofessoren und Deklassierten. Sie scheinen besonders ansprechbar für Glaubensformen, die jenseits der Grenze „eigentlicher“ Religionen liegen. Manchmal werden sie zu Atheisten, die zwar den Glauben negieren, aber doch auch „Gläubige“ sind. Oder sie suchen Zuflucht in Ersatz-„Religionen“. Der Sozialismus ist dafür ein Beispiel (WG, 313 f.). All diesen religionsähnlichen Glaubensformen ist ein stark weltflüchtiger Charakter eigen. Dies gilt gerade auch für Stefan George und seinen Kreis, dem Weber in einem Brief an Georg Jellineks Tochter Dora „Merkmale der Sekten-Bildung“ attestiert (Brief v. 9. Juni 1910; MWG II  /  6, 560). Der Brief, eine Auseinandersetzung mit einem Seminarvortrag von Dora Jellinek über George, lässt große Vorbehalte gegenüber „diesen Leuten“ erkennen. Für Weber sind sie der seltene Fall einer Gruppe von intellektuellen Literaten, die bereits „erlöst“ sind und deshalb nur noch ein Ziel kennen: das „Streben nach Selbstvergottung“ (MWG II / 6, 561). Das Werk Georges kennt Weber offensichtlich genau, persönliche Bekanntschaft schließt er 1910. Den Dichter, den er mit Hölderlin vergleicht, sieht er anerkennend als charismatische Führergestalt. Auf dem ersten deutschen Soziologentag in Frankfurt 1910 kommt Weber auf George und seinen Kreis zurück und charakterisiert ihn, „wertfrei“, wie er betont, als eine „von künstlerischen Weltgefühlen“ getragene, quasi-religiöse Gemeinschaft, die innere Stabilität dadurch erreicht, dass sie sich von anderen absondert (GAzSS, 446). 1919, in „Wissenschaft als Beruf“, nennt er George und seinen Kreis zwar nicht beim Namen, meint ihn aber. „Mythischen Heiligkeitsbesitz“ vortäuschend, bediene man sich religiöser Praktiken, um eine weltabgewandte Prophetie unter einen wohl ausgesuchten, aristokratischelitären Kreis von „Jüngern“ zu bringen (WL, 611).

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

Damals fehlt noch das Vokabular dafür, was Stefan Breuer heute, inspiriert durch Weber, „ästhetischen Fundamentalismus“ nennt. Darunter ist eine religionsgeschichtliche Erscheinung zu verstehen, „mit der immer dann zu rechnen ist, wenn die Depotenzierung der Religion durch kognitive Rationalisierung und strukturelle Pluralisierung eine bestimmte Schwelle überschreitet“ (2002, 11). Mit anderen Worten: Der Ästhetizismus setzt sich an die Stelle der Religion und versucht eine künstliche „Widerwelt“ zu schaffen, deren hervorstechendes Merkmal ist, dass sich die Kunst oberhalb jeder Ethik platziert. Auch Weber hat dies schon im Blick, als er den Begriff der „Kunstreligion“ prägt. Was er weniger gesehen hat, ist, dass George und sein Kreis durchaus „weltbejahend“, allerdings „zeitablehnend“ orientiert ist. Auf diese notwendige Differenzierung weist Breuer hin (2002, 105).15 Weber misst freilich mit unterschiedlichen Maßstäben. Im Gegensatz zu George verschont er Nietzsche mit Kritik an dessen religiöser Attitüde. Nietzsche sieht sich selbst als „Führer aus der ‚großen Krise‘“ (Ruddies 2009, 130). Seine „frohe Botschaft“ ist es, die Menschen auf eine höhere, „gottlose“ Daseinsstufe zu führen. Er deutet sein eigenes Leben und sein Werk religiös und inszeniert sich als Nachkomme Jesu, bis hin zum letzten Wahnsinnszettel, den er mit „Der Gekreuzigte“ unterzeichnet. Auch wenn Weber der Definition nach grundsätzlich alle religiösen Äußerungen und Praktiken als Religion anerkennt, ist doch, nicht nur bei George, ein Vorbehalt vor den Quasi-Religionen festzustellen. Er meint, sie seien außerstande, eine „echte Gemeindereligiösität“ zu stiften. Weber beschreibt nicht näher, was genau er damit meint, aber es lässt sich erahnen, dass es ihm um solche Charakteristika wie „Zusammenhalt“ der Gemeinde, um die Authentizität einer Überzeugung, um „Ernsthaftigkeit“, „Hingabe“ und Engagement geht. Demgegenüber hat er für die Quasi-Religionen nur Spott und Sarkasmus übrig. Die Sinnfrage sei in der Welt, aber, so Weber polemisch, dem „literarischen, akademisch-vornehmen oder auch Kaffeehausintellektualismus“ falle nichts anderes ein, denn als „Ausweg“ die Flucht aus dieser Welt zu empfehlen. Weber spricht der „Intellektuellenreligiösität“ den Charakter der Religiösität ab. Ein religiöses Interesse oder religiöse Gefühle würden vorgetäuscht. Darüber würden viele Bücher geschrieben, und findige Verleger machten gute Geschäfte damit, aber aus „derartigen Bedürfnissen von Intellektuellem und ihrem Geplauder“ ließe sich keine „neue Religion“ stiften. Weil es sich nur um „unechte“, bloß vorgetäuschte Religion handelt, geht Weber davon aus, dass sie schon bald vergeht, wie auch Moden nur vorübergehend Ge15  Zu George vgl. auch Christophersen 2009, 183 ff., der in dem Dichter weniger einen „Religionsstifter“ als ein kaum zu fassendes, geheimnisvolles „Gesamtkunstwerk“ sieht.



7. Defizite der Sinnkrisendiagnose65

genstand der Konversation und Publizistik sind (WG, 314). Unter der Hand findet hier eine Substantialisierung von Religion statt, die Weber allerdings gemäß seiner ursprünglichen Setzung eines „subjektiv sinnvollen“ Reli­ gionsbegriffs ausschließen wollte. Dieses kurze, nur wenige Seiten umfassende religionssoziologische Kapitel ist deshalb bemerkenswert, weil es in geraffter Form die Folgen der Sinnkrise schildert. Die „Erlösungssehnsucht“ bleibt unerfüllt, sie muss unerfüllt bleiben, weil alle Erlösungsangebote, die im Umlauf sind, zwar modisch und verführerisch, aber nicht ernsthaft sind. Weber benennt als Verursacher der Sinnkrise den „Intellektualismus“ und meint damit Wissen und Reflexion, die den Dingen ihren metaphysischen Zauber nehmen. Weber polemisiert nicht generell gegen den Intellektualismus oder die Intellektualisierung, letztere ist ein unaufhaltsamer und letztlich „natürlicher“ Prozess, sondern gegen „falsche Propheten“, zu denen für ihn reine „Gesinnungsethiker“ wie Tolstoi oder die „Literatenpolitiker“ gehören. Sie greift Weber vor allem deshalb an, weil sie den Menschen etwas vormachten, weil sie die Entzauberung leugneten und ihr Motiv die Wiederverzauberung sei. Geradezu allergisch reagiert Weber, wenn die Wissenschaft in die Rolle des „Wiederverzauberers“ schlüpft (diesen Begriff benutzt er allerdings nicht). Dies ist das zentrale Thema des Vortrags „Wissenschaft als Beruf“, in dem Weber seine Überlegungen aus dem Stände- und Klassenkapitel und die sinnstiftenden Ambitionen der „Kathederpropheten“ aufgreift. Webers Plädoyer ist, ein Leben ohne einen maßlosen Sinn- und Erlösungsanspruch zu führen: hinnehmen und aushalten, ein „Held“ sein. Sein Plädoyer ist, nichts Neues zu stiften, das „So-und-nicht-anders-Gewordensein“ anzuerkennen, der „Forderung des Tages“ gerecht zu werden und sich „an die Arbeit“ zu machen. Fast könnte man in dieses Postulat am Ende des Vortrags (WL, 613) hineinlesen, sich als Individuum weniger wichtig zu nehmen, „Sinnansprüche“ zurückzuschrauben. Muss das Leben unbedingt sinnvoll sein?

7. Defizite der Sinnkrisendiagnose Webers Auseinandersetzung mit der Sinn- und Entzauberungsproblematik ist kurz und anregend, sie lässt aber Fragen offen. Wenn sich die Sinnproblematik mit großer Dringlichkeit und erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stellt, also erst um 1900 „die Dinge nur noch sind und nichts mehr bedeuten“, stellt sich die Frage, wie es in früheren Epochen gewesen ist. Ist die Erschöpfung von Sinnressourcen, wie Weber sie ausmacht, tatsächlich ein neues Phänomen? Um dies behaupten zu können, hätte Weber in eine vergleichende Untersuchung epochenspezifischer Sinnressourcen einsteigen müssen. Das tut er jedoch nicht.

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

Soweit es dazu Untersuchungen gibt – sie stammen vornehmlich von religionswissenschaftlicher Seite –, zeigt sich, dass auch frühere Epochen Sinnprobleme kennen. Schon das antike Denken dreht sich auch um „Sinn“. Ein Indiz dafür ist die Vielzahl von Göttern, Fluchmächten und Dämonen. Sie sind Projektionen menschlicher Erfahrung, von Ängsten und gerade auch Ausdruck von Sinnhoffnungen. In früheren Zeiten stellen sich die Menschen die Natur von geheimnisvollen Wesen und Mächten „beseelt“ vor. Dämonen und Elementargeister bevölkern die Antike, aber auch noch im 16. und 17. Jahrhundert sind sie anzutreffen. Viele dieser Geister haben ihr archaisches Wesen bis in unsere Tage bewahrt.16 Ihre Funktion kann man so zusammenfassen, dass sie Ängste nehmen, für Entlastung sorgen und Sinn stiften sollen. Paradoxerweise ist selbst zu Beginn des Industriezeitalters, als ein bis dahin beispielloser Prozess der Säkularisierung einsetzt, in ganz Europa und Nordamerika der Dämonenglaube weit verbreitet. „Geisterseher“ und „Sinnsucher“ sind unterwegs, Okkultismus und Spiritismus weit verbreitet. Irrationale Glaubensmächte sind nicht nur ein allgemeines Kontrastprogramm zum herrschenden Materialismus und zu zunehmender Rationalisierung, sondern hier wird vorgegeben, Antworten auf Grundfragen wie das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit, Körper und Materie, Leben und Tod geben zu können.17 Wolfgang Speyer, Spezialist für den Vergleich von antikem und frühem christlichen Denken, zeigt, dass alle Kulturen den „numinosen Menschen“ kennen. Der „numinose“ Mensch ist vergleichbar mit Webers „charismatischem Führer“, mit dem großen Einzelnen, dem göttliche Kräfte nachgesagt werden und der deshalb als legitimiert angesehen wird, voranzuschreiten und einen Weg zu weisen. Wer dem großen Einzelnen folgt, dem wird ein sinnerfülltes Leben versprochen (Speyer 1995, 96 ff.). Speyer zeigt auch, dass das Weltbild der antiken Menschen zwar einem (wie später in einer These von Nietzsche) ewigen Kreis gleicht, insofern also früher oder später „Erlösung“ erreicht werden wird, aber das Leben den irdischen Bewohnern trotzdem als unerlöst erscheint, die Sinnfrage mithin unbeantwortet bleibt (vgl. Speyer 1999 a, 7 ff. und 1999 b, 51 ff.). Man könnte die These vertreten, dass Jenseitsvorstellungen generell auch als „sinnstiftende“ Angebote betrachtet werden können. Nicht erst in der Neuzeit, sondern bereits zu früheren Zeiten werden Fragen gestellt, die „sinnrelevant“ sind: Was folgt auf den Tod? Gibt es ein ewiges Leben? 16  Vgl. dazu Petzolds (2003) „Lexikon der Dämonen und Elementargeister“ mit zahlreichen Beispielen. 17  So das zentrale Ergebnis der historischen Studie von Linse (1996) über Heilund Sinnsuche im Industriezeitalter.



7. Defizite der Sinnkrisendiagnose67

Lässt sich Leid begründen? Gibt es im Jenseits Belohnung und Strafe? Sowohl antikes wie christliches Denken kennt postmortale Wohnorte. In der Antike heißen sie Elysium und Hades, im Christentum Himmel und Hölle. Es wartet das Paradies oder die ewige Finsternis, dazwischen gibt es nichts (vgl. Lang 2009, 9 ff., 36). Die Unterschiede zwischen pagan-antiker und christlicher Vorstellung sind im Grunde graduell. Es gibt die Teilung zwischen einem Jenseitigen und einem Diesseitigen. Die Erwartung eines Jenseitigen kann motivierend im Diesseitigen wirken. Voraussetzung ist allerdings der Glaube an ein jenseitiges Geschehen, an so etwas wie eine „nachholende Gerechtigkeit“, an Erlösung. Von philosophischer Seite macht Volker Gerhardt (1994) auf einen Zusammenhang zwischen antiker und moderner Philosophie aufmerksam, der gerade im Sinnbegriff bestehe. Die Formel „Sinn des Lebens“ gibt es so in der Antike zwar noch nicht, aber das, was die Griechen „telos“ nennen, ist nach Gerhardt vergleichbar, es ist ein funktionales Äquivalent, und zwar insofern, als „telos“ übersetzt „einsichtiger Zweck“ heißt (Gerhardt 1994, 378). Gerhardt meint auch, die Frage nach dem Sinn sei die eigentliche Triebfeder der Metaphysik, nach dem „Warum“, und daraus könne man schließen, die Sinnfrage sei so alt wie die Philosophie selbst. Weber thematisiert dies nicht weiter, darin kann man ein Manko seiner These vom Sinndefizit sehen. Allerdings arbeitet er doch mit Gespür die Sinnproblematik heraus und macht auf einen Punkt aufmerksam, der tatsächlich in der Diskussion um Sinn neu zu sein scheint. Wenn es auch das Sinnproblem bereits zu früheren Zeiten gibt, dann scheint es doch nunmehr, am Ende eines alten bzw. zu Beginn eines neuen Säkulums, zu dem Zeitpunkt, als Ökonomisierung, Industrialisierung und Säkularisierung als „Megatrends“ zusammentreffen, eine neue Qualität zu gewinnen. Dies hängt direkt damit zusammen, was Weber die „Entzauberung“ nennt, was gleichbedeutend ist mit einem Verlust an sinnstiftenden Perspektiven, mit dem Eindruck, dass diese Realität kein Geheimnis mehr hat, ihr spiritueller Geist verflogen, sie nur noch einfach ist, aber nichts mehr bedeutet. An diesem Punkt kommt erneut Nietzsche als Stichwortgeber ins Spiel. Er wirft Fragen auf, die Weber verarbeitet. Eine wichtige Referenzschrift ist die „Fröhliche Wissenschaft“, die 1887 in zweiter Auflage erscheint und in der Nietzsche es unternimmt, Kunst und Wissenschaft zusammenzuführen. Das Buch nimmt nach den Worten von Nietzsche-Herausgeber Colli eine „Mittelstellung“ in Nietzsches literarischer Produktion ein (KSA 3, 660). Alle Extreme sind vorhanden, aber in entspannter Weise verbunden. Vor allem ist es ein Werk voller Widersprüche und Doppeldeutigkeiten. Nietzsche gebraucht dafür in der „Vorrede“ die Metapher vom „Aprilwetter“ (KSA 3, 345).

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

Im ersten Buch wirft er die Frage auf, die auch Weber interessiert und die der Grund ist, warum er sich mit der Religion beschäftigt: „Der Mensch muss von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben!“ Es folgt der für einen radikalen Vernunftkritiker überraschende Satz: „Ohne den Glauben an die Vernunft im Leben!“ (KSA 3, 372). Für Nietzsche ist der Glaube an die „Vernunft im Leben“, oder man könnte mit einer Formulierung aus der „Vorrede“ auch vom „Werth des Daseins“ sprechen (KSA 3, 348), zu einer „Existenz-Bedingung“ geworden, die den Menschen vom Tier unterscheidet (KSA 3, 372). Widersprüchlich und ambivalent ist auch der Aphorismus 125 mit dem Titel „Der tolle Mensch“, in dem Nietzsche seine berühmte Diagnose stellt: „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“ (KSA 3, 481). Man weiß hier nicht recht: Begrüßt oder „feiert“ Nietzsche geradezu den „Todt“, („Es gab nie eine grössere That …“), oder, mit Blick auf den Nachsatz: Ist es eine Anklage? Dafür spricht, dass Nietzsche mit Gottes Tod eine totale „Nacht“ hereinbrechen sieht, mit dem Ergebnis, dass „Laternen bereits am Vormittag“ angezündet werden müssen (KSA 3, 481). Für eine Anklage spricht auch, worin Nietzsche den Grund für den „Todt Gottes“ sieht: Es ist die menschliche Hybris, die ihn umgebracht hat. „Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?“ (KSA 3, 481). Nietzsches Anklage ist freilich nicht, wie in der griechischen Tragödie, mit der Warnung vor einem „schlimmen Ende“ oder mit der Erwartung gerechten Zorns verbunden. Für Letzteres steht in der griechischen Mythologie „Nemesis“, die Tochter der Nyx, der „Nacht“; sie ist die Göttin der gerechten Bestrafung und der Rache. Merkwürdig ist der Schlussteil des Aphorismus, in dem Nietzsche den „Todt Gottes“ offensichtlich als ein Ereignis ansieht, das „noch unterwegs“ ist und „wandert“, dann jedoch als bereits „gethan“ darstellt. Damit will er wohl sagen, dass die Tötung noch nicht vollends zu Bewusstsein gelangt ist. Deshalb kann er sagen, die „Nacht“ und immer „mehr Nacht“ stünden bevor. Übrigens benutzt auch Weber mehrfach die Metapher von der „Nacht“. In der frühen Untersuchung „Die sozialen Gründe für den Untergang der antiken Kultur“ sieht er die „okzidentale Menschheit“ in „tiefe Nacht“ versinken (GAzSW, 311), im Vortrag „Politik als Beruf“ ist es eine „Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte“, die statt eines ersehnten Sommers bevorsteht (PS, 560). Weber fragt im Sinne Nietzsches: Was kommt nach dem Schock der Entzauberung und des Verlusts an Sinn? Wie lässt sich mit Nietzsches „todtem Gott“ fertig werden, wie in einer „gottfremden und prophetenlosen Zeit“ leben? (Wissenschaft als Beruf, WL, 610). Man kann sagen: Weber zieht die Konsequenzen aus der Diagnose Nietzsches. Er entwickelt eine Perspektive, wie man trotzdem leben



8. Sinnbegriffe69

und überleben kann, das ist der „Heroismus“, und er zieht daraus Schlussfolgerungen für das Selbstverständnis seiner Wissenschaft, die freilich nicht, wie bei Nietzsche, eine neue Welt entwirft, sondern die Legitimität von Weltentwürfen bestreitet.

8. Sinnbegriffe In der Literatur wird in der Regel nicht weiter thematisiert, dass Weber „Sinn“ in einem zweifachen, ja sogar dreifachen Sinne verwendet. „Sinn“ ist zum einen eine analytische Kategorie. Weber wird meist als Autor eben dieses analytischen Sinnbegriffs gelesen. Sein Ziel sei es, den Sinn, der hinter einer Handlung stehe, zu entschlüsseln. „Sinn“ in diesem Fall sei auch der „Zweck“ der Handlung. Für diese Rezeption, vor allem auch in den soziologischen Lehrbüchern (vgl. etwa Korte / Schäfers 1992,17 ff.), gibt es gute Gründe. Denn Webers soziologischer Anspruch, den subjektiven Sinnhorizont einer Handlung zu analysieren, ist damals neu und originär, inspiriert auch die Weiterentwicklung des Sinnbegriffs von Mead über Schütz bis Luhmann.18 Im Paragraphen 1 seiner „Soziologischen Grundbegriffe“ trifft Weber aber eine Unterscheidung zwischen dem „subjektiv gemeinten“ und dem „metaphysisch wahren“ Sinn. Letzteren zu ergründen hält er für unmöglich. Man könnte an Kants Formulierung in der Vorrede zur ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ von der Metaphysik als dem „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ denken (A VIII). Weber sucht nicht nach einer Möglichkeit, diesen Streit zu beenden. Während Kant glaubt, ihn mit einer kritischen Metaphysik beenden zu können, lässt Weber sich auf die Frage erst gar nicht ein. Allerdings darf man bei einem Vergleich zwischen Weber und Kant nicht vergessen, dass beide einen ganz verschiedenen Ansatz verfolgen. Geht es dem einen um die Frage, wie gesichertes Wissen oder apriorische Erkenntnis möglich sei, also um Erkenntnistheorie, so dem anderen um eine Handlungstheorie, die empirisch, mit einem Begriff Kants: a posteriori, orientiert ist. Der „metaphysisch wahre“ Sinn interessiert Weber nur, insoweit er einer Handlung zugrunde liegt und der Handelnde diesen spezifischen Sinn für subjektiv wahr hält. Immer wieder betont Weber, dass es der Wissenschaft unmöglich sei, objektiv die „Wahrheit“ 18  George Herbert Mead hebt als Merkmale des Sinnbegriffs „Teilnahme“ und „Mitteilbarkeit“ hervor. Wenn etwas für uns Sinn hat, dann gibt es diesen Sinn bereits, und auch Andere können diesen Sinn verstehen. Wie Mead betont auch Schütz die „Intersubjektivität“ des Sinns, und bei Luhmann dient der Sinnbegriff der Reduktion von Komplexität. Sinn ist in diesem Sinne eine „Ordnungsform menschlichen Erlebens“ (vgl. Korte / Schäfers 1992, 23 f.).

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

einer Handlung zu beurteilen. „Wahrheit“ ist für Weber immer ein Konstrukt des Subjekts, nicht objektiv feststellbar. Seine Aufgabe und seine Kompetenz sieht er gleichwohl darin, diesen subjektiv gemeinten „wahren“ Sinn entschlüsseln zu können. Oder weniger kompliziert ausgedrückt: Weber glaubt, Motive des Handelns analytisch herausschälen zu können. Er geht sogar noch einen Schritt weiter: Er glaubt, mit Hilfe „einfühlender Phantasie“ den Sinn einer Handlung „nacherlebend“ verständlich machen zu können (WG, 2) und durch Hineinversetzen in den Anderen Maßstäbe gewinnen zu können, dem Handelnden zu sagen, ob er auch die geeigneten Mittel gewählt habe, seinen ursprünglich gesetzten Zweck zu erreichen, ob er also „sinnvoll“ gehandelt habe. So bescheiden, wie sich Webers Ansatz zunächst ausnimmt, ist er also doch nicht. Weber traut sich schon zu, berechtigt sagen zu können, wann ein Handeln der ursprünglichen Intention dienlich ist und wann eben nicht. Allerdings ist sein Maßstab keiner, der gleichsam aus metaphysischer Höhe die Dinge beurteilt, sondern er legt den subjektiven Maßstab an, den sich der Handelnde selbst setzt oder in der Konsequenz setzen müsste. Neben dieser analytischen Sichtweise von „Sinn“ benutzt Weber Sinn als existentielle und zeitkritische Kategorie. Das ist nicht in den soziologischen Grundlagen-Schriften der Fall, also in den „Soziologischen Grundbegriffen“ sowie im Wertfreiheits- und Objektivitätsaufsatz, aber eben in der Reli­ gionssoziologie und in seinen Vorträgen, wo es heißt, die Dinge seien nur noch, aber sie bedeuteten nichts mehr. Dies kann man als einen Reflex auf einen Diskurs ansehen, der erstmals wohl im späten 18. Jahrhundert aufkommt, nicht gleich schon unter der Überschrift „Sinn“, aber unter dem Stichwort „Wert“. Der Begriff „Wert“ hat ursprünglich eine rein ökonomische Bedeutung. Die seinerzeit beginnende Ökonomisierung aller menschlichen Lebensbereiche schlägt sich auch sprachlich nieder und führt zu einer Konjunktur des Wertbegriffs (siehe auch Kap. 4). Damals taucht auch die Formel „Wert des Lebens“ auf, die bald von der Formel „Sinn des Lebens“ abgelöst wird (vgl. Gerhardt 1995 a, Sp. 815 ff.). Die ursprünglich rein materielle Konnotation des Wertbegriffs wird auf diese Weise relativiert. Der „Sinn“ eines Lebens kann sich am Vorhandensein materieller Güter bemessen, muss dies aber nicht. Einige Autoren, wie Odo Marquard oder Hermann Lübbe, datieren das Aufkommen des existentiellen Sinnbegriffs erst auf die Zeit um 1880. Als Hauptautor gilt ihnen Dilthey, merkwürdigerweise nicht Nietzsche. Nach dieser Sicht ist das Aufkommen des Sinnbegriffs Produkt einer gestörten Daseinsbefindlichkeit, die ihrerseits aus fortschreitender Vereinzelung und verlorenem Glauben an Gott resultiert. In seinen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zeigt Gerhardt jedoch, dass es bereits frühere Fundstellen



8. Sinnbegriffe71

bei Kant, Fichte, Schleiermacher, Schopenhauer und Nietzsche gibt. „Wert und Sinn ersetzen und präzisieren nur, was zuvor Zweck oder Ziel genannt wurde.“ (Gerhardt 1994, 372). Im Falle Kants ist noch auf zwei weitere Aspekte hinzuweisen, die sich so vor allem bei ihm auffinden lassen. Sinn ist hier gerade auch ein normativer Wert, dessen Funktion darin besteht, das Handeln zu orientieren. Dabei ist die Pointe Kants die Feststellung, dass der Sinnbegriff seinen Sinn oftmals verfehlt. Als Referenzschrift lässt sich seine „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ nennen, in der er den Gang der menschlichen Dinge „widersinnig“ nennt und klagt, dass die Menschen zwar nicht „bloß instinktmäßig wie Tiere“ handeln, aber eben doch auch nicht „wie vernünftige Weltbürger, nach einem verabredeten Plane“ (Kant 1977, „Idee“, A 387). Der zweite Bedeutungsaspekt bei Kant ist, dass er „Sinn“ im Sinne von „Sinnen“, also von Denken und Planen, von gründlichem Überlegen im Vorhinein benutzt. „Sinnen“ ist also ein „Vorsinnen“, und „vernünftigem“ Handeln geht ein solches voraus. „Sinn“ in diesem Verständnis ist heute kaum mehr anzutreffen. Wenn heute von Sinn die Rede ist, dann häufig in der Formeleinheit „Sinn und Zweck“ und im Zusammenhang mit der Frage nach dem „Sinn des Lebens“. Insoweit hat sich in den vergangenen gut 200 Jahren wenig geändert. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist die existenzielle Frage schlechthin, die nicht nur in Theologie und Psychologie, sondern auch und gerade in der Philosophie traktiert wird (Kutschera 2000, 85). Einen für meine Untersuchung interessanten Zugang zur Sinnfrage wählt Thomas Nagel in seinem kleinen Buch „Was bedeutet das alles?“ Nagel meint, die Sinnfrage sei eigentlich immer präsent, da „die meisten unserer großen und kleinen Taten“ nach Rechtfertigungen und Erklärungen verlangten (Nagel 1980, 80). Nach Nagel gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten, wie wir unser Leben als sinnvoll erfahren können. 1). Wir können uns politisch oder in einer sozialen Bewegung engagieren, um zum Wohle künftiger Generationen zu wirken. 2). Wir können unseren Kindern und deren Nachkommen ein gutes Leben zu sichern versuchen. 3). Wir können auch versuchen, den Sinn unseres Lebens in einem religiösen Kontext zu suchen, dass unser Leben auf Erden also zum Beispiel nur eine Vorbereitung für ein Leben in direktem Kontakt mit Gott ist (1980, 82). In allen drei Fällen hätte unser Leben „Bedeutung“. Sinn ist für Nagel nur ein anderes Wort für „Bedeutung“. Damit schlägt Nagel exakt die Verwendungsweise von „Sinn“ vor, die bereits für Webers existentiellen Sinnbegriff kennzeichnend ist. Wenn Weber „Sinn“ im existentiellen Sinne verwendet, dann meint er „Bedeutung“. Das Gegenteil davon ist die Wertlosigkeit. Webers Diagnose lautet also: Nichts

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ist mehr wirklich etwas wert, die Dinge sind unbedeutend geworden. Aber trotzdem ist deshalb unser Leben nicht sinn- und bedeutungslos geworden. Weber lässt sich nicht leicht in die Karten schauen. Man muss genau hinsehen. Für ihn gibt es offensichtlich Alternativen und Abstufungen bei der Befriedigung von Sinnbedürfnissen. Ähnlich wie Nagel unterscheidet er verschiedene Möglichkeiten, seinem Leben einen „Sinn“ zu geben. Maximale „Sinnbefriedigung“ erreicht, wer eine aufbauende Kraft in sich spürt, die religiöse Ursprünge haben kann. Weber spricht in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ von einem „Etwas“, das „pulsiert“ und dem entspricht, „was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte“ (WL, 612). Das „Pneuma“ ist bei den Stoikern ein „feuriger Lufthauch“, eine Art kosmische Macht, und in der antiken Medizin stellt man sich das „Pneuma“ als eine materielle Lebenskraft vor, ähnlich wie das Blut, das kulturgeschichtlich als Urstoff des Lebens gilt. Das Pneuma hat sich nach Weber in Luft aufgelöst, oder wie er es ausdrückt, die „letzten und sublimsten Werte“ seien aus der Öffentlichkeit zurückgetreten. Aber sie sind trotzdem nach wie vor vorhanden; sie haben sich lediglich zurückgezogen. Als Zufluchtsorte nennt Weber zum einen das „hinterweltliche Reich mystischen Erlebens“, eine Alternative, wie sie sich aber nur Einzelnen und Wenigen bietet. Zum anderen ist es die „Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen“, die ein Leben sinnvoll erscheinen lassen können. Alle anderen Alternativen sind für Weber Schein-Alternativen. Den Prozess der Entzauberung stellt er sich so umfassend vor, dass nicht nur die Religion, sondern auch Kunst, Wissenschaft und Politik ihren Zauber verlieren. Sie alle sind stumpf geworden, können nicht mehr halten, was sie versprechen. Als Instanzen, die neue Lebenskräfte zu wecken, „Sinn“ zu stiften vorgeben, scheitern sie „jämmerlich“ (WL, 612). Der Metaphoriker Weber nennt die „Gedankengebilde“ der Wissenschaft „ein hinterweltliches Reich von künstlichen Abstraktionen, die mit ihren dürren Händen Blut und Saft des wirklichen Lebens einzufangen trachten, ohne es doch je zu erhaschen“ (WL, 595). Deshalb scheidet die Wissenschaft – im Gegensatz dazu, wie diejenigen meinen, die Weber polemisch „Kathederpropheten“ nennt – als funktionales Äquivalent aus. Entzauberung ist Ent-Täuschung. Nichts Neues wächst nach, was an die Stelle des Alten treten könnte. Webers Bedauern über diesen Zustand hält sich freilich in Grenzen, wenn er ihn nicht sogar als vollendete Aufklärung begrüßt. Er ruft nicht nur dazu auf, das Schicksal „männlich (zu) ertragen“ (WL, 613). Ein Leben im „kleinsten Gemeinschaftskreise“, „von Mensch zu Mensch“, „im Pianissimo“ erscheint ihm sogar als keine schlechte Alternative. Ausdrücklich erwähnt er das „Pianissimo“ als attraktive persönliche Lebensoption. Das ergibt sich aus der an seine Frau gerichteten Widmung im ersten Band der



8. Sinnbegriffe73

Religionssoziologie, die noch von Weber persönlich stammt. Die Formulierung „im Pianissimo“ entnimmt er vermutlich dem musikwissenschaftlichen Schrifttum, das er zur Abfassung seiner Soziologie der Musik studiert (vgl. Kap. 5). Das „Pianissimo“ ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem Rückzug in die familiäre Zweisamkeit oder die intellektuelle Einsamkeit. Wenn man Aristoteles’ Unterscheidung zwischen „bios theôrêtikos“ und „bios politikos“, zwischen „betrachtender“ und „politischer“ Lebensform in der „Nikomachischen Ethik“, zugrunde legen würde, optiert Weber für die „politische“ Existenzform. Aristoteles’ Leben „gemäß dem Geiste“ (NE IX, 7, 1178 a 6) wäre nach Weber eine Form „intellektualistischer“ Weltflucht. Im Gegensatz zu Aristoteles, der zumindest dem Wortlaut nach in der „Nikomachischen Ethik“ die „vita contemplativa“ bevorzugt, optiert Weber für eine „vita activa“, wie deutlich das Ende des Wissenschaftsvortrags zeigt. Dieser schließt mit dem Aufruf, sich zu engagieren, sich nüchtern, illusionsfrei und unaufgeregt den Aufgaben zu stellen, die das Leben an jeden Einzelnen heranträgt. Wenn man diesen Punkt weiterdiskutieren will, muss man allerdings darauf hinweisen, dass weder bei Aristoteles noch bei Weber an eine derart schroffe Entgegensetzung von zwei Lebensformen gedacht ist. Wenn man an die beiden Freundschaftsbücher in der „Nikomachischen Ethik“ denkt, kann man nicht unbedingt von einem Widerspruch zwischen den beiden Lebensformen ausgehen, auch wenn der Wortlaut in der „Nikomachischen Ethik“ einen gegenteiligen Eindruck erweckt.19 Weber zielt mit seinem Verständnis von Wissenschaft auf eine Rationalitätssteigerung von Politik ab. Dafür ist sein Vortrag „Politik als Beruf“ mit dem Postulat nach politischer Verantwortungsethik ein Beleg. In diesem Sinne kann man auch seine ständigen Hinweise auf die Komplexität und Unterschiedlichkeit der „Werte-Welt“, auf die Vielfalt berechtigter Haltungen, die man der Welt gegenüber einnehmen könne, deuten. Komplexität macht jedoch „einfache“ Entscheidungen schwierig. Letztlich steigert Weber mit Hilfe der Wissenschaft das Problembewusstsein, das jedoch in der politischen Welt, die eine Welt der Vereinfachung ist, nicht unbedingt willkommen ist. Andererseits muss doch gerade dieses Problembewusstsein vorhanden sein, wenn komplexitäts- und sachgerecht entschieden werden soll. Dass Weber die Formulierung „Pianissimo“ sowohl im privaten Bereich als auch im wissenschaftlichen Kontext benutzt, ist ein interessanter Punkt, 19  Eine harmonisierende Interpretation vertritt auch Kullmann (2006, 253 ff.), der hervorhebt, das eine müsse das andere nicht ausschließen. Vgl. auch schon Höffe (1996, 234), der meint, der „bios theôrêtikos“ sei zwar das dominante, aber kein „absolut vorzugswürdiges Ziel“. An anderer Stelle heißt es auch, Aristoteles treffe lediglich eine „Prioritätenaussage“ zugunsten der theoretischen Lebensform (1998, 56).

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an den sich eine generelle Überlegung zum Interpretationsansatz knüpfen lässt. Offensichtlich gelingt es Weber nicht immer, „objektivierende“ Distanz zum Forschungsgegenstand zu gewinnen. Häufig ist Weber als Person involviert und reagiert; seine Fragen ergeben sich auch aufgrund eigener Erfahrungen. Radkau (2005 u. 2009) betont in seinem Weber-Zugang einen „engen Konnex zwischen Leben und Werk“. Man muss allerdings nicht immer so weit gehen wie der Biograf, der Webers geistige Kreativität „im Großen und Ganzen“ auf persönliche Lebenserfahrungen zurückführt und verschiedene Werkpassagen entsprechend „körpergeschichtlich“ deutet. Im Fall der Sinnproblematik ist dieser Zugang allerdings durchaus gewinnbringend. Tatsächlich scheint eine persönliche Erfahrung, eine eigene existentielle Erschütterung Weber zu treiben. Dies zeigt eine sehr persön­ liche Aufzeichnung, datiert vom 1. Februar 1919. Weber beschreibt sich hier als einen transzendental Heimatlosen, als Suchenden, der jedoch nur auf Trümmer und Ruinen stößt. „Riesige Schuttmassen, von zahllosen zertrümmerten Götter- (und Götzen-)Bildern; im Bau liegen gebliebene Lebensstraßen und verlassene und verfallene Behausungen, in denen ich Zuflucht suchte und nicht fand – jeder Ausblick und Horizont versperrt … (Noch) vor das verschüttete Tor … waren Riegel gelegt …“ (zitiert bei Baumgarten 1964, 675).

Ein solcher Ton abgrundtiefer Verzweiflung findet sich, soweit ich sehe, in keiner der bislang veröffentlichten privaten Aufzeichnungen bzw. in keinem der Briefe, geschweige denn in den publizierten Texten. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Weber die Erfahrung persönlicher Not nach außen hin in die Tugend des Aufrufs wendet, sich zu engagieren, sich „an die Arbeit“ zu machen, nicht zu klagen, sondern „hart“ gegen sich selbst zu sein, oder in der Diktion des damals noch verbreiteten patriarchalischen Macht- und Ordnungsdenkens: „Mann“ zu sein.

9. Die Präsenz Nietzsches Nietzsche ist für Weber, wie mehrfach gezeigt, ein wichtiger Stichwortgeber. Auch in der Frage: Gibt es einen Sinn in der Geschichte? Hat Geschichte Sinn? ist es Nietzsche, dem sich Weber weitgehend anschließt. Während Hegel in seinen „Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte“ meint, „diese ungeheuersten Opfer“, die im Laufe der Zeit erbracht wurden − Hegel nennt die Geschichte eine „Schlachtbank“ − hätten einen tieferen Sinn gehabt (GeschPhil, 35), und im Übrigen alles Große, das untergegangen sei, keineswegs für immer vernichtet sei, sondern fortwirke und dem Fortschritt des Menschen diene, destruiert Nietzsche Hegels „Geschichtstheologie“. Hegel glaubt an einen Geschichtssinn, der sich dialektisch ent-



9. Die Präsenz Nietzsches 75

wickelt und „immer“ vorhanden ist. Demgegenüber entspricht es der Absicht Nietzsches, alles Geschichtsvertrauen als idealistischen Irrglauben zu entlarven, der die Menschen daran hindert, Subjektivität herauszubilden (vgl. Rohbeck 2004, 127 ff.). Hegels Teleologie ist nach Nietzsche nur ein anderes Wort für Theologie. Geschichte verläuft, so Nietzsches Überzeugung, diskontinuierlich und zufällig. Er betont die Brüche und Unregelmäßigkeiten; Verwerfungen und Verletzungen sind das einzige Kontinuum. Eine andere Gerichtetheit des Geschichtsprozesses, einen „Endzweck“, gibt es nach Nietzsche nicht. Allerdings sind auch für ihn die Opfer, die auf der „Schlachtbank“ der Geschichte erbracht werden, sinnvoll in dem Sinne, dass sie dem „Leben“ dienen können. Sie erschüttern den Glauben an kontinuierliches Fortschreiten, zerstören Hoffnungen und Illusionen, können auf diese Weise dazu beitragen, starke Individuen, sprich: „Übermenschen“ zu formen. Nur diese verkörpern die Sinnbilder und Schöpfer einer neuen Kultur und neuer Werte.20 Deshalb hält es Nietzsche in seiner zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ für sinnvoll, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, allerdings nur bis zu einem bestimmten Grade: Problematisch wird die historische Reflexion, wenn sie das Vergessen verhindert. Denn wer nicht vergessen kann, meint Nietzsche, kann nicht leben. (KSA Bd. 1, 250 f.) Auf das Fehlen jeden Sinns kommt Nietzsche häufig in seinen „Nachgelassenen Fragmenten“ unter dem Stichwort „Nihilismus“ zu sprechen. „Wozu? Es lohnt sich nichts!“ (Nachlass 1884–1885, KSA 11, 236); „Es gibt eine große Lähmung: umsonst arbeiten, umsonst kämpfen.“ (Nachlass 1885–1887, KSA 12, 207); „Woran es fehlt? Wesentlich: der Sinn fehlt.“ (Nachlass 1887–1889, Bd. 13, 214). Nietzsches Nihilismus-Diagnose darf nicht als Klage aufgefasst werden, sondern als Beginn einer zu begrüßenden Selbstüberwindung des „alten“ Menschen und als Entstehen einer neuen Kultur (vgl. Gerhardt 2006, 166 f.; Kuhn 2000, 293 ff.; siehe auch Höffe 2007  b, 96 f.) Bei Weber finden sich Hinweise, dass er ähnlich denkt, etwa in seiner Antrittsvorlesung: „Wir, mit unserer Arbeit und unserem Wesen, wollen die Vorfahren des Zukunftsgeschlechts sein.“ (PS, 13 ) Aber im Unterschied zu Nietzsche geht es nicht um den Entwurf einer zukünftigen Perspektive, um die Erschaffung eines Neuen, als vielmehr um die Destruktion großer, letztlich unerfüllbarer Erwartungen. Auch dafür liefert Nietzsche ein wichtiges Stichwort. Im Nachlass findet sich der Eintrag „Kritik der großen Worte: 20  Im „Ecce homo“ (KSA 6, 344) ist der „Übermensch“ die größte Erhöhung des Kraftbewusstseins und in „Jenseits von Gut und Böse“ ein gottähnlicher Philosoph (KSA 5, 237).

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Wahrheit. Gerechtigkeit. Liebe. Frieden. Tugend. Freiheit. Güte. Rechtschaffenheit. Genie. Weisheit.“ (Nachlass 1887–1889, KSA 13, 65). Weber geht es weniger um die These, dass diese „großen Worte“ nicht mehr taugen, Sinn zu stiften, als vielmehr um den Hinweis auf die Gefahr, die von ihnen ausgeht: Sie begünstigen die Herausbildung dessen, was er die „Gesinnungsethik“ nennt. Gesinnungsethik entspricht einer Haltung „religiösen“ Eifers, die von den Folgen ihres Handelns abstrahiert und rein „erfolgsorientiert“ ist. Doch wie für Nietzsche die Beschäftigung mit der Historie bis zu einem gewissen Grade konstruktiv ist, so hält auch Weber am normativen Versprechen der „großen Worte“ bis zu einem gewissen Punkt fest. Immer ist in großen Gesten des Verabschiedens, bei Nietzsche wie bei Weber, ein Rest überzeugten Festhaltens daran. Auch wenn es paradox klingen mag: Die „großen Worte“ erfüllen eine Funktion. Aus ihrer Entzauberung und Enttäuschung lässt sich Kraft schöpfen: die Kraft „auszuhalten“, zu widerstehen, die Kraft, ein „heroisches“ Leben zu führen. In seiner dritten „Unzeitgemäßen Betrachtung“: „Schopenhauer als Erzieher“ steht der Satz: „Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf.“ (KSA 1, 373). „Heroismus“ ist bei Nietzsche der Mut zur Wahrhaftigkeit und Illusionsfreiheit. Weber teilt diesen spezifischen Heroismus. Wenn man einmal versucht, aus dem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ eine zentrale Botschaft herauszudestillieren − was schwierig genug ist, da er immer wieder neue Gedanken an seinen eigentlichen thematischen Faden knüpft −, dann ist es genau dieser Heroismus Nietzsches: alle Versprechungen als Illusionen zu erkennen und, statt den Himmel auf Erden herbeizusehnen, den unfertigen und „sinnlosen“ Zustand der Welt anzuerkennen, sich den alltäglichen Aufgaben zu stellen und sich darin zu bewähren, um auf diese Weise die notwendige Kraft für ein einigermaßen erfülltes Leben mit „täglicher Zeitung und Eisenbahnen, Electrics etc. pp“ zu schöpfen.21 Das ist der Gang der Argumentation. Weber geht die folgenden Schritte: Die These lautet: Alle „früheren Illusionen“ – er nennt den „Weg zum wahren Sein“, den „Weg zur wahren Kunst“, den „Weg zur wahren Natur“, den „Weg zum wahren Gott“ und den „Weg zum wahren Glück“ – sind „versunken“ (WL, 598). Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Nur zwei Reaktionen sind möglich: Als „Schwäche“ bezeichnet es Weber, „dem Schicksal der Zeit nicht in sein ernstes Antlitz blicken zu können“ (WL, 605). Stärke hingegen ist, zu lernen, „unbequeme Tatsachen“ anzuerkennen 21  So die Formulierung in dem bereits im ersten Kapitel zitierten Brief v. 4. August 1908 an Robert Michels, MWG II / 5, 616.



10. Das Zeitalter des Zählens und Messens77

(WL, 603). Welches sind diese „unbequemen Tatsachen“? Erstens, „dass (wir) in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal (haben)“ (WL, 610). Zweitens, dass die „verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen“ (WL, 603). Drittens der Punkt der „zunehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung“, die keineswegs segensreich wirkt, sondern die Heillosigkeit der Welt, „Entzauberung“ bedeutet (WL, 594). Was bleibt für die Zukunft? Weber fordert, „Persönlichkeit“ zu werden. „Persönlichkeit“ hat, wer „rein der Sache dient“, wer dem „Sehnen und Harren“ abschwört (WL, 613), wer „Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl“ entwickelt (WL, 608). Hier, in den Schlusspassagen von „Wissenschaft als Beruf“, entwickelt Weber seine Persönlichkeitstheorie, die zwar auf Nietzsche rekurriert, aber doch nicht Nietzsches Perspektive des „Übermenschen“ übernimmt. Webers Persönlichkeitstheorie versucht, Eigenschaften wie Nüchternheit und Engagement, Realitätssinn und Verantwortungsbereitschaft zu vereinen. Er stellt sich damit einerseits gegen die „moderne intellektualistische Romantik des Irrationalen“ (WL, 598); damit ist die Lebensphilosophie Diltheys gemeint, vermutlich auch der Anarchismus eines Ernst Toller und wohl auch die elitäre Weltenthobenheit des GeorgeKreises. Weber sieht sich andererseits aber im Widerspruch zum „Zeitgeist“, der durch eine optimistische Zukunftsgewissheit charakterisiert ist, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs stark ausgeprägt ist. Webers Plädoyer für Nüchternheit und Illusionslosigkeit ist nicht nur eine Reaktion auf Tendenzen einer politischen und kulturellen Radikalisierung, sondern gerade auch auf den allgemeinen Zukunftsoptimismus. In der Literatur spielt diese Frontstellung Webers so gut wie gar keine Rolle. Sie ist aber wichtig, um seine Position möglichst vollständig zu erfassen. Man sollte Webers Denken, gerade auch seine Sensibilität für die Ambivalenz des Prozesses der Rationalisierung, vor dem Hintergrund dieses „Zeitgeistes“ betrachten. Auch gegen diesen Zeitgeist denkt er an oder wirft doch Fragen auf. Ungeachtet dessen, dass er nicht müde wird zu betonen, seine Soziologie stünde gleichsam über dem „Kampfgeschehen“; sie ist jedoch stets auch Teil dieses Kampfes selbst.

10. Das Zeitalter des Zählens und Messens In einigen groben Strichen möchte ich diesen „Zeitgeist“ nachzeichnen. Lucian Hölscher nennt die Zeit ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus eine „Epoche des weltanschaulichen Aufbruchs“, eine „Wende zur Zukunft“ (1989, 441). Da die Zukunftsvor-

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stellungen divergieren, entbrennt ein regelrechter „Kampf um Zukunft“. Sozialistische Revolutionsprognostik und liberal-demokratische Fortschrittsmodelle treten in Konkurrenz zu konservativen bis hin zu präfaschistischen Zukunftsentwürfen. Individualistisches Autonomiestreben steht dem Kollektivismus gegenüber, die entstehende Massenkultur dem elitären Traditionalismus, die nationalistische Intoleranz dem Weltbürgertum. Damit weist die damalige deutsche Gesellschaft ein hohes Maß an Polarisierung und Pluralisierung auf (Berghahn 2006, 396 ff.). Hinzu kommt eine in den 1880er Jahren ausbrechende „Nervositätsepidemie“, die Radkau (1998, 11) als den Beginn moderner Erfahrung von „Stress“ deutet. Nervosität ist die Reaktion vieler Menschen auf eine „besonders stürmische Industrialisierung“, die auf eine „üppig entfaltete Kultur der ‚Gemütlichkeit‘“ trifft (Radkau 2005, 214). Um Beispiele zu geben: Während vor 1900 die Uhren in den Schulen noch jeden Morgen zehn Minuten zurückgestellt werden, damit die Schüler nicht zu spät kommen, wird nun das Leben einer strengen Zeitökonomie unterworfen. Modeadjektive sind „rastlos“ und „unentwegt“. Es kursieren unzählige Abkürzungen – etwa „m. w.“ für „machen wir“. Im Bergbau werden die Schüttelrutschen eingeführt, die zu einer enormen Steigerung der Kohlefördermenge führen (vgl. Radkau 1998, 190 ff.). Die Beschreibungen von Hölscher, Berghahn und Radkau unterstreicht eine neue Untersuchung aus weltgeschichtlicher Perspektive von Jürgen Osterhammel. Das „lange“ 19. Jahrhundert (von 1770 bis 1920) nennt er vor allem das Zeitalter der enormen Steigerung der Effizienz und des „Zählens und Messens“ (2009, 62). Die moderne Statistik wird erfunden. Das 19. Jahrhundert ist das erste, das in Populationen denkt. Die Massenpresse entsteht. Fossile Brennstoffe ersetzen menschliche und tierische Muskelkraft. Die ersten multinationalen Konzerne werden gegründet. Es kommt zu „Globalisierungsschüben“ (2009, 112). Erst Ende des 19. Jahrhunderts wird die Zeitmessung vereinheitlicht. Die Uhr entwickelt sich zu einer „Waffe der Modernisierung“; die Welt teilt sich in „Uhrbesitzer“ und „Uhrlose“ (2009, 122 f.). Webers Denken darf nicht losgelöst von diesen Entwicklungen betrachtet werden. Die allgemeine „Beschleunigung“ (vgl. dazu auch Rosa 2005), verbunden mit optimistischen Zukunftserwartungen und auf eine kulturelle Vereinheitlichung hinauslaufend, ist der Erfahrungshintergrund, vor dem Weber seine Theorie der Rationalisierung entwickelt, die darauf in der spezifischen Weise einer kritischen Reflexion reagiert. Weber überkommt „ein heimlicher Zweifel an dem nun eingeschlagenen Entwicklungsweg“ (Lichtblau 1996, 14). Seiner Skepsis verleiht er Ausdruck, indem er in der allgemeinen Euphorie und Aufbruchstimmung Fragen aufwirft. Was ist das für eine Welt, die sich da entwickelt? Welche Veränderungen wird sie mitbrin-



10. Das Zeitalter des Zählens und Messens79

gen? Aus welcher spezifischen Konstellation heraus hat sie sich entwickelt? Was bedeuten die Veränderungen für uns? Ist diese Entwicklung eine von universeller Wirkung oder nur charakteristisch für den Okzident? Im Objektivitätsaufsatz gibt er diesen Fragen folgenden Ausdruck: „Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.“ (WL, 170 f.)

Eine Reihe von Webers Arbeiten spiegelt ein Interesse an der Frage nach der Dynamik von „großen“ Veränderungen und ihren Wirkungen auf den Epochencharakter wider. In den Landarbeiterstudien (1892 ff.) fragt er nach den Folgen von Wanderungsbewegungen (namentlich der polnischen Einwanderung) für die nationale Zukunft eines Staates (namentlich des Kaiserreichs). Die Studie „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ (1896) thematisiert die sozialen Voraussetzungen für das Fortbestehen von Kulturen. Seine These lautet, die antike Kultur sei untergegangen, weil die Eroberungskriege eingestellt wurden; damit sei die „regelmäßige Versorgung der Sklavenmärkte mit Menschenmaterial“ zusammengebrochen (MWG I / 6, 112). Der Aufsatz ist ein Beispiel für einen bei Weber gelegentlich aufblitzenden Naturalismus: „In den Tiefen der Gesellschaft vollzogen sich und mussten sich vollziehen organische Strukturveränderungen, die im Ganzen doch einen gewaltigen Gesundungsprozess bedeuteten.“ (MWG I / 6, 126). In den „Agrarverhältnissen des Altertums“ (1907 / 08 – dritte Fassung) arbeitet er heraus, dass es Kapitalismus und Bürokratisierung bereits in der Antike gibt, damals kommt es zu den „unweigerlichen“ Begleiterscheinungen („Kulturerscheinungen“): „Kontrolle“, „Herrschaft“ und „Ordnung“. Im letzten Absatz deutet er die These einer Parallelentwicklung von Antike und Moderne im Sinne einer Kreislauftheorie an (MWG I / 6, 725, vgl. auch 723 f.). Die Frage nach den Wirkungen von epochalen Veränderungen wirft Weber nicht nur im Hinblick auf Kulturen, sondern auch im Hinblick auf das Individuum auf. Ein Beispiel dafür ist die Studie „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ (1909 / 09), in der er die Folgen von Spezialisierung und Mechanisierung auf den „psychophysischen Apparat“ des Arbeiters untersucht. Er stößt auf die Ab- und Zunahme von Leistungsfähigkeit, auf nervöse und psychopathische Störungen und sogar auf Selbstmord. Weber ist allerdings vorsichtig: Um sich ein qualifiziertes Urteil bilden zu können, seien weitere Studien notwendig (GAzSS, 61 ff., 254 f.). Auch das Studium der Religionen und ihrer spezifischen Wirkungsweise ist einem Interesse an epochalen Veränderungen geschuldet. Inspiriert von

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Georg Jellinek und seiner These von der Tragweite der Religion auch auf jenen Gebieten, wo man es nicht erwartet22, erklärt Weber mit Hilfe der Religion die Entstehung des Kapitalismus. In der „Vorbemerkung“ zum ersten Band der Religionssoziologie nennt er den Kapitalismus die „schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens“ (RS I, 4). Er ist dies jedoch nicht, weil er Erwerbstrieb und Gewinnstreben entfesselt; das hat für Weber mit „Kapitalismus“ noch gar nichts zu tun, denn ein solches Streben findet sich bei fast jedermann (Weber nennt Ärzte, Künstler, Räuber oder Bettler), sondern weil er das Gewinnstreben zum Zwang macht, dem sich niemand entziehen kann, wenn er nicht seinen Untergang riskieren will. Der Preis, so könnte man diesen Gedanken weiter führen, ist ein neuer Menschentypus: der immerzu beschäftigte, getriebene und zwangsgesteuerte Erwerbsmensch, der sich den außerökonomischen „Verlockungen“ des Lebens weitgehend enthält, weil er fürchtet, Genuss halte ihn vom Erwerb ab, mindere damit seine Lebenschancen und seine Aussicht auf religiöses Heil. Von diesem neuen Menschentypus spricht Weber am Ende seines ersten Protestantismusaufsatzes. Das sind die „Fachmenschen ohne Geist“, die „Genussmenschen ohne Herz“, letztlich ein „Nichts“, das jedoch von sich glaubt, „eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erreicht zu haben“ (RS, 204). Weber lässt sich sein Unbehagen an einer Kultur zunächst nicht anmerken. Er formuliert scheinbar unbeeindruckt seine wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, auch wenn er weiß, dass es letztlich um den „Gang von Menschheitsschicksalen“ geht, die „erschütternd an die Brust“ branden (RS I, 14). Wer eine Bewertung von ihm erwartet, den enttäuscht er mit der Zurechtweisung: „Wer ‚Schau‘ wünscht, gehe ins Lichtspiel.“ (RS I, 14). Doch häufig, wenn sich Weber demonstrativ unbetroffen gibt, ist das Gegenteil der Fall. Dass Weber als Angehöriger der „Generation von 1890“ (Lichtblau 1996, 77 ff.) ein Unbehagen an der modernen Kultur empfindet, lässt sich schon den „Jugendbriefen“ entnehmen. Zum Jahresende 1889 schreibt Weber seinem Onkel Hermann Baumgarten in Straßburg, er fürchte sich vor „pathologischen Entwicklungen“. Dies bezieht sich zum einen auf die politische Entwicklung und das Regiment des jungen Kaisers, zum anderen auf die allgemeine soziale und kulturelle Situation. Der 25-jährige benutzt eine Eisenbahn-Metapher: 22  1895 (2. Aufl. 1904) legt Jellinek seine berühmte, bereits im ersten Kapitel zitierte Untersuchung „Die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte“ vor. Weber übernimmt von seinem Freund Jellinek die dort angewandte analytische Idee, der Wirkungsmacht von Religionen und ihren Normen auf das gesellschaftliche Umfeld wie etwa dem Recht nachzuspüren. Zum Verhältnis Weber / Jellinek vgl. Breuer 2006 b, 294 ff.



11. „Desillusionsprosa“: der Einfluss von Lukács 81 „Man hat den Eindruck, als säße man in einem Eisenbahnzuge von großer Fahrgeschwindigkeit, wäre aber im Zweifel, ob auch die nächste Weiche richtig gestellt werden würde.“ (Jugendbriefe, 229 f.)

Die Eisenbahn ist damals, auch wenn die Höchstgeschwindigkeit nur 25 km / h beträgt, Symbol für den technischen Fortschritt. Weber schätzt sie auch persönlich als Fortbewegungsmittel, aber er misstraut der Außensteuerung im Stellwerk und zweifelt an der klugen Voraussicht des Eisenbahnpersonals, eine Kollision oder ein Entgleisen zu verhindern.23

11. „Desillusionsprosa“: der Einfluss von Lukács Im ersten Kapitel der „Theorie des Romans“ fällt der Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (1994, 32). Damit bringt Lukács prägnant ein Zeitbewusstsein zum Ausdruck, das auch für Weber charakteristisch ist. Lukács schreibt sein Buch 1914 / 15, es erscheint 1920. In diesem Zeitraum verfasst Spengler den „Untergang des Abendlandes“ (erster Bd. 1918, zweiter Bd. 1922) und Bloch den „Geist der Utopie“ (1918, zweite Fassung 1923). Das erste Kapitel seines Buches veröffentlicht Lukács 1916 vorab in der „Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft“. Der Herausgeber weigert sich, den Beitrag aufzunehmen; Weber gelingt es, ihn umzustimmen.24 Lukács und Weber lernen sich 1912 in Heidelberg kennen. Marianne Weber charakterisiert ihn als jungen Philosophen, „eschatologisch“ bewegt, vor allem von der Hoffnung auf „Erlösung von der Welt“ (Lebensbild, 474). Eher distanziert charakterisiert Weber Lukács als „einen der Typen deutschen ‚Eschatologismus‘“ (Brief v. 6. März 1913: MWG II / 8, 107). Eschatologie ist nach der Definition von Dolf Sternberger (1978, 294) die „Wissenschaft vom Ende des alten Bestehenden und vom Ausgang des neuen Zukünftigen“. Eschatologisches Denken geht aufs Ganze und zielt auf die Stiftung einer von Grund auf neuen Ordnung. Eschatologische Denker sind nach Sternberger Marx, Feuerbach, Nietzsche und Bloch. Auch Heidegger lässt sich der „Eschatologik“ subsumieren.25 Erstaunlich ist, dass sich Weber von einem solchen Denker angezogen fühlt, und zwar offenbar so stark, 23  Die Sorge ist nicht unbegründet. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts passieren in Deutschland, England, Irland und Russland mehrere schwere Eisenbahnunglücke mit vielen Toten und Verletzten. Eine Internet-Chronik verzeichnet acht Unfälle mit mehr als 50 Toten. In den Folgejahrzehnten nimmt die Zahl der Unfälle nicht ab, sondern wegen zunehmender Verbreitung der Eisenbahn noch zu. 24  Vgl. den editorischen Hinweis zum Brief Weber an Lukács v. 23. Dezember 1915, MWG II / 8, 224. 25  Vgl. v. Verf. 2009, 438 ff.

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dass er in einem erst kürzlich edierten Brief schreibt: „Ich wünsche Sie als Collegen, so sehr wie ich irgend etwas wünsche. Die Frage ist: der Weg.“ (Brief v. 23. August 1916; MWG II / 9, 511).26 Erstaunlich ist dies deshalb, weil Lukács’ Denken das Gegenteil dessen ist, was Weber als für wissenschaftlich geboten hält. Marianne Weber macht an der Stelle, als sie die ersten Begegnungen mit Lukács schildert, den interessanten Hinweis auf eine Differenz: Während Lukács die Erlösung „von der Welt“ erstrebe, gehe es Stefan George und seinem Kreis um die „Erfüllung in ihr“ (Lebensbild, 474). Damit gibt sie, mit leicht veränderter Akzentuierung, Webers George-Charakteristik wieder, die Frage ist: Wo lässt sich Weber verorten? Eine Antwort könnte lauten: Ihm geht es um die Mitte zwischen den beiden Extremen. Seit Ziel ist ein pragmatisches, aber deshalb nicht unkritisches, vielmehr: kritisch-konstruktives Arrangement mit der Welt. Lukács verkörpert, könnte man sagen, den eschatologischen Gegentyp zu Weber, und es scheint so, als zögen sich diese Gegensätze an. Das gilt zumindest für eine gewisse Zeitspanne. Rund fünf Jahre, zwischen 1912 und 1917, tauschen sich beide intensiv aus. Weber scheint davon auszugehen, Lukács noch beeinflussen zu können. Immer wieder stößt er sich an seinem expressiven und assoziativen Denkstil, der Nachvollziehbarkeit und Kritik schwierig macht. Die „Theorie des Romans“ hält Weber wegen ihrer gedanklichen Sprünge teilweise für „fast nicht verständlich“ (Brief v. 23. Dezember 1915; MWG II / 9, 224). In einem weiteren Brief spricht er sogar davon, dass er diese Arbeit „hasse“ (Brief v. 14. August 1916; MWG II / 9, 497). Trotzdem empfiehlt er sie zur Veröffentlichung. Zwischen beiden gibt es eine nicht überbrückbare Differenz im Verständnis von Wissenschaft. Lukács ist ein letztlich ideologisch motivierter „Essayist“, so lautet die Bezeichnung von Weber. Trotzdem will er ihm zur Habilitation verhelfen, die jedoch voraussetzt, dass aus dem „Essayisten“ ein „Systematiker“ wird. Weber setzt das Adjektiv „zünftig“ hinzu. Es fehlt Lukács an Seriosität und Neutralität. Weber macht ein spezifisches Schwanken in der Rolle eines „Dozenten des Sinnes“ und eines „Dozenten des (empirischen) Seins“ aus (Brief v. 14. August 1916; MWG II / 8, 496). 26  Auf die „geistige Intimität“ hat die Herausgeberin der Lukács-Briefe, Éva Karádi, bereits Ende der 80er Jahre in zwei Aufsätzen aufmerksam gemacht (1987 u. 1988; Zitat 689). Sie hat sich damals auf weitgehend noch unveröffentlichte Briefe gestützt. Inzwischen ist ein rundes Dutzend der Briefe im Rahmen der WeberGesamtausgabe veröffentlicht worden. Ein brieflicher Kontakt zwischen Lukács und Weber hat bis zu dessen Tod 1920 bestanden. In den späten 80er Jahren sind zudem einige, heute veraltete Studien zum Verhältnis von „bürgerlicher und marxistischer Soziologie“ erschienen. Auf den Einfluss von Lukács auf Weber geht auch Radkau (2005, 575 f.) ein.



11. „Desillusionsprosa“: der Einfluss von Lukács 83

Aber vermutlich täuscht sich Weber in Lukács’ Revisionsbereitschaft und schätzt die Chancen einer „Läuterung“ als zu optimistisch ein. Lukács trägt mit sich keinen Rollenkonflikt aus. Sein Selbstverständnis entspricht dem eines „Sinndozenten“. Das zeigt sich gerade auch in der „Theorie des Romans“, die nur vordergründig eine literaturtheoretische Arbeit ist. Lukács macht sich, vielleicht inspiriert durch Hegel und seine „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, an eine geschichtsphilosophische Konstruktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei nimmt er Gedanken auf, wie er sie bereits in der Essay-Sammlung „Die Seele und die Formen“ (1911) entwickelt. Sein Thema dort ist der Dualismus zwischen Idee und Wirklichkeit oder Wesen und Erscheinung. Er unterscheidet „das Leben“ (abwertend) vom „Leben“ (im emphatischen Sinne); beide Leben, so Lukács apodiktisch, seien unvereinbar (Lukács 1971 a, 11 f.). Durch den letzten Essay in dem Band, überschrieben mit „Metaphysik der Tragödie“, 1910 erstmals im „Logos“ veröffentlicht, ist Weber auf Lukács aufmerksam geworden. Dort verwirft Lukács die moderne Welt als leer und sinnlos und bekennt sich zu einer Art philosophischen Expressionismus: „… alles wird zerstört und alles zerschlagen; nie blüht etwas bis zum wirklichen Leben: das ist, etwas ausleben können.“ (Lukács 1971 b, 219). Offenbar mit dem (Schillerschen) Gedanken einer ästhetischen Erziehung des Menschen spielend, empfiehlt Lukács die Literatur als Propädeutik für das „wahre“ Leben. Was daran „wahr“ ist, wird nicht gefragt, die „Wahrheit“ ergibt sich offenbar aus der bloßen Antithese. Es ist schon bemerkenswert, dass Weber zu diesen Punkten in den Briefen keine Kritik vorträgt, wo er sonst, auch öffentlich, im Falle von „Eschatologik“ nicht mit kritischen Worten spart. Mit Lukács verbindet Weber sachlich vor allem das Interesse an einer Soziologie der Literatur, an der auch Weber sich versuchen will, die jedoch unausgeführt bleibt. In der Weber-Literatur wird behauptet, Lukács sei, neben Robert Michels, der geheime Adressat der Vorträge „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“. Dafür spricht, dass er Lukács im Wissenschaftsvortrag direkt erwähnt (WL, 610). Andererseits ist Lukács nur ein Beispiel „eschatologischen“ oder „prophetischen“ Denkens, das Weber zwar für gefährlich und unverantwortlich hält, das er aber auch nachvollziehen kann. Wie es bei Weber keine pauschale Ablehnung der Gesinnungsethik gibt, so bemüht er sich auch um Verständnis für die Lukácssche Position, die aus einer großen Enttäuschung resultiert. In der „Theorie des Romans“ ist dies ein wichtiger Punkt. Lukács thematisiert ein Zeitbewusstsein, das durch die Erfahrung von Bedeutungs- und Sinnlosigkeit geprägt ist. Während der Mensch in frühen Zeiten (angeblich) noch in Übereinstimmung mit sich lebt und daher als transzendental geborgen oder „aufgehoben“ gelten kann, ist er in der Moderne, so Lukács, mit sich zerfallen. Auch bei Simmel

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ist dies ein Thema, und Weber sagt im Grunde nichts anderes, wenn er den modernen Fach- und Berufsmenschen schildert, der, betrogen um sein „Vollmenschentum“, nur noch ein Rad in einem riesigen Getriebe ist. Weber nennt dies die „Parzellierung des Menschentums“. Lukács spürt dem modernen Gefühl der Zerrissenheit und Bedeutungslosigkeit nach und stößt darauf im modernen Roman. Das Epos wird abgelöst vom Roman. Das Epos steht für ein Zusammenhängendes, der Roman für ein Zerfallendes. Dabei operiert Lukács durchweg mit der Kategorie der Totalität. Seine philosophische Zeitdiagnose lautet: die „Seinstotalität“ sei zerfallen. Am Zustand einer angeblich „ursprünglichen“ und „naturhaften Einheit“ misst Lukács die Gegenwart mit ihren „unheilbaren Rissen“ (Lukács 1994, 29). Zu dieser Diagnose gelangt er über ein Verfahren „geschichtsphilosophischer Zeichendeuterei“ (Lukács 1994, 137). Merkwürdig ist die pejorative Formulierung „Zeichendeuterei“, womit Lukács, sprachlich gesehen, sein eigenes Verfahren entwertet. Lukács müsste eigentlich von „Zeichendeutung“ sprechen. Allerdings entspricht sein fragwürdiges methodisches Vorgehen in der Tat eher für eine „Deuterei“. Die „Zeichen“, die er deutet, entnimmt er nur wenigen modernen Romanen von Cervantes, Balzac, Flaubert, Goethe und Gottfried Keller. Es gibt kein empirisches Fundament für seine These. Die Interpretation der Romanwerke ist willkürlich und selektiv. Man kann Webers Unwillen nachvollziehen. Ein apodiktischer, immer wieder ins Apokalyptische verfallender Grundton fällt auf. Im Vorwort der Neuausgabe der „Theorie des Romans“ von 1962 erwähnt Lukács, diese „in einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand“ geschrieben zu haben. Er behauptet, dass neben Thomas Mann Max Weber zu den „zustimmenden Lesern“ gehört habe. Das stimmt zwar nicht ganz, wenn man an Webers ablehnenden Kommentar denkt, andererseits empfiehlt er immerhin ein Teilstück des Buches zur Veröffentlichung. In seinem Rückblick verschweigt Lukács den tragenden Einfluss der Lebensphilosophie von Dilthey und Simmel auf die „Theorie des Romans“. In seinem Spätwerk „Die Zerstörung der Vernunft“ (1952) bezeichnet er beide als „irrationalistische Denker“. Auch Weber subsumiert er darunter. Lukács meint, Nihilismus und Spenglers irrationalistische Mystik hätten ohne weiteres an ihn anknüpfen können (vgl. Lukács 1962, 536 f.). Dann wiederum bescheinigt er Weber eine höhere moralische Integrität als Simmel, führt dies aber nicht weiter aus (Lukács 2005, 65). Lukács bewegt sich auf dem spekulativen Terrain der Hegelschen Geschichtsphilosophie, der er jedoch eine signifikante Wendung gibt. Auch Lukács arbeitet mit der Idee welthistorischer Stadien, doch entgegen der idealistischen Fortschrittskonzeption folgt auf Antike, Mittelalter und Mo-



11. „Desillusionsprosa“: der Einfluss von Lukács 85

derne keine qualitativ höhere Gestalt der Geschichte, sondern eine Verfallsform. Die Welt gerät nach Lukács zunehmend „aus den Fugen“. Zum Schluss bringt er Tolstoi und Dostojewski ins Spiel und neigt zu einer Haltung radikaler Verweigerung. Die Moderne identifiziert er als „Stand vollendeter Sündhaftigkeit“, ohne dass Anzeichen einer Entkommensmöglichkeit bestünden. Die Macht des „bloß Seienden“ erdrückt, so die abschließende These, die Keime eines „Anderen“ (Lukács 1994, 138). Im zweiten Teil seiner Theorie nennt Lukács die der Zeitdiagnose entsprechende Literaturform den „Desillusionsroman“; er ist durch Zerfall und eine allgemeine Formlosigkeit gekennzeichnet. (Lukács 1994, 98 ff.). Der „Desillusionsroman“ ist der adäquate Ausdruck des Empfindens „transzendentaler Obdachlosigkeit“. Ein ständiger Wechsel der Erzählperspektiven, die Anwendung von Montage- und Collagetechniken, essayistische Exkurse, welche die Komposition durchbrechen und scheinbar in Einzelteile zerlegen – dies sind die Stilmittel des Desillusionsromans.27 Lukács’ Kriterien des Desillusionsromans: Formlosigkeit, fragmentarischer Charakter, keine „große Erzählung“, sondern „viele kleine Geschichten“ eignen sich, Webers Werk zu beschreiben. Zugespitzt könnte man sagen: Der Anlage nach sind Webers Arbeiten wissenschaftliche Desillusionsprosa. Das sieht tendenziell auch Wilhelm Hennis so, der darauf hinweist, dass Weber zu Lebzeiten nur zwei Bücher veröffentlicht hat, die für eine akademische Karriere unabdingbar sind: Dissertation und Habilitationsschrift (Hennis 1987, 8). Das übrige Werk besteht aus Aufsätzen, die größtenteils erst nach dem Tod in Sammelbänden erscheinen; bekanntlich autorisiert Weber nur Band 1 der religionssoziologischen Schriften. Webers bevorzugte Äußerungsform ist der Aufsatz, der auf die Kapitelgliederung verzichtet. Absätze gehen häufig über mehrere Seiten. Die Aufsätze sind selten streng durchkomponiert, mit Exkursen und manchmal seitenlangen Anmerkungen versehen. Oft haben die Aufsätze Haupttext mit längeren Petitdruck-Passagen. Dass „Wirtschaft und Gesellschaft“ eine posthume Montage ist, wird häufig beklagt, aber vielleicht ist dies sogar die Präsentationsform, die Weber am meisten gerecht wird. Hennis konstatiert zwar den „seltsamen Charakter des Werks“ und meint damit die Zerrissen- und Unabgeschlossenheit, fragt aber nicht, warum das so ist. Der Grund liegt, so meine These, in einer tief greifenden Desillu­sio­ nierung, mit der Weber immerzu ringt, die es ihm mitunter sogar „sinnlos“ erscheinen lässt, überhaupt zu publizieren, wenn da nicht auf der anderen Seite der Aufklärungsanspruch wäre und auch die „Lust“ und „Leiden27  Thomas Manns „Doktor Faustus“, wenngleich erst 1943–47 geschrieben, ist dafür ein Beispiel.

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schaft“, all jene vor den Kopf zu stoßen, die einem blinden Harmoniestreben anhängen. In der Praxis des nahezu ausschließlichen Publizierens von Aufsätzen spiegelt sich die innere Zerrissenheit eines Autors wider, der sich außerstande sieht, ein „richtiges“ Werk, eine Monographie zu schreiben. Dabei folgt Weber keiner „Mode“ der Publikationsform; der Verzicht auf die Monographie scheint eine bewusste Entscheidung zu sein – die freilich auch den Umständen geschuldet ist, z. B. der jahrelangen Beschäftigung mit der Herausgabe des „Grundrisses der Nationalökonomie“, die ein kontinuierliches Arbeiten an einer Monographie erschwert, aber eben doch nicht verunmöglicht. Webers Werk, könnte man sagen, ist in der Wissenschaft die Verifikation der Lukácssche These vom Ende des Epos. An dieser Stelle sei im Konjunktiv und hypothetisch formuliert, dass Webers viel zitierte und häufig beschworene Wertfreiheit ihren tieferen Grund darin haben könnte, dass Weber der Meinung ist, eine wertende Position lasse sich ruhigen Gewissens gar nicht mehr beziehen. Wertende Positionen sind Entscheidungen und damit einseitig. Es könnte sein, dass das Postulat der Wertfreiheit nur vordergründig eine methodologische Maxime ist; das Postulat könnte auch „ehrliche“ Konsequenz aus einer Verlegenheit sein: des Eingeständnisses einer Gleichwertigkeit der Antworten. Es gibt keine „richtigen“ Antworten im zerfallenden und zersplitterten Ganzen; es gibt nur viele und verschiedene Antworten. Schon Lukács beschreibt das Problem in seinem Metaphysik-Essay: „Die Grundlage des ganzen Netzes von Notwendigkeiten ist aber zufällig und sinnlos; alles, was ist, könnte auch anders sein, und wirklich notwendig scheint nur das Vergangene, daran eben nicht mehr zu rütteln ist.“ (Lukács 1971 b, 225). Die Erfahrung von Kontingenz verarbeitet Weber so, dass er keine Antworten gibt, sondern „nur“ nüchtern analysiert, was sich als „Wirklichkeit“ präsentiert. Puritanismus und Askese in der Wissenschaft äußern sich zum einen als Werturteil-Enthaltung, zum anderen im Verzicht auf die „Große Erzählung“, auf das wissenschaftliche „Epos“. Webers Kritiker haben vielleicht nicht ausreichend versucht, seine Beweggründe nachzuvollziehen. Die einen werfen ihm Affirmation und Funktionalismus vor, die anderen Relativismus und Nihilismus. Aber vielleicht ist seine Haltung nur ein pragmatischer Schluss. In diesem Punkt besteht die größte und grundlegende Differenz zu Lukács, die sich freilich erst zu einer solchen entwickelt. Als Weber und Lukács aufeinander treffen, ist dessen Denken noch unorthodox und nicht festgelegt; es findet, wie Karádi (1988, 695) dies pathetisch ausdrückt, ein „Kampf um die Seele von Lukács“ statt. Am einen Pol wirken Bloch und der Eschatologismus, am anderen Weber und die „zünftige“ Wissenschaft. Weber sucht Lukács zu veranlassen, dem Essayismus abzuschwören, doch „der Kampf“ geht ver-



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loren. Während Lukács zunächst in tiefen Pessimismus zu verfallen scheint, geht er in den Folgejahren zum Programm einer „transzendentalen Neubehausung“ über. Zunehmend entwickelt sich Lukács zum denkerischen Antipoden von Weber. In seinem Spätwerk, das Weber nicht mehr kennen lernt, wandelt er Hegels Satz aus der „Vorrede“ der „Phänomenologie“: „Das Wahre ist das Ganze“ ab in die messianische Formel: „Das Ganze kann das Wahre werden“ (Dannemann 1997, 98). Weber dagegen lehnt jede „Re-Transzendentalisierung“ ab. Er erklärt den Zustand transzendentaler Obdachlosigkeit zur Normalität, hinter den zurückzugehen nicht mehr möglich sei.

12. Kritik der „vollendeten“ Vernunft: Hegel In der Literatur ist das Verhältnis von Weber zu Hegel ein weitgehend unbeschriebenes oder nicht sonderlich gründlich beschriebenes Blatt.28 Ein Grund könnte sein, dass sich Weber mit Hegel kaum auseinandersetzt. Es gibt ein rundes Dutzend Fundstellen, die meisten finden sich im sog. „Seufzeraufsatz“: „Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie“.29 Der Befund in dieser Schrift ist keineswegs eindeutig, wenngleich in der Literatur immer wieder von einem antihegelianischen Reflex Webers die Rede ist und auf die Unvereinbarkeit beider Ansätze verwiesen wird. Keineswegs ironisch, sondern anerkennend spricht Weber von Hegels „glänzenden metaphysischen Konstruktionen“ (WL, 41), die von Roscher und seiner „primitiven religiösen Gläubigkeit“ unterboten würden. In dem Aufsatz findet sich kein die Philosophie direkt abwertendes Wort zu Hegel, er konstatiert lediglich eine „überwältigende Macht der Hegelschen Gedankenwelt“, die mitunter blind machen könne (WL, 21). Wenn Weber in diesem Aufsatz das deterministische Denken und den „Objektivismus“ verwirft, dann zielt er damit nicht unmittelbar auf Hegel, dem er offensichtlich eine differenzierte Haltung zutraut, sondern auf die Vertreter der historischen Schule der Nationalökonomie, die Hegels Niveau, wie Weber meint, unterböten. 28  Von Rossi (1987, 168 ff.) liegt ein Vergleich der Staatskonzeptionen vor. Das Ergebnis lautet, dass bei Hegel ein „Staatsidealismus“ vorliegt, der die konfliktreiche bürgerliche Gesellschaft zu re-integrieren versucht, bei Weber hingegen ein „Staatsrealismus“. Zu Recht betont Rossi Webers Reserviertheit gegenüber „dem Staat“, während andere Interpreten wegen der berühmten Staatsdefinition („Monopol physischer Gewaltsamkeit“) und Webers Vorliebe für einen mächtigen Staat auf einen angeblichen „Staatsabsolutismus“ schließen. Weiterführend die ersten drei ­ Beiträge in Anter / Breuer 2007. 29  Weber arbeitet an der methodologischen Abhandlung 1902. Nach Marianne Weber „quält“ sich Weber mit dem Stoff (Lebensbild, 319).

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Die Verfechter der These einer unversöhnlichen Frontstellung Webers berufen sich in der Regel auf eine Stelle in einem Brief an den Leipziger Ökonomen und Mitarbeiter am „Grundriss der Sozialökonomik“, Franz Eulenburg, in der es heißt: „Zwei Wege stehen offen: Hegel oder – unsere Art die Dinge zu behandeln.“ (Brief v. 12. Juli 1909 / MWG II / 6, 173).

Aber was sagt Weber hier? Er sagt nicht, dass der Weg Hegels nicht auch möglich wäre, sondern er sagt, dass er einen anderen Weg bevorzugt, und zwar den der empirischen Forschung, die streng trennt zwischen Sein- und Sollensaussagen, die sich der „Wirklichkeit“ nur vermittels von Idealtypen annähern zu können glaubt, die die „Vernunft“ aber noch nicht in der „Wirklichkeit“ wirken oder angelegt sieht, die mit begrenztem Anspruch auftritt und ihre Stärke darin sieht, keine perspektivischen und keine definitiven Aussagen zu treffen, die Forschung als unabschließbare und die Ergebnisse immer wieder in Frage stellende Aufgabe betrachtet und eine gehörige Skepsis gegenüber einem Grundgedanken Hegels erkennen lässt: dass nämlich in den Manifestationen der Gegenwart bereits Keime eines Künftigen angelegt sind, die sich vermittels dialektischer Bewegung nach und nach herauskristallisieren und zur Wirkung gelangen. In Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, auf die noch zurückzukommen ist, findet sich der Satz: „Was an sich ist, ist eine Möglichkeit, ein Vermögen, aber noch nicht aus seinem Inneren zur Existenz gekommen.“ (GeschPhil, Werke 12, 36). Weber würde die dahinter zum Ausdruck kommende Haltung „Objektivismus“ nennen, also eine Art messianische Erwartung, dass etwas Bestimmtes zwangsläufig, quasi naturgesetzlich eintritt. Hegels Messianismus einer sich vollendenden Vernunft steht natürlich im krassen Widerspruch zur Haltung Webers, aber das ist in dem obigen Hegel-Zitat gar nicht das Thema. Hier sagt er nur: Es gibt zwei Wege. Hegel geht diesen, er, Weber, einen anderen. Wenn man die „Soziologischen Grundbegriffe“ heranzieht, scheint es sogar so, dass Weber vorsichtig für eine Zusammenführung beider Wege optiert. Weber unterscheidet hier zwischen den empirischen und den „dogmatischen“ Wissenschaften, „welche an ihren Objekten den ‚richtigen‘, ‚gültigen‘ Sinn erforschen wollen“ (WG, 2). Dazu zählt er die Jurisprudenz, Logik, Ethik oder Ästhetik. Auch Hegels Geistesphilosophie könnte man unter die „dogmatischen“ Wissenschaften subsumieren, denn diese gehen von der Existenz eines objektiv Richtigen oder Wahren aus. Im Falle Hegels soll sich dieses Richtige und Wahre „dialektisch“ entfalten. Weber hingegen kommt es nicht auf ein objektiv Richtiges und Wahres an, sondern auf die Erforschung des subjektiv für richtig und wahr Gehaltenen (WG, 2 f.). Damit ist keine Abwertung der „dogmatischen“ Wissenschaften verbunden, das



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sagt Weber sogar ausdrücklich, sondern er hält diese als „Prinzipien-Wissenschaften“ oder Reflexionswissenschaften für unentbehrlich. Verbunden ist mit seinem Ansatz insbesondere eine methodische Differenz, von der er sich eine größere, wie man mit einem Begriff Webers sagen könnte, „Wirklichkeitsadäquanz“ verspricht. Darin bzw. an der bewussten Abstraktion von der „Wirklichkeit“ sieht er gerade die Unzulänglichkeit der „dogmatischen“ Wissenschaften. Weber geht es also um „reine“ empirische Wissenschaft, die aber nicht den Anspruch erhebt, dass ihre Existenz die Philosophie erübrige. In der Weberschen Trennung zwischen beiden ist eher die Perspektive einer gegenseitigen und sinnvollen Ergänzung und Befruchtung vorgezeichnet. Es gibt eine zweite, tatsächlich bemerkenswerte, aber in der Literatur nicht konsultierte Briefstelle, die zeigt, dass Weber keineswegs der große Gegner Hegels ist, sondern vielmehr dessen Ansatz anerkennt bei gleichzeitigem Beschreiten eines alternativen Weges. Adressat ist der Schriftsteller Karl Wolskehl, dem er von einem Vermittlungsdienst berichtet. Weber ermöglicht eine Begegnung zwischen einem Redakteur des „Figaro“ und einigen „Neo-Metaphysikern Hegelscher und verwandter escha-tologischer Richtung“, wie er sich ausdrückt. Er, Weber, habe das Gefühl, dieser Journalist berichte „vorurteilsfrei“ und „mit Respekt“ über ein Denken, dass „echt“ sei (Brief v. 9. März 1913, MWG II / 8, 115). Mit den Neo-Metaphysikern sind wohl Bloch und auch Lukács gemeint. Bemerkenswert ist die Charakterisierung des „neo-metaphysischen“ Denkens als „authentisch“. In einem verwandten Sinne äußert sich Weber auch über „gesinnungsethische“ Handlungsmotive, deren Konsequenzen er freilich für problematisch hält: „Gesinnungsethisches“ Handeln kann einhergehen mit Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit. Weber attestiert der „Neo-Metaphysik“ einen Authentizitätsgrad, wie man dies angesichts der ihm zugeschrieben antimetaphysischen Haltung nicht erwarten würde. Eine solche anerkennende, differenzierte Position nimmt er auch gegenüber Hegel ein. Mit Weiß (1981, 11 f.) kann man Weber zwar eine „entschieden a-philosophische Idee von Soziologie“ zuschreiben, aber keine „antiphilosophische“, und zwar in dem Sinne, dass Weber ein „Zerstörungswerk“ an der Philosophie im Allgemeinen und Hegel im Besonderen beginnen oder vielmehr, nach Schopenhauer und Nietzsche, fortsetzen würde. In dieser Tradition steht er nicht; diese Absicht verfolgt er nicht. Er setzt sich mit Hegel auseinander, und dies offensichtlich mehr, als bekannt ist. Diese These lässt sich an einer ganzen Reihe von parallelen Gedanken und Motiven festmachen. Nach 1910 kommt es in Deutschland zu einer Hegel-Renaissance, dokumentiert durch neue Gesamtausgaben seiner Werke, zahlreiche Schriften

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über Hegel und der Gründung eines Hegel-Bundes. Windelband proklamiert die „Erneuerung des Hegelianismus“ (Löwith 1988 a, 31). Es lässt sich nicht nachweisen, aber möglich ist, dass Weber im Zuge dieser Neuentdeckung Hegels mit dessen Schriften, zumindest aus zweiter Hand, in Berührung kommt. Dies gilt vor allem für Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ von 1822 / 23, denn verblüffend ist, wie viele Ideen und Gedankenfiguren Webers schon in Hegels geschichtsphilosophischen Vorlesungen auftauchen. Ich möchte an diesem Punkt betonen, dass ich im Folgenden keine Kausalität, sondern Parallelität zwischen Weber und Hegel behaupte. Da ist die hohe Wertschätzung der „Leidenschaft“, bei Weber gleichsam ein unverzichtbares menschliches Lebenselement und insbesondere eine notwendige Eigenschaft des Politikers. Bei Hegel heißt es, „dass nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist“ (GeschPhil, Werke 12, 38), bei Weber, im Vortrag „Wissenschaft als Beruf“, steht: „Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“ (WL, 589) Mit der Leidenschaft hängt die individuelle Größe eines Menschen zusammen. Hegel sieht den Fortschritt in der Geschichte wesentlich von „welthistorischen Individuen“ ermöglicht, die er „Heroen“ nennt, „welche den Beruf hatten, die Geschäftsführer des Weltgeistes zu sein“ (GeschPhil, 45 u. 46). In diesem Punkt ist eine Parallelität, aber auch eine Differenz zwischen Weber und Hegel festzustellen. Der Gedanke der „welthistorischen Individuen“ ist auch bei Weber prägend; sie sind Träger dessen, was Weber „Charisma“ nennt, einen Begriff, den er dem Kirchenrechts-Buch (1892) des Rechtswissenschaftlers Rudolph Sohms entnimmt. Die „welthistorischen Individuen“ finden sich also nicht erst bei Nietzsche, sondern bereits bei Hegel. Ihr Autonomiegrad scheint freilich begrenzt zu sein. Dies ist der Punkt der Differenz zu Weber. Ihre Autonomie ist insofern begrenzt, als sie lediglich „Geschäftsführer des Weltgeistes“ sind, das heißt sie führen einen anonymen Willen (des „Weltgeistes“) aus, dessen Urheber sie nicht sind. Der Topos „Weltgeist“ ist mit Webers Denken an sich unvereinbar, aber wir werden jetzt sehen, dass auch er geheim wirkende Kräfte kennt, die Akteure veranlassen, selbstfremde Willen auszuführen. Denn auch Weber kennt das, was Hegel die „List der Vernunft“ nennt (GeschPhil, 49). Die „List der Vernunft“ ist eine Art paradoxales Erklärungsmuster. Dahinter steht die Vorstellung, dass Geschichte quasi hinter dem Rücken der Menschen verläuft und sich in eine Richtung bewegt, die zu verfolgen die handelnden Personen sich eigentlich gar nicht zum Ziel gesetzt hatten. Auf diese Weise ist nach Webers Darstellung in der ersten Protestantismusstudie der Kapitalismus entstanden. Dessen „Erfinder“ sind, ohne es zu wollen, die



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asketischen Mönche, deren „Geist“ aus den Mönchszellen nach außen gelangt und die Welt verwandelt. Damit werden sie zu „Geschäftsführern“ eines Geschehens, wohinter Hegel den „Weltgeist“ als unsichtbaren Motor wirken sieht. Während bei Hegel die „List“ jedoch in einem die Vernunft befördernden Sinne wirkt, ist sie bei Weber tragisch, denn mit dem Nachaußen-Dringen der Askese wird dem Mönchtum bzw. dem religiösen Glauben die Existenzbedingung entzogen; der Prozess der Säkularisierung bedeutet die Relativierung, wenn nicht das Ende des religiösen Glaubens. An diesem Punkt zeigt sich deutlich, wie Weber sich inspirieren lässt, aber sich doch von Hegel entfernt. Während dieser das Fortschreiten der historischen Entwicklung als Erfolgsgeschichte deutet und meint, „dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“ (GeschPhil, 20), eröffnet Weber die Negativbilanz des „stählernen Gehäuses“ und der „Parzellierung des Menschentums“. Weber kehrt die Hegelsche Perspektive um; er transformiert die idealistische Geschichtsphilosophie Hegels in eine Entwicklungstheorie der Kontingenz, ja sogar in eine negative Geschichtstheorie, wenn er etwa eine „unendliche Finsternis“ ausmacht und in der Zukunft „tiefe Nächte“ kommen sieht. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es auch bei Hegel gelegentlich Negativbewertungen des Geschichtsprozesses gibt. Es sagt sich immer so leicht, Hegel behaupte die Identität von normativem Konstrukt und empirischem Resultat, aber es stimmt nicht. Man muss differenzieren. Geschichte ist für Hegel ein ambivalenter, sich dialektisch vollziehender Prozess. Die Geschichte nennt er eine „Schlachtbank“ (GeschPhil, 35); „Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“ (GeschPhil, 42).30 Statt dass die Regenten und Staatsmänner sich durch Misserfolge und Fehler belehren ließen, lehre die Geschichte, dass sie sich nicht belehren ließen (GeschPhil, 35 u. 17). Hegel macht sich keine Illusionen über die menschlichen Triebkräfte. „Entwicklung“ wird nur ermöglicht durch „harte unwillige Arbeit gegen sich selbst“ (GeschPhil, 76). In dieser Formulierung klingt im Übrigen Webers Gedanke der Askese an. Ausdrücklich sagt Hegel auch, seine Geschichtsphilosophie sei „spekulativer Natur“, also noch nicht mit der Wirklichkeit „vermittelt“, „versöhnt“ (GeschPhil, 40). Hegel hat also durchaus 30  Vgl. auch den bemerkenswerten, selten zitierten Satz: „Es gibt in der Weltgeschichte mehrere große Perioden, die vorüber gegangen sind, ohne dass die Entwicklung sich fortgesetzt zu haben scheint, in welchen vielmehr der ganze ungeheure Gewinn der Bildung vernichtet worden und nach welchen unglücklicherweise wieder von vorne angefangen werden musste, um mit einiger Beihilfe, etwa von geretteten Trümmern jener Schätze, mit erneuertem unermesslichen Aufwand von Kräften und Zeit, von Verbrechen und von Leiden, wieder eine der längst gewonnenen Regionen jener Bildung zu erreichen.“ (GeschPhil, 76 f.) Eine differenzierte Sicht der Hegelschen Geschichtsphilosophie bei Jaeschke 2003, 400 ff.

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Kap. 2: Aufklärende Rationalisierung II

einen Blick für die Ambivalenzen der Geschichte, der „Idealismus“ ist wesentlich geringer ausgeprägt, als in der Literatur der Eindruck vermittelt wird, wenngleich Hegel schlussendlich doch ein Fortschreiten „von dem Unvollkommenen zum Vollkommenen“ (GeschPhil, 78) unterstellt. Nun sollen die Parallelen nicht den Eindruck erwecken, es gebe nicht doch eine grundlegende Differenz zwischen beiden Denkern. Sie besteht im Wesentlichen in drei Punkten: 1.  Hegels Versöhnungsstreben: Während Hegels Denken auf die dialektische Vermittlung des Konträren abzielt, will Weber die Gegensätze unvermittelt nebeneinander stehen lassen. Hegel ist der Theoretiker der Synthese und der Vermittlung, Weber der Theoretiker des Widerspruchs und des Konflikts. Versöhnung ist für Weber gleichbedeutend mit Stillstand. Statt die Konflikte einzuhegen, will er sie auf die Spitze treiben, um Routinen zu entgehen und neue Wege zu eröffnen. Deshalb kennzeichnen Antinomien und Dualismen sein Denken. Mit Radkau könnte man auch von einer „Ästhetik der Disharmonie“ sprechen (2005, 202). Immerzu bestrebt, „die Dinge bis zum äußersten denkmöglichen Extrem voranzutreiben“ (Mommsen 2004, 448), entzieht sich Weber allen Harmonisierungsbestrebungen. Auch in seinen politischen Schriften geht es ihm nicht nur, aber auch um das Installieren von Widerlagern und das Mobilisieren von Gegenkräften. Das Charisma ist ein Widerpart, der große Einzelne, das herausragende Individuum, das die Gewohnheiten des politischen Betriebs sprengt. Die Macht der Bürokratie will Weber nicht brechen durch Verpflichtung auf Normen, sondern durch das Gegengewicht einer machtvollen Exekutive (vgl. Mommsen 2001, 303 ff.). 2. Hegels Monismus, seine Hypostasierung der „Vernunft“: Hegel versucht, die „Welt“ aus einem Prinzip zu erklären: das ist die „Vernunft“. In den „Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte“ reduziert Hegel Philosophie auf den „einzigen Gedanken“, „dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“ (GeschPhil, 20). Hegel relativiert zwar seine These im Verlauf seiner Vorlesungen, bleibt aber dabei, dass sich seine These „im Großen und Ganzen“ halten lasse. Die Aufgabe der Philosophie sieht er gerade darin, das gleichsam „versteckte“ Wirken der Vernunft aufzuzeigen, der sich manifestierenden Vernunft nachzuspüren. Weber hält ein solches Denken für unhaltbar. In der Geschichte sieht er weder ein „objektives Prinzip“ walten, noch teilt er die Auffassung, dass die historische Entwicklung einer Höherentwicklung der Vernunft gleiche. 3.  Mit dem zweiten Punkt hängt der dritte zusammen: Weber stößt sich an Hegels singularischer Rede von der Vernunft. Sie erwidert er in den „Soziologischen Grundbegriffen“ mit der Gegenkonzeption einer plurali-



12. Kritik der „vollendeten“ Vernunft: Hegel93

schen Vernunft mit verschiedenen Typen der Rationalität. Der Vernunftbegriff ist für Weber so sehr mit dem Hegelschen Monismus kontaminiert, das er für Weber nicht länger haltbar ist und er ihn durch „Rationalität“ ersetzt (dazu Kapitel 3). Damit im Zusammenhang steht Webers mehr angedeuteter als ausgeführter gesellschaftstheoretischer Entwurf in der „Zwischenbetrachtung“. Hier behauptet er die Existenz unterschiedlicher Sphären von Gesellschaft, in denen unterschiedliche Rationalitäten wirken und die auch in Widerspruch zueinander geraten können. Dabei handelt es sich um ein komplexes und von Kontingenz bestimmtes Geschehen mit ungewissem Ausgang. Bei Weber ist der Geschichtsprozess mit einem großen Fragezeichen versehen. Dies ist die Gegenposition zu Hegels Modell, wonach sich „die Vernunft“ in der Geschichte mit „Notwendigkeit“ durchsetzt.

Kapitel 3

Pluralismus der Rationalität – die erste Konsequenz Webers „Soziologische Grundbegriffe“ wirken heute wie damals, zum Zeitpunkt ihres Erscheinens, befremdend. Der Ton ist kalt, schneidend, militärisch knapp. Weber hat den aus 30 großformatigen Seiten bestehenden Text noch selbst vor seinem Tod 1920 redigiert und dabei, vermutlich mehrfach, „geschliffen“. Alles Prosaische ist eliminiert. In spezifischer Weise „rationalisiert“ und „entzaubert“ präsentieren sich die Begriffsdefinitionen. Weber sagt selbst, dass sie „abstrakt und wirklichkeitsfremd“ wirkten, allerdings sei das Gegenteil beabsichtigt. Die Definitionen wollen leicht verständlich und präzise sein, wie auch die Phänomene möglichst vollständig erfassen (WG, Vorbemerkung, 1).  Für die Thematik dieser Arbeit ist der kurze Paragraph 2 über die Gründe „sozialen Handelns“ besonders interessant. Unter „sozialem Handeln“ versteht Weber ein Handeln, also ein Tun, Dulden oder Unterlassen, das für den Handelnden mit „Sinn“ verbunden ist und das insofern „sozial“ ist, als es sich „sinnvoll“ auf das Verhalten anderer bezieht und sich daran orientiert (vgl. WG, 11 f.). Ein derart „sinnvolles“ soziales Handeln kann, wie Weber aufzählt, zweckrational, wertrational, affektuell, insbesondere emo­ tio­nal sowie traditional begründet sein. Wir haben es mit Handlungstypen zu tun, die sich keineswegs gegenseitig ausschließen. Wenn dieser Eindruck entsteht, dann ist er falsch. Nur aus analytischen Gründen führt Weber die vier Handlungstypen auf. Er sagt ausdrücklich im vorletzten Satz des § 2, dass das reale Handeln aus Mischformen der vier Handlungstypen besteht (WG, 13). Die Mischungsverhältnisse bedingen, dass sich Handlungstypen ergänzen, aber auch widersprechen können. Es kann etwa zum Konflikt zwischen dem zweckrationalen und emotionalen oder traditionalen Verhalten kommen. Ich möchte Weber so interpretieren, dass die Handlungstypen eine spezifi­ sche Rationalitätsordnung konstituieren, wobei Weber nach meiner Lesart das emotionale und das traditionale Handeln keineswegs als irrationale Gegenpole zum zweck- bzw. wertrationalen Handeln betrachtet. Vielmehr können auch emotionales und traditionales Handeln als in spezifischer Weise rationales Handeln betrachtet werden. Ein Handeln ist dann rational,



1. Vernunft und Rationalität95

wenn es nicht blind, sondern bewusst und überlegt erfolgt, wenn es aus bestimmten Gründen gewählt wird. Ich möchte zeigen, dass Webers Typen sozialen Handelns auf eine pluralistisch verfasste Rationalitätstheorie hinauslaufen. Als pluralistisch bezeichne ich Handlungen, die gleichberechtigt und ohne Wertigkeitsunterschied nebeneinander stehen. Ihr Unterschied besteht in der Zusammensetzung der Handlungsmotive. Hier sind Webers Grundformen sozialen Handelns in unterschiedlicher Ausprägung auffindbar. Rationales Handeln besteht für Weber immer aus mehreren Komponenten, und keineswegs schließt und grenzt er emotionales oder traditionales Handeln als irrational aus. Er trifft auch keine Vorentscheidung zugunsten eines bestimmten Rationalitätstypus’; die Pointe seiner Rationalitätstheorie ist vielmehr eine große Offenheit für verschieden zusammengesetzte Rationalitätsformen. In Gestalt eines Pluralismus der Rationalität verarbeitet Weber, so meine These, die ernüchternde Diagnose des Sinndefizits der modernen Welt, die ich in Kap. 2 untersucht habe. Was ich den Pluralismus der Rationalität nenne, korrespondiert mit dem Pluralismus der Werte, den ich im nächsten Kapitel ausarbeiten werde.

1. Vernunft und Rationalität Die Geschichte der Philosophie lässt sich als immer wieder neu ansetzende und insofern unendliche Suche nach einer „wahren“ Vernunft beschreiben (Schneiders 2002, 17 ff., vgl. auch Höffe 2001, 149 ff. sowie Schnädelbach 2007). Das Verfahren oder das Medium, dessen sich Philosophie dabei bedient, ist gerade auch die Kritik. Kritik ist im ursprünglichen Wortsinn zu verstehen: als Urteils- und Unterscheidungsvermögen, als Grenzen setzendes und Ansprüche prüfendes Vermögen. Kant gebraucht dafür in der „Kritik der reinen Vernunft“ die Metapher vom „Gerichtshof der Vernunft“ (vgl. KrV, Vorrede A XI). Noch Nietzsche hält an der Vorstellung einer „wahren“ Vernunft fest, bestreitet aber die Wahrheitsfähigkeit der herrschenden Vernunft und die Vernünftigkeit der Welt. Auch Horkheimer und Adorno verabschieden nicht die Idee einer „wahren“ Vernunft. Vielmehr hält die „Dialektik der Aufklärung“, die den „herrschenden Geist von Homer bis zur Moderne“ als „totalitär“ denunziert und die Vernunft als „vollends funktionalisiert“ betrachtet, an einer geheimen, nur noch „unterirdisch“ auffindbaren „Utopie im Vernunftbegriff“ fest (vgl. Horkheimer / Adorno 1969, 38, 96, 100). Trotzdem ist spätestens durch Nietzsche, aber auch schon durch Kants Unterscheidung zwischen „theoretischer“ und „praktischer“ Vernunft die Idee einer einheitlichen Vernunft fragwürdig geworden (vgl. auch Höffe 2012, 5 ff.). Radikale Vernunftkritik gehört in weiten Teilen der Philosophie

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

zum guten Ton. Weber spielt in dieser Debatte deshalb eine Rolle, weil er in den Sozialwissenschaften, und von dort in die Philosophie ausstrahlend, jenen Begriff verbreitet, der dem Zerfall der Idee einer einheitlichen Vernunft Rechnung trägt: das ist der Begriff der Rationalität. Rationalität bedeutet so viel wie „Vernünftigkeit“ oder etwas nach Vernunftkriterien Hervorgebrachtes. Es handelt sich um keine Substanz oder Tatsache, anders ausgedrückt: Es gibt keine Präexistenz der Rationalität. Rationalität ist vielmehr eine Eigenschaft, die von Bedingungen abhängt und bestimmten Kriterien entspricht, ist etwas, das sich entwickelt. Etwas kann rational sein, aber es kommt darauf an, von welcher Perspektive aus man es für rational hält.1 „Rationalität“ ist abgeleitet aus dem lateinischen „rationalitas“, d. i. das Denkvermögen oder auch die Vernunftbegabtheit. Rationalität wird häufig mit Vernunft gleichgesetzt („ratio“, d. i. die Vernunft). Vor allem in der Antike wird Rationalität als „essentielle Vernunftbegabtheit“ verstanden und meist im Zusammenhang mit der Seelenlehre verwendet. Dieses Verständnis ist auch noch in der Neuzeit feststellbar (HWPh 8, 53). Der Kant der vorkritischen Zeit versteht unter Rationalität das Vermögen des Noumenalen (HWPh 8, 54). Mit Hegels emphatischer Verwendung des Begriffs „Vernünftigkeit“ verschwindet der Begriff dann fast vollständig. Erst das Vordringen ökonomischer Denkweisen kehrt die Entwicklung wieder um. Allerdings ist der Rationalitätsbegriff, der nunmehr auftritt, in spezifischer Weise halbiert. Der Aspekt der kalkulierenden Mittelwahl wird dominant und beschneidet die ursprünglich ethische Dimension, bis sie fast vollständig verschwindet. J. S. Mill nennt denjenigen, der sich an der Zweck-MittelRationalität orientiert, den „homo oeconomicus“. Adam Smith hingegen, der auch Moralphilosoph ist, integriert ethisch-naturrechtliche Konnotationen in seinen Rationalitätsbegriff. Damit behauptet er die philosophische Tradition gegenüber einem reinen Zweck-Mittel-Denken in der Ökonomie. In dem Maße jedoch, in dem sich der wirtschaftsrational handelnde Mensch durchsetzt, wird auch das rein funktionale Rationalitätsverständnis zur bestimmenden Größe. Noch im heutigen Sprachgebrauch dominiert dieser Rationalitätsbegriff, der weitgehend der Zweckrationalität oder auch der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) entspricht. Weber löst den Rationalitätsbegriff aus dem rein ökonomischen Verwendungszusammenhang und sucht ihn als handlungstheoretischen Begriff 1  Zum Rationalitätsbegriff vgl. HWPh 8, 53 ff. Zum „Übergang von der Philosophie der Vernunft zur philosophischen Theorie der Rationalität“ vgl. die Arbeiten von Schnädelbach (1984, 1987, 2000 – in dem Aufsatz von 2000 b, 257 die zitierte Formulierung). Mit dem Buch von 2007, das zumindest im Titel zum Vernunftbegriff zurückkehrt, finden die Arbeiten Schnädelbachs zur Rationalitätstheorie ihren Abschluss.



1. Vernunft und Rationalität97

fruchtbar zu machen. Er erweitert und differenziert den Rationalitätsbegriff, indem er Zweck- und Wertrationalität unterscheidet. Darin kann man eine Parallele zum Ansatz einer normativ orientierten Philosophie sehen, die im Hinblick auf den Rationalitätsbegriff danach fragt, ob man darunter bloß die Mittelrichtigkeit gegenüber beliebigen Zwecken verstehen sollte oder ob Rationalität die leitende Dimension der Ziel- und Zweckrichtigkeit („Sittlichkeit“) einschließen muss (vgl. Lex. Ethik, 253). Während die normativ orientierte Philosophie für diese Inklusion plädiert, geht es Weber in seinem Ansatz allerdings „nur“ um das analytische Erfassen der je unterschiedlichen Rationalitäten. Wie gesagt, es gibt für ihn nicht nur rein zweckrationales oder rein wertrationales Handeln, auch Kombinationen sind möglich. Es kommen hinzu „emotionale“ und „traditionale“ Handlungsformen, die mit der Zweckund der Wertrationalität Verbindungen eingehen können. Auch Emotionalität und Traditionalität billigt Weber Rationalität zu, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind (dazu später ausführlich). Mit Webers Grundtypen sozialen Handelns lassen sich verschiedene Rationalitäten bilden. Damit kommt Webers Theorie der Rationalität einer Pluralisierung des Vernunftbegriffs gleich. Noch 60 Jahre später entzündet sich daran eine Debatte, die maßgeblich Jürgen Habermas mit seiner Weber-Interpretation in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981, 225 ff.) anstößt. Habermas ignoriert jedoch Webers innovative Leistung einer Pluralisierung des Vernunftbegriffs. Er unterstellt ihm sogar das Gegenteil und kritisiert ihn wegen angeblicher „Engführung“ des Rationalitätsbegriffs. Ich werde später zeigen, dass diese Kritik selbst das Ergebnis einer „eng geführten“ Weber-Interpretation ist. Gegenüber dem Vernunftbegriff bietet der Begriff der Rationalität den entscheidenden Vorteil, dass er weniger „substanztheoretische“ Assoziationen weckt (Gloy 2001, 21 ff.). „Substanztheoretisch“ ist eine Anspielung auf die idealistische Grundlage des Vernunftbegriffs bei Hegel. Dieser Vernunftbegriff ist, so die verbreitete Ansicht, nicht mehr zu halten. Man könnte sagen: Der Rationalitätsbegriff tritt auf den Plan, weil er den Hegelschen Idealismus der Vernunft vergessen machen will. Er scheint darüber hinaus geeignet zu sein, unterschiedliche Rationalitätsvorstellungen auszudrücken. Die Unterscheidung von Rationalitäten ermöglicht, der Komplexität der Handlungsrationalität durch Differenzierung besser gerecht zu werden. In der Konsequenz löst eine Pluralität der Rationalitäten die Singularität der Vernunft ab. Inzwischen ist dieser Prozess soweit fortgeschritten, dass Kurt Lenk eine Reihe von 20 Rationalitäten zählt (vgl. Gloy 2001, 28). Souverän ist, wer hier den Überblick behält. Meine These ist, dass Webers Pluralismus der Rationalität die Konsequenz des im vergangenen Kapitel konstatierten Sinndefizits ist, also jener „Entzauberung der Welt“, die Lukács die „transzendentale Obdachlosigkeit“

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

nennt. Die zweite These, die ich entwickeln möchte, zielt auf Webers Motiv. Er trifft nicht nur die grundlegende Unterscheidung zwischen Zweck- und Wertrationalität, sondern führt darüber hinaus, wie schon erwähnt, einen „affektuellen“ bzw. „emotionalen“ sowie einen „traditionalen“ Handlungstypus ein. Auch ihnen kommt in gewisser Weise „Rationalität“ zu, es sei denn, jemand handelt rein aus Emotionalität bzw. Traditionalität. Der entscheidende Punkt ist, dass es sich um idealtypische, „reine“ Begriffstypen handelt. „Die Soziologie bildet … Typen-Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens“, heißt es in den „Soziologischen Grundbegriffen“ (WG, 9). Daraus folgt, dass es mehrere „Rationalitäten“ gibt, die sich aus Kombinationen und graduell abgestuften Überschneidungen von Zweckund Wertrationalität sowie von Emotionalität und Traditionalität ergeben können. In der Wirklichkeit begegnen uns selten „reine“ Rationalitätstypen, sondern meist Rationalitätsmixturen. Diese schlagen sich in „Rationalisierung“ nieder. So kommt es dazu, was Weber die „Vieldeutigkeit des Begriffs der Rationalisierung“ nennt (WG, 16). In der ersten Protestantismusstudie deutet er auch mögliche Rationalitätsspannungen an, die zu Kollisionen und Widersprüchen führen können. „Rationalismus“ nennt er deshalb einen Begriff, „der eine Welt von Gegensätzen in sich schließt“ (RS I, 62). Im Satz zuvor bringt Weber die Bedeutung einer Vielfalt von „Rationalitäten“ für das individuelle Leben und für die sich daraus ergebenden Lebensordnungen auf den Punkt: „Man kann eben – dieser einfache Satz … sollte an der Spitze jeder Studie stehen, die sich mit ‚Rationalismus‘ befasst – das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten ‚rationalisieren‘“ (RS I, 62). Dasselbe ist gemeint, wenn er in der „Vorbemerkung“ zum ersten Band der Religionssoziologie auf die verschiedenen gesellschaftlichen „Wertsphären“ zu sprechen kommt. Ihr Differenzmerkmal sieht er darin, „in welcher Richtung sie rationalisiert wurden“ (RS I, 12 – Hervorhebung v. mir). Ich möchte darin ein Plädoyer für Pluralismus und für Rationalitätstoleranz hineinlesen. Gestützt wird dies durch einen in der Literatur wenig beachteten und bereits in der „Einleitung“ meiner Arbeit zitierten Satz im Paragraphen 5 der „Soziologischen Grundbegriffe“. Dort heißt es: „Es macht der Soziologie keine Schwierigkeiten, das Nebeneinandergelten verschiedener, einander widersprechender Ordnungen innerhalb des gleichen Menschenkreises anzuerkennen.“ (WG, 16) Weber begründet dieses programmatische Selbstverständnis mit der Pluralität der Handlungsmotive von Menschen. Jedes dieser Motive hat für sich einen Grund und kann deshalb als berechtigt gelten. Es gibt nach Weber keine autoritative Instanz, die über die Legitimität von Handlungen entscheiden könnte. Das überschritte, wie er nicht müde wird zu betonen, die Kompetenz der Wissenschaft. Es gibt zwar Beurteilungsmaßstäbe, aber diese sind nicht objektiv, sondern nur



1. Vernunft und Rationalität99

subjektiv gültig. Sowohl seine Theorie der Rationalität als auch seine Theorie der Werte sind von diesem, wie ich das nennen möchte, Gedanken der Anerkennung von Differenz getragen. Ohne Karl Jaspers zur Autorität der Weber-Interpretation aufwerten zu wollen, knüpfe ich an seine Beschreibung der Persönlichkeit Webers an: „Die Offenheit für die Dinge, auch für das Unvernünftige und Widervernünftige, um es entweder als beherrscht aufzunehmen oder anzuerkennen als das Andere, schuf ihm den weiten Raum und zugleich die Nähe zu dem ihm begegnenden selbst fremdesten Menschen.“ (Jaspers 1958, 74)

Als Charakterzug hebt Jaspers Webers Haltung des „Anerkennens des schlechthin Fremden“ (1958, 82) hervor. Bei ihm gebe es „alles Wissen nur auf einem Standpunkt unter Hinsichten“ (1958, 83). Genau diese persönliche, charakterlogische Haltung, möchte ich behaupten, kommt sowohl in der Rationalitäts- als auch in der Wertetheorie zum Tragen. Wenn etwas den Charakter eines Menschen prägt, seine Lebensführung beeinflusst und sich zu einem Habitus ausbildet, dann entspricht dies seinem „charakterlogischen“ Merkmal. Unter den zeitgenössischen Wissenschaften spielt die Charakterologie, heute würde man Persönlichkeitspsychologie sagen, eine wichtige Rolle. Hennis macht auf Webers Rezeption der entsprechenden Schriften von Ludwig Klages aufmerksam (vgl. Hennis 1996, 41). Klages legt 1910 ein Buch mit dem Titel „Prinzipien der Charakterologie“ vor, das eine Persönlichkeitstheorie enthält, die von der Überlegung eines Zusammenspiels von Charaktere formenden Kräften ausgeht. Im abschließenden Kapitel entwirft Klages ein „System der Triebfedern“ (vgl. Klages 1988). Das Buch erscheint in mehreren Auflagen. Weber bezieht sich darauf zustimmend.2 Ihm geht es in seinen Analysen gerade auch um die Wirkungen „gesellschaftlicher Ordnungen und Mächte“ (so die Formulierung im Zweiten Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft“) auf die Psyche des Einzelnen. Weber legt dazu selbst mit der „Psychophysik der industriellen Arbeit“ eine umfangreiche Studie vor. Eine anerkennende Haltung gegenüber dem Differenten ist Webers „charakterologisches“ Merkmal. Eingangs dieser Studie habe ich dies Webers „polyphones Denken“ genannt. Es motiviert ihn wohl nicht zuletzt zu den damals keineswegs üblichen vergleichenden Studien über die Ethik der Weltreligionen und führt zu einer ausgesprochen toleranten Haltung gegenüber Andersdenkenden und solchen Menschen, die sich zu einer anderen Art der Lebensführung entschieden haben, als dies der Norm entspricht.3 2  So etwa in einer Fußnote zur „Vorbemerkung“ (RS I, 16) sowie in „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ (GAzSS, 109). 3  Woher diese anerkennende Haltung rührt, ist vermutlich nicht zuletzt biografisch bedingt. Dies zu klären wäre eine eigene Untersuchung wert. Radkau liefert

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

2. Theorie der Rationalität Max Webers Rationalisierungskonzept, mit dem er den spezifischen Verlauf der okzidentalen Kulturentwicklung zu erklären versucht, beruht auf einer Theorie der Rationalität. Das Rationalisierungskonzept ist jedoch nur rudimentär ausgearbeitet. In der „Vorbemerkung“ zum ersten Band der religionssoziologischen Schriften wirft Weber die Frage auf, warum nur der Okzident in eigentümlicher Weise „rationalisiert“ sei. Die Frage versucht er im Rahmen universalgeschichtlich ausgerichteter und komparativ verfahrender Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen zu beantworten. Den ersten Band der Religionssoziologie beschließt die „Zwischenbetrachtung“, die eine Theorie rationalisierter Wertsphären beinhaltet. Diese besagt, dass die einzelnen Wertsphären von unterschiedlichen Rationalitätsstandards geleitet werden, dass sie unterschiedlich „codiert“ sind. Weber spricht auch von den „inneren Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären“ (RS I, 541), die zu „Spannungsverhältnissen“ zwischen „Ethik und Welt“ führen könnten. Weber fasst vor allem Spannungen zwischen religiöser Ethik und den Eigengesetzlichkeiten der Systeme zweckrationalen Handelns ins Auge. Er interessiert sich aber auch für Kollisionen mit der ästhetischen und erotischen Sphäre (RS I, 554). Nicht immer ist klar, welcher Typ von Rationalität sich manifestiert, wenn Weber von Rationalisierung spricht. Einen gewissen Vorrang scheint jedoch die Zweckrationalität zu haben. Deren Brisanz liegt gerade darin, dass sie sich mit anderen Formen der Rationalität, insbesondere mit der Wertrationalität, in einem Spannungszustand befindet. Unter „Zweckrationalität“ versteht Weber eine spezifische Form der Erfolgsorientierung des Handelns. Kriterium ist die absolute Sparsamkeit an Mitteln, um das Maximum eines bestimmten Zwecks zu erreichen (WG, 13). Ein solches rein zweckhaft-zielstrebiges Handeln ist so nur im Okzident anzutreffen, so die These Webers. Der okzidentale Rationalisierungsprozess ist deshalb primär ein Prozess der Zweckrationalisierung. dazu in seiner Weber-Biografie (2005) erste Überlegungen, wenn er bei Weber eine „Ästhetik der Disharmonie“ (2005, 202) ausmacht. Danach hat Weber Spannungen und Widersprüche geradezu systematisch gesucht, um sich (angeblich) zu „quälen“. Während Radkau Webers Haltung „körpergeschichtlich“ zu erklären versucht und ihm masochistische Selbstzerstörungslust unterstellt, könnte man auch auf die Idee kommen, den Grund für diese Haltung in einer tieferen Einsicht in die Widersprüchlichkeit des Lebens und der Welt zu sehen. Daraus resultiert bei Weber ein spezifischer Heroismus, der darin besteht, diese Widersprüchlichkeit, diese Ambivalenzen des Lebens „hinzunehmen“ und „auszuhalten“. Keinesfalls beklagt Weber diesen Zustand, sondern betrachtet Vielfalt und Differenz als „normal“, als existenzielle Herausforderung, die dem „Leben“ erst einen spezifischen „Wert“ verleiht und deshalb zu erhalten und zu fördern ist.



3. Die vermeintliche Präferenz für Zweckrationalität101

Die strikte Ausrichtung an der Zweckrationalität ist der Grund für den „Erfolg“ des okzidentalen Kulturmodells und für die Ermöglichung von „Fortschritt“. „Erfolg“ und „Fortschritt“ sind freilich Begriffe, die Weber in Anführung zu setzen pflegt, da sie keine zeitunabhängigen, sondern kulturrelative Begriffe sind. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt ein „Fortschritt“ ist, kann sich im Nachhinein zu einem Problem entwickeln oder, von einer anderen Warte aus betrachtet, einen „Rückschritt“ darstellen. Im Wertfreiheitsaufsatz etwa unterscheidet Weber drei Fortschrittsbegriffe. Erstens „Fortschritt“ im Sinne des bloßen „Fortschreitens“, zweitens den „technischen“ Fortschritt und drittens den moralischen oder „Werte-Fortschritt“ (WL, 526). „Fortschritt“ ist also kriterienabhängig. Seine Theorie der Rationalität entwickelt Weber im Zusammenhang mit der Frage nach den Motiven sozialen Handelns im Paragraphen 2 der „Soziologischen Grundbegriffe“. Wenn Handeln ein Motiv hat – Weber sagt auch: wenn es „sinnvoll“ ist –, dann ist es „rational“. Die Frage ist nur: in welchem Sinne „rational“? Es ist gut möglich, dass ihn erst die Analyse der Ursprünge des Kapitalismus in der ersten Protestantismusstudie auf das Rationalisierungsthema bringt bzw. zu einer Untersuchung motiviert (so Schluchter 1998, 59 ff.).4 Eine bedeutende, wenn nicht sogar entscheidende Rolle spielt, wie noch zu zeigen sein wird, Webers Beschäftigung mit Musik (Kap. 5). Die „Soziologischen Grundbegriffe“ verfasst Weber zwischen 1918 und 1920, also nach der Analyse der okzidentalen Rationalisierungsgeschichte. Man kann diesen Paragraphen deshalb so lesen, dass Weber hier, im Nachhinein, auf einen Begriff zu bringen versucht, welche spezifische Form der „Rationalisierung“ im Verlauf der okzidentalen Kulturentwicklung gewirkt hat. Allerdings werden im Paragraphen 2 nicht alle Typen von Rationalität behandelt, die Weber in der „Zwischenbetrachtung“ erwähnt. Erotische oder ästhetische Handlungsmotive subsumiert er offensichtlich unter die Wertrationalität. Denkbar ist auch, dass Weber die erotische Rationalität als einen Grenzfall emotionaler Rationalität betrachtet. Weber macht dazu keine Angaben. Der Text ist insoweit, trotz seines insgesamt fein-kategorialen Zuschnitts, lückenhaft.

3. Die vermeintliche Präferenz für Zweckrationalität Was während des okzidentalen Rationalisierungsprozesses geschieht, könnte man auch als kulturelle Implementierung von Zweckrationalität be4  Schluchters Buch zur Rationalismusthematik bei Weber ist bereits 1979 erschienen. In der Neuauflage ist der Titel leicht verändert.

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

zeichnen. Die ausschließliche Orientierung an diesem besonderen Rationalitätstypus erklärt, warum die Kulturentwicklung im Abendland „so“ und im Orient „anders“ verlaufen ist. Nun lässt sich von diesem Untersuchungs­ ergebnis aber auf keine Präferenz Webers für Zweckrationalität schließen. Eine Reihe von Interpreten unterstellt ihm jedoch genau dies, Habermas etwa (dazu gleich ausführlicher) oder Sukale, der meint, Weber kenne eigentlich nur Zweckrationalität (2002, 433). Auch in Handbuchartikeln wird diese These vertreten (z. B. Zeleny 1990, 29). Die Kritik lautet, Weber setze Rationalität mit Zweckrationalität gleich, er kenne überhaupt nur Zweckrationalität. Von einer solchen Verabsolutierung kann jedoch keine Rede sein. Wenn Weber zuweilen Zweckrationalität mit Rationalität zu identifizieren scheint, dann steht dahinter keine konzeptionelle oder systematische Absicht, sondern schlichtweg, dass er nicht sorgfältig genug gearbeitet bzw. sich zu wenig Überarbeitungszeit genommen hat. Meine Gegenthese ist, dass er seine Arbeitsenergie vor allem in die Entwicklung eines mehrdimensionalen Rationalitätsmodells investiert hat. Vor allem Herbert Marcuse formuliert in einem Aufsatz von 1964 eine deutliche Kritik an der Weberschen Rationalitätskonzeption (vgl. Marcuse 1984, 76 ff.). Seine Auseinandersetzung versteht sich als „ideologiekritisch“, es geht ihm also darum, zu erweisen, dass Webers Soziologie das Gegenteil dessen ist, was sie vorgibt zu sein: „wertfrei“. Marcuse gibt sich allerdings wenig Mühe mit seiner Untersuchung des Weberschen Rationalitätsbegriffs. Weber wirft er vor, die „kapitalistische Rationalität“, die es bei ihm gar nicht gibt, nicht als „Irrationalität der Vernunft“ erkannt zu haben. Mit einem Begriff von Lukács meint Marcuse, Weber verwechsle „Vernunft“ mit „Verdinglichung“ (Marcuse 1984, 91). Damit schlägt nach Meinung Marcuses Webers Ansatz in „Apologetik“ um. Marcuse widerspricht sich allerdings selbst, denn eingangs konstatiert er, Weber habe auch die „repressiven Manifestationen“ der Vernunft thematisiert. Marcuses zweiter Vorwurf lautet, Weber habe das Potenzial der „technischen Vernunft“ verkannt, also das, was für die marxistische Theorie die „Produktivkräfte“ sind als Voraussetzung dafür, die Gesellschaft zu verändern. Dieser Vorwurf ist etwas merkwürdig, denn Weber setzt sich doch sehr wohl ausführlich gerade mit der „technischen“ Seite des Rationalitätsbegriffs auseinander. Problematisch ist auch die Disqualifizierung Webers, weil dieser sich nicht für das emanzipatorische Potenzial der Technik interessiere. Ein derartiges Erkenntnisinteresse widerspricht dem Weberschen Forschungsansatz. Die Weber-Interpretation von Jürgen Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) führt in der Literatur nicht nur zu einer (nach Tenbrucks klassischem Aufsatz „Das Werk Max Webers“ von 1975



3. Die vermeintliche Präferenz für Zweckrationalität103

noch intensiveren) Wiederbeschäftigung mit Weber, sondern erneuert den Vorwurf der Rationalitätsreduktion auf Zweckrationalität.5 Habermas meint, Weber lasse sich „von der eingeschränkten Idee der Zweckrationalität leiten“ (1981, 208), Rationalisierungsvorgänge kämen ihm „nur noch unter Gesichtspunkten der Zweckrationalität in den Blick“ (1981, 369). Immerhin erwähnt Habermas die Ambivalenz Webers gegenüber dem Rationalisierungsprozess. Unter dem Stichwort „Dialektik der Rationalisierung“ entwickelt er dann einen eigenen kritischen Ansatz und unterscheidet zwischen einer kognitiv-instrumentellen, einer moralisch-praktischen und einer ästhetisch-praktischen Rationalität. Habermas ist nicht der einzige, der Weber Reduktionismus oder auch: spezifische Blindheit und Verzerrung vorwirft. Gerhards nennt dies den „rationalistischen Bias“ der Rationalitätstheorie (1989, 336), meint dann aber zum Ende seiner Untersuchung doch, Webers Studien zum Rationalisierungsprozess könnten als Beispiel für eine freilich erst auszuarbeitende „Soziologie der Gefühle“ gelesen werden (1989, 354). Einen anderen Punkt berührt Höffe, der bei Weber ein „imperativisches Verständnis der Zweckrationalität“ feststellt, das „substantielle Sittlichkeit“ ausschließe (1984, 150). Unter „substantieller Sittlichkeit“ versteht Höffe eine doppelte ethische Substanz, die sich auf Gesellschaftsebene in Form von Institutionen und auf der Ebene des Individuums in Form von Tugenden manifestiert. Dem ist insoweit zuzustimmen, als Weber tatsächlich auf Zweckrationalität fixiert ist, allerdings nicht, weil er in der Zweckrationalität eine normativ höher stehende Form von Rationalität sähe, sondern deshalb, weil es ihm darum geht, die dominante Erscheinung der Zweckrationalität im Prozess der abendländischen Zivilisation empirisch nachzuweisen. Webers Ansatz läuft nicht darauf hinaus, Zweckrationalität als Rationalität schlechthin zu begreifen. Auch bedeutet er nicht, dass das Anliegen „substantieller Sittlichkeit“ grundsätzlich ausklammert wäre. Nur darf dies aus Webers Sicht nicht das Anliegen von Wissenschaft sein, die sich nach seiner Überzeugung normativ beschränken und konzentrieren muss auf das wissenschaftliche Erfassen dessen, „was ist“. Selbstverständlich ist es auch unter dieser Voraussetzung möglich, Motivationen zu erfassen, die normativ wirken. Webers Untersuchung der Protestantischen Ethik ist dafür ein prominentes Beispiel. 5  Habermas schreibt (1981, 239): „Natürlich interessiert er (Weber) sich in erster Linie für praktische Rationalität im Sinne der Maßstäbe, nach denen Subjekte ihre Umwelt kontrollieren“, also für „Zweckrationalität.“ So „natürlich“ ist das aber gar nicht. Weber „entwickelt“ zwar nicht jenen „komplexen Begriff“ von Rationalität, den Habermas sich vorstellt, aber er ist angelegt, sogar in dem innovativen und modernen Sinne, auch emotionales Handeln als rationales Handeln zu fassen.

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

Webers Ansatz ist es, die Vielfalt der Rationalitäten zu erweisen, in der, rein empirisch betrachtet, die Zweckrationalität eine dominante Rolle spielen kann (und offensichtlich auch spielt). Wenn andere Rationalitätsformen nicht anzutreffen sind, erklärt sich dies daraus, dass sie empirisch nicht gleichermaßen ausgebildet sind und deshalb weniger in den Fokus der Forschung rücken. Die Hypostasierung einer bestimmten Rationalitätsform und der Ausschluss bestimmter Rationalitäten ist mit Webers Ansatz unvereinbar. Wenn nach einem bestimmenden Merkmal seines Werks gefragt wird, dann lautet die Antwort, dass es sich gegen den Monismus richtet. Webers Anliegen ist, keine Universalitätsansprüche zu erheben und stattdessen die Vielfalt der Rationalitäten herauszustellen, die je für sich eine eigene Berechtigung haben. Er geht sogar einen Schritt weiter und beleuchtet die aus seiner Sicht verhängnisvollen Seiten reiner „Zweckrationalisierung“. Denn als er sich an die Untersuchung der okzidentalen Entwicklungsgeschichte macht und sie als Rationalisierungsprozess rekonstruiert, verhehlt er zwar keineswegs seine Bewunderung für das Werk reiner Zweckrationalisierung, doch erscheint ihm dieser Prozess aus der Perspektive einer spezifischen, nicht näher umschriebenen Wertrationalität als problematisch und mindestens ambivalent. Weber diagnostiziert die weitgehende Abhängigkeit des modernen Menschen, der in einem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ zu leben gezwungen ist, also eine kulturelle Entwicklung nicht zu mehr, sondern zu weniger Freiheit, zu Zwang und Reglementierung. Webers Diagnose unterscheidet sich kaum von dem, was Habermas dann rund 80 Jahre später zum Ende seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ bezeichnet. Der Übergriff der Systeme zweckrationalen Handelns auf eine scheinbar intakte Lebenswelt ist bei Weber mit dem Dualismus von Zweck- und Wertrationalität begrifflich antizipiert. Im Visier hat Weber vor allem die Bürokratisierung, die neben dem Phänomen der „Vermachtung“ der Lebenswelt auch bei Habermas eine wichtige Rolle spielt und schon Adornos These von der „verwalteten Welt“ inspiriert, der sich ausdrücklich auf Weber beruft. Deshalb ist es nicht nachzuvollziehen, wenn gerade Habermas Weber eine Reduktion des Rationalitätsbegriffs vorwirft. Weber gibt mehr als nur einmal deutlich zu verstehen, dass die Herrschaft der Zweckrationalität einen hohen Preis hat, nämlich den Verlust werteorientierter Rationalität. In einer seiner „Diskussionsreden“ auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik zum Beispiel kritisiert Weber in aller Deutlichkeit die „bureaukratische Mechanisierung“, die das gesamte Leben mit „rein technischen Maßstäben“ überziehe. Jenseits aller Grundsätze, sich der Werturteile zu enthalten, sieht Weber die Aufgabe darin, „wie wir das nicht noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen zu haben, um einen



4. Ein wertrationaler Begriff von Zweckrationalität105

Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“ (GAzSS, 414). Auch ein Jahr zuvor, 1908, in der „Methodologischen Einleitung“ zu einer Untersuchung der Arbeiterschaft in der „geschlossenen Großindustrie“, stellt er fest, der „Apparat“ habe „das geistige Antlitz des Menschengeschlechts fast bis zur Unkenntlichkeit verändert“. Dieser Prozess, so Weber, sei keineswegs abgeschlossen (GAzSS, 60). Damit kann man aus guten Gründen behaupten, Weber mache sich für eine werteorientierte Rationalität stark, um die reine Zweckrationalität in ihre Schranken zu verweisen, denn er erkennt deren destruktives Potenzial. Eine solche werteorientierte Rationalität könnte man mit Höffe „substan­ tielle Sittlichkeit“ nennen. Nicht zuletzt würde Weber zustimmen, dass es auf beide Seiten der Sittlichkeit ankommt, auf die Sittlichkeit ermöglichenden Institutionen einerseits und auf die ethischen Tugenden andererseits. Allerdings liegt diese normative Herangehensweise außerhalb des Weberschen Ansatzes, was ihn nicht daran hindert, trotzdem entsprechend zu verfahren. Wenn Weber sich in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ für die „Verantwortungsethik“ und gegen die „Gesinnungsethik“ ausspricht, ist dies ein normatives Anliegen. Die „Verantwortungsethik“ impliziert ethische Tugenden wie Besonnenheit, Augenmaß und Gerechtigkeitssinn. Mit diesem Begriff fordert Weber ein, was Höffe „die sittliche Substanz in der handelnden Person“ nennt (1984, 171). Wenn nach Höffe dieses sittliche Fundament in der Person einen Kernpunkt der aristotelischen Ethik ausmacht, dann ist Weber ein Aristoteliker. Allerdings, es sei nochmals betont, das normative Anliegen ist nicht das „eigentliche“ Anliegen. Wenn auch die normative Dimension durchschimmert, geht es Weber doch dem Selbstanspruch nach nur um die empirische Analyse. Dass er dem nicht immer gerecht wird, steht auf einem anderen Blatt. Gerade seine „Briefe“, die freilich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, zeigen eine deutlich moralische Argumentation auf. Weber reklamiert ethische Tugenden gerade auch für den „Staatsmann“. Dies soll in Kapitel 6 näher untersucht werden

4. Ein wertrationaler Begriff von Zweckrationalität Der Begriff der Rationalität findet sich nicht nur im Paragraphen 2 der „Soziologischen Grundbegriffe“, Weber gebraucht ihn oft, verstreut und: uneinheitlich. Der Paragraph 4 enthält eine Passage zur „Rationalisierung“, die sich auf den Paragraphen 2 bezieht. Hier wird der Zusammenhang deutlich zwischen der „Theorie der Rationalität“ und der Frage, wie sich die Rationalität manifestiere, nämlich als „Rationalisierung“. Die an die „Soziologischen Grundbegriffe“ anschließenden „Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens“ enthalten im Paragraphen 9 eine weitere Fundstelle.

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

Verschiedene Interpreten beziehen sich bei ihren Untersuchungen des Ratio­ nalitätsbegriffs vor allem auf diesen Text (Habermas 1981 und Kalberg 1981). In seiner Wirtschaftssoziologie wendet Weber seine allgemeine Rationalitätstheorie auf den Fall der Wirtschaft an und nennt die beiden anzutreffenden Rationalitätstypen die „formale“ und die „materiale“ Rationalität. Diese Rationalitätstypen gleichen der Zweck- und der Wertrationalität aus den „Soziologischen Grundbegriffen“, sind aber nicht damit identisch. Die formale Rationalität ist ein weitgehend „anspruchsloser“ Begriff, denn er bezeichnet lediglich die Maßeinheit oder das Rechnungsmittel, sprich: das Geld (WG, 44). Dagegen stellt der Begriff der Zweckrationalität in den „Soziologischen Grundbegriffen“ einen hohen Anspruch: Weber spricht erst dann von Zweckrationalität, wenn zuvor ein komplexer Abwägungsprozess von eventuell konkurrierenden Gütern stattfindet. „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert, und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt …“ (WG, 13).

Dieser Begriff von Zweckrationalität rekurriert nicht nur auf die Mittel, sondern sogar auf „Nebenfolgen“. Weber nennt kein Beispiel für Nebenfolgen, aber vielleicht hat er auch an Nebenfolgen für die Ethik oder die Moral gedacht. Ökonomischer Erfolg kann mit einem Verfall der Moral erkauft sein, setzt diesen womöglich sogar voraus. Die Frage ist, welches Gut höher gewichtet wird: der ökonomische Erfolg oder der Erhalt der Moral. Eine Rolle können nicht nur die gegenwärtigen, sondern auch Zukunftsfolgen spielen. Was heute „Nachhaltigkeit“ genannt wird, diskutiert Weber zwar nicht ausdrücklich, aber in seiner Freiburger Antrittsvorlesung spricht er von der „Fürsorge für die Zukunft, für unsere Nachfahren“. Deshalb wirbt er für ein „Denken über das Grab der eigenen Generation hinaus“ (PS, 13; vgl. dazu auch Kap. 8). Auf diese Weise gelangt in den Begriff der Zweckrationalität ein normativ-wertrationales Moment, das sagt Weber ausdrücklich, nämlich dann, wenn zwischen verschiedenen Zwecken abgewogen werden muss: „Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen kann dabei ihrerseits wertrational orientiert sein …“ (WG, 13). Wertrationale Motive spielen in Konfliktfällen also eine wichtige Rolle; sie entscheiden den Konflikt. In diesem auch wertrationalen Verständnis von Zweckrationalität möchte ich eine Pointe der Weberschen Rationalitätstheorie sehen. Dieses wertrationale Verständnis von Zweckrationalität entkräftet den Vorwurf, Weber verenge Rationalität auf Zweckrationalität. Wertrationales Handeln bestimmt Weber als Handeln nach „,Geboten‘ oder gemäß ‚Forderungen‘“ (WG, 12). Wertrational handelt, wer sich am



5. Die Rationalität emotionalen und traditionalen Handelns107

„unbedingten Eigenwert“ des Handelns orientiert, wenn es keine Rolle spielt, ob das Handlungsziel erreicht wird. Zweckrationales Handeln ist erfolgsabhängiges, wertrationales Handeln demgegenüber erfolgsunabhängiges, aber von bestimmten Werten getragenes Handeln. Wertrationalität und materiale Rationalität sind weitgehend identisch. Beiden liegen ethische und / oder politische Maßstäbe zugrunde (WG, 45). Während es sich nach Weber bei der formalen Rationalität um einen „eindeutigen“ Begriff handelt, insofern nämlich, als eine wirtschaftliche Leistung sich nach ihrem Geldwert bemisst, sind mit der materialen Rationalität unter Umständen Wertkonflikte verbunden, die nicht leicht zu entscheiden sind, da es nach Weber keine eindeutigen und unbestreitbaren, keine objektiven Wertmaßstäbe gibt. Wenn Weber im übrigen Werk von Rationalität spricht, hat er meist die Zweckrationalität bzw. den rein rechnerischen Aspekt im Auge. In der „Rechtssoziologie“ bezeichnet Rationalität ein Mehr an „Systematik“, an „Logizität“, an „Effektivität“ (vgl. WG 486, 487, 506). Im Kategorienaufsatz, 1912 / 13 verfasst, unterscheidet er „das Zweckrationale“ vom „objektiv Richtigkeitsrationalen“ (WL, 434). Den Begriff der Wertrationalität benutzt Weber hier nicht. In den „Soziologischen Grundbegriffen“ ersetzt die „Wertrationalität“ das „objektiv Richtigkeitsrationale“. Eine Variante, die aus dem begrifflichen Rahmen fällt, enthält der Wertfreiheitsaufsatz von 1917. Weber unterscheidet hier die „technische Rationalität der Mittel“ (WL, 526) bzw. die „subjektive Rationalität“ von dem „objektiv-technisch Richtigen“ (WL, 530). „Wertrationalität“ scheint es für Weber hier nicht zu geben, sondern nur das „technisch Richtige“ aus „subjektiver“ und aus „objektiver“ Sicht.

5. Die Rationalität emotionalen und traditionalen Handelns Während Weber also zwei Grundtypen von Rationalität unterscheidet, nämlich die Rationalität, die sich am Zweck orientiert, und jene, die sich an bestimmten Werten orientiert, treten in den „Soziologischen Grundbegriffen“ zwei weitere Handlungstypen auf, die unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls als „rational“ gelten können: das bereits erwähnte „affektuelle“ bzw. „emotionale“ und das „traditionale“ Handeln. Die Weber-Forschung setzt sich nicht mit der Frage auseinander, ob für Weber emotionales und traditionales Handeln ebenfalls rational sein kann.6 6  Soweit ich sehe, erwähnt nur Schnädelbach (2007, 133) diesen Punkt. Es werde meist übersehen, dass Weber das affektuelle und das traditionelle Handeln als Formen rationalen Handelns angesprochen habe. Er belässt es allerdings bei der Bemerkung.

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

Die Frage wird deshalb nicht diskutiert, weil die beiden rationalen Handlungstypen auf der einen Seite und das emotionale wie das traditionale Handeln auf der anderen Seite als einander ausschließende Handlungsformen betrachtet werden. Parsons etwa nennt den emotionalen und den traditionalen Handlungstypus „Residualkategorien“ und behauptet, sie interessierten Weber nicht weiter (1982, 82). Als Ergebnis hält er „jene unbefriedigende Neigung des Weberschen Denkens zur Hypostasierung der rationalen und speziell wohl der zweckrationalen Komponenten“ fest (1982, 87). Wenn es aber stimmen sollte, dass sie Weber nicht weiter interessieren, stellt sich die Frage, warum er sie überhaupt aufführt. Wenn sie gar die „nicht rationalen“ Gegenmodelle der beiden rationalen Handlungsformen sein sollen, wie Parsons meint, stellt sich die Frage, warum Weber dann bei der Unterscheidung von Handlungstypen keine Zweiteilung in „rational“ und „nicht rational“ (oder auch „irrational“) vornimmt. Dagegen möchte ich die These vertreten, dass Weber im emotionalen und traditionalen Handeln gleichberechtigte Bestandteile einer komplex ansetzenden Rationalitätstheorie sieht, deren weitere Bestandteile das zweck- und das wertrationale Handeln sind. Keineswegs ist es für Weber ausgeschlossen, dass auch emotionales und traditionales Handeln unter bestimmten Umständen rational sein kann. Weber nimmt an, dass diese beiden Handlungsformen mit den beiden „rein“ rationalen Handlungsformen Verbindungen eingehen, dass sie sich dabei ergänzen und unter Umständen verstärken, dass deshalb diese beiden Handlungsformen in die allgemeine Rationalitätstheorie hineingehören. Weber macht es einer solchen Interpretation allerdings nicht leicht. Erstens: Betrachtet man seine Definition der Zweckrationalität, scheint diese darauf hinzudeuten, dass er emotionales und traditionales Handeln als irrationale Gegenmodelle auffasst („Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert … und die verschiedenen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“) (WG, 13). Dieses „Weder – Noch“ könnte einen möglichen Gegensatz anzeigen. Zweitens: Auch seine Definitionen des emotionalen und des traditionalen Handelns selbst lesen sich so, als seien sie das Gegenteil von Rationalität. Das emotionale Handeln kennzeichnet er als „hemmungsloses Reagieren auf einen außeralltäglichen Reiz“, das traditionale Handeln als ein „dumpfes Reagieren auf gewohnte Reize“ (WG, 12). In dieser zugespitzten Form erscheinen sie deshalb als Gegenteil von Rationalität, weil beide offensichtlich in der Art eines Automatismus, mithin ohne Bewusstsein erfolgen. Es scheint keinen Moment des Nachdenkens zu geben; die Reaktion erfolgt weitgehend blind, ungesteuert und spontan, ohne dass der Handelnde Herr seiner Handlung zu sein scheint. Das traditionale und insbesondere das emotiona-



5. Die Rationalität emotionalen und traditionalen Handelns109

le Handeln erscheinen nach dieser Definition als Widerfahrnis, aber nicht eigentlich als Handlung. Jedoch: Weber spricht hier, wie bei den beiden rationalen Handlungsformen, über einen „konstruktiven Grenzfall“ (WG, 13). Das bedeutet, es handelt sich um idealtypische und damit in einem spezifischen Sinne übertriebene und „irreale“ Bestimmungen von Handlungsformen. Im Hinblick auf das emotionale Handeln sagt Weber ausdrücklich sogar, dass es auch als „bewusste Entladung der Gefühlslage“ auftreten kann (WG, 12). Wenn aber ein Handeln auf Gefühlen, die bewusst eingesetzt werden, basiert, dann kann es, so meine These, Rationalität beanspruchen. Weber sagt selbst, dass sich in diesem Fall das emotionale Handeln bereits „auf dem Wege zur ‚Wertrationalisierung‘ oder zum Zweckhandeln oder zu beiden“ befinde. Hier wird deutlich, dass es für Weber im Fall des emotionalen Handelns einen direkten Zusammenhang mit den beiden anderen rationalen Handlungsformen geben kann und vermutlich in aller Regel auch gibt. Die Grenzen zwischen den Handlungstypen sind nicht so starr, wie die Typologie den Anschein erweckt, sondern fließend. Weber spricht damit an, was heute allgemeine Auffassung in der „Philosophie der Gefühle“ ist: dass Rationalität und Emotionen sich nicht ausschließen, sondern dass vielmehr ohne das Vermögen der Gefühle Rationalität sich in aller Regel gar nicht entwickeln kann.7 Gefühle können dazu beitragen, rational zu handeln. Um ein Beispiel zu geben: In der Umgangssprache gibt es den Ausdruck „sich auf sein Gefühl verlassen“. Wer sich auf sein Gefühl verlässt, geht davon aus, dass das Gefühl nicht trügt. Diese Annahme beruht auf Erfahrung. Wenn das Gefühl in der Vergangenheit nicht getrogen hat, dann ist es wahrscheinlich, dass es auch dem gegenwärtigen Handeln den „richtigen“ Impuls verleiht. Wer sich auf sein Gefühl verlässt, unterscheidet zwischen „guten“ und „schlechten“ Gefühlen. Wer ein „gutes“ Gefühl hat, handelt im entsprechenden Sinne, wer ein „schlechtes“ Gefühl hat, nimmt Abstand. 7  So lautet die Kernthese der Studie von de Sousa (2009) „Die Rationalität des Gefühls“ (englisches Original 1987). De Sousa arbeitet heraus, dass Gefühle rationale Überlegungen und rationales Handeln indirekt oder sogar direkt steuern können. Er meint, dass Gefühle gerade in komplexen, schwierigen Situationen, in denen rationale Argumente versagen oder nicht ausreichen, unverzichtbar sind. Statt sich zu widersprechen, können sich Gefühl und Rationalität ergänzen. Zur „Philosophie der Gefühle“ vgl. den Sammelband von Döring 2009 mit Auszügen aus Schriften der wichtigsten modernen, meist angelsächsischen Autoren. Mit Emotionen befassen sich auch bereits die klassischen Philosophen. In Aristoteles’ „Rhetorik“ findet sich eine detaillierte Affektenlehre. Auch Spinoza, Descartes, Hobbes, Hume und Kant setzen sich damit auseinander. Häufig erscheinen Gefühle als Gegensatz zur Vernunft oder stehen im Ruf, dann eingesetzt zu werden, wenn die Gründe ausgehen. Vgl. auch den einleitenden Beitrag von Döring 2009, 12 f.

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

In der „Philosophie der Gefühle“ heißen solche Gefühle emotions. Sie können verstanden werden als Bedingungen der Möglichkeit von rationalem Handeln. Emotions kommt Rationalität zu, weil sie Produkte des Verstandes sind. Als solche können sie begründet werden. Beispiele für emotions sind Furcht, Ärger, Empörung, Trauer oder Neid. Thomas Hobbes’ „Leviathan“ lässt sich als ein Beispiel für die rationale Wirkung von Emotionen lesen: Es ist die Furcht, die zur rationalen Überlegung führt, einen Staat zu gründen. Erst die Furcht ermöglicht einen Vertrag aller mit allen, der geschlossen wird, um in Sicherheit und Frieden leben zu können. Dieser Vertrag ist vernünftig, weil er das Leben schützt.8 Von emotions zu unterscheiden sind feelings, die als Empfindungen einer bestimmten Qualität und Intensität definiert werden können. Feelings lassen sich nicht leicht erklären. Sie sind Leidenschaften, die das Individuum „überkommen“ und „überwältigen“, ohne dass es der Macht der Empfindungen etwas Wirkungsvolles entgegensetzen könnte. Daher kann man feelings als irrationale Handlungsantriebe ansehen. Weber nennt Beispiele, was er unter Emotionen versteht: „Rache“, „Genuss“, „Hingabe“, „kontemplative Seeligkeit“ und „Abreaktion“ (WG, 12). Weber trifft also keine Unterscheidung zwischen emotions und feelings, denn die Rache ist wohl als ein irrationaler Handlungsantrieb anzusehen. Bei der „Abreaktion“ ist dies nicht eindeutig, denn sie kann auch gezielt und mithin verstandesgesteuert erfolgen und wäre damit eine emotion. Genuss, Hingabe und kontemplative Seeligkeit könnte man auch als emotions ansehen, da sie wenigstens teilweise Produkte des Verstandes sind. Wenn Weber auch nicht zwischen emotions und feelings differenziert, ist seine Sensibilität für den Zusammenhang und das mögliche Wechselverhältnis zwischen Rationalität und Emotionalität doch bemerkenswert. Diese Aufmerksamkeit könnte mit persönlichen Erfahrungen zu tun haben. Weber scheint Emotionen lange Zeit ablehnend und abwehrend gegenüber gestanden zu haben. Erst in den letzten anderthalb Lebensjahrzehnten legt er seinen Reflex wider die Emotionen ab. J. M. Barbalet (2000, 329 ff.) weist auf diese Ambivalenz Webers hin. Offensichtlich erst nach der ersten Protestantismusstudie ändert Weber seine Haltung. Bis dahin sieht Weber in Emotionen einen Widerspruch zu einem von einem spezifischen Verständnis von „Beruf“ geprägt Lebensstil, einen Widerspruch dazu, was Weber die „rationale Berufsaskese“ nennt. Die Lebensführung etwa von einem hoch disziplinierten, streng erfolgsorientierten und puritanischen Unternehmer erscheint Weber nur schwer vereinbar mit den Lebensmaximen gefühls- und 8  Siehe auch den Handbuch-Artikel „Emotion“ von Nullmeier 2011, 179 ff., dem der Hinweis auf Hobbes entnommen ist.



5. Die Rationalität emotionalen und traditionalen Handelns111

erlebnisorientierter Menschen. Denn eine erfolgreiche unternehmerische Tätigkeit setzt in aller Regel die Unterdrückung, mindestens aber die Kontrolle von Gefühlen voraus. Barbalet zeigt, dass Weber seine Abwehrhaltung in dem Maße aufgibt, in dem er persönlich Bekanntschaft macht mit gegenkulturellen Strömungen wie etwa der libertären und anarchistischen Szene in den Schweizer Bergen, der es gerade auch um ein „gefühlsbetontes“ Leben und nicht zuletzt um das Ausleben von sexuellen Bedürfnissen geht. Weber steht, wie man aus den Briefen weiß, dieser „Welt voller Zauberweiber, Anmut, Tücke und Glücksbegier“ (Brief an Marianne Weber, 9. April 1914, MWG II / 8, 604) fasziniert und abgestoßen zugleich gegenüber (dazu auch Kap. 6). Eine weitere Erfahrung macht Weber, als er während des Ersten Weltkriegs als Disziplinaroffizier der Lazarettkommission in Heidelberg mit dem Leid und dem Schmerz von Kriegsopfern konfrontiert wird. Eine Rolle dürften auch seine (Liebes)Beziehungen zu Else von Richthofen und Mina Tobler gespielt haben, die in den Briefen nachgewiesen sind und etwa auf jemanden wie Karl Jaspers wie ein Schock wirkten, als sie nach dem Tod Webers bekannt wurden. Barbalet fragt in seinem Aufsatz nicht, ob Webers sich ändernde Haltung gegenüber der Welt der Emotionen und ihre Anerkennung als handlungsmotivierende und rationale Faktoren auch einen kategorialen Niederschlag findet. Auch wenn dies eines gründlichen Vergleichs zwischen den „frühen“ und den „späten“ Schriften bedürfte, meine ich, dass dies der Fall ist. Erst in den (späten) „Soziologischen Grundbegriffen“ taucht das emotionale Handeln als eigenständiger Begriff auf. In der (späten) „Zwischenbetrachtung“ wertet Weber die Erotik zur „selbständigen Wertsphäre“ auf, so auch in dem (etwa zeitgleich verfassten) religionssoziologischen Kapitel von „Wirtschaft und Gesellschaft“. Allerdings scheint er der Erotik noch immer nicht zu trauen, denn er bezeichnet sie als die „stärkste irrationale Macht des persönlichen Lebens“ (WG, 365). Wie das emotionale Handeln konstruiert Weber das traditionale Handeln als „Grenzfall“. Dessen Rationalitätspotenzial scheint er geringer zu veranschlagen als dasjenige des emotionalen Handelns. Dem traditionalen Handeln spricht Weber fast ab, überhaupt noch „sinnhaft“ orientiertes Handeln zu sein. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass „die Masse alles eingelebten Alltagshandelns sich diesem Typus nähert“. Handeln ist, so Weber, überwiegend Wiederholung und „Bindung an das Gewohnte“ (WG, 12). Nicht zu klären ist, ob diese Feststellung gegenwartsdiagnostische Bedeutung hat. Sollte dies zutreffen, stellt sich die Frage, wie die These sich mit der These von der empirischen Dominanz zweckrationalen Handelns verträgt, die Weber für die moderne Kultur generell aufstellt.

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

Weber gibt darauf in den „Soziologischen Grundbegriffen“ keine Antwort. Allerdings streift er im Kategorienaufsatz ganz zum Schluss diese Frage. Er schreibt: „Die empirische Geltung gerade einer rationalen Ordnung ruht also dem Schwerpunkt nach ihrerseits wieder auf dem Einverständnis der Fügsamkeit in das Gewohnte, Eingelebte, Anerzogene, immer sich Wiederholende.“ (WL, 473) Demnach setzt jede gesellschaftliche Ordnung, und vor allem eine rationale gesellschaftliche Ordnung, die nach Mittel- und Zweckrationalität strebt, traditionales Handeln voraus. Traditionales Handeln, so scheint Weber zu glauben, bedeutet Berechenbarkeit und ermöglicht erst eine stabile soziale Ordnung. In den „Soziologischen Grundbegriffen“ nimmt Weber diesen Gedankenfaden nicht auf. Den Typus des traditionalen Handelns diskutiert er kaum. Hier hätten zum Beispiel Überlegungen zur entlastenden und mithin in einem spezifischen Sinne rationalen Wirkung traditionalen Handelns vorgebracht werden können. Wer aus Gewohnheit handelt, handelt nicht unbedingt so, wie Weber nahe legt, weil „immer so“ gehandelt wurde, sondern unter Umständen auch deshalb, weil Gewohnheiten Mühen ersparen. Man tut etwas aus Gewohnheit, weil so ein Neuarrangement nicht notwendig wird. Routinen zählen zum gewohnheitsmäßigen Handeln. Wenn es sich um kein zwanghaftes Handeln handelt, lassen sich auch Rituale darunter subsumieren. Routinen und Rituale reduzieren Komplexität und werden auch deshalb gewählt, weil auf diese Weise Handlungsfreiräume entstehen. Es wird quasi Energie gespart, die sich für andere Dinge einsetzen lässt. Einem Handeln nach diesem Muster liegt eine rationale Vorüberlegung zugrunde. Vor allem Arnold Gehlen weist darauf in seinem Buch „Urmensch und Spätkultur“ hin, das sich als eine „Philosophie der Institutionen“ versteht. Gewohnheiten sind nach Gehlen lebensnotwendig. „Das praktische Gewohnheitsverhalten steht beim Menschen an der Stelle, wo wir beim Tier die Instinktreaktion finden.“ (1986, 23). Gewohnheiten geben, so Gehlens These, „Außenhalt“. Dies gelte generell für Institutionen, wobei Gehlen einen weiten Institutionenbegriff hat. Auch Vereinbarungen sind schon Institutionen. Diese übernehmen die „Innenstabilisierung des Menschen“ und entlasten von „dauernden Improvisationen“ (1986, 42 f.). Die Habitualisierung des Verhaltens ist nach Gehlen insofern produktiv, als es, so der Autor metaphorisch, einen „Übergang vom Werkstück zum Kunstwerk“ ermöglicht (1986, 43). Damit ist gemeint, dass Institutionen Ressourcen sparen und Freiräume schaffen für neue und „anspruchsvollere“ Gedanken oder Taten. Weber, auf den sich Gehlen gelegentlich beruft, thematisiert diese entlastend-konstruktive Wirkung von Gewohnheiten nicht. Das traditionale Handeln handelt er merkwürdig kurz und abwehrend ab. Zusammenfassend



6. Die Vielfalt rationalen Handelns113

kann man gleichwohl sagen: Webers Verdienst ist es, dass er emotionales und traditionales Handeln als mögliche Bestandteile rationalen Handelns erkennt. Dies gilt vor allem für das emotionale Handeln. Allerdings vertieft er dies nicht und begibt sich damit der Chance, seinen Ansatz zu profilieren. Darin sehe ich einen Grund, warum er nicht als Vordenker einer Soziologie der Emotionen angesehen wird.

6. Die Vielfalt rationalen Handelns Wenn das emotionale bzw. traditionale Handeln unter bestimmten Umständen als rational gelten kann, fragt sich, welche Auswirkungen dies auf die allgemeine Handlungstypologie im Paragraphen 2 der „Soziologischen Grundbegriffe“ hat. Dann handelt es sich beim Paragraphen 2 um eine allgemeine Rationalitätstheorie, die mögliche Komponenten von Handlungsrationalität enthält. Die Pointe dieser Rationalitätstheorie sehe ich darin, dass sie eine Theorie der Vielfalt rationalen Handelns ist. Diese Vielfalt ergibt sich daraus, dass die vier Handlungstypen nur abstrakte Möglichkeiten sind, die in der Ausschließlichkeit als rein zweckratio­ nales oder rein wertrationales, als rein emotionales oder traditionales Handeln nicht auftreten, sondern nur als Kreuzung und  /  oder Kombination mindestens zweier Grundtypen. Je nachdem wie groß die jeweiligen Anteile der abstrakten Handlungstypen bei einem konkreten Handeln sind, ergeben sich verschiedene Mischungen. Man muss sich quasi neben den vier Grund-Handlungstypen eine Vielzahl weiterer Handlungstypen vorstellen, die sich aus verschiedenen Rationalitätsanteilen zusammensetzen. Weber so zu interpretieren ergibt sich zum einen aus seiner Bemerkung, dass es sich bei der „absoluten Zweckrationalität“ um einen „konstruktiven Grenzfall“ handelt, wie auch das rein wertrationale Handeln eher unwahrscheinlich oder doch höchst selten anzutreffen sei (WG, 13). Damit will Weber sagen: Niemand handelt rein zweck- oder rein wertrational. Analog gilt dies für das emotionale und traditionale Handeln. Diese Interpretation ergibt sich zum anderen aus dem fünften Unterpunkt des Paragraphen 2, wo es heißt, dass Handeln „sehr selten“ „nur in der einen oder der anderen Art orientiert“ ist (WG, 13). Die vier Handlungstypen, die Weber aufführt, sind Idealtypen. Nur zu heuristischen Zwecken entscheidet er sich für das idealtypische Verfahren, wohl wissend, dass Handeln in der Realität als Mischform der Typen auftritt. So erhellend das idealtypische Verfahren sein kann, so verzerrend kann es sich auswirken. Erhellend ist es, weil es durch Überpointierungen konturenscharfe Typen bildet, die Handlungsmotivationen deutlicher erkennen lassen. Verzerrend ist es, weil es Monokausalität suggeriert, oder anders

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Kap. 3: Pluralismus der Rationalität

ausgedrückt: Komplexität reduziert. Das idealtypische Verfahren führt, könnte man sagen, zu einer Paradoxie: In dem Maße, in dem es Handlungsmotive verdeutlicht, wächst die Gefahr, dass es einen täuschenden Eindruck vom realen Geschehen vermittelt. Ich möchte in der beschriebenen Problematik eine Tücke idealtypischer Begriffsbildung sehen. Wenn auch Idealtypen die Orientierung erleichtern, Strukturmerkmale hervorheben und damit zu einem besseren Realitätsverständnis beitragen können, so ist die Kehrseite doch, dass sie das Geschehen verzerren und ihren analytischen Wert selbst relativieren können. Im Hinblick auf die Rationalitätstheorie hat die Bildung von Idealtypen den Nachteil, dass Webers Intention leicht missdeutet und das Potenzial der Rationalitätstheorie unterschätzt werden kann. Das Potenzial der Rationalitätstheorie sehe ich darin, dass sie auch Emotionalität und Traditionalität als mögliche Komponenten von Rationalität anerkennt und von einer Vielfalt rationalen Handelns ausgeht. Es gibt keine Hierarchie der Rationalitäten und keinen Universalismus einer bestimmten Rationalität, etwa der Zweckrationalität. Die Rationalitätstheorie betrachtet Rationalität als ein Zusammengesetztes und schärft das Bewusstsein für mögliche Rationalitätskonflikte. Sie ist so komplex und offen, dass sich noch heute daran anknüpfen lässt.

Kapitel 4

Pluralismus der Werte – die zweite Konsequenz Kaum ein Porträt Webers verzichtet darauf, ausführlicher auf sein Postulat der Werturteilsfreiheit einzugehen. Seine Forderung nach Trennung von Sein und Sollen, von Wissenschaft und Werturteil oder auch von Realität und Idealität gilt als originäre Leistung und zeitlos gültiges Vermächtnis, wenngleich das Pathos und die Leidenschaft, ja die Obsession, mit der Weber sein Postulat verficht, heutigen Interpreten als etwas befremdlich erscheint. Das Werturteilfreiheitspostulat ist, das möchte ich behaupten, in Überlegungen zu einer allgemeinen Theorie der Werte eingebettet; das Postulat ist nur ein Teil davon und nicht einmal der entscheidende.  In der Literatur wird dieser Punkt kaum gewürdigt, man beschränkt sich auf die Darstellung des Postulats oder auf die Darstellung des historischen Kontexts.1 Der inhaltliche Kern dieser Theorie, nämlich die Anerkennung eines Pluralismus der Werte, ist charakteristisch für Webers Denken und korrespondiert mit seiner Theorie der verschiedenen und gleichberechtigten Rationalitäten. Die Anerkennung des Pluralismus der Werte ist neben dem Pluralismus der Rationalität die zweite Konsequenz, die Weber aus der Erfahrung eines sich radikal verändernden Zeitalters zieht. Weber formuliert seine Wertetheorie nicht geschlossen in einem Stück; man muss sie kompilieren aus dem Wertfreiheits- und dem Objektivitätsaufsatz sowie dem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ und der „Zwischenbetrachtung“. Der Objektivitätsaufsatz lässt sich auch als Abhandlung über die (Un-)Möglichkeit universell gültiger Werte lesen. Der Wertfreiheitsaufsatz schließt aus der Unmöglichkeit der Begründung universeller Werte auf eine Wissenschaftsethik, die strikt zwischen Sein und Sollen trennt. „Wissenschaft als Beruf“ und die „Zwischenbetrachtung“ thematisieren Wertekonflikte bzw. die Kollision von Wertsphären. In der Konsequenz der These von der Unmöglichkeit universell gültiger Werte liegt, dass Weber keine direkte Empfehlung gibt, wie Konflikte und Kollisionen von Werten gelöst werden könnten. Es scheint so, als gehörten 1  Eine Ausnahme ist der Aufsatz „Polytheismus der Werte“ von Schluchter 1996, 223 ff.

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

diese Kollisionen für ihn „zum Leben“. Allerdings scheint er durchaus an eine diskursive Auflösung von Wertekonflikten zu denken. Er macht dazu sogar einen profilierten Vorschlag, der in der Literatur so gut wie gar nicht thematisiert wird (siehe unten). Die Frage der Werte beschäftigt Weber nicht erst in den genannten Schriften, sondern schon in den Landarbeiterstudien (1892) und in der Freiburger Antrittsvorlesung (1895). Bereits hier bringt Weber einen Grundgedanken seiner Theorie der Werte zum Ausdruck, nämlich dass Werte eine höchst individuelle Angelegenheit seien und ein Werturteil vom Wertmaßstab abhänge, der gewählt werde. Weber verarbeitet in spezifischer Weise den zeitgenössischen Verlust des Monopols bestimmter und ausschließlicher Werte. Anders als Carl Schmitt meint, fördert Weber aber nicht den angeblich herrschenden „Krieg der Werte“, indem er wie ein „Bellizist“ auf „Dezision“ drängt. Es geht ihm vor allem darum, Wertkonflikte „nüchtern“ als moderne Erscheinungen zu betrachten, nach ihren Gründen zu suchen und eine Lösung zu finden, indem zum Beispiel Kompromisse geschlossen werden. Die „Botschaft“ Webers ist nicht das Schüren von Wertkonflikten (wie es sich Carl Schmitt wünscht), sondern die Anerkennung der Vielfalt und der Differenz von Werten. Die Pointe seiner Theorie ist Werteoffenheit. Sie hat allerdings das Manko, dass nicht klar ist, wo die Grenzen ihrer Offenheit liegen. Es gibt für Weber keine zeitlos gültigen Werte, sondern vielmehr bildet nach seiner Überzeugung jede Kultur neue und eigene Werte, die nicht beanspruchen können, auch in anderen Kulturen gültig zu sein. Weber hält es zwar für richtig, für die Werte, die man für richtig hält, einzutreten, aber darf man dabei nicht den Anspruch erheben, die eigenen Werte als die allein gültigen anzusehen. Diese einleitenden Thesen möchte ich weiter ausarbeiten.

1. Wertbegriff und philosophischer Kontext Etymologisch ist der Begriff des Wertes erstmals im 8. Jahrhundert nachweisbar. Das Wort „Wert“ wird seinerzeit im Sinne von „Preis“ oder „Kostbarkeit“ verwendet (Seebold / Kluge 1999, 886). Im abgeleiteten Sinne bedeutet „Wert“ auch „Wertschätzung“, das „Wertsein“ einer Sache oder auch einer Person. Der Begriff des Wertes hängt eng mit dem Begriff des „Guts“ und des „Guten“ zusammen. Die „Güter“ sind die materielle Seite des Begriffs, das „Gute“ im Singular, die immaterielle Seite des Worts, meint die ethischen, die sozialen und die kulturellen Werte. Beispiele für die immateriellen Werte sind Mut, Tapferkeit, Ehre oder Ehrlichkeit als individuelle Werte, Freundschaft, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft als soziale Werte



1. Wertbegriff und philosophischer Kontext117

und als kultureller Wert die Bildung. Im Laufe der etymologischen Entwicklung bleiben beide Seiten der Bedeutung erhalten: Werte haben eine materielle und eine immaterielle Seite. Philosophiegeschichtlich betrachtet, tritt der Begriff des Wertes an die Stelle des Begriffs des Guten, ohne dass dieser allerdings verschwinden würde. Philosophie der Werte ist „Substitut oder funktionales Äquivalent für die alte praktische Philosophie“ (Gebhardt 1989, 38). Heidegger meint, Wert sei der „späteste und zugleich schwächste Nachkömmling des agathon“, also des platonischen Begriffs des Guten (vgl. HWPh 12, 556). Warum der Begriff des Wertes dominant wird und den Begriff des Guten an den Rand drängt, hängt vermutlich damit zusammen, dass kaum Konsens darüber zu erzielen ist, was das „Gute“ sei. Dagegen hat der Wertbegriff den Vorteil, im Plural verwendet werden zu können. Diesen Vorzug teilt er mit dem Begriff der Rationalität, der antritt, den Begriff der Vernunft zu ersetzen (dazu das vorhergehende Kapitel). Entscheidend für die Verbreitung des Wertbegriffs in der Philosophie Ende des 19. Jahrhunderts ist der Einfluss der Nationalökonomie. Sie ist die erste Disziplin, die den Wertbegriff zu einem wissenschaftlichen Terminus macht. Allerdings werden in der Nationalökonomie Werte nur in einem materiellen Sinne verstanden, als „Gegenwert“ für etwas, als Maßeinheit für Qualität. Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften folgen der Nationalökonomie in der Aufnahme des Wertbegriffs, verstehen ihn aber vor allem in einem immateriellen Sinne.2 Eine Schlüsselfigur für die Integration des Wertbegriffs in die Philosophie ist Hermann Lotze (1817–1881). In seinem dreibändigen Werk „Mikrokosmos“ versucht er, die empirischen Naturwissenschaften mit der spekulativen Philosophie zusammenzuführen. Lotze hält fest an der Vorstellung von der Geschichte als einem sinnvollen und zielgerichteten Prozess, stützt sich dabei allerdings nicht auf Hegels Geschichtsphilosophie. Lotze konstatiert trotz des offensichtlich vorhandenen „Sinns in der Geschichte“ ein metaphysisches Vakuum. Die Wertphilosophie soll dieses auffüllen. Wertphilosophie definiert er als „Weltanschauung“, die das Wesentliche und Wertvolle vom Unwesentlichen und Gleichgültigen zu unterscheiden helfe (vgl. Schnädelbach 1983, 209). Im Anschluss an Lotze entstehen drei Strömungen von Wertphilosophie: die neukantianische, die phänomenologische und die lebensphilosophische Richtung. Die Wertphilosophie erlebt damit einen Aufschwung. Von der 2  Vertiefend zu diesem Komplex neben dem Aufsatz von Gebhardt (1989) und dem Artikel im HWPh die Studie von Joas (1999), die der „Entstehung“ von Werten nachgeht. Nach Joas werden Werte sozialisatorisch vermittelt, zum anderen sind sie Folge einer „reflexiven Aneignung“.

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

Jahrhundertwende bis etwa in die 1930er Jahre ist Philosophie in weiten Teilen Wertphilosophie. Um nochmals Heidegger zu zitieren: Er erwähnt in seiner „Einleitung in die Metaphysik“ (1935) eine Bibliographie zum Wertbegriff aus den 20er Jahren mit 661 Titeln und meint, inzwischen seien es wohl 1000. „Das alles nennt sich Philosophie.“ (1983, 208).

2. Auf dem Weg zu einer eigenen Position Ein Beispiel, das für Weber eine Rolle spielt, ist die heute weitgehend vergessene „Philosophie der Werte“ von Hugo Münsterberg. Weber kennt nicht nur dieses 1908 veröffentlichte Werk, sondern auch Münsterbergs psychologische Studien, vor allem die „Grundzüge der Psychologie“ (1900), denen er große Bedeutung beimisst. Münsterberg ist ihm aus der gemein­ samen Freiburger Zeit bekannt. Münsterberg (1863–1916) ist einer der Mit­ organisatoren des „International Congress of Arts and Science“ 1904 in St. Louis, den Weber besucht (vgl. Kap. 7). Bereits 1897 erhält Münsterberg auf Vermittlung von William James eine Professur an der Harvard-Univers­ ity in Boston. Er gilt als Begründer der Arbeits- und Organisationspsychologie und entwickelt die ersten Berufseignungstests. Münsterberg wirbt Weber für zwei Artikel in der Enzyklopädie „The Americana“, die 1905 erscheinen. Dort schreibt Weber über „Agriculture and Forestry“ und über „Industries“. Beide Artikel wurden erst in jüngerer Zeit als Arbeiten Webers identifiziert.3 1904 legt Münsterberg ein zweibändiges Werk über die Vereinigten Staaten vor, das Weber zur Vorbereitung seiner Amerikareise liest. Die „Philosophie der Werte“ trägt den Untertitel „Grundzüge einer Weltanschauung“. Das Buch handelt von „Daseinswerten“, „Zusammenhangswerten“, „Einheitswerten“, „Schönheitswerten“, „Entwicklungswerten“, „Leistungswerten“, „Gotteswerten“ und „Grundwerten“. Münsterberg schreibt auch über „Naturwerte“, zu denen er die Seele zählt. Im „Vorwort“ erwähnt er Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ als Referenzschrift. Es sei an der Zeit, so Münsterberg, den „reinen Glauben an die ewigen Werte“ zu erneuern (1908, I). Was dem Philosophieren fehle, sei ein „in sich geschlossenes System der reinen Werte“. Münsterberg glaubt, in der Entwicklung eines solchen Systems die Philosophie aufs Neue zu einer „wirklichen Lebensmacht“ machen zu können, worin die Naturwissenschaft sie abgelöst habe (1908, II). 3  Vgl. die „Einleitung“ von Bube  / Hanke 2005 im „Ergänzungsheft“ zu MWG I / 8, 1 ff. sowie Roth 2007, 65 ff. Weber wirbt in seinen Artikeln u. a. dafür, den rasch wachsenden deutschen Industriestaat in die Weltwirtschaft zu integrieren. Er denkt dabei vor allem an eine Mäßigung der Zölle und an Handelsverträge. Diese Vorschläge stehen in Opposition zur Hochzollpolitik etwa in England und dem Streben der Staaten nach Autarkie.



2. Auf dem Weg zu einer eigenen Position119

Während Weber die meisten anderen Schriften Münsterbergs lobt und ihn den „bedeutendsten philosophischen Kopf der Psychologen“ nennt,4 hält er vom Anliegen der „Philosophie der Werte“, um es vorsichtig auszudrücken, nicht allzu viel. Nur kurz, aber deutlich geht Weber darauf in einem Brief an seine Frau ein und nennt es „Unfug“, ethische Normen als logisch beweisbar und damit als allgemeingültig anzusehen (Brief v. 15. März 1908; MWG II / 5, 455). Auch das „Diskutieren“ der Berechtigung von ethischen Normen scheint in den Augen Webers nicht weiterzuführen. Allerdings wird er genau dafür vor allem im Wertfreiheitsaufsatz ein Modell vorschlagen (dazu später). Eine größere, bis heute anhaltende Aufmerksamkeit als Münsterbergs „Philosophie der Werte“ erreicht Max Schelers Buch „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“. Das Werk, ein weiteres Beispiel für den Diskurs der Werte um die Jahrhundertwende, erscheint zunächst in zwei Teilen 1913 und 1915 im „Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung“, dessen Mitherausgeber Scheler ist. Als geschlossene Publikation erscheint es 1916. Wie gründlich sich Weber mit dem Buch beschäftigt, ist nicht überliefert. Schelers Begriff der „Erfolgsethik“, den dieser als Gegenbegriff zur „Gesinnungsethik“ benutzt, nimmt Weber in seinen Briefen bei seinen Überlegungen zur „Verantwortungsethik“ auf. Während Scheler unter „Erfolgsethik“ ein menschliches Handeln versteht, das sich nicht an der subjektiven „Gesinnung“, sondern am allgemeinen Handlungserfolg orientiert, scheint Weber die „Erfolgsethik“ mit der „Gesinnungsethik“ zu identifizieren; ganz eindeutig lässt sich dies aber nicht klären (vgl. dazu auch Kap. 6). Scheler geht es in seinem Buch um eine „Kritik des Formalismus in der Ethik“, wie er in seiner „einleitenden Bemerkung“ schreibt (1954, 29). Als „formalistisch“ betrachtet er die Ethik Kants, der er zugleich höchste Anerkennung zollt. Er glaubt allerdings, dass dieser glänzende „Koloss aus Stahl und Bronze“ der Philosophie den Weg zu einer von aller geschichtlichen Erfahrung unabhängigen „Lehre von den sittlichen Werten“ versperre. Diese Werte sieht Scheler in einer spezifischen „Rangordnung“ stehen (1954, 30). Damit sind zwei Punkte benannt, an denen Weber sich in seiner Theorie der Werte reiben und dazu Gegenposition beziehen wird: zum einen die von Scheler behauptete kontext- und erfahrungsunabhängige Gültigkeit von Werten und zum anderen deren angebliche Rangordnung oder Rangfolge. 4  So in einem Brief an seinen Bruder Alfred (v. 9. November 1912; MWG II / 7, 2. Hb., 737), in dem es um eine mögliche Berufung Münsterbergs geht. Unter „Philosophie“ versteht Weber in diesem Brief übrigens „scharf (zu) denken“ (MWG II / 7, 2. Hb., 738).

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

Zentral für die Entwicklung der eigenen Theorie der Werte sind für Weber die Schriften des südwestdeutschen Neukantianismus, vor allem die Arbeiten von Heinrich Rickert. Vermutlich noch nachhaltiger wirkt das Werk von Nietzsche, der mit seiner Parole von der „Umwertung aller Werte“ wohl entscheidend zur Verbreitung des Wertbegriffs beiträgt. Eine wichtige Rolle spielt auch Nietzsches „Genealogie der Moral“. Dort führt er aus, welche neuen Werte an die Stelle der alten gesetzt werden sollen und warum die aus seiner Sicht „lebensfeindliche“ Moral der „Schwachen, Beladenen, Missratenen“ eliminiert werden müsse. Heinrich Rickert ist Schüler von Wilhelm Windelband. Windelband (1848–1915) stellt Lotzes Wertphilosophie in einen transzendentalphilosophischen Bezugsrahmen. Ihm geht es um eine Philosophie der absoluten und allgemeingültigen Werte. Rickert folgt ihm dabei im Wesentlichen. Rickerts Philosophie richtet sich so gut wie gegen alle Denkrichtungen – gegen Lebensphilosophie und Naturalismus, angloamerikanischen Pragmatismus und Historismus. Als philosophische Autorität lässt er nur Kant gelten, dessen kritisches Prinzip und transzendentalen Idealismus er weiterzubilden beabsichtigt. Rickerts Philosophie lässt sich in eine kritizistische Frühphase und eine neuidealistische Spätphase teilen. In der Frühphase beschäftigt er sich vornehmlich mit erkenntnistheoretischen Fragen, im Spätwerk sucht er ein System an sich geltender, transsubjektiver Werte zu entwickeln (Schnädelbach 1983, 222). In „Grundprobleme der Philosophie“ (1934) nennt er seinen Standpunkt einen „aktivistischen Idealismus der Freiheit“ (zit. Bast 1999, XXX). Charakteristisch für Rickerts Philosophie ist das heterologische oder heterothetische Denkprinzip, das sich als ein Denken in Alternativen umschreiben lässt (Bast 1999, XV). Es gibt das Eine und das Andere. Beides ist positiv bestimmt und konstituiert eine Einheit. Das heterothetische Denken unterscheidet sich vom dialektischen Denken, das die (negativen) Gegensätze betont. Rickerts Heterologie zielt, könnte man vielleicht sagen, auf eine Einheit in der Verschiedenheit. Rickert vertritt so etwas wie einen „ontologischen Pluralismus“. Zentralbegriff seiner Philosophie sind die Werte. Darunter versteht er eine „Wirklichkeit, die nicht nur darin aufgeht, zu sein, sondern an der ein Wert haftet, um dessentwillen sie sein soll“ (Rickert 1999a, 40). Werte bilden nach Rickert ein eigenes Reich jenseits von Subjekt und Objekt. Sie formulieren über das bloße Sein hinaus einen Anspruch, und ihr „Sein“ ist das „Gelten“. Aufgabe der Philosophie ist nach Rickert, ein System der Werte zu entwickeln, das nach dem heterothetischen Prinzip aufgebaut ist. Rickert handelt allerdings seinem Anspruch zuwider, wenn er Werte bestimmten Sphären zuordnet und diese in eine spezifische Rangfolge rückt. Statt ein



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offenes System der Werte zu entwickeln, neigt er dazu, Werte material auszudeuten und damit sein an sich offenes System zu verschließen. Webers Interpreten sind sich weitgehend einig über den nachhaltigen Einfluss Rickerts auf Weber (Ollig 1982; Rossi 1987; Merz 1990). Weber übernimmt dessen Betonung der konstitutiven Bedeutung von Werten und entwickelt im Anschluss an Rickert den Begriff der „Wertbeziehung“, der den zentralen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften markiert. In „Werten“, „Idealen“ oder „Ideen“ – Weber benutzt diese Begriffe synonym, und letztlich meint auch Rickert nichts anderes – sieht Weber das zentrale Antriebsmoment für menschliches Handeln. Wie noch zu zeigen sein wird, rückt Weber allerdings in einem wichtigen Punkt von Rickert ab: Er teilt nicht die Vorstellung einer spezifischen Rangordnung von Werten. Jede Priorisierung oder Hierarchisierung von Werten lehnt er ab. Rossi (1987, 25 ff.) und insbesondere Merz (1990) haben die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Rickert und Weber zusammengestellt. Die zentrale Gemeinsamkeit besteht darin, dass Weber wie Rickert von der Position eines erkenntnistheoretischen Subjektivismus ausgehen; eine Erkenntnis der Wirklichkeit ist nur partiell möglich. Die zentrale Differenz besteht darin, dass Rickert von bestimmten übergeordneten Werten ausgeht, Weber jedoch von ihrer prinzipiellen Gleichrangigkeit. Nietzsche Einfluss auf Weber ist in der Literatur häufig thematisiert worden. Die Arbeiten von Mommsen (1959 / 2004 und bes. 1974), Fleischmann (1964) und vor allem Hennis (1987, 167 ff.) sind dafür Beispiele. Während Mommsen Webers Position als einen „mit nietzscheanischen Grundsätzen aufgefüllten Neukantianismus“ deutet (1974, 147), sieht Fleischmann in Weber einen „Testamentsvollstrecker Nietzsches“ (1964, 219). Hennis teilt diese Sicht und sieht in den Bezugnahmen Webers auf Rickert nur „neukantianischen Zierat“. Weber habe dessen Philosophie lediglich als notwendigen Arbeitsschritt betrachtet, um einen anderen, den nietzschenanischen Weg zu gehen. Zwischen Nietzsche und Weber sieht er eine Verbindung im Denkmotiv, welches in der Frage bestehe, wie die „Verkleinerung“ und „Vermittelmäßigung“ des Menschen unter dem Einfluss von Christentum, Demokratie und Liberalismus „aufgehalten“ werden könne (1987, 176 f.). Nicht unbedingt offen ausgesprochenes Grundmotiv einer Reihe von Hennis’ WeberAufsätzen ist, Weber ein Ressentiment oder zumindest eine kritische Distanz gegenüber der „Moderne“ zu unterstellen. Die angebliche Kongenialität von Nietzsche und Weber dient ihm dazu, dies zu orchestrieren. Gleichwohl teile ich im Wesentlichen Hennis’ These vom nachhaltigen Einfluss Nietzsches und werde dafür selbst weitere Belege bringen, die über die von Hennis erbrachten Nachweise hinausgehen (vgl. vor allem Kap. 8 und schon Kap. 2). Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Nietz-

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

sches Einfluss auf Weber im Allgemeinen und auf seine Theorie der Werte im Besonderen philologisch außerordentlich schwierig nachzuweisen ist. Nur an wenigen Stellen bezieht sich Weber ausdrücklich auf Nietzsche. Erwähnenswert ist eine längere Passage in der Einleitung seiner vergleichenden Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (RS I, 241–249). Weber setzt sich hier kritisch mit der These von der Geburt der Moral aus dem Ressentiment auseinander, die Nietzsche in der 1. Abhandlung seiner „Genealogie der Moral“ formuliert. Weber nennt die „Genealogie“ zwar einen „glänzenden Essay“, aber Nietzsches Erklärung für das Entstehen von Ethik und Moral weist er als unzureichend zurück. Nietzsches Vorgehen erscheint ihm als ebenso fragwürdig wie die Religionskritik des Historischen Materialismus. Er wirft Nietzsche Reduktionismus vor und sieht in Nietzsches „fröhlicher“ keine seriöse Wissenschaft. In der Religionssoziologie innerhalb von „Wirtschaft und Gesellschaft“ bezieht sich Weber erneut auf Nietzsche. Auch hier ist es der Ressentimentbegriff, der ihm im Rahmen seiner eigenen Forschungen fruchtbar zu sein scheint. Weber benutzt den Ressentimentbegriff, um das Entstehen von Erlösungsreligionen plausibel zumachen (WG, 301  ff.). Scharfe Kritik an Nietzsche übt er in dem Aufsatz „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“. Dort weist er Nietzsches Wort von den „Viel zu Vielen“ als elitäre Variante individualistischen Denkens zurück (PS, 285). Wenn Weber sich ausdrücklich auf Nietzsche bezieht, stößt man auf ein bestimmtes Rezeptionsmuster: Nietzsche ist für ihn derjenige, der zwar die „richtigen“ Fragen stellt, aber häufig die „falschen“ Antworten gibt. Trotzdem scheint der Einfluss Nietzsches, gerade auch der versteckte, der sich aber eben, wie gesagt, philologisch nicht eindeutig nachweisen lässt, gewichtig zu sein. Wie für viele Zeitgenossen ist Nietzsche für Weber der Philosoph der Krise, der mit den tradierten Ordnungen des Denkens bricht und den Anspruch erhebt, nach der Umwälzung des moralisch bislang Gültigen, der „Umwertung aller Werte“, eine neue Welt zu bauen. Nietzsche zieht in Zweifel, „was die Philosophie im Verlaufe ihrer Geschichte an Kategorien des Begreifens von Welt und Selbst hervorgebracht hat: Wahrheit, Freiheit, Gesetz, Identität, Kausalität, Gut und Böse“ (Himmelmann 2006, 7). An die Stelle einer angeblich verweichlichenden Moral will er die Immoralität setzen, die Macht der „Wenigen“, der starken Individuen, der „Übermenschen“. Seine „Lust am Neinsagen“, am „Zergliedern“, an einer „gewisse(n) … Grausamkeit“, so Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse (KSA 5, Nr. 210, 143), zieht all jene an, die auf die herrschende Werteordnung, abgestoßen, herabblicken oder die schlicht nach Orientierung suchen in einer Zeit des Umbruchs. Nietzsches Philosophie wirkt damit wie eine Art Religion, wie ein Trost und Kompensationsangebot. Der Philosoph erscheint als „Stifter eines neuen Glaubens“ (Gerhardt 2006, 13).



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Georg Simmel veröffentlicht 1902 in der amerikanischen Zeitschrift „International Monthly“ den Aufsatz „Tendenzen im deutschen Leben und Denken seit 1870“. Hier spricht er von einem besonderen „Zauber“, der von Nietzsche ausgehe. Das Epochenbewusstsein sieht Simmel charakterisiert durch „das Fehlen eines letzten Ziels und folglich eines Ideals, welches das ganze Leben bestimmt“ (Simmel 1990, 20). Diese metaphysische Leere will in den Augen Simmels Nietzsches Philosophie beheben. Seine „gesamte Lehre“, meint Simmel, beruhe „auf der Überzeugung von dem natürlichen Abstand zwischen den Menschen“. Die 1. Abhandlung der „Genealogie“ paraphrasierend, schreibt Simmel, jeder „idealistische Versuch“, die Mehrheit, sprich: die „Mittelmäßigen“ und „Zurückgebliebenen“ in den Blickpunkt des Interesses zu stellen, „muss zu einer Degeneration der Gattung führen“ (1990, 25). Nach Simmel zieht Nietzsche die einzig richtig Konsequenz, wenn er auf die starken und hoch entwickelten Persönlichkeiten setze. Dass Nietzsches Lehre so große Resonanz finde, führt Simmel auf dessen Programm der Umwälzung der bisherigen Moral zurück. Weil „die Jugend“ nach dem Schranken- und Grenzenlosen strebe, schare sie sich um den „Antichristen“ (1990, 27). Simmel spielt für Webers Nietzsche-Rezeption eine besondere Rolle. Er veröffentlicht 1907 unter dem Titel „Schopenhauer und Nietzsche“ ein Buch, das einen Zyklus von acht Vorträgen enthält. Das Buch erscheint 1920 in zweiter und 1923 in dritter Auflage. Webers Exemplar dieser Veröffentlichung ist erhalten geblieben und befindet sich im Max Weber-Archiv in München. Der erste und die beiden den Band beschließenden Vorträge behandeln Nietzsche. Verschiedene Interpreten weisen auf die Bedeutung des Buches für Weber hin.5 Allerdings dürfte es doch nicht so bedeutend sein, dass es die Lektüre von Nietzsche im Original ersetzt hätte. Webers Randbemerkungen lassen offensichtlich darauf schließen, dass er vor allem Nietzsches Theorie der „großen“ und „heroischen“ Männer für bedeutsam hält. In Simmels Buch finden sich dazu Ausführungen im letzten Vortrag über „Die Moral der Vornehmheit“. Nicht einverstanden mit Nietzsche scheint Weber in den Punkten zu sein, in denen dieser die große Einzelpersönlichkeit gegen die dumpfe „Masse“ ausspielt bzw. den Eindruck erweckt, er bedürfe dieser, um sich seiner eigenen „Herrenstellung“ zu vergewissern. Nietzsches Vergötterung der „Macht“ scheint Weber deshalb nicht zu teilen, weil dieser eine Konkretisierung ihrer ideellen Zielsetzungen vermissen lässt (Mommsen 1974, 261 f.). 5  Baumgarten (1964, 614 f.), Mommsen (1974, 254 f., 261 f.) und Hennis (1987, 173 f.).

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In seinem Aufsatz über „Die Spuren Nietzsches im Werk Max Webers“ weist Hennis zwar auf Webers „überaus sorgfältige“ Lektüre des SimmelBuches hin (1987, 173), geht aber nicht der Frage nach, welches Bild von Nietzsche Simmel eigentlich zeichnet. Interessant wäre auch zu erfahren, ob es Simmels Interpretation ist, die Webers Nietzsche-Bild prägt oder jedenfalls beeinflusst. Simmel stützt seine Nietzsche-Interpretation insbesondere auf die „Genealogie der Moral“. Er zeichnet das Bild eines radikalen Moral- und Kulturkritikers, der aber nicht die Moral als solche verabschiede, sondern „nur“ nach einer neuen rufe. Philosophen haben nach Simmel nicht die Aufgabe, die herrschenden Werte zu bestätigen, sondern neue zu setzen (Simmel 1990, 301). Nietzsche wiedergebend und zugleich die eigene Position darstellend, meint Simmel, die neue Moral müsse sich nach den Werten der „Stärkeren“ richten, denn die Moral der Schwachen habe ja gerade zum kulturellen Niedergang geführt. Simmels Nietzsche-Bild ist affirmativ, lediglich über dessen Kritik des Christentums meint er, diese schieße über das Ziel hinaus. Den Unterschied zwischen Christentum und der Philosophie Nietzsches hält Simmel für eher marginal. Während das Christentum die Erlösung ins Jenseits verlege, strebe Nietzsche das „höhere und wesentliche“ Leben bereits im Diesseits an (1990, 266 f.). Keiner dieser Punkte findet direkt bei Weber Niederschlag. Wenn man allerdings an Webers Freiburger Antrittsvorlesung denkt, dann ist doch deutlich Nietzsches Ton herauszuhören. „Nicht das Wohlbefinden der Menschen, sondern diejenigen Eigenschaften möchten wir in ihnen emporzüchten, mit welchen wir die Empfindung verbinden, dass sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen.“ (PS, 12 f.)

Weber schließt seinen Vortrag mit einer Beschwörung der „großen Nation“ der Deutschen, die sich dann bewähren könne, wenn „ihre führenden Schichten sich hinaufzuheben vermögen in die harte und klare Luft, in welcher die nüchterne Arbeit der deutschen Politik gedeiht“ (PS, 25). Hier klingt, in modifizierter Form, Nietzsches „Moral der Vornehmheit“ an. Darunter versteht Nietzsche eine Art Hingabe an die eigene „Natur“, an die „Triebe“. Vornehmsein heißt bei Nietzsche „Natürlichsein“ (Caysa 2000, 292 f.). Wichtig ist bei Nietzsche eine Differenz, die Weber, jedenfalls in dieser polarisierenden Weise, nicht mitmacht: Nicht jeder kann „vornehm“ sein, dies bleibt, wie es in der „Fröhlichen Wissenschaft“ heißt, den „starken, herrschsüchtigen Naturen“ vorbehalten (KSA 3, Nr. 290, 530). Simmel setzt bei seiner Interpretation von Nietzsches „Vornehmheit“ einen anderen Akzent. Der Autor der „Philosophie des Geldes“ betrachtet Nietzsches neue „Moral“ durch die Brille der eigenen Forschungen. Er interpretiert die Vornehmheit als einen spezifischen Lebensstil, der den tägli-



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chen Kämpfen und Zwängen enthoben und vor allem dem Einfluss der „Geldwirtschaft“ entzogen ist (Simmel 1990, 311). Gerade diesen Teil der Simmelschen Nietzsche-Interpretation scheint Weber zu schätzen, jedoch wohl nicht wegen der eigenwilligen Akzentuierung, sondern wegen des Grundgedankens von Nietzsche. In einem Brief an seine Doktorandin Else Jaffé nennt Weber die „Moral der Vornehmheit“ das „Dauernde in Nietzsche“. Zugleich aber distanziert er sich von Nietzsches „biologischen Verbrämungen, die er um den Kern seiner durch und durch moralistischen Lehre häuft“ (Brief v. 13. September 1907; MWG II / 5, 402). Zwei andere Punkte der Simmelschen Nietzsche-Interpretation korrespondieren mit der grundsätzlichen Haltung Webers zum Thema der Werte. Weber wird sie zwar wohl kaum Simmel entnommen haben, aber sie bestärken seine eigene Position. 1. Werte sind niemals „gegeben“, sondern werden „gemacht“. Sie haben weder ein „Wesen“, noch sind sie zeitlos gültig. Werte können keine „Objektivität“ beanspruchen. Es gibt damit auch keine „objektive“ Werteordnung. 2. Werte wurzeln im einzelnen Menschen. Sie „sind“ aufgrund individueller Wertschätzungen. Werte werden zwar geteilt, allerdings sind sie nicht „für alle“ gültig. Sie müssen sich in Konkurrenz mit anderen Werten bewähren. Es gibt offensichtlich „Kämpfe um Werte“. Den ersten Punkt leitet Simmel aus Nietzsches Begriff der Historie ab. Nietzsche deutet Geschichte im Gegensatz zu allen Formen hegelianischer Geschichtsphilosophie als ein Geschehen ohne Sinn und Zweck. Die Vorstellung, Geschichte sei ein spezifischer Geist oder ein spezifisches Bewegungsgesetz inhärent, das für eine zielgerichtete Entwicklung sorge, lehnt Nietzsche als metaphysische Konstruktion ab. Nicht als Fortschritt, sondern pessimistisch als Verfallsgeschichte deutet Nietzsche die Geschichte, so etwa in der „Geburt der Tragödie“ oder in „Jenseits von Gut und Böse“ (vgl. vor allem KSA 5, Nr. 203, 126 ff.). Trotzdem muss es nicht notwendig zum Verfall kommen. Nietzsche sieht hier vielmehr eine neue Aufgabe für diejenigen, die die „Verthierung des Menschen zum Zwergthiere“ durchschauen (KSA 5, Nr. 203, 127 f.). Simmel betont in seiner Interpretation die Kontingenz des Geschichtsprozesses, um die es Nietzsche gehe. Er nennt dies die „Unruhe der Endlosigkeit“, die einhergehe mit der „Unmöglichkeit des Überschauens“ (Simmel 1990, 332). Geschichte ist für Simmel, mit Nietzsche, ein „endloses Werden“. Auf diese Vorstellung von Geschichte trifft man auch bei Weber. Immerzu betont er die Offenheit des Geschichtsprozesses, seine Unabgeschlossenheit, und ebenso hält er es für ausgeschlossen, eine zuverlässige Prognose über den Geschichtsverlauf anzustellen. Simmel meint, Nietzsche

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setze an die Stelle des angeblich einen Ziels den Wechsel der Ziele (Simmel 1990, 332). Weder gibt es „ewige“ Ziele noch „ewige“ Werte. Weber teilt auch diese Grundüberzeugung. Der zweite Punkt hängt mit dem ersten eng zusammen. Wenn es keine „ewigen“ Ziele und keine „ewigen“ Werte gibt, dann heißt dies, dass es in der Macht der jeweiligen Menschen steht, sich selbst Ziele und Werte zu geben. Simmel arbeitet die These aus, dass Werte der individuellen Willkür und rein persönlicher Überzeugung unterliegen. Bei Nietzsche folgt nach Simmel dieser Gedanke aus dessen Begriff des Lebens (Simmel 1990, 309). Simmels Ausführungen sind in diesen Passagen nicht sonderlich klar. Er bezieht sich auch kaum auf Ausführungen Nietzsches. Textbelege gibt es nicht. Aber deutlich wird schon, worum es ihm geht: allen metaphysischen Spekulationen über ein angeblich zeitloses Gelten von bestimmten Werten oder Moralen den Boden zu entziehen, stattdessen mit Nietzsche ihre Zufälligkeit und Willensabhängigkeit zu betonen, um auf diese Weise den Weg zu ebnen für die Wahrnehmung der Aufgabe, neue Werte und eine neue Moral zu schaffen. Weber ist in diesem Punkt wesentlich zurückhaltender. Zwar enthält die Antrittsvorlesung einen Satz, der sich im Sinne einer gebotenen Neukrea­tion von Werten und Moral lesen lässt: „Wir, mit unserer Arbeit und unserem Wesen, wollen die Vorfahren des Zukunftsgeschlechts sein.“ (PS, 13). Aber die Antrittsvorlesung ist in diesem Punkt wie in ihrer chauvinistischen und teilweise sozialdarwinistischen Sprache eine Ausnahme. Weber hätte sich vermutlich auch kaum mit Nietzsches Programm einer Moral von „Übermenschen“ identifizieren können, bei aller Wertschätzung von großen und starken Individuen. Aber er teilt die These vom Kontingenzcharakter und vom Personalismus der Werte, aus dem sich ergibt, was Weber in seiner Theorie der Werte den „Polytheismus der Werte“ nennt. Dazu werde ich jetzt kommen.

3. Überlegungen zu einer Theorie der Werte: allgemein Weber hat keine ausformulierte, zusammenhängende Theorie der Werte, sondern er stellt nur Überlegungen zu einer solchen an. Im Wertfreiheitsaufsatz spricht er selbst von „in größter Kürze angedeuteten werttheoretischen Ausführungen“ (WL, 508 f.). Gerade in diesem Aufsatz, dessen vollständiger Titel lautet: „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, hätte man eine „geschlossene“ Theorie der Werte erwarten können, aber Weber handelt in diesem Aufsatz primär vom Postulat der Wertfreiheit. Die Schrift hat damit einen vor allem methodologischen Charakter. Allerdings heben sich gerade die Passagen des Textes, die Weber



3. Überlegungen zu einer Theorie der Werte: allgemein127

als „werttheoretische Ausführungen“ bezeichnet, davon ab. Weber hat diese Absätze nachträglich eingefügt. Vom Wertfreiheitsaufsatz existieren zwei Fassungen, eine von 1913, die Weber anlässlich des Werturteilsstreits im „Verein für Sozialpolitik“ ausarbeitet, und eine von 1918, die er im „Logos“ veröffentlicht. Die „werttheoretischen Ausführungen“ sind nur in dieser letzten Fassung enthalten. Sie haben mehr grundsätzlichen Charakter und heben nicht allein auf die „Wertfreiheit“ ab; Weber zieht hier eine Art Fazit seiner wertetheoretischen Überlegungen. Er konstatiert die Existenz unterschiedlicher Wertsphären und betrachtet ihr Verhältnis zueinander. Als Signum des Zeitalters behauptet er einen angeblich „unüberbrückbaren“ Konflikt der Werte, der aber vielleicht doch in konstruktive Bahnen gelenkt werden könne. Ihn interessiert die Dynamik von Werten als Geschichte vorantreibende Faktoren. Die Absätze haben auch einen aufrüttelnden Charakter. Weber will endlich die aus seiner Sicht müßige Diskussion über „Wertfreiheit“ hinter sich lassen und den Blick auf das „Eigentliche“ lenken: die Differenz und den Antagonismus von Werten, den es in der „menschlichen Brust“ auszuhalten gelte (auf die Passagen komme ich nochmals zurück). An rund 20 Stellen in seinem Werk finden sich wertetheoretische Ausführungen. Neben dem Wertfreiheits- und dem Objektivitätsaufsatz enthalten die „Vorbemerkung“ und die „Zwischenbetrachtung“ im ersten Band der Religionssoziologie und der Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ wertetheoretische Überlegungen. Einige der dortigen Formulierungen enthält bereits, zum Teil wortwörtlich, die kleine Schrift „Zwischen den Gesetzen“ von 1916 (PS, 143–145). Ich spreche bewusst im Plural von Theorie der Werte bzw. von wertetheoretischen Überlegungen, denn die These der Existenz einer Vielzahl von Werten, die miteinander in Konflikt geraten können, ist ein wichtiger Baustein von Webers Theorie der Werte. Zentral für die Theorie ist neben dem Wertfreiheitsaufsatz gerade auch der zeitlich früher verfasste Objektivitätsaufsatz von 1904. Dieser Text, gegliedert in vier Teile, hat verschiedene und insgesamt drei Aspekte. Er enthält, was ich in Kap. 7 Webers „nichtphilosophische Philosophie“ nennen werde. Diese pragmatistisch imprägnierte „Philosophie“ hängt eng mit der Theorie der Werte zusammen; sie ist in gewisser Weise eine Konsequenz daraus. Zum zweiten handelt es sich um einen „programmatischen“ Text insofern, als er das Redaktionsprogramm für das von Weber mit herausgegebene „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ enthält. Schließlich entwickelt Weber im letzten Teil des Aufsatzes Grundlinien seiner Theorie der Werte. Zunächst ist auf einige wertetheoretische Grundgedanken aufmerksam zu machen, die bereits die Studie „Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ (1892) und die Freiburger Antrittsvorlesung „Der National-

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

staat und die Volkswirtschaftspolitik“ (1895) enthalten. Dass schon diese beiden Texte das Wertthema behandeln, das Weber bis zuletzt beschäftigt, zeugt nicht nur von werkgeschichtlicher Kontinuität, sondern deutet auch auf eine thematische Zentralität für Weber hin. Die Landarbeiterstudie (MWG I / 3, 2 Halbbände) behandelt die Auswirkungen des aufkommenden Kapitalismus im deutschen Osten. Das fast 900 Seiten umfassende volkswirtschaftliche Erstlingswerk entsteht innerhalb eines Jahres und begründet Webers Ruf als Experte in Agrarfragen. Weber diagnostiziert den Zerfall der partriachalischen Bewirtschaftungsform und eine beginnende Proletarisierung der Landarbeiter. Die Konzentration des Kapitals bietet ihnen, so Weber, kaum mehr eine Chance, eine selbständige Existenz zu führen. In der Konsequenz wandern viele in die Industriegebiete des Westens ab oder sogar nach Übersee aus. Ihre Stellen nehmen Wanderarbeiter aus Polen ein, deren Arbeitskraft billiger ist, weil sie nur im Sommer entlohnt werden müssen. Sie leben in primitiven Behausungen und drücken das Lohn- und Kulturniveau. Die „Polonisierung“ des Ostens betrachtet Weber mit Sorge. Sie liegt zwar im Interesse der Großgrundbesitzer, denn sie können so die wirtschaftliche Produktivität und damit ihre Gewinne steigern. Aber das staatspolitische Interesse an einer homogenen und heimattreuen Landbevölkerung wird konterkariert. Auch stehen die Männer vom Land nicht länger als Reservoir für die Wehrmacht zur Verfügung. Für das Wertethema ist die „Landarbeiterstudie“ deshalb von Bedeutung, weil Weber erstmals auf den Konflikt zwischen zwei Wertinteressen zu sprechen kommt. Das Wertinteresse der Großgrundbesitzer an einer Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität kollidiert mit dem nationalen Inte­ resse des Staates an einer dichten und heimattreuen, verteidigungsbereiten Bevölkerung. In der Freiburger Antrittsvorlesung greift er diese Argumentation auf. Auffallend ist die Formulierung „Chaos von Wertmaßstäben“ (PS, 11). Dies meint Weber jedoch nicht in einem abwertenden Sinne. Es geht ihm vielmehr um einen anderen Punkt: Er handelt drei Wertideale ab, die miteinander kollidieren: erstens: Produktivität, zweitens: „die Nation“, drittens: das eudämonistische Wertideal bzw. die Ethik im Allgemeinen. Scheinbar auf eine scharfe Kritik der Letzteren will Weber hinaus. Die Antrittsvorlesung zieht die politischen Konsequenzen aus der „Landarbeiterstudie“: Weber bestimmt die Nation als obersten Wert der Volkswirtschaftspolitik, dem sich alles unterzuordnen habe. Bemerkenswert ist, mit welcher Vehemenz er die „ethische“ Nationalökonomie kritisiert. Sie sei nichts anderes als „ein Sinnen über Rezepte für die Beglückung der Welt“ und diene einzig und allein der „Besserung der Lust-



3. Überlegungen zu einer Theorie der Werte: allgemein129

bilanz des Menschendaseins“ (PS, 12). Seine Kritik mündet in ein Bekenntnis nicht nur zum starken Nationalstaat, sondern auch zu einer imperialen Machtpolitik. Der Auftrag der deutschen Nation bestehe darin, „Ellenbogenraum“ zu gewinnen (PS, 12). Bei der Interpretation dieser Textstellen ist der Zeitkontext zu berücksichtigen. Im Übrigen hat sich Weber später von seiner Rede distanziert und sie als eine Art Politik des „Auf-sich-selbst-aufmerksam-Machen“ betrachtet. Mit Blick auf die Theorie der Werte ist eine Akzentuierung in der Kritik der „ethischen“ Nationalökonomie interessant. Weber geht es gar nicht um eine Kritik der „Ethik“, sondern um eine Kritik der Konsumfixierung der „ethischen“ Nationalökonomie. Seinen Fokus richtet er auf den Aspekt feststellbarer Einseitigkeit des Wertstandpunktes. Überall, konstatiert Weber, sei die ökonomische Betrachtungsweise auf dem Vormarsch. Nationalökonomie sei nur eine Wissenschaft von den Gütern, der Produktion, von Konsum, von Geld und Arbeit. Weber meint jedoch, der ökonomische Erfolg und seine Messbarkeit dürften nicht die oberste und einzige Richtschnur sein. Weber argumentiert sehr differenziert: Er sagt keineswegs, dass der rein ökonomische Standpunkt „falsch“ sei. Aber diese Werteposition ist eben nicht die einzige, die man einnehmen kann. Die einseitige Fixierung der Nationalökonomie, die Hypostasierung des ökonomischen Kriteriums, läuft darauf hinaus, dass andere Wertmaßstäbe nicht zur Geltung kommen.6 Auch wenn sich Weber praktisch von Beginn an mit der Frage der Werte auseinandersetzt und dem Thema großes Interesse entgegenbringt, ist es doch ein leidiges Thema. Es bindet nicht nur für einen längeren Zeitraum Arbeitskraft, sondern sein ständiger Appell, aufgrund der anzuerkennenden Heterogenität der Werte und Wertstandpunkte in der Wissenschaft auf Sollensaussagen zu verzichten, scheint bei einer Reihe von Fachkollegen kaum Früchte zu tragen. Wohl auch deshalb nennt Weber „die Werte“ ein „Schmerzenskind“ der Kulturwissenschaften; er meint ein Sorgenkind (WL, 209 f.). Ein anderes Problem scheint er damit zu haben, dass es sich bei den Werten um keinen wissenschaftlichen Begriff handelt, sondern dass diese „der Sprache des Lebens“, also dem vorwissenschaftlichen Bereich entnommen sind. Vermutlich hält es Weber auch für eine vergebliche Anstrengung, den Wertbegriff zu einer wissenschaftlichen Kategorie zu erheben. Während er in seiner Kategorienschrift, den „Soziologischen Grundbegriffen“, viele 6  Dass auch Weber einen bestimmten Wertmaßstab absolut setzt, nämlich das „nationale Interesse“, steht auf einem anderen Blatt. Die spätere Distanzierung von seiner Antrittsrede gründet vermutlich auch in diesem Punkt. Genau lässt sich dies nicht in Erfahrung bringen, denn Weber sagt nur, er könne sich mit der Freiburger Rede „in vielen wichtigen Punkten nicht mehr identifizieren“ (vgl. Baumgarten 1964, 102 ff.).

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

zentrale Begriffe definiert, fehlt der des Wertes. Schluchter schlägt vor, im Sinne Webers unter „Wert“ die „Vorstellung einer Geltung“ zu verstehen, „welche Ursache einer Handlung“ wird (1996, 232). Mit dieser Definition wäre Weber wahrscheinlich einverstanden, zumal sie so neutral gefasst ist, dass sie mit dem subjekt- und handlungsorientierten Ansatz der „verstehenden Soziologie“ in Einklang stünde und darauf verzichtete, einen abstraktnormativen Maßstab an dieses Handeln anzulegen. Allerdings: Weber bietet keine Definition dessen, was ein Wert ist. Er benutzt das Wort vielmehr in unterschiedlicher Weise. In der Antrittsvorlesung sind die Werte ein Synonym für „Interessen“. Auch im Objektivitätsaufsatz ist dies der Fall, wo Weber „Produktionsinteressen“ von „Populationsinteressen“, von „privatwirtschaftlichen“ und von „staatlichen Interessen“ unterscheidet (WL, 211). In diesem Aufsatz sagt er zu Werten auch „höchste Ideale“, „letzte Maßstäbe“ und „höchst persönliche Axiome des Glaubens“ (WL 151, 153, 154). In der ersten Protestantismusstudie, die zeitgleich erscheint, sind die Werte „Ideen“ bzw. ethische Maximen und Orientierungen, die bestimmte Handlungen motivieren bzw. stimulieren.

4. Überlegungen zu einer Theorie der Werte: konkret Im Objektivitätsaufsatz entwickelt Weber in Form von vier Thesen eine allgemeine Theorie der Werte. Die ersten beiden Thesen beziehen sich auf die Eigenschaften, auf den „Charakter“ von Werten. Die beiden anderen Thesen gehen auf die Konsequenzen ein, die daraus zu ziehen sind. Webers Überlegungen zu einer Theorie der Werte basieren auf der Behauptung vom Kontingenzcharakter der Geschichte, eine These, wie wir sie schon bei Nietzsche kennen gelernt haben. Der Metaphysik-Kritiker Weber trägt seine These als eine Art metaphysische Verlautbarung vor: „Endlos wälzt sich der Strom des unermesslichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen …“ (WL, 184).

Es gibt andere Stellen, die dasselbe in anderen Worten beschreiben. Zum Schluss des Objektivitätsaufsatzes sieht sich Weber mit einem „ungeheuren chaotischen Strom von Geschehnissen“ konfrontiert, „der sich durch die Zeit dahinwälzt“ (WL, 214). In der ersten Protestantismusstudie spricht er von einem „ungeheuren Gewirr gegenseitiger Beeinflussungen“ (RS I, 83). Damit will Weber sagen, dass eine Vielzahl von Einflussfaktoren zu Ergebnissen führt, die nicht vorhersehbar sind. Geschichte ist ein Kontingenzgeschehen. Häufig wird vieles anders, als es zunächst aussieht oder sich ergeben müsste. Dieses scheint das einzig Verlässliche im Geschichtsprozess zu sein: das Unerwartete. Man muss Weber mit etwas Phantasie interpretieren,



4. Überlegungen zu einer Theorie der Werte: konkret131

denn er erläutert seine Thesen über die Geschichte nicht. Er nennt auch keinen Referenzautoren. Wenn nach Weber Werte in Gestalt von „Ideen“ ein mitunter wesentlicherer Faktor für die historische Entwicklung sind als „Interessen“ – Weber nennt dies ihre Funktion als „Weichensteller“,7 könnte sich die Heterogenität der „Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen“, mit den sich verändernden Werten erklären lassen. Den Gedanken der Offen- und Unabgeschlossenheit, der Wechselhaftigkeit des Geschichtsprozesses, darauf möchte ich hinaus, überträgt Weber auf seine allgemeine Theorie der Werte. Die „metaphysische“ Überzeugung von permanenter Bewegung und Wandelbarkeit der Geschichte fließt in die Theorie der Werte als strukturierendes Merkmal ein. In der Konsequenz lautet die erste These der Wertetheorie: Werte sind wandelbar und vergänglich. Je nach Konstellation bilden sie sich neu. Die herrschenden Werte in der einen Epoche werden nicht notwendigerweise die herrschenden auch der nächsten Epoche sein. Es gibt eben keine „ewigen“ Werte. Sie sind, wie Weber schreibt, „Produkt der Kultur“ (WL, 152), oder wie man präzisieren müsste: der „jeweiligen“ Kultur. Der Gedanke des epochalen Wechsels von Werten hat nicht nur ein geschichtstheoretisches Fundament bzw. ist nicht nur geschichtstheoretisch inspiriert, sondern Weber überträgt ihn ebenfalls auf seinen Wissenschaftsanspruch. Den Sinn wissenschaftlicher Forschung sieht er im Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ darin, so paradox dies klingen mag, von künftigen Forschergenerationen „überholt zu werden“ (WL, 593). Wie es kein Ende der Geschichte, sondern nur einen „Fortschritt in das Unendliche“ gibt (WL, 593), wie auch Werte sich ändern können und niemals definitiv gelten, so haben auch Forschungsergebnisse eine lediglich überschaubare Haltbarkeitsdauer. Wahrheitsansprüche zu erheben ist zwar legitim, so könnte man Weber weiterdenken, aber es handelt sich nur um begrenzte Wahrheitsansprüche. Deshalb wäre es eigentlich konsequent, auf den Begriff der Wahrheit gänzlich zu verzichten. Die zweite These der Wertetheorie lautet: Werte sind eine subjektive Angelegenheit. Sie sind Produkte subjektiver Wertvorstellungen, auch wenn sie mit dem Anspruch auftreten, etwas „objektiv“ Wertvolles zu vertreten (WL, 152). Werte sind wichtige Antriebe unseres Handelns; sie geben dem Leben 7  Vgl. das berühmte Zitat in der „Einleitung“ in die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (RS I, 252): „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen werden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“ Weber schreibt hier zwar „Weltbilder“, aber Weltbilder bestehen auch aus Werten.

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

Sinn und Bedeutung. Aber die Werte, die uns „heilig“ sind, müssen nicht unbedingt auch anderen „heilig“ sein (WL, 154). Diese These hat ein Fundament in dem, was man Webers „Perspektivismus“ nennen könnte. „Das Perspektivische“ ist ein Terminus, wie ihn zuerst Leibniz und dann Nietzsche in seiner „Vorrede“ zu „Jenseits von Gut und Böse“ benutzt. Im Perspektivischen sieht Nietzsche sogar die „Grundbedingung alles Lebens“ (KSA 5, 12). Das Perspektivische besagt, dass die Wirklichkeit immer vom Standpunkt und den Eigenschaften des Betrachtenden abhängig ist. Schon Webers Theorie der Rationalität ist perspektivisch in diesem Sinne. Seine Theorie der Wertsphären in der „Zwischenbetrachtung“ ist eine perspektivische Theorie. In der „Vorbemerkung“ findet sich der perspektivische Satz: „Was von einem Standpunkt aus rational ist, kann vom anderen aus betrachtet irrational sein.“ (RS I, 11) Weber will damit nicht sagen, dass es keine Kriterien für die Berechtigung von bestimmten Werten gibt. Aber diese Werte sind eben nicht allgemeingültig, sondern dürfen lediglich einen begrenzten Anspruch erheben. Ob ein Wert „wertvoll“ ist, hängt vom Blickwinkel desjenigen ab, der etwas zu einem Wert macht. Weber sagt deshalb auch: Werte sind Sache des „Glaubens“ (WL, 152, auch 212). Aus dem nicht statischen, sondern dynamischen Charakter von Werten und ihrem vom Subjekt abhängigen Geltungsanspruch schließt Weber auf einen Pluralismus der Werte, d. h. auf eine Koexistenz differenter, aber gleichberechtigter Werte. Das ist gemeint, wenn Weber, in seiner berühmten Formel, vom „Polytheismus der Werte“ spricht. Dieser Pluralismus oder Polytheismus ist die erste Konsequenz aus der Betrachtung des „Charakters“ von Werten. In die Pluralismusthese gehen zwei Überlegungen ein; es gibt gleichsam einen doppelten Pluralismus: Zum einen befindet sich jeder Einzelne in einem Kräftefeld verschiedener Werte. Die unterschiedlichen Werteanforderungen, die er an sich gestellt glaubt, können zu inneren Wertekonflikten führen. Soweit ich sehe, benutzt Weber die Unterscheidung zwischen einem Handeln aus „Gesinnung“ und demjenigen aus „Verantwortung“ zuerst im Kontext der Wertetheorie, und zwar an einer Stelle im Wertfreiheitsaufsatz, wo er das Gesinnungshandeln auch als Artikulation des „reinen Willens“ und das Verantwortungshandeln als ein Folgen und Nebenfolgen kalkulierendes Handeln vorstellt (vgl. WL, 505). Wer an Werten gesinnungsorientiert festzuhalten bestrebt ist, gerät unter Umständen in einen Wertekonflikt, wenn diese Haltung auf das Gebot verantwortungsethisch orientierten, d. h. auch Folgen und Nebenfolgen berücksichtigenden Handelns trifft. Zum anderen konstituieren die verschiedenen existierenden Werte öffentliche Wertordnungen oder Wertsphären. Innere Wertkonflikte zeigen sich in



5. Das diskursive Arrangement mit Wertekonflikten133

größerer Dimension in Konflikten von verschiedenen Wertsphären. Weber gibt dafür vor allem in der „Zwischenbetrachtung“ Beispiele, wenn er etwa, als Folge der Geltung rein wirtschaftlicher Imperative, von einer „Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit“ spricht oder auch wenn sich „rational organisierte Berufsarbeit“ als unvereinbar mit „akosmistischer Brüderlichkeit“ erweist (RS I, 571).8 Die zweite Konsequenz, die Weber aus der Betrachtung des „Charakters“ von Werten zieht, betrifft die Wissenschaft. Zwar lässt sich empirisch die Geltung von Werten feststellen, dass also bestimmte Handlungen Ausdruck von bestimmten Werthaltungen sind. Aber es lässt sich wissenschaftlich nicht beweisen, dass bestimmte Werte gelten sollen. Dies ist der Punkt, um den sich der Werturteilsstreit dreht. Weber wird nicht müde zu betonen, dass Wissenschaft gerade dies nicht kann: die Normativität von Werten zu erweisen (WL, 213). Dies ist für ihn eine logische Unmöglichkeit. Deshalb plädiert er für eine konsequente Trennung von Ist- und Sollensaussagen. Wissenschaft begäbe sich sonst auf das Gebiet des Glaubens und verspielte ihre Legitimation. In seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ gibt Weber ein Beispiel für die Wertbegründungsinkompetenz von Wissenschaft. In der Poesie stehen Baudelaires „Fleurs du Mal“ für eine Ästhetisierung des Bösen und Morbiden. Baudelaire propagiert den hemmungslosen Genuss (vgl. Köhler 1992, 145 ff.). Man könnte deshalb Baudelaire wegen Verstoßes gegen den herrschenden Kunstgeschmack oder gegen die herrschende Moral anklagen und die Lektüre seiner Gedichte verbieten. Man könnte aber auch die besondere „Schönheit“ seiner Gedichte in den Blickpunkt rücken, ihre Formvollendung, ihren „Zauber“. Für Walter Benjamin etwa sind die baudelaireschen Gedichte ein „Auftauchen aus dem Abgrund“. Wissenschaft, so Weber, kann nicht entscheiden, welchem Wert der Vorzug zu geben wäre: dem Wert angenommener moralischer Korrektheit oder dem ästhetischen Wert, der individuell verschieden ausfällt. Deshalb meint Weber: „Hier streiten eben … verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit.“ (WL, 604).

5. Das diskursive Arrangement mit Wertekonflikten Nach diesem Zitat sieht es so aus, als wären Wertekonflikte letztlich unlösbar („… zu aller Zeit …“). Im Wertfreiheitsaufsatz steigert Weber den 8  Die „akosmistische Brüderlichkeit“ ist bei Weber eine Art ultimative Brüderlichkeit, die nicht von dieser Welt ist (vgl. das „Glossar“ bei Müller 2007, 267). Gelegentlich spricht er auch vom „Akosmismus der Liebe“, womit eine Form „weltloser“ Liebe gemeint ist, die die Realität ausblendet und nur dem Liebesgebot folgt (vgl. etwa den bereits zitierten Brief an Else Jaffé, MWG II / 5, 402).

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

Konflikt sogar zum „unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ‚Gott‘ und ‚Teufel‘“ (WL, 507).9 Dies ist freilich mehr rhetorisch gemeint. Die Passage des Wertfreiheitsaufsatzes, in der das Wort fällt, steht in Spannung zur Unaufgeregtheit und Sachlichkeit anderer Textstellen, an denen Weber seine wertetheoretischen Überlegungen entfaltet. Weber lässt Spuren einer Frustration erkennen, weil sein Wertfreiheitspostulat entweder missverstanden oder nicht befolgt wird. Dabei gründe es doch auf der leicht einsichtigen Tatsache, dass der „reale Mensch“ in „in sich kreuzenden und verschlingenden Wertsphären“ lebe. Daraus ergäben sich automatisch Wertekonflikte (WL, 507). Was heute kaum mehr als beflügelnde Erkenntnis gilt, scheint zu Lebzeiten Webers wenig bewusst zu sein, denn eindringlich wirbt er dafür, um mögliche Wertekonflikte zu wissen und vor allem auch, diese Erkenntnis anzunehmen. Weber macht im gesellschaftlichen Umfeld Lethargie und Ignoranz aus. Darin sieht er eine Ursache für etwas, was man eine Art ­ „Lebensverweigerung“ nennen könnte. Wie schon in der Antrittsvorlesung kritisiert er menschliche Selbstgenügsamkeit und „Bequemlichkeit“. Diese Passage (WL, 507) trägt „lebensphilosophische“ Züge. Weber ruft dazu auf, das Leben, so wie es sei, nämlich eine „Kette letzter Entscheidungen“, anzunehmen (WL, 507 f.). Dies nennt er sogar eine „Lebensanschauung“. Dieser Teil des Wertfreiheitsaufsatzes mit seiner spezifischen Rhetorik verbaler Gewaltsamkeit, in dem Weber beinahe nietzscheanisch „mit dem Hammer philosophiert“, liest sich wie ein letzter Versuch, den Kritikern des Wertfreiheitspostulats und all jenen, die die Augen von den realen Wertekonflikten verschließen, dieselben zu öffnen. Aber die Passage täuscht auch darüber hinweg, dass Weber doch, jenseits scheinbarer Unversöhnlichkeit von Wertedifferenzen, eine andere Perspektive eröffnet. Dazu muss man nochmals zurückgehen auf den einleitenden, programmatischen Teil des Objektivitätsaufsatzes und das dortige Modell eines Werte-Diskurses ergänzen um Aussagen Webers im Wertfreiheitsaufsatz zum Stichwort „Wertungsdiskussion“ bzw. „Wertdiskussion“. 1904 wird Weber neben Werner Sombart und Edgar Jaffé Herausgeber des „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Der Objektivitätsaufsatz formuliert eingangs die künftigen Aufgaben der Zeitschrift, die gerade eines nicht soll: „bindende Normen und Ideale ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können“ (WL, 149). Vielmehr sollen sich unter dem Dach des Archivs, so legt Weber fest, Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz und mit verschiedenen, ja widersprüchlichen Wertpräferenzen 9  Das Wort des „Kampfes“ gehört zu Webers Lieblingsvokabeln. Im elektronisch erfassten Werk finden sich 412 Einträge.



5. Das diskursive Arrangement mit Wertekonflikten135

versammeln und Erkenntnisse über die soziale Wirklichkeit zusammentragen. „Die Eigenart der Zeitschrift hat … von Anfang an gerade darin bestanden und soll, soviel an den Herausgebern liegt, auch fernerhin darin bestehen, dass in ihr scharfe politische Gegner sich zu wissenschaftlicher Arbeit zusammenfinden.“ (WL, 157 f.) Die Formulierung „scharfe politische Gegner“ ist nicht in einem parteipolitischen Sinne gemeint. Weber will vielmehr Autoren versammeln, die aus verschiedenen Disziplinen kommen und idealer Weise unterschiedlicher Wertestandpunkte sind. Es geht ihm um die „Erkenntnis der Kulturwirklichkeit … unter spezifisch besonderten Gesichtspunkten“ (WL, 181). Die Komplexität und Heterogenität sozialer Phänomene lässt sich nach seiner Überzeugung am besten multiperspektivisch erfassen. Weber glaubt, nach dem Verfahren eines strengen Methodenpluralismus sich der „Wahrheit“ nähern zu können (WL, 170). Gleichberechtigter Austausch und gegenseitige Kritik sind nach ihm dafür Voraussetzung. Im Wertfreiheitsaufsatz nimmt er diesen Argumentationsfaden wieder auf, zunächst im Kontext der Diskussion des Verhältnisses zwischen Professor und Student, dann ausführlich unter dem Stichwort „Wertungsdiskussion“ bzw. „Wertdiskussion“. In der Passage über das Verhältnis Professor / Student verarbeitet Weber auch persönliche Erfahrungen. Als junger Student hört er Treitschkes Vorlesungen über Politik, die für eine Machtpolitik im Innern wie Äußeren werben (vgl. Mommsen 2004, 8 ff.). Weber lehnt solcher Art „Katheder-Suggestion“ und „Professoren-Prophetie“ als „ganz und gar unerträglich“ ab. Aber nicht deshalb, weil er sich mit den Inhalten nicht identifizieren könnte; das ist gar nicht das Problem. Ihn stört, dass die Vorlesung in der „unkontrollierbaren, diskussionslosen und also vor allem Widerspruch sorgsam geschützten Stille des vom Staat privilegierten Hörsaales“ stattfindet (WL, 492). Die Betonung liegt auf „diskussionslos“. Weber spricht sogar von einer „Zwangslage der Studenten“, die darin besteht, dass sie um des eigenen Fortkommens willen zu passiver Hinnahme verurteilt seien (WL, 493). Der Professor möge, so Weber weiter, in der Presse, in Vereinen, in Essays oder auf anderen, jedem Staatsbürger offen stehenden Foren kundtun, „was sein Gott oder Dämon ihn heißt“ (WL, 493). Denn hier müsse er sich der Diskussion und Kritik stellen. Aber an der Universität habe er wegen fehlender Chance zum Widerspruch auf Werturteile zu verzichten. Nach Weber setzt also Erkenntnis das Recht auf Widerspruch und Kritik voraus. Die Möglichkeit des freien Austauschs von Wertstandpunkten muss gegeben sein. Zwischen den Forschern darf kein Abhängigkeitsverhältnis bestehen. Eine interdisziplinäre Zusammensetzung kann Einseitigkeiten verhindern helfen. Ein Erkenntnisprozess, der nach diesem Muster verläuft,

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

kann auch paradigmatisch wirken, wenn über Werte und deren Gültigkeit gestritten wird. Darin sehe ich eine Pointe Webers. Webers Prämisse ist, dass es unterschiedliche Wertpositionen gibt, die aber gleich „wertvoll“ sind. Immer wieder kommt er auf diesen Gedanken zurück. Er nennt das Beispiel eines Anarchisten, der durchaus ein ebenso guter Rechtslehrer sein könne wie der Jurist, obwohl er das Recht als Herrschaftsmittel negiere. Weber traut dem Anarchisten sogar eine Art besonderes Erkenntnispotenzial zu, weil dieser auf einem Wertstandpunkt stehe, der sich außerhalb der Konventionen befinde (WL, 496). Parteizugehörigkeit ist für Weber ebenfalls kein Ausschlusskriterium. Der scharfe Kritiker des Sozialismus hält es für nicht nachvollziehbar, warum sich ein erklärter Sozialist nicht habilitieren darf. Weber spielt auf den Fall Robert Michels an, der sich aufgrund seiner sozialdemokratischen Parteizugehörigkeit im Ausland habilitieren muss. Marianne Weber, die über den Fall Michels berichtet, macht in diesem Kontext die folgende Bemerkung: „Zu Webers Grundsätzen gehört, dass in allen auf ‚Werte‘ bezogenen Disziplinen, also vor allem in den philosophischen, historischen und staatswissenschaftlichen, wenn irgend möglich, Vertreter verschiedener Richtungen wirken sollten.“ (Lebensbild, 362). Das Aufeinandertreffen verschiedener Wertstandpunkte ist charakteristisch dafür, was Weber in einer kaum rezipierten Passage des Wertfreiheitsaufsatzes „Wertungsdiskussion“ oder „Wertdiskussion“ nennt. Diese Diskussionen, gedacht als interne, fachwissenschaftliche Auseinandersetzungen, haben den Sinn, die „natürliche“ Widersprüchlichkeit von Wertstandpunkten zur Sprache zu bringen. Für Weber hat dies den Vorteil, sich zum einen über den eigenen Standpunkt besser im Klaren werden zu können, zum anderen Verständnis für den „abweichend Wertenden“, für den „Andersdenkenden“ entwickeln zu können. Wertdiskussionen führen „zu der Erkenntnis, dass, warum und worüber, man sich nicht einigen“ kann (WL, 503). Dies nennt Weber eine „Wahrheitserkenntnis“. Wertdiskussionen führen keineswegs zu Aussagen, was „gut“ oder „richtig“ sei. Wer auf diesem Wege eine bestimmte normative Ethik erwartet, wird enttäuscht. Wertdiskussionen haben eine desillusionierende Wirkung, sie sind eine Form der Aufklärung, und um eine solche geht es Weber: In Wertfragen kann es keine Einigung geben. Und dennoch – dieser Schluss ist wichtig – kann die Praxis der Wertdiskussion zu einer Annäherung der Beteiligten führen. Die Beteiligten treffen eine Art diskursives Arrangement, das die Differenzen bestehen, aber nicht eskalieren lässt. Wertediskussionen haben eine, so Weber, die einzelnen Positionen „relativierende Wirkung“ und fördern das „Verstehen des fremden Standpunktes“ (WL, 503). Anders ausgedrückt: Wertdiskussionen führen zum Entstehen von Toleranz. Es han-



5. Das diskursive Arrangement mit Wertekonflikten137

delt sich um eine Praxis des Vertrauens. Bestehende Konflikte werden nicht gelöst, aber entschärft. In einer Textpassage vier Seiten weiter nennt Weber die „Anerkennung eines absoluten Polytheismus der Werte“, keinesfalls abwertend, „Metaphysik“ (WL, 507). Weber bezieht sich dabei auf John Stuart Mills Three Essays on Religion (1874), denen er auch den Begriff „Polytheismus“ entnimmt und auf die Wertethematik bezieht (Schluchter 1996, 225, Anm. 5). In „Wissenschaft als Beruf“ heißt es, der alte Mill, dessen Philosophie er sonst nicht loben wolle, habe richtig bemerkt, dass, wer von der reinen Erfahrung ausgehe, zum Polytheismus gelange (WL, 603). Bemerkenswert ist, dass für Weber im Fall von Wertekollisionen nicht nur die Dezision als Möglichkeit der Konfliktlösung in Betracht kommt. Seine Rhetorik des „Man muss sich entscheiden“ lässt in den Hintergrund treten, dass er eine Alternative vorsieht: den „Kompromiss“. Der „tödliche Kampf“ um Werte, so relativiert Weber, sei nur eine rhetorische Figur, ein Kampf „dem Sinn nach“ (WL, 507). In der Praxis jedoch würden laufend Kompromisse geschlossen. Dass Weber die Möglichkeit des Ausgleichs kollidierender Wertinteressen als Regelfall betrachtet, bedeutet, dass der Vorwurf des Dezisionismus, den verschiedene Interpreten erheben (von Mommsen über Habermas bis Strauss), nicht zu halten ist. Nicht als Vorwurf, sondern als Bestätigung seiner eigenen Position verweist Carl Schmitt auf Webers angeblichen „Dezisionismus“. Schmitt meint, gegenüber Webers Theorie des „Kriegs der Werte“ sei Hobbes’ mörderischer Naturzustand „eine wahre Idylle“ (Schmitt 1967, 54). Schmitt interpretiert Webers Wertetheorie in einem bellizistischen Sinne. Den Werten unterstellt er eine „immanente Aggressivität“ (1967, 56). Werteverwirklichung ist für Schmitt „Wertezerstörung“, denn „Werte werden gesetzt und durchgesetzt“ (1967, 55). Schmitt weiter: „Niemand kann werten ohne abzuwerten, aufzuwerten oder zu verwerten. Wer Werte setzt, hat sich gegen Unwerte abgesetzt. Die grenzenlose Toleranz und Neutralität der beliebig austauschbaren Standpunkte und Gesichtspunkte schlägt sofort in das Gegenteil, in Feindschaft um … (1967, 58).

Demgegenüber zeigt Webers Theorie der Werte, dass eine Annäherung scheinbar unversöhnlicher Wertestandpunkte möglich ist. Weber kennt zwar differente, aber keine Werte, die zu Feindschaft führen. In der Heterogenität von Werten sieht er ein Spiegelbild des Lebens, das nur selten harmonisch verläuft. In den durch die Heterogenität verursachten Wertekonflikten sieht er die Chance, Innovationen zu befördern. Ein Gleichklang der Werte könnte zu Stillstand führen. Deshalb ist ihm das hegelianische Versöhnungsdenken fremd. These und Antithese sind die Pole, zwischen denen sich „das Leben“ bewegt. Wenn auch Weber die Synthese nicht anstrebt, so geht es

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Kap. 4: Pluralismus der Werte

ihm doch darum, Verständnis für die Antithese, für den anderen Wertestandpunkt zu befördern, denn kein Wertestandpunkt kann für sich beanspruchen, der allein gültige zu sein. Das Eintreten für Toleranz gegenüber anderen Wertestandpunkten hat nach Weber auch den Vorteil, dass im Kontrast und in der Konkurrenz der eigene Wertestandpunkt klarer wird, sich „aufklärt“. In diesem Sinne heißt es im Objektivitätsaufsatz: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.“ (WL, 151).

Kapitel 5

„Krieg der Töne“ oder Die Geburt der Rationalisierung aus dem Geist der Musik Webers Musikstudie von 1912 wird zumeist als Vorarbeit zu einer unvollendet gebliebenen „Musiksoziologie“ betrachtet. Ich möchte vorschlagen, die Studie als kritische Auseinandersetzung mit der „westlichen“ Ratio zu betrachten, deren Manifestation Weber „Rationalisierung“ nennt. Die Musikstudie ist ein für die Rationalisierungsthematik zentraler Text. Webers Originalität zeigt sich darin, dass er Rationalisierung an einem Kulturphänomen nachweist, denn man käme nicht unbedingt auf die Idee, diese in der Musik aufzuspüren. Weber analysiert und diagnostiziert, er bilanziert, lenkt den Blick auf mögliche Folgen dessen, was er „Rationalisierung“ nennt, und dies unter der Überschrift „Musik“. In den Zwischentönen seiner Musikstudie kommt ein diffuses Unbehagen zum Ausdruck. Weber schreibt weniger eine Erfolgs- als eine Verlustgeschichte der Rationalisierung. Eine zentrale These ist die Behauptung von der „Abstumpfung“ des Gehörs und dem Verlust an „Raffinement“. Rationalisierung setzt er häufig gleich mit der „Harmonisierung“ und „Temperierung“ von Tönen, die erkauft wird mit einem Verlust an Spontaneität und Authentizität und damit potenziell zu einer Musik führt, die des Hörens immer weniger wert ist.  Die Musikstudie zeigt Weber als originellen und scharfsinnigen Beobachter. In einigen Passagen kommen ein tiefer Pessimismus und eine gewisse apokalyptische Grundstimmung zum Tragen. Die Studie ist auch ein Beispiel für einen versteckten Evolutionismus, dem die geschichtsphilosophische Konstruktion nicht fremd ist. Rationalisierung schildert Weber in einem spezifischen Kampf- und Untergangsvokabular. Dabei ist er, so meine These, stark beeinflusst von musikethnologischen Ansätzen, die „Europäismen“ als Gefahr für die außereuropäische Musik betrachten. Von „Europäismen“ spricht der Musikwissenschaftler Erich Moritz von Hornbostel 1905 in dem Aufsatz „Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft“ (1986, 51). Seine Programmatik des „Bewahrens“ und „Schützens“, des „Rettens, was noch zu retten ist“ teilt Weber zwar nicht, er stimmt nicht ein in den Chor der Kritik am „Westen“,

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

aber das Anliegen hält er für nachvollziehbar. Die Motive der Ethnologen sensibilisieren ihn für die Vielfalt und die Eigenrechte der Musiken in den verschiedenen Kulturen der Welt. Weber entwickelt in seiner Studie eine rätselhafte These: die Behauptung vom Widerspruch zwischen Harmonik und Melodik. Dieser habe ganz unterschiedliche Musikkulturen begründet, nämlich die des Okzidents und jene des Orients. Rätselhaft ist, dass er Harmonik und Melodik voneinander trennt, obwohl beide einander ergänzen und zusammenwirken. Auf diese Weise gelingt ihm zwar, zwei unterschiedliche Entwicklungspfade von Musik nachzuzeichnen: den Pfad harmonisch rationalisierter und den Pfad rein melodischer Musik. Er gewinnt so auch die These vom „westlichen Sonderweg“ der Musikentwicklung. Aber die Folge dieses Schematismus’ ist, dass er das Zusammenwirken und das Wechselspiel von Harmonik und Melodik nicht erfasst, welches für Musik konstitutiv ist. Der Schematismus ist wohl der Problematik idealtypischer Begriffsbildung geschuldet, deren Verfahren der Steigerung von bestimmten „mehrheitlichen“ Phänomenen die Kehrseite der Ausblendung widerstrebender „minderheitlicher“ Phänomene hat. Die Musikstudie ist jedoch auch in ihren Grenzen und Verfehlungen anregend. Sie lädt ein zum Weiterdenken. Dagegen steht ihr hoher Schwierigkeitsgrad. Der Argumentationsgang ist teilweise überfrachtet und undurchsichtig. Die innere Ordnung, die durchaus vorhanden ist, erschließt sich erst nach mehrfacher Lektüre. Gleichsam atemlos, ohne Punkt und Komma, scheint Weber diesen Text niedergeschrieben zu haben. Es ist der Anspruch dieses Kapitels, die Musikstudie zum Sprechen zu bringen, ihre Kernthesen zu erhellen, Gedanken weiterzudenken, die Potenziale aufzuzeigen, die in ihr stecken, auch über das bloße Thema „Musik“ hinaus, aber auch Widersprüche und Irrtümer zu benennen.

1. Das eigentliche Thema: Rationalisierung Die „Musiksoziologie“ wurde als nachgelassener Text erstmals 1921 unter dem Titel „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ veröffentlicht. Von 1925 bis 1956 war er nur Appendix von „Wirtschaft und Gesellschaft“; mit der 5. Auflage verschwand er so unvermittelt, wie er mit der 2. Auflage aufgetaucht war. 1972 erschien eine unkommentierte separate Ausgabe.1 Der entscheidende Grund für die mangelnde Rezeption ist 1  Christoph Braun hat mit seiner Dissertation von 1992 entscheidend dazu beigetragen, dass die „Musiksoziologie“ nicht vergessen worden ist. Braun stellt die Schrift in einen spezifischen Kontext – „Hinter dem Analytiker der musikalischen Ratio steht der nietzscheanische Kulturkritiker.“ (S. 16) – und meint: „Aus Webers Musik-Studie lässt sich eine sozialhistorische Theorie zur Entstehung der musikali-



1. Das eigentliche Thema: Rationalisierung141

nicht die Editionsgeschichte allein, sondern gerade auch der hohe Schwierigkeitsgrad. Der Text ist sperrig und schwer zugänglich, er hat eher den Charakter einer Materialsammlung, und nur in einzelnen Passagen zeigt sich, dass Weber mit seiner Studie durchaus eine systematische Absicht verfolgt. Die „Musiksoziologie“ setzt ein mit seitenlangen Ausführungen zur Tonarithmetik und der Analyse von Notenskalen, ohne dass zunächst das Motiv zu erkennen wäre (MWG I / 14, 145–186 und 188–210). Dem langen tonarithmetischen Abschnitt ist eine kurze musikgeschichtliche Passage eingeschoben (MWG I / 14, 187–188). Es schließt sich ein universalgeschichtlicher Teil an, in dem Weber einen Vergleich zwischen der okzidentalen bzw. modernen harmonischen und der antiken bzw. außereuropäischen melodischen Musikentwicklung anstellt, der wiederum musikgeschichtliche Abschnitte enthält (MWG I / 14, 211–235). Das vierte inhaltliche Teilstück handelt nochmals von der Tonphysik im Allgemeinen und der Temperierung der Töne im Besonderen (MWG I / 14, 236–253). Eingestreut sind Passagen zur Notation. Der letzte Teil ist eine kleine Instrumentenkunde, die sich zur Zeit der Abfassung der „Musiksoziologie“ als Teildisziplin der Musikwissenschaft konstituiert. Webers erste Innovation ist darin zu sehen, dass er einzelne Instrumente, insbesondere das Klavier, in eine systematische Beziehung zur Entwicklung der Musiken im Okzident und in der Antike bzw. im Orient setzt (MWG I / 14, 253–280). Auf diese Weise gewinnt er eine zentrale These, dass nämlich der Prozess der Rationalisierung der Musik auch und gerade auf den Einsatz von Instrumenten zurückzuführen ist. Er schreibt: „Die Rationalisierung der Töne geht ja historisch regelmäßig von den Instrumenten aus …“ (MWG I / 14, 243). Eine entscheidende Rolle schreibt er dem Klavier zu, das er im Anschluss an den Berliner Musikhistoriker Oskar Bie „bürgerliches Möbel“ nennt. „Unsere exklusive Erziehung zur modernen harmonischen Musik wird ganz wesentlich von ihm (dem Klavier) getragen.“ (MWG I / 14, 278). Mit dem Klavier lässt Weber die „kapitalistisch gewordene Instrumentenproduk­ tion“ beginnen, die zur Verdrängung all jener Instrumente führt, die sich nicht auf dem Markt behaupten können (MWG I / 14, 272). Nicht nur das: Aufgrund der großen Nachfrage wird zunehmend zur „maschinellen Großproduktion“ übergegangen, die den Instrumentenbauer früherer Zeiten überflüssig und das Klavier zum „regulären Handelsobjekt“ macht. Es entbrennt ein „wilder Konkurrenzkampf der Fabriken und Virtuosen“ (MWG I / 14, 277).2 schen Rationalisierung kompilieren.“ (S. 237) Braun ist auch Mitherausgeber der „Musiksoziologie“ in der MWG. Die mit Finscher verfasste „Einleitung“ (2004, 1–126) ist im Wesentlichen eine komprimierte Fassung der Studie von 1992. Hilfreich das Glossar, 299–353, mit wichtigen musikwissenschaftlichen Begriffen. 2  Auch Weber „handelt“ mit dem Klavier: Um eine finanzielle Durststrecke zu überwinden, verkauft er seines an Robert Michels. Später, 1911, nachdem Marianne

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

Mit der Verbreitung des Klaviers als „bürgerlichem Hausinstrument“ scheint ein musikalischer Qualitätsverlust verbunden zu sein. Radkau interpretiert die Passage so, als betrachte Weber das Klavier als musikgeschichtlichen „Sündenfall“. Damit beginne, nach Weber, die „Gleichschaltung der Töne“ (2005, 572). Weber lässt den „Sündenfall“, wie noch zu zeigen ist, aber viel früher einsetzen, nämlich schon in dem Augenblick, als Musik einem bestimmten, und zwar einem religiösen Zweck unterstellt wird und damit im Grunde ihre Autonomie einbüßt. Der Erstherausgeber Theodor Kroyer, Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität zu Köln und von Marianne Weber beauftragt, nennt die Musikstudie ein „widerborstiges Meisterstück“ (MWG I / 14, 143). Er bezweifelt die Plausibilität einiger Thesen, teilt seine Bedenken jedoch nicht im Einzelnen mit. Auf die meisten zeitgenössischen Leser wirkt die Studie abstrakt und kompliziert, verworren und unklar. Kurt Blaukopf berichtet von kritischen Reaktionen, aber auch von der Zustimmung, die die Arbeit beim sowjetischen Volkskommissar für Bildung findet. Sie sei wie geschaffen, „um in der Fabrik des Marxismus weiterverarbeitet zu werden“ (1996, 133 f.). Blaukopf sieht in der „Musiksoziologie“ lediglich eine Sammlung von „Forschungsnotizen“, hebt aber die Komplexität der Analyse hervor. Als Leistung würdigt er den vergleichenden, auch außereuropäische Musikkulturen einbeziehenden Ansatz. Darin lässt sich Webers zweite Innovation sehen, denn zum damaligen Zeitpunkt gibt es nicht allzu viele, deren musikalischer Horizont über Europa und Nordamerika hinausreicht. Auch das „Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft“ hebt das analytische Potenzial der Studie hervor. Den besonderen Wert sieht die Autorin darin, dass Weber den Aspekt des „Einflusses der Technik auf das Musikwollen“ betont (Bontinck 2007, 64). „Technik“ sind für sie Instrumente und Notenschrift. Weber geht aber einen Schritt weiter und operiert mit dem komplexeren Begriff der „musikalischen Ratio“, wovon die Technik nur Ausdruck ist. Die musikalische Ratio ist seiner Beobachtung zufolge je nach Kultur unterschiedlich geprägt. Die benutzten Techniken wiederum hängen nicht zuletzt von klimatischen Bedingungen ab, so Weber. Das Klavier als Hausinstrument ist vor allem in klimatisch kälteren Gegenden anzutreffen. Der Bau von Holzinstrumenten hängt wiederum vom Vorhandensein von Bäumen ab. Letztlich spielen auch Zufälle eine Rolle, und Weber scheint ebenso von gewissen anthropologischen Voraussetzungen und vor allem von religiösen Einflüssen auszugehen. Explizit spricht er das „Mönchtum“ an. Die rationalisierte Musik im Okzident hält er für ein Werk eben dieses Mönchtums. Darauf scheint auch die Erfindung der Orgel zuWeber durch eine Erbschaft zu Geld gekommen ist, erwirbt er einen Flügel von Steinway.



2. Rationalisierung: eine Kategorie des Unbehagens143

rückzugehen, die Weber als eine mächtige „Musikmaschine“ charakterisiert, mit deren Hilfe sich ein Höchstmaß an Verehrung und Huldigung Gottes erreichen lasse.3 Nicht überzeugend ist die Bezeichnung „Musiksoziologie“. Wenn darunter mit Adorno „der Inbegriff der wissenschaftlichen Behandlung aller gesellschaftlichen Aspekte der Musik“ verstanden werden soll (1984, 840), handelt es sich um keine „Musiksoziologie“. Die Frage ist, ob Weber überhaupt eine „Musiksoziologie“ schreiben wollte, und wenn ja, was er darunter verstand. Die neuen Herausgeber des Textes in der Max Weber-Gesamtausgabe haben keinen Zweifel: Weil das Werk unvollendet ist, geben sie ihm den Titel „Zur Musiksoziologie“. Sie arbeiten durchaus die enge Beziehung zur Rationalisierungsthematik heraus, können sich jedoch im Gegensatz zum Ursprungsherausgeber nicht dazu durchringen, dies im Titel anklingen zu lassen. Dem Stellenwert der Studie für die Rationalisierungsthematik wird dies jedoch nicht gerecht. Schon einer der ersten profilierten Kommentatoren, Alphons Silbermann, bemerkt, dass sich in der „Musik­ soziologie“ letztlich „alles“ um Rationalisierung dreht (1963, 448 ff.). Deshalb möchte ich vorschlagen, die „Musiksoziologie“ als Text zu deuten, der weniger als Beitrag zu einer nicht vollständig ausgearbeiteten Musiksoziologie anzusehen ist, als vielmehr als erste tastende Umschreibung dessen, was insbesondere in Webers letztem Lebensjahrzehnt in den Mittelpunkt seiner Arbeiten rückt: der Prozess der Rationalisierung aller Lebensbereiche, sei es in Wirtschaft und Politik, Moral und Religion, Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen.

2. Rationalisierung: eine Kategorie des Unbehagens Der Begriff der Rationalisierung stammt ursprünglich aus der Psychoanalyse und beschreibt dort die Umwandlung eines irrationalen Verhaltens in ein regelgeleitetes und nachvollziehbares Verhalten. Zum Übergang in den allgemeinen Sprachgebrauch hat kurioserweise ein Buch über fortschreitende Empfängnisverhütung beigetragen. Autor ist der Breslauer Ökonom Julius Wolf, der Titel lautet: „Die Rationalisierung des Sexuallebens in unserer Zeit“ (1912).4 Wolf verfolgt zwar nicht die systematische Absicht, eine Theorie der Rationalisierung zu entwickeln, aber der Verwendungszusammenhang zeigt eine Richtung an: Es geht um Transformation und Manipulation eines „Natürlichen“ und „Ursprünglichen“, um Abstraktion von einem 3  Eine noch immer zutreffende Beschreibung: Bis heute „führt“ und „bündelt“ die Orgel den Gesang der Gläubigen während des Gottesdienstes. 4  Die Hinweise auf den Ursprung in der Psychoanalyse und Julius Wolf bei Radkau 2005, 334 u. 577.

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

primären Zweck, um Wiederhol- und Berechenbarkeit. Diese Konnotationen kommen auch bei Weber vor. Er spürt dem Gestaltwandel der Musik nach: wie Töne sich neu ordnen, warum das geschieht, was sie treibt, was dies für den Klang der Musik und für das Ohr des Hörers bedeutet. Weber untersucht Tonskalen, Satztechnik und Instrumentierung. Als zentralen Antrieb identifiziert er die „tonale Ratio“. Dabei handelt es sich offensichtlich um einen Sonderfall der allgemeinen „Ratio“. Weber erläutert den Begriff jedoch nicht. Wenn er von „Ratio“ spricht, fällt auf, dass er auf PassivKonstruktionen zurückgreift („… zur bewussten Grundlage des Tonsystems gemacht worden …“). Er konstatiert, dass die tonale Ratio „irgendwie als formendes Prinzip“ wirkt (MWG I / 14, 253). Das „Irgendwie“ zeigt an, dass der Vorgang nicht wirklich geklärt werden kann. Den Begriff der „Rationalisierung“ benutzt er bereits vor Abfassung der Musikstudie, allerdings ohne dass seine tragende Funktion schon erkennbar wäre. Zum Schlüsselwort wird „Rationalisierung“ erst in der Musikstudie. Die elektronische Version der Weberschen Werke zählt rund 12.000 Seiten. 455 Nennungen gibt es für „Rationalisierung“, davon 46 Mal in der 80-seitigen „Musiksoziologie“. Das ist so häufig wie in keinem anderen Text. Reine Quantität will noch nicht viel besagen. Für die vorgeschlagene Deutung spricht aber ein qualitatives Argument. Während Weber in den für die Rationalisierungstheorie „klassischen“ Texten, also „Vorbemerkung“, „Einleitung“ und „Zwischenbetrachtung“, das Faktum meist nur nennt, beschreibt er in der „Musiksoziologie“ den Prozess der Rationalisierung: was da vor sich geht, wenn etwas „rationalisiert“ wird; wie Entitäten ihre Gestalt verändern; dass etwas gewonnen wird, aber auch etwas verloren geht. Wir stoßen auf einen Begriff im Entwicklungsstadium, noch nicht reduziert auf die Bedeutung „hohe Effizienz“, „optimale Mittelverwendung“. Ein Mehrwert der Musikstudie liegt in der deskriptiven und assoziativen Dichte des Rationalisierungsbegriffs. Weber umschreibt damit Prozesse der „Angleichung“, „Unterordnung“, „Organisation“, „Vereinheitlichung“, „Ausgleichung“ und „Zuspitzung“ (MWG I / 14, 224, 229, 243; siehe dazu ausführlich weiter unten). Es zeigt sich, dass im Rationalisierungsbegriff versteckte Kritik transportiert wird. In der Literatur wird Weber häufig unterstellt, er benutze „Rationalisierung“ anerkennend und „bejahend“, er sei gar ein „großer Bewunderer“ des Rationalisierungsprozesses und der „Moderne“. Auf diese Weise ist Weber, so die saloppe Formulierung von Joachim Radkau, zum „Rationalisierungspapst“ avanciert (2005, 664), aber seine ambivalente Haltung wird unzureichend thematisiert. Die Musikstudie artikuliert diese Ambivalenz. Rationalisierung ist nach Weber ein dialektisches Geschehen, dessen beide Seiten unvereinbar sind und für einen permanenten „Kampf“ sorgen. Der Begriff transportiert ein nicht deutlich artikuliertes, aber spürbares Unbehagen.



3. Rationalisierte Musik als Zeichen des Verfalls 145

3. Rationalisierte Musik als Zeichen des Verfalls Als Weber sich an die Arbeit an der Musikstudie macht, befindet er sich in einem engen Austausch mit Georg Lukács, der bis in die Kriegsjahre reicht. Webers (unausgeführter) Plan, eine „Soziologie der Kultur-Inhalte“ zu schreiben, dürfte auch von ihm inspiriert sein. Lukács’ Denken kreist damals um die Kunst als autonomer Sphäre, in der die „Schönheit“ zuhause sei. Zwischen 1912 und 1914 schreibt er in Heidelberg und Florenz an einer Ästhetik. Nach 1918 verleugnet Lukács seine ästhetischen Arbeiten als Ausdruck „bürgerlicher“ Dekadenz; sie erscheinen erst 1974 aus dem Nachlass unter dem Titel „Heidelberger Philosophie der Kunst“. Lukács fragt, worin die Essenz des Schönen liege und glaubt, eine Antwort im „Luciferismus der Kunst“ gefunden zu haben. Weber scheint diese Formulierung in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ aufzugreifen, wenn er fragt, ob die Kunst vielleicht ein „Reich diabolischer Herrlichkeit“ sei (WL, 599). In seinen ästhetischen Essays demonstriert Lukács auch die Generalisierung von Einzelphänomenen zu Erscheinungen von allgemeiner Tragweite.5 In der „Theorie des Romans“, der Max Weber 1916 in der „Zeitschrift für Allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft“ zur Publikation verhilft, nennt er ein solch spekulatives Verfahren – wie schon zitiert – „geschichtsphilosophische Zeichendeuterei“ (1994, 137). Im Rückblick des Vorwortes von 1962 erscheint ihm dieses „Historisieren von ästhetischen Kategorien“ als zentrales Verdienst der Arbeit (1994, 9). Lukács’ Methode ist ein Punkt des Dissenses mit Weber. Dieser mahnt Lukács zu seriöser, sprich systematischer wissenschaftlicher Arbeit, wünscht ihn sich aber gleichwohl als engen Kollegen, „so sehr wie ich irgend etwas wünsche“.6 Nach Weber wird Lukács’ „essayistische“ Spekulation wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht, er gefährde damit nicht zuletzt seine Reputation. Webers Vorgehen ist freilich gar nicht so weit entfernt von demjenigen von Lukács. Auch Weber deutet die „Zeichen“: „Harmonisierung“ und „Temperierung“ sind Verfallszeichen. Die Musikrationalisierung im Okzi5  Siehe dazu bereits Kapitel 2. Weber hat eine Reihe der frühen schriftstellerischen Arbeiten von Lukács nachweislich intensiv begleitet. Ich gehe davon aus, dass der Einfluss von Lukács auf Weber nachhaltig ist und dass Lukács’ später zur Verdinglichungstheorie ausgebaute Kritik an der Moderne auch für Webers Werk wichtig ist. Zu Lukács Heidelberger Kunstphilosophie vgl. Weisser 1992. 6  So die von Weber kursivierte Formulierung in einem Brief v. 23. August 1916, der im Zusammenhang mit Lukács geplanter Habilitation für Philosophie in Heidelberg steht (MWG II / 9, 510 f.) Den zweiten Teil von Lukács’ posthum veröffentlichter „Heidelberger Philosophie der Kunst“ nennt Weber in diesem Brief „prachtvoll“, und er genüge höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen.

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

dent macht er für die Deformation des Gehörs verantwortlich. Das ist seine zentrale These: dass Musikrationalisierung „ungemein abstumpfend auf die Feinheit des Gehörs (wirkt)“ (MWG I / 14, 252). Das ist es nicht allein: Musikrationalisierung geht einher mit der Vernichtung musikalischer Vielfalt, mit der Nivellierung von Musik, mit ihrer harmonischen „Gleichschaltung“. Alles wird dem Klangdiktat der Harmonie untergeordnet. Musik wird nicht zuletzt Marktgesetzen unterstellt. Webers Studie bricht nicht zufällig mit einem Kapitel über die industrielle Fertigung von Musikinstrumenten ab. Instrumente degenerieren zu Waren, mit denen nicht nur musiziert, sondern auch spekuliert wird. Hier klingt die Lukácssche Verdinglichungstheorie an (die allerdings erst 1923 verfasst wird). Die Musikstudie bekommt zum Ende hin eine kapitalismus- und kulturkritische Note. Weber kritisiert am Beispiel des Klaviers die „Vermassung“ der Musik. Durch seine weite Verbreitung als „bürgerliches Möbel“ manipuliere es die Hörgewohnheiten im großen Stil, zumal sein musikalisches Potenzial nach Weber eher gering zu veranschlagen ist. Ohne eine Vorahnung von der späteren Entwicklung zu haben, spricht Weber schon Kommerzialisierung, Originalitäts- und ­Qualitätsverlust, Konsumcharakter an. Weber beschreibt die Anfänge dieses Geschehens, das den Charakter von Musik grundlegend verändert, ja, eigentlich zerstört. Er geht aber noch einen Schritt weiter: Eine provokative Spitze der Musikstudie liegt in einem versteckten Evolutionismus bzw. in einer Geschichtsphilosophie, die an einem kleinen Ausschnitt der Kultur („Musik“) eine Entwicklung aufzeigt, die gesamtgesellschaftliche Relevanz hat, sogar universelle Bedeutung haben könnte, dann nämlich, wenn die Rationalisierung in der Musik vom Okzident auch auf die östlichen Kulturen übergreift. Dieses Szenario thematisiert er indirekt in seiner „Vorbemerkung“ zum ersten Band der religionssoziologischen Schriften. Es liegt auch nahe in der Musikstudie, wenn man einen Blick darauf wirft, womit sich die Musik­ ethnologie damals zu beschäftigen beginnt. Musikwissenschaftlern wie Hornbostel, Stumpf und Helmholtz, Webers „Gewährsmännern“ (dazu unten), geht es gerade darum, ein solches Übergreifen zu verhindern und fremde, „unrationalisierte“ Musiken vor dem „Verfall“ zu bewahren, wie er im Okzident zu beobachten sei. Wenn Weber von „Abstumpfung“ spricht und Nivellierung thematisiert, kann man unterstellen, dass er damit immer auch eine Absicht verbindet. Weber spricht aus diesem Grund und mit Pathos wiederholt vom „Menschentum“ und dem „Schicksal“. Der Verfall steht drohend im Raum. Die Belege, die er dafür anführt, sind „Harmonisierung“ und „Temperierung“, als Belege vielleicht nicht gewichtig genug, als dass sie die kühne These wirklich tragen könnten. Man kann die Geschichte der Musikrationalisierung auch anders erzählen, eine ausgleichende Gewichtung vornehmen,



4. Die Entdeckung der Rationalität im Irrationalen147

Webers verfallstheoretische Kurzsichtigkeit vermeiden. Aber Weber deutet mit Lukács „die Zeichen“. Er spitzt in idealtypischer Weise zu, und das heißt: in Absehung derjenigen Phänomene, die dem „typischen“ Trend zuwiderlaufen. Auf diese Weise gelingt es ihm, ein kritisches Schlaglicht auf den Prozess der Musikrationalisierung zu werfen und, aus seiner Sicht, Fehlentwicklungen zu beleuchten.

4. Die Entdeckung der Rationalität im Irrationalen In ihrem „Lebensbild“ (1926) und im Vorwort zur 2. Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1925) berichtet Marianne Weber von einer „Entdeckung“, die Weber geradezu elektrisiert habe (Lebensbild, 349), dass nämlich „auch und gerade in der Musik … die Ratio eine so bedeutsame Rolle spielt“ (Vorwort, WG, XXXIII). Die „Entdeckung“ datiert Marianne Weber auf 1910. Im selben Jahr spricht Weber auf dem Deutschen Soziologentag erstmals über Musik und denkt nach über eine „alle Künste umfassende Soziologie“ (Lebensbild, 507). 1913 kündigt er seinem Verleger eine „Soziologie der Cultur-Inhalte“ für einen späteren Zeitpunkt an, die „Kunst, Literatur, Weltanschauung“ umfassen soll (Brief an Paul Siebeck 30.12.1913 – MWG II / 8, 450, Anm.) Die Musik nennt er nicht ausdrücklich, entweder weil er sie unter „Kunst“ subsumiert, oder weil er sie mit der Musikstudie als bereits abgehandelt betrachtet. Weber stößt also zuerst in der Musik auf jene Thematik, die er in seinen systematischen Schriften zur Religionssoziologie weiterentwickelt und letztlich zu einer Theorie der Rationalisierung gesellschaftlicher Subsysteme und ihres Spannungsverhältnisses zueinander verdichtet. Der Pionierstatus der Musikstudie und Webers weitergehender Anspruch, mehr als eine „Musiksoziologie“ schreiben zu wollen, müsste sich deshalb im Titel der Schrift widerspiegeln. In Frage käme „Musik und Rationalisierung“ oder auch die Beibehaltung des ursprünglichen Titels. Marianne Weber untermauert dies, wenn sie schreibt, Weber habe die Bedeutung der Ratio „auch und gerade“ in der Musik entdeckt. Das heißt doch, dass die Musik zwar nicht der einzige Fundort für Rationalisierung ist („auch“), aber doch wohl eine Schlüsselfunktion hat („gerade“). Diese besteht darin, dass Weber Rationalisierung als allgegenwärtige Erscheinung betrachtet, die sich auf nahezu allen Gebieten sozialen Zusammenlebens bemerkbar macht, so zum Beispiel im Recht: In „Wirtschaft und Gesellschaft“ bezeichnet er die Richter als „Automaten“ der Rechtsauslegung, „in welchen oben die Akten nebst den Kosten hineingeworfen werden, damit er unten das Urteil nebst den mechanisch aus Paragraphen abgelesenen Gründen ausspeie“ (WG, 565). Als „rationalisierte“ Politik könnte man Luhmanns

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

„Legitimation durch Verfahren“ betrachten, ein Typus politischer Rechtfertigung, der vom Gerechtigkeitspostulat abstrahiert und auch keinen besonderen Wert auf politische Partizipation jenseits der turnusmäßigen Wahlbeteiligung legt. Rationalisierung in der Wirtschaft wäre gleichzusetzen mit rationeller Produktion, Voraussetzung für hohe Produktivität und damit für maximalen Gewinn. Auch der zu Webers Lebzeiten aufkommende Taylorismus ist eine spezifische Form der Rationalisierung. Taylor glaubt, Management, Arbeit und Unternehmen durch eine wissenschaftliche Herangehensweise optimieren, damit die Produktivität steigern und so auch soziale Probleme lösen zu können. Die Fließbandproduktion in der Automobilindustrie, in den USA ab 1913, ist auf tayloristisches Denken zurückzuführen.7 Der Amerika-Reisende Weber dürfte über die wirtschaftlichen Entwicklungen in den USA durchaus informiert gewesen sein. Allerdings interessiert er sich nicht für das System des Taylorismus. Es sind auch nicht seine Studien zum Börsenwesen in den Jahren 1894–97, die ihn zur Rationalisierungsthematik führen. Weber schreibt über Entstehung und Struktur der Börse, Maklerwesen, Kursbildung und Wertpapiere, er veröffentlicht mehrere Rezensionen zu diesem Themenkomplex. Doch nicht daran schließt er seine Überlegungen zur Rationalisierung, sondern an eine Analyse von „rational“ geordneten Tonsystemen. Wenn man berücksichtigt, dass Weber zwei „Mächte“ suspekt sind: die „Kunst“ und die „Erotik“, dann wird man seine Herangehensweise mindestens unkonventionell nennen dürfen. „Kunst“ und „Erotik“ sind die Lebenssphären, in denen es nicht streng „rational“ zugeht, sondern in denen es um das Erleben, das Fühlen, das Empfinden, um das Ansprechen der Sinne geht, die sich jedoch „rationaler“ Erklärung entziehen. Die „Zwischenbetrachtung“ subsumiert deshalb die Musik unter das Erleben und charakterisiert sie als „von Grund auf arational oder antirational“ (MWG I / 19, 501 bzw. 499). Das bedeutet also: Rationalität erwächst aus etwas, was der Rationalität eigentlich gar nicht zugänglich ist („arational“) bzw. dieser sogar entgegensteht („antirational“). Dabei scheint Weber einen Automatismus des „Übergangs“ unterstellen zu wollen. Es scheint eine Dynamik von Triebkräften zu geben, die den ursprünglich arationalen Charakter eines Lebensbereichs („Musik“) in dem Sinne verändern, dass sie ihn „rationalisieren“, „berechenbar“ machen und „ordnen“, auf ein Ziel hin ausrichten. Die These klingt nicht unplausibel, allerdings hätte man sich hier weitergehende Ausführungen gewünscht. Im Übrigen widerspricht sich Weber, wenn er zwar von einem Automatismus des Übergangs von der Arationalität oder der Antirationalität zur Rationalität ausgeht, andererseits aber feststellt, dass 7  Zu

Taylor und seinem Wirken vgl. z. B. Hebeeisen 1999, 13 ff.



5. Dialektik der Rationalisierung 149

melodische Musik sich nicht harmonisch rationalisieren lasse. Der melodischen Musik scheint er einen besonders starken Eigensinn unterstellen zu wollen, der sich harmonisch nicht rationalisieren lässt: so könnte man diesen Widerspruch vielleicht auflösen. Daran zeigt sich, wie problematisch Webers Trennung von Harmonik und Melodik ist. Er braucht sie aber, um seine universalgeschichtliche These von der harmonischen Rationalisierung nur der okzidentalen Musik aufstellen zu können.

5. Dialektik der Rationalisierung Ein besonderer Wert der Musikstudie ist, dass sie einen Eindruck davon vermittelt, was passiert, wenn etwas „rationalisiert“ wird. Etwas wird gewonnen, es geht aber auch etwas verloren. Rationalisierung setzt Weber immer wieder gleich mit „Harmonisierung“ oder „Temperierung“. Töne werden gleichsam „geöffnet“, damit sie zusammenklingen, sie werden „geschliffen“ und „begradigt“ um eines „Wohlklanges“ willen. Weber spricht sogar einmal von einer „Vergewaltigung“ von Tönen, von einem Gefügigmachen und bedingungslosen Subordinieren (MWG I / 14, 248). Töne verlieren also offensichtlich ihre natürliche Freiheit, ihren reinen Klang, ihren Selbstklang um des „Zusammenklangs“, also um der Harmonie willen. Andererseits entsteht durch Rationalisierung erst eine eigene kulturelle Sphäre, in der nach ästhetischen Kriterien geurteilt werden kann. Die Zufälligkeit des Auftretens von Tönen wird ersetzt durch Tonsysteme. Selbst die Musikkritik wird berechenbar, da sie nunmehr auf nachvollziehbaren Kriterien beruht: Wie gelungen ist die Rationalisierung? Wie „harmonisch“ klingt das Endprodukt, wie „rational“ ist es? Allerdings hat jetzt nur noch rationalisierte Musik die Chance, anerkannt zu werden. Das Unregelmäßige wird zum Fremdkörper, der stört und deshalb weichen muss. Rationalisierung verspricht Gewinn durch Berechenbarkeit, bedeutet aber auch Verlust der Vielfalt und Ausgrenzung. Auffällig ist, dass Weber die Habenseite nüchtern und sachlich beschreibt, geradezu so, als hätte man ihn gezwungen, überhaupt darüber zu schreiben. Es heißt, Rationalisierung in der Musik habe sich „praktisch fruchtbar“ ausgewirkt (MWG I / 14, 253). Er spricht von den „Schöpfungen des Abendlandes“ (MWG I / 14, 238). Das klingt allerdings pathetischer, als es gemeint ist. Weber würdigt die großen orchestralen Werke, die Komponisten, die Virtuosität der Solisten. Die Namen Bach, Haydn, Rameau, Corelli und Scarlatti fallen. Aus den Briefen wissen wir, dass er, dem zeitgenössischen Musikgeschmack entsprechend, Mozart und den späten Beethoven schätzt. Obwohl er die aufkommende Zwölftonmusik als Produkt einer „gezierten Ästhetenmanieriertheit“ abtut (MWG I  /  14, 241), teilt er eine besondere Vorliebe für das Wiener Rosé-Quartett, das Schönberg und Webern auf­ führt. Zu Wagner hat er ein ambivalentes Verhältnis. In den Briefen nennt

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

er ihn anerkennend einen „Dichter des Tragischen“, andererseits hält er Wagners angeblich religiöse Ambitionen für eine „Anmaßung“ und lehnt etwa den „Parzival“ als „Bühnenweihfestspiel“ ab. Von einigen WagnerOpern, die er besucht, zeigt er sich einmal tief beeindruckt, dann erscheinen sie ihm recht seltsam.8 Das methodische Vorgehen der Studie ist nicht konsequent, denn Weber nennt zwar einige Komponisten, aber dies erfolgt lückenhaft und zufällig. Weber schreibt keine Geschichte der rationalisierten Musik anhand von „großen“ Komponisten oder kompositorischen „Meilensteinen“ in dem Sinne, dass er verschiedene Stationen nachzeichnet, so wie es in der Musikwissenschaft meist der Fall ist.9 Dies hat einen entscheidenden Nachteil: Die Studie begibt sich der Chance ergänzender Plausibilität. Man würde gerne wissen, welche Musiken Weber vor Augen hat. Weber wählt jedoch den problemorientierten Zugang („Rationalisierung“), wobei er ein musikalisches Material verarbeitet, das gewaltig zu nennen nicht übertrieben ist. Den Plausibilitätsnachteil kann er dadurch allerdings nicht ausgleichen. Er betrachtet – um das Spektrum ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu benennen – Notenskalen in südostasiatischen Musiken, westfälische Kinderlieder, Indianermusiken, er untersucht die Phonogramme von „Negermusiken“, hellenische und arabische Musiken, Kirchenmusik und Synagogengesang, die Musiken von Urwaldvölkern, Volksgesänge der Kosaken. Das zeitliche Spektrum reicht von der Antike bis in die Gegenwart. Weber erwähnt mehrfach die pythagoreische Musiktheorie (MWG I / 14, 172, 203, 219), die auf der Grundannahme eines engen Verhältnisses von Musik und Mathematik basiert.10 Pythagoras hat die Zahlenrelationen in den musikalischen Grundintervallen erkannt und gilt als der erste Musiktheoretiker. Er geht davon aus, dass das gesamte Universum von einer heimlichen (Zahlen)Ordnung durchzogen sei und dass diese Ordnung sich nicht zuletzt in der Musik zeige. Ihre Aufgabe sehen Pythagoras und seine Nachfolger darin, die Zahlen-Ordnung der Musik und damit auch der Welt zu erkennen. Auf diese Weise glauben sie zu Sicherheit und innerer Harmonie zu gelangen (Tewinkel 2007, 14 ff.). Es überrascht, dass Weber der vor rationalisierungstheoretischem Hintergrund interessanten Pointe: Sicherheit und Harmonie durch Zahlen, keine 8  Vgl. Brief an die Schwester Lili v. 5. August 1912 und an die Mutter v. 14. August 1912, MWG II / 7, 638 u. 643, sowie Mariannes „Lebensbild“, 700. 9  Vgl. etwa in jüngerer Zeit Griffiths 2008, der die Geschichte der Musik vom Mittelalter bis zur Gegenwart in 24 Abschnitte teilt und anhand der Komponisten und ihrer Werke das sich ständig wandelnde Musikverständnis nachzeichnet. 10  Siehe dazu den Sammelband Fauvel / Flood / Wilson (2003). Dort auch ein Aufsatz zu Pythagoras, 13 ff.



6. Musik und Heilsgeschehen 151

Beachtung schenkt. Auch die Beobachtung Pythagoras’ von der Kongenialität von Musik und Mathematik macht Weber nicht wirklich fruchtbar für seine Theorie der Musikrationalisierung. Er interessiert sich für musikalische Techniken, dafür, wie Notensysteme aufgebaut sind. Er fragt sich, warum es Polyphonie und Kontrapunktik nur im Okzident gibt, wie es sein kann, dass Musiken nicht auf Notenschrift beruhen, warum Fuge und Kanon nur im Abendland vorkommen (MWG I / 14, 215, 217 f., 232). Aufhorchen lässt die Einführung des Kriteriums „Leistungsfähigkeit“ (MWG I / 14, 259). Weber konkretisiert und benennt als Leistungsindikator eines Instruments den „Tonumfang“ (MWG I / 14, 260). Die Idee von Ratio­ nalisierung, die anklingt, ist ein „Mehr“ und „Größer“, ein „Mächtiger“ und „Stärker“. Weber lässt offen, ob aus dem „Mehr“ auch ein „Besser“ wird, ob sich von „Leistungsfähigkeit“ auf musikalische Qualität schließen lässt. Wie in den Pythagoras-Passagen spricht er Punkte an, verfolgt sie aber nicht weiter. Es kommt nicht zur Sprache, dass unter Musik zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches verstanden worden ist. Im 18. Jahrhundert ist sie die Kunst, Töne so zu binden, dass Harmonien entstehen, die den Hörer in einen Zustand des „Wohlbefindens“ versetzen sollen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert rückt das persönliche Erleben und Empfinden in den Vordergrund. Musik wird zum Ausdruck individueller Gefühle, die auch das Gegenteil von „Wohlbefinden“ sein können. Es kommt auch nicht zur Sprache, dass Musik zu Beginn des industriellen Zeitalters als probates Mittel zur Produktivitätssteigerung angesehen wird. Das ist sie bereits im 12. und 13. Jahrhundert. Damals herrscht der Glaube vor, Musik steigere die Arbeitskraft. Deswegen werden zum Bau von Stadtmauern nicht nur Maurer, sondern auch Musikanten gerufen. Diese empirischen Belege stützen Weber, er scheint sich dafür aber nicht interessiert zu haben. Allerdings sollte man von der unvollendeten Studie nicht zu viel erwarten. Sie ist der ambitionierte Versuch, einer verblüffenden Entwicklung auf den Grund zu gehen: dass die Musikkulturen auf der Welt sich unterschiedlich und widersprüchlich entwickelt haben, dass die Erklärung dafür möglicherweise in einer spezifisch „westlichen“ Ratio zu suchen ist, dass diese „Ratio“ ihrerseits einen bestimmten Ursprung haben muss. Es ist möglich, dass dieser Ursprung in einem bestimmten Bemächtigungs- und Unterwerfungsstreben des Menschen liegt, aber dies thematisiert Weber nicht.

6. Musik und Heilsgeschehen Eine Schlüsselfunktion für die Frage nach den Ursprüngen der spezifisch okzidentalen Rationalisierung hat ein Brief, den Weber kurz vor Niederschrift der Musikstudie an seine Schwester Lilli richtet.

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

„Ich werde über Musikgeschichte wohl etwas schreiben. D. h. nur: über gewisse soziale Bedingungen, aus denen sich erklärt, dass nur wir eine ‚harmonische‘ Musik haben, obwohl andre Culturkreise ein viel feineres Gehör und viel mehr intensive Musik-Cultur aufweisen. Merkwürdig! – das ist ein Werk des Mönchtums, wie sich zeigen wird.“ (Brief an Lilli Schäfer v. 5. August 1912, MWG II / 7.2, 638 f.)

Weber nennt ausdrücklich das Mönchtum als zentrale Trägerschicht der Musikrationalisierung, aber von einem Nachweis, den er in der Musikstudie erbracht hätte, kann man nicht wirklich reden. Eher zufällig tauchen die Mönche auf. Zweimal nennt er sie direkt, einmal indirekt (MWG I / 14, 236, 267, 271). Es entsteht der Eindruck, als scheute Weber eine ausdrückliche Zuweisung. Denkbar ist, dass er vorsichtiger geworden ist, nachdem seine erste Protestantismusstudie heftigen Widerspruch provoziert hatte. Denn die Grundprämisse in Musik- und Protestantismusstudie ist gleich. Beide gehen von derselben Idee aus: der Puritanismus bzw. eine spezifische Form der Religiosität mit Verhaltensnormen wie Sparsamkeit, Fleiß, Strebsamkeit und Erfolgsorientierung begründet den Rationalismus und wird damit zum Motor sozialer Weiterentwicklung. Was die Musikstudie an Konkretisierung vermissen lässt, enthält die Protestantismusstudie. Man kann die eine auf der Folie der anderen lesen. Sodann zeigt sich: Aus puritanischem „Geist“ entsteht der Kapitalismus als rationale Wirtschaftsformation. Aus puritanischem Geist entsteht die rationale Musik. Puritanismus und Rationalismus sind insoweit „Wahlverwandte“ und bedingen einander. Warum begünstigt der Puritanismus die rationale Musik, wenn er sie nicht sogar unmittelbar hervorruft? Weber gibt einen Hinweis. Er schreibt, der Puritanismus beschränke sich auf das absolut Notwendige, er verzichte auf jegliches „ästhetische Raffinement“ (MWG I / 14, 158 f.). Wieder spielt Weber mit dem Gedanken, dass Rationalität und Ästhetik in Spannung zueinander stehen, sich sogar ausschließen können. Ästhetik ist für Weber offensichtlich ein Gegenbegriff zu Funktionalität. Musik interessiert ihn unter rein funktionalen Gesichtspunkten: je rationaler, desto funktionaler. Ästhetik impliziert „Klangschönheit“, doch Weber gesteht der Musik keinen ästhetischen Eigensinn zu; es zählt die reine Zweckrationalität. Das zeigt jene kurze, aber wichtige Passage, in der er vom Ursprung der Musik handelt. Musizieren hat nach Weber ursprünglich den alleinigen Zweck, die Götter und Dämonen zu beeinflussen, sie zu besänftigen, gnädig zu stimmen. Um das Leben zu erhalten, musste Musik rationalisiert werden, d. h. in eine bestimmte Ordnung gebracht werden, um sie besser und leichter erlernen zu können, denn „falsches“ Singen hätte unweigerlich den Tod bedeutet (MWG I / 14, 187). Musik zu rationalisieren bedeutet demnach, sie berechenbar zu machen. Die Mönche rationalisieren die Musik also, um das Leben der Gläubigen zu



7. Fortschritt in der Musik und die Regression des Hörens153

schützen bzw. ihr Gottesheil zu vergrößern. Musik entspringt damit einem religiösen Kontext, dem sie erst später entwächst, von dem sie sich emanzipiert und damit zur Kunst wird. Das nennt Weber dann die autonome Sphäre der Musik und ihre „Eigengesetzlichkeit“. Doch zunächst ist sie Mittel, um einen ganz bestimmten Zweck zu erreichen, und um größtmögliche Sicherheit zu haben, dass das Ziel tatsächlich erreicht wird, muss sie rationalisiert werden. Rationalisierung der Musik ist unter funktionalen Gesichtspunkten gleichbedeutend mit der Rettung des religiösen Heils. Rationale Musikentwicklung ist, so gesehen, Heilsgeschehen.

7. Fortschritt in der Musik und die Regression des Hörens Webers Argumentation ist zwar verschlungen, gleichwohl besitzt die Studie eine Struktur, die sich aus drei miteinander zusammenhängenden Rationalisierungsbegriffen ergibt. Weber unterscheidet drei Ebenen: Er schildert die innermusikalische oder tonphysikalische Rationalisierung. Hier beschreibt er die Temperierung („Mäßigung“) der Töne mit dem Ziel harmonischer Musikbildung. Halb- und Vierteltöne dienen dazu, Tondistanzen zu überbrücken. Harmoniefremde Töne werden eliminiert bzw. „anstößige Unreinheiten“ „gesäubert“ (MWG I / 14, 247). Unter die außermusikalische Rationalisierung fasst Weber die Notenschrift, die Produktion, Überlieferung und Reproduktion von Musik ermöglicht (MWG I / 14, 232 u. 237). Außermusikalische Rationalisierung erfolgt außerdem über das Instrument. Weber betrachtet ausschließlich die „Binnenrauminstrumente“, also Orgel, Klavier und Violine, die er als „Träger alles musikalischen Rationalismus“ ansieht (MWG I / 14, 264). Die mittelalterliche Orgel nennt er eine „Musikmaschine“, da bis zu 40 Pfeifen auf einer Taste liegen. Die Tasteninstrumente haben nach Weber das Ziel, die natürliche Vielfalt der Töne zu begrenzen. Harmoniefremde Töne werden übertönt. Es geht um Wirkungsmächtigkeit, nicht um „Raffinement“, um Klangfeinheiten des musikalischen Genusses wegen. Die dritte Rationalisierung nennt Weber, etwas irreführend, die eigentliche Rationalisierung. Damit benennt er den oben beschriebenen Übertritt der Musik von einem zweckgebundenen, die „Götter und Dämonen“ beschwichtigenden „Schau-“ bzw. „Hörspiel“ zu einem solchen des autonomen Kunstgenusses. Die „eigentliche“ Rationalisierung bewirkt die Ausdifferenzierung einer eigenständigen Wertsphäre; man könnte auch von einer „Meta-Rationalisierung“ sprechen. Diese drei Rationalisierungen stellt Weber in den universalhistorischen Zusammenhang des unterschiedlichen Verlaufs der Musikentwicklung im Okzident und Orient. So kommt er zu seiner zentralen These. Er kontrastiert die „westliche“ Musikrationalisierung mit der „östlichen“. In beiden Kulturen sieht er unterschiedliche Triebkräfte am Werk. Während sich die

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

westliche Musik harmonisch rationalisiert, „rationalisiert“ sich die östliche Musik melodisch. Es ist verwirrend, dass Weber auch im Kontext „Melodik“ von Rationalisierung spricht, denn an anderen Stellen seiner Studie ist die Melodik der Bereich, der sich gar nicht rationalisieren lässt. Das ist nicht das einzige Problem, das durch die schematische Trennung von Melodik und Harmonik hervorgerufen wird. Indem Weber Harmonik und Melodik trennt, übergeht er, dass beide konstitutive Bestandteile von Musik sind und gemeinhin gemeinsam auftreten. Konstitutiv ist auch der Rhythmus, den Weber gar nicht behandelt, allerdings wohl behandeln wollte.11 Man muss Webers Vorgehen überhaupt als eigenwillig ansehen. Die Trennung von Harmonik und Melodik, das Ausblenden der Rhythmik, aber auch die Vernachlässigung von Instrumentation und Tonstärke – gemeinhin die Mittel der musikalischen Gestaltung –, begründen erst den Begriff der Musik. In Webers Analyse kommen sie nicht vor. Eine Frage stellt sich: Warum eigentlich strebt nur der okzidentale Mensch nach Harmonie? Was treibt ihn, was sein Pendant in östlichen Kulturkreisen nicht treibt? Webers Argumentation ist nicht überzeugend, weil nicht recht klar wird, was er unter „Harmonik“ und was er unter „Melodik“ versteht. Warum sieht er beide in einem Widerspruch und nicht als gegenseitige Ergänzung? Ich möchte einer Hypothese nachgehen: dass Harmonik und Melodik nicht allein in einem strikt musikwissenschaftlichen Sinne gemeint, sondern Metaphern sind. Denn geht man die Studie einmal durch und reduziert „Harmonik“ und „Melodik“ auf die Bedeutungssubstanz, dann wird klarer, was Weber meint und worauf er hinaus will. „Harmonik“ bedeutet „Zusammenklang“, „Melodik“„Selbstklang“. „Zusammenklang“ setzt ein Ordnungsgefüge und die Ausrichtung auf ein Ziel voraus. Eliminiert werden muss, was den Zusammenklang stört. Harmonik steht für Unterordnung und Selbstaufgabe. „Selbstklang“ dagegen ist der Ton ohne organisierendes Zentrum. Er kann klingen, ohne sich einer Ordnung unterstellen zu müssen. Insofern ist er „frei“. Melodik steht für Autonomie und Freiheit. Wenn Weber die okzidentale Musik als harmonische Musik charakterisiert, dann bedeutet dies entsprechend, dass sie eine Musik der Kontrolle und des Zwangs ist, und zwar um eines den einzelnen Ton übergreifenden Zieles willen. Die Tonvielfalt muss sich einer kompositorischen Ordnung fügen, da es um die Herstellung eines „Höheren“, eines „Werkes“ geht. Rationalisierung in der Musik ist deshalb ein Beschneiden, Einengen, Zurechtbiegen, ein Verfügbarmachen, ein „Vernutzen“, um mit Heidegger zu reden, von eigentlich „freien“ Tönen. Moderne, harmonische Musik gilt Weber als eine Musik, die das Gehör deformiert. Die „moderne harmonische Musik“, heißt es, hat dem 11  Vgl. den Hinweis MWGI / 14, 236, wonach er offensichtlich plante, der „Entwicklung des Rhythmus“ ein eigenes Kapitel zu widmen.



8. Rebellische Töne: der Einfluss der Musikethnologie155

„Ohr des rezipierenden Publikums“ … „einen Teil jener Feinheit genommen, welche dem melodiösen Raffinement der antiken Musikkultur das entscheidende Gepräge gab“ (MWG I / 14, 278). Einige Seiten vorher deutlich: Sie wirkt „ungemein abstumpfend“ (MWG I / 14, 252). Rationalisierung in der Musik ist damit gleichbedeutend mit der Regression des Hörens. Seine Pointe verstärkt Weber durch die Kontrastierung von moderner und antiker Musik. Es ist das einzige Mal, dass er diesen Gegensatz herstellt. Während der zeitgenössische Hörer das Hören verlernt hat oder Gefahr läuft, das Hören zu verlernen, verfügt der Hörer im Altertum offensichtlich noch über ein intaktes und unverformtes Gehör. Die Erklärung lautet: Weil er noch keine harmonische Musik kennt. Weber ist in diesen Passagen, ganz wider seine sonstige Gewohnheit, stark antikisierend und die Antike idealisierend. Auch die Sprache verändert sich: Weber benutzt ein Vokabular des Verfalls. Auf einigen Seiten wütet nachgerade ein „Krieg der Töne“.

8. Rebellische Töne: der Einfluss der Musikethnologie In einem kürzlich veröffentlichten Brief an die Mutter charakterisiert er sich als dasjenige Familienmitglied mit den am „stärksten angeborenen ‚kriegerischen“ Instinkten“ (Brief v. 24. April 1916, MWG II / 9, 395). Dieser Satz fällt im Ton eines heute nicht mehr nachvollziehbaren Bedauerns, denn Weber bleibt eine aktive Rolle im Krieg verwehrt. Bei der Wortwahl dürfte auch Koketterie mit Eigenschaften im Spiel sein, die er gern besäße, aber vielleicht doch nicht besitzt. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund des damals herrschenden Männerbildes, zumal in Kriegszeiten. Aber ganz unzutreffend dürfte die Selbstbeschreibung des streitlustigen Weber wiederum auch nicht sein. Auf einigen Seiten der Studie lebt Weber seine „kriegerischen Instinkte“ verbal aus. Da wird um „Rechte“ und gegen „Rebellen“ gekämpft. Da haben Töne sich „zu fügen“, und Musik ist „harter Kampf“, der nicht nur in „barbarischen Musiken“ ausgetragen wird. Da werden ganze Landstriche von Musiksystemen „überschwemmt“, „überrannt“ möchte man fast sagen. Da entscheidet das Gehör über „Wert und Unwert“ von Melodien, und Töne werden in „lange nachgeschleppte Ketten geschlagen“. Das Musikinstrument betrachtet Weber sogar als potenzielles Instrument zur „außermusikalischen Vergewaltigung“.12 An keiner anderen Stelle in seinem Werk findet sich diese Sprache wieder. Auch die Briefe, die Weber schreibt, wecken nirgendwo die Assoziation von „Krieg“. Mit dem Kampf- und Verfallsvokabular unterstellt Weber, möchte ich behaupten, dem Rationalisierungsprozess Zerstörung und Gewaltsamkeit. 12  Belege:

Musik, 152, 242, 243, 248, 249, 250 u. 253.

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

Diese Passagen sind schon beinahe eine Denunziation. Allerdings ist diese Diktion im musikwissenschaftlichen Schrifttum der Zeit durchaus keine Seltenheit. Weber verarbeitet Hugo Riemanns „Geschichte der Musiktheorie“ (1898), Otto Bährs „Tonsystem unserer Musik“ (1882) und auch Schönbergs „Harmonielehre“ (1911).13 Dieses Buch versteht sich explizit als Kampfansage an die herkömmliche Musiktheorie. „Zum Teufel mit allen diesen Theorien, wenn sie immer nur dazu dienen, der Entwicklung der Kunst einen Riegel vorzuschieben!“ (Schönberg 1922, 4). Webers drei zentrale Quellen sind die Schriften von Hermann von Helmholtz (1821–1894), Carl Stumpf (1848–1936) und Erich Moritz von Hornbostel (1877–1935). Helmholtz’ „Lehre von den Tonempfindungen“ (1863) formuliert die These, dass das Hören auch von Geschmack und Gewöhnung abhängt – neben rein physiologisch-physikalischen Bedingungen wie etwa der Anatomie des Gehörs. Helmholtz, Arzt und Physiker, gilt als Kritiker der modernen Musik und fordert die Rückkehr zu „reinen“ Tönen, um ein „unverbildetes“ musikalisches Gehör zu „retten“.14 Carl Stumpf, Begründer der Tonpsychologie und Pionier der vergleichenden Musikwissenschaft, führt Helmholtz’ tonphysikalische Forschungen fort und gründet mit seinen Schülern 1900 in Berlin das Phonogramm-Archiv. Dort konserviert er vor allem außereuropäische Musiken, der festen Überzeugung, dass die europäische Kultur diese fremden Töne früher oder später auslöschen werde. Während seiner Aufenthalte in Berlin hört sich Weber im Phonogramm-Archiv einige der Aufzeichnungen an. Hornbostel, Schüler von Stumpf, Chemiker und Experimentalpsychologe, hat zwar keine Monographie, aber weit über hundert, zum Teil einflussreiche Zeitschriftenaufsätze veröffentlicht. Weber gehört zu den eifrigen Lesern. Einer der bekanntesten Aufsätze ist „Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft“ (1905). Der Titel deutet nicht darauf hin, dass der kleine Text eine scharfe Kritik an dem enthält, was man im Sinne Hornbostels „westlichen Kulturimperialismus“ nennen könnte. „Es ist höchste Zeit, dass die echten Erzeugnisse fremder Kulturen auch auf musikalischem Gebiet gesammelt werden, bevor sie durch Europäismen unrettbar verdorben sind.“ (Hornbostel 1986, 51)

Der Aufsatz endet mit dem Aufruf zu einem kulturellen roll back: „Die Gefahr ist groß, dass die rapide Ausbreitung der europäischen Kultur auch die letzten Spuren fremden Singens und Sagens vertilgt. Wir müssen retten, was zu retten ist, noch ehe zum Automobil und zur elektrischen Schnellbahn das lenk13  Hinweis

der Editoren Braun / Finscher 2004, MWG I / 14, 152 f. Anm. 17. folge Braun  /  Finscher 2004, 42 ff., siehe dort auch Personenverzeichnis 289 f., 295 f.; vgl. auch Radkau 2005, 950, Anm. 93. 14  Ich



8. Rebellische Töne: der Einfluss der Musikethnologie157 bare Luftschiff hinzugekommen ist, und ehe wir in ganz Afrika Tarabum – diäh und in der Südsee das schöne Lied vom kleinen Kohn hören.“ (Hornbostel 1986, 57)

Es ist die These hier, dass Hornbostel, Helmholtz und Stumpf Weber nachhaltig beeinflusst haben. Ihr Kampf um die Unversehrtheit fremder Musikkulturen färbt auf Weber zum einen sprachlich ab, beeinflusst ihn aber auch inhaltlich derart, dass er den Prozess der Musikrationalisierung primär als einen Nivellierungs- und Zerstörungsprozess wahrnimmt. Weber ist zwar entfernt davon, sich auf die anti-westlichen und anti-modernen Konsequenzen der musikethnologischen Kritik einzulassen, aber im Prinzip dürfte er die Sorge vor einer feindlichen Übernahme der außereuropäischen Musikkulturen durch den „Westen“ geteilt haben. Indiz dafür ist, dass sich in der Musikstudie kein kritisches Wort zu den deutlich wertenden Implikationen insbesondere der Arbeiten Hornbostels findet. Diese Aufsätze sind, jenseits ihrer hier nicht zu bestreitenden Leistung, auch ein Beispiel für die von Weber scharf kritisierte Vermischung von Wissenschaft und Weltanschauung. Ihren Sinn und Zweck sehen sie nicht zuletzt im Kampf wider den Universalismus der westlichen Musikkultur. Darauf geht Weber jedoch nicht ein, auch nicht in einer Nebenbemerkung. Er verschont die Kritiker der westlichen Musik, denn ihre Arbeiten bilden zu einem Großteil die Grundlage der Musikstudie.15 Der Einfluss reicht vermutlich sogar noch weiter. Es könnte sein, dass Webers universalhistorische Fragestellung, die er in der „Vorbemerkung“ des ersten Bandes der religionssoziologischen Aufsätze formuliert, auch und eventuell maßgeblich von der Musikethnologie inspiriert ist. Dort fragt Weber sich bekanntlich, welche besonderen Umstände dazu geführt haben, dass bestimmte Kulturerscheinungen nur auf dem Boden des Okzidents Fuß fassen konnten, obwohl sie in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung lagen (RS I, 1). Eine solche Fragestellung konnte nur vor dem Hintergrund der Wahrnehmung von grundlegenden Kulturdifferenzen entstehen, auf die Weber vor allem beim Studium der Weltreligionen, aber zuerst beim Studium der Musiken in unterschiedlichen Kulturkreisen gestoßen ist. Der Einfluss der Musikethnologen schlägt sich bei Weber so nieder, dass er die Gefahr, die für die Musiken ausgeht, die sich nicht dem „europäischen“ Muster fügen, als Bedrohung der Vielfalt und Integrität der Musik durch Rationalisierung umdeutet („einfügen“, „angleichen“, „in Ketten schlagen“). Ihre Arbeiten nähren seine Skepsis gegenüber einem Rationali15  Webers vierte zentrale Quelle, das „Handbuch der Musikgeschichte“ (1904– 1913), kann nicht als Korrektiv angesehen werden. Deren Verfasser, Hugo Riemann, steht der Musikethnologie aufgeschlossen gegenüber; deren Vertreter würdigt er als „exakte Forscher“. (Vgl. Braun / Finscher 2004, 36 ff.)

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Kap. 5: „Krieg der Töne“

sierungsprozess, der keine Achtung vor anderen Musikkulturen zu haben scheint, geschweige denn ihre Erhaltung für wünschenswert erachtet. Deshalb muss sich Weber auch geradezu durchringen, die Errungenschaften der westlichen Musikrationalisierung überhaupt anzuerkennen. Merkwürdigerweise stellt er, aber stellen sich auch die Musikethnologen nicht die Frage, ob denn die Fortschritte in der westlichen Musikentwicklung automatisch den Untergang außereuropäischer Musikkulturen bedeuten müssen. Warum können sich beide Traditionen nicht gegenseitig durchdringen und so Innovation ermöglichen, wie das etwa in der Malerei der Fall gewesen ist? Der Schwerpunkt liegt so einseitig auf dem Zerstörungspotenzial; nicht die Chancen, sondern nur die Risiken werden gesehen. Andererseits darf die paradigmatische Wirkung der Musikethnologie nicht übersehen werden. Die Arbeiten der Autoren haben, auch wenn sie es da­ rauf nicht primär angelegt hatten, zu einer Erweiterung des wissenschaft­ lichen Horizonts beigetragen und eine Denkschule begründet, die den Eurozentrismus hinter sich zu lassen bestrebt war. Dass Weber sich im Laufe seiner religionssoziologischen Studien zu einem Pionier der vergleichenden Kulturwissenschaft entwickelt, ist sicherlich auch auf den Lernerfolg durch die Musikethnologie zurückzuführen. Die Schriften von Hornbostel, Stumpf und Helmholtz haben den ursprünglichen Anstoß gegeben; sie stehen am Anfang eines sich damals vollziehenden Paradigmenwechsels. Man könnte von der Entwicklung einer „Relativitätstheorie der Musik und der Musikkulturen“ sprechen. Diese Theorie verteidigt das Eigenrecht jener Musikkulturen, die für das europäische Ohr „primitiv“ und „chaotisch“ klingen. Sie stellt die „Höherwertigkeit“ der westlichen Kultur in Frage und bereitet den Boden für die Akzeptanz und Bewahrung fremder Musikkulturen, auch für die Anerkennung ihres ästhetischen Potenzials. Dies liegt ganz auf der Linie des Weberschen Denkens. Vermutlich ist dies der Grund, warum Weber von der offensichtlichen Vermischung von Wissenschaft und Weltanschauung in der Musikethnologie absieht, deren Arbeiten intensiv rezipiert und zur Grundlage seiner eigenen Studie macht.

9. Webers Irrtum: Kreativität statt „Untergang“ Das Untergangsszenario, das die Musikethnologen entwerfen und vor dessen Hintergrund Weber Rationalisierung als Zerstörungsgeschichte interpretiert, hat sich, mit Blick auf die Musikentwicklung bis heute, nicht bewahrheitet. Die fremden Musikkulturen haben sich zwar verändert, sie sind aber nicht verschwunden. Eine Vielfalt der Musiken besteht fort und reproduziert sich laufend. Es gibt keine Nivellierung im Weltmaßstab, wie noch die Musikethnologen befürchtet hatten. Es gibt keinen „westlichen“ Kul-



9. Webers Irrtum: Kreativität statt „Untergang“ 159

turimperialismus, dem sich alles unterzuordnen hätte oder der überhaupt diesen Anspruch erhöbe. Allerdings gibt es Interdependenzen der Musikentwicklung bei gleichzeitig beherrschender Wirkung der abendländischen Musik. Dies ist auch Ergebnis einer „Mediamorphose“, wie Blaukopf die grundlegende Transformation der Musik infolge Medieneinflusses nennt (1996, 270 ff.). Damit kommt es zu einer gewissen Angleichung der verschiedenen Musikkulturen.16 Als nicht haltbar hat sich auch die These von der Dominanz der Harmonik zu Lasten der Melodik erwiesen. Sie erklärt zwar ein Stück weit den westlichen Sonderweg, den die Musikentwicklung genommen hat, verkennt jedoch den Eigensinn musikalischer Fortentwicklung, der zu Brüchen und Widersprüchen führt. Die Musikentwicklung im Okzident lässt sich zwar auch, aber nicht allein als harmonische Rationalisierung begreifen. Vielmehr haben wir es mit einem Prozess gegenseitiger Durchdringung der Musikkulturen zu tun. Noch zu Lebzeiten wird Weber falsifiziert. Bereits die Neue Musik, deren Entstehen um 1910 er interessiert verfolgt, muss kategorial schon ganz anders gefasst werden. Darauf soll abschließend eingegangen werden. Weber bezieht sich zweimal explizit auf Schönberg, allerdings keineswegs in einem positiven Sinne. Er spricht von „tonalitätszersetzenden Erscheinungen“ und nennt die Zwölftonmusik das „Produkt einer gesucht barocken und gezierten Ästhetenmanieriertheit und intellektualisierten Feinschmeckerei“ (MWG I / 14, 241). Das ist zunächst überraschend insofern, als man von Weber vor dem Hintergrund der musikethnologischen Einflüsse, aber auch vor seiner denkerischen „polyphonen“ Grundhaltung eine gewisse Offenheit hätte erwarten können. Denn was für außereuropäische Musiken gilt, muss auch für die Weiterentwicklung der westlichen Musik gelten. Schönbergs kompositionstechnische Neuerungen sind aber wohl zu radikal, als dass sie als eine „Weiterentwicklung“ gesehen worden wären. In der Musikwelt lösen sie einen Sturm der Entrüstung aus. Bei den Uraufführungen des Ersten und Zweiten Streichquartetts 1907  /  08 in Wien, die als „Skandalkonzerte“ in die Musikgeschichte eingehen, kommt es nicht nur zu massiven Störungen, sondern sogar zu Handgreiflichkeiten.17 Ich möchte die These vertreten, dass sich Weber dadurch, dass er sich der Neuen Musik durch herzliche Abneigung verbunden weiß, der Chance zu tieferer analytischer Einsicht in die Entwicklungsläufe von Musik und damit auch von Rationalisierung begibt. Weber entgeht, dass die Anfänge der 16  Ein Überblick über die vielfältigen Transformationsprozesse in der Musik seit Erfindung der „Neumen“, einem Vorläufer der Noten, bei Smudits (2007, 111 ff.). 17  Dazu die Dokumentation in Eybl 2004 sowie die Einführung des Heraus­gebers, 13 ff.

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Neuen Musik im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch als ein Ausbruch aus dem Schema der Harmonik zugunsten der Melodik interpretiert werden können. Hier passiert etwas, das weder die Musikethnologen noch Weber für möglich gehalten hatten: Es gibt keine gleichförmige Weiterentwicklung der harmonischen Musik, vielmehr verlässt die westliche Musik ihre scheinbar vorgezeichnete Bahn und sprengt den Rahmen harmonischen Zusammenklangs. Schönbergs erste Kompositionen sind die gezielte Abkehr von der tradierten Harmonik. Sie gehen von einer völlig veränderten Aufeinanderfolge von Tönen aus und betrachten sich nicht zuletzt als produktive Herausforderung eines von den Gesetzen der Harmonie angeblich deformierten Gehörs. In diesem Sinn sind sie „Rückgewinn“ des Gehörs, Re-Sensibilisierung. Seine ab 1921 entwickelte Zwölftontechnik sieht Schönberg ausdrücklich als „Emanzipation der Dissonanz“ an, die einer Aufwertung der Melodik gleichkommt (1976, 73). In einem Fragment von 1923 charakterisiert er die Zwölftönkomposition als Versuch, „fast alles, was das Um und Auf der früheren Harmonie bildet, nach Möglichkeit (zu) vermeiden“. Das „Zusammenklingende“ (Harmonie, Akkorde) wird vom „Nacheinanderklingenden“ (Melodie, Motiv, Satz) abgelöst (Schönberg 2007, 99). Der Wiener Musikwissenschaftler Martin Eybl nennt das Motiv Schönbergs poetisch die „Befreiung des Augenblicks“ (2004, 54). Bei Schönberg haben die Töne ihr organisierendes Zentrum verloren und stehen gleichberechtigt nebeneinander. Sein Programm und kompositorisches Ziel ist die Vereinzelung der Teile: ihre „Befreiung“. In einem Brief an Busoni schreibt Schönberg: „Ich strebe an: Vollständige Befreiung von allen Formen, von allen Symbolen des Zusammenhangs und der Logik … Weg von der Harmonie als Zement oder Baustein einer Architektur.“18 Die „rebellischen Töne“, von denen Weber spricht, werden bei Schönberg also nicht eingesperrt, sondern losgelassen. Damit wird die harmonische Musikentwicklung gebrochen, Neues entsteht. Betrachtet man den Fortgang der Neuen Musik, so setzt sich dieser Prozess schöpferischer Innovation fort. Auf Schönbergs Phase freier Tonalität folgt eine Phase gebundener Tonalität. Hier findet quasi eine Zurückentwicklung statt. Schönberg selbst leitet diesen Prozess ein. Er wird fortgesetzt mit der seriellen Musik eines Boulez, Stockhausen oder Nono. Deren Musiken sind, wenn man so will, hochgradig rationalisiert. Auf den Serialismus wiederum folgt eine Periode der Vielfalt von Techniken und Stilen (elektronische Musik, Aleatorik, Musique concrète). Ein ganz ähnlicher 18  Briefwechsel zwischen Schönberg und Ferrucio Busoni 1903–1919, zitiert bei Eybl 2004, 54.



9. Webers Irrtum: Kreativität statt „Untergang“ 161

Prozess gegenseitiger Beeinflussung und Befruchtung, von Ab- und Umkehr lässt sich in der populären Musik beobachten. Der Fortgang der Musikentwicklung zeigt, dass es die von Weber unterstellte Linearität nicht gibt. Die Entwicklung verläuft in Wahrheit gebrochen, widersprüchlich, diskontinuierlich. Sie ist auch keineswegs irreversibel. Es sind jederzeit „irrationale“ „Rückschläge“ möglich, die aber erst Wandel und Veränderung mit sich bringen. Wahrscheinlicher als eine kontinuierliche Bewegung hin zu einem rationalisierten „Endzustand“ sind ständige Wechsel und ein offener Ausgang. Das ist eigentlich ein genuin Weberscher Gedanke. Ein Anliegen etwa in den methodologischen Schriften ist ja die Kritik des deterministischen Denkens, das vorgibt, Entwicklungsverlauf und Ergebnis „immer schon“ zu kennen. Diskontinuität und Widersprüche sind aus Sicht Webers kein Makel, sondern Vorbedingung für Innovationen. Daraus resultiert seine Wertschätzung von „Kämpfen“ und „Konflikten“, die zu „befrieden“ er deshalb für einen Fehler hält, weil dies Stagnation bedeuten würde. In der Musikstudie jedoch denkt Weber selbst deterministisch. Deshalb verwundert es nicht, wenn der sowjetische Kommissar für Bildung, wie zu Beginn dieses Kapitels zitiert, die Schrift für „wie geschaffen“ hält, „in der Fabrik des Marxismus weiterverarbeitet zu werden“.

Kapitel 6

Minissima Moralia. Zur Kritik des „parzellierten Menschentums“ in den Briefen Aristoteles’ Autorschaft an der „Magna Moralia“ ist zwar nicht eindeutig geklärt, aber der Titel „Große Ethik“ bringt treffend den Anspruch zum Ausdruck, den die antike Ethik seit Aristoteles erhebt. Entstanden aus der Systematisierung und Radikalisierung von Gedanken, die in der vorphilosophischen Lebensweisheit vorbereitet waren, versteht sich diese als ein begründetes und geschlossenes System mit einem Telos, einem „Endziel“. Bei Aristoteles ist dies die „Eudaimonia“, die „Glückseligkeit“, oder auch das „Gut-Leben“, das „Sich-gut-Verhalten“ (NE I, 1095 a 18 ff.), von dem Aristoteles meint, dass der Mensch genau danach strebt (NE I, 1094 a 3).1 Der Unterschied zwischen der vorphilosophischen Lebensweisheit und der philosophischen Ethik seit Aristoteles besteht darin, dass die erste unsystematisch ist und aus einer „lockeren Masse einzelner Anweisungen für die verschiedenen Lebenslagen besteht“ (Gigon 2006, 59), während die zweite einen Mittelpunkt besitzt, auf den konsequent alles Handeln hinsteuert (dazu auch Horn 1998, 61 ff.).  Als Adorno seine „Minima Moralia“ veröffentlicht, lässt er sich zwar vom Titel der aristotelischen Schrift inspirieren, bricht jedoch mit dem aristotelischen Programm und der Tradition der europäischen Philosophie, weil er glaubt, dass ein System der Ethik, das objektiv und zeitlos gültig ist, in der modernen Zeit und nicht zuletzt vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Erfahrungen nicht mehr möglich sei. Die „Minima Moralia“ von 1951 verstehen sich im Untertitel als, dabei auf ein Wort Nietzsches anspielend, „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Adorno spricht auch von „trauriger Wissenschaft“ (1984, 13), die im Wesentlichen auf „subjektiver Erfahrung“ beruht (1984, 17). Der Bruch mit der Tradition der philosophischen Ethik spiegelt sich in der Darstellungsform wider: Absatzlange Textstücke und ein aphoristischer Stil sollen die Unmöglichkeit eines geschlossenen Systems der Ethik ausdrücken. 1  Vgl. auch den kooperativen Kommentar zur „Nikomachischen Ethik“, Höffe 2006 a, dort die „Einführung“, 3 ff. sowie den Beitrag von Ackrill, 39 ff. wie auch Ackrill 1985, 199 ff. und Wolf 2007, 23 ff.



Kap. 6: Minissima Moralia163

Wenn hier als Titel des Kapitels „Minissima Moralia“ gewählt wird, dann möchte ich damit zunächst ausdrücken, dass es auch bei Weber keine Ethik gibt, die den Anspruch eines Systems erheben würde. Auch er bestreitet, dass sich eine Ethik wissenschaftlich-systematisch herleiten lasse. Die Steigerungsform „Minissima“ erklärt sich so, dass Weber in seinem veröffentlichten Werk die Ethik lediglich als ein zu Beschreibendes und zu Analysierendes anerkennt (die „Protestantische Ethik“ oder die „Wirtschaftsethik des Judentums“ etc.), jedoch als normatives Programm für die Wissenschaft, die er betreiben will, ausdrücklich ablehnt. Weber begründet dies damit, dass es keine zeitunabhängige, universell gültige Ethik geben könne. Ethik als normatives Programm setzt Weber häufig gleich mit dem Eintreten für bestimmte ethische Werte. Der Ethik geht, wie man mit Carl Schmitt sagen könnte, eine Dezision voraus, die jeder für sich und durchaus unterschiedlich trifft. Die berühmte Formulierung bei Weber lautet, jeder müsse für sich entscheiden, „was für ihn der Gott und welches der Teufel“ sei. Ethik ist für Weber ein System der Werte, zu dem man sich bekennt, welches man sich selbst „zusammenstellt“ und dem man sich unterstellt. Es besteht aus lauter, wie Weber gerne sagt, „letzten Stellungnahmen“ (WL, 604). In der Wissenschaft hat die Ethik nach Weber deshalb nichts zu suchen, weil sie aufgrund ihrer subjektiven Beweggründe potentiell willkürlich sei. Pointiert könnte man sagen: Ethik ist für Weber praktizierter Voluntarismus. Aufgrund dieses fragwürdigen Status’ kann sie nach Weber keine universelle Gültigkeit beanspruchen. Aus der Askese gegen die Ethik in normativer Hinsicht macht Weber, ließe sich pointieren, die Tugend wertfreier Wissenschaft. Allerdings gelingt es ihm nicht immer, die Welt der normativen Ethik auszublenden. Das, was Weber die „letzten Stellungnahmen“ nennt, ist ein permanenter Unruheherd in einer Wissenschaft, die sich als „wertfrei“ versteht. Diese Aussage gilt für eine Reihe von Passagen in seinem veröffentlichten Werk, sie gilt aber vor allem für sein umfangreiches briefliches Werk. Davon ist bislang etwa die Hälfte erschienen, jeder der fünf Bände hat zwischen 800 und 1.100 Seiten. In diesen Briefen lernen wir Weber als tief moralischen Menschen kennen. Denn Weber lässt nur wenige Gelegenheiten ungenutzt, bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen als moralisch gut bzw. schlecht zu beurteilen. Unter Moral (lat.: mos, mores; Sitte Sitten) verstehe ich die in einer Gemeinschaft praktizierten Verhaltensregeln, denen bestimmte Werte, bestimmte Tugenden und Postulate zugrunde liegen (vgl. Art. Moral, moralisch, Moralphilosophie, HWPh 6, 149 ff.). Wer Weber aus seinen veröffentlichten Schriften als jemanden kennt, der sich programmatisch jeder wertenden, moralischen Äußerung enthält, ist

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Kap. 6: Minissima Moralia

verwundert, wie großzügig er in seinen Briefen moralische Wertungen „verteilt“. Häufig benutzt er auch die Bezeichnung „moralischer Muth“ (sic!), worunter er Eigenschaften wie Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, aber auch Grundsatztreue und Prinzipienfestigkeit versteht. Die Orientierung an „moralisch muthigen“ Grundsätzen betrachtet er als normatives Handlungsideal. Er selbst ist „moralisch muthig“. In den Briefen treffen wir auf Bruchstücke einer Ethik, welche die empirische, die herrschende Moral mit einer Reihe von Verhaltensnormen konfrontiert, die sich als die „besseren“, als die „richtigen“, als die „eigentlich“ zu wählenden verstehen. Dort gibt Weber seine geradezu ostentative Abwehr gegenüber der Welt der Werte und der Moral auf und gewährt offen Einblick in sein „Werte-Innerstes“. Hingegen ist er in seinen veröffentlichten Schriften bemüht, eine wissenschaftsethische bzw. methodologische „Bremse“ einzuziehen („… aber das gehört nicht hierher …“). In seinen moralischen Reflexionen kommt vor allem eine Sorge zum Ausdruck: dass der Weg, den die moderne Welt eingeschlagen hat, ins Verderben führen, dass das „Vollmenschentum“, so Webers pathetischer Ausdruck, ausgelöscht werden könnte. In den protokollierten Reden vor dem „Verein für Sozialpolitik“, in denen sich Webers moralische Leidenschaft ebenfalls artikuliert, findet er dafür die Formulierung von der „Parzellierung der Seele“ (GAzSS, 414). Der Begriff der „Parzellierung“ taucht auch in den Briefen auf. Ich möchte hier der These nachgehen, dass es Weber in seinen moralischen Reflexionen vor allem um eine Kritik der „Parzellierung des Menschentums“ geht. Die Briefe sind zu einem nicht geringen Teil Reflexionen über diese „Aufteilung“, diese „Verkleinerung“ des Menschen. Die „Parzellierung“ scheint bereits in vollem Gange. Insofern lassen sich Webers Briefe ebenfalls als Reflexionen aus dem beschädigten, oder besser noch: auf das gefährdete Leben lesen. Von einer „Minissima Moralia“ spreche ich hier auch, weil die Briefe ja nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Allerdings werfen sie ein Licht auf eine Seite Webers, die man kennen sollte und welche man so nicht vermutet hätte. Wenn es darum geht, einen möglichst „vollständigen“ Weber kennen zu lernen, was ein genereller Anspruch dieser Arbeit ist, scheint es legitim, die Briefe als eine Quelle zu benutzen, ohne damit den Unterschied zwischen veröffentlichtem und zur Veröffentlichung nicht vorgesehenem Werk verwischen zu wollen. Übrigens ist das leidenschaftliche Wesen Webers, hinter dem man ein ausgeprägtes moralisches Bewusstsein vermuten könnte, keine unbedingt neue Erkenntnis. Gerade jenen (Schreib-)Momenten, in denen Weber seine



1. Die Briefe165

emotionale Zurückhaltung aufgibt, verdanken wir eine Reihe von markanten Thesen. Die Metapher vom „stahlharten Gehäuse“ oder jene vom „Triebwerk“, das den Lebensstil von jedem Einzelnen bestimme, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“ (RS I, 203), sind dafür Beispiele. Auch die Entzauberungsthese im Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ ist einem Augenblick geschuldet, in dem Weber selbst geradezu existentiell erschüttert ist (vgl. Kap. 2). Er diagnostiziert den Untergang einer bestimmten Welt mit der Folge einer großen Leere, und fortan sei es das Schicksal, „in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben“ (WL, 610). Die Briefe und deren hohe Dichte moralischer Reflexionen zeigen, dass diese markanten Formulierungen einen tieferen Beweggrund haben. Weber hat große Mühe, seine offensichtlich ausgeprägte moralische Emotionalität unter Kontrolle zu halten. Ohne psychologisieren zu wollen, könnte man darin eine Erklärung für die Strenge und Penetranz des Postulats nach wertefreier Wissenschaft sehen.

1. Die Briefe Im Rahmen der Max-Weber-Gesamtausgabe sind bislang fünf Briefbände erschienen; sie umfassen die Jahre 1906–1917. Fünf weitere Bände sollen im Verlauf der nächsten Jahre folgen, dabei vor allem jene aus der Zeit vor und kurz nach der Jahrhundertwende. Die fünf bislang publizierten Bände haben einen Umfang von rund 4.500 Seiten, sie enthalten etwa 1.200 Briefe. Wenn man unter moralischer bzw. „moralphilosophischer“ Reflexion das Nachdenken und die kritische Wertung einer „Gesamtheit von akzeptierten und durch Tradierung stabilisierten Verhaltensnormen einer Gesellschaft“ versteht (Art. Moral, moralisch, Moralphilosophie, HWPh 6, 149), dann haben rund 50 Briefe einen moralrelevanten Gehalt. Das Moralische ist in diesen Briefen nicht nur am Rand ein Thema, sondern steht im Mittelpunkt. Rechnet man die 50 Briefe um, sind es etwa 110 großformatige Seiten, die Webers moralische Reflexionen füllen. Das Gewicht dieser Reflexionen vergrößert sich, wenn man bedenkt, dass ein größerer Teil der Briefe Privatkorrespondenz über physische und psychische Befindlichkeiten enthält, adressiert vor allem an Marianne Weber. Ein anderer größerer Teil enthält Mitteilungen über den Bearbeitungsstand von zu publizierenden Arbeiten, insbesondere des „Grundrisses der Sozialökonomik“, also des posthum veröffentlichten „Wirtschaft und Gesellschaft“. Viele Seiten füllt die Korrespondenz zu juristischen Streitigkeiten Webers. Ein Teil wirft Licht auf Webers juristische Beratertätigkeit. Korrespondenz über Hochschul-, Berufungs- und familiäre Angelegenheiten schließt sich an.

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Eine Sonderrolle kann man dem vorerst zuletzt veröffentlichten Band mit Briefen aus den Jahren 1915–17 zuschreiben.2 Die dort versammelten Briefe stehen stark unter dem Eindruck des Weltkriegs. Weber bekennt sich, wie die meisten Zeitgenossen, (zunächst) zum Krieg3 und bedauert, dass es ihm nicht gegönnt sei, seine „kriegerische Natur“ auszuleben, kaum etwas wünsche er sich sehnlicher. Moralische Reflexionen im Sinne der Ablehnung oder Zustimmung bestimmter Verhaltensweisen und Handlungen finden sich in diesem Briefband kaum, jedoch etwas, was man eine Ethik der Persönlichkeit nennen könnte. Diese Ethik korrespondiert mit Einwürfen, die man im Sinne einer Ethik des Staatsmannes bzw. auch einer politischen Ethik deuten könnte. Die vortrefflichen Eigenschaften des „Staatsmannes“ sind die Verantwortungsbereitschaft und das Augenmaß. Der „Staatsmann“, von dem auch bei anderen Autoren die Rede ist, zum Beispiel in Spenglers „Untergang des Abendlands“, soll „Zusammenhang“ stiften. Weber stellt sich ihn als charismatische Integrationsfigur vor. Am Ende seines Vortrags „Politik als Beruf“ (1919) nimmt Weber diesen Faden auf und entwickelt eine, wie ich sagen würde, Ethik der politischen Macht, die eine Ethik der Klarheit, Nüchternheit und Sachlichkeit ist und deren tragende Säulen vor allem Verantwortung und Selbstbeschränkung sind. Der „Staatsmann“, der nach diesen ethischen Maximen handelt, ist nach Weber der Gegentypus zum herrschenden Politiker. Dem „Staatsmann“ schreibt Weber eine beherrschende, führende Rolle in einem demokratischen politischen System zu. Die politische Ethik ist ihm Garant, dass er seine Macht nicht missbraucht und den Staat in ruhige Gewässer steuert. Mit ihm sieht Weber die Chance, die strukturelle Führungslosigkeit in der deutschen Politik zu beenden, die Macht des Beamtentums und der Bürokratie zu brechen und vor allem die Extreme zu meiden, die für Weber der Untergang der Politik sind. Die Briefe haben einen Wert auch darin, dass sie ein besseres Werkverständnis ermöglichen. Wie man etwa dem Briefband 1915–17 entnehmen kann, scheint Weber seine Studien zu Buddhismus und Hinduismus nicht zuletzt angefertigt zu haben, um aus einer als bedrückend empfundenen Gegenwart zu flüchten. „Ich fühle mich so wohl und arbeitsfähig, sobald ich mit chinesischen und indischen Sachen zu schaffen habe.“ (Brief an Marianne Weber v. 16. Mai. 1916, MWG II / 9, 420). Einzelne Zitate aus Briefen sind seit längerem bekannt. Die Herausgeber der Weber-Gesamtausgabe und Autoren, denen der Zugang ermöglicht wur2  Inzwischen, September 2012, liegen die Briefe der Jahre 1918–20 im Rahmen der MWG als eigener Band vor. 3  „Unerhört groß und wunderbar ist er …“ (Brief an Frieda Gross v. 14. März 1915, MWG II / 9, 27).



2. Ethik vs. Moral – zum Sprachgebrauch167

de, zitieren daraus seit Jahren und vermochten dieses Privileg zu nutzen, einige Motive und Hintergründe des Weberschen Werks zu erhellen. Trotzdem gibt es Briefe, die bislang nicht oder unzureichend interpretiert wurden. (Aus einigen zitiere ich in anderen Kapiteln dieser Arbeit.) Unbeachtet geblieben ist bislang Webers große moralische Affinität, der starke moralische Impuls, der aus den Briefen spricht. Was ich hier zu einer „Minissima Moralia“ kondensiere, kann man vielleicht als eine kleine „Entdeckung“ ansehen. Natürlich handelt es sich dabei um keine „Moralphilosophie“ im klassischen Sinne. Unter klassischer Moralphilosophie verstehe ich die Moralphilosophie der griechischen Antike mit Sokrates, Platon und Aristoteles. Ihr geht es als „Programm“ um das tugendhafte Handeln oder um die Rechtschaffenheit des Handelns (vgl. Lex. Ethik, 71 ff. sowie Rawls 2002, 25 ff.). Weber teilt kein solches „Programm“, aber vielleicht kann man doch von einer „kleinsten Moralphilosophie“ sprechen, mit der Weber durchaus einen moralischen, einen die moralische Realität verändernden Anspruch verfolgt. Ich verstehe meine Ausführungen dabei als eine Art experimentelle Interpretation; einen höheren Anspruch stellt diese Erarbeitung nicht. Der Provokation, als welche diese Interpretation aufgefasst werden könnte, bin ich mir durchaus bewusst. Allerdings ist die Dichte der moralischen Reflexionen so groß, dass man sie nicht einfach ignorieren kann.

2. Ethik vs. Moral – zum Sprachgebrauch Vor dem Einstieg in die Sachanalyse möchte ich auf eine Problematik aufmerksam machen, die man als weitgehende Absenz des Wortes „Moral“ im veröffentlichten Werk und hohe Präsenz des Wortes und seiner Äquivalente im Briefwerk umschreiben könnte. Statt von „Moral“ spricht Weber in seinem veröffentlichten Werk von „Ethik“. Moral scheint er als eine vor allem subjektive Angelegenheit zu betrachten, als eine Art inneren Antrieb, zu einem Geschehen in einem wertenden Sinne Stellung zu nehmen. Weber bemüht sich nicht um eine Klärung des Begriffs, weder im veröffentlichten noch im brieflichen Werk. Jener Sprachgebrauch, wonach Moral (und Sitte) „den für die Daseinsweise des Menschen konstitutiven normativen Grundrahmen für das Verhalten vor allem zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst“ darstellt (Lex. Ethik, 211), scheint ihm fremd zu sein. An den wenigen Stellen, an denen er überhaupt auf die Moral zu sprechen kommt, assoziiert er damit den „Moralismus“. In „Wirtschaft und Gesellschaft“ nennt er als Beispiel den „Rachedurst“ (WG, 301). Im ersten Russlandbericht (1905  /  06) verwendet er auch das Wort „Panmoralismus“ und sieht darin eine Art Steigerung ethischer Grundsätze. Der „Panmoralismus“ ist ein Vorgriff auf die spätere „Gesinnungsethik“.

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„Panmoralismus“ bedeutet bei Weber das, was man heute gemeinhin unter „Moralismus“ versteht: eine Haltung der ausschließlichen Orientierung am moralisch Guten. Auch den Begriff der Ethik gebraucht er in einem eigenwilligen und keineswegs einheitlichen Sinne. Gemeinhin versteht man darunter ein System „allgemeingültiger Aussagen über das gute und gerechte Handeln“ (Lex. Ethik 2008, 70). Dieses Begriffsverständnis hat Weber vor Augen, wenn er auf die Ethik Tolstois oder auf die Bergpredigt verweist. In der „Zwischenbetrachtung“ (1915) spricht er in diesem Zusammenhang auch von einer „religiösen Brüderlichkeitsethik“ (RS I, 542). In seiner Antrittsvorlesung „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaft“ assoziiert er mit Ethik den „Eudämonismus“. Er hat dabei aber nicht die aristotelische Glückseligkeitslehre aus der „Nikomachischen Ethik“ im Blick, sondern den hedonistischen Eudämonismus, den er als eine Verfallsform der Ethik betrachtet, da sie dazu dient, die „Lustbilanz des Menschendaseins“ aufzubessern (PS, 12). In diesem Text polemisiert Weber gegen die Ethik, weil sie angeblich persönlichkeits- und Kräfte zersetzend wirke in einem „ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen auf der Erde“ (PS, 28 f.). Bevor Weber in seinem späten Vortrag „Politik als Beruf“ zwischen der „Gesinnungsethik“ und der „Verantwortungsethik“ unterscheidet, verwendet er den Begriff der Ethik vor allem in einem deskriptiven Sinne, und zwar um motivationale Grundlagen menschlichen Handelns zu beschreiben. Ethik ist für Weber kein normatives Projekt, sondern ein Handlungen generierendes Konzept. Dieses Begriffsverständnis erklärt sich aus Webers Erkenntnisinteresse an der ideellen Motivik von Handlungen. Ohne in seinem veröffentlichten Werk die Moral explizit zu nennen, bringt er sie in einen Zusammenhang mit dem Begriff der Gesinnung. Moral hat für ihn etwas über Grenzen Hinweggehendes. Wenn er von „Gesinnung“ spricht, denkt er an die „Literaten“, er schreibt sogar „Literatenpack“ (Brief an Hermann Oncken v. 20. April 1917; MWG II / 9, 619). Ihnen unterstellt er „politische Unreife“ und spricht ihnen ab, was den eigentlich „moralischen“ Menschen auszeichne: Sachlichkeit, Nüchternheit, Augenmaß und Verantwortungsbereitschaft. Tatsächlich scheint es ein positives und ein negatives Verständnis von Moral zu geben. Zum einen betrachtet er Moral im veröffentlichten Werk als eine Art ideologische Kategorie, die blind macht und den Blick verstellt; sie mündet geradewegs in die „Gesinnungsethik“. Zum anderen schätzt er in den Briefen bestimmte moralische Eigenschaften wie den Gerechtigkeitssinn, das Bemühen um einen Ausgleich, die Bereitschaft, nicht im Eigeninteresse, sondern im Interesse anderer Verantwortung zu übernehmen. Dieser Moral der Mitte und des Ausgleichs gibt er in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ den Namen „Verantwortungsethik“.



3. Moralische Reflexionen – fünf Diskursfelder169

Webers Begriffsgebrauch wirft weitere Fragen auf. Ein Rätsel ist, warum selbst in der programmatischen Schrift „Soziologische Grundbegriffe“ „Moral“ bzw. „moralisch“ nicht ein einziges Mal fällt. Das moralische Handeln scheint unter das „wertrationale“ Handeln zu fallen, worunter Weber das Handeln nach „Geboten“ oder „Forderungen“ versteht, die ein Handelnder an sich gestellt glaubt (WG, 12). Seinen sprachlichen Gepflogenheiten entsprechend hätte er „Moral“ in Anführung setzen können. Auf diese Weise wäre dem Leser Webers innere Distanz oder zumindest kritische Vorsicht mit dem Begriff vermittelt worden. Aber Weber scheint das Wort systematisch zu meiden. Erstaunlich ist, dass Weber die Moral selbst in dem Paragraphen ungenannt lässt, der über handlungsstrukturiernde „Ordnungen“ handelt. Weber nennt zwar „Konvention“ und „Recht“ (WG, 17), aber nicht die „Moral“. Im Kleingedruckten des Paragraphen spricht er zwar die Ethik an, schreibt ihr aber eine nur subsidiäre, unterstützende Funktion zu (WG, 18 f.), während sie doch zum Beispiel in der ersten Protestantismusstudie einen zentralen Stellenwert hat. Dort dient sie als Beispiel, wie religiös-ethischer Glaube menschliches Handeln determinieren kann. Auch in der „Zwischenbetrachtung“, die Webers Theorie der Lebensordnungen und Wertsphären enthält, fehlt die Moral. Weber nennt sieben Lebensordnungen: Verwandtschaft, Religion, Ökonomie, Politik, Kunst, Se­ xua­lität und das Reich der denkenden Erkenntnis: die Wissenschaft (RS I, 540 ff.). Vor dem Hintergrund, dass die „Zwischenbetrachtung“ gerade auch von der Kollision der Lebensordnungen handelt, wundert es, dass die Moral fehlt, denn man könnte gerade in der Moral einen zentralen Konfliktherd für Lebensordnungswidersprüche sehen. Es scheint so, dass Weber den Begriff der Moral für die rein subjektive Welt reserviert, in den wissenschaftlichen Untersuchungen dagegen den Begriff der Ethik bevorzugt, Ethik allerdings nur in einem deskriptiven, nicht normativen Sinne. Im veröffentlichten Werk scheint es geradezu ein Ressentiment gegen die Moral zu geben; „Zurückhaltung“ wäre zu schwach ausgedrückt. In den Briefen dagegen kommt es zu einer offensiven moralischen Artikulation, wohl deshalb, weil es Weber im „vorwissenschaftlichen“ Kontext legitim erscheint, moralische Präferenzen zu artikulieren. Insofern muss man Weber ein hohes Maß an Konsequenz in der Verfolgung seines methodologischen Prinzips der Wertfreiheit attestieren.

3. Moralische Reflexionen – fünf Diskursfelder Webers moralische Reflexionen beziehen sich auf drei unterschiedliche Ebenen. Er befasst sich erstens mit dem moralischen Handeln des Einzel-

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nen, zweitens mit Werten und Normen, die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen für das soziale Zusammenleben gelten, und drittens mit der Kritik der moralischen Praxis. Wie gesagt: Webers moralische Reflexionen lassen sich nicht zu einem System einer alternativen Ethik verdichten; sie sind zwar dadurch verbunden, dass sie sich auf die traditionellen Ebenen der Moral beziehen, aber dies ist sozusagen ein Zufall. Gleichwohl zeichnet sich umrisshaft die normative Vorstellung einer Ordnung der Freiheit ab. Das Kriterium ist, was Weber das „volle Menschentum“ nennt. In dieser Ordnung, die ein Höchstmaß an Freiheit und individueller Autonomie gewähren soll, darf es keine institutionellen Strukturen geben, die das Individuum „parzellieren“. Zunächst ist offen, wann dies der Fall wäre. Neben den drei Ebenen lassen sich fünf thematische Diskursfelder unterscheiden, in denen Weber seine moralischen Reflexionen entfaltet. Dies sind die Diskursfelder „Vollmenschentum“, „Ehe und Sexualität“, „Erfolgs- und Gesinnungsethik“, „Ehre und Ritterlichkeit“ sowie „politische Tugenden“. Nach Umfang widmet Weber dem Diskursfeld „Ehe und Sexualität“ den größten Raum (32 Seiten), gefolgt von „Erfolgs- und Gesinnungsethik“ (27 Seiten), „Ehre und Ritterlichkeit“ (22 Seiten), „Vollmenschentum“ (18 Seiten) und „politische Tugenden“ (12 Seiten). Es gibt moralrelevante Briefe, die sich keinem der fünf Diskursfelder zuordnen lassen bzw. die sich auf mehrere gleichzeitig beziehen. Die Diskursfelder „Ehre und Ritterlichkeit“ sowie „Erfolgs- und Gesinnungsethik“ lassen sich dem Komplex des moralischen Handelns des Einzelnen zuordnen. Die Diskursfelder „Ehe und Sexualität“ sowie „Vollmenschentum“ betreffen den Komplex des sozialen Zusammenlebens. Das Diskursfeld der „politischen Tugenden“ gehört teilweise zum Komplex der zu kritisierenden moralischen Praxis, zu einem anderen Teil aber zu einem Sonderkomplex. Diesen könnte man „alternative politische Ethik“ oder auch „Ethik der Macht“ nennen, vor allem dann, wenn man ihn auf den abschließenden Teil des Vortrags „Politik als Beruf“ bezieht. Dass Weber die beiden Moralkomplexe „personale Moral“ und „Sozialmoral“ unterscheidet, zeigt sich in einem Brief an Rickert, in dem Weber freilich statt von Moral von Ethik spricht: „Die Ethik ist nicht mit ‚Sozialethik‘ identisch, d. h. haftet nicht an … Verhalten zu Andern. (So könnten Sie verstanden werden). Auch der Mensch auf einsamster Insel stellt ‚ethische‘ Forderungen an sich selbst.“ (Brief v. Ende Nov. 1913; MWG II / 8, 409)

Neben diese beiden Teile des normativen Anspruchs der Weberschen moralischen Reflexionen tritt die kritische Dimension. 1909 – die Rekonvaleszenzphase ist abgeschlossen, eine Erbschaft sichert den Lebensunterhalt – schreibt Weber an den Nationalökonomen und späteren Vorsitzenden des



3. Moralische Reflexionen – fünf Diskursfelder171

„Vereins für Sozialpolitik“, Heinrich Herkner: „Ich beabsichtige, mich immer ausschließlicher der wissenschaftlichen Kritik zuzuwenden.“ (Brief vom 11. Mai 1909; MWG II / 6, 121) Wogegen richtet sich diese Kritik? a) Diskursfeld 1: „Vollmenschentum“: Eine Schlüsselfunktion hat ein Brief, von dem die Weber-Forschung bislang keine oder nur unzureichend Kenntnis genommen hat. Er richtet sich an die Frauenrechtlerin und Gründerin des katholischen Frauenbundes Elisabeth Gnauck-Kühne. Weber schreibt: „Soll ich Zukunfts-Chancen abwägen, so haben m. E. zwei Mächte: der Bureaukratismus im Staat und die virtuose Maschinerie der katholischen Kirche, verbunden mit der Parzellierung des Menschentums zum ökonomischen und sonstigen Fachmenschen, die denkbar günstigsten Chancen, alles Andre unter die Füße zu bekommen, – lauter Mächte, die ich trotzdem und eben deshalb, mit ­aller … Kraft … zu bekämpfen für ein Gebot meiner Menschenwürde halte …“ (MWG II / 6, 176 f. – Brief v. 15. Juli 1909)

Was will Weber sagen? Erstens: Dass zwei Mächte den Menschen bedrohen, nämlich die Bürokratie und der Katholizismus. Zweitens: Dass diese beiden Mächte eine „Parzellierung des Menschentums“ bewirken. Drittens: Dass ihr Einfluss so verhängnisvoll ist, dass dies einer Verletzung der Menschenwürde gleichkommt. Womit genau bzw. warum verstoßen Bürokratie und Katholizismus gegen die „Menschenwürde“? In dem Text von 1919 „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ im 1. Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft“ tritt die Bürokratisierung auf als unvermeidliche Begleiterscheinung der modernen kapitalistischen Ökonomie. Bürokratische Herrschaft ist nach Weber die effektivste Herrschaftsform, weil sie alles dem Prinzip der Zweckrationalität unterwirft. Sie ist Bestandteil dessen, was er das „stahlharte Gehäuse“ nennt. Einige Zeilen vorher spricht er auch vom „Triebwerk“, das jeden Einzelnen „mit überwältigendem Zwange bestimmt und bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffes verglüht ist“ (RS I, 203). Man könnte also sagen, die Bürokratie verstößt deshalb gegen die Menschenwürde, weil sie den Menschen als Menschen negiert. Die Bürokratie macht den Menschen zu einem „Ding“. Wenn Weber zum „Kampf“ aufruft, dann will er die Funktionslogik dieses Triebwerks sabotieren, und offensichtlich hält er den Kampf durchaus für aussichtsreich. Diese zitierte Briefpassage widerspricht vielem, was man sonst von Weber vernimmt: Er ruft zu einem „Kampf“ auf, weil er sonst die Zukunft gefährdet sieht. Er beruft sich dabei auf die „Menschenwürde“, die in der Ethik als ein Superlativ gilt, „der sich weder steigern noch abschwächen lässt“ (Lex. Ethik 2008, 202).

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Warum attackiert Weber neben der Bürokratie den Katholizismus? Weil er darin eine Religion zur Förderung von Anpassungsbereitschaft und Opportunismus sieht. Im weiteren Verlauf des Briefes an Gnauck-Kühne unterstellt er dem Katholizismus ein „Streben nach ‚Elastizität‘“. Nietzsches Kritik der Moral nicht unähnlich, wirft er dem Katholizismus vor, statt die Widersprüche zu verschärfen sie zu „versöhnen“. Damit wird, so Webers Punkt, die „befreiende“ Eskalation verhindert. Der Katholizismus spendet Trost und entlastet das Individuum, das sich in der Folge seinem Schicksal fügt. Weber sieht also im Katholizismus eine Religion zur Förderung der Anpassungsbereitschaft, der Verweichlichung. Zwei Jahre später erneuert er diesen Vorwurf in einem Brief an den Grafen Keyserling. Weber wirft dem Katholizismus die Förderung von Passivität und ein „relativistisches Sich-Abfinden mit gegebenen Gewalten“ vor (MWG II / 7, 237). Statt sich zu „bewähren“, gehe der Katholik „beichten“. Webers Abneigung gegen den Katholizismus und das katholische Kulturmilieu im Kaiserreich hat irrationale Züge. Als er sich kurz vor dem 1. Weltkrieg dem Autorenkreis des „Deutschen Staatslexikons“ anschließt, begründet er dies damit, dass dessen erklärter politischer Gegner das neu aufgelegte katholische Staatslexikon der Görres-Gesellschaft sei (vgl. Hübinger 2001,116). Dem Protestantismus steht Weber noch ablehnender gegenüber, wenn es überhaupt eine Steigerungsform gibt. „Das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, … der schrecklichste der Schrecken …“ (Brief v. 5. Februar 1906 an Adolf Harnack; MWG II / 5, 32). Weber bewertet zumindest hier Religionen nach ihrer ethischen „Kraft zur Durchdringung des Lebens“ (MWG II / 5, 32). Religionen müssen, so Weber, einen Mehrwert für die Bewältigung von Herausforderungen haben, welche die moderne Welt an den Menschen stellt. Dieses instrumentalistische oder funktionalistische Verständnis von Religion, diese bewusste In-Dienst-Stellung der Religion und ihre Bewertung nach ihrer „lebenspraktischen Leistung“ ist ein bei Weber ungewohnter und fremder Ton. Zwar arbeitet er in seiner ersten Protestantismusstudie die Hebammenfunktion des Puritanismus für den Kapitalismus heraus, aber dies ist ein paradoxer Zufall, nicht die Intention. Nirgendwo sonst betrachtet er Religion unter dem Aspekt extrareligiöser „Leistungen“, die er einfordert. In diesem Zusammenhang schreibt Weber auch: „Dass unsere Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist … der Quell all desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswerth finde …“ (MWG II, 5, 33). Unter „Asketismus“ versteht Weber eine spezifische Art der Lebensführung: die systematische Einübung von Regeln und Methoden, um eines bestimmten Zieles willen. Er knüpft damit an den ursprünglichen Bedeutungsinhalt des Wortes „Askese“ an, der noch nicht



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auf den Aspekt der freiwilligen Enthaltsamkeit verkürzt ist, sondern die Übung und Schulung des Denkens und Wollens meint. Weber nennt keine Beispiele, woran er seine These empirisch festmacht. Es könnte sein, dass Weber diesen Brief in einem Augenblick großer emotionaler Unruhe verfasst, dass er um der Provokation oder Schärfe der Formulierung willen übertreibt, aber gleichwohl ist sein Bekenntnis zum „Asketismus“ irritierend und steht im Widerspruch zu seiner Zeitkritik. Denn es ist dieser „Asketismus“, der nach Weber die moderne Welt mit hervorgebracht hat, deren triebwerkähnlicher Charakter die Freiheit und die Autonomie des Individuums zerstört, die zu schützen es ihm gerade geht. Wenn Weber die Systematisierung der Lebensführung als erstrebenswertes Ideal begrüßt, scheint ihm nicht klar zu sein, dass genau sie die „Parzellierung des Menschentums“ erst ermöglicht. Der Begriff der „Parzellierung“ stammt aus dem juristischen Sachenrecht und ist in den „Annalen der preußischen innern Staats-Verwaltung“ (1817– 39) erstmals nachgewiesen. Friedrich Engels spricht in seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ (1845) von einer „Parzellierung des Grundbesitzes“. „Parzellierung“ meint die Aufteilung und Zerlegung von Flur- oder Grundstücken, um steuerliche Abschreibemöglichkeiten zu nutzen.4 In der Landwirtschaft meint „Parzellierung“ die Aufteilung von Nutzflächen. Weber löst das Wort aus seinem sachenrechtlichen Kontext und macht daraus einen kritischen Begriff der Sozialtheorie. „Parzellierung des Menschentums“ ist die Depotenzierung des Menschen, die Abtrennung jener Eigenschaften, die sein Menschsein mit konstituieren. „Parzellierung“ meint die Reduktion des Menschen auf eine bestimmte Funktion. Das zeigt sich, wenn man eine andere Stelle berücksichtigt, diesmal nicht in den Briefen, sondern in einem Diskussionsbeitrag auf einer Generalversammlung des „Vereins für Sozialpolitik“. Dieser Beitrag hat gleichsam „brief­lichen“ Charakter, denn auch hier spricht Weber frei und ohne den disziplinierenden Einfluss, wie er gemeinhin bei einer wissenschaftlichen Publikation auftritt. Der Verein tagt im September 1909, also zwei Monate nachdem Weber obigen Brief mit der Parzellierungsformulierung verfasst hat. Aufgrund der zeit­ lichen Nähe ist davon auszugehen, dass sich unter Zuhilfenahme dieser Stelle Sinn und Intention Webers weiter aufklären lassen. In der Diskussion geht es um die Frage, ob sich die Kommunen wirtschaftlich betätigen sollen. Weber attackiert die Vertreter dieser Auffassung und hält dagegen: Die Kommunalisierung von Betrieben und kommunales sozialpolitisches Engagement führten zu einer noch größeren Rationalisie4  Vgl. die Rechtswörterbücher von Weber 2007, 866 und Tilch  /  Arloth 2001, 4119.

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rung und Bürokratisierung mit der Konsequenz einer Entpersönlichung des Menschen. Als „kleine Rädchen“ in einer „seelenlosen“ „Maschine“ strebe jeder Einzelne danach, ein „großes Rädchen“ zu werden (MWG I / 8, 362). Mit großer Eindringlichkeit schildert Weber einen Prozess der Entmenschlichung des Menschen, die totale Herrschaft des „rationalen Kalküls“, wie er das nennt. Statt diesen Prozess weiter zu fördern und zu beschleunigen, lautet die zentrale Frage, „was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“. (MWG I / 8, 363). Metaphern wie „Maschinerie“, „Menschenmaschine“ und „Mechanisierung“ verweisen auf ein Eigenleben der Wirtschaft mit einer Funktionslogik, die den Menschen zum Mittel macht, statt ihn zu befähigen, die „faustische Allseitigkeit seines Menschentums“ zu entfalten. So lautet eine weitere markante Formulierung am Ende der 1. Untersuchung zur „Protestantischen Ethik“ (RS I, 234). Der Begriff des Faustischen wird damals vor allem von Spengler benutzt, um die spezifisch abendländische Kultur zu charakterisieren. Im „Untergang des Abendlandes“ steht die „faustische Seele“, im Gegensatz zur „apollinischen“ und zur „magischen Seele“, für das Gewaltige und ins Unendliche Strebende, für Kraft und Bemächtigung, für den „grenzenlosen Raum“ (Spengler 1998, 234). Spengler verschärft und spitzt den Begriff des Faustischen zu, in seinen Schriften nach dem „Untergang des Abendlandes“ auch mit stark nationalistischem Unterton. In Goethes „Faust“ steht das Faustische weniger für einen Bemächtigungs- als vielmehr für einen Erkenntniswillen. Das Faustische soll das Bedürfnis nach Erfahrungsvielfalt ausdrücken, wenngleich der damit verfolgte Anspruch nicht gerade bescheiden ist. „Dass ich erkenne was die Welt / Im Innersten zusammenhält.“ (Faust I, Vers 382 / 383) Webers Rekurs auf das Faustische ist irritierend. Es steht in Spannung zu seiner Parzellierungskritik. Wenn er „das Faustische“ fordern würde, müsste er den über sich hinauswachsenden Ausnahmemenschen fordern. Sein Motiv ist aber nicht die „Vergrößerung“, sondern die Verteidigung und der Schutz des Menschen vor seiner „Verkleinerung“. Mit dem Begriff des Faustischen bringt Weber einen Zungenschlag hinein, der seine Intention leicht verwischt. Der Schwerpunkt seiner Argumentation liegt nicht auf dem „Faustischen“, sondern auf dem Aspekt der „Allseitigkeit“. Diesen könnte man umschreiben im Sinne „Entfaltung der Möglichkeiten“. Man wird Weber wohl so interpretieren müssen, weil seine Rede von der „Parzellierung“ sonst keinen Sinn hätte. Der Gegenbegriff zum „parzellierten Menschentum“ ist das „Vollmenschentum“. Dieses Wort hat eine Wurzel im Geschlechterdiskurs zu Beginn



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des 20. Jahrhunderts und spielt an auf die Ausgrenzung von Frauen im öffentlichen Leben und ihre Unterdrückung in der Familie. Wahrscheinlich übernimmt Weber den Begriff des „Vollmenschentums“ von seiner Frau, die eine der ersten Aktivistinnen der Frauenbewegung ist. Mit der „Parzellierung des Vollmenschentums“ verbindet Weber weitere Assoziationen. „Vollmenschentum“ steht auch für das „eigentliche“ Leben mit seinem manchmal prekären Verhältnis zur Moral. Dies zeigt ein Brief an Emil Lask: „Es wäre schlimm, wenn nur das Integer vitae uns zu Vollmenschen machte – und nicht auch das, richtig genommene, Gegenteil.“ (Brief vom 8. Juni 1913; MWG II / 8, 248). Der „Vollmensch“ ist derjenige, der auch vor moralischen Verfehlungen nicht gefeit ist. Er ist der „natürliche“ Mensch mit seinen Stärken und Schwächen. Die kritische Stoßrichtung der Formulierung vom parzellierten Menschentum, auf die es mir ankommt, kommt nochmals in einer Auseinandersetzung mit dem Begriff „Menschenökonomie“ von Rudolf Goldscheid zum Ausdruck. Ähnlich wie heute das Wort „Humankapital“ erhebt der Begriff den „ökonomischen Wert“ des Menschen zum alleinigen Maßstab. Dagegen verteidigt Weber die „seelischen“ und die, ja, „anti-ökonomischen“ Qualitäten (Brief an Robert Wilbrandt v. 2. April 1913; MWG II / 8, 166,). Immer wieder tritt er für den Menschen als, wie man sagen könnte: nicht animal rationale, sondern animal totale ein. Der Wert einer gesellschaftlichen Ordnung bemisst sich für Weber daran, ob und inwieweit sie die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ermöglicht. Der „Vollmensch“ ist das Gegenteil vom „total verwalteten Menschen“, wie ihn etwa Adorno als Endpunkt einer Entwicklung sieht, die durch Bürokratisierung und Ökonomisierung gekennzeichnet ist. Nicht ohne Grund beruft sich Adorno bei seiner Diagnose der „total verwalteten Welt“ auch auf Weber. b) Diskursfeld 2: „Ehe und Sexualmoral“ Um die Jahrhundertwende geraten die überkommene Auffassung über eheliche Liebe und Treue und die herrschende Sexualmoral ins Wanken. Webers moralische Reflexionen entzünden sich immer wieder an diesem Thema. Korrespondenzpartner sind Marianne, Emil Lask, Karl Jaspers, die Vertreterinnen der so genannten „Neuen Ethik“, darunter die Gräfin von Reventlow, eine Zentralfigur der Münchner Bohème, oder Frieda Gross, die Frau des Psychoanalytikers und Freud-Schülers Otto Gross. In diversen Schriften tritt Gross für eine repressionsfreie Sexualethik ein, worin er eine Vorstufe für die psychophysische Emanzipation des Individuums sieht. Weber widerspricht Gross’ Ansichten mit großer Schärfe; die neue Sexualethik sei eine Ethik hemmungsloser Zügellosigkeit zur Abreaktion vor allem des

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Mannes (Brief an Else Jaffé v. 13. September 1907; MWG II / 5, 393 ff.). Weber unterscheidet eine „Heldenethik“ von einer „Durchschnittsethik“ und spricht sich für die Heldenethik aus, die er als „Strebensethik“ kennzeichnet. Auch wenn der Mensch nur „in großen Höhepunkten seines Daseins“ den sittlichen Anforderungen gerecht werden könne, seien doch „Sittlichkeit“ und „Verantwortung“ als oberste Richtschnur des Handelns ansehen. Die Psychoanalyse therapiert nach Weber die Sittlichkeitsgrenze weg und damit die Notwendigkeit, auch „Opfer“ zu bringen und „Lust“ zu unter­ drücken. Im Widerspruch zur restriktiven Haltung in diesem Brief steht eine Äußerung gegenüber Robert Michels wenige Monate zuvor: „Der englisch-amerikanische Verkehr der Geschlechter (nicht nur der Verlobten) ist unbefangener, erotisch freier als jeder andre der Welt. Ich würde ihn vorziehen.“ (MWG II / 5, 211 – Brief v. 11. Januar 1907). Diese Auffassung vertritt Weber noch Jahre später, als er sich zwei Mal über in Ascona auf dem „Monte Veritá“ aufhält. Die Schweizer Alpen sind damals Treffpunkt der Sub- und Gegenkulturen mit Literaten, Künstlern, Vegetariern, theosophischen Sinnsuchern, Vertretern der freien Liebe und Anarcho-Syndikalisten. Weber beobachtet das „außeralltägliche“ Treiben distanziert, aber nicht ohne Sympathie. In Fragen der Sexualmoral ist für ihn die Grenze überschritten, wenn die Würde einer Person verletzt wird. Als es im Freundeskreis zum Ehebruch kommt, verurteilt Weber das unmoralische Handeln. Der juristische Aspekt, dass der Ehebruch damals unter Strafe steht (bis zu sechs Monate Gefängnis, § 172 StGB, 1969 abgeschafft), interessiert ihn nur am Rande. Wenn jemand gegen das ungeschriebene moralische Gesetz verstößt, bedeutet dies aber nicht zwangsläufig den Verlust der moralischen Integrität. Weber begründet die Einschränkung mit der Vorstellung des Menschen als „Gesammtpersönlichkeit“ (Brief v. 19. Mai 1913; MWG II / 8, 240). Die Schreibweise mit dem doppelten „m“ entspricht zwar der damaligen Rechtschreibung, hat aber eine (unbewusste) doppelte Bedeutung. Die Verdopplung korrespondiert mit dem Gedanken des „Vollmenschentums“; sie potenziert diesen. Macht sich jemand in einem Teil seiner „Gesammtpersönlichkeit“ schuldig, diskreditiert dies nicht unbedingt den ganzen Menschen. Denn man kann unter ganz unterschiedlichen Aspekten handeln. Was der Moral entspricht, kann zum Beispiel der ökonomischen oder politischen Vernunft widersprechen. Es gibt kein eindeutiges und allgemein gültiges Kriterium. Wieder kommt Webers Wertetheorie bzw. seine Theorie unterschiedlicher Rationalitätsstandards zum Tragen. Weber erörtert auch das Problem der Wirkung so genannter offener Geschlechterbeziehungen auf Minderjährige. Er verurteilt die „grobe, zynische Art“ der Erwachsenen, die keine Geheimnisse vor Kindern kennen. Damit



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zerstörten sie „ganz naturgemäß jeden Glauben an irgend etwas“ (MWG II / 8, 160). Beim Sohn der Gräfin von Reventlow, der unmittelbarer Zeuge des Lebenswandels seiner Mutter ist, macht er die Beobachtung: „Kein Schatten von Güte und Ritterlichkeit adelt sein brutales Wesen.“ (MWG II / 8, 160) Weber scheint dieses charakterliche Defizit auf den negativen Einfluss der Mutter zurückzuführen. Die Briefe in diesem Diskursfeld sind ein starkes Kontrastprogramm zu Webers Betrachtungen über Ehe, Liebe und Familie in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Dort ist seine Perspektive rein sachlich und nüchtern, man könnte auch sagen: strukturalistisch oder funktionalistisch. c) Diskursfeld 3: „Erfolgs- und Gesinnungsethik“ Auf die Begriffe „Gesinnungs- und Verantwortungsethik“, die mit Weber immer wieder in Verbindung gebracht werden, scheint er relativ spät gekommen zu sein. Erst in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ (1918) unterscheidet er explizit diese beiden Arten ethischen Handelns und meint, sie stünden „unter grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen“ (PS, 551). Die Gesinnungsethik nennt er auch „absolute Ethik“ (PS, 551). Die Verantwortungsethik muss deshalb das Gegenteil, eine „relative Ethik“ sein, die komplexer ansetzt, die verschiedene Ziele ins Auge fasst, die vor allem auch Zielkonflikte berücksichtigt und nach einem Ausgleich zu suchen bemüht ist. So gegensätzlich wie Weber die beiden Typen der Ethik typologisch ansetzt, scheinen sie in der Praxis freilich nicht zu sein. Vor allem ist es keineswegs so, dass Weber einseitig die Verantwortungsethik bevorzugt; das unter anderem zeigt eine Reihe von Briefen. Zunächst ist noch darauf hinzuweisen, dass er in „Politik als Beruf“ nicht nur zum ersten Mal den Gegensatz thematisiert, sondern überhaupt erstmals eine Ethik „Verantwortungsethik“ nennt. Eine hinweisende Formulierung findet sich allerdings in der überarbeiteten Fassung des Wertfreiheitsaufsatzes von 1917, dessen erste Fassung aus dem Jahre 1913 datiert. Die Passage, die zwischen der „Gesinnung“ und der „Verantwortung“ als möglichen ethischen Grundformen unterscheidet, ist in der 1913er-Fassung noch nicht enthalten (Hinweis von Schluchter 1991 a, 195 f.). Verantwortlich zu handeln setzt Weber in dieser Passage mit einer Art Folgenethik gleich. Sie sei vor allem in der „Realpolitik“ anzutreffen, während er das Handeln nach ethischen Maximen als eine Art reine Ethik auffasst, rein insofern, als es ihr ausschließlich um die Verwirklichung des eigenen ethischen Anspruchs geht (vgl. WL, 505). In den Jahren bis 1917 interessiert sich Weber intensiv und ausschließlich für die Gesinnungsethik. Sie ist für ihn der paradigmatische Typus einer

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Ethik, die sich „in tiefer Spannung gegenüber den Realitäten der Welt“ befindet, so formuliert Weber im Kapitel „Religiöse Ethik und Welt“ in „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WG, 348). In den Briefen lässt er Sympa­ thien für diese reine und oppositionelle Form der Ethik erkennen. Als Ideal­ typ der reinen Gesinnungsethik gilt ihm, wie diverse Hinweise zeigen, die Ethik Tolstois.5 Mit ihr will Weber sich auch wissenschaftlich auseinandersetzen; für das 4. Heft des „Logos“, Jahrgang 1910, plant er einen Aufsatz. In der russischen Ausgabe des „Logos“ kündigt die Redaktion auf einer unpaginierten Seite für 1911 einen Aufsatz von Weber mit dem Titel „Ėtika Tolstogo“ an.6 Zur Niederschrift kommt er aber offensichtlich nicht, wahrscheinlich aus Gründen der Arbeitsüberlastung. Diesen Schluss legt Marianne Weber in ihrem „Lebensbild“ nahe und berichtet auch davon, dass Weber „seit langem ein Tolstoi-Buch“ plane, „das alle Niederschläge innerlichster Erfahrungen aufnehmen soll“ (1926, 474). Tolstoi, nach einer Formulierung von Edith Hanke ein „Prophet des Unmodernen“, verkörpert für Weber den Idealtypus des weltflüchtigen, Kultur verneinenden, des reinen Gesinnungsethikers. Tolstois Brüderlichkeitsethik scheint für ihn das Gegenbild jener „Erfolgs- und Leistungsethik“ zu sein, wie sie für den europäischen Rationalismus charakteristisch ist. So jedenfalls deutet Lukács die Ethik Tolstois (und Dostojewskis). Lukács arbeitet damals an einem Buch über die Ethik Dostojewskis; davon sind allerdings nur Notizen erschienen. Lukács ist damals in diesen Fragen Webers bevorzugter Gesprächspartner. Webers wohlgefälliges Interesse an der Gesinnungsethik zeigt sich auch während seiner Aufenthalte in Ascona in der Schweiz. An den Briefen fällt auf, dass er offensichtlich zu jenen Leuten Nähe sucht, die einen Platz abseits der rationalisierten und entzauberten Welt einnehmen. Neugierig verfolgt er das Leben jenseits „bürgerlicher“ Konventionen. In den Lebensexperimenten dieser „Aussteiger“ sieht Weber eine Reaktion auf den Prozess der Rationalisierung und Entzauberung. In Reaktion auf eine rechtsphilosophische Abhandlung von Gustav Radbruch schreibt Weber zum Beispiel, „sachlich ganz besonders stark angezogen“ hätten ihn jene Passagen, in denen die „farblose Regelmäßigkeit unseres bürgerlichen Lebens“ auf den Rationalisierungsprozess zurückführt werde (Brief v. 6. Februar 1910; MWG II / 6, 391). 5  Vgl. etwa die Briefe an Marianne Weber v. 21. April 1908 (MWG II  / 5, 535) und v. 31. März 1914 (MWG II7, 581 f.). 6  Hinweis bei Hanke 1993, 172. Hanke arbeitet in ihrer Studie den Einfluss der Tolstoischen Ethik auf das intellektuelle Milieu in Deutschland von 1884 bis 1920 heraus. Gerade auch im Heidelberger sonntäglichen Weber-Kreis spielt Tolstoi eine große Rolle. Eine der Tolstoi-Vermittler im Weber-Kreis ist Georg Lukács. Vgl. Hanke 1993, 174 ff.



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In der Gesinnungsethik sieht Weber also auch eine kritische Reaktion auf den Prozess der Rationalisierung und dessen Begleiterscheinungen der Normierung des öffentlichen Lebens und auch der „Entzauberung“. Die Gesinnungsethik impliziert den Glauben an ein Anderes oder Gutes. Im Hintergrund steht ein ethisches Ideal, das zu verfolgen dem Leben einen Sinn geben kann. Diesen Punkt arbeitet Weber zwar nicht aus, aber man könnte in dieser sinnstiftenden Offerte ein Motiv sehen, „Gesinnungsethiker“ zu werden. Webers Aufgeschlossenheit, um nicht zu sagen: Sympathie für alles Unkonventionelle und Regeln Durchbrechende wirkt sich vor allem auch auf der Ebene der persönlichen Beziehungen aus. Bemerkenswert ist, dass Weber etwa den Anarchismus mit Aufgeschlossenheit behandelt und den Schweizer Anarchisten Ernst Frick unterstützt. Seine Sympathie für gesinnungsethische Positionen resultiert aus einer Hochachtung denjenigen gegenüber, die nicht bereit sind, sich auf Kompromisse einzulassen, die konsequent ihr Ziel verfolgen und auch daran festhalten, wenn die Verwirklichung nicht gelingt, wobei allerdings die Frage ist, ob Geradlinigkeit und Grundsatztreue nur bei „Gesinnungsethikern“ und nicht auch bei „Verantwortungsethikern“ anzutreffen ist.7 Webers Wertschätzung der Gesinnungsethik hält auch noch an, als er sich bereits öffentlich für die Verantwortungsethik ausspricht. Wie schon erwähnt, bietet er 1920 einer Truppe von „Gesinnungsethikern“ seine Beraterdienste als Volkswirt an. Seine Sympathien gehen freilich einher mit einer Kritik bestimmter „Gesinnungsethiker“, nämlich jener, deren Gesinnung nicht „rein“ ist. Otto Gross, dessen Frau Weber juristisch berät, ist dafür ein Beispiel. Ihm unterstellt er, nur deshalb „freie“ Lebensformen zu propagieren, weil er daraus eigenen sexuellen Vorteil ziehe. Als mehrere Schriftsteller und Intellektuelle, darunter Franz Jung, in einer Zeitschrift Solidaritätsadressen veröffentlichen, nachdem Gross verhaftet worden ist, interveniert Weber allerdings zugunsten des Inhaftierten. Er fürchtet, dass die „eitle Selbstbespiegelung dieser Jämmerlinge“, dieses „Maulheldentum auf dem Papier“, Gross vollends kompromittiere und damit juristisch schade (Brief an Emil Lask v. 25. Dezember 1913; MWG II / 8, 440 f.). Eine Reihe von Fragen wirft ein Begriff auf, den Weber parallel zum Begriff der „Gesinnungsethik“ gebraucht: das ist die „Erfolgsethik“. Unklar ist, wie er auf diesen Begriff kommt. Erstmals taucht er auf in der Abhandlung „Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Russland“ von 1906 (PS, 39). Dort bezeichnet die „Erfolgsethik“ den Gegensatz zur Gesinnungsethik. Einige Jahre später gebraucht Max Scheler den Begriff in seinem Buch 7  Auf

diese Haltung Webers hat bereits Mommsen (1974 a, 260) hingewiesen.

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„Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“. Die beiden Teile dieser Schrift erscheinen zuerst 1913 und 1915 im „Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung“. Eventuell hat Weber Scheler gelesen, wie er auch Münsterbergs „Philosophie der Werte“ liest (dazu Kap. 4). Scheler geht es in seinem Buch um die Begründung eines objektiven Wertdenkens. Den Werten unterstellt er ein „Sein“ unabhängig vom menschlichen Willen. „Erfolgsethik“ ist bei ihm nicht der Gegenbegriff zur „Gesinnungsethik“, sondern zur „Verantwortungsethik“.8 Schluchter meint, bei Weber löse der Begriff der „Verantwortungsethik“ den der „Erfolgsethik“ ab (1991 a, 197). Das ist aber nicht eindeutig der Fall. Allenfalls kann man sagen, der Begriff der „Erfolgsethik“ sei eine Vorform der Verantwortungsethik, letztere ein Resultat der ersteren. Die Briefe legen eher diesen Schluss nahe. Aufschlussreich ist ein Schreiben an Marianne Weber, in dem Weber darüber nachdenkt, „dass der Erfolg guten Handelns so oft gänzlich irrational ist und üble Folgen eintreten, wo man ‚gut‘ handelte“ (Brief v. 5. April 1914; MWG II / 8, 595). Weber schließt aus dieser Beobachtung, dass es problematisch sein könnte, den sittlichen Wert des Handelns rein vom Erfolg her zu beurteilen. In einem anderen Brief, diesmal an Robert Michels gerichtet, argumentiert er ähnlich. Hier warnt Weber davor, von der „Gerechtigkeit“ eines Handlungsziels darauf zu schließen, dass auch die Mittel, die angewendet werden, um dieses Ziel zu befördern, „gerecht“ seien. Weber bezieht in diesem Brief Gegenposition zu Michels’ Befürwortung von politischen Streiks, die eben nicht grundsätzlich „gerecht“ und „richtig“ seien, denn sie könnten auch zu politischen Rück- statt zu Fortschritten führen (Brief v. 12. Mai 1909; MWG II / 6, 125). Weber sagt nicht ausdrücklich, worauf er hinaus will, aber es scheint ihm darum zu gehen, zu verhindern, unbedacht und radikal zu handeln. Er will dafür sensibilisieren, dass, bei aller „guten“ Absicht, auch das Gegenteil des Beabsichtigten das Handlungsergebnis sein könnte. Die „Erfolgsethik“ ist insofern problematisch, als sie von den kontraproduktiven Folgen und Nebenfolgen abstrahiert. Der „Erfolgsethiker“ bedenkt nicht oder nur unzureichend, dass die Nachteile einen vermeintlichen Vorteil überwiegen könnten. Die Überlegungen Webers münden, würde ich sagen, in die Empfehlung, deshalb verantwortungsethisch zu handeln, weil die Verantwortungsethik mögliche Widersprüche, kontraproduktive Folgen und Nebenfolgen berücksichtigt. Anders ausgedrückt: Sie versucht, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren. 8  Ein Überblick über Schelers Ethik bei Wald 2009, 123  ff. Vgl. auch schon Kapitel 4.



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Die Erfolgsethik kann deshalb nicht der Vorbegriff der Verantwortungsethik sein. Sie scheint vielmehr nur ein Entwicklungsschritt zur Verantwortungsethik zu sein. Die problematischen Seiten der Erfolgs­ethik hat Weber in der Gesinnungsethik gebündelt, für die er, wie wir gesehen haben, allerdings auch große Sympathien hat, sofern sie authentisch ist. An diesem Punkt gibt es eine große Spannung; Weber scheint sich hin- und hergezogen zu fühlen. Vielleicht liegt darin eine Erklärung dafür, warum er noch in seinem Vortag „Politik als Beruf“ sagt, „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik (sind) nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann“ (PS, 559). d) Diskursfeld 4: „Ehre und Ritterlichkeit“ Der Begriff der persönlichen Ehre spielt bei Weber eine große Rolle. Mehrfach kündigt er an, seine Ehre oder auch die anderer Personen im Duell verteidigen zu wollen. Während zum Beispiel in England und Irland die letzten Duelle Anfang der 1850er und 1860er Jahre ausgetragen werden, gelten sie in Deutschland noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts als legitime Form der Auseinandersetzung.9 Unter Ehre versteht Weber die Würde und das besondere Ansehen einer Person. Ehre ist für ihn das, was auch heute darunter verstanden wird, nämlich „die auf der Selbstachtung beruhende, daher als unverzichtbar erlebte Achtung, die der Mensch von seinen Mitmenschen beansprucht“ (Zunkel 1975, 63). Die eigene Ehre sieht er häufig beeinträchtigt. Deshalb führt er vor allem in den Jahren 1911 und 1912 eine Vielzahl von Prozessen gegen Kontrahenten, durch die er sich beleidigt fühlt oder getäuscht sieht. Ein Kampf um die Ehre seiner Frau findet statt, als der Heidelberger Privatdozent Arnold Ruge die Frauenbewegung als zusammengesetzt aus „alten Mädchen, sterilen Frauen, Witwen und Jüdinnen“ bezeichnet, die ihre „Pflichten als Mütter“ nicht erfüllten. Weber sieht darin, wohl nicht zu Unrecht, gerade auch einen An9  Vgl. neuerdings die Darstellung bei Appiah (2011, 66  ff.), der versucht, die Ehre als zentralen Begriff der Ethik aufzuwerten. Er vertritt die These, dass revolutionäre Veränderungen maßgeblich auf einer Verletzung des Ehrgefühls einer Gesellschaft basierten. Zur Geschichte der Ehre vgl. Speitkamp 2010. Kaiser Wilhelm II. hielt das Duell für unverzichtbar, seine Ehre zu verteidigen. Wer dies verweigerte, wurde aus dem Militärdienst entlassen. Speitkamp zeigt, dass das Duell auch Ausdruck von Zivilisations- und Materialismuskritik war (2010, 141). „Das Duell bewahrte das agonale Moment in der zivilen Gesellschaft.“ (2010, 142). Während die Ehre um 1900 noch in den Kontext der persönlichen „Grundrechte“ gehört, wird sie in den 1920er Jahren zum Ausdruck einer abstrakten, nationalen (deutschen) Gemeinschaft, zur „Sache des Blutes“ (vgl. Speitkamp 2010, 173 ff.).

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griff auf seine Frau. Deshalb fordert er Ruge zum Duell heraus.10 Nicht jede kritische Äußerung ist für Weber ehrverletzend, sondern nur jene, die jemanden wegen „natürlicher“ Eigenschaften, also zum Beispiel aus Gründen des Geschlechts, herabsetzt. Ein gewisses Verständnis bringt Weber für ehrverletzende Äußerungen auf, wenn diese aus Unbesonnenheit oder im Affekt erfolgen. Aber in dem konkreten Fall sieht er gezielte Absicht am Werke (vgl. Brief an Friedrich Blanck v. 13. Dezember 1910; MWG II / 6, 721 ff.). Die Prozesse, die Weber führt, ziehen sich mitunter über viele Monate hin und kosten viel Kraft. Weber erklärt damit manche verzögerte oder gestörte Produktivität. Gleichwohl lässt er sich auf die juristischen Streitereien ein, sicherlich auch aufgrund eines gewissen Vergnügens daran. Ehre ist für Weber ein starkes ethisches Gefühl. An den Journalisten Friedrich Blanck schreibt er: „Fischblut habe ich auch nicht in den Adern.“ (Brief v. 17. De­ zember 1910; MWG II / 6, 747). Manchmal geht es ihm aber auch um ein systematisches Interesse. Im Falle des Streits mit dem Journalistik-Dozenten Adolf Koch will Weber juristisch erreichen, das Redaktionsgeheimnis zugunsten des persönlichen Ehrschutzes aufzuheben. Die Ehre ist für Weber ein höchstes und von staatlicher Seite zu schützendes Gut.11 Wenn Weber von „Ehre“ spricht, meint er damit die Achtung oder den Respekt, den jemand von seinen Mitmenschen einfordert. Ehre beruht nicht, wie in der höfischen und ständischen Gesellschaft, auf Geburt, Besitz oder Zuschreibung, also auf vermeintlichen Sonderrechten, sondern auf persönlichem Verdienst. Es sind die eigenen Leistungen, die Ehre begründen. Die „nationale Ehre“, die damals sich zu entwickeln beginnt, spielt für Weber als Begriff keine Rolle. Er reserviert die Ehre als Eigenschaft, die nur einer Person zukommen kann. Im Zusammenhang mit der „Nation“ spricht Weber nicht von „Ehre“, sondern von „Interessen“. Seine Antrittsvorlesung mit ihrem stark nationalistischen Ton ist dafür ein Beispiel. Wer ehrvoll handelt, hat nach Weber Anspruch auf Respekt, weil er tut, was im Sinne einer allgemein anerkannten Moral ist. Aus den Briefen lässt sich herausarbeiten, dass zu dieser allgemein anerkannten Moral das absolute Verbot der Lüge gehört. Man dürfe nicht nur gegenüber seinen „Freunden“ nicht lügen, sondern auch nicht gegenüber seinen „Feinden“ (vgl. Brief an Marianne Weber v. 14. April 1914; MWG II / 8, 621 f.). 10  Ruge hatte bei Windelband mit einer Arbeit über Kant promoviert. Die Universität entzog ihm 1920 wegen antisemitischer Reden die Lehrbefugnis. 11  Über den möglichen Widerspruch zwischen Ehre und Recht, der darin besteht, dass derjenige, der im Unrecht ist, als Sieger aus dem Duell hervorgehen könnte, reflektiert er nicht. Das wäre allerdings im Kontext der Briefe auch zu viel verlangt.



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Das Gewissen ist für Weber die Instanz, die verhindern kann, die Unwahrheit zu sagen. Ein Mensch ohne Gewissen ist für ihn jemand, der nur zu bequem ist, sich moralischen Grundsätzen zu unterwerfen. Weber prägt dafür die Bezeichnung „Comfort der Seele“ (Brief an Marianne Weber v. 10. April 1914; MWG II / 8, 609). Im Streit mit Robert Michels zeigt sich, dass das Gewissen jene Kraft im Hintergrund ist, die das moralische Handeln einer einzelnen Person lenkt. Das Gewissen ist für Weber eine moralische Größe. Er ist nicht bereit, der Freundschaft mit Michels auch nur „einen Zoll“ desselben zu opfern, wenn dieser weiterhin seinen Verleger beschimpfe, andererseits aber die eigenen Bücher in dem Verlag erscheinen lasse. Die moralische Verpflichtung, immer die Wahrheit zu sagen, schließt nicht aus, in den Fällen, in dem es einem schaden könnte, zu schweigen. Das ist zum Beispiel bei juristischen Streitigkeiten der Fall. Vielfach führt Weber das Wort „Ritterlichkeit“ im Mund. Ritterlich handelt, wer gerecht und aufrichtig, aber auch aus „Güte“ handelt (vgl. Breif an Friedrick Blanck v. 17. Dezember 1910; MWG II / 6, 747). Weber schreibt die „Ritterlichkeit“ mal in Anführung, mal nicht. Sie ist für ihn Chiffre moralisch korrekten Handelns, aber auch ein anderes Wort für Mut, für die Bereitschaft, für seine Grundsätze zu kämpfen. „Ritterlich“ ist der „Edle“, der moralisch unkorrumpierbare Mensch, aber auch jemand, der einen ­anderen in seiner Not nicht allein lässt (vgl. Brief an Friedrich Blanck v. 13. Dezember 1910; MWG II / 6, 723). Einmal setzt sich Weber mit dem Widerspruch zwischen der „Klugheit“ und dem „Gebot des Herzens“ auseinander. Weber legt sich nicht fest, welcher „Stimme“ zu folgen sei. In den Fällen, in denen er als juristischer Berater fungiert, gibt er der Klugheit den Vorzug, in einem anderen Fall, in dem es um den beruflichen Lebensweg einer entfernten Verwandten geht, plädiert er dafür, ihrem „Drang des Herzens“ nachzugeben (MWG II, 6, Brief an Marianne v. 3. Januar 1914). Auffallend in diesem Diskursfeld ist nicht nur die Häufigkeit der Begriffe „Ehre“ und „Ritterlichkeit“, sondern auch der Rigorismus, mit dem Weber seine Grundsätze vertritt. Er gönnt sich, auch im persönlichen Handeln, keinerlei „Comfort der Seele“. Eine jahrlange Freundschaft ist er bereit aufs Spiel zu setzen für eine relativ geringe Verletzung eines moralischen Grundsatzes. „Ich opfere einer Freundschaft keinen Zoll meines Gewissens.“ (Brief an Robert Michels v. 2. Juni 1914; MWG II / 6, 697). e) Diskursfeld 5: „Politische Ethik“ Der Band mit Briefen aus den Jahren 1915–17 zeigt deutlich Spuren der zeitgenössischen politischen Situation. Wie in keinem anderen der bislang

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veröffentlichten Briefbände ist häufig von Politik und dem Politischen die Rede. An Mina Tobler schreibt er „… das Politische … es ist meine alte ‚heimliche Liebe‘ …“ (Brief v. 27. Mai 1917; MWG II / 9, 653). Unter dem „Politischen“ versteht Weber nicht wie Carl Schmitt eine existentielle Kategorie, eine Art Lebenselixier, das seine Kraft daraus schöpft, zwischen Freund und Feind unterscheiden zu können, auch wenn er gelegentlich genau diesen Eindruck vermittelt. Das Politische sind für ihn vielmehr die politischen Angelegenheiten, um die sich Weber große Sorgen macht und um die es nach seiner Einschätzung verheerend bestellt ist. Es bedrückt ihn das „völlige Dunkel der Zukunft“ (MWG II / 9, 653), persönlich wie politisch. Persönlich, insofern auch Weber um das materielle Überleben ringt, politisch, sofern für Weber keine schlechtere politische Führung denkbar ist als die gegenwärtige. Weber klagt über die aus seiner Sicht völlige Urteilsunfähigkeit der politischen Eliten und über die „dynastische“ Form der deutschen Politik, die umzustürzen sei, wenn das Land überhaupt eine politische Zukunft haben wolle (vgl. Brief an Hans Delbrück v. 28. Juni 1917; MWG II / 9, 678). In Wilhelm II. und der „ekelhaften hysterischen Eitelkeit dieses ‚Monarchen‘“ sieht er die Hauptlast der deutschen Politik und auch den Grund für das Verderben all dessen, „was mir heilig und teuer“ ist (Brief an Karl Loewenstern v. 10. Februar 1917; MWG II / 9, 595). Hier artikuliert sich ein geradezu irrationaler Hass. In diesen Jahren verliert Weber mehrfach die Contenance. An Hans Ehrenberg schreibt er: „Die Staatsform ist mir völlig Wurst, wenn nur Politiker und nicht dilettierende Fatzkes wie Wilhelm II. und seinesgleichen das Land regieren (und uns durch ihre Parvenükunst vor der ganzen Nachwelt blamieren.“ (Brief v. 16. Juli 1917; MWG II / 9, 708). Weber spricht sich für eine „rücksichtlose Parlamentarisierung“ aus, „um diese Leute ‚kaltzustellen‘“ (MWG II / 9, 708). Es gibt in den Briefen aber auch moderate Töne, Worte der Mäßigung. In einer Ethik der Zurückhaltung, des Augenmaßes, der Kühle und Nüchternheit sieht Weber die Chance eines politischen Neubeginns.12 In einem Brief an den Publizisten, Mitbegründer der „Deutschen Demokratischen Partei“ und der „Deutschen Hochschule für Politik“, Ernst Jäckh, unterscheidet Weber zwischen der politischen und der publizistisch-privaten Ebene. Die eine ist die Ebene der „Sachlichkeit“, die andere die Ebene der „Pathetik und Moralität“ (Brief v. 13. Dezember 1916; MWG II / 9, 569). Das Politische identifiziert Weber mit dem Staat, während er die Parteien auf der 12  Vgl. etwa die Briefe an Friedrich Naumann (v. 2. November 1915; MWG 9 / II, 158), in dem es heißt: „Ich habe den Eindruck, dass das Augenmaß in so bedenklicher Art fehlt bei den Politikern, die jetzt Einfluss haben.“ In zwei weiteren Briefen an Marianne beklagt er nochmals das Fehlen des Augenmaßes für das „Mögliche und Nützliche“ (Brief v. 7. April 1916; MWG II / 9, 376 sowie Brief v. 2. Mai 1916; MWG II / 9, 403).



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Ebene der Pathetik und Moralität ansiedelt, darin dem „Begriff des Politischen“ (und anderen Schriften) von Carl Schmitt nicht unähnlich. Verwandt ist auch der Gedanke der politischen Führung als Einheit stiftende Macht. Der zeitgenössischen Gesellschaft attestiert Weber ein hohes Maß an Desintegration. Daran kann offensichtlich auch der begonnene Krieg wenig ändern, zumindest in der Diagnose Webers. An Marianne Weber schreibt er „So baut jeder seinen Kram. Zusammenhang – ein Staatsmann! – fehlt!“ (Brief. v. 7. Dezember 1915; MWG II / 9, 208). Ein solcher „Staatsmann“, verstanden als Integrationsfigur, die über den Partikularismen steht, scheint für Weber so wichtig zu sein, dass ihm die Staatsform nur von sekundärer Bedeutung zu sein scheint. Der auch schon vor Veröffentlichung in der Weber-Gesamtausgabe häufig zitierte Satz aus einem Brief an Hans Ehrenberg lautet: „Staatsformen sind für mich Techniken wie jede andere Maschinerie. Ich würde ganz ebenso gegen das Parlament und für den Monarchen losschlagen, wenn dieser ein Politiker wäre oder es zu werden verspräche.“ (Brief v. 16. Juli 1917; MWG II / 9; 709). Ob Weber dies tatsächlich so meint oder ob er sich hier nur „radikal“ gibt, muss offen bleiben. In jedem Fall assoziiert er mit dem beschworenen „Staatsmann“ nicht eine „starke, durchgreifende“ Persönlichkeit, sondern jemanden, der Einheit und Zusammenhalt zu stiften vermag, der die Extreme meidet und vermittelt, der integriert statt polarisiert. Weber redet keiner Entbindung der politischen Macht das Wort, sondern vielmehr tritt er ein für ihre Hegung und Begrenzung, wie deutlich der letzte Teil seines Vortrags „Politik als Beruf“ zeigt mit seinem Postulat nach einem Politiker, der vor allem drei Qualitäten besitzen soll: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß (PS, 545 f.). Diese Trias ist nur auf den ersten Blick spannungsvoll. Leidenschaft und Augenmaß müssen nicht automatisch in Konflikt geraten. Leidenschaft ist für Weber keine irrationale Charaktereigenschaft, sondern die politische Überzeugung, mit der jemand an die politische Arbeit geht. Keineswegs betrachtet Weber die Gesinnungsethik als so problematisch, wie ihm immer wieder unterstellt wird.13 Wogegen er sich wehrt, ist das rein gesinnungsethische Handeln, denn dieses kann unverantwortlich gegenüber jenen Wertpräferenzen sein, die nicht mit den eigenen gesinnungsethischen Präferenzen übereinstimmen. 13  In der Literatur finden sich folgende Positionen: Nach Mommsen (1989) sieht Weber beide Ethiken als grundsätzlich gleichberechtigt an, da er keine Form „höherwertiger Ethik“ kenne. Schluchter (1971) sieht eine Präferenz für die Verantwortungsethik. Sukale (2002) meint, Weber schließe eine „realpolitischen Kompromiss“ zwischen beiden Ethiken. Diese Interpretation deckt sich mit meinem Eindruck aus der Lektüre von „Politik als Beruf“ und hat den Vorteil, Webers ausdrückliche Sympathie mit gesinnungsethischen Formen des Handelns nicht unter den Tisch fallen zu lassen.

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Man könnte vielleicht sagen: Gesinnungsethische Motive konstituieren den Politiker zu einem bedeutenden Teil mit, aber diese Motive dürfen keine Überhand nehmen. Dies zu verhindern übernimmt die Verantwortungsethik, der Weber, so gesehen, eine zentrale Funktion zuschreibt. Ohne gesinnungsethische Motive würde andererseits der Politik ihr „Projekt“ fehlen. Politik würde zu einer Art „seelenlosem“ Verwalten von Sachen und Menschen, mithin zur Bürokratie, in deren Herrschaftsanspruch und „Verschwisterung“ mit der kapitalistischen Wirtschaftsform Weber den Hauptgrund für das Entstehen des „stahlharten Gehäuses“ und der „Parzellierung des Menschentums“ sieht.

4. Die potenzierte Parzellierung Wir haben einen Eindruck vom moralischen Gehalt des Weberschen Briefwerks bekommen. Die Präsenz des Moralischen in den Briefen steht im Kontrast zur Absenz desselben in seinem veröffentlichten Werk. Wenn man es positiv wendet, kann man sagen, Weber tritt weitgehend erfolgreich den Beweis an, dass „wertfreie“ Wissenschaft möglich ist. Jedenfalls hält er die Trennung weitgehend durch, auch wenn er den Grundsatz durchaus verletzt. Allerdings zahlt Weber, wenn man es kritisch wendet, dafür einen Preis. Die Dimension des Moralischen ist zwar in den Briefen stark vertreten, aber dieser „moralische Weber“ ist nur der „inoffizielle“. Vor allem konterkariert Weber durch seine strikte Trennung ein Anliegen, das zu verteidigen er doch als „Gebot der Menschenwürde“ betrachtet. Wenn es Weber vor allem darum geht, wie ich hier herauszuarbeiten versucht habe, die „Parzellierung des Menschentums“ aufzuhalten, dann unterläuft er mit der Ausblendung und letztlich: Verbannung der Welt der Moral und der Werte gerade dieses Ziel. Weber potenziert die Parzellierung, indem er seine Schriften um die moralische Dimension beschneidet.

Kapitel 7

Weber The Would-Be Pragmatist. Untersuchung einer „Wahlverwandtschaft“ Um 1900 wird in den USA und in einigen europäischen Ländern mit großer Intensität der Diskurs des Pragmatismus geführt. Will man es an einem Datum festmachen, beginnt die Wirkungsgeschichte des Pragmatismus in Deutschland mit dem III. Internationalen Kongress für Philosophie, der 1908 in Heidelberg stattfindet. In diesem Kapitel wird die These ausgearbeitet, dass Weber in den Diskurs des Pragmatismus viel stärker involviert ist, als dies bekannt ist. In Variation einer Formulierung von Günther Roth möchte ich Weber als einen „Would-Be Pragmatist“ bezeichnen.1 Das „Would-Be“ bei Roth ist im Sinne eines „Möchtegern“ gemeint. Roth rekurriert auf positive Stellungnahmen von Weber, in denen dieser seine Sympathien zu England bzw. vor allem zu den Vereinigten Staaten bekundet. Das „Would-Be“ in meiner Untersuchung ist im Sinne eines „Wäre-Beinahe“ gemeint, denn Weber „bekennt“ sich nicht zum Pragmatismus, wie er sich auch zu keiner anderen Philosophie „bekennt“. Aber er hat eine große Affinität zum Pragmatismus. Nahezu zeitgleich entwickelt er, wie die maßgeblichen Vertreter des Pragmatismus in Amerika, „pragmatistische“ Gedanken und Positionen. Schwierig auszumachen ist, ob er sich dabei vom Pragmatismus inspirieren lässt oder ob er, unabhängig davon, selbst zu pragmatistischen Positionen gelangt.  Nimmt man die Literatur als Indikator, so gibt es so gut wie keine Beziehung zwischen Weber und dem Pragmatismus. Einige wenige Aufsätze sind erschienen, die die Frage (mit)behandeln, nur zwei widmen sich ausführlicher der Thematik.2 Die meisten Weberforscher sehen offenbar keine 1  Der Titel des Aufsatzes von Roth (1993) lautet „Weber the Would-Be Englishman“. Vom selben Autor liegt eine gründliche Studie zu Max Webers deutsch-englischer Familiengeschichte (2001) vor, in der er die Thesen früherer Aufsätze aus­ arbeitet. Kernaussage der Arbeiten von Roth ist Webers große emotionale Nähe zu England und vor allem auch zu Amerika. 2  Hennis (1996) ist, soweit ich sehe, der erste, der sich der „spiritualistischen Grundlegung“ der Soziologie Webers widmet, die er im Pragmatismus und namentlich bei James sieht. Hennis’ Aufsatz hat jenen von Gosh 2005 inspiriert, der die Gegenposition vertritt: „… were opposed on most fundamental points …“ (S. 251)

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Kap. 7: Weber The Would-Be Pragmatist

Verbindungen oder Parallelen, denen es sich lohnte nachzugehen.3 Demgegenüber möchte ich zeigen, dass Webers Denken nachhaltig pragmatistisch ist. Pragmatistisch ist eine Philosophie – so eine einführende, im Fortlauf der Untersuchung weiter zu entwickelnde Umschreibung –, die sich gegen ein erfahrungsunabhängiges, aprioristisches Denken wendet, deterministische Ableitungen ablehnt und von der Fallibilität des Wissens ausgeht, die sich als pluralistisch und antidogmatisch versteht, lediglich ein „Für-wahrHalten“ anerkennt und „die Wahrheit“ auch deshalb für problematisch hält, weil der Singular ausschließlichen Charakter hat, die sich nicht zuletzt als reflexive Philosophie versteht, der es um ein bedachtes und mögliche Konsequenzen berücksichtigendes Handeln geht.4 Gosh sieht in Weber einen Vertreter des „Rationalismus“ und in Opposition zum Pragmatismus. 3  So etwa Schluchter, der Webers „Forschungsprogramm“ als „kantianisierende Soziologie“ deutet und neben dem „Kantianismus“ den Historismus und die zeit­ genössische Nationalökonomie als ideelle Grundlagen betrachtet (vgl. 2006 a und 2006 b). Ebenfalls kein Thema bei Joas (1992), von dem aber wichtige Arbeiten zum amerikanischen Pragmatismus stammen, und im Weber-Handbuch von Swedberg (2005). Demgegenüber behandeln Kloppenberg (2000) und Wenzel (2003) das Verhältnis Weber / Dewey. Wenzel arbeitet mehr Differenzen als Parallelen und Kloppenberg mehr Parallelen als Differenzen heraus. Keiner der Autoren steigt in einen gründlichen Vergleich der Theoriepositionen ein. Von Kloppenberg (1986) stammt eine Arbeit zum „transatlantic community of philosophical and political discourse“ in der Zeit zwischen 1870 und 1920. Er zeigt, dass, ganz unabhängig voneinander, aber doch in den Motiven verbunden, europäische und amerikanische Denker gemeinsam die theoretischen Grundlagen für „soziale Demokratie“ und „Fortschritt“ entwickeln. Claus Offe hat eine interessante Untersuchung über die Amerika-Aufenthalte von Tocqueville, Weber und Adorno vorgelegt. Danach steht Amerika „in der Mitte des Forschungsprogramms“ von Weber (2004, 63) und ist zugleich ein politisches Ideal. Deshalb warne Weber vor einer „aufholenden Europäisierung“. Offe schenkt der Anziehungskraft, die das pragmatistische Denken auf Weber ausübt, keine Beachtung. 4  Der Begriff von „Pragmatismus“ bzw. „pragmatistisch“, der hier verwandt wird, wird im Fortlauf der Untersuchung vor allem anhand der Schriften von James weiter entwickelt und präzisiert. Die Betonung des methodischen Moments, also das Reflektieren und Klären von Begriffen hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Handeln, geht auf Peirce zurück. Es findet sich auch bei James, der sich in seiner zweiten Pragmatismus-Vorlesung Peirce anschließt (1994, 28 f.). Umgekehrt betont Peirce immer wieder die Gemeinsamkeiten mit James (vgl. etwa Peirce 1991d, 529). Ich neige dazu, die zweifellos bestehenden Differenzen zwischen beiden Autoren als relativ unbedeutend anzusehen. Mit Oehler (1995, 9 ff.) gehe ich von einem relativ einheitlichen „Paradigma des Pragmatismus“ aus, das die oben genannten Konstitutive enthält. Sie gleichen den Elementen, die Joas (2000, VIII) in seiner Definition des Pragmatismus aufführt. Weil er mehr die Meadsche und Deweysche Variante des Pragmatismus im Blick hat, nennt er als zusätzliche konstituierende Merkmale den „sozialen Charakter des Selbst“ sowie den Beitrag von Wissenschaft und Forschung für eine „vernünftige“ Politik.



1. Zum Begriff der „Wahlverwandtschaft“189

William James, für Weber der wichtigste Bezugsautor, zitiert in seinen Pragmatismus-Vorlesungen den italienischen Pragmatisten Giovanni Papini, der 1905 in der Zeitschrift „Leonardo“ den Aufsatz „Il Pragmatismo Messo in Ordine“ veröffentlicht. Dort nennt er den Pragmatismus eine „teoria corridório“, d. h. er liegt in der Mitte aller Theorien − „wie ein Korridor in einem Hotel“ (James 1994, 34).5 Die Metapher meint, dass verschiedene Wege und Zugänge möglich sind. Der Pragmatismus steht nach seinem Selbstverständnis für weltanschauliche Neutralität, Heterodoxie und Dogmenfreiheit. Ich möchte den „corridório“ betreten und einige Türen öffnen, hinter denen ich eine „Wahlverwandtschaft“ vermute.

1. Zum Begriff der „Wahlverwandtschaft“ Der besonderen Beziehung Webers zum Pragmatismus möchte ich mich mit dem Begriff der „Wahlverwandtschaft“ nähern. Goethe entlehnt ihn dem chemischen Werk „De attractionibus electivis“ (1775) des Schweden Torbern Bergman. Dieser versteht darunter die gegenseitige Anziehung von Naturelementen. Bereits Albertus Magnus spricht um 1250 von der „affinitas“ bei chemischen Körpern.6 „Affinität“ ist die anziehende Gemeinsamkeit oder Anziehungskraft, die zwei Dinge aufeinander ausüben. Goethe überträgt den Begriff in seinen „Wahlverwandtschaften“ (1809) auf zwischenmenschliche Beziehungen. In einer vorläufigen Definition, entwickelt in der Gleichnisrede im vierten Kapitel des ersten Buches, versteht er darunter „ein Verhältnis, (das) dem andern vorgezogen (wird)“ (2007, 36). Damit ist freilich noch nichts über die Gründe oder Ursachen dieser Bevorzugung gesagt. Zuvor lässt Goethe die Protagonistin (Charlotte) auch von „Geistesund Seelenverwandtschaft“ sprechen, die von der „Blutsverwandtschaft“ zu unterscheiden sei (2007, 35). Letztlich ist eine „Wahlverwandtschaft“ bei Goethe eine Beziehung, die scheinbar mythische Gründe hat und nicht vollständig erklärlich ist. Deshalb schreibt er am Ende seines Romans, in einer Wahlverwandtschaft übten zwei Elemente (sprich: Menschen) eine „unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus“ (2007, 248). Das „wirkliche“ Kausalitätsverhältnis bleibt ungeklärt. „Wahlverwandtschaft“ ist ein Begriff, den Weber selbst mehrfach mit Vorliebe benutzt.7 Im ersten Russland-Aufsatz bestreitet er die „Wahlver5  Papini (1881–1956) vertritt mit Giovanni Vailiti und Guiseppe Preszzolini den Pragmatismus in Italien. Den Autoren geht es um die Entwicklung einer „Philosophie der Tat“, in der die spirituelle Inspiration eine wichtige Rolle spielt. Papini variiert vor allem die Ideen von William James. Ab 1935 wirkt er, tief religiös, als Professor für italienische Literatur in Bologna. 6  Zur Herkunft und Bedeutung des Begriffs vgl. Ritzenhoff 1982, 5, 15 ff., 102 f. 7  Nach der elektronischen Ausgabe der Weber-Werke 14 Mal.

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Kap. 7: Weber The Would-Be Pragmatist

wandtschaft“ von Kapitalismus und Demokratie „oder gar mit ‚Freiheit‘“ (MWG I, 10 u. 270). Weber interpretiert „Wahlverwandtschaft“ hier im Sinne von „Vereinbarkeit“. Kapitalismus und Demokratie scheint er für inkompatibel zu halten. Deshalb muss der Kapitalismus „reguliert“ werden, wenn Demokratie und Freiheit erhalten bleiben sollen.8 Eine wichtige Stelle findet sich in „Wirtschaft und Gesellschaft“. Dort definiert er „Wahlverwandtschaft“ als diejenige Beziehung, in der bestimmte Formen des Handelns das Entstehen bestimmter Entwicklungen „begünstigen oder umgekehrt hemmen oder ausschließen“. Weber spricht alternativ von „Adäquanzbeziehungen“ (WG, 201). Die berühmteste „Wahlverwandtschaft“, die nicht zuletzt Weber „berühmt“ macht, ist die zwischen protestantischer (besser: puritanischer) Ethik und dem „Geist“ des Kapitalismus. Weber fragt in seiner ersten Protestantismusstudie, ob und wieweit religiöse Einflüsse den spezifischen „Geist“ der auf kapitalistischer Basis ruhenden „Kultur“ mitgeprägt hätten (vgl. RS I, 83). Er bejaht dies und sieht den Grund dafür in der offensichtlichen Anziehung bzw. Korrelation von religiös bedingtem Handeln und wirtschaftlicher Erfolgsorientierung. Der Kapitalismus hat mithin eine religiöse Wurzel, die freilich − hier geht Weber über das Konstatieren einer „Wahlverwandtschaft“ hinaus −, im Fortlauf kapitalistischer Entwicklung auszutrocknen beginnt und abzusterben droht. Der Kapitalismus untergräbt also seine religiös-sittlichen Grundlagen. Die Säkularisierung wirft für die Religion die Existenzfrage auf. Der religiös (mit)bedingte Kapitalismus hat die paradoxe Folge einer tendenziellen Selbstdestruktion der Religion. Darin kann man eine Pointe der Protestantismusstudie sehen. Mit dem Begriff der „Wahlverwandtschaft“ operiert Weber deshalb mit Vorliebe, weil er − so würde ich als These formulieren − den erwähnten mythischen Charakter hat. „Wahlverwandtschaft“ ist als Begriff attraktiv, weil er suggeriert, die Kausalitätsfrage zu beantworten, aber die Beantwortung hat Scheincharakter. Für Weber ist dies mit dem Vorteil verbunden, dass er sich kausal nicht eindeutig festlegen muss. Ohnehin geht er im Protestantismusaufsatz von einem „ungeheuren Gewirr gegenseitiger Beeinflussungen“ zwischen religiösen Ideen, materiellen Interessen und politischen / sozialen Institutionen aus (RS I, 83). Trotzdem ist er von der durchschlagenden und entscheidenden Wirkung der „Wahlverwandtschaft“ von religiöser Ethik und Kapitalismus überzeugt. 8  In der „Vorbemerkung“ (RS I, 4) skizziert Weber eine Form des Kapitalismus, in der „schrankenlosester Erwerbstrieb“ gebändigt, „rational temperiert“ ist. In den Untersuchungen des Konfuzianismus und des Hinduismus fällt mehrfach der Begriff der „kühlen“ oder „distanten Temperierung“ (RS I, 456, 493, 519; RS II, 223, 302). Hier könnte man einen Zusammenhang mit seinem Ruf nach Besonnenheit, Mäßigung und Verantwortungsbereitschaft in den Reden „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ sehen.



2. Das Erzählen einer „lehrreichen Geschichte“191

Seine Kritiker hat diese geschickte Argumentation nicht davon abhalten können, Einwände zu erheben. Bis heute wird die „Weber-These“ kontrovers diskutiert. Man muss aber darauf hinweisen, dass Weber verschiedene Optionen offen lässt und nicht beansprucht, die einzig mögliche Antwort zu geben.9 Seine Antwort entspricht einer Soziologie, die sich vornimmt, multiperspektivisch vorzugehen und die mit einem ganzen Bündel an direkten und indirekten Einflussfaktoren rechnet. Im zweiten Abschnitt des Objektivitätsaufsatzes äußert sich Weber dazu ausführlich unter dem Stichwort „Erkenntnisinteresse“. Er unterscheidet zwischen „bedingenden“ und „relevanten“ Faktoren. Selbst wenn diese allesamt erfasst sein sollten, so Weber, sei damit eine „Kulturerscheinung“ noch nicht vollständig und abschließend erfasst. Seine Begründung ist: Der Blickwinkel sei wegen der erkenntnisleitenden Interessen beschränkt. Aus diesem Grund schreibt Weber: „Es gibt keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens …“ (WL, 170). Immer nur ist die „denkende Erkenntnis“ von „Teilen“ möglich (WL, 171). Dieser bescheidene Anspruch einer Wissenschaft, die aber trotzdem glaubt, „die empirische Wirklichkeit denkend … ordnen (zu können)“ (WL, 155), ist motiviert in der Kritik eines Denkens, das vorgibt, aus Lehrsätzen die „Wirklichkeit“ deduzieren zu können. Bei diesem Vorwurf hat Weber vor allem Marx und die historische Schule der Nationalökonomie vor Augen. Den Pragmatismus bewegen ähnliche Motive. Es gibt eine Gleichzeitigkeit von Denkbewegungen diesseits und jenseits des Atlantiks. Beide scheinen weitgehend unabhängig voneinander zu entstehen, aber sie scheinen doch in dem Augenblick, als sie gleichzeitig auftauchen, aufeinander einzuwirken. Ich möchte zeigen, wie der Pragmatismus von William James, aber vielleicht auch von Peirce und Schiller auf Weber und sein Denken gewirkt haben könnten. Ich bevorzuge eine konjunktivische Formulierung, denn der Nachweis ist schwierig. Es widerspräche meiner Absicht, Weber eine „Hintergrundphilosophie“ zu unterstellen. Vielmehr möchte ich prüfen, ob Motiv-Koinzidenzen bestehen, ob es Analogien oder Parallelen in den Topoi mit der Philosophie des Pragmatismus gibt. Meine Untersuchung versteht sich als eine Art „Einflussforschung“, die helfen soll, Webers Intentionen besser zu verstehen und ein neues Vokabular zu finden, einige seiner Motive (vielleicht) präziser zu beschreiben.

2. Das Erzählen einer „lehrreichen Geschichte“ Entstanden ist die Fragestellung auf einem Umweg: während der Lektüre eines Autors, der Weber vermutlich – und fälschlicherweise – jenen Den9  Vgl. etwa Schluchter 2009, 40 ff. und Lehmann 2009 c, 107 ff. oder auch den Band Swatos / Kaelber 2005.

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kern zuordnen würde, die er „Rationalisten“ nennt. Es handelt sich um Richard Rorty, der in seinem zu Lebzeiten zuletzt veröffentlichten Buch „Philosophie als Kulturkritik“ die Philosophie des Pragmatismus charakterisiert als das „Erzählen einer lehrreichen Geschichte“ (2008, 107). Dieses Verständnis der Philosophie des Pragmatismus möchte ich aufgreifen, denn es korrespondiert mit der Grundidee meiner Arbeit, Weber als Aufklärer zu deuten, dem es in seinen Schriften gerade auch darum geht, aus Vergangenheit und Gegenwart Lehren für die Zukunft zu ziehen. Als Kriterium einer „Wahlverwandtschaft“ mit dem Pragmatismus genügt dieser aufklärende Impuls freilich nicht. Es kommt die Schwierigkeit hinzu, dass Rortys Pragmatismusbegriff eigenwillig ist, so eigenwillig, dass Kritiker ihm die Selbstcharakterisierung als Pragmatist absprechen. Rorty sieht sich in der Tradition von William James und vor allem von John Dewey, den er zu aktualisieren versucht, indem er einen „hypothetischen Dewey“ konstruiert (2000, 422). Dewey wiederum bezieht sich auf den Begründer des Pragmatismus, auf Charles Sanders Peirce (vgl. Oehler 1995, 14 ff.). Und Peirce wiederum nennt als Referenzautor Kant. Dessen „Kritik der reinen Vernunft“ habe wie philosophische „Muttermilch“ gewirkt (Peirce 1991 a, 143). Kant unterscheidet in seiner ersten „Kritik“ zwischen einem „moralischen“, einem „pragmatischen“ und einem „doktrinalen“ Glauben (KrV, B 852). Während der Terminus „praktisch“ auf moralische Gesetze Anwendung finden soll, denen Kant einen absoluten Status zuschreibt („notwendig“), sind „pragmatisch“ die Regeln, die auf Erfahrung beruhen („zufällig“). Kant spricht auch vom „Fürwahrhalten“ und deutet damit ein kontextualistisches, vom Individuum und seinen Umständen abhängiges und insofern relatives Wahrheitsverständnis an. Dies ist ein wichtiger Punkt für das Wahrheitsverständnis des Pragmatismus. Insofern kann man sagen, der Geburtsort des Pragmatismus liegt auch in Königsberg (so Höffe 2003, 340). Die philosophischen Ursprünge des Pragmatismus reichen offensichtlich noch weiter zurück. Während Peirce sich auf Kant beruft, nennt James Sokrates und Aristoteles seine Referenzautoren. Bei Aristoteles denkt er vermutlich an die Mesotes-Lehre im II. Buch der „Nikomachischen Ethik“.10 Auch Locke, Berkeley und Hume nennt James. Das spezifisch Pragmatische sieht er in einer strikten Tatsachenorientierung und der Abwendung von vermeintlichen „Ursprüngen“, von erfahrungsunabhängigen Evidenzen. Der Pragma10  Vgl. dazu Wolf 2006, die die Mesotes-Lehre strikt auf den Einzelnen bezogen verstanden wissen will und als „,richtige‘ Organisation und Kanalisation von Affektivität“ deutet. Es würde jedoch der Intention von Aristoteles nicht widersprechen, das Prinzip der „Goldenen Mitte“ auch und gerade auf politische und soziale Verhältnisse anzuwenden.



2. Das Erzählen einer „lehrreichen Geschichte“193

tismus, so James, sei „freie Luft“ (1994, 32). Um die lange Tradition pragmatischen Denkens zum Ausdruck zu bringen, gibt James seiner Schrift den Untertitel „Ein neuer Name für alte Denkmethoden“. Dass der Pragmatismus die Summe älteren, um neue Erfahrungen angereicherten Denkens ist, betont auch Dewey. In dem Aufsatz „Die Entwicklung des amerikanischen Pragmatismus“ (1925) deutet er diesen als Fortschreibung europäischen Denkens und insofern als ein transatlantisches Phänomen (Dewey 2003, 33). Einer der besten heutigen Kenner der Philosophie des Pragmatismus, Klaus Oehler, sieht darin einen späten Ausläufer der Philosophie der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Besondere liegt darin, dass das pragmatische Denken um und nach 1900 in Nordamerika und mehreren europäischen Ländern gleichzeitig auftritt. Inhaltliche Parallelen gibt es zwischen der Philosophie Nietzsches, Diltheys Begriff des Lebens, dem Wahrheitsbegriff beim jungen Simmel, der Soziologie Durkheims und Bergsons Lehre vom „élan vitale“ (Oehler 1995, 11). Oehler meint, dass den meisten Protagonisten diese Parallelen nicht deutlich bewusst seien. Eine Ausnahme bildet Hans Vaihinger mit seiner „Philosophie des Als Ob“ von 1911 (2. Aufl. 1913). Die Herausgabe seines Buches, zum Zeitpunkt der Publikation bereits 35 Jahre alt, begründet Vaihinger u. a. mit einer grundlegenden Übereinstimmung mit der Philosophie des amerikanischen Pragmatismus. Vaihinger sieht die Kongruenz seiner Philosophie mit der des Pragmatismus darin, dass das Denken dem „guten“ Handeln dienen soll. Vaihinger behauptet sogar, dass wir auch zu „bewusstfalschen Annahmen“, also zu „Fiktionen“ greifen, sofern diese „nützlich“ sind, um „richtiges“ Handeln zu begründen (vgl. Vaihinger 1913, II und XIII). Um ein Beispiel zu geben: Vaihinger nennt „Gott“ eine Fiktion, die das Handeln der Menschen in einem „nützlichen“ Sinne beeinflussen und sogar lenken könne. Es lässt sich nicht feststellen, ob Weber die „Philosophie des Als Ob“ zur Kenntnis nimmt. In seinen methodologischen Schriften findet sie keinen Niederschlag. Wenn er den Begriff der „Fiktion“ benutzt (immerhin 20 Mal im gesamten Werk) hat man nicht den Eindruck, dass er dabei an Vaihinger denkt. Allerdings wird er Vaihinger auf dem philosophischen Weltkongress in Heidelberg begegnet sein. In der Diskussion eines Vortrags von Rudolf Goldscheid sieht Vaihinger in dessen „kritischer Willenstheorie“ eine notwendige Ergänzung des pragmatistischen Denkens. Der Pragmatismus sei zu sehr auf das Kriterium der „Nützlichkeit“ ausgerichtet, lautet sein Einwand. Ein metaphysisch „höherer Standpunkt“ ist aus Sicht Vaihingers unverzichtbar (Kongressbericht, Elsenhans 1909, 761). Wenn das pragmatistische Denken in mehreren Ländern gleichzeitig auftritt, dann liegt der Hauptgrund dafür im Aufkommen eines anderen Ver-

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ständnisses von Philosophie, das sich stärker an den Naturwissenschaften orientiert und sich, wie im Neukantianismus, als Erkenntniskritik manifestiert. Reine Erkenntniskritik jedoch ist nicht in der Lage, Orientierungsbedürfnisse zu befriedigen. In diese Lücke rücken kompensatorisch Hermeneutik und Phänomenologie, die dabei Impulse der Lebensphilosophie aufnehmen. „Was soll ich tun?“, „Wie soll ich leben?“ − auch der Pragmatismus versucht, darauf eine Antwort zu geben. Von der Theorie wendet er sich zu den „Lebensproblemen“. In einem politischen Sinne ausgeprägt ist dieser Zug bei Dewey, der sich als Philosoph demokratischer Pädagogik sieht. Auch aus diesem Grund ist es zu kurz gegriffen, den Pragmatismus als Methode aufzufassen, ökonomisches Handeln zu „optimieren“, wie es Max Horkheimer in seiner „Kritik der instrumentellen Vernunft“ tut. Der Pragmatismus ist weder Ausdruck partikularer Interessen der „amerikanischen Kapitalistenklasse“, so marxistische Autoren wie Ernst Bloch, noch die Philosophie der „Männer des Erfolgs“, „der Erfinder, Finanziers und Reklamemacher“, wie Bertrand Russell 1909 in einem Aufsatz schreibt (1980, 95). Russell ist einer der schärfsten Kritiker des Pragmatismus. Er unterstellt ihm sogar einen latenten Hang zu Gewalt und zum Kampf, der mit „innerer Notwendigkeit“ so ende, dass die „größeren Bataillone“ siegten (1980, 96 u. 98). Als weitere „Negativmerkmale“ hebt Russell die Autoritätsfeindlichkeit, eine diskursive Grundhaltung und einen ausgeprägten Hang zum Skeptizismus hervor (1980, 94). „Die Skepsis gehört zum Wesen der pragmatistischen Philosophie: nichts ist gewiss, alles ist erneuter Prüfung ausgesetzt, und der Gewinn einer Wahrheit, in der wir sicher sein können, ist unmöglich“ (1980, 92).

Skeptizismus und Pragmatismus sind zwei Seiten derselben Medaille. Aus pragmatistischer Sicht ist das Streben nach Gewissheit unerfüllbar. Meine These ist: Der Pragmatismus ist auch ein Programm negativer Metaphysik. Überzogene (Wahrheits-)Ansprüche gibt er auf, „Projekten“ oder „Großen Erzählungen“ begegnet er mit Misstrauen. Der Pragmatismus ist eine „Kleine Erzählung“, vielleicht noch nicht einmal das, nur ein Text, ein bescheidener Beitrag zum besseren Gelingen. Um der Freiheit willen verzichtet er auf feste Regeln und Vorschriften. Er will Denk- und Handlungsspielräume erhalten, weil Wege sich als Irrwege erweisen könnten. Oder wie Klaus Oehler dies ausdrückt: „Der Pragmatismus ist diejenige Philosophie, die die Formbarkeit des Lebens und die Grenzen dieser Formbarkeit nicht nur erkennt, sondern aus dieser Erkenntnis auch für die Metaphysik die entsprechenden Konsequenzen zieht.“ (1994, XV)



3. Peirce, Dewey, Schiller und James’ „Anti-Philosophie“195

3. Peirce, Dewey, Schiller und James’ „Anti-Philosophie“ Weber hat C. S. Peirce (1839–1914) vermutlich nicht oder nur indirekt gekannt. Dessen Aufsatzserie der 1870er Jahre, übrigens zum Teil auf einer Schifffahrt nach Europa niedergeschrieben, gilt zwar als die Geburtsstunde des Pragmatismus, aber zu Lebzeiten nimmt ihn kaum jemand wahr. Peirce veröffentlicht 1878 ein Buch über astronomische Messungen, sein einziges; die „Collected Papers“ erscheinen erst 1931. Er wirkt nie an einer Universität, arbeitet stattdessen 30 Jahre im Vermessungsdienst der USA. Bis zu seinem Tod lebt er zurückgezogen in seinem Haus in der Kleinstadt Milford / Massachusetts in der Nähe von Boston. Seine „Theorie“ (von „Philosophie“ will er nicht sprechen) entwickelt er in den 1870er Jahren im „Metaphysical Club“ in Cambridge. Diesem Kreis gehören sechs Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtung an. Unter ihnen ist William James, der Peirce und seine Schriften Anfang 1900 bekannt macht. Auf dem Philosophie-Kongress in Heidelberg 1908, der sich im Schwerpunkt dem Pragmatismus widmet, fällt Peirce’ Name trotzdem nicht. Die Peirce-Rezeption setzt in Deutschland noch 30 Jahre später ein als in den USA. Weber ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahrzehnten tot.11  John Dewey und Weber wären sich beinahe begegnet. Webers Amerikareise 1904 führt ihn auch nach Chicago, das Dewey im Moment der Ankunft in Richtung New York verlässt.12 Die Schriften von Dewey hat Weber vermutlich ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie die von Peirce. Hätte er sie gelesen, hätte er den Thesen wahrscheinlich widersprochen. Dewey betrachtet Wissenschaft als Werkzeug des „sozialen Fortschritts“.13 Weber hätte darin eine unzulässige Instrumentalisierung von Wissenschaft gesehen. Auch Webers heroischer Pessimismus ist unvereinbar mit einer Philosophie, 11  Eine wichtige Rolle spielt dabei die Dissertation von Jürgen von Kempski „Charles S. Peirce und der amerikanische Pragmatismus“ (1951), die bei Adorno entstanden ist. Später sind es Karl-Otto Apel mit seinem Buch „Der Denkweg des Charles Sanders Peirce“ (1967) und den beiden Bänden mit Peirce-Texten (1967 / 1970) und Habermas mit „Erkenntnis und Interesse“ (1968), die den Pragmatismus weiter bekannt machen. Kritiker werfen Apel und Habermas eine Rezeption wider die Ursprungsintention des Pragmatismus vor. Der Pragmatismus kenne keine Letztbegründung (so Oehler 2000, 8 f.). Auch der Neo-Pragmatist Rorty zielt mit seiner Kritik auf diesen Punkt. 12  Hinweis bei Kloppenberg 2000, 46. 13  Vgl. Dewey 2003b, 314 f. „Bis jetzt haben wir die Wissenschaft, soweit es ihre Wirkungen auf den Menschen betrifft, geistesabwesend angewendet. Die gegenwärtige Situation mit ihrer außerordentlichen Beherrschung natürlicher Energien und ihrer total ungeplanten und zufälligen sozialen Ökonomie ist ein unheilvoller Beweis für die Torheit, diesen Kurs weiterzuverfolgen.“

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die ihre Aufgabe in der „Enthüllung der Probleme, Proteste und Hoffnungen der Menschheit“ sieht (Dewey 2003 a, 8). Kloppenberg (1986, 393 f.) sieht die zentrale Differenz zwischen Weber und Dewey in Webers Skeptizismus und Deweys Zukunftsvertrauen. Gemeinsamkeiten gibt es bei der politischen Zeitdiagnose. Beide beobachten eine zunehmende Bürokratisierung der Politik, die zum „Politikbetrieb“ degeneriere, ziehen daraus jedoch unterschiedliche Konsequenzen. Dewey tritt für mehr Demokratie und mehr Partizipation ein, er plädiert für eine sozialstaatliche Ausrichtung der Politik. Weber hingegen geht es um die Implementierung von Gegengewichten gegen die als Bedrohung empfundene Bürokratisierung. In seinem Eintreten für ein „charismatisches Führertum“ kommt dies zum Ausdruck. Weber betrachtet im Gegensatz zu Dewey Demokratisierung und Parlamentarisierung weniger als Wert an sich als vielmehr als geeignete Mittel der politischen „Führerauslese“. Weber lässt auch große Vorbehalte an der Sozialdemokratie erkennen, die sich um die Jahrhundertwende zur Massenpartei zu entwickeln beginnt, und nennt ihre Führer polemisch „Wirtsgesichter“. Das politische Anliegen hält er zwar nicht für ungerechtfertigt, zweifelt jedoch an der Kompetenz der Parteiführer. Eine interessante Figur ist der weitgehend vergessene Ferdinand Canning Scott Schiller, 1864 in Hamburg geboren, Vertreter des Pragmatismus in England. Schiller interpretiert den Pragmatismus als „Humanismus“. 1911 erscheint in deutscher Übersetzung die Kompilation „Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie“. Der Band enthält Kapitel aus „Humanism“ (1903) und „Studies in Humanism“ (1907). In der Einleitung14 distanziert sich Schiller vom Begriff des „Pragmatismus“, der unverständlich sei und zu wenig „den ganzen Menschen“ berücksichtige (1911, 4). Im Humanismus sieht Schiller die Fortbildung Kantischer Philosophie, vor allem der „Kritik der praktischen Vernunft“. Wie bei Peirce und Dewey ist es eher unwahrscheinlich, dass Weber Arbeiten von F. C. S. Schiller kannte. Allerdings klingen Schillers Betonung des „ganzen Menschen“ und Webers „Vollmenschentum“ ähnlich. Wenn beide hervorheben, die individuelle Freiheit gelte es vor Fremdbestimmung und blinder Herrschaft zu schützen, kann auch dies als Gemeinsamkeit gelten, die allerdings im liberalen politischen Denken so ungewöhnlich nicht ist. Bei Schiller wie bei Weber findet sich der Gedanke einer „fortwährenden Umbildung und Fortbildung“ dessen, was wir „Wirklichkeit“ nennen (1911, 9). Bemerkenswert ist Schillers Satz, es komme oft vor, 14  Auch enthalten in dem von Martens herausgegebenen Sammelband zum Pragmatismus (2002, 188–204).



3. Peirce, Dewey, Schiller und James’ „Anti-Philosophie“197

„dass das, was dem einen wahr und wertvoll erscheint (und es vielleicht auch ist), von dem anderen als ‚falsch‘ und ‚wertlos‘ verworfen wird“ (1911, 9 f.) Auch James formuliert so (siehe unten), und so klingt es bei Weber, wenn er den „Polytheismus der Werte“ begründet oder wenn er, wie im ersten Protestantismus-Aufsatz, meint, was von dem einen Standpunkt aus „rational“ sei, könne vom anderen aus „irrational“ sein.15 Wir stoßen hier auf eine im Pragmatismus verbreitete Denkfigur, die nicht zuletzt die pragmatistische Kritik am Wahrheitsbegriff motiviert. Diese Grundhaltung führt dazu, den Anspruch der eigenen Philosophie zu begrenzen und von einer fortlaufenden Korrekturnotwendigkeit sowie Weiterentwicklungsbedürftigkeit auszugehen. Pragmatismus ist eine sich ihrer Grenzen bewusste Philosophie. Genau in diesem Sinne äußert sich auch Weber etwa in den abschließenden Passagen seines Objektivitätsaufsatzes über die Erkenntnisreichweite der Kulturwissenschaften (WL, 213 f.) Die zweite Quelle, auf die James wie Weber hinweisen, ist John Stuart Mill, der in seinen „Drei Essays über Religion“ (1874) das philosophische Fundament dafür legt, was man polytheistisches oder, mit der Formulierung aus der Einleitung in meine Studie, „polyphones“ Denken nennen könnte. Charakteristisch dafür ist die Anerkennung von Pluralität und Differenz. Positionen, die sich von der eigenen unterscheiden, werden als gleichwertig und gleichberechtigt angesehen. Sie werden als notwendig betrachtet, Schwächen des eigenen Ansatzes auszugleichen und diesen auf eine breitere Grundlage zu stellen. F. C. S. Schiller macht auf die „zivilisierende“ Wirkung der pragmatistischen Denkungsart aufmerksam. Jeder habe zwei Wahlmöglichkeiten, so Schiller: Entweder „der Schwächere wird totgeschlagen bzw. kommt ins Irrenhaus“ oder man tritt ein in einen friedlichen Diskurs, tauscht die Argumente, schließt Kompromisse, geht tolerant miteinander um. Schillers Kriterium ist der Wille zur Friedfertigkeit bei Wahrheitskonflikten. Dies bedeutet den Verzicht auf den „brutalen Wahrheitsbegriff“, denn dieser führt zu Konfrontation und Feindschaft (1911, 10). Weber argumentiert ganz ähnlich. Selbst dort, wo er von „Kampf“ spricht, denkt er an Kontrahenten, die sich friedlich einigen wollen. Es wird in der Literatur meistens überlesen, dass Weber in den „Soziologischen Grundbegriffen“ von „Partnern“ spricht (WG, 20). Nicht Gegner, sondern Partner treffen aufeinander und ringen − wörtlich: „formal friedlich“ „um eigene Verfügungsgewalt über Chancen“ (WG, 15  Der bereits in der „Einleitung“ zitierte Satz aus RS I, 62 lautet: „Man kann eben – dieser einfache Satz, der oft vergessen wird, sollte an der Spitze jeder Studie stehen, die sich mit ‚Rationalismus‘ befasst – das Leben unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und nach sehr verschiedenen Richtungen hin ‚rationalisieren‘.“

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20). Wer Webers Eintreten für partnerschaftliche Konkurrenz überliest und seine Kampfesrhetorik wörtlich nimmt, ist rasch bei einer bellizistischen Interpretation Webers, wie sie etwa Carl Schmitt in seiner Abhandlung über „Die Tyrannei der Werte“ vorträgt (dazu Kap. 4). Wir haben es jedoch, so paradox dies klingen mag, mit einer Form antagonistischer Kooperation zu tun.16 Begegnet sind sich Schiller und Weber möglicherweise auf dem Heidelberger Philosophiekongress, wo Schiller, sein Humanismus-Buch zusammenfassend, zum „rationalistischen Wahrheitsbegriff“ vorträgt. Die Vorstellung einer ewigen Wahrheit bezeichnet er als „Wahn“ (Elsenhans 1909, 711, 718). Die Existenz einer „von uns unabhängigen Welt“ bestreitet er (1909, 715). In der anschließenden, ausführlichen Diskussion macht Schiller im Festhalten an der Vorstellung von der „einen“ Wahrheit den Urgrund für Streit und Konflikt aus. Wenn wir uns von der Illusion einer endgültigen Wahrheit befreiten, seien wir geneigter, so Schiller, „uns mit den Anderen zu vertragen“ (Kongress, 740). Es bestehen wichtige, bislang übersehene Gemeinsamkeiten Webers mit dem heute weitgehend vergessenen Schillerschen „Humanismus“. Sie könnten gerade auch das bellizistische Weber-Bild, das vor allem in der älteren Weber-Literatur anzutreffen ist (Schmitt, Habermas, Aron, Sternberger, tendenziell auch Mommsen), nachhaltig korrigieren. Schillers Name fällt allerdings nicht bei Weber. Stattdessen bezieht sich Weber meist auf William James. Während der Amerikareise begegnet er ihm persönlich in Harvard; dies belegt eine Fußnote im „Sektenaufsatz“ (RS I, 213, Fn. 1).17 16  Wenn Weber, nach der berühmten Definition, dem Staat das „Monopol auf legitime physische Gewaltsamkeit“ (Politik als Beruf, PS, 506) zuschreibt, dann gerade deshalb, damit der Staat die Bedingungen der Möglichkeit dieses partnerschaftlichen Streits garantiert. Der Staat soll darüber wachen, dass die Regeln eingehalten werden und die Konkurrenz erhalten bleibt. Die Konkurrenzbeziehung betrachtet Weber als essentiell, denn nur so ist nach seiner Überzeugung eine dynamische Weiterentwicklung von Gesellschaften möglich. Vgl. dazu den § 8 in den „Soziologischen Grundbegriffen“, gerade auch das Kleingedruckte. Als Institutionen, die einen fairen und friedlichen Konkurrenzkampf garantieren, können neben der Polizei der Rechtsstaat und die Gerichte gelten, denen Weber allerdings keine größere Aufmerksamkeit schenkt. 17  Weber schaut sich auch gezielt die amerikanischen Universitäten an. Noch Jahre später, auf dem 4. Deutschen Hochschullehrertag 1911 in Dresden, berichtet er von den Ergebnissen seiner Recherche. Das Leistungs- und Konkurrenzprinzip an amerikanischen Universitäten hält er für den entscheidenden Vorteil gegenüber den deutschen, erwartet dort allerdings eine „allmähliche und langsame Europäisierung der Universitätsverhältnisse“. Bemerkenswert ist seine Herabsetzung des deutschen Bildungssystems. Auch im Allgemeinen lässt Weber große Sympathien für Amerika erkennen. Die Amerikaner zählt er zu den „Arbeitsvölkern der Welt“. Das deutsche Verbindungswesen kritisiert er als „Versicherungsanstalten für Konnexionen und



3. Peirce, Dewey, Schiller und James’ „Anti-Philosophie“199

Weber und James tauschen sich über die Einrichtung einer „brüderlichen Nothilfe“ für amerikanische mittelständische Unternehmer aus, die unverschuldet in eine ökonomische Krise geraten sind. Ein Abzeichen im Knopfloch des Sakkos dokumentiert die Nothilfeberechtigung.18 An anderer Stelle, in der noch vor dem Amerika-Aufenthalt geschriebenen ersten Studie zur „Protestantischen Ethik“, bezieht sich Weber auf James’ berühmtes Buch „The Varieties of Religious Experience“ (1902). Den aus James’ Gifford-Vorlesungen in Edinburgh hervorgegangenen Band studiert Weber sowohl im englischen Original als auch in der zwei Jahre später erscheinenden Übersetzung. Webers Neffe, Eduard Baumgarten, weist darauf hin, dass das deutsche Exemplar mit zahlreichen Marginalien versehen ist (1964, 313).19 In seiner Referenz bemängelt Weber zwar James’ angebliche Unterschätzung des ideellen Gehalts religiösen Glaubens, lobt ihn aber geradezu überschwänglich für die Erkenntnis der „Inkommunikabilität eines religiösen Erlebnisses“ (RS I, 111 f. Fn. 4). Erstaunlich ist, dass Weber, der sich über Fachkollegen selten generös äußert, James einen „hervorragenden Gelehrten“ nennt. Wie ein Brief an Jaspers aus dem Jahre 1912 belegt, hält diese Wertschätzung noch Jahre nach der ersten Lektüre der „Varieties“ an.20 Die Bedeutung der „Varieties“ liegt u. a. darin, dass sie nicht, gleichsam von oben herab, definieren, was Religion sei, sondern eine Vielfalt religiöser Überzeugungen gelten lassen. James thematisiert das Bedürfnis des Menschen nach Religion und betrachtet die Vielfalt der Antworten als Ausdruck begrüßenswerter Lebendigkeit. In der zweiten Vorlesung versteht James unter Religion „Gefühle, Handlungen und Erfahrungen“. Entscheidend ist für ihn allein, dass der Einzelne selber glaubt, in einer spezifischen Avancement“ (siehe Weber CD-ROM 2000 – Diskussionsbeitrag über nordamerikanische Hochschulen; Webers Beiträge, in der MWG bislang nicht ediert, sind 1912 erschienen (Vgl. „Chronologisches Verzeichnis der Originalpublikationen“ in: Käsler 2002, 784). 18  Webers Recherche fließt unmittelbar in die Abhandlung ein. Vgl. RS I, 213. 19  Übrigens legt Baumgarten selbst 1938 ein Werk über den Pragmatismus vor, dessen erster Band James und Dewey und dessen zweiter die „Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens“ behandelt. 20  Weber empfiehlt Jaspers die „Varieties“, weil er sie für geeignet hält, dessen Ausführungen in einem Aufsatz über „Trugwahrnehmungen“ zu stützen (Brief v. 2. November 1912, MWG II, 7, 2 Hb., 729). Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich weitere Referenzen in Webers Briefen aus der Zeit 1903–05 finden. Die Arbeiten an der Edition dieser Briefe haben nach Mitteilung der Leitenden Redakteurin der Max Weber-Gesamtausgabe, Edith Hanke, begonnen. Mit dem Erscheinen des Bandes ist jedoch nicht vor 2013 zu rechnen. Nach Wilhelm Hennis (2003, 125) sind im Nachlass Webers 215 (!) USA-Briefe von Max und Marianne Weber enthalten, deren Adressaten Familienmitglieder sind.

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Beziehung zum „Göttlichen“ zu stehen (1997, 62). Diese Orientierung am Handeln des Subjekts stimmt überein mit Webers konzeptionellen Ansatz: Es soll nicht gefragt werden, ob etwas „objektiv“ wertvoll sei, sondern ob der Handelnde es, „subjektiv“, als wertvoll ansieht. Als Gegenstand religiöser Verehrung lässt James jedes „gottähnliche Objekt“ gelten (1997, 67). Indirekt erteilt er damit einem Begriff institutioneller oder institutionalisierter Religion eine Absage. Religion ist für James gerade auch die Freiheit von religiöser Dogmatik. Die Individuen „machen“ ihre Religion selbst, und sie sollen ihre Religion „machen“ dürfen. Religion ist gerade auch, was der Einzelne darunter versteht; es ist ihm freigestellt, ob und was er glaubt. Niemand hat das Recht, zu bestimmen, was als Glaube akzeptiert werden kann. James entwirft damit eine moderne, offensichtlich gerade heute wieder aktuelle Vorstellung von Religion.21 In der Literatur wird kaum zur Kenntnis genommen, dass James’ Reli­ gionsbuch eine auf verschiedene Stellen verstreute, wenngleich nicht immer plausible Kurzfassung einiger Grundsätze der Philosophie des Pragmatismus enthält. Der erste Punkt ist der antimetaphysische Charakter. James lässt nur die unmittelbare Erfahrung gelten und erteilt allem Unbedingten („Apriori“) eine Absage. Nach seiner Überzeugung gibt es keine Welt jenseits der Welt, in der wir leben (Vorwort). Der zweite Punkt ist der Empirismus. Nach James gibt es kein Kriterium für „gutes“ oder „richtiges“ Handeln, außer dem Handeln selbst (erste Vorlesung). Er zitiert Jonathan Edwards: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln.“ (1997, 53). Allerdings zitiert bereits Peirce diesen biblischen Satz in einer Anmerkung zu seinem Aufsatz „Wie unsere Ideen zu klären sind“ (1878) (dazu auch weiter unten). Der dritte Punkt ist das Bekenntnis zu Pluralismus und Polytheismus (Epilog). James umschreibt seine Position als „piecemeal-supernaturalism“, worunter er eine Philosophie versteht, die keine Universalitätsansprüche erhebt, die bewusst „ideale“ und „reale“ Welt vermischt. Das ist der vierte Punkt: die Perspektive der Veränderung und dynamischen Fortentwicklung. James tritt deshalb für Pluralismus und Polytheismus ein, weil er eine Verfestigung der Verhältnisse fürchtet, wie sie jede dogmatische Philosophie begünstige. Er bekennt sich zur Vorstellung „vieler endlicher Götter“ (1997, 501). In religiöser Sprache ausgedrückt, geht es ihm um die „Chance zur Erlösung“ (1997, 503). 21  Vgl. dazu das letzte Kapitel in der Studie von Taylor 2002, 97 ff. Nach Taylor hat James die heute zu beobachtende religiöse Praxis weitgehend dogmenfreien und „unkonventionellen“ Glaubens antizipiert. „Unkonventioneller“ Glaube ist etwa, wenn jemand Christentum mit dem Buddhismus kombiniert oder betet, ohne eigentlich zu glauben (wenn das überhaupt möglich ist; siehe Taylor 2002, 96).



4. Eine neue Fundstelle201

Die Formulierung „viele endliche Götter“ würde Weber unterschreiben. Auch die Wertschätzung von Pluralität und Differenz als Voraussetzung dynamischer Fortentwicklung findet sich bei ihm, und die Kritik von metaphysischen Glaubenssätzen entspricht ebenfalls seinem Denken. Es lässt sich zwar nicht direkt nachweisen, dass er diese Punkte von James übernimmt, aber es gibt doch eine mindestens zufällige Übereinstimmung, eine geheime Kongenialität.

4. Eine neue Fundstelle Neben den genannten drei Fundstellen gibt es eine vierte, weithin unbekannte Referenz an James, die sich in der schlecht greifbaren, bislang unedierten Rezension der Abhandlung „Die Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft“ findet. Autor des schmalen, knapp 80seitigen Bandes ist Webers Namensvetter, der Kölner Nationalökonom Adolf Weber.22 Der amerikanische Weber-Forscher Laurence A. Scaff hat auf diesen wichtigen Text aufmerksam gemacht.23 Adolf Weber tritt in seiner Abhandlung für die wissenschaftliche, aber auch politische Profilierung der Volkswirtschaftslehre ein. Er zitiert Max Weber. Zustimmend heißt es: Der Wissenschaftler dürfe „seinen Arbeitskittel mit der so ‚viel schöneren‘ Toga des Politikers nicht vertauschen“ (1909, 77). Aber trotzdem er Webers Grundsatz der Wertfreiheit teilt, postuliert Adolf Weber die „Popularisierung“, sprich: Poli­ tisierung der Volkswirtschaftslehre. In einer nur kurzen, einzeilig formatierten Petitdruck-Passage, im Grunde ist es eine Randbemerkung, eine „Fußnote“, setzt sich Adolf Weber mit James und dem Pragmatismus auseinander, und zwar in einer spezifischen, ressentimentgeladenen Art und Weise. Es artikuliert sich ein diffuses Unbehagen an dem, was „modernes Leben“ genannt und in Verbindung mit Amerika gebracht wird. Das ist nicht ungewöhnlich, denn für viele zeitgenössische Professoren, Intellektuelle und Unternehmer sind die Vereinigten 22  Die Rezension ist erschienen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (AfSS) 1909, 29. Band, 615–620, greifbar auf der Weber CD-ROM 2000 unter „Rezensionen“. In der MWG im entsprechenden Band mit Rezensionen ist der Text nicht enthalten, auch nicht auf der anderen Weber CD-ROM 2001 in der Digitalen Bibliothek. Im „Chronologischen Verzeichnis der Originalpublikationen Max Webers“ ist die Rezension verzeichnet (Käsler 2002, 781). An der Autorschaft Webers besteht kein Zweifel. 23  Vgl. auch die bereits in der Einleitung zu meiner Arbeit erwähnte Untersuchung von Scaff, „Max Weber in America“, 2011 bei Princeton University Press erschienen, die zum einen Webers ausgeprägte Amerika-Affinität aufzeigt und zum anderen die Spuren verfolgt, die Weber selbst in Amerika hinterlassen hat, im Werk von Talcott Parsons etwa.

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Staaten Sinnbild für „Modernität“, sprich: für Produktivität und Geschwindigkeit, für die Massengesellschaft, auch für Werteverlust und dafür, was Heidegger 1927 in „Sein und Zeit“ „Seinsvergessenheit“ nennen wird. Materialismus und „Dollarjagd“ – auf diese Formel lassen sich die deutschen Reflexionen zur amerikanischen Mentalität bringen.24 Adolf Webers Amerika-Ressentiment kommt nicht nur zwischen den Zeilen zum Ausdruck. („… eine neuere philosophische Richtung, die charakteristischerweise ihren Hauptsitz in den Vereinigten Staaten hat.“ 1909, 52 – Hervorhebung von mir). Er greift die „ganz Modernen“ auch frontal an. Ein Gedanke wie der „Barwert der Wahrheit“ könne nur in einem materialistischen und nützlichkeitsfixierten Land wie Amerika aufkommen, in dem nichts mehr heilig sei außer der „hastigen Jagd nach Erfolg“. Gegen die Auffassung, Wahrheit sei nur „ein Wort“, verteidigt er einen unbedingten Begriff von Wahrheit und äußert die Hoffnung, dass von der „deutschen Denkkraft“ so viel übrig geblieben sei, dass sie nicht in Versuchung gerate, in der Wahrheit nur ein „Instrument zum Handeln“ er­ blicken. (1909, 53). Weber hält diese Ausführungen für unangemessen und falsch. Er nennt sie eine „schiefe Charakteristik“ und sieht sich zu einer Richtigstellung veranlasst. Die Weber-Forschung hat sich mit dieser Textstelle bislang nicht auseinandergesetzt.25 Die „schiefe Charakteristik“ besteht nach Weber in der Reduktion des Pragmatismus auf eine ökonomische Nutzentheorie. James liefert dafür in der zweiten Pragmatismus-Vorlesung mit dem Begriff des „cash value“ („praktischer Kassenwert“) allerdings selbst einen Anknüpfungspunkt (1994, 33). In der sechsten Vorlesung spricht er auch vom „Barwert der Wahrheit“ (1994, 125). Dies ist die Formulierung, die Adolf Weber aufgreift. Aber im Fortlauf des Textes zeigt sich, dass James „Barwert“ lediglich metaphorisch meint. Nicht die „Dollars“ interessieren ihn, sondern jener „Barwert“, der sich in „Erfahrungsmünze“ umrechnen lässt. 24  Vgl. die Studie von Schmidt 1997, der die These formuliert, dass diese Kritik der amerikanischen Lebensweise um die Jahrhundertwende eher ein unbewusstes Selbstporträt wilhelminischer Mentalität ist (1997, 155). Als eine von vielen Stimmen zitiert Schmidt den Unternehmer Philip Harjes: „Und so geht es drüben durch alle Zweige des Lebens und Strebens: Racen überall, im Geistigen wie im Materiellen, im Geschäft wie in der Wissenschaft …“ (1997, 156) Auch schon vor 1900 ist in der deutschen Öffentlichkeit ein negatives Gesellschaftsbild der Vereinigten Staaten verbreitet. Im Mittelpunkt steht die angebliche „Geschichts- und Kulturlosigkeit“ des Landes (vgl. Schmidt 1997, 81 ff.). 25  Gosh 2005, 244, Fn. 3 nennt zwar die Fundstelle, widmet ihr jedoch keine Auseinandersetzung. Vor allem kann keine Rede sein von einem substantiierten Vergleich der Schlüsselthesen von Weber und James. Das Ergebnis der Studie, dass so gut wie keine Berührungen Webers mit dem Pragmatismus bestünden, ist deshalb wenig überraschend.



4. Eine neue Fundstelle203

James versteht den Pragmatismus als eine Erfahrungs- und Informationswissenschaft, die fundierte Entscheidungen erst möglich macht. Die beiden Stellen sind die einzigen, die als „ökonomistisch“ interpretiert bzw. missdeutet werden können. Der Kontext zeigt jedoch, dass den Religionsphilosophen James die Ökonomie gar nicht interessiert. Es geht ihm um eine Kritik des metaphysischen Denkens, von dem er sich distanziert, weil es einem Streben nach dem Unerreichbaren gleichkomme. Was für James zählt, ist das Hier und Jetzt. Weber sieht genau in dieser strengen Orientierung am gegenwärtigen Handeln die Pointe des Pragmatismus. Er wählt die interessante Umschreibung des Pragmatismus als ein nicht nur nicht-, sondern „antiphilosophischen Philosophie“. Hier scheint ein Differenzpunkt zu Webers eigener Haltung zu liegen, denn im Gegensatz zu James, der das Wider betont, hebt Weber darauf ab, dass es sich bei der Metaphysik um eine andere Art des Wissens handelt, die deshalb aber nicht verbal bekämpft werden muss. Weber stellt die unterschiedlichen „Zuständigkeitsbereiche“ des Wissens in den Mittelpunkt. Die empirischen Wissenschaften sind für das Faktenwissen zuständig, deshalb sind sie nach Weber außerstande, prinzipielle oder normative Fragen zu beantworten. Darin wiederum sieht er die Aufgabe der philosophischen Wissenschaften; Weber nennt die Ethik und die Ästhetik, auch der Jurisprudenz, insoweit sie mit Verfassungs- und Gesetzesnormen zu tun hat. Weber vertritt die Auffassung, dass es sich um unterschiedliche, aber gleichberechtigte Arten des Wissens handelt. Er erweckt den Eindruck, dass es ihm um eine vermittelnde Neutralität geht. Er verteidigt nicht gerade die Metaphysik gegen James und den Pragmatismus, aber er sieht doch ihre bereichernde Notwendigkeit.26 Allerdings meldet Weber auch Vorbehalte an, meist zwischen den Zeilen. Sein Konzept einer „verstehenden Soziologie“ ist ja nichtphilosophischer, antinormativer Natur; auch wenn Weber die Gründe nicht offen anspricht, spürt man doch, dass er ein Problem mit dem spekulativen Moment, ja auch, bei aller Anerkennung, mit der „Metaphysik“ hat, weil sie eben keine „Erfahrungswissenschaft“ ist, sondern gerade davon abstrahiert. Darin lässt sich eine tendenziell „antiphilosophische“ Haltung erblicken; der Empiriker in Weber meldet sich zu Wort. Der Pragmatismus ist nach der Charakterisierung Webers zwar „antiphilosophisch“, aber er ist doch Philosophie. Er ist empirisch fundierte Philo26  Vgl. etwa den Objektivitätsaufsatz oder § 1 der „Soziologischen ‚Grundbegriffe“, wo Weber auf den Punkt der Differenz abhebt und die Leistungen der Metaphysik anerkennt. Die empirischen Wissenschaften erforschen das faktische Handeln, die Philosophie dessen normative Richtigkeit und Gültigkeit (WG, 1 f.).

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sophie. Es geht ihm um ein Handeln, das sich in der Praxis bewährt, das sich als geeignet herausstellt, ein gesetztes Ziel zu erreichen. Deshalb lautet ein frühes, aber nur selten gebräuchliches Synonym für Pragmatismus „Praktikalismus“. Eine normative Fundierung des Handelns steht beim Pragmatismus nicht im Mittelpunkt, aber das heißt nicht, dass er nicht normativ wirken könnte. Der Pragmatismus bestreitet zwar die zeitlose Gültigkeit, aber nicht die Notwendigkeit von Werten. Rorty umschreibt das Selbstverständnis des Pragmatismus als Philosophie der Vermittlung von „alten und neuen Wahrheiten“ (2000 b, 18). Der Pragmatismus verabschiedet nicht die Wahrheit, aber die Wahrheit. Er ist, darin sind sich alle Vertreter von Peirce über Dewey und James bis Rorty einig, die Lehre von den vielen verschiedenen und veränderbaren Wahrheiten, vielleicht könnte man auch sagen: von der Entsubstanzialisierung des Wahrheitsbegriffs. Dennoch scheint es einen Kanon an Werten und Wahrheiten zu geben, an denen der Pragmatismus unbedingt festzuhalten willens ist, auch wenn er nach außen hin und nicht immer frei von Koketterie das Gegenteil behauptet.27 Weber verortet in seiner Rezension die Entstehung des Pragmatismus nach Amerika und England. Dort könne er sich deshalb besonders gut entfalten, weil die Angelsachsen neben einem ausgeprägten Freiheitsbedürfnis eine „physikalische Denkweise“ besäßen. Die zum Thema vorliegende Literatur scheint Weber gut zu kennen. Interessant ist, dass er schon in der Rezension seine spätere, in den beiden systematischen Texten „Vorbemerkung“ und „Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ ausgearbeitete universalgeschichtliche, Kulturen vergleichende Fragestellung andeutet. Weber geht von einem „europäischen“ und einem „amerikanischen“ Denkstil aus, den in vergleichender Perspektive zu untersuchen lohnenswert sei. Hypothetisch fragt er: Gibt es überhaupt eine „Internationalität der Kultur“, oder besitzen nationale und geographische Besonderheiten eine so hohe Prägekraft, dass sich Gemeinschaften in ganz unterschiedlicher Weise entwickeln? Hier kündigt sich der soziologische Analyseansatz an, unter dem er die Weltreligionen betrachtet, ein Ansatz, der in vergleichender Perspektive die Differenzen herausarbeitet, ohne dabei eine eurozentristische Position einzunehmen. 27  Liest man etwa Rortys Texte genau, zeigt sich, dass es auch für ihn so etwas wie zeitlos gültige Werte gibt. In seinem Essay „Philosophie & die Zukunft“ führt er als anzustrebendes politisches Ziel die „weltumspannende demokratische Gesellschaft“ an, „für die die Folterung eines Menschen oder die Schließung einer Universität oder einer Zeitung am anderen Ende der Welt ebenso sehr Anlässe zur Empörung sind, wie wenn dies im eigenen Land geschieht“ (2000 b, 23). Das Verbot von Gewalt und ein unbegrenztes Bildungs- und Informationsangebot unterstehen nach Rorty nicht dem, was er das Postulat nach „Verzeitlichung“ und „unbedingter Veränderlichkeit“ nennt (vgl. 2000 b, 25).



4. Eine neue Fundstelle205

Im Zusammenhang mit meiner Fragestellung ist die Rezension gerade auch deshalb bedeutsam, weil sie zeigt, dass Weber über gründliche Kenntnisse der Pragmatismus-Vorlesungen von James verfügt, und das ist neu. Wenn in der Literatur die Namen James und Weber genannt werden, dann in einem Atemzug mit James’ Religionsschrift. Dieses Buch gilt als Webers zentrale Bezugsschrift, aber dies muss ergänzt werden. Die Pragmatismus-Vorlesungen erscheinen 1907 im englischen Original und wenige Monate später als deutsche Übersetzung. Die kongeniale Übertragung stammt von Wilhelm Jerusalem, dem Mitbegründer der „Soziologischen Gesellschaft“ in Wien. Weber begegnet ihm 1908 in Heidelberg beim Internationalen Philosophiekongress und dürfte ihm 1918 abermals begegnet sein, diesmal in Wien, als Weber an der dortigen Universität ein Kolloquium anbietet und eine Vorlesung hält. Jerusalem ist eine Schlüsselfigur für die Verbreitung des Pragmatismus in Deutschland, der zunächst in England, Frankreich und Italien Fuß fasst.28 In seinem Vorwort zur Übersetzung charakterisiert Jerusalem den Pragmatismus als Alternative zum apriorischen Denken und zur Transzendentalphilosophie. Er erwartet eine breite Front von Gegnern: Kantianer, Hegelianer und Neu-Scholastiker (Jerusalem in: James 1997, IV). Auf dem Heidelberger Kongress verteidigt er den Pragmatismus als die gründlichere Philosophie: Nach Jerusalem misstraut der Pragmatismus dem theoretischen Erkennen, während die Transzendentalphilosophie darauf aufbaut (Kongress, 728). Jerusalem spricht selbst über „Apriorismus und Evolutionismus“. Den Pragmatismus nennt er deshalb „Evolutionismus“, weil dieser sich, im Unterschied zum Apriorismus, in vielen kleinen Schritten den „Wahrheiten“ nähere. Während im Apriorismus „zu viel Metaphysik steckt, die ans Tageslicht drängt“ (Jerusalem 1909, 807), sei der Evolutionismus „kritischer als der Kritizismus“ (811) und beabsichtige, „die weltfremd gewordene Philosophie zum Leben zurückzuführen und für das Leben zu verwerten“. (Kongress, 814) Jerusalems Begriff des „Evolutionismus“ kann sich in der weiteren Diskussion nicht durchsetzen. Das könnte mit einer Assoziation zusammenhängen, die der Begriff weckt: dass hier geschichtsphilosophisches Denken die Richtung angebe. Wenn zur Geschichtsphilosophie die Prämisse der „Notwendigkeit“ gehört, dann ist dieses Denken dem Pragmatismus jedoch zutiefst fremd. Aus Sicht des Pragmatismus gibt es keine Vorherbestimmungen, 28  Zu Jerusalem vgl. Oehler 1994, XXVII f., der ihn zu den „großen Unzeitgemäßen“ der Philosophie zählt. Jerusalems Denken ist von Herbert Spencer und Ernst Mach beeinflusst. In England und Amerika stößt er mit seiner biologistischen Betrachtungsweise des Erkenntnisprozesses auf größere Resonanz als in Deutschland. James schickt ihm 1907 sein Pragmatismus-Buch, die Übertragung stellt Jerusalem noch im selben Jahr fertig.

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die mit „Notwendigkeit“ eintreten. Dagegen richtet er sich gerade. Pragmatistisches Denken ist offenes, nicht festgelegtes, eben kein apriorisches Denken. Gleichwohl ist der Begriff des Evolutionismus insofern weiterführend, als er eine Vorstellung von dynamischer Entwicklung und vom Prozesscharakter sozialen Geschehens vermittelt. Diese Grundannahme ist für den Pragmatismus charakteristisch.

5. James und Weber: vergleichende Textstellenanalyse Wie genau Weber James’ Pragmatismus-Vorlesungen gekannt haben muss, zeigt bereits eine nur flüchtige Vergleichsanalyse von Gedanken und Textstellen. James’ Klage in der ersten Vorlesung, der „Fortschritt“ scheine seit 150 Jahren nicht anderes zu bedeuten als die „stete Vergrößerung der materiellen Welt“ bei gleichzeitig „steter Verminderung der Bedeutung des Menschen“ (James 1994, 9) bringt Weber mit seinen Metaphern vom „Gehäuse der Hörigkeit“ und von der „Parzellierung des ‚Menschentums‘“ auf den Punkt. Grundthema der ersten und zweiten Vorlesung ist die Kritik der „Philosophie des Absoluten“, die eine Welt entwerfe, die „einfach“, „rein“ und „vornehm“ sei, die „Widersprüche des wirklichen Lebens“ jedoch ausblende (James 1994, 11, 13). James hat hier vor allem Hegel und den nachkantianischen Idealismus im Visier. Hegel wirft er überzogene Ansprüche und die „Hybris“ vor, das eigene System als das höchste anzusehen. Diese Kritik erinnert teilweise an die Hegel-Kritik von Weber, ist allerdings verbreitet und deshalb so ungewöhnlich nicht. Wie Weber setzt James die „dogmatischen“ Wissenschaften wie Philosophie oder Jurisprudenz in Gegensatz zu den empirischen Wissenschaften, allerdings mit einer mehr kritisch-herabsetzenden Nuancierung, während Webers Position neutral und anerkennend ist (siehe oben). Interessant ist, dass sich sowohl James als auch Weber auf einen der führenden praktischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, nämlich auf John Stuart Mill berufen. James widmet seine Vorlesungen sogar Mill und wünscht sich ihn als „geistigen Führer“ des Pragmatismus, sagt allerdings nicht, warum er Mill für so attraktiv hält. Es kommen mehrere Punkte in Frage: Ein Grundmotiv Mills, das sich wie ein roter Faden durch das Werk zieht, ist „die Ablehnung dessen, was er die intuitive, die apriorische oder polemisch: die deutsche Schule der Philosophie nennt“ (Rinderle 2000, 9). Mills Philosophie ist empiristisch; Mill bestreitet, dass wir über erfahrungsunabhängiges Wissen verfügen. Wichtig wird für James auch die Wertschätzung von Freiheit und Individualität gewesen sein. Mill ist mehr als nur der Philosoph des Utilitarismus, als der er rezipiert wird. Eine neuere Untersuchung hebt hervor, dass es ihm im Kern um die Vereinbarkeit von Freiheit- und Nutzenprinzip gehe (Kuenzle / Schefczk 2009). Daraus leitet sich die Forderung ab, die



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staatliche und gesellschaftliche Ordnung so einzurichten, dass möglichst vielen Menschen ein zufriedenes, von Existenzängsten befreites Leben ermöglicht wird. Es geht ihm um „möglichst viel Glück für möglichst viele Menschen“ (Rössner 1991, 33). Mill sieht den Menschen als ein Vernunftund Moralwesen, das seine Fehler zu korrigieren imstande ist. Er tritt deshalb auch für „Lebensformexperimente“ als Erfahrungsquelle ein. Mills Liberalität, sein Eintreten für Toleranz und Nonkonformismus sind pragmatistisch grundiert. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass James seine Vorlesungen Mill widmet. Bei Weber erscheint Mill an zwei Stellen als Referenzautor, und zwar im Kontext der Polytheismusthese, wonach die verschiedenen Wertordnungen „in unlöslichem Kampf untereinander“ stehen (WL, 507, 603). Ansonsten, relativiert Weber, wolle er die Philosophie Mills nicht loben; das bezieht sich vermutlich auf den Utilitarismus. Merkwürdigerweise wählt Weber hier Mill und nicht James als Referenz. Ein Rätsel ist auch, warum James Mill und nicht Peirce als Referenzautor wählt. Peirce geht zwar ab 1905 einen eigenen Weg, den er „Pragmatizismus“ nennt, aber weder bricht er mit seinen ursprünglichen Intentionen, noch sind die Differenzen zu seinem „Ur-Pragmatismus“ gravierend.29 Bei James findet sich auch die Webersche Kampfes-Metaphorik, deren Gebrauch freilich damals nicht unbedingt ungewöhnlich ist. „Kampf“ gilt als Ausdruck von Vitalität. Kämpfe und Konflikte gelten als notwendige biologische Bewährungsproben. Vor allem Nietzsche sieht in jedem Konflikt Kämpfe um Macht und gegen Widerstände (vgl. Art. Kampf in: HWPh 4, 685 ff.). In der Vorlesung über „Einheit und Vielheit“ heißt es: „Unsere verschiedenen Zwecke geraten … miteinander in Kampf.“ (James 1994, 89). James, eine Luhmann-These vorwegnehmend, schreibt auch: „Wir müssen der Tatsache offen ins Auge sehen, dass wir in Teilsystemen leben …“ (James 1979, 475) Auch dies deutet auf eine gedankliche Verwandtschaft mit Webers Theorie kollidierender Wertsphären hin, die er 1919 / 20, einige Jahre nach James, in der „Zwischenbetrachtung“ entwickelt (die Luhmanns Inspirationsquelle ist). James’ „Gesellenstück“ geht Webers „Meisterstück“ voraus. Im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff ist zwar keine Formulierungsparallelität, aber inhaltliche Kongruenz festzustellen. Weber teilt James’ Wahrheitskonzeption, wonach Wahrheit nur die Vorstellung ist, dass etwas „wahr“ sein könnte, sich aber zunächst bewähren muss, um als „wahr“ gelten zu können. Im Objektivitätsaufsatz erwähnt er die „Erfah29  Peirces „Pragmatizismus“ ist durch größere methodische Strenge gekennzeichnet und steuert eine Theorie der Zeichen und Interpretation an. Siehe die entsprechenden Texte in Peirce 1991.

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rungswahrheit“ (WL, 155). Wobei sich grundsätzlich fragen lässt, ob es dann überhaupt noch eines Wahrheitsbegriffs bedarf. Wahrheit, heißt es in James’ sechster Vorlesung, sei nur ein allgemeiner Name für „Verifikationsprozesse“ (1994, 137). Was James meint, macht er deutlich in dem Satz: „Die Wahrheit lebt tatsächlich größtenteils vom Kredit.“ (1994, 130). Metaphysisches Denken hält James nicht für „kreditwürdig“; es hat sein Kapital verspielt. Die Welt, so James, hat keine metaphysische Ordnung, sondern besteht aus einem „System von Netzen und Verkettungen“. Alle Dinge, sagt James, hängen „untereinander irgendwie zusammen“ (James 1994, 86). Das „irgendwie“ ist nicht als Verlegenheitsvokabel, sondern durchaus programmatisch aufzufassen: Man weiß es nicht recht. Der Pragmatismus räumt unumwunden ein, nur über begrenztes Wissen zu verfügen, und selbst das ist ungesichert. Die Sprachbilder von „Netzen“ und „Verkettungen“, auch die Feststellung, dass „Vorgänge“ „irgendwie“ geschehen, sind auch bei Weber häufig anzutreffen. In seiner ersten Protestantismusstudie spricht er von der „Verkettung von Umständen“ (RS I, 1) oder von einem „ungeheuren Gewirr gegenseitiger Beeinflussungen“ (RS I, 83). Im „Objektivitätsaufsatz“ konstatiert er eine „unendliche Mannigfaltigkeit“ von Vorgängen (WL, 171), eine „sinnlose Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (WL, 180) und folgert aus dieser Unumgrenztheit des Geschehens die Begrenztheit und auch „Vergänglichkeit“ wissenschaftlicher Forschung (WL, 207). Im Früher-oderspäter-sich-selbst-Erübrigen sieht er sogar den Sinn der Wissenschaft. „Wissenschaftlich überholt zu werden … ist unser aller Zweck.“ (WL, 592). Die vermeintliche Schwäche, keine „Wahrheiten“ feststellen zu können, ist für Weber wie für James eine Stärke.30 Die mangelnde sprachliche Präzision („irgendwie“) und das Offenlassen von Kausalitätsverhältnissen („Netze“, „Verkettungen“) wird nicht als Problem, sondern quasi als „phänomenologisch korrekt“ angesehen. Es wird keine Energie darauf verwandt, herauszufinden, was die Wahrheit sei, sondern man konzentriert sich auf das Handeln in der Gegenwart. Für James liegt darin der Kern des Pragmatismus. Weber nennt die entsprechende Konzeption „Erfahrungswissenschaft“ oder auch „Wirklichkeitswissenschaft“ (WL, 149). Dabei begnügt sich weder der eine noch der andere mit nur empirischer Forschung. Pragmatismus und Wirklichkeitswissenschaft verstehen sich nicht als positive bzw. positivistische Wissenschaf30  James folgender, etwas umständlicher Bemerkung in den „Varities“, die die „Plausibilität“ der „Wahrheit“ vorzieht, würde Weber sofort unterschreiben: „Das Äußerste, was ich tun kann, ist, … ein Angebot zu machen, das so gut zu den Tatsachen passt, dass die wissenschaftliche Logik keinen plausiblen Vorwand finden wird, dem Befürwortungsimpuls zu widersprechen (1997, 489).



5. James und Weber: vergleichende Textstellenanalyse209

ten. Dem Pragmatismus hat das Ziel, möglichst „vollkommene Klarheit in unsere Gedanken“ zu bringen, um so sinnvolles Handeln zu ermöglichen (James 1994, 29). James schließt damit an Peirce’ Aufsatz „Wie unsere Ideen zu klären sind“ (1878) an. Dieser Text gilt als Gründungsdokument des Pragmatismus (Oehler 1993, 23). Peirce bestimmt hier die „alleinige“ Aufgabe des Denkens so, „Verhaltensweisen des Handelns“ herzustellen, die auf Überzeugungen beruhen (Peirce 1991 b, 192). Peirce stellt sich das so vor, dass mit Hilfe des Denkens nach und nach Zweifel beseitigt und Handlungsregeln entwickelt werden können, die dem Gegenstand angemessen sind. Wir müssen, heißt es in einer Schlüsselstelle, erst „Herr unserer eigenen Sinnintentionen sein“, d. h. wir müssen zunächst erst mal wissen, was wir wollen, bevor wir „große und schwerwiegende Gedanken“ denken können (Peirce 1991 b, 186). Man wird Peirce nicht überinterpretieren, wenn man dies so auslegt: Wir sollten uns nicht nur darüber im Klaren werden, was wir wollen, sondern wir dürfen auch erst handeln, wenn wir uns über die Handlungsfolgen im Klaren sind. Wir müssen das Für und Wider abwägen, Alternativen diskutieren, nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Wir müssen bedenken, dass ein Handeln in der Gegenwart Folgen für die Zukunft haben kann. Der gegenwärtige Vorteil kann sich zu einem künftigen Nachteil umkehren. Ein Handeln kann unbeabsichtigte und unumkehrbare Folgen haben, die künftigen Generationen belasten. Auf diese Weise kommt ein moral-ethischer oder sollensethischer Impuls in den Pragmatismus. In einem Lexikonartikel von 1902 wiederholt Peirce das Motiv der „Klarheit des Denkens“ und fügt an, worum es ihm dabei geht: Er nennt dies die „Entwicklung konkreter Vernünftigkeit“ (1991 c, 316). Dies ist eine Schlüsselformulierung für die gesamte Peircesche Pragmatismuslehre. Zunächst einmal: Peirce sagt nicht „Vernunft“, sondern „konkrete Vernünftigkeit“ („concrete reasonableness“). „Vernünftigkeit“ ist sprachlich gesehen eine Relativierung des Vernunftbegriffs. Man kann „Vernünftigkeit“ verstehen im Sinne von „Angemessenheit“ oder als das „vorerst Beste“, d. h. dieses kann sich unter veränderten Umständen auch als „unangemessen“ erweisen. Peirce glaubt, durch Gegenstandserkenntnis, Reflexion und „Selbstbefragung“ das Handeln „vernünftiger“ machen zu können. Es geht ihm um reflektiertes, nicht beliebiges, um „nachdenkliches“ Handeln.31 31  So auch das Ergebnis einer neueren Studie zu Peirce. Vgl. Erny 2005, 2 ff. und 285 ff. Die Autorin deutet die Philosophie von Peirce als Konzeption einer pragmatistischen Ethik, der es darum geht, „sukzessiv“ eine „vernünftige Ordnung“ hervorzubringen, ohne „ethische Absoluta“ aufzustellen. Für Peirce sei Erkenntnis Voraussetzung für Verbesserungen.

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Kap. 7: Weber The Would-Be Pragmatist

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Anmerkung zum Aufsatz „Wie unsere Ideen zu klären sind“, wo Peirce meint, die Zivilisation sei zwar niemals vollendet, sie befinde sich „aufgrund der menschlichen Fähigkeit zu lernen“ aber in einem Prozess allmählichen Fortschritts. Natur und Geschichte sieht er vom „Geiste Gottes“ erfüllt, deshalb werde auch der Mensch „mehr und mehr“ vom „Geiste Gottes“ erfasst. Das „große Prinzip der Logik“ sei die „Selbstüberwindung“ (1991 a, 211). Das Stichwort „Selbstüberwindung“ macht die ethischen Implikationen des Peirceschen Pragmatismus deutlich. Weber würde in diesem Zusammenhang wohl von „Verantwortungsethik“ sprechen, die nicht zuletzt darauf abzielt, sich selbst und seine eigenen Interessen zugunsten eines Anderen hintanzustellen, das einem allgemeinen Interesse dient. Was Peirce ethisch postuliert, nämlich ein reflektiertes, an den Gegenständen orientiertes, sachlich angemessenes Handeln, eben „konkrete Vernünftigkeit“, das kommt dem Weberschen Typus des „wertrationalen Handelns“ ziemlich nahe. „Wertrationales Handeln“ ist nach den „Soziologischen Grundbegriffen“ ein solches, bei dem der Handelnde nach „Geboten“ oder „Forderungen“ handelt, die er an sich gestellt glaubt (WG, 13). Allerdings finden sich im Peirceschen „konkret vernünftigen“ Handeln auch Elemente des Weberschen Typus’ „zweckrationalen Handelns“, der die Reflexion von „Zweck, Folgen und Nebenfolgen“ vorsieht (WG, 13). Wir scheinen es beim Handeln entsprechend „konkreter Vernünftigkeit“ mit einer Mischform aus wert- und zweckrationalem Handeln im Sinne Webers zu tun haben (dazu auch Kap. 3). Das ist nicht der einzige Unterschied. Während es Weber darum geht, ein Handeln auf dem Wege der verstehenden Soziologie analytisch zu rekon­ struieren, zielt Peirce darauf ab, ein Handeln im Sinne bestimmter normativer Vorgaben zu begründen. Man kann sagen: Der eine legt es auf Handlungsbegründung an, der andere auf Handlungsanalyse. Wenn Weber vorgibt, „den Sinn eines Handelns verstehen“ zu wollen, dann verbirgt sich dahinter genau die Entschlüsselung der Motive, die nach Peirce ein Handeln begründen sollen, die erst ein Handeln stiften. Allerdings sollte man nicht verkennen, dass auch Webers handlungsanalytischer Ansatz indirekt normative Implikationen hat. Denn indem er über zweck- und wertrationale Beweggründe des Handelns aufklärt, sogar Klarheit darüber vermittelt, was eigentlich gewollt werden kann (dazu gleich unten), führt dies zu einem Höchstmaß an Reflexivität des Handelns, zum Wissen um die Folgen. Eine Garantie, dass dieses Wissen auch genutzt wird, gibt es freilich nicht. Dass Webers Ansatz indirekte normative Implikationen hat, zeigt der Objektivitätsaufsatz. Im ersten Teil unternimmt es Weber, die Aufgabe dessen zu bestimmen, was er „Kulturwissenschaften“ nennt. „Kulturwissen-



6. Das pragmatistische Fundament der Soziologie211

schaften“ sind diejenigen, die es mit der Analyse und der Deutung und Bedeutung „kultureller“ Phänomene, sprich: mit Phänomenen menschlichen Zusammenlebens zu tun haben (WL, 165). (Die Bedeutung eines kulturellen Phänomens liegt nach Weber zum Beispiel darin, dass es zu einem „Massenphänomen“ wird.) Die Aufgabe der Kulturwissenschaften sieht er in der „denkenden Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns“. Das bedeutet für Weber vor allem auch die Reflexion von Folgen und Nebenfolgen, von gewollten und nicht gewollten Folgen (WL, 149 f.). Es geht ihm um die „Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen“ (WL, 150), worin man ein ausdrücklich normatives Anliegen sehen kann. Dabei sieht es Weber nicht als die Aufgabe der Wissenschaft an, „Abwägungen“ vorzunehmen oder „Entscheidungen“ zu treffen; diese Aufgabe delegiert er an die „Sozialpolitik“. Damit ist nicht eine Politik sozialer Gratifikationen, sondern schlichtweg Regierungspolitik gemeint, die es mit „konkreten Gegenwartsproblemen“ und der Ordnung menschlichen Zusammenlebens zu tun hat (WL, 165). Die Aufgabe der Wissenschaft sieht er nun darin, den Entscheidungsprozess vorbereiten zu helfen, ohne selbst direkt daran beteiligt zu sein. Die Wissenschaft soll Wissen und Argumente, sie soll Entscheidungshilfen liefern. Wie gewichtet und welche Wahl getroffen wird, ist allein Sache der Politik. Allerdings darf man die in die Schranken verwiesene Macht der Wissenschaft trotzdem nicht unterschätzen. Sie kommt zwar erst an zweiter Stelle, während die Politik an erster Stelle steht und das Geschehen dominiert, aber nicht gerade unbescheiden meint Weber, oftmals sei es erst die Wissenschaft, die darüber aufkläre, was man wolle. Offensichtlich geht er davon aus, dass wir uns häufig über unsere „eigentlichen“ Intentionen gar nicht im Klaren sind. An diesem Punkt kommt die Wissenschaft ins Spiel: Sie verschafft dem Bewusstsein die notwendige Klarheit (WL, 150). Das erinnert an Kants Zusatz in der Schrift „Zum Ewigen Frieden“, klingt aber auch nach Peirce’ pragmatistischer Kernidee, wonach genau diese gründliche Vorab-Reflexion, diese „Bewusst-Machung“ gefordert ist, damit klar wird, was man eigentlich will. Und erst wenn dieser Reflexionsprozess abgeschlossen ist, die denkerische Vor-Arbeit geleistet ist, ist es nach Peirce legitim, an die Bearbeitung der „großen Gedanken“ zu gehen. (Peirce konkretisiert nicht, was die „großen Gedanken“ sind.)

6. Das pragmatistische Fundament der Soziologie Parallelen mit dem Pragmatismus zeigen sich auch in Webers Konzeption einer „verstehenden Soziologie“, deren Frühform der Kategorienaufsatz von

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1913 enthält, die Weber in den „Soziologischen Grundbegriffen“ von 1920 ausformuliert, die aber auch schon im Objektivitätsaufsatz von 1904 enthalten ist. Dort umschreibt Weber „Verstehen“ mit „(Er)Kenntnis der Bedeutung des Gewollten“ (WL, 150). Dem Verstehensbegriff vorgeordnet ist der Begriff des Handelns, der wie im Pragmatismus eine tragende Rolle spielt. Die elektronische Fassung allein des Kategorienaufsatzes verzeichnet 120 Eintragungen; zählt man die Wortverbindungen hinzu (z. B. „Gemeinschaftshandeln“), sind es mehr als doppelt so viele.32 Handeln liegt nach Weber nur dann vor, wenn damit ein spezifischer Sinn verknüpft wird, der entschlüsselt, sprich: „deutend verstanden“ werden kann (WL, 429). Sinn ist das Handlungsziel. Das analytische Verstehensmoment interessiert den Pragmatismus zwar weniger; er sieht sich, wie bereits ausgeführt, als begründende Wissenschaft, aber beiden geht es um das menschliche Handeln. Pragmatistisch ist die „verstehende Soziologie“ ihrem Selbstverständnis nach. Mit Hilfe von idealtypisch gebildeten Begriffen sucht Weber die komplexe Wirklichkeit zu erfassen. Dabei müssen sich die Idealtypen bewähren, sonst werden sie durch andere ersetzt. Weber fordert, der Wert des methodisch-begrifflichen Apparates müsse sich an seinem „Erfolg“ erweisen. Versagt der Apparat, d. h. kann er nicht zur Erkenntnis von Zusammenhängen beitragen, müssen neue Begriffe gefunden und neue Methoden gewählt werden (WL, 170 u. 193). Die Aufgabe sieht Weber darin, Begriffe und Methoden ständig zu optimieren und gegebenenfalls zu verwerfen, wenn sie sich als ungeeignet erweisen (WL, 155 f.) Das Optimierungsgebot zielt gerade auch auf ein Absolutsetzungsverbot. Begriffe sind nicht a priori tauglich, sondern sie müssen ihre Tauglichkeit in der wissenschaftlichen Praxis erweisen. In den „Soziologischen Grundbegriffen“ schreibt Weber: „Ihre Zweckmäßigkeit für uns kann nur der Erfolg geben.“ (WG, 13). Dieser Satz könnte auch von Peirce oder James stammen. James sagt, der Pragmatismus stehe für eine Haltung, die uns auf die „Früchte“ unseres Handelns blicken lässt. Er zitiert das bekannte Bibelwort aus dem Neuen Testament: „An den Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln.“ (1997, 53) Schon Peirce weist in einer Anmerkung auf diese biblische Quelle pragmatistischen Denkens in seinem Aufsatz „Wie unsere Ideen zu klären sind“ (1991 b, 211) hin. Weber wie der Pragmatismus ziehen Konsequenzen aus der Entzauberung dessen, was Lyotard fast 100 Jahre später die „Großen Erzählungen“ nennt. Der Pragmatismus bezweifelt, dass es erfahrungsunabhängiges Wissen gibt, 32  Die elektronische Ausgabe der Weber-Werke verzeichnet 950 Einträge zum Wort „Handeln“; vgl. Weber CD-ROM 2001.



7. „Nichtphilosophische Philosophie“ im Objektivitätsaufsatz213

wie es die Metaphysik (vor Kant, aber auch noch die kritische Metaphysik von Kant) für sich in Anspruch nimmt. Weber konzediert zwar die Legitimität metaphysischer Erkenntnis, aber trotzdem ist er skeptisch und teilt im Kern die Position des Pragmatismus. Bei ihm steht im Gegensatz zu James allerdings weniger die Kritik der Metaphysik im Mittelpunkt als vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem Systemdenken, das für ihn der Marxismus und die historische Nationalökonomie repräsentieren. Dies zeigt vor allem der Objektivitätsaufsatz, der zwar die „primitive Genialität“ von Marx anerkennt, aber dessen dogmatische Befangenheit, teleologische Denkform und praktisch-politische Ambitionen kritisiert (WL, 166, 168, 183). Weber wie der Pragmatismus orientieren sich in ihrem Wissenschaftsverständnis am „Erfolgswert“, oder vielleicht sollte man besser sagen: an der Geeignetheit des begrifflichen und methodischen Apparates. Beide fordern, Wissenschaft müsse sich in der Praxis bewähren, erst dadurch erhalte sie ihre Berechtigung. Weder Weber noch der Pragmatismus nehmen für sich in Anspruch, „letztgültig“ wahres Wissen produzieren zu können. Es gibt kein „gutes“ oder „richtiges“ Handeln apriori, das sich aus „Gesetzen“ herleiten lässt, sondern immer nur eines, das den Umständen entspricht oder eben nicht entspricht. Weber erwähnt zweimal den Begriff der „Konstellation“. Wissenschaftliche Fragen sind auch „Zuordnungsfragen“ (WL, 174, 178). Ohnehin komme − und hier paraphrasiert (und persifliert) Weber ganz am Ende des Objektivitätsaufsatzes einen berühmten Satz aus der „Vorrede“ von Hegels Rechtsphilosophie (WL, 214) − Wissenschaft „immer zu spät“, erst im Nachhinein, in der „Dämmerung“, wenn „eine Gestalt des Lebens alt geworden (ist)“ (Hegel 1976, 28), und was sie lediglich leisten könne, sei die Analyse von Handlungsmotiven und deren „Rationalität“, deren „Schlüssigkeit“. Unterdessen sei „das Licht der großen Kulturprobleme (längst) weiter gezogen“ (WL, 214).

7. „Nichtphilosophische Philosophie“ im Objektivitätsaufsatz Die thematische Vielfalt des Objektivitätsaufsatzes habe ich bereits mehrfach angesprochen. Die Charakterisierung Webers von James’ Philosophie aufgreifend, möchte ich behaupten, dieser programmatische Aufsatz enthält Webers „nichtphilosophische Philosophie“.33 Das Thema, das sich Weber stellt, lautet: „Was heißt hier Objektivität?“ (WL, 161). Weber macht den Spagat, die „Objektivität“ wissenschaftlicher Erkenntnis einerseits in Frage zu stellen; nicht zuletzt deshalb setzt er im Titel „Objektivität“ in Anfüh33  Programmatisch ist er insofern, als er das Programm des „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ formuliert, dessen Herausgeber Weber neben Werner Sombart und Edgar Jaffé 1904 wird. Vgl. dazu auch das Kapitel 4.

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rung, andererseits aber doch zu begründen, warum Wissenschaft nach seinem Verständnis und mit seinen Methoden und Begrifflichkeiten „objektiv“ in dem Sinne ist, dass sie nicht willkürlich ist. Weber sieht die Aufgabe der „Kulturwissenschaften“ darin, ein „Angebot“ zu machen, die empirischen Gegebenheiten „denkend zu ordnen“. Er glaubt, dass diese Erkenntnisleistung ein Wert ist, der den Kulturwissenschaften, bei aller eingeschränkten „Objektivität“, einen Status der Relevanz und Notwendigkeit verleiht. Tauscht man den Objektivitätsbegriff aus, kann man den Aufsatz auch als Webers Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage lesen, wie sie der Pragmatismus in seinen Anfängen verfolgt. Wie es für den Pragmatismus Wahrheit nur im Plural gibt, eingeschränkt und als „Teilwahrheit“, die lediglich vorübergehend gültig ist, so gibt es für Weber nur „Teil-Objektivitäten“, die von „Konstellationen“ abhängen. Weber betont die Standpunktabhängigkeit des Wissenschaftlers, der sich von Erkenntnisinteressen leiten lasse, der also nur die Gegebenheiten in den Blick nimmt, die ihn interessieren und an die er mit einem gewissen Vorverständnis herangeht. Die Ergebnisse der Forschung können damit allenfalls Teil-Objektivität beanspruchen. Der Objektivitätsaufsatz nennt als seine wissenschaftlichen Kontrahenten den Marxismus, von dem Webers Soziologie doch die starke Fixierung auf sozialökonomische Begebenheiten übernimmt, Hegels „Panlogismus“, die „idealistische Philosophie seit Fichte“, die „deutsche historische Rechtsschule der Nationalökonomie“, den Naturalismus und die „deutsche organische Staatsmetaphysik“. Letzterer zieht Weber die „,geschäftliche‘ amerikanische Verfassung“ vor (vgl. WL, 187). Die Art von Soziologie, die er betreiben will, versteht sich als 1). praxisorientiert, 2). wahrheits- und wertepluralistisch und 3). antiessentialistisch (WL, 210 f.). Diese Soziologie lehnt Kollektiv- oder Substanzbegriffe ab. Weber gibt dafür einige Beispiele wie „Na­ tion“, „Rassenqualität“ oder „Volkscharakter“. Hier findet sich auch der im Hinblick auf die weitere historische Entwicklung bemerkenswerte Satz, dass, wer von „Rasse“ rede, nur sein „Nichtwissen“ dokumentiere (WL, 167). In einer anderen interessanten Passage, die in der Literatur kaum interpretiert wird, sieht Weber die Bedeutung seiner Wissenschaftskonzeption in einer spezifischen Zubringerfunktion. Die Sozialwissenschaften tragen zum einen zu „historischer Erkenntnis“ bei, wenn sie beispielsweise den Zusammenhang von Wirtschaft- und Gemeinschaftsleben in einer bestimmten historischen Epoche untersuchen. Sie liefern zum anderen Bausteine für eine „Geschichtsinterpretation“, wenn sie beispielsweise ökonomische Entwicklung und das Gemeinschaftsleben verschiedener Kulturepochen komparativ betrachten. Weber betont, dass immer nur ein „Teilbild“ von der Wirklichkeit geliefert werden könne, eine „Vor-Arbeit für die volle historische Kulturerkennt-



7. „Nichtphilosophische Philosophie“ im Objektivitätsaufsatz215

nis“ (WL, 164). Offen bleibt, wer oder welche Wissenschaft die „volle“ Kulturerkenntnis zu erbringen vermag, ob am Ende des Erkenntnisprozesses eine Art Synthese sämtlicher „Vor-Arbeiten“ steht. Verwunderlich ist die Wortwahl, denn eigentlich dürfte die „volle“ oder „vollständige“ Erkenntnis nach den eigenen Prämissen gar nicht möglich sein. Außerdem passt der Ton, den Weber in diesem Aufsatz wählt, nicht zu der mutigen Wortwahl. Der Ton ist eher der des Zurückweichens vor einer großen, vielleicht zu großen Aufgabe. Weber zweifelt gerade daran, dass jemals vollständige Erkenntnis zu erreichen ist. Webers Wissenschaftskonzeption und die Philosophie des Pragmatismus weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Die Frage ist: Wer hat wen beeinflusst, wann ist dies geschehen und wodurch wurde dies begünstigt? Mit der Philosophie des Pragmatismus kommt Weber erstmals in Berührung, als er am Objektivitätsaufsatz arbeitet (um 1903). Damals liest er die „Varieties of Religious Experience“ (1902) im englischen Original. Es könnte aber auch sein, dass er sich dieses Buch erst nach Erscheinen des Objektivitätsaufsatzes zur Lektüre vornimmt. Sollte er es trotzdem vorher gelesen haben, fragt sich, ob und wie es ihn bei der Niederschrift des Objektivitätsaufsatzes beeinflusst haben könnte. Welche Spuren hat der Pragmatismus hinterlassen? Ich möchte auf den Punkt hinaus, dass Weber unter Umständen Jahre vor dem „offiziellen“ Wirkungsbeginn der Philosophie des Pragmatismus, also mit dem Heidelberger Philosophiekongress 1908, Gedankengut der pragmatischen Philosophie vorträgt. Webers Frage lautet: „Was heißt hier Objektivität?“ Ein Indiz scheint mir die bereits oben zitierte Bemerkung über die „geschäftliche amerikanische Verfassung“ zu sein, die er in Gegensatz zur deutschen „organischen Staatsmetaphysik“ setzt (WL, 201). Der Sinn des Adjektivs „geschäftlich“ ist erläuterungsbedürftig. „Geschäftlich“ meint Weber hier im Sinne von „nüchtern“ und „unaufgeregt“. Die Rollen und Erwartungen sind deutlich abgesteckt. Die Verfassung Amerikas ist nicht derart „aufgeladen“ wie jene des Deutschen Reiches. „Geschäftlich“ meint routiniert, ohne große innere Teilnahme, ohne Emotionalität, dafür aber professionell. Wenn Weber aber bereits bei der Niederschrift des Objektivitätsaufsatzes pragmatistisch argumentiert, ohne offensichtlich sich dessen bewusst zu sein, muss sich dies erklären lassen. Es ist nur eine Hypothese, aber gut möglich ist, dass dies mit einer Reihe von lebensgeschichtlichen Disposi­ tionen zusammenhängt, von denen ich glaube, dass sie die Entwicklung Webers zu einem Pragmatisten vor dem Pragmatismus ermöglicht haben. Diese Dispositionen möchte ich zum Schluss ansprechen.

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8. Amerika als ein Fixpunkt des Denkens Inzwischen gründlich erforscht ist Webers Anglophilie und Amerika-Orientiertheit („Americophilie“) (vgl. Roth 2001, 29 ff., 475 ff.). Weber entstammt mütterlicherseits einer englisch-deutschen Familie im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Mit elf Jahren erhält er Benjamin Franklins Autobiographie „The Private Life“ (1793), die später, in der Studie über „Die Protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“, zu Webers zentralen Quellen gehört. Das Buch schenkt ihm Friedrich Kapp, ein AmerikaEmigrant, der 1870 nach Deutschland zurückkehrt und ein enger Familienfreund und Gönner des jungen Max Weber wird. Kapp vermittelt ihm historische Kenntnisse, die ersten Vorstellungen über die Affinitäten von Puritanismus und Judentum, Weber lernt den „Eisenbahnkapitalismus“ und das soziale Leben in Amerika kennen. Kapp veröffentlicht eine „Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika“ (1861), eine „Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika“ (1868) und eine Essay-Sammlung („Aus und über Amerika“, 1876). Weber beschäftigt sich bereits 15jährig mit der Geschichte der Vereinigten Staaten (Jugendbriefe, 29). „Weber’s American interests were long-standing and well established.“ (Scaff 2005, 80). Bei den Webers zuhause ist Amerika, im Gegensatz zu anderen Familien des deutschen Bürgertums, positiv besetzt. Max Weber nimmt mit 14 Jahren privaten Englischunterricht.34 Sein Vater besitzt als einer der wenigen Deutschen US-Eisenbahnaktien. 1883 reist Max Weber senior als inoffizieller Vertreter der Stadt Berlin mit einer Delegation aus Bank- und Unternehmensvertretern in die USA. Dort lernt er James Bryce kennen, der über „party machines“ und „professional politicians“ forscht. Max Weber erwähnt später diese Arbeiten, die nach seinem Eindruck die moderne Massendemokratisierung zur Anschauung bringen (Roth 2001, 483 f.). 1893 plant Weber, mit Paul Göhre die Welthandelsmesse in Chicago zu besuchen. Wegen der Heirat mit Marianne wird die Reise jedoch verschoben. Das Buch von Roth legt nahe, dass uns Webers „Americophilie“ deshalb kaum bekannt ist, weil Marianne Weber diese Sympathie ihres Mannes auszublenden bestrebt ist. Als Herausgeberin der posthumen „Jugendbriefe“ streicht sie selbst die Hinweise auf die Amerika-Reise von Webers Vater. Roth will im „Lebensbild“ von 1923 das Interesse ausgemacht haben, We34  Nach den Recherchen von Roth spricht er aber trotzdem als Erwachsener nie so gut, dass er mit englischsprachigen Wissenschaftlern intellektuelle Debatten hätte führen können. Demgegenüber berichtet Marianne von einem „schönen NiggerEnglisch“ (1927, 312), in dem sich Weber mit seinen Verwandten auf der AmerikaReise verständigt habe.



8. Amerika als ein Fixpunkt des Denkens 217

bers Amerika-Orientiertheit möglichst zu bagatellisieren, wenn nicht in ein Verhältnis kritischer Distanz umzukehren. Er behauptet, das Buch, verfasst unter dem Eindruck der Niederlage im 1. Weltkrieg und des Versailler Vertrags, enthalte das „Konzept einer Heroisierung“, das Weber auch für die politische Rechte anschlussfähig machen sollte (2001, 40). Die Heroisierungstendenz ist unübersehbar, allerdings erscheinen Webers Amerika-Eindrücke gar nicht in so trübem Licht. Auf 25 Seiten schildert Marianne die 13 Wochen, die sich Weber ab Ende August 1904 in den Vereinigten Staaten aufhält. Er besucht New York, Chicago und St. Louis, Oklahoma und New Orleans, dann Philadephia, Baltimore, Boston und zum Schluss wieder New York. Der Eindruck ist offenbar ambivalent; man wisse nicht, „ob wir dieses Stück Welt, auf dem sich fünf Millionen Menschen zusammenhäufen, großartig und gewaltig oder roh, scheußlich und barbarisch finden sollten“ (Lebensbild, 294). Einem heutigen Muster der Amerikabetrachtung vorgreifend, erscheint das Land als Vorläufer einer Entwicklung, die früher oder später auch andere Kulturkreise erfassen wird. Marianne sieht Amerika der allgemeinen Entwicklung voraus, glaubt aber nicht an einen „Kulturexport“, sondern meint vielmehr, die eigene Heimat werde ihren Kulturträgern denselben Lebensstil aufnötigen (Lebensbild, 298). Sie ist weit weniger beeindruckt als ihr Mann. Während sie das Land mit einem „Ungeheuer, das alles Einzelne gleichgültig verschlingt“, vergleicht, ist Weber von der „Ungezwungenheit und Natürlichkeit“ vor allem der Menschen in den Südstaaten angetan (Lebensbild, 300). Marianne teilt Webers Befürchtungen mit: „Mit geradezu rasender Hast wird alles, was der kapitalistischen Kultur im Wege steht, zermalmt.“ (Lebensbild, 306). Weber hat deshalb wenig Hoffnung, dass sich „authentische“ Lebensformen in der modernen Kultur erhalten können. „Wenn ich das nächste Mal hinkomme, wird der letzte Rest ‚Romantik‘ dahin gegangen sein.“ (Lebensbild, 307). Doch schon Chicago enttäuscht jedes „romantische“ Verlangen. Die Stadt scheint auf die Webers einen schockierenden Eindruck zu machen. Sie „gleicht einem Menschen, dem die Haut abgezogen ist, und dessen Eingeweide man arbeiten sieht“ (Lebensbild, 309). Dessen ungeachtet geht von Amerika ein „gewaltiger Zauber“ aus (Lebensbild, 305). Die Amerikaner sind ein „wunderbares Volk“ (Lebensbild, 315). In einem Brief an den Leipziger Theologen Adolf Harnack, zwei Jahre nach der Reise verfasst, meint Weber: „Aber dass unsre Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist … der Quell all desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswerth finde …“ (Brief v. 5. Februar 1906, MWG II / 5, 33)

Die Geschichte der Deutschen hält Weber deshalb für misslungen, weil es ihnen an Verzichtsbereitschaft und Disziplin mangele. Weber blendet hier

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aus, was er noch in der ersten Protestantismusstudie als fatale Konsequenz des „Asketismus“ schildert: den Verlust der individuellen Freiheit in einer gesellschaftlichen Ordnung, in der jeder zu funktionieren verurteilt ist. Marianne schildert den Amerikaaufenthalt und die Eindrücke sachlich und differenziert. Hinzu kommt, dass sie Webers Gesundungsprozess und seine neue wissenschaftliche Produktivität mit der Amerikareise in Verbindung bringt. Sie hebt hervor, dass Weber in Amerika ein wichtiges Forschungsthema entdeckt, nämlich die das Leben prägende Wirkung religiöser Sekten (Lebensbild, 311). Sie gewichtet Webers Amerikaaufenthalt als Gewinn für seine Rolle als „Lehrmeister des Okzidents“. Diese Rollenzuschreibung dürfte Webers Selbstverständnis allerdings kaum entsprochen haben. Trotzdem ist die These interessant, legt sie doch nahe, dass sich aus der Amerika-Erfahrung insofern Kapital schlagen lasse, als der Okzident davor bewahrt werden könne, denselben Entwicklungspfad einzuschlagen wie die Vereinigten Staaten. Nur ist dies eben nicht Webers Perspektive. Nicht die „Amerikanisierung“ der gleichsam noch unberührten Teile des Okzidents befürchtet er, sondern die „Europäisierung“ eines urwüchsigen und vitalen und selbstbewussten Amerika. „Europäisierung“ setzt Weber weitgehend gleich mit „Bureaukratisierung“, die nach seiner Beobachtung ihren Anfang in Deutschland nimmt und nun auch Amerika bedroht. Tatsächlich spricht Weber wortwörtlich von der Gefahr der „Europäisierung Amerikas“, und zwar in dem späten Vortrag „Der Sozialismus“, den er 1918 vor österreichischen Offizieren hält (GAzSS, 497). Dieser Vortrag ist bemerkenswert gerade auch vor dem Hintergrund der Weberschen Americophilie. Weber kommt auf Amerika im Zusammenhang mit dem Stichwort Demokratie zu sprechen. Er lobt das „alte“ Amerika (GAzSS, 496) mit seiner Demokratie, in der sich die Bürger ehrenamtlich engagieren, Politik noch kein „Beruf“, sondern eine „Berufung“ ist, der Freiheitswille ungebrochen ist und jeder sich innerhalb der allgemeinen Grenzen frei entfalten kann. Auf diesen wenigen Seiten fordert Weber keineswegs ein Zurück zu einem als „authentisch“ aufgefassten Bürgerleben, vielmehr konstatiert er dessen un­ widerrufbares Ende. Nochmals stellt er die „Bureaukratisierung“ in den Mittelpunkt, die er „universell“ voranschreiten sieht und die alle Massendemokratien bedrohe (GAzSS, 498). So deprimierend dies sei, Weber ruft dazu auf, sich den Herausforderungen der modernen Massendemokratie zu stellen. Zwischen den Zeilen jedoch ist das Bedauern zu spüren. Das „alte“ Amerika schildert er als ein Land, in dem der Arbeiter gleich viel oder sogar mehr verdient als mancher Universitätsprofessor, in dem der Arbeiter in Frack und Zylinder ausgeht und seiner Frau es allenfalls an der Eleganz der europäischen Bürgersfrau mangelt. Er verteidigt das „alte“ gegenüber dem „modernen“ Amerika: Es



8. Amerika als ein Fixpunkt des Denkens 219

sei eben nicht immer das Land der „schmutzigen Jagd nach dem Geld“ gewesen (GAzSS, 497). Er schildert ein stolzes Bürgertum, das zwar kaum Kontrolle über das politische Beamtentum hat, aber dessen Notwendigkeit anerkennt und ansonsten auf dieses „speit“ und es „verachtet“. Die politischen Verhältnisse in Deutschland sind nach Weber genau umgekehrt: Dort „spuckt“ das Beamtentum auf die Bürgerschaft. Es folgt eine politische Spitze, die aber wohl nicht als solche wahrgenommen worden ist: Weber trennt zwischen den „einfachen“ Amerikanern und jener gebildeten Schicht, die aus den Universitäten hervorgeht. Sie nennt er die „Urheber des Kriegs“, nicht in dem Sinne, dass diese den Krieg angezettelt hätten. Vielmehr hält er deren „europäische“ Orientierung für fatal. „Kriegerischer Geist“, das Bedürfnis, seine Kräfte zu messen, auf diese Weise Anerkennung zu erhalten – das ist für Weber ein Import aus Europa. Als dieser „kriegerische Geist“ mit der Einfältigkeit der gebildeten Emporkömmlinge zusammengeht, stirbt, so Weber, das „alte“ Amerika. Es entsteht „ein Staat mit einer großen Armee, einem Offizierskorps und einer Bureaukratie“ (GAzSS, 497). Weber hält seinen Wiener Sozialismus-Vortrag 14 Jahre nach der AmerikaReise und kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Man hätte diese Passagen über ehemalige Kriegsgegner nicht unbedingt erwartet.35 Seit der Amerikareise ist und bleibt Amerika ein Fixpunkt seines Denkens.36 Immer wieder lässt er in seine Texte Betrachtungen über Amerika einfließen und nutzt Veranstaltungen, über das Land zu informieren. Eine Zeitlang teilt Weber auch große Sympathien für Russland. Er lernt bekanntlich innerhalb weniger Wochen Russisch, um die Zeitungen lesen zu können. Er veröffentlicht zwei größere Arbeiten über die russische Demokratie, aber im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten verliert sich dieses Interesse recht schnell wieder.37 Die Sympathie für die USA ist nachhaltig. Wenige Wochen nach Rückkehr aus den USA, im Januar 1905, wird Weber zu einem Amerika-Abend des Nationalsozialen Vereins in Heidelberg eingeladen. Der Verein reagiert mit der Veranstaltung auf ein allgemein gewachsenes Interesse an den USA, zumal sich das Land nach Kriegsende zunehmend in die Weltpolitik einschaltet. Marianne referiert über die Rolle der Frau in den Vereinigten Staaten. Weber ist kurzfristig erkrankt, nimmt dann aber trotzdem teil und 35  Vielleicht wären seine Warnungen vor dem Kriegseintritt Amerikas auch in diesem Licht zu betrachten und nicht nur vor dem Hintergrund, dass Weber mit dem Kriegseintritt der USA die deutsche Niederlage kommen sah. 36  So auch Scaff 2005, 80: „America as reality and symbol, together with England, became for Weber outside the German context one of two most important points of orientation for his thinking.“ 37  Über einen kurzen Zeitraum glaubt Weber, dass nur noch in den USA und in Russland „Freiheitsreservate“ übrig geblieben seien, während in Europa die „unaufhaltsame“ Bürokratisierung nur noch Ordnung und Anpassung zulasse.

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Kap. 7: Weber The Would-Be Pragmatist

ergreift das Wort. In einem rund einstündigen, improvisierten, offenbar von Enthusiasmus getragenen Vortrag (von dem nur ein Zeitungsbericht überliefert ist) gibt er Eindrücke von seiner Reise wieder, macht die Zuhörer mit der politischen Situation bekannt und schildert das Wesen und die Bedeutung der amerikanischen Demokratie, das Vereinsleben, die Arbeitsverhältnisse, die Ablehnung von „Autoritäten“ und das Freiheitsverständnis der Amerikaner. Es sind ungefähr dieselben Themen, die er auch in seinem Sozialismus-Vortrag abhandelt. Die Emphase, mit der die Amerikaner für ihre persönliche Freiheit kämpfen, hebt Weber laut Zeitungsbericht hervor, um die Unterwürfigkeit und die Ordnungsliebe der Deutschen herabzusetzen (vgl. MWG I / 8, 381 ff.). Schon bei einer Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1909 kritisiert er, der angebliche Bewunderer „rationaler Ordnung“, das spezifisch „deutsche“ Ordnungsverständnis. Auf der Sitzung fällt im Anschluss an seine Kritik das Wort von der „Parzellierung der Seele“. Weber karikiert die „deutschen Ordnungs-Menschen“, die „,Ordnung‘ brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepasstheit an diese Ordnung herausgerissen werden“ (MWG I / 8, 363). Dies wird in der Weber-Literatur selten zitiert. Die zeitliche Nähe seiner Amerikaeindrücke spricht dafür, dass Weber bei der Kritik als Kontrast das positive Bild des selbstbewussten Bürgertums Amerikas im Sinn hat. Die „Bureaukratie“ bedeutet für Weber die „rationale“ Steigerung des Ordnungsdenkens. Es kommt zu einer „Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“. „Parzellierung“ ist die Halbierung und Teilung des „ganzen“ Menschen. Abschließend wirft Weber die Frage auf, was man „dieser Maschinerie entgegenzusetzen“ habe (MWG I / 8 – kursiv im Original). Ein anderer Diskussionsbeitrag, ebenfalls auf einer Tagung des Vereins für Sozialpolitik vorgebracht, zeigt, dass Weber im Hinblick auf Amerika auch Vorbehalte hat. In deutschen Ministerämtern macht er „matter-of-factmen“ und „business-men“ aus, eine Spezies, die er als prinzipienlose Opportunisten charakterisiert, die sich jederzeit und allüberall anzupassen wüssten, damit jedoch das genaue Gegenteil dessen seien, ohne die Politik nicht auskomme: „Staatsmänner“ (MWG I / 8, 273). Den Begriff des „matter-of-fact-men“ hat Weber den politischen Verhältnissen in England und Amerika abgeschaut, das zeigt die weitere Diskussion (MWG I / 8, 279). Während Weber das politische Selbstbewusstsein des amerikanischen Bürgertums in hohen Tönen lobt, ist er von den charakterlichen Qualitäten und den politischen Führungsqualitäten der amerikanischen Politiker weniger überzeugt. Im Sozialismus-Vortrag deutet Weber an, dass dies strukturelle Gründe im politischen System der USA haben könnte,



8. Amerika als ein Fixpunkt des Denkens 221

denn nach jeder Wahl würde das gesamte politische Personal ausgetauscht, das vor allem ein Eigeninteresse an Karrieren habe, sich jedoch nicht einem übergeordneten Ganzen verpflichtet fühle. Allerdings seien diese Politiker auch zunehmend „auf deutschen Ministersesseln“ anzutreffen (MWG I / 8, 273), so dass es sich wohl weniger um ein nur amerikanisches als vielmehr um ein universelles, aus der Struktur des Politikbetriebs resultierendes Phänomen zu handeln scheint. Weber bringt also eine familiäre und lebensgeschichtliche Prädisposition für Amerika mit. Die 13 „amerikanischen“ Wochen im Herbst 1904 anlässlich der Reise zum Weltkongress führen zur weiteren Herausbildung dessen, was ich Webers „Americophilie“ nenne. Diese positive Voreingenommenheit für Amerika wirkt sich 1909 auch insofern aus, als Weber geradezu euphorisch einen Plan seines Freundes Georg Jellinek begrüßt, in Heidelberg ein „Institute for Comparitive Politics“ zu eröffnen. Es findet sich zwar eine amerikanische Stiftung, die das Vorhaben finanziert hätte, aber es wurde dann trotzdem nichts daraus (vgl. Brief an Jellinek v. 15. Juli 1909; MWG II / 6, 179 ff.). Begünstigend wird auch das intellektuelle Milieu Heidelbergs gewirkt haben, die damals die „amerikanischste“ Stadt im Deutschen Reich ist.38 Ob dies eine Rolle gespielt hat, als Heidelberg den Zuschlag zur Ausrichtung des III. Internationalen Philosophischen Kongresses mit dem Schwerpunktthema „Pragmatismus“ erhält, lässt sich nicht feststellen. Die im Tagungsband enthaltenen, den Vorträgen vorausgehenden Grußworte der offiziellen Repräsentanten lassen diesen Rückschluss nicht zu. Der Vertreter der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg sieht Anzeichen, „dass die Hegemonie der Naturwissenschaften von einem neuen philosophischen Zeitalter abgelöst werden soll“ (Elsenhans 1909, 45). Dass der Pragmatismus dabei ein in Betracht kommendes Angebot sein könnte, wird nicht thematisiert. Ernst Troeltsch, der mit Weber befreundet ist und dessen Haus mitbewohnt, vermisst eine „konstruktive, orientierende Philosophie“ (Elsenhans 1909, 42 f.). Kongress-Präsident Windelband spricht von der „bändigenden Macht des Gedankens“ und der Notwendigkeit zur „Selbstverständigung“ (Elsenhans 1909, 57). Überraschend ist, dass Weber zum vorbereitenden zwölfköpfigen Organisations-Komitee gehört.39 Es ist anzunehmen, dass seine Kenntnisse Ameri38  Zu Heidelberg als der „amerikanischsten“ Stadt in Deutschland vgl. den Aufsatz von Detering 1995. Eine Rolle zur Begründung dieses Rufs spielt der Besuch Mark Twains 1878 und sein daraus hervorgegangenes Buch „A Tramp Abroud“. Noch heute ist Heidelberg bei Amerikanern eine der beliebtesten Städte. Einen Anteil daran hat vermutlich auch das Buch von Twain. 39  Hinweis bei Köhnke 1995, 51.

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Kap. 7: Weber The Would-Be Pragmatist

kas bei der Berufung zu dieser Aufgabe eine Rolle spielten. Vom Kongress ist er allerdings wenig angetan. An Georg Michels schreibt er: „(Herzliche Grüße) von der Internationalen Verschwörung gegen die Philosophie – denn dies ist der wahre Sinn dieser Menschenansammlung.“ (Brief vom 5. September 1908; MWG II / 5, 1908). Der Kommentar ist gemünzt auf die unüberschaubare Vielstimmigkeit der Philosophie, auf die Differenzen und Eitelkeiten ihrer Protagonisten, nicht zuletzt auf die Leichtfertigkeit, durch Zerstrittenheit Wirkungschancen aufs Spiel zu setzen. Diese Interpretation legt das „Lebensbild“ nahe (1927, 397). Marianne schreibt auch: „… keiner will im Grunde vom anderen lernen.“

9. Ein Pragmatist vor dem Pragmatismus William James stellt einmal fest, „dass die Menschen von jeher die pragmatische Methode verfolgt haben, wenn auch nicht wissentlich“ (1994, 5). Er will damit sagen, dass es ein pragmatistisches Moment in unser aller Denken gibt. Dieses entwickelt sich quasi automatisch. Dazu gehört etwa der Grundsatz, aus eigenen oder auch aus Fehlern von anderen zu lernen. Dies setzt freilich Lernbereitschaft voraus, die Marianne Weber im obigen Zitat reklamiert. Wer in diesem Sinne pragmatistisch handelt, ist deshalb aber noch kein Pragmatist. Nicht nur James vertritt diese Auffassung; sie findet sich schon bei Peirce, der nicht zuletzt aus diesem Grund: um der ursprünglichen Lehre des Pragmatismus eine strengere Fassung zu geben, seine Spätphilosophie „Pragmatizismus“ nennt (Peirce 1991 d, 431). Auch Weber vertritt „nicht wissentlich“ pragmatistische Positionen. Deshalb wird er hier ein „Would-Be-Pragmatist“, ein „Wäre-Beinahe-Pragmatist“ oder auch ein „Pragmatist vor dem Pragmatismus“ genannt. Allerdings hätte sich Weber nur schwer „wissentlich“ zum Pragmatismus bekennen können, denn erst um die Jahrhundertwende beginnt sich eine Vorstellung dessen herauszubilden, was die Philosophie des Pragmatismus ausmacht. Ohnehin hätte sich Weber eher nicht zum Pragmatismus bekannt, wie er sich überhaupt zu keiner Philosophie „bekennt“. Seine „Philosophie“ ist, einen eigenen Weg zu gehen, dabei jedoch Positionen an- und einnehmend, die als pragmatistisch charakterisiert werden können. Gerade auch auf Webers politische Theorie ist pragmatistisch konturiert. Sein später Vortrag „Politik als Beruf“ wird getragen von einem pragmatistischen Geist, der sich darin zeigt, dass er als kardinale Eigenschaften des Politikers die Besonnenheit und das Augenmaß bestimmt, von denen er annimmt, dass sie die dritte politische Eigenschaft: die Leidenschaft zu zügeln vermögen, die als Motivationskraft unverzichtbar ist.



9. Ein Pragmatist vor dem Pragmatismus223

Auf dem zeitlichen Höhepunkt der Rezeption von pragmatistischen Ideen, in den Jahren zwischen 1904 bis 1908, führt Weber eine kontroverse Diskussion mit Robert Michels in Turin über die Frage der Demokratie. Gegen Michels radikaldemokratischen Standpunkt, der seine Wurzel in der anarcho-syndikalistischen Lehre von der „herrschaftsfreien Gesellschaft“ hat, setzt Weber ein pragmatistisches Demokratiekonzept. „Politische Demokratisierung ist das Einzige, was in jeder absehbaren Zukunft vielleicht erreichbar ist – und das ist gar nicht so wenig!“ (Brief v. 6. November 1907; MWG II / 5, 423). Gegenüber Michels wirbt er für Nüchternheit und Selbstbeschränkung. „Wer als ‚moderner Mensch‘ auch nur in dem Sinn leben will, dass er täglich seine Zeitung hat und Eisenbahnen und Electrics etc. pp. – der verzichtet auf all jene Ideale, die Ihnen dunkel vorschweben …“ (Brief v. 4. August 1908; MWG II / 5, 616). Mommsen nennt Webers Position „verantwortungsethischen Pragmatismus“, demgegenüber die von Michels „gesinnungsethischen Fundamentalismus“ (1988, 196 ff.). Im Vergleich zum weiteren politischen Lebensweg von Michels, der ihn zum italienischen Faschismus führt, zeigt sich die Attraktivität des Pragmatismus als Philosophie der Vermeidung von Extremen. Der Pragmatismus steht für Realitätssinn und gründliches Nachdenken. Er eröffnet, um nochmals Papini und Peirce zu zitieren, „Korridore“, „Herr unserer eigenen Sinnintentionen“ (1991 b, 186) zu werden.

Kapitel 8

Blendwerke der feinen Verführung. Max Weber über die Zukunft In ihrem „Lebensbild“ gibt Marianne Weber einen Einblick in die Schreibwerkstatt ihres Mannes. Sie berichtet von einer impulsiven Arbeitsweise und davon, dass Weber „Wirtschaft und Gesellschaft“ „aus dem Kopf heraus“ geschrieben habe (1927, 688). Nach Karl Jaspers, der Weber 1909 kennen lernt und 1932 mit dem Buch „Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph“ wesentlich zu dessen Nachruhm beiträgt, pflegte Weber zu sagen: „Ich pfeife auf den Stil; ich spucke meine Gedanken aus.“1 Es könnte allerdings auch sein, dass Weber dies nicht ganz ernst meint. An Lukács etwa kritisiert er dessen Spontaneität und Undiszipliniertheit des Schreibens. Die eigenen Arbeiten, vor allem die „Soziologischen Grundbegriffe“, aber auch die Wirtschaftssoziologie und die systematischen Texte der Religionssoziologie, sind das Gegenteil spontanen, ungezügelten Gedankenausdrucks; sie sind streng komponiert, erlauben sich freilich trotzdem manch „spontanen“ Gedanken.   Die Werkstattberichte von Marianne Weber und Jaspers können leicht eine falsche Spur legen, denn Weber macht sich gründlich Gedanken über Aufbau und Präsentation seiner Texte. Wenn er „abschweift“, dann scheint auch dies zum Plan zu gehören. Es gibt eine in der Literatur bislang nicht konsultierte Stelle in einem Brief an Friedrich Gottl, an der sich Weber Gedanken darüber macht, wie der Leser „zu ernsthafter innerer Auseinandersetzung zu nötigen“ sei. Er plädiert für absolute „Durchsichtigkeit der Systematik des Gedankengangs“, für das grundsätzliche Vermeiden von „Umschweifen“ und „Umwegen“ und für „Denkökonomie“. Weber lobt die Methode der Puritaner-Prediger: das Durchnummerieren von Argumenten. Hier lässt er Sympathien erkennen für jenen „okzidentalen Rationalismus“, dessen Ambivalenz und Destruktivität er sonst thematisiert. Man könnte Weber einen „Sprach-Rationalisten“ nennen. In einer Ökonomie der Gedanken und sprachlicher Askese sieht er die Chance, beim Leser Aufmerksamkeit zu erregen. Als Methode empfiehlt er: „Mit der Tür ins Haus fallen!“ (Brief v. 18. April 1906, MWG II / 5, 78 f.). 1  Jaspers, zitiert nach Radkau 2005, 187. Zum Verhältnis Weber  /  Jaspers und Jaspers’ Bedeutung für die Weber-Rezeption siehe dort 840 ff.



1. Die Metapher als „Substruktur des Denkens“225

Häufig pflegt Weber einen geradezu „militärischen“ Schreibstil: Er „setzt“ Definitionen („… soll heißen …“). Der Wechsel zwischen Kleinund Großdruckpassagen soll eine hierarchisch abgestufte Bedeutung des Geschriebenen optisch ausdrücken. Die „Soziologischen Grundbegriffe“ etwa scheint Weber mehrfach überarbeitet, „geschliffen“ zu haben; nur ein Kern ist übrig geblieben, alles Überflüssige eliminiert. Andere Texte wiederum machen einen gegenteiligen Eindruck. Die Erklärung dafür könnte sein, dass ihm die Zeit für eine Überarbeitung fehlte und sie deshalb „unfertig“ wirken. Weber hat einen ausgeprägten Sinn für Sprache. In dem geradezu exzessiven Einsatz des Sperrdrucks und des Doppelpunkts drückt sich ein nie aussetzender Wille zur Pointierung und Aussage-Komprimierung aus. Dabei ist Beschränkung auf das sprachlich Notwendige für Weber durchaus vereinbar mit Sprachbildern. Keineswegs sind Metaphern schmückende Beiwerke, eigentlich überflüssig, sie können auch Ausdruck eines sprachlichen Reduktionismus sein, viel sagend, insofern sie einen „Bedeutungskosmos“ in einem einzigen Bild bündeln. Weber setzt gezielt Sprachbilder ein. Sie stehen in Spannung zum Wertfreiheitspostulat, denn dieses hat auch eine sprachlich disziplinierende Funktion. Metaphern hingegen suggerieren, wecken Assoziationen, ja, können manipulieren. Weber setzt sie trotzdem ein, vielleicht sogar deshalb, und zwar in den frühen wie in den späten Schriften.

1. Die Metapher als „Substruktur des Denkens“ Aristoteles ist einer der ersten, der in seiner „Poetik“ über die Metapher nachdenkt. Nach Aristoteles (2008, 67) „überträgt“ eine Metapher ein Wort von einem Bedeutungsspektrum in ein anderes. Das Wort wird damit „in uneigentlicher Bedeutung“ verwendet. Um zwei Autorenbeispiele zu nennen: Kant und Hegel benutzen häufig die „uneigentliche“ Rede. In der „Kritik der reinen Vernunft“ dienen Kant Metaphern zur Veranschaulichung von Argumenten. Kant entlehnt seine Metaphern der antiken Mythologie, dem Handwerk, der Pädagogik oder der Welt der Kaufleute (vgl. Höffe 2003, 319). Bei Hegel denke man an die „Eule der Minerva“ in der Vorrede zur Rechtsphilosophie oder an die Metapher des „Knotens“ in der „Phänomenologie“ (vgl. de la Maza 1998). Auch Hobbes’ „Leviathan“, das Seeungeheuer aus dem Buch „Hiob“ im Alten Testament, ist eine Metapher. Der „Leviathan“ steht für einen Prozess der Machtumverteilung und Machtkonzentration, aus dem die stärkste irdische Macht hervorgeht: der Staat. Er ist aber nur ein „sterblicher Gott“; seine Existenz ist junktimartig verknüpft mit der Erfüllung seiner Schutzfunktion. Der „Leviathan“ hat zugleich ma-

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

schinellen Charakter; er verkörpert die neuartige Funktionsweise der Politik im „technischen Zeitalter“.2 Webers Praxis metaphorischer Sprache genauer zu untersuchen ist deshalb reizvoll, weil sich so Substrukturen des Denkens freilegen lassen, die er, häufig rhetorisch, zu verbergen sucht, etwa wenn er „wertend“ Stellung bezieht und dies im selben Augenblick als „nicht hierhin gehörend“ in Frage stellt. Die Formulierung „Substrukturen des Denkens“ übernehme ich von Hans Blumenberg, dessen „Metaphorologie“ ich hier im Verbund mit Blumenbergs nachgelassener „Theorie der Unbegrifflichkeit“ für die Analyse von Webers metaphorischer Sprache fruchtbar zu machen versuche.3 Webers Metaphern geben Einblick in seinen Werthorizont, sind aber vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie Auskunft geben über seine Erwartungen an die Zukunft.

2. Metaphernbeispiele Metaphern sind, so Hans Blumenbergs Definition (die selbst eine Metapher ist), „Blendwerke der sanften Verführung“ (Blumenberg 2007, 84).4 An vielen, meist entscheidenden Stellen benutzt Weber Metaphern. Politik definiert er mit einem Bild aus dem Handwerk als „starkes langsames Bohren von harten Brettern“ (PS, 560). In „Wissenschaft als Beruf“ bringt eine religiöse Metapher die mögliche „Wiederkunft“ eines polytheistischen Zeitalters zum Ausdruck (WL, 605). Polytheismus heißt für Weber nicht nur die Herrschaft „rationaler“ monotheistischer Religionen, die in Konkurrenz zueinander stehen, sondern auch die Rückkehr des „irrationalen“ Aber- und Dämonenglaubens. Weber selbst sieht sich von „Dämonen“ getrieben. „Dämonen“ sind bei ihm eine Metapher für das Unerklärliche. In den Briefen, häufig an seine 2  Vgl. dazu die eigenwillige Interpretation von Schmitt 2003, der im „Leviathan“ ein Symbol für den (allerdings nur temporären) „Sieg über den ganzen rebellischen Individualismus“ sieht (2003, 58). Der „Sieg“ wird in den Augen Schmitts zur „Niederlage“, weil Hobbes die individuelle Gewissensfreiheit zulasse. 3  Die Anregung dazu entnehme ich Schluchter 2009, 19, Anm. 4. 4  Als Titel dieses Kapitels habe ich wegen der Alliteration „Blendwerke der feinen Verführung“ gewählt. Blumenbergs Formulierung findet sich in der nachgelassenen „Theorie der Unbegrifflichkeit“. Im Folgenden werde ich auch auf Blumenbergs Schrift „Paradigmen zu einer Metaphorologie“ von 1960 eingehen. Ich sehe nicht, im Gegensatz zu einem Teil der Blumenberg-Literatur, dass mit der „Theorie der Unbegrifflichkeit“ eine teilweise Abkehr von der ursprünglichen Metaphorologie verbunden ist. Vielmehr meine ich, und werde das nebenher zeigen, dass sich Blumenbergs Früh- und Spätwerk ergänzen. Anders: Haverkamp 2009, 237 ff. Zum Projekt der Metaphorologie vgl. auch die Aufsätze in dem von Haverkamp u. a. herausgegebenen Band.



2. Metaphernbeispiele227

Frau gerichtet, treiben Krankheitsdämonen ihr Unwesen. Sein „Schlafdämon“ ist eigentlich ein „Schlafverhinderungsdämon“. Es gibt „Arbeitsdämonen“ und religiöse Dämonen und schließlich „Liebesdämonen“ (vgl. MWG II / 5, 481, 487, 489, 490, 501). Manchmal erweckt die Rede von den „Dämonen“ den Eindruck, es handele sich um reale Wesen. Weber „fordert“ den Dämon heraus oder sucht ihn zu „überlisten“. Der „Dämon“ führt offenbar ein vom Menschen unabhängiges Leben. Es scheint sich um ein konkurrierendes Steuerungsmedium zu handeln, das dem „freien“ Willen und dem menschlichen Handeln Grenzen setzt. In „Wirtschaft und Gesellschaft“ sieht Weber den Unterschied zwischen „Gott“ und einem „Dämon“ darin, dass der eine „verehrt“, der andere „bezwungen“ wird (WG, 259). In „Wissenschaft als Beruf“ schreibt er zum Schluss, jeder müsse auf den jeweiligen Dämon hören, der die „Fäden des Lebens“ in den Händen halte (WL, 613). Webers „Dämon“ ist etwas anderes als das „daimonion“ bei Sokrates in der Überlieferung von Platon. Hier ist es eine als Warninstanz fungierende und mit dem Göttlichen konnotierte Stimme, die von bestimmten Handlungen abrät (Brodersen / Zimmermann 2000, 123). Bei Weber ist der „Dämon“ ein unheimlicher und böser Geist. Diese Vorstellung ist unter orientalischen, römischen und christlichen Einflüssen entstanden und zu Lebzeiten Webers weit verbreitet. Ein Beleg dafür ist Stefan Zweigs Essaysammlung „Der Kampf mit dem Dämon“ von 1925. Unter Freuds Einfluss stehend, definiert Zweig in der „Einleitung“ den Dämon als eine „Gewalt über der eigenen Gewalt“, die eine „freundlich fördernde Macht“, aber auch ein „aufrührerischer und zerstörerischer Trieb“ sein kann.5 Man kann auch an Dostojewskis „Dämonen“ (1873) denken. Der Titel ist der russischen Volksmythologie entlehnt und bezieht sich auf „böse“, vom Menschen Besitz ergreifende Geister. Der Titel einer früheren Übersetzung des Buches lautet deshalb „Die Besessenen“.6 Berühmt ist die Metapher von der „Entzauberung der Welt“. Erstmals benutzt Weber sie im „Kategorienaufsatz“ (1913) (WL, 433), später in „Wissenschaft als Beruf“. Dort beschreibt Weber eine „von ihren Göttern und Dämonen entzauberte Welt“ (WL, 604). Entstanden sein dürfte das Entzauberungstheorem viel früher, nämlich während der drei Aufenthalte in 5  „Der Dämon verkörpert in uns den Gärungsstoff, das aufquellende, quälende … Ferment, das zu allem Gefährlichen … das sonst ruhige Sein drängt.“ (Zweig 2004, 13) 6  Bei den sonntäglichen Jour fixes im Heidelberger Weber-Haus wird immer wieder nicht nur über Tolstoi, sondern auch über Dostojewski diskutiert. Es kann davon ausgegangen werden, dass Weber Dostojewskis „Dämonen“ kannte.

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

Rom 1901 / 02, als Weber in den Bibliotheken das mittelalterliche Klosterwesen erforscht. Die Studien sind die Basis für die erste Protestantismusstudie von 1904. Weber versteht „Entzauberung“ als einen Prozess der Zurückdrängung von „Magie“ zunächst zugunsten „rationaler“ Religion, dann als Zurückdrängung der Religion zugunsten eines Zustandes, in dem gleichsam nichts mehr heilig ist und es zu einer „weitgehenden Desillusionierung“ kommt (Winckelmann 1980, 18). „Entzauberung“ bedeutet Entwertung, ist Zerstörung von „primitiven“ und „mythischen“ Weltbildern, an deren Stelle neue, „rationale“ Weltbilder treten. Entzauberung meint nicht „Umwertung“ im Sinne Nietzsches. „Umwertung“ (der Werte) bedeutet bei Nietzsche die Umwälzung des moralisch bisher Gültigen (Sommer 2000, 346). Webers „Entzauberung“ bezieht sich weder ausschließlich auf Moral, noch hat sie ein funktionales Äquivalent bereits im Blick. Entzauberung bedeutet ein Entwertet-Werden, ein Weniger-Werden und Verblassen (so auch Winckelmann 1980, 18). Weber bringt Entzauberung immer wieder in einen Zusammenhang mit „Rationalisierung“ und „Intellektualisierung“ (WL, 612). Die Entzauberung gilt es als „Schicksal unserer Zeit“ zu ertragen, „männlich“, wie Weber hinzufügt. Am Schluss der Protestantismusstudie erwartet er eine „mächtige Wiedergeburt“ überkommener Ideale und Glaubensvorstellungen (RS I, 204). Es ist zunächst nicht klar, wie sich diese „Wiedergeburt“ mit der „Entzauberung“ verträgt. Aber Weber geht wohl davon aus, was nicht unplausibel ist, dass Entzauberung als Zustand der Orientierungslosigkeit keinen dauerhaften Bestand hat. Deshalb wird es früher oder später zu einer „Wiedergeburt“ bereits vergangener Werte und Überzeugungen kommen. „Hasard“ ist eine weitere Metapher, die Weber mehrfach und vornehmlich in „Wissenschaft als Beruf“ einsetzt (WL 585, 586, 588, 590). „Hasard“ ist im Französischen der „Zufall“ oder auch die „glückliche Fügung“. Die alternative Schreibweise „Hazard“ taucht erstmals im 14. Jahrhundert in den „Canterbury Tales“ auf. Laut „Encyclopaedia Britannica“ von 1911 handelt es sich um ein Würfelspiel aus dem alten England, das im 17. und 18. Jahrhundert zu den beliebtesten Glücksspielen zählt. Im übertragenen Sinn bedeutet „Hasard“ eine riskante Aktion oder auch ein Risiko. Weber benutzt „Hasard“ in einem weitergehenden Sinne als Gegenbegriff zu „Tüchtigkeit“ und „Verdienst“ oder „Kompetenz“ und konkret, um den Zufallscharakter einer gelingenden akademischen Karriere zum Ausdruck zu bringen. In der „Zwischenbetrachtung“ spricht Weber von den „kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen“ (MWG I / 19, 507), ein eindrückliches Bild, das selten zitiert wird und ein Licht auf seine Haltung zum Prozess der Rationalisierung wirft und jenen Interpretationen widerspricht, die in Weber den „Rationalisierungspapst“ oder den Vertreter einer „rationalistischen Moder-



3. Zur Theorie der Metapher229

ne“ sehen bzw. ihm unterstellen, er verfolge „eine eingeschränkte Idee der Zweckrationalität“7; die Kritik daran ist vielmehr Webers Thema (siehe „Einleitung“ und Kap. 1). Wenn Weber die Politik abhandelt, greift er, eine Parallele zu Hobbes, häufig auf technische Metaphern zurück. „Maschine“ und „Maschinerie“ oder „Apparate“ sind Beispiele (PS, 535). Das semantische Feld der Politik ist darüber hinaus durch Metaphern des Kampfes bestimmt: „Wahlschlachtfeld“ (PS, 536). In der Antrittsvorlesung tritt er für nationale Expansions­ politik ein, für die Eroberung von „Ellenbogenraum“ (PS, 12). In den „Diskussionsprotokollen“ der Sitzungen des „Vereins für Sozialpolitik“ spricht er, wie schon erwähnt, von einer „Parzellierung der Seele“. Parzellierung, ein Begriff aus der Volkswirtschaftslehre, später auch in der Jurisprudenz, taucht erstmals prominent auf in Lenins „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ (1845).

3. Zur Theorie der Metapher Nach Blumenberg bewegen sich Metaphern auf dem Vorfeld der Nochnicht-Begrifflichkeit. Metaphern sind Vorformen von Begriffen. Während ein Begriff einem Geschehen ein „Gesicht“ gibt (Blumenberg 2007, 33), lässt die Metapher nur eine Ahnung davon aufkommen. Nach Blumenberg liegt der spezifische Sinn von Metaphern darin, etwas zu beschreiben, was noch nicht vollständig entwickelt ist oder sich nur undeutlich abzeichnet. Es ist noch nicht „be-griffen“. Metaphern sind also Ausdruck begrifflicher Verlegenheit oder positiv ausgedrückt: Hypothesen. Über die Zukunft lassen sich nur Hypothesen aufstellen. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Metapherndichte zunimmt in dem Maße, in dem Weber über Künftiges schreibt. Den Blumenbergischen Focus erweiternd, könnte man den Sinn von Metaphern auch darin sehen, bereits abgeschlossene, „be-griffene“ Entwicklungen zu überzeichnen. Metaphern können etwas, das schon „Gesicht“ ist, schärfer konturieren. Metaphern sind also „Versinnfälligungen“ oder „Verleiblichungen“, die eine heuristische Funktion haben sollen: Sie sollen eine „bessere“ Erkenntnis ermöglichen. Sie „verdeutlichen“ Forschungsergebnisse, indem sie möglichst plakative Analogien aufstellen und „wildern“ gleichsam in anderen semantischen Feldern, und zwar vornehmlich in solchen, die nicht einschlägig sind, aber trotzdem die Intention deutlicher hervortreten lassen. 7  So Habermas in seiner Weber-Interpretation (1981, 239 ff.). Siehe dazu auch Kap. 3.

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

Im Grunde ist diese Erweiterung schon bei Blumenberg angelegt. Sein Projekt einer „Metaphorologie“ beschreibt er als den Versuch, die „Sub­ struktur des Denkens“ zu erhellen (1998, 13). Einerseits charakterisiert Blumenberg die Metaphorologie mit einem vermutlich bei Heidegger entlehnten Begriff als „Halbzeug“ (1998, 29), sie hat also einen begrenzten Status; andererseits erhebt sie den Anspruch, die „Tiefe“ des Denkens freilegen zu können. Blumenberg weiß, dass dies nicht vollständig gelingen wird; es bleibt immer ein Restzweifel, ob die Freilegung gelungen ist. Blumenberg spricht vom „Mut der Vermutung“ und hält es für legitim, metaphorologisch das Denken zu entschlüsseln. Ich glaube zeigen zu können, dass sich anhand der Metaphern, die Weber benutzt, Substrukturen seines Denkens freilegen lassen. Aus den Metaphern (und, wie in Kapitel 6 ausgeführt, aus den „Briefen“) spricht sozusagen der „vollständigere“ Weber. Zugleich zeigen sie an, dass „Vorgänge“, die er untersucht, begrifflich nicht erfasst sind, vielleicht sogar nie erfasst werden können. Weber benutzt Metaphern, um über diese Verlegenheit hinwegzusehen. Schließlich gehen in sie Wertgesichtspunkte ein: Im Widerspruch zur selbst auferlegten „Wertfreiheit“ artikuliert sich in ihnen ein geheimes Wünschen und Wollen. Das zeigt sich bereits in der Antwort auf die Frage: Wann, wie und warum setzt Weber Metaphern ein? Häufig am Ende seiner Texte. Ganz im Sinne der antiken Rhetoriklehrer (vgl. Ueding 2005, 55 ff.), nutzt er den Schluss als letzte Gelegenheit, das eigene Anliegen überzeugungskräftig zu formulieren, um beim Adressaten einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Dann ist da noch ein anderes Motiv: Metaphern stehen für ein Ertasten, für ein vorsichtiges Sich-Nähern. In diesem (Blumenbergischen) Sinne sind sie Ausdruck von Unbegrifflichkeit oder Unbegriffenheit. Bisweilen sind die Übergänge der Einsatzarten fließend. Weber polarisiert, schärft mit Metaphern Konturen der Gegensätzlichkeit. Beispiele: „Gott und Teufel“, „Himmel und Hölle“, „Frühlingswärme“, „Polarkälte“. Weber steht in der Traditionslinie des Heraklit, der den Gegensatz als das bewegende Prinzip der Evolution betrachtet. Es sind die unversöhnlichen Gegensätze, die ihn interessieren.8 Damit grenzt er sich scharf von Hegel ab. Die hegelianische Denkfigur der Vermittlung ist Webers Denken zutiefst fremd. Stattdessen: These, Antithese, Ende. Webers Metaphern haben eine problematisierende, eine abschreckende Funktion. Wenn er das „stahlharte Gehäuse“ und eine allumfassende „Hörigkeit“ konstatiert, dann will er vor einem System lückenloser Abhängigkeit 8  So schon Mommsen 1981, der von der „antinomischen Struktur“ des Denkens von Weber spricht.



3. Zur Theorie der Metapher231

warnen, von dem er glaubt, dass es jegliche Freiheit im Keim erstickt. Die rein negative Perspektive ist auffällig. Er kann sich offensichtlich nicht vorstellen, dass ein gewisses Maß an Abhängigkeit auf anderen Ebenen Freiheit ermöglicht. Weber schreibt „Hörigkeit“, um den Zwangscharakter des Gehäuses zu unterstreichen. Anscheinend kann sich niemand diesem System entziehen, ausgenommen offenbar derjenige, der diesen Zwangscharakter erkennt. Diese Diagnose erinnert an Adornos Rede von der „total verwalteten Welt“ in der „Negativen Dialektik“, woran er die These vom „Ende des Individuums“ knüpft. Die Frage ist, warum und wie der Beobachter in der Lage sein soll, sich dem Bann dieser „total verwalteten Welt“ zu entziehen, wie unter den Bedingungen einer „total verwalteten Welt“ ein freies Urteil möglich sein soll. Was bei Adorno das „Ende des Individuums“ ist, ist bei Weber die Halbierung des „vollen und schönen Menschentums“ auf ein bloß funktionierendes, geist- und willenloses Menschentum; Adornos „Ende des Individuums“ ist bei Weber ganz ähnlich das „Nichts“ (RS I, 203; vgl. auch 205). An der Metapher vom „Gehäuse“ und dessen stählerner Härte kann man den apokalyptischen Grundzug in Webers Denken fassen. Die Konsistenz des Gehäuses verhindert jede Flucht. Der Einzelne ist gezwungen, in einem System lückenloser Abhängigkeit zu leben, und zwar scheinbar für alle Ewigkeit. Weber zitiert mehrmals Dante und die Aufschrift am Hölleneingang im Inferno-Kapitel der „Commedia“: „Lasciate ogni speranza!“ – „Darum, ihr Menschen, lasset alle Hoffnung fahren!“9 Die „Commedia“ ist nichts Komisches im modernen Sinne, sondern der Titel erklärt sich aus der zeitgenössischen Poetik, deren Grundsatz lautet: mit dem Abstoßenden sei zu beginnen, um zu schrecken und zu schockieren und um Maßstäbe aufzuzeigen, nach denen die Umkehr erfolge (vgl. Prill 1999, 126; Barth 2003, 12 ff.). Die „Commedia“ lässt sich als ein theologisches oder heilsgeschichtliches Werk lesen, in dem Dante einen Einblick in eine jenseitige Welt gestattet, die sonst niemand kennt. Der Dichter sieht sich im Besitz eines außergewöhnlichen Wissens und begreift sich als Heilbringer, dessen Erlösungswerk die „Commedia“ ist. Dabei scheint Dante dem Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies eine zweite Chance geben zu wollen, denn der Weg durch Hölle und Fegefeuer führt ins Paradies zurück.10 Dante versteht sich jedoch nicht nur als Dichter der jenseitigen Welt, sondern auch, so die be9  In der Antrittsvorlesung (1895) zum ersten Mal (PS, 13) und in „Wissenschaft als Beruf“ (1919) zum letzten Mal (WL, 588). 10  So die jüngere Dante-Forschung, vor allem Kablitz 2001, insbesondere 40, 52 u. 57. Vgl. auch Kablitz 1999, 355, dort die Deutung der Wanderung durch die Hölle als „Wiederholung der Erlösung“.

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rühmte Auerbach-These von 1929, als „Dichter der irdischen Welt“.11 Die „Commedia“ soll den Weg weisen aus der Verdammnis hin zu einer neuen Seligkeit, die nicht erst im Himmel, sondern schon in einer neuen Weltordnung zu finden sei. Weber kennt nicht nur die „Commedia“ gut, sondern auch die Sekundärliteratur. Dante wird in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg stark rezipiert. Er gilt vielen deutschen Intellektuellen als Projektionsfigur für Sehnsüchte außerhalb einer als leer und sinnlos empfundenen „Moderne“ (vgl. Mansen 2003, 14 ff.). Von Karl Vossler erscheint 1907–10 ein großer Dante-Kommentar. 1904 veröffentlicht derselbe Autor ein Buch über Dantes philosophische Grundlagen. Hier kommt Weber ins Spiel. Das Buch liest er, wie er dem Autor anvertraut, „dreimal“ (MWG II / 6, 72 f.). Vossler gehört in Heidelberg zu Webers engerem Bekanntenkreis. Webers Metaphern sind, so meine erste These, dantisch im Sinne der „Commedia“. Ich behaupte, Weber will im dantischen Sinne „schrecken“. „Hörigkeit“, „Gehäuse“, „das Nichts“ – das sind düstere Perspektiven, die zur Umkehr mahnen und zugleich Maßstäbe einer Alternative ausweisen. Webers Metaphern sind, so meine zweite These, blumenbergisch im Sinne von „Unbegrifflichkeit“. „Entzauberung“, Webers Schlüsselmetapher, lässt sich begreifen als Herantasten an Unbegriffenheit. Denn Weber kann nicht befriedigend erklären, wie das vonstatten geht: Entzauberung. Was geht wovon aus und mit welchen Wirkungen? Entzauberung ist diffus und unspezifisch. Entzauberung ist mystisch und magisch. Magie kommt vom griechischen mageía: Zauberei, Gaukelei, Blendwerk. Dinge, Ereignisse und Menschen können danach angeblich auf übernatürliche Weise beeinflusst werden. Verzauberung und Entzauberung haben etwas Unerklärliches. Wenn Weber von „Entzauberung“ und dann auch noch gleich von der Entzauberung „der Welt“ spricht, dann kommt dies auch einem Kapitulationseingeständnis als Wissenschaftler gleich. Welche Kräfte im Einzelnen wirken, welche sich neutralisieren oder gegenseitig verstärken, ob und in welcher hierarchischen Ordnung sie sich befinden, welche obsiegen, das kann nur modellhaft und hypothetisch aufgezeigt werden. „Entzauberung“ ist nicht entschlüsselbar. Im „Objektivitätsaufsatz“ artikuliert Weber seine grundlegenden Zweifel an der Möglichkeit, „die Welt“ zu erfassen. Dort spricht er vom „ungeheuren chaotischen Strom von Geschehnissen“ (WL, 214), von der „unendlichen Fülle“ der Tatsachen (WL, 213), von „Konstellationen“, die sich aus welchen Gründen auch immer zu „bedeutsamen Kulturerscheinungen“ verdichten (WL, 174). Formulierungen wie „Gewirr“ oder „Knäuel“ bringen die unüberwind11  Zusammenfassend dazu das „Nachwort“ in der Neuausgabe Dante 2001, 223 ff.



4. „Moderne“ oder „Zukunft“?233

baren Probleme kausaler Analyse zum Ausdruck. Webers Idealtypen, die nicht empirisch, sondern konstruiert sind, versuchen, die „Wirklichkeit“ einzufangen. Metaphern sind Ausdruck der Unbegriffenheit von Entwicklungen, die zu begreifen vermutlich auch unmöglich ist.

4. „Moderne“ oder „Zukunft“? Wenn in der Literatur Webers Erwartungen von der Zukunft zur Sprache kommen, dann im Kontext einer von ihm angeblich geschriebenen „Theorie der Moderne“.12 Der Begriff der „Moderne“ taucht in seinem Werk jedoch nicht auf; er scheint ihn sogar zu meiden. In den elektronisch erfassten Schriften findet sich keine Nennung, allerdings spricht Weber vom „modernen Staat“, vom „modernen kapitalistischen Großbetrieb (WG, 655), der „modernen wissenschaftlichen Theorie (WG, 651), der „modernen Musik“ und der „modernen europäischen Kulturwelt“ (RS I, 1). Dies könnte darauf hindeuten, dass ihm der Begriff der Moderne zu unspezifisch ist. Dieser Eindruck lässt sich mit einem Blick in die Begriffsgeschichte untermauern. Die Wortgeschichte der „Moderne“ ist eine Geschichte der Begriffsvieldeutigkeit. Noch bis an die Schwelle des 18. Jahrhunderts gilt als „modern“, was der Antike möglichst nahe ist. Das Substantiv gibt es damals noch nicht, sondern nur den adjektivischen Gebrauch. Mit der „Querelle des Anciens et des Modernes“ ab 1687 beginnt sich ein anderes Verständnis von „modern“ herauszubilden. „Modern“ ist nicht länger, was der Antike nah, sondern was ihr entgegengesetzt ist. Diese Bedeutungsverschiebung hat etwas mit dem Wandel der Geschichtsvorstellung von einem zyklischen zu einem Modell des „Fortschreitens“ zu tun. Ende des 18. Jahrhunderts wird die „Moderne“ zum eigenständigen Epochenbegriff. Zugleich wird „modern“ aufgefasst als zu etwas in Relation stehend, d. h. was modern ist, befindet sich im Wandel. Ab etwa 1850 rückt die Moderne und was sie ausmacht in ein negatives Licht. Richard Wagner zum Beispiel verbindet damit das Judentum und das Geld,13 Nietzsche die „Vermittelmäßigung“. 12  Ein Beispiel ist die Arbeit von Schluchter über die „Unversöhnte Moderne“ (1996), der ebenso wenig wie Habermas (1981) oder Peukert (1989) problematisiert, dass Weber von einer „Moderne“ gar nicht spricht. Auch in den Weber-Einführungen von Heins (2004, 100 ff.) und Müller (2007, 250) kommt dies nicht zur Sprache. Peukert macht zumindest indirekt auf das Problem aufmerksam: „Max Weber hat uns keine formelhafte Definition seiner Epoche, unserer Moderne hinterlassen …“ (1989, 64 – kursiv v. mir). 13  Zu Richard Wagners politischer Theorie, die sich nicht zuletzt in seinem Opernwerk widerspiegelt, vgl. Bermbach 2004.

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Das erste „Manifest der Moderne“ stammt von Eugen Wolf, dessen „Thesen zur literarischen Moderne“ die Aufgabe des Dichters darin sehen, der Zukunft „prophetisch vorzukämpfen“ (Gumbrecht 1978, 121). Die Moderne bekommt etwas Prospektives bis hin zu dem, was heute als „Projekt der Moderne“ ausgerufen wird, das es zu „vollenden“ gelte. Zunächst jedoch macht die „Moderne“ eine Krise durch. Das „Wörterbuch der Philosophie“ (1910) stellt fest, die Moderne sei begrifflich nicht zu fassen. Ihre Zersplitterung wird mit ihrem Zerfall gleichgesetzt. Nietzsche macht sich in „Jenseits von Gut und Böse“ (1886) die „Kritik der Modernität“ zur Aufgabe (Ecce Homo, KSA 6, 350). Ferdinand Tönnies thematisiert in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) die Ambivalenz der Moderne. Er kritisiert die „moderne“ Verabsolutierung der instrumentellen Rationalität und meint, heute drohe das Band zwischen Ratio und Leben zu zerreißen. Sein Gemeinschaftsbegriff erfüllt als Platzhalter eine kritische Funktion. Er steht dafür, was in der Moderne nicht ausreichend zum Zuge kommt. Tönnies’ Kritik ist nicht antimodern, er kontrastiert jedoch die „urtümliche“ Gemeinschaft mit der kalten, von Geldbeziehungen beherrschten Gesellschaft. Seine Kritik zielt auf Ausgleich des Defizits gemeinschaftlicher Orientierung in der modernen Gesellschaft.14 Weniger auf einen Kompromiss als vielmehr auf eine Fundamentalkritik der Moderne zielt Alfred Weber. Inspiriert von der Lebensphilosophie, will er das „stahlharte Gehäuse“, das sein älterer Bruder diagnostiziert, sprengen. Alfred Weber fürchtet die Entstehung eines „Vierten Menschen“, dem nichts anderes bleibe, als sich der Technokratie und den bürokratischen Sachzwängen zu beugen. Seine Kulturkritik richtet sich gegen die moderne Technik und dagegen, was die zeitgenössische Sprache unter „Zivilisation“ versteht: das „bloß“ Technische, das für den „rationalen“ Geist steht und als Antithese zur (deutschen) „Kultur“ gilt. Ein Schlüsseltext dafür ist Alfred Webers Aufsatz „Der Beamte“ (1910). Darin polemisiert er gegen das „Streben nach Karrieremachen“ und die „Sehnsucht, versorgt zu sein“, die er als typisch für eine „neue Daseinsform“ ansieht, die aus „Kammern, Fächern und Unterfächern“ bestehe (2000, 98 f.) Er fürchtet sich vor einer „Maschinerie“, in deren „ungezählten Kammern unsere Seele wie in Katakombenhöhlen … stirbt“ (2000, 112). Immerhin eröffnet er zum Ende die Perspektive einer Kultur, die doch ein Stück Freiheit bewahren könnte (2000, 117). Die Aufgabe der Wissenschaft sieht er in der orientierenden Wertevermittlung. Der Adressat ist der freie und selbstverantwortliche „Dritte Mensch“. 14  Vgl. Bickel 1999, bes. 118 ff. Weber schätzte Tönnies als integre Person. Die an ihn adressierten Briefe haben einen vertraulichen Ton, man denke an das Eingeständnis „religiöser Unmusikalität“, das Weber gegenüber Tönnies äußert.



4. „Moderne“ oder „Zukunft“?235

Max Weber hält im Gegensatz zu seinem Bruder das „Gehäuse der Hörigkeit“ für nicht mehr überwindbar.15 Seine Aufgabe sieht er nicht darin, dem modernen Leben den Rücken zu kehren, wie es sein Bruder, die Jugendbewegung oder die „Literatenpolitiker“ tun.16 Vielmehr tritt er dafür ein, in innerweltlicher Askese das moderne Leben in Gesellschaft und Gemeinschaft, in Staat und Politik zu analysieren, um so ein größeres Problembewusstsein zu erzeugen. Er will die Voraussetzungen dafür schaffen, „dicke Bretter“ erfolgreich bohren zu können. Dabei ignoriert er keineswegs, was man mit Peter Wagner (1996 und 2009) die „erste Dekonstruktion der Moderne“ nennen könnte. Diese Erfahrung steht vielmehr hinter seinen Überlegungen. Ausdrücklich thematisiert Weber die spezifische Leere, die Dekonstruktion der Vorstellung, „dass“, in den Worten der „Zwischenbetrachtung“, „die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll geordneter Kosmos sei“ (RS I, 564; vgl. dazu auch Kap. 2). Doch welche Konsequenz ist daraus zu ziehen? „Weltablehnung“, wie sein Bruder oder auch Bloch und Lukács? Oder „Weltflucht“, wie der Mystiker oder der Strenggläubige? Oder „Weltbejahung“? Ich möchte zeigen, dass Weber die Welt in einer spezifischen Weise „bejaht“. Dass er nicht von der „Moderne“, sondern von „Zukunft“ spricht, könnte daran liegen, dass er kein „Parteigänger“ eines „Projekts“ sein will. „Moderne“ ist für Weber wie „Staat“ oder „Nation“ ein metaphysisch aufgeladener Kollektivsingular, den er als antiessentialistischer Denker ablehnt. Der Begriff der „Zukunft“ hingegen ist inhaltlich offen und unbestimmt. Erstaunlich ist es trotzdem, dass sich Weber mit der Zukunft auseinandersetzt. Ich möchte hier auch dem paradoxen Befund nachgehen, dass seine Wissenschaftskonzeption strikt gegenwartsbezogen und empirisch ist – man denke an den Terminus „Wirklichkeitswissenschaft“ oder an die Formulierung vom „So-und-nicht-anders-Gewordensein“ –, dass seine Arbeiten aber trotzdem eine Vielzahl von Aussagen über die Zukunft enthalten. Ich möchte einem zweiten und damit zusammenhängenden Befund nachgehen: Dass Webers Werk strikt anti-metaphysisch ist und sich gegen jede geschichtsphi15  Zu den Differenzen zwischen Max und Alfred Weber vgl. Schluchter 2005, der meint, man könne sich keine „größeren Gegensätze“ denken (2005, 199). Während es Max Weber um eine Modifikation des Kantianismus gehe, wolle Alfred Weber ihn „zerschlagen“ (2005, 132). Der „Kantianismus“ ist für Schluchter Sinnbild für Organisation und Ordnung, für die Unterdrückung von Spontaneität. Den „Verstandesapparat“ wolle Alfred Weber zugunsten des „Selbstzwangsapparates“ auflösen. 16  In einem Brief an Hermann Onken spricht er sogar vom „Literatenpack“, das das „politisch unreifste von allen unseren Schichten“ sei (Brief v. 20. April 1917, MWG II / 6, 619).

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losophische Spekulation sperrt, dass er dann aber tendenziell einer Art „Geheimlehre“ anzuhängen scheint, die in einem engen Zusammenhang mit dem Denken Nietzsches steht.

5. Begriff der Zukunft Zukunft ist, so das Grimmsche Wörterbuch, „der auf die Gegenwart als folgend gedachte Zeitraum“ (Bd. 16, 1954, S. 479) oder kurz: „die kommende Zeit der Geschichte“ (Hölscher 2002, 342). „Zukunft“ wird ursprünglich nur in einem räumlichen Sinne gebraucht („herankommen“). Die heutige Bedeutung entsteht erst im 18. Jahrhundert und beinhaltet die Vorstellung von auf den Betrachter „zukommenden“ Ereignissen. „Zukunft“ im zeitlichen Sinne entwickelt sich in dem Maße, wie mit der Aufklärung das Selbstbewusstsein des Menschen erwacht und dieser für sich in Anspruch nimmt, auch die Zukunft vorhersagen zu können. Um seinem Anspruch gerecht werden zu können, entwickelt er eine spezifische Methodik, aus der hervorgeht, was heute „empirische Sozialforschung“ heißt. Ursprünglich ist diese ein Hilfsmittel der merkantilistischen Staatsverwaltung im 17. und 18. Jahrhundert; Handel, Märkte und Geldwirtschaft setzen präzise Aufzeichnungen und Zählungen voraus. Es werden, wie es damals heißt, „Staatsmerkwürdigkeiten“ gesammelt (vgl. Kern 1982, 19 ff.). Darunter sind vor allem demographische, geographische und ökonomische Daten zu verstehen. „Die Statistik ist das Budget der Sachen, und ohne Budget keinerlei Staatswohl“, meint Napoleon (Kern 1982, 25). Eine Schlüsselstellung hat der Belgier Adolphe Quetelet, der von der Messbarkeit des Sozialen ausgeht und dafür die Bezeichnung „Moralstatistik“ prägt. Die „Moralstatistik“ soll dem Gesetzgeber eine „bessere“, auf Informationen beruhende Politik ermöglichen. Es werden die unterschiedlichsten Daten erhoben, so auch die Zahl der nichtehelichen Kinder und Selbstmorde. Ein wichtiger Beitrag stammt von Émile Durkheim, der bei seinen Studien über den Selbstmord (1897) auf gerade diese „moralstatistischen“ Daten zurückgreift.17

6. Was heißt „empirisch“? Als soziologische Disziplin entwickelt sich die empirische Sozialforschung erst im transatlantischen Austauschprozess mit den Vereinigten Staaten.18 Berühmte Vorläufer sind die Enquêten des „Vereins für Sozialpoli­ 17  Ein kurzer Überblick über die Ursprünge der Sozialforschung auch bei Weischer 2007, 18 ff. Die immer noch beste Darstellung bei Kern 1982. 18  Dazu die empirische Studie von Fleck (2007), die zeigt, dass die Austauschprogramme der Rockefeller Foundation eine ungleich größere Wirkung für die Ent-



6. Was heißt „empirisch“?237

tik“. An ihnen beteiligt sich Weber in führender Weise. Die Untersuchung zur sozialen Lage der Landarbeiter im Osten des Deutschen Reiches begründet seine akademische Karriere. In seiner Antrittsvorlesung „Der Natio­ nalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ zeigt er, dass die erhobenen Daten eine eminent politisch-praktische Bedeutung haben können, wenn er nämlich vor einem „Ausbluten“ der östlichen Regionen und „fremder“ Einwanderung warnt. Allerdings verfolgt Weber den Ansatz einer gegenseitigen Durchdringung und Befruchtung von empirischer Erhebung und praktischpolitischer Folgerung nicht systematisch weiter. Nach den Landarbeiterstudien macht er sich nur noch zweimal die Mühe empirischer Feldforschung: zum einen in den „Erhebungen über Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie“ (1907) und zum anderen in der Abhandlung „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ (1908 / 09). Die „Erhebungen“ verstehen sich, wie er einleitend schreibt, als „sachliche und objektive Feststellung von Tatsachen“ darüber, wie industrielle Arbeit den außerberuflichen Lebensstil und die physischen und psychischen Anlagen des Einzelnen beeinflusst. Umgekehrt soll herausgefunden werden, inwieweit die Industrie von Tradition und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft abhängig ist (MWG I / 11, 80 f.). Die Psychophysik-Abhandlung versteht sich eigentlich als „Literaturübersicht“, enthält jedoch eine empirische Erhebung über die psychophysischen Bedingungen von Arbeitsleistungen. Weber begibt sich auf das Gebiet der Experimental- und Arbeitspsycho­ logie. Stichwörter der Untersuchung sind „Ermüdung“, „Erholung“, „Leistungsfähigkeit“, „Willensantrieb“, „Pausenwirkung“, „Muskeln“ und „Mono­ tonie“, „Arbeitsleistungsschwankungen“ und geschlechtsspezifische Merkmale als Einflussfaktoren. Beide Studien haben, worauf Schluchter / Frommer (1995, 4 ff.) hinweisen, neben ihrer Bedeutung als frühe Texte empirischer Sozialforschung eine wichtige Binnenfunktion: Sie tragen zur Herausbildung der Konzeption „Verstehender Soziologie“ bei, bereiten den Boden für die Methodologie und stehen in einem materialen Zusammenhang mit der ersten Protestantismusstudie, insofern Weber in der Psychophysik-Studie nach den Anforderungen an den Arbeiter im Kapitalismus fragt, während die Protestantismusstudie die ethisch-ideellen Voraussetzungen des Kapitalismus thematisiert. Der Mehrwert dieser Studien dürfte allerdings erst für heutige Interpreten erkennbar sein. Für Weber sind sie ursprünglich kein Türöffner für eine originäre Konzeption von Soziologie; sie sind keine „Vorarbeiten“ für eine noch zu entwickelnde systematische Soziologie. Webers frühes wissenschaftliches Werk ist in thematischer Hinsicht eher sprunghaft und scheinbar wicklung der empirischen Sozialforschung hatten als die Emigration von europäischen Wissenschaftlern nach Amerika (vgl. 2007, 10).

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

ohne inneren Zusammenhang. Doktorarbeit und Habilitationsschrift behandeln Probleme der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Antike. Es folgt die empirische Arbeit im Zusammenhang mit den Enquêten, und 1894 begibt er sich auf ein für ihn ganz neues Arbeitsfeld: Es entstehen die Börsenschriften, ein Thema, das ihn ab 1998 nicht weiter beschäftigt. Bis zur Arbeit an der „Protestantischen Ethik“ gibt es keine „innere Logik“ in seinem Werk; erst die erste religionssoziologische Studie führt zu jener Fragestellung, die in eine vergleichende Analyse der Weltreligionen und in eine Sphärentheorie der okzidentalen, westlichen Gesellschaften mündet. Dass er sich von der rein empirischen Arbeit zunehmend abwendet, könnte mit der aufzubringenden Anstrengung zu tun haben. Bereits die Fragebogen-Auswertung für die Psychophysik-Studie macht Weber nicht selbst, sondern überlässt sie wissenschaftlichen Mitarbeitern. Auch das Material der Landarbeiter-Enquête von 1893 werten, Jahre später, fünf seiner Doktoranden aus.19 Die Protokolle der Sitzungen des „Vereins für Sozialpolitik“ dokumentieren einen Unwillen, fast schon Widerwillen Webers (vgl. Kern 1982, 100). Am Ende der Psychophysik-Arbeit hält er den hohen Arbeitsund zeitlichen Aufwand fest, ohne dass es zu tragfähigen Resultaten gekommen sei (MWG I / 11, 380). Trotzdem lässt er nicht ganz davon: Auf dem 1. Deutschen Soziologentag 1910 schlägt er eine Enquête über das Zeitungs- und eine über das Vereinswesen vor. Der zweite Vorschlag wird nicht aufgegriffen, die Presse-Enquête hingegen kommt zunächst zustande, scheitert dann jedoch weniger am Geld als vielmehr an der mangelnden Bereitschaft von Verlegern und Presseunternehmen, ihre Geschäftsbücher zu öffnen und Interna preiszugeben.20 Wenn sich Weber auch von der „reinen“ empirischen Arbeit abwendet, versteht er sich doch als empirischer Forscher. Seine Schriften sind in einer spezifischen Art und Weise empirisch orientiert: Weber transponiert empirisches Material, das er in Bibliotheken findet, in eine soziologische Begriffswelt, und daran knüpft er Deutungen. Die Aufsätze im ersten Band der religionssoziologischen Aufsätze etwa stützen sich auf Handbuchartikel und eine Reihe von einschlägigen historischen Standardwerken sowie zu einem beträchtlichen Teil auf dokumentarische und auch literarische Quellen. Die systematischen Texte „Vorbemerkung“, „Einleitung in die Wirtschaftsethik 19  Aldenhoff-Hübinger (2009, 15) in ihrer Einleitung zu Webers Vorlesungen über „Arbeiterfrage und Arbeiterbewegung“. 20  Die Enquête, so wie sie Weber vorschlägt, hätte auch eines größeren Mitarbeiterstabs bedurft. Weber hat sich jedoch nicht in der Rolle eines Koordinators gesehen (die er sich dann beim „Grundriss der Sozialökonomik“ bzw. „Wirtschaft und Gesellschaft“ doch zu übernehmen gezwungen sah).



6. Was heißt „empirisch“?239

der Weltreligionen“ und die „Zwischenbetrachtung“ basieren auf historischempirischen Fundamenten. Aus ihnen leitet Weber ab, dass bestimmte Entwicklungen „so und nicht anders“ eintreten mussten. In der „Zwischenbetrachtung“ führt er die „empirische und vollends die mathematisch orientierte Weltbetrachtung“ als Erklärung dafür an, dass die Religion zunehmend „aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale“ verdrängt werde (MWG I / 19, 512). Weber schildert dies so, als handle es sich geradezu um einen natürlichen, notwendigen Prozess. Einige Seiten später ist es die „Kultur“, sprich das „Heraustreten des Menschen aus dem organisch vorgezeichneten Kreislauf des natürlichen Lebens“, die eine „immer vernichtendere Sinnlosigkeit“ nach sich zieht und zu einem Leben „im Dienst wertloser und überdies in sich überall widerspruchsvoller und gegeneinander antagonistischer Ziele“ führt (MWG I / 19, 519). Weber scheint sich durchaus bewusst zu sein, dass derart weit reichende Schlussfolgerungen Widerspruch provozieren könnten. In der „Vorbemerkung“ räumt er deshalb vorsorglich eine gewisse methodische Willkür ein. Seine Analysen hätten lediglich provisorischen Charakter und seien dazu bestimmt, „bald ‚überholt‘ zu werden“, wie überhaupt der „Sinn“ wissenschaftlicher Arbeit darin bestehe, immer neue Erkenntnisfortschritte zu ermöglichen (RS I, 13 f.). Man kann darin auch den Versuch sehen, sich gegen Kritik zu immunisieren. Weber nimmt vorweg, dass die empirischen Belege nicht hinreichen könnten, aber dieses mögliche Defizit soll nicht gegen seine Forschung sprechen. Interessant ist, dass an jenen Stellen, an denen Weber Schlussfolgerungen zieht und Erwartungen über künftiges Geschehen äußert – auch „Bürokratisierung“ wäre ein Beispiel dafür –, verstärkt Metaphern auftreten. Die Metapherndichte nimmt zum Ende der Texte zu, und es sind regelmäßig diese Schlusspartien, die über die Zukunft handeln. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Arbeiten, die man mit Peukert (1989, 33) als „wissenschaftliche Essayistik“ bezeichnen könnte. Die beiden Vorträge über „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ gehören dazu. Doch gerade auch die „Protestantische Ethik“, der Wertfreiheitsaufsatz oder der über die „,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ enthalten essayistische Einschübe. Wenn sich Weber über Erwartungen an die Zukunft äußert, dann in quasi vorwissenschaftlicher Sprache, sprich: in Metaphernform. Immer dann, wenn eine Aussage den Charakter einer Erwartung hat und sich empirisch (noch) nicht „decken“ lässt, benutzt Weber Metaphern. Ein bestimmtes Muster ist erkennbar: Weber konstatiert einen bestimmt Trend, „Bürokratisierung“ zum Beispiel. Daran knüpft er eine bestimmte Erwartung von der Zukunft, zum Beispiel „Freiheitsverlust“. Daraus wird, metaphorisch ausgedrückt, die „Parzellierung der Seele“ oder das „stahlharte Gehäuse“.

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

Weber arbeitet in seinen Texten häufig mit Extrapolationen. Diese basieren auf subjektiven Trendeindrücken, die zu generellen (Vor)Aussagen gesteigert werden. Webers Zukunftserwartungen resultieren aus Extrapolationen. Bürokratisierung ist für ihn gleichbedeutend mit einem Verlust an Freiheit, Intellektualisierung mit der Entwertung der Religion. Extrapolationen sind Aussagen über den gesicherten Bereich hinaus und können sich als falsch erweisen. Sie sind im Rahmen einer streng empirisch orientierten verfahrenden Soziologie eigentlich nicht legitim. Daran zeigt sich, wozu Weber Metaphern auch dienen: um von der eigenen Wissenschaft nicht gedeckte Aussagen trotzdem zu treffen.

7. Zukunftserwartungen Im „Objektivitätsaufsatz“, der die Unmöglichkeit von Prognosen und die Relativität aller Erkenntnis feststellt, sagt Weber, im Widerspruch dazu stehend, eine „dunkle Zukunft der menschlichen Kultur“ voraus (WL, 213). Im ersten Russlandaufsatz von 1905 wirft er einen Blick auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung der USA, von Russland und Deutschland und steigert seine Beobachtungen geradezu „zu geschichtsphilosophischen Reflexionen von weltgeschichtlichem Zuschnitt“ (Mommsen, 1989 a, 13). Weber schreibt: „Überall ist das Gehäuse für die neue Hörigkeit fertig.“ (MWG I / 10, 269). Mehrfach gebraucht Weber die Metapher vom „Gehäuse“: Die berühmteste Stelle ist jene am Ende der ersten Protestantismusstudie in Verbindung mit dem Adjektiv „stahlhart“ (RS I, 204). Am Ende des älteren Teils von „Wirtschaft und Gesellschaft“ benutzt er die Metapher explizit im Hinblick auf die „Zukunft“ (WG, 835) und bezieht sie vor allem auf die bürokratische „Durchorganisation“ der modernen Gesellschaft. Als drohende Zukunft („vielleicht dereinst“) zeichnet er das Bild einer „Fellachisierung“ des modernen Lebens. Die Fellachen sind die Nachkommen der Alten Ägypter, die gezwungen sind, ein unfreies und normiertes Leben zu führen, das keine individuelle Entfaltung zulässt. „Fellachisierung“ steht für Rückständigkeit und Gleichförmigkeit, für eine straffe Ordnung, die keine Innovation zulässt und in der jeder Einzelne ein Rädchen ist im großen Getriebe (WG, 835; auch PS, 332). Die Stelle im Russlandaufsatz ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie die Fellachisierung als ein universelles Phänomen („überall“) beschreibt. Weber behauptet eine tragische Zwangsläufigkeit des Geschichtsprozesses. Danach werden „alle“ modernen Gesellschaften früher oder später zu „Gehäusen“. Einen anderen Akzent legt eine Formulierung in der „Zwischenbetrachtung“ von 1920: Weber stellt die Diagnose einer „Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit“ (MWG I / 19, 520). Wiederum übertreibt er. Man kann nicht



7. Zukunftserwartungen241

sagen, dass nur zum Lebensende hin, als Folge etwa eines „Alterspessimismus“, jene düsteren Zukunftserwartungen zum Ausdruck kommen. Die These von der „Unbrüderlichkeit“ klingt, nur in anderen Worten, bereits in der „Methodologischen Einleitung für die Erhebungen über Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft“ (1908) an. Das „Prinzip der privatwirtschaftlichen Rentabilität“ ist für ihn dort eine Verkehrsform, die die Herausbildung von Solidarität unmöglich macht (GAzSS, 60). Weil die düsteren Diagnosen durchgängig sind und vor allem in den TextSchlusspassagen zum Ausdruck kommen, nennt Radkau Weber einen „Unheilpropheten“ und „finsteren Geist“, nicht unverwandt mit Spengler und dessen „heroischem Fatalismus“, genau wie jener „kühne Gedankensprünge“ absolvierend (Radkau 2005, 766). Die Parallelen sollte man jedoch nicht überbewerten. Es gibt grundlegende Differenzen, die zum Teil in einem öffentlichen Streitgespräch zutage treten, das Spengler und Weber 1920 im Münchner Rathaus führen. Anschließend nennt Weber Spengler zwar „geistvoll“ und „gelehrt“, aber doch auch einen „Dilettanten“, der die Ergebnisse historischer Forschung „in seine spekulativen Konstruktionen presst“, so Marianne in ihrem „Lebensbild“ (1927, 685). Weber wirft Spengler vor, dass seine Ergebnisse bereits feststünden, ohne entsprechende Erhebungen angestellt zu haben. Ein anderer Beobachter, nämlich Thomas Mann, der 1919 bei einer Feier in München Bekanntschaft mit Weber macht, berichtet in einem Brief von „gewaltigen Schmähungen“ Webers, und zwar wegen Spenglers „Über-Gewagtem“ in der Geschichtskonstruktion. Thomas Mann selbst bekennt sich damals zu Spengler, der auf ihn einen „tiefen, geheimnisvollen Eindruck“ macht. Er sieht in ihm einen Geistesverwandten, der wie er selbst die „Zivilisierung, Rationalisierung und Utilitarisierung des Abendlandes“ im „englisch-amerikanischen“ Geist als Zeichen einer untergehenden Kultur deute. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) kommt Manns zeitweiliges antirationalistisches und antiwestliches Ressentiment deutlich zum Ausdruck. Dieses Buch versteht sich ausdrücklich als „Gedankendienst mit der Waffe“ (Mann 1983, 9).21 21  Thomas Manns Begeisterung für Spengler kehrt sich ab etwa 1920 um. Er entfernt sich vom ästhetizistischen Pessimismus und propagiert die „Utopie einer befriedeten Menschheit“. „Beiseitestehen wird durch Darüberstehen ersetzt“, so Wysling (1982, 206). Zu Manns Vorstellung des Politischen vgl. die Studie von Gut (2008). Als Dreh- und Angelpunkt des Denkens des frühen Thomas Mann macht Gut die Differenz zwischen „deutscher Kultur“ und „westlicher Zivilisation“ aus (52 ff.). Während „Kultur“ für Geist, Kreativität, Lebensunmittelbarkeit und „Männlichkeit“ steht, so „Zivilisation“ für „Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Skeptisierung, Auflösung“ (so Mann in „Gedanken im Kriege“ von 1914). Interessant ist, wie vielfältig die Einflüsse sind, die Mann in seinem Werk verarbeitet, und wie tief die

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

Darin liegt der Hauptdifferenzpunkt zu Weber, der den modernen, westlichen Rationalismus nicht verdammt, sondern seinen ambivalenten und bedrohlichen Charakter herausarbeitet. Ein anderer Differenzpunkt ist das spekulative Moment, das bei Spengler programmatisch ist, bei Weber jedoch gleichsam nur aus „Versehen“ zum Tragen kommt. Es findet sich in den essayistischen Einschüben, meist am Ende der Texte. Man könnte sagen, Weber hat es im Grunde versäumt, diese Einschübe zu eliminieren, während Spengler das spekulative Moment zum Prinzip erhebt. Aus diesem Grund sieht auch Thomas Mann im „Untergang des Abendlandes“ einen „intellektuellen Roman“, der ein Lebensgefühl wiedergibt, aber eben keinen wissenschaftlichen Anspruch erfüllt (zit. nach Wysling 1982, 203). Spengler selbst versteht sein Buch als eine „von allen dunkel vorgefühlte Philosophie der Zeit“. Er wünscht sich, dass es „neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen“ möge.22 Den Eliten des Okzidents empfiehlt Spengler, sich mit dem „Satanismus der Maschine“ zu arrangieren. Dieser Aufruf zu einer Form des Heroismus ist Weber zwar nicht fremd; unter Nietzsches Einfluss stehend, entwickelt er eine ähnliche Position (vgl. unten). Auch das Charisma-Konzept kann in diesem Lichte gelesen werden. Worauf Wolfgang Mommsen immer wieder aufmerksam macht, ist das „Helden- und Führerdenken“ zeittypisch. Aber unvereinbar mit Weber ist Spenglers antimodernes und antiwestliches Motiv. Spengler sieht sich in der Rolle desjenigen, der das intellektuelle Marschgepäck liefert für eine noch ausstehende „Abrechnung“ mit den angeblichen „Totengräbern“ des Abendlandes. Weber ist weit davon entfernt, einem „Krieg der Kulturen“ bzw. genauer: einem „Krieg der (deutschen) Kultur gegen die (westliche) ZiviliSpuren, die sie hinterlassen. Mann verarbeitet die Schriften des Kulturhistorikers Karl Lamprecht, der als einer der Urheber der polaren Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation gilt, oder Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ (1890), ein Buch, das in zwei Jahren 39 Auflagen erreicht. Um 1900 ist die Antithese von Kultur und Zivilisation das „beliebteste Deutungsmuster“ (Gut 2008, 49 f.). Insofern ist bemerkenswert, dass es bei Weber keine Rolle spielt. Es wäre interessant, das Verhältnis Webers zum „Zeitgeist“ noch genauer zu untersuchen, dabei auch einen Vergleich mit Spengler und Thomas Mann anzustellen. Während letzter abfällig von den „Zivilisationsliteraten“ spricht (und damit vor allem seinen Bruder Heinrich meint), polemisiert Weber gegen die „Literatenpolitiker“. Die Differenzen zwischen beiden wären genauer zu untersuchen. Zu diesem Thema gibt es Hinweise bei Radkau (2005), aber bis auf eine kurze Analyse von Lepenies (1985, 357 ff.), der Manns Interesse an Weber in dessen Eigenschaft als „Mann der Selbstbeherrschung“ begründet sieht, steht eine gründliche Untersuchung aus. 22  So Spengler im Vorwort von 1917. Der erste Teil vom „Untergang des Abendlandes“ ist 1919 erschienen, der zweite Teil 1922. Die beiden Zitate in Spengler 1919, VII bzw. VIII. Das Buch war wiederholt auch Gegenstand der Diskussion in Webers Seminaren an der Universität München 1919.



7. Zukunftserwartungen243

sation“ das Wort zu reden, auch wenn er den Ersten Weltkrieg (zunächst und wie die meisten Professoren und Intellektuellen) begrüßt. In seiner Ablehnung eines solchen Kriegs dürfte seine grundsätzliche Affinität zum „angelsächsischen Geist“ eine Rolle spielen (dazu Kap. 7). Insgesamt ist Webers „weltanschauliche“ Position in dieser Zeit nicht leicht zu verorten. Wenngleich „religiös unmusikalisch“, entwickelt er in den letzten Lebensjahren ein großes Interesse am mythischen Denken, und Marianne berichtet, dass er um 1920, wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits erwähnt, einem kleinen Kreis von Intellektuellen anbietet, bei der Gründung eines kommunistischen Gemeinwesens in Sibirien als „volkswirtschaftlicher“ Berater zur Seite zu stehen (Lebensbild, 687 f.). Wenn hier Weber als ein Denker mit dem Hang zur geschichtsphilosophischen Spekulation und zu intuitiver Zeitdiagnostik vorgestellt wird, dann steht dies im Widerspruch zu seinem Selbstbild. Weber sieht sich als Kritiker alles Spekulativen, alles Konstruierten und der Geschichtsphilosophie, vor allem in ihrer „idealistischen“ Variante, deren Vertreter er in Hegel sieht. Webers polemische Rezension eines Buches von Rudolf Stammler zeigt, wogegen er sich wendet. Stammler ironisiert er als „unseren Geschichtsspiritualisten“ (WL, 296), dessen „Überwindung“ des historischen Materialismus aus „einem wahren Dickicht von Scheinwahrheiten, Halbwahrheiten, falsch formulierten Wahrheiten und hinter unklaren Formulierungen verdeckten NichtWahrheiten“ bestehe (WL, 292). Dies ist nicht nur ein Beispiel für Webers Streitlust, es lässt sich kritisch fragen: Wenn Stammler ein „Geschichtsspiritualist“ ist, was ist dann Weber? Auch seine Zukunftserwartungen fußen auf Impression und spekulativer Wahrnehmung. Er geht über die empirische und praktische Erfahrung hinaus und macht sich keineswegs unvoreingenommen an die „Geschichtsdeutung“, sondern nimmt geradezu eine negative Zwangsläufigkeit des Geschichtsprozesses an. Weber sieht die Existenz der modernen Kultur aufs Spiel gesetzt, vor allem als Folge eines entfesselten Kapitalismus, eines zwanghaften Erwerbstriebs, der Bürokratisierung, eines radikalen „Fortschritts“. Der Kapitalismus ist „die schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens“, heißt es in der „Vorbemerkung“ zum ersten Band der religionssoziologischen Schriften (RS I, 4). Dabei geht Weber nicht unbedingt davon aus, dass es sich bei der modernen, durch den Kapitalismus geprägten Kultur um ein lernfähiges System handelt. Bei allem Vorbehalt gegenüber mündlicher Überlieferung sei auf eine Auskunft von Werner Sombart verwiesen. Im letzten Kapitel seines Buches „Der moderne Kapitalismus“, überschrieben mit „Das Wirtschaftsleben der Zukunft“, berichtet Sombart, dass Weber auf die Frage, wann denn der „Hexensabbat“ in den kapitalistischen Ländern ein Ende nehmen würde, geantwortet habe: „Wenn die letzte Tonne Erz mit der letzten Tonne

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

Kohle verhüttet sein wird“ (Sombart 1987, 1010). Das könnte man so deuten, dass Weber offensichtlich der Auffassung ist, ein Neuanfang sei nur möglich, wenn ein Untergang vorangehe. Eine in diesem Zusammenhang interessante Stelle findet sich in der Rezension einer Aufsatzsammlung seines Freundes Friedrich Naumann. Er kritisiert Naumanns „aprioristischen Optimismus“ (und lässt sich davon vielleicht sogar zum Gegenteil inspirieren: zu einem „aprioristischen Pessimismus“). Es folgt ein Satz, der aus dem Kontext der Besprechung heraus fällt, sich jedenfalls nicht aus der Argumentation ergibt: „Wenn das jetzige Zeitalter der Evolution der Technik sich seinem Ende nähern wird, dann wird die Menschheit wieder in die Lage kommen, sich auf Dauer berechnete wirtschaftliche Organisationen zu geben.“ (MWG I  /  4, 1 Hb., 360; kursiv von mir)

Wiederum artikuliert Weber die Erwartung eines Untergangs, geht aber davon aus, dass sich zugleich die Chance für einen Neubeginn ergeben wird. Weber scheint von der menschlichen Lernfähigkeit überzeugt zu sein (… „wird“). Radkau knüpft an die aus heutiger Sicht antizipatorische Formulierung die These, Weber sei ein früher „Theoretiker der Nachhaltigkeit“ (2005, 515). Unter dem ursprünglich forstwissenschaftlichen Begriff der „Nachhaltigkeit“ wird ein Handeln verstanden, das den Bedürfnissen der jetzigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.23 So weit denkt Weber vermutlich nicht, aber es gibt in seinem Werk einige Stellen, die eine solche Perspektive andeuten. Der Begriff der „Verantwortungsethik“ lässt sich auch im Sinne einer „Ethik der Nachhaltigkeit“ deuten. Im Wertfreiheitsaufsatz fasst Weber den Gedanken des „Berufs“ als „Selbstbegrenzung“ auf (WL, 494). In den Reden „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ plädiert er für ein entsagungsvolles, „unversöhntes“ Leben, für den nüchternen „Dienst an der Sache“, für Maßhalten und Verzicht. Bereits in der Antrittsvorlesung findet sich ein denkwürdiger Satz, der sich im Sinne einer „Ethik der Nachhaltigkeit“ lesen ließe: „Unsere Arbeit ist und kann, wenn sie einen Sinn behalten soll, nur sein wollen: Fürsorge für die Zukunft, für unsere Nachfahren.“ (PS, 12 f.). 23  So die Definition des als Brundtland-Report (1987) bekannt gewordenen Zukunftsberichts der Vereinten Nationen (Lexikon der Nachhaltigkeit 2010, Netzressource). Vgl. auch die kulturgeschichtliche Studie zum Begriff der Nachhaltigkeit von Grober 2010. Als Erfinder des Nachhaltigkeitsgedankens gilt der Berghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645–1714) mit seinem Werk „Sylvicultura Oeconomica. Die Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht“ (1713). Der Gedanke der Nachhaltigkeit findet sich auch schon in den Ethiken der Weltreligionen und in der älteren deutschen Rechtssprache.



8. Die ewige Wiederkunft des Gleichen245

Wenn man diesen Satz allerdings so auffasst, muss man an den Sinn erinnern, den er in der Antrittsvorlesung hat. Weber geht es dort nicht um eine ressourcenschonende Politik und um Generationengerechtigkeit, sondern um, wie die Politologen sagen würden, empowerment. Die Antrittsrede, von der er sich später distanziert, hat einen stark imperialistischen und chauvinistischen Ton: Es geht um Gewinn von „Lebensraum“, um die Abwehr angeblich unterminierender Fremdeinwanderung, um das Verhindern einer „Substanzschwächung“ der deutschen Nation. Vor dem Hintergrund der oben zitierten Stellen lässt sich der Satz freilich auch anders lesen. Als Weber seine akademische Antrittsrede hält, hat er noch nicht jene Sensibilität für die Ambivalenz von Rationalisierung und Intellektualisierung entwickelt, die am Ende der ersten Protestantismusstudie in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt. Um weitere Eindrücke von Webers Zukunftserwartungen zu erhalten, sei eine Stelle aus „Politik als Beruf“ zitiert. Weber benutzt eine Wetter-LichtMetapher: „Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Kälte.“ (PS, 559)

Interessant ist zunächst das „zunächst“, das nicht in einem hoffnungsperspektivischen Sinne gemeint ist, als wenn „zunächst“ die „Durststrecke“ eisiger Kälte zu überwinden sei, bis dann der Sommer für die Entbehrungen reich entschädige. Webers Polarnacht ist lang anhaltend, ihre Finsternis und Kälte so groß, dass ein neuer Sommer überhaupt ausgeschlossen scheint. Interessant ist das „zunächst“ auch, weil es eines jener trendfingierenden Beiworte ist, die Weber häufig gebraucht und gezielt einsetzt, um die Suggestivkraft seiner Aussagen zu erhöhen. Andere Beispiele sind „ewig“, „allmählich“, „stets“, „bald“, „immer wieder“ oder einfach nur „wieder“. Dass diese Beiworte zum Widerspruch herausfordern, dass sich Weber so angreifbar macht, scheint ihn nicht zu kümmern. Die Licht-Wetter-Metapher ist nur eines von vielen Sprachbildern. Webers Soziologie, die sich gern als Soziologie der Nüchtern- und Sachlichkeit sieht, ist partiell, zugespitzt formuliert, soziologischer Ausdruck uneigentlicher Bezeichnungen: metaphorische Soziologie.

8. Die ewige Wiederkunft des Gleichen Über eine Denkfigur, die Künftiges betrifft und metaphorischen Charakter hat, war hier noch keine Rede: über Nietzsches „Lehre der ewigen Wiederkunft“. Diese „Lehre“ hat metaphorischen Charakter im Sinne des Blumenberg-Theorems der Unbegrifflichkeit. Richtiger müsste man in diesem konkreten Fall sagen: der „Unbegreiflichkeit“. Was ist damit gemeint?

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

Nietzsche fasst den Gedanken der Wiederkunft, wie er im Rückblick schreibt, „6.000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen“ (Ecce homo, KSA 6, 335). Er besagt, „dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male da gewesen sind, und alle Dinge mit uns“ (Zarathustra, KSA 4, 276). In der „Fröhlichen Wissenschaft“ gibt es eine Stelle, die dies ähnlich ausdrückt: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein.“ (KSA 3, 570)

Doch so bestimmt Nietzsche seine Lehre formuliert, so fragwürdig ist ihr Status. Sie beruht auf nicht beweisbaren Prämissen. Unvermittelt taucht sie im „Zarathustra“ auf, und der „Lehrer“ Nietzsche scheint sich an imaginäre „Schüler“ zu wenden. Es ist eine Art „Geheimlehre“ (Gerhardt 2006, 197), Esoterik, gedacht „für Alle und Keinen“. Löwith sieht in der Wiederkunftslehre eine Antithese zur neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und ihrem Fortschrittsglauben. Er meint, sie ziele auf „die Überwindung von Zeitlichkeit“ (1987, 108). Löwith ist wie Heidegger Vertreter der „kosmologischen“ Lesart, wonach die Welt nie ein Gleichgewicht erlangt und es keinen Stillstand, sondern nur gleiche Bewegung gibt.24 Davon zu unterscheiden ist die „ethische“ Lesart, wonach Nietzsches Lehre ein Appell ist, das Leben moralisch „korrekt“ zu führen. Vertreter sind Simmel, Vaihinger und Nietzsches Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche. Eine die kosmologische Lesart erweiternde Lesart wäre, in Nietzsches „Lehre“ eine metaphysische These über den Weltlauf zu sehen. Nietzsches Lehre ist, um nochmals mit Blumenberg zu reden, eine „Hintergrundmetapher“ mit der Funktion, eine Kompensation für ein ungestilltes „Bedürfnis nach Metaphysik“ zu bieten. Bemerkenswert ist, dass Blumenberg Nietzsches „Kreismetapher“ als Beispiel für eine solche „Hintergrundmetapher“ nennt (1998, 193). Aber vielleicht ist sie mehr als eine metaphysische Behauptung, vielleicht sprechen auch „phänomenologische“ Gründe dafür. Denn es fragt sich, was Nietzsche zu seiner „Lehre“ inspiriert haben könnte. Eine interessante Erklärung kommt von religionsgeschichtlicher Seite. Nach Wolfgang Speyer (1999 a, 54) hat Nietzsches „Lehre“ ihren Ursprung in den alten Volks- und Naturreligionen, die davon ausgehen, dass sich in der Geschichte alles auf gleiche Weise wiederhole. Denkbar ist, dass sich diese Überzeugung angesichts periodisch wiederkehrender Himmelskörper, so vor allem der Mond in seinen unterschiedlichen Phasen, gebildet hat. Auch Tag und Nacht wechseln einander ab, die Jahreszeiten, Wachen und Schlafen, Trockenheit und 24  Vgl.

den Handbuchartikel von Skirl 2000, 226 ff.



8. Die ewige Wiederkunft des Gleichen247

Regen, Leben und Tod. Diese rhythmisch erlebte Wiederkehr könnte zur Vorstellung der Abgeschlossenheit „der Welt“ geführt haben, die im Bild des „ewigen Kreises“ Ausdruck findet.25 Vielleicht kann man sagen, Nietzsche Wiederkunftslehre hat phänomenologische Ursprünge, erhebt aber zugleich einen metaphysischen Anspruch. Nietzsche will zeigen: So könnte die Welt sein und funktionieren, macht sich aber nicht die Mühe der Explikation – weil er sich dazu außerstande sieht? Die Wiederkunftslehre ist also unbefriedigend. Aber Nietzsche scheint es, bezieht man andere Stellen ein, ohnehin auf etwas anderes anzukommen: Nicht die Plausibilität seiner Lehre will er erweisen, sondern ihre motivierende Kraft nutzen. Dies zeigt die Selbstauslegung im „Ecce homo“, wo er die Wiederkunftslehre die „höchste Formel der Bejahung“ nennt, getragen von „tragischem Pathos“ (KSA 6, 335 f.). Nietzsche stimmt also der „Welt“ in ihrer Widersprüchlichkeit und Unvollkommenheit zu. Er leidet zwar daran, doch kann er nur so jene Kräfte mobilisieren, die zum Überleben notwendig sind. Einen älteren Vorschlag von Bernd Magnus aufgreifend, könnte man von einem „existentiellen Imperativ“ sprechen, der auf eine lebensphilosophische Ermunterung dessen hinausläuft, was Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ „Pessimismus der Stärke“ nennt (KSA 1, 12).26 Weber bezieht sich, worauf vor allem Hennis (1987, 167 ff.) und schon Mommsen (2004 / 1959, 39 f. u. 1974 b Anm. 125, 261 f.) aufmerksam machen, mehrfach auf Nietzsche. Er zitiert den „letzten Menschen“ aus der Vorrede des „Zarathustra“, der für Nietzsche der Inbegriff aller menschlichen Schwächen ist, die überwunden werden müssten. In „Politik als Beruf“ und in der „Zwischenbetrachtung“ rekurriert er auf Nietzsches These vom „Willen zur Macht“.27 Versteckt, aber doch erkennbar bezieht sich Weber auch auf die Wiederkunftslehre, und zwar gleich an vier Stellen, und alle25  Auf Speyers Aufsatz bin ich zufällig gestoßen. Diese „phänomenologische“ Lesart ist, soweit ich sehe, in der Literatur nicht anzutreffen. 26  Der Verweis auf Magnus’ Studie „Nietzsche’s Existential Imperative“ von 1978 findet sich bei Gerhardt 2006, 203. 27  Weber hat vermutlich der Nachlass in der „Großoktavausgabe“ vorgelegen, deren fünf Bände zwischen 1901 und 1911 erschienen sind. Der „Wille zur Macht“, der sich später als editorisch problematische Kompilation des Nietzsche-Archivs unter Elisabeth Förster-Nietzsche herausgestellt hat, ist 1901 erschienen (vgl. dazu Fornari 2000, 143 ff.). Den „Willen zur Macht“ als das lebensbewegende Prinzip erwähnt Nietzsche bereits in Aphorismus 36 von „Jenseits von Gut und Böse“ (1886). Weber hat intensiv Simmels „Schopenhauer und Nietzsche“ studiert. Zahlreiche Randbemerkungen sind überliefert, die zeigen, dass Nietzsches „Wille zur Macht“ Webers Wunschbild von den charismatischen politischen Führern beeinflusst hat.

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Kap. 8: Blendwerke der feinen Verführung

samt befinden sie sich an den Textenden. Die Stellen sind in „Wissenschaft als Beruf“, wo es heißt, dass die Götter „untereinander wieder ihren ewigen Kampf“ beginnen (WL, 605). In der ersten Protestantismusstudie ist die Rede von der „mächtigen Wiedergeburt“ überkommener Ideale (RS I, 204). Eine nur selten konsultierte Stelle befindet sich im frühen Aufsatz „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ (1896), die auch wegen ihrer hohen Metapherndichte bemerkenswert ist („Busen der Mutter Erde“, „lange Nacht“, „Riesen“, „dünn gewordene Hülle“, „der alte Riese“, „Düngerluft des Frohnhofes“, „Winterschlaf“, „Turnier der feudalen Gesellschaft“ (MWG I / 6, 127). Weber beschreibt hier den Untergang der antiken Kultur, die jedoch nach seiner Beobachtung nicht restlos vergeht, sondern im Mittelalter und vor allem in der mittelalterlichen Stadt wiederaufersteht und im weiteren Verlauf eine solche Macht gewinnt, bis dass „der alte Riese in neuer Kraft“ in der modernen bürgerlichen Kultur wieder erwacht. Was genau es ist, was da wieder erwacht, sagt Weber allerdings nicht. Die vierte Stelle findet sich in den „Agrarverhältnissen im Altertum“ (1909), wo Weber die gesamte Kulturentwicklung in den Blick nimmt und darüber spekuliert, ob Kulturen wiederkehren und inwieweit sie „Vorstufen“ neuer Kulturbildungen sind. Er fragt, ob sich Kulturen als Kontinuum mit einem festen Ziel oder ob sie sie sich „kreislaufförmig“ entwickeln – vielleicht eine Anspielung auf Nietzsches Wiederkunftslehre. Weber beantwortet nicht, welche Position er vertritt. Wie oft, wenn es spannend wird, bricht er ab und ruft sich zur Räson, „nunmehr wieder“ auf den „Boden der wissenschaftlichen Tatsachen“ zurückzukehren.28 Meine zusammenfassende These ist, dass Weber die Wiederkunftslehre Nietzsches gezielt einsetzt. Erstens als spekulative Aussage über den möglichen Zukunftsverlauf. Zweitens „bejaht“ er, wie Nietzsche, die Welt in ihrer Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit, um aus der daraus resultierenden „Entzauberung“ Kraft und Stärke zu gewinnen, sich ihr zu stellen, sich bewähren. Webers Reden „Politik als Beruf“ und „Wissenschaft als Beruf“ lassen sich als solches Vermächtnis in praktischer Hinsicht lesen. Sie enthalten die Aufforderung, zum einen adressiert an die akademische Jugend, zum anderen gerichtet an die politische Führung, sich ihrer Aufgaben zu besinnen, „nüchtern“ und pragmatisch an die Arbeit zu gehen, den Glauben an das „große Glück“ auf Erden aufzugeben, die Unvollkommenheit der Welt auszuhalten. Dies ist kein Aufruf zum Quietismus, sondern zum Engagement dafür, was ich in dieser Arbeit aufklärende Rationalisierung nenne. 28  Der Standardsatz lautet: „Doch diese Perspektiven gehören nicht hierher.“ (MWG I / 6, 725).

Abkürzungen und Zitierweise Die Texte Max Webers werden nach den bisher erschienenen Einzelbänden der Max Weber-Gesamtausgabe zitiert. Die Abkürzungen lauten: MWG I / Bandzahl MWG II / Bandzahl MWG III / Bandzahl

Schriften / Reden Briefe Vorlesungen / Vorlesungsnachschriften

Benutzt werden auch ältere Ausgaben der Werke Max Webers (vollständige bibliographische Angaben im Literaturverzeichnis). Dies sind: GAzSS Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik GAzSW Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte PS Gesammelte Politische Schriften RS I Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1 RS II Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2 WG Wirtschaft und Gesellschaft WL Wissenschaftslehre Die Einzeltexte Webers, aus denen zitiert wird, werden genannt: z. B. „Wertfreiheitsaufsatz“ oder „Zwischenbetrachtung“. Weitere Abkürzungen: GeschPhil HWPh KrV KSA Lex. Ethik

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., CD-ROM Kant, Kritik der reinen Vernunft Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe Lexikon der Ethik, hrsg. v. Otfried Höffe

Andere Abkürzungen oder Kurztitel sind im Text eingeführt und im Literaturverzeichnis aufgelöst.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Max Weber-Gesamtausgabe MWG I / 3, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. 1892, hrsg. v. Martin Riesebrodt, 2. Halbbände, Tübingen 1984. – I / 5, Börsenwesen. Schriften und Reden 1893–1898, hrsg. v. Knut Borchardt in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll, 2 Halbbände, Tübingen 1999 u. 2000. – I / 6, Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums. Schriften und Reden 1893–1908, hrsg. von Jürgen Deininger, Tübingen 2006. – I / 8, Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. Schriften und Reden 1900–1912, hrsg. v. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Peter Kurth und Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1998. – I / 10, Zur Russischen Revolution von 1905. Schriften und Reden 1900–1912, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Dittmar Dahlmann, Tübingen 1989. – I / 11, Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. Schriften und Reden 1908–1912, hrsg. v. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer, Tübingen 1995. – I / 14, Zur Musiksoziologie. Nachlass 1921, hrsg. v. Christoph Braun, Tübingen 2004. – I / 17, Wissenschaft als Beruf 1917 / Politik als Beruf 1919, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen 1992. – I / 19, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus, Schriften 1915–1919, hrsg. v. Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko, Tübingen 1989. – I  /  20, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 1916–1920, hrsg. v. Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio, Tübingen 1996. – II / 5, Briefe 1906–1908, hrsg. v. M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 1994 – II / 6, Briefe 1909–1910, hrsg. v. M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, Tübingen 1994. – II / 7, Briefe 1911–1912, hrsg. v. M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, 2 Halbbände, Tübingen 1994.

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Namensverzeichnis*

1

Adorno, Theodor W.  28, 29, 95, 104, 143, 162, 175, 188, 195, 231 Anter, Andreas  39, 40, 87 Aristoteles  37, 73, 109, 162, 167, 192, 225, 232

Goethe, Johann Wolfgang von  84, 174, 189 Gosh, Peter  187, 188, 202

Eggebrecht, Hans Heinrich  20

Habermas, Jürgen  97, 102 ff., 137, 195, 198, 229, 233 Hanke, Edith  35, 59, 118, 178, 199 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  17, 20, 32, 34, 35, 38, 41, 47, 50, 51, 74, 75, 83, 84, 87 ff., 96, 97, 117, 125, 137, 205, 206, 213, 214, 225, 230, 243 Heidegger, Martin  29, 81, 117, 118, 154, 202, 230, 246 Helmholtz, Hermann von  156 Hennis, Wilhelm  12, 13, 14, 23, 85, 99, 121, 123, 187, 199, 247 Heraklit  230 Himmelmann, Beatrix  122 Höffe, Otfried  5, 28, 39, 46, 60, 73, 75, 95, 103, 105, 162, 192, 225 Hölscher Lucian  77, 78, 236 Horkheimer, Max  28, 29, 95, 96, 194 Hornbostel, Erich Moritz von  139, 146, 156 ff.

Gehlen, Arnold  112 George, Stefan  29, 63, 64, 69, 70, 82 Gerhardt, Volker  67, 70, 71, 75, 122, 246, 247 Gigon, Olof  162

James, William  22, 118, 187, 188, 189, 191, 192, 193, 195, 197 ff., 212, 213, 216, 222 Jaspers, Karl  13, 23, 49, 99, 111, 175, 199, 224

Baumgarten, Eduard  17, 74, 80, 123, 129, 199 Bermbach, Udo  232 Blaukopf, Kurt  142, 159 Bloch, Ernst  81, 86, 89, 194, 239 Blumenberg, Hans  22, 226, 229, 230, 232, 245, 246 Braun, Christoph  140, 141, 156, 157 Breuer, Stefan  13, 64, 80, 87 Bryce, James  216 Burkhardt, Jakob  37 Dante  48, 231, 232 Dewey, John  188, 192 ff., 199, 204 Döring, Sabine  109 Droysen, Johann Gustav  32, 33

*  Aufgenommen sind nur die Namen, die im Fließtext der Arbeit genannt sind. Sie erscheinen nochmals im Literaturverzeichnis. Diese wurden in die Zählung des Registers jedoch nicht einbezogen.

272 Namensverzeichnis Jellinek, Georg  38, 39, 40, 43, 63, 80, 221 Joas, Hans  38, 117, 188

Oehler, Klaus  188, 192 ff. 205, 209 Offe, Claus  188 Osterhammel, Jürgen  78

Kalberg, Stephen  15, 16, 106 Kant, Immanuel  16, 25, 26, 27, 28, 33, 36, 44, 45, 49, 60, 69, 71, 84, 95, 96, 109, 117, 119, 120, 121, 151, 165, 174, 182, 188, 192, 194, 196, 205, 206, 211, 213, 225, 228, 235, 236 Kippenberg, Hans G.  54, 55, 60 Kloppenberg, James T.  188, 195, 196

Papini, Giovanni  189, 223 Parsons, Talcott  108, 201 Peirce, Charles S.  31, 88, 191 ff., 204, 207, 209 ff., 222, 223

Lehmann, Hartmut  54, 191 Lepsius, M. Rainer  12, 60 Lichtblau, Klaus  78, 80 Löwith, Karl  13, 90, 246 Luhmann, Niklas  69, 147, 207 Lukács, Georg  14, 17, 23, 29, 30, 47, 50, 81 ff., 97, 102, 145, 146, 147, 178, 224, 235 Mann, Thomas  85, 85, 241, 242 Marcuse, Herbert  102 Marquard, Odo  51, 70 Marx, Karl  38, 39, 50, 81, 82, 102, 142, 161, 191, 194, 213 Michels, Robert  11, 12, 15, 30, 31, 76, 83, 136, 141, 176, 180, 183, 222, 223 Mill, John Stuart  51, 52, 96, 137, 197, 206, 207, 217 Mommsen, Wolfgang J.  17, 20, 30, 32, 33, 36, 41, 92, 121, 123, 135, 137, 179, 185, 198, 217 Müller, Hans-Peter  12, 133, 217, 233 Münsterberg, Hugo  19, 118, 119, 180 Nagel, Thomas  71, 72 Nietzsche, Friedrich  13, 17, 23, 28, 37, 50 ff., 59, 64, 66, 67 ff., 70, 71, 74 ff., 81, 89, 90, 95, 120, 121 ff., 132, 134, 140, 162, 172, 193, 207, 228, 233, 234, 236, 242, 245 ff.

Radkau, Joachim  15, 16, 42, 49, 53, 74, 78, 82, 92, 99, 100, 142, 143, 144, 156, 224, 241, 242, 244 Rawls, John  167 Rickert, Heinrich  19, 32, 33, 54, 120, 121, 170 Rorty, Richard  192, 195, 204 Rosa, Hartmut  59, 71 Roth, Guenther  22, 118, 120, 187, 216 Scaff, Lawrence A.  12, 22, 23, 201, 216, 219 Scheler, Max  19, 119, 180 Schiller, Ferdinand Canning Scott  22, 191, 195 ff. Schluchter, Wolfgang  12, 14, 36, 41, 53, 55, 61, 101, 115, 130, 137, 177, 180, 185, 188, 191, 226, 233, 235, 237 Schmitt, Carl  116, 137, 163, 184, 185, 198, 226 Schnädelbach, Herbert  26, 32, 34, 95, 96, 107, 117, 120 Schneiders, Werner  25 ff., 95 Schönberg, Arnold  156, 159, 160 Schönberger, Christoph  36 Schumpeter, Joseph  60 Silbermann, Alphons  143 Simmel, Georg  13, 83, 84, 123 ff., 193, 246, 247 Sombart, Werner  134, 213, 243, 244 Spengler, Oswald  81, 84, 166, 174, 241, 242 Speyer, Wolfgang  66, 246, 247



Namensverzeichnis273

Sternberger, Dolf  16, 36, 37, 81, 198 Strauss, Leo  16, 137 Stumpf, Carl  146, 156 ff. Sukale, Michael  37, 102, 185 Swedberg, Richard  188

Vainhinger, Hans  193, 246

Taylor, Charles  200 Tenbruck, Friedrich H.  102 Tewinkel, Christiane  20, 150 Tolstoi, Leo N.  59, 63, 65, 85, 168, 178, 227 Tönnies, Ferdinand  58, 61, 234

Wagner, Peter  235 Wagner, Richard  53, 149, 233 Weber, Adolf  201, 202 Weber, Alfred  234, 235 Weber, Marianne  24, 29, 35, 49, 81, 82, 87, 111, 136, 142, 147, 165, 166, 178, 180, 182, 183, 185, 199, 216, 222, 224 Wehler, Hans-Ulrich  50 Winckelmann, Johannes  53, 228

Ueding, Gert  230

Zweig, Stefan  227

Sachwortverzeichnis Anerkennung von Differenz  47, 99, 116, 197 aufklärende Rationalisierung  15, 25 ff., 47, 248 Aufklärung  18, 25 ff., 44, 72, 136, 191, 236, 241 Aufklärungsphilosophie  25 f. Augenmaß  31, 105, 166, 168, 184, 185, 222 Bellizismus (bellizistisch)  137, 198 Beschleunigung  78 Besonnenheit  105, 190, 222 bios politikos / bios theôrêtikos  73 Bürokratisierung  171, 196, 239 f. business-men  220 Chance  42 ff., 58, 171, 197, 200 daimonion  227 Dämonen, Dämonenglaube  66, 222 f., 226 Demokratie  36 ff., 60, 121, 188, 190, 196, 218 ff. Desillusion  85 – desillusionierend  50, 136 – Desillusionierung  228 – Desillusionsprosa  47, 81 ff. – Desillusionsroman  47, 85 Dezisionismus  137 Dialektik der Aufklärung  95 Disharmonie  92, 100 Dissonanz  160 Effizienz  78 Ehre  181 ff. Emotionen  109 ff.

Entpersönlichung  174 Entzauberung  18, 26, 40, 47, 50, 53 f., 65, 67 f., 72, 76 f., 97, 165, 178 f., 212, 227 f., 232 Erfolg  13, 29, 101, 106, 129, 152 Erfolgsethik  119, 177, 179, 180 f. Essayismus  86 Ethik  31, 162 ff., 168 f., 170, 176 f. – Ethik und Moral  163, 167 ff. – Ethik und Welt  56, 100, 178 Fachmensch  171 – Fachmenschen ohne Geist  45, 80 – Fachmenschenfreundschaft  32 Faust, das Faustische  174 Fellachisierung  240 Fortschritt  13, 18, 21, 29, 32, 81, 90, 125, 158, 180, 188, 195, 206, 243, 246 Fundamentalismus  64, 223 Gefühle  109 ff. Gehäuse der Hörigkeit  45, 104, 206, 235, 240 Geist  32, 33, 45, 62 ff., 67, 80, 81, 91, 152, 190, 227, 234, 241, 243 Gemeinschaft und Gesellschaft  58, 234 Gesam(m)tpersönlichkeit  176 Geschichte  16, 28, 32 f., 45, 47, 62, 74 f., 117, 125, 130 f. Geschichtsphilosophie  28, 47 f., 84, 91, 117, 125, 146, 205, 243, 246 Gesinnungs- und Verantwortungsethik  168, 177

Sachwortverzeichnis275 Gesinnungsethik  14, 59, 65, 76, 83, 105, 119, 167 f., 170, 177 ff., 180 f., 185 Gewirr gegenseitiger Beeinflussungen  130, 208 Gewissen  183 Glaube  43, 51, 54, 56, 61, 63, 67, 70, 75, 91, 118, 122, 130, 132 f., 169, 177, 179, 199 f., 228, 246, 248 Göttliche Komödie / Dante  48, 231 Große Erzählung  48, 85, 86, 212 Gute, das  116 f. Harmonisierung  20, 92, 139, 145 f., 148 f. Hasard  228 Heil / Heillosigkeit / Unheil  59, 66, 77, 80, 153, 231, 241 Held / Heldenethik  57, 65, 176 Heroismus  69, 76, 100 Intellektualisierung  50, 62, 65, 77, 228, 240, 245 Intellektualismus  54, 59, 62, 65 Intellektuellenreligiösität  59, 63, 64 Intellektueller  30 f., 50, 56, 58 ff., 179, 201, 232 Interessen  130 f., 182, 190 Interessen / Ideen  62, 131 Kampf  52, 57, 77, 134, 137, 144, 155, 161, 168, 171, 197, 207, 229, 248 Kapitalismus  80, 146, 152, 172, 190, 216, 237, 243 Katholizismus  171 f. Kompromiss  20, 40, 52, 116, 137, 179, 185, 197, 234 Kontingenz  71, 82, 91, 93, 125 f., 130 Kooperation  198 Kritik  27 f., 29, 95 ff., 162 ff., 171 Kultur – antike  46, 68, 79, 248 – Gegenkultur  176 – Kulturbedeutung  79

– Kulturen  56, 116, 140, 142, 146, 151, 156, 204, 242 – Kulturentwicklung  46, 56, 100 ff., 248 – Kulturerscheinungen  191, 232 – Kulturkritik  124, 140, 146, 192, 234, 240 f. – Kulturprobleme  130 f., 213 – Kulturwissenschaften  116 f., 129, 145, 158, 190, 197, 210 ff. – Kultur / Zivilisation  234, 242 f. – moderne  50, 61, 80, 111, 217, 241, 243 Lebensform  14, 179, 207, 217 – betrachtende und politische  73 Lebensordnung  21, 98, 169 Leidenschaft  37, 45, 90, 110, 115, 164, 185, 222 Lernchancen für die Zukunft  44 Leviathan  110, 225 f. Literatenpolitiker  29, 65, 235, 242 Magie  26, 53, 54, 228, 232 matter-of-fact-men  220 Menschenrechte  38 ff. Menschentum  29, 80, 91, 105, 146, 162 ff., 173 ff., 186, 206, 231 – Vollmenschentum  84, 164, 170, 171 ff., 175, 176, 196 Menschenwürde  171 ff., 186 Metapher  22, 24, 26, 28 f., 35, 51, 67 f., 80, 95, 154, 165, 174, 189, 206, 225 ff. Metaphysik  16, 27, 54, 62, 67, 69, 83, 86, 89, 118, 130, 137, 194, 203, 205, 213, 246 Methodenpluralismus  135 Moderne  13, 79, 83, 85, 95, 121, 144, 145, 154, 233 ff. Mönch  61, 91, 142, 152 Moral  106, 120, 122 ff., 133, 143, 163 ff., 167 ff., 182 ff., 228, 236, 246

276 Sachwortverzeichnis Moral der Mitte  168 Moralismus  167 f. Moralphilosophie  17, 36, 41, 162, 163, 165, 167 Nachhaltigkeit  21, 106, 244 Nacht  68, 91, 245, 246, 248 Nebenfolgen  18, 22, 32, 106, 108, 132, 180, 210, 211 Nemesis  68 Neue Musik  159 f. Nihilismus  75, 84, 86 Okzident  12, 13, 20, 48, 68, 79, 100 ff., 140 ff., 151 ff., 157, 159, 218, 224 Parzellierung des Menschentums  84, 91, 164, 171, 173, 186 Persönlichkeit  14, 16, 25, 31, 77, 99, 123, 166, 175, 185 Perspektivismus  132 Philosophie, Begriff (bei Weber)  34 ff., 41, 49, 52, 67, 87, 89, 95 ff., 119, 127, 137, 187, 188, 195 f., 197, 200, 203 f., 206 f., 213 ff., 222 – Geschichtsphilosophie  28, 47, 48, 74, 83 f., 91 f., 117, 125, 146, 205, 243, 246 – Lebensphilosophie  13, 19, 30, 77, 84, 120, 194, 234 – Philosophie der Gefühle  109 f. – Philosophie der Werte  19, 52, 117 ff. – Philosophie des Pragmatismus  22, 187 ff. – Praktische Philosophie  13, 117 pianissimo  72 f. Pluralismus  19, 20, 51, 94 ff., 115 ff., 132, 200 Pluralität  97, 98, 197, 201 Pneuma  72 Politik  30, 31, 33, 36, 72, 73, 124, 129, 135, 166, 169, 177, 184, 186, 188, 196, 211, 218, 219, 226, 229, 236, 245

– Politiker  30, 31, 90, 166, 184, 185, 186, 201, 220, 221 – rationalisierte  143, 147 – Sozialpolitik  57, 211 Politische Theorie  222 Polyphonie  20, 151 – polyphones Denken  11 ff., 20, 99, 197 Polytheismus  50 ff. – der Werte  16, 19, 115, 126, 132, 137, 197, 200, 207, 226 Pragmatismus  22, 31, 120, 187 ff. Professoren-Prophetie  135 Puritanismus  13, 45, 61, 86, 152, 172, 216 Rationalisierung  17, 18, 23 – aufklärende  s. o. – eigentliche  153 – rationalisieren  18, 98, 148, 149, 152, 154 – Rationalisierungen  21 – Rationalisierungsprozess  100, 101, 103, 104, 144, 155, 178 Rationalisierungspapst  144, 228 Rationalismus  12, 16, 18, 40, 44, 98, 101, 152, 153, 178, 188, 197, 224, 242 Rationalität  42, 48, 93, 94 ff., 148, 213 – Arationalität  148 – formale / materiale  106, 107 – instrumentelle  29, 103, 234 – irrational / irrationalistisch  42, 66, 84, 94, 95, 108, 110, 111, 132, 143, 161, 172, 180, 184, 185, 192, 226 – Irrationalität / das Irrationale  41, 77, 102, 147 ff., 239 – Rationalitäten  47, 97, 98, 104, 113 ff. – Rationalitätsspannungen  98 – Rationalitätstoleranz  98 – Theorie der Rationalität  100 ff., 108, 114

Sachwortverzeichnis277 – Wertrationalität  97, 98, 100, 104, 105 ff. – Zweckrationalität  29, 45, 96, 100, 101 ff., 152, 171, 229 Religion  13, 26, 40, 45, 51 ff., 172, 190, 197, 199 f., 228, 239 f. – Entstehung  55 f. – Quasi-Religion  64 – Religionssystematik  54, 55 – Weltreligionen  20, 23, 55, 60, 62, 99, 100, 122, 131, 157, 204, 238, 239, 244 Schicksal / schicksalsvoll  13, 16, 45, 46, 72, 76, 77, 80, 146, 165, 172, 228, 243 Selbstbeschränkung  31, 32, 166, 223 Selbstdestruktion  45, 190 Sinn / Sinnkrise  18, 48, 50, 53 ff., 65 ff. Sinn des Lebens  67, 70, 71 Soziologie  14, 16, 21, 36, 41, 89, 98, 102, 188, 191, 211, 214, 237, 240, 245 – tragische  13 – verstehende  12, 130, 203, 211, 212, 237 Staatsmann  37, 91, 105, 166, 185, 220 stahlhartes Gehäuse  13, 45, 104, 165, 171, 186, 230, 234, 239 f. Taylorismus  148 Temperierung  22, 30, 139, 141, 145, 146, 149, 153, 190 Theodizee  56 f. Toleranz  14, 20, 136, 137, 138, 207 Tragik  13, 28, 50, 62 transzendentale Obdachlosigkeit  47, 97 Übermensch  50, 75, 77, 120, 126

Verantwortung  31, 132, 166, 168, 176, 177 – Verantwortungsbereitschaft  166, 168, 190 – Verantwortungsethik  30, 73, 105, 119, 132, 168, 177, 179, 180, 181, 186, 210, 223, 244 – Verantwortungs- / Gesinnungsethik  s. o. – Verantwortungsgefühl  22, 31, 77, 185 – Verantwortungshandeln  132 Vernunft  25 ff., 46 ff., 87 ff., 95 ff., 117, 176, 209 – List der Vernunft  90 – Vernünftigkeit  209 f. – Vernunftkritik  68, 87 ff. Versöhnung  20, 58, 92, 137 Vielfalt  11, 20, 31, 42, 52, 73, 98, 100, 104, 113 ff., 140, 146, 149, 153, 157, 158, 160, 199 Vornehmheit  123 ff. Wahlverwandtschaft  22, 61, 189 ff. Wahrheit  69 f., 76, 83, 131, 135, 188, 192, 194, 197 f., 202, 204 f., 208, 214, 243 Weltgeist  90 f. Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit  45, 57, 133, 240 Werte  15, 16, 19, 32, 37, 72, 73, 75, 107, 115 ff., 163, 204 – Kampf / Krieg der Werte  52, 125, 137 – Tyrannei der Werte  198 – Umwertung aller Werte  120, 122, 228 – Wertbegründungskompetenz – Wertbeziehung  136 – Wertdiskussion  136 – Wertekollisionen  19, 137 – Wertekonflikte  132 ff.

278 Sachwortverzeichnis – Werteordnung  33, 38, 40, 125 – Wertepluralismus  51, 95, 115 ff., 214 – Wertetheorie  47, 48, 99, 176 – Wertsphäre  19, 57, 98, 100, 111, 115, 127, 132, 134, 153, 169, 207 – Wertstandpunkt  21, 135

– Werturteil (-streit; -freiheit)  33, 86, 104, 115, 116, 127, 133, 135 Wiederverzauberung  65 Zukunft  13, 21 ff., 44, 47, 48, 75, 77 ff., 106, 126, 171, 184, 192, 196, 209, 223, 224 ff.