Auf segelbeflügelten Schiffen das Meer befahren: Das Erlebnis der Schiffsreise im späten Hellenismus und in der Römischen Kaiserzeit 3447109718, 9783447109710

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Auf segelbeflügelten Schiffen das Meer befahren: Das Erlebnis der Schiffsreise im späten Hellenismus und in der Römischen Kaiserzeit
 3447109718, 9783447109710

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P H I L I P P I K A

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 119

2018

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

Auf segelbeflügelten Schiffen das Meer befahren Das Erlebnis der Schiffsreise im späten Hellenismus und in der Römischen Kaiserzeit Herausgegeben von Mario Baumann und Susanne Froehlich in Zusammenarbeit mit Jens Börstinghaus

2018

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen. Die Drucklegung wurde finanziert durch die Maria und Dr. Ernst RinkStiftung (Gießen).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.dnb.de.

For further information about our publishing program consult our website http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2018 This work, including all of its parts, is protected by copyright. Any use beyond the limits of copyright law without the permission of the publisher is forbidden and subject to penalty. This applies particularly to reproductions, translations, microfilms and storage and processing in electronic systems. Printed on permanent/durable paper. Printing and binding: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1613-5628 ISBN 978-3-447-10971-0

Vorwort Dieses Buch geht auf eine altertumswissenschaftliche Tagung zurück, die im Februar 2016 auf Schloß Rauischholzhausen bei Gießen stattfand. Wir freuen uns, 16 Tagungsbeiträge nun im Druck vorlegen zu können, ergänzt durch zwei neutestamentliche Aufsätze, die für die Publikation noch hinzugewonnen wurden. Den Herausgebern der Marburger Reihe Philippika danken wir herzlich, unseren Sammelband in ihr Programm aufgenommen zu haben. Der Band entstand in enger Zusammenarbeit mit Jens Börstinghaus, der die gesamte technische Seite der Drucklegung federführend übernommen hat: Er hat die LATEX-Vorlage für Text und Register erstellt, zusammen mit Frau Hille die einzelnen Beiträge in TEX konvertiert und ungezählte Korrekturdurchgänge der Herausgeber und Verfasser ins Manuskript eingearbeitet. Jens Börstinghaus gilt daher unser ganz besonderer Dank. Ohne seinen engagierten Einsatz wäre das Buch nicht annähernd so schön geworden! Eva Maria Hille hat sich bereitwillig in den Textsatz mit LATEX eingearbeitet und mit großer Sorgfalt die Konversion der Texte und die Erstellung der Register übernommen. Dafür danken wir ihr ganz herzlich. Unser Dank gilt außerdem Philipp Pilhofer für verschiedentlichen technischen Support und für die Nachbearbeitung der Abbildungen, sowie Anna-Lena Ehrlich, Jonas Langer und Theresa-Sofie Ditges für ihre Unterstützung beim Korrekturlesen der einzelnen Beiträge. Die Karten für diesen Band wurden erstellt durch das Ancient World Mapping Center der University of North Carolina, Chapel Hill, und von Bernhard Spachmüller in Schwabach. Weiterhin gilt dem Harrassowitz Verlag und namentlich Tanja Köbler, die die Drucklegung des Bandes betreut hat, unser bester Dank für die durchweg gute Zusammenarbeit. Zu danken haben wir schließlich auch den Geldgebern, die unser Projekt großzügig unterstützt haben: Unsere Tagung wurde von der Gießener Hochschulgesellschaft und der Maria und Dr. Ernst Rink-Stiftung (Gießen) gefördert. Die Rink-Stiftung hat auch die Drucklegung des Buches finanziert. Wir widmen diesen Band Karen Piepenbrink und Peter von Möllendorff – in bester Erinnerung an eine langjährige produktive Zusammenarbeit am Gießener Institut für Altertumswissenschaften. Mario Baumann Gießen

Susanne Froehlich Greifswald

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Einleitung von Mario Baumann und Susanne Froehlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I Mobilität auf dem Mittelmeer: Reale und fiktionale Erlebnishorizonte »Schiffe, dem Tode willkommene Mittel«. Eine technikhistorische Betrachtung der Sicherheit römischer Handelsschiffe von Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Beim Sturm mit den Weibern um die Wette heulen? Frauen auf Schiffsreisen im literarischen Diskurs – von Seneca bis Synesios (Synes. epist. 5) von Nicola Zwingmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Reiseerfahrungen am Ende der Republik. Das Beispiel Ciceros in seinen Briefen von Yasmina Benferhat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 »Kein Ruder und kein Wind schienen schnell genug«. Die Schiffsreise in Ciceros erster Philippica von Marcus Hellwing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Paulus und das Mittelmeer von Peter Pilhofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Die Wahl des Schiffes und ihre Motivik zur Zeit der Zweiten Sophistik. Ein Beitrag zur Sinnbildhaftigkeit des gewählten Verkehrsmittels für den Charakter einer Reise innerhalb kaiserzeitlicher Gelehrtenbiographien von Christian Fron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 »Von Wind und Tag verlassen«. Eine knappe Poetologie der Seekrankheit bei Rutilius Namatianus von Isabell Höhler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

VIII

Inhaltsverzeichnis

II Nautik und Götter: Reisen unter göttlichem Schutz Mit Göttern reisen. Das Propemptikon für Maecius Celer (Statius silvae 3,2) von Helmut Krasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Sint fluctus, celerem valeant qui pellere puppem. Die poetische Vision der gelungenen Seefahrt im Oceanus-Hymnus (Anth. Lat. I2 , 718 R.) von Boris Dunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Seefahrt mit Dame. Schutz- und Geleitvorstellungen am Beispiel der Aphrodite, Venus und Isis von Bernadette Descharmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Seenot und die Hilfe der Götter bei Aelius Aristides von Jens Börstinghaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Zwillinge an Bord. Die Schiffsreise des Apostels Paulus nach Puteoli und der Verweis auf die Dioskuren in Apg 28,11 von Karl Matthias Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

III Poetik der Seereise: Das Meer als literarisch gestalteter Raum Schiffbruch mit Homer und Hesiod. Ethisches und Poetisches in einigen frühhellenistischen Epigrammen von Doris Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 »Den Rand der Küste lesen«. Die Metapher der Seefahrt und die Metonymie der Erde in Vergil, Georgica 2,35–46 von Christian D. Haß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Mare naufragum. Motivik, Poetik und Funktion nautischer Szenen in Horazens lyrischen Gedichten von Johannes Breuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Poeta und gubernator. Eumolp und die Poetik des Schiffbruchs bei Petron (Sat. 100–115) von Ulrike Egelhaaf-Gaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Die Schiffsreise in Flavischer Zeit. Literarische Repräsentationen von ›Raum‹, ›Zeit‹, ›Wissen‹/›Tradition‹ und ›Herrschaft‹ von Nina Mindt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Inhaltsverzeichnis

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Bildbetrachtung unter dem Segel der Rhetorik. Eine Kreuzfahrt in den Eikones Philostrats des Älteren von Cordula Bachmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

Abbildungsverzeichnis Faltkarte – Die Mittelmeerwelt mit den wichtigsten im Buch vorkommenden antiken Orten (© Susanne Froehlich und Mario Baumann 2018, Entwurf: Susanne Froehlich, Kartographie: Ancient World Mapping Center). 1 2 3 4 5 6 7 8

Handelsschiff vom Typ Ponto (Mosaik, Ostia; Becatti, Giovanni [Hg.] [1961], Ostia Scavi IV. Mosaici e pavimenti marmorei, Rom, Taf. CLXXXI, Nr. 110) . . Modellierter Rumpf des Wracks von La Madrague de Giens mit Spanten und Schiff im irregulären Seegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hebelarmkurve des Wracks von La Madrague de Giens und eines modernen Vergleichsschiffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragungsfunktion des untersuchten Rumpfes für Stampf- und Tauchbewegung bei 4 kn Fahrt und einem Welleneinfallswinkel von 45° . . . . . . . . . . Darstellung der vier analysierten Positionen der Passagiere an Deck . . . . . . Lokale Beschleunigungen über die Erregerfrequenz für 4 kn und 45° Begegnungswinkel im raueren Seegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auslenkung (Bewegung) des Schiffes durch Seegang; Tauchamplitude 1,92 m, Rollwinkelamplitude 22,8°, Stampfwinkelamplitude 9,51° . . . . . . . . . . . . Polardiagramm des MSI über Schiffsgeschwindigkeit und Begegnungswinkel .

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Opferszene auf dem sogenannten Torloniarelief (Torlonia Museum Rom Inv.Nr. 430; J. Felbermeyer, Negativ D-DAI-ROM 33.1326 [Ausschnitt]) . . . . . .

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Karte – Die Troas (© Entwurf: Peter Pilhofer 2018, Kartographie: Bernhard Spachmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Hafen von Alexandria Troas mit Tenedos im Hintergrund (Photographie von Peter Pilhofer am 28. Juni 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Abkürzung nach Assos (Photographie von Peter Pilhofer am 27. Juni 2000) Der Weg hinunter zum Hafen nach Assos (Photographie von Peter Pilhofer am 20. März 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karte – Tarsos, Zypern, Antiochien hinter dem Amanos (© Entwurf: Peter Pilhofer 2018, Kartographie: Bernhard Spachmüller) . . . . . . . . . . . . . . Karte – Die zweite Missionsreise (Metzger, Henri [2 1956], Les routes de saint Paul dans l’Orient grec [CAB 4], Neuchâtel/Paris, 23, Fig. 2) . . . . . . . . . . . Brücke der Via Egnatia bei Pëqin (Photographie von Philipp Pilhofer am 3. September 2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karte – Der Weg nach Rom (Metzger, Henri [2 1956], Les routes de saint Paul dans l’Orient grec [CAB 4], Neuchâtel/Paris, 57, Fig. 7) . . . . . . . . . . . . . .

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XII

Abbildungsverzeichnis

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Der Palast des Statthalters in Caesarea ad mare vom Theater aus (Photographie von Peter Pilhofer vom 21. September 1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andriake, der Hafen von Myra in römischer Zeit (Photographie von Philipp Pilhofer am 18. März 2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karte – Die Reise nach Rom nach Warnecke: West-Abschnitt (Warnecke, Heinz [2000], Paulus im Sturm. Über den Schiffbruch der Exegese und die Rettung des Apostels auf Kephallenia, mit einem Geleitwort von Walther Hinz und einem Beitrag von Thomas Schirrmacher, Nürnberg, 89) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das sogenannte Torloniarelief (Torlonia Museum Rom Inv.-Nr. 430; J. Felbermeyer, Negativ D-DAI-ROM 33.1326) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Alexandrinische Münze, Hadrian 133/4 n. Chr. (Thiersch, Hermann [1909], Pharos: Antike, Islam und Occident, Leipzig/Berlin, Taf. I, Abb. 47) . . . . . . . 203 Römisches As, 106 v. Chr., RRC 313/2 (Crawford, Michael H. [1974], Roman Republican Coinage [2 Bd.], Cambridge, Taf. XLI.19) . . . . . . . . . . . . . . . 204 IvP III 145 (Habicht, Christian [1969], Die Inschriften des Asklepieions, mit einem Beitrag von Michael Wörrle [AvP VIII 3], Berlin, Taf. 40) . . . . . . . . . . . . 218

Tabellenverzeichnis 1 2 3

Angenommene Gewichtsaufteilung für das Schiff von La Madrague de Giens . 23 Scatter-Diagramm des Untergangsortes vor La Madrague de Giens mit farblicher Darstellung der Auftretenshäufigkeit im Jahresmittel . . . . . . . . . . . . . 27 Zuordnung der MII-Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Einleitung Mario Baumann (Gießen) und Susanne Froehlich (Greifswald) „Auf segelbeflügelten Schiffen habe ich oft das große Meer befahren . . . “, heißt es in einer kaiserzeitlichen Inschrift, die im Hafen von Brundisium gefunden wurde.1 Die Schiffsreise war in der Antike eine vergleichsweise bequeme, schnelle und preiswerte Art der Fortbewegung, die sich insbesondere dazu eignete, weite geographische Räume zu erschließen. Für lange Reisestrecken ist sie daher immer die Methode der Wahl gewesen.2 Dementsprechend reich ist die Überlieferung an antiken Texten, die sich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen mit Reisen zu Schiff befassen. Im vorliegenden Band wird das Erlebnis der Schiffsreise als ein kulturelles Phänomen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Im Zentrum steht die Frage, wie Reisen zu Schiff wahrgenommen wurden und wie sie in antiken Texten dargestellt sind. Es soll einerseits das Reiseerlebnis selbst und andererseits die literarische Auseinandersetzung damit näher bestimmt werden. Der Sammelband verortet sich damit im Rahmen kulturwissenschaftlicher Fragestellungen zu den Themenkomplexen Reise und Erschließung von Raum. Der Untersuchungszeitraum reicht vom ausgehenden Hellenismus im ersten Jahrhundert v. Chr. bis in die späte Kaiserzeit. Diese Eingrenzung, die über die übliche Epochenschwelle mit dem Beginn des Principats ausgreift, trägt den historischen Gegebenheiten Rechnung, da das Seereisen schon seit dem ersten Jahrhundert v. Chr. mit der Eindämmung der Piraterie und einem insgesamt stark ansteigenden Verkehrsaufkommen vergleichsweise sicher und einfach möglich wurde.3 Dank der Verkehrs- und Rechtssicherheit, die die pax Romana garantierte, war das Gesamtvolumen an Fernreisen im Zeitraum vom ersten vorchristlichen bis zweiten nachchristlichen Jahrhundert exzeptionell hoch.4 Seit dem späten Hellenismus etablierte sich 1 CIL IX 60, Z. 2: navibus velivolis magnum mare saepe cucurri. Es handelt sich um ein Grabepigramm: si non molestum est, hospes, consiste et lege:/navibus velivolis magnum mare saepe cucurri,/accessi terras conplures. terminus hic{c} est,/quem mihi nascenti quondam Parcae cecinere./hic meas deposui curas omnesque labores;/sidera non timeo hic nec nimbos nec mare saevom,/nec metuo sumptus ni quaestum vincere possit./alma Fides, tibi ago grates, sanctissuma diva:/fortuna infracta ter me fessum recreasti./tu digna es, quam mortales optent sibi cuncti./hospes, vive, vale! in sumptum superet tibi semper,/qua non sprevisti hunc lapidem dignumq(ue) dicasti. Die das Reisen betreffende Passage Z. 2–10 lautet übersetzt: Oft habe ich das große Meer auf segelbeflügelten Schiffen befahren; viele Länder habe ich besucht. Doch dies ist das Endziel, wie es die Parzen mir bei der Geburt besungen haben. Hier wurde ich all meiner Plagen und Mühen ledig; hier brauche ich mich nicht zu sorgen um den Stand der Sterne, um Wolken oder raue See, noch muß ich befürchten, daß die Ausgaben die Einnahmen überschreiten (Übersetzung modifiziert nach Schulz 2005, 214f.). 2 Dazu zuletzt Greg Woolf in seinem programmatischen Aufsatz „Movers and Stayers“: „[J]ourneys by land were expensive, difficult and slow even for those who did have diploma that entitled them to use imperial vehiculatio and mansiones“ (Woolf 2016, 458). 3 Zu den Hintergründen dieser Entwicklung Zwingmann 2017, Sp. 919–923. 4 Ebd., Sp. 922. Vgl. auch die Berechnung bei Woolf 2016, 459–460: Woolf veranschlagt für das Römische Reich eine Fernreisekapazität von etwa 1000 Schiffen von 60 bis 350 Tonnen, die pro Jahr vielleicht zwei oder drei

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Mario Baumann und Susanne Froehlich

auch erstmals das touristische Reisen,5 das eine Fülle neuer Reiseliteratur generierte. Diese Literatur bildet den Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge dieses Bandes. Mit diesem Schwerpunkt geht die vorliegende Publikation in zweifacher Hinsicht über die bisherige Forschung zur antiken Schiffahrt hinaus. Denn zum einen dominieren in der altertumswissenschaftlichen Forschung insgesamt bisher Fragestellungen, die sich mit den materiellen, nautischen und logistischen Grundlagen sowie den ökonomischen und politischen Implikationen der antiken Seefahrt beschäftigen; hierzu gehören die Untersuchung der Schiffe und ihrer Konstruktion,6 der Logistik und Organisation von Schiffstransporten,7 die Betrachtung von Seewegen, Handelsrouten und maritimer Wirtschaft,8 ferner auch Fragen nach dem Meer als einem politisch gefaßten und rechtlich gestalteten Raum,9 in dem Mobilität möglich ist.10 Zum anderen ist zu konstatieren, daß sich die Forschung dort, wo sie die literarischen Texte zur antiken Seefahrt in den Mittelpunkt stellt, stark auf einzelne Motivbereiche beschränkt, wobei insbesondere Seesturm und Schiffbruch im Zentrum des Interesses stehen.11 Die Ergebnisse dieser Forschungsfelder werden von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes immer wieder aufgegriffen. Sie werden jedoch in eine anders gelagerte und umfassendere Fragestellung integriert – anders gelagert, insofern der Band Seefahrtserlebnisse und deren textuelle Repräsentationen in den Fokus rückt, umfassender, weil er zum Ziel hat, die bisher stark auf Einzelmotive dieser textuellen Repräsentationen abstellenden Forschungsinteressen zusammenzunehmen und zu erweitern, um auf einer übergreifenden Ebene nach gemeinsamen Darstellungsmechanismen in bezug auf die Seefahrt zu fragen.

Erlebnis und Erfahrung Eine solche übergreifende Ebene wird durch den Begriff des Erlebnisses konstituiert. Mit diesem Terminus greifen wir jüngere kulturwissenschaftliche Fragehorizonte zum Thema »Erfahrung« auf. Insbesondere knüpfen wir dabei an den von Monika Fludernik geprägten Begriff der »experientiality« an:12 Dieser viel diskutierte Begriff 13 aus der sogenannten post-klassischen

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Fernstrecken (mit Hin- und Rückreise) absolvierten. Geht man von durchschnittlich 30 Reisenden pro Schiff aus, ergibt sich mit Woolf eine Kapazität von etwa 60 000 Personenreisen. Geus 2013, vgl. auch Chevallier 1988 und im Blick auf Kleinasien Zwingmann 2012. Vgl. beispielsweise Casson 1971, Göttlicher 1985, Höckmann 1985, Bockius 2007, Harri/Iara 2011. So wurden Probleme wie der Schiffstransfer von Truppen (Emberger 2014) und von Informationen (Andreau/ Virlouvet 2002) untersucht. Vgl. aus dem großen Feld der diesbezüglichen Untersuchungen etwa Gibbins 2000, Jurisic 2000, Bianchetti 2002, Robinson/Wilson 2011. Vgl. Purpura 1995, Mentevecchi 1997, Rickmann 2008, Krampe 2012, Ladewig 2014. Zum Aspekt von Reisen und Mobilität zu Schiff siehe beispielsweise Casson 1978, 173–187, André/Baslez 1993, vor allem 419–447, Beresford 2013, Geus 2014 und Fron 2018 (im Druck). Vgl. Mertens 1987, Ronnick 1993, Crismani 1997, Stefano Manzella 1997, Andreani 1998, Marein 2005, Slater 2006, Williams 2006, Zissos 2006, Faller 2007, Houghton 2007, Börstinghaus 2010, Hilton 2012, Dunsch 2013, Stoffel 2014. Vgl. Fludernik 1996. Vgl. den aktuellen Überblick in Caracciolo 2014a, Rn. 6–14.

Einleitung

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Narratologie bietet sich deswegen als konzeptioneller Bezugspunkt an, weil er zum einen das Verhältnis von menschlicher Erfahrung und menschlicher Repräsentation von Erfahrung zum Angelpunkt der Analyse und Interpretation von Texten macht, zum anderen aber offen bleibt für konkrete Zuspitzungen und Fragen, die sich teils stärker auf die textuelle Darstellung von Erfahrung, teils eher auf die Erfahrung des Rezipienten eines Textes beziehen,14 wobei immer als Kontext der kulturelle beziehungsweise lebensweltliche Erfahrungshorizont mitzudenken ist.15 Damit ist nun nicht gemeint, daß die Beiträge grundsätzlich ihre jeweiligen Texte einer narratologischen Analyse in den Leitlinien des Konzeptes der »experientiality« unterziehen würden.16 Unser methodischer Ansatz geht über eine solche Engführung der Thematik bewußt hinaus, indem den Beiträgen eine Übersetzung dieses allgemeinen Konzeptes in drei spezifische Leitaspekte zugrunde gelegt wurde:17 1. Erfahrung: Unter diesem Aspekt wird untersucht, welche Merkmale das Erlebnis der Schiffsreise ausmachen. Dabei geht es darum, wie der Reisende auf das, was er bei seiner Fahrt wahrnimmt oder was ihm widerfährt, reagiert. Gegenstände der Wahrnehmung sind die konkreten Reisebedingungen (etwa Wetter, Komfort, Mitreisende), aber auch der durchfahrene Raum oder die Absenz von Kommunikationsmöglichkeiten mit den an Land Gebliebenen. Was die Reaktionen des Reisenden angeht, läßt sich ein breites Spektrum aufzeigen, das emotionale beziehungsweise affektive Reaktionen ebenso umfaßt wie wissenschaftliche Erklärungen und ethisch-moralische Wertungen. Der Aspekt der Erfahrung ist besonders eng verbunden mit der Frage nach dem kulturellen und lebensweltlichen Horizont und bildet damit den Ausgangspunkt, an den die beiden folgenden Leitaspekte anknüpfen. 2. Darstellung: Dieser Aspekt zielt auf die Art und Weise, wie das Erlebnis der Seefahrt in den einschlägigen Texten präsentiert wird. Dabei können materiale beziehungsweise mediale Aspekte ebenso relevant sein wie gattungsbezogene Gesichtspunkte oder Fragen nach Formen und Funktionen einer Narrativierung von Seefahrt-Erlebnissen. Allgemein stellt sich unter dem Stichwort der Darstellung die Frage, ob Seefahrt als Gegenstand mit bestimmten textuellen Präsentationsmodi einhergeht: Kann man – zugespitzt formuliert – von einer Poetik der Seereise sprechen? Im Sinne des »experientiality«-Konzeptes wird unter dieser Leitfrage die textuelle Repräsentation von Erfahrung untersucht. 3. Rezeption: Unter diesem Stichwort geht der vorliegende Band der Frage nach, an welche Rezipienten sich diese Texte richten und wie man sich mögliche Rezeptionsprozesse vorzu-

14 Vgl. beispielsweise Margolin 2000 und Palmer 2004 versus Caracciolo 2014b. 15 Vgl. Caracciolos treffende Formulierung vom »experiential background« (Caracciolo 2014a, Rn. 10). 16 Das wäre methodisch insofern möglich, als unter dem Begriff der »experientiality« nicht nur Texte gefaßt werden können, die im klassischen Sinne narrativ sind, sondern alle Texte, die Erfahrungen repräsentieren (Fludernik geht so weit, »experientiality« zur Definition von »narrativity« zu machen). 17 Das Stichwort der Übersetzung rekurriert auf Doris Bachmann-Medicks grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Disziplinen überspannenden kulturwissenschaftlichen Untersuchungsinteressen und konkreten, disziplinär verorteten Gegenständen (vgl. Bachmann-Medick 2010, 19–21).

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Mario Baumann und Susanne Froehlich

stellen hat. Dabei werden insbesondere rezeptionsästhetische Fragen untersucht, etwa in welche Position der Leser zur dargestellten Schiffahrt gebracht wird: Wird er dazu eingeladen, die Reise im Leseakt imaginär mitzuvollziehen? Werden ihm bestimmte Interaktionen mit dem Text nahegelegt, indem er etwa zu emotionalen Reaktionen angeregt wird? Dieser dritte Leitaspekt stellt somit die Erfahrung des Rezipienten in den Mittelpunkt. Alle Beiträge gehen auf einen oder mehrere der Leitaspekte ein, wobei die Schwerpunktsetzung im einzelnen unterschiedlich ist. Auf diese Weise ergibt sich ein vielseitiges, dabei aber methodisch wie inhaltlich kohärentes Tableau, das kurz erläutert werden soll.

Mobilität auf dem Mittelmeer: Reale und fiktionale Erlebnishorizonte Der Band gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil, „Mobilität auf dem Mittelmeer“, untersucht lebensweltliche und fiktionale Erlebnishorizonte der Schiffsreisenden. In den Beiträgen werden die Leitaspekte der Erfahrung und der Darstellung miteinander verschränkt. Den Ausgangspunkt der Sektion bilden zwei grundlegende Betrachtungen zur Sicherheit der römischen Seefahrt und zur genderspezifischen Besonderheit der antiken Schiffsreisentexte. Der Beitrag von Thomas Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch zeigt auf, in welchem Umfang das Erlebnis der Schiffsreise von technischen Voraussetzungen beeinflußt wurde. Die Verfasser widmen sich der Sicherheit römischer Handelsschiffe, die – da es keine eigene Passagierschiffahrt gab – das übliche Fortbewegungsmittel für Seereisende waren. Die Autoren untersuchen die schiffbauliche Qualität, die Navigationstechnik, die Qualifikation der Mannschaften, den Reisekomfort und schließlich Kentersicherheit und Bewegungsverhalten der Handelsschiffe. Sie können aufzeigen, daß die faktische Sicherheit bei Schiffsreisen in römischer Zeit sehr hoch war, daß dies aber zeitgenössisch keineswegs so wahrgenommen wurde: Die spezifischen Eigenschaften der römischen Schiffe sorgten für vergleichsweise starke Stampf- und Rollbewegungen, so daß seemännische Laien schon bei geringem Seegang mit Seekrankheit zu kämpfen hatten. Fehleinschätzungen der Gefahr, Kontrollverlust, Panikattacken und Todesangst, wie sie von antiken Schiffsreisenden beschrieben werden, könnten als typische Symptome der Seekrankheit aufzufassen sein. Im folgenden Beitrag weist Nicola Zwingmann programmatisch auf eine „strukturelle Amnesie“ der antiken Texte in bezug auf reisende Frauen hin. Zwingmann stellt die These auf, daß Frauen weitaus häufiger reisten, als bislang in der Forschung angenommen wird, und dies auch und gerade zur See. Im literarischen Diskurs der Antike werden Frauen an Bord mit typisch „weiblichem“ Verhalten assoziiert: Besonders Gefahrensituationen werden benutzt, um Rollenmodelle weiblicher Tugendhaftigkeit oder weiblicher Überängstlichkeit durchzuspielen. Darüber hinaus werden, wenn es um reisende Frauen geht, häufig die Themenfelder Schiffsreise und Erotik miteinander verbunden, was den Autoren auch ein humoristisches Potential bietet. Anhand der detaillierten Schilderung einer Reisegesellschaft des Synesios (Synes. epist. 5) zeichnet Zwingmann nach, wie sich reale und fiktionale Horizonte überlagern, und gewinnt damit neue Einsichten über den Alltag bei Schiffsreisen. Der Beitrag schließt mit einer Typologie der weiblichen Seereisenden in der Kaiserzeit. Die weiteren Beiträge der Sektion beleuchten individuelle Wahrnehmungen von Reisen zu Schiff. Sie widmen sich mit Cicero und Paulus den beiden wohl bekanntesten Schiffsreisenden

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der römischen Zeit; anschließend werden kaiserzeitliche Gelehrte und schließlich der spätantike Dichter Rutilius Namatianus zu Wort kommen. Zunächst wendet sich Yasmina Benferhat Ciceros Seereisen zu, die sie anhand seiner Briefe untersucht. Benferhat bietet einen Überblick über die meteorologischen Begleitumstände von Ciceros Schiffsreisen, die in seinen Briefschilderungen eine Schlüsselstellung einnehmen. Es zeigt sich, daß Cicero seine Reiseerfahrungen zu Schiff fast durchgängig negativ bewertet; Angst und Seekrankheit waren an Bord seine ständigen Begleiter. (Cicero erweist sich damit als ein geradezu beispielhafter Reisender im Sinne des Beitrags von Kistein, Ritz und Cubasch: Er sieht sich häufig in Gefahr und mißtraut der Kompetenz der Besatzungen sowie der technischen Zuverlässigkeit diverser Schiffstypen.) Im Kontrast zu Ciceros Fernreisenschilderungen stehen die unbeschwerten Erfahrungen, die er im Sommer des Jahres 44 v. Chr. auf einer Reihe kleiner Schiffsetappen entlang der kampanischen Küste machte. Hier wird deutlich, daß Ciceros Gefühle unterwegs ebenso wie die spätere Bewertung seiner Reisen ganz wesentlich durch den jeweiligen Reiseanlaß bestimmt werden. Mit der Reise Ciceros im Juli 44 setzt sich auch Marcus Hellwing auseinander, wobei er neben den Briefen insbesondere die Darstellung der Reise in der ersten Philippica heranzieht, die in mehreren Punkten markant von den Briefschilderungen abweicht. Wie Hellwing herausarbeitet, hatte Cicero die Reise vor allem deshalb angetreten, um den Unruhen nach Caesars Ermordung zu entgehen. Sein Plan war es, bis Griechenland zu reisen und sich dort für längere Zeit als Legat aufzuhalten. Nach Abbruch des Aufenthalts in Griechenland versucht Cicero in seiner politischen Rede vom September, seine überstürzte Abreise aus Rom und Italien zu rechtfertigen. In diesem Licht erscheint die breite Schilderung der Schiffahrt von Rom nach Kampanien und weiter bis Sizilien weniger als ein Reflex der tatsächlichen Stimmungslage Ciceros während der Reise, sondern vielmehr als ein narrativ ausgearbeiteter Hinweis an seine Zuhörer, er habe es keineswegs eilig gehabt, Italien zu verlassen. Im Einklang mit diesem Konzept seiner Rede stellt Cicero seine Rückreise so dar, als habe es ihm gar nicht schnell genug damit gehen können, nach Rom zurückzukehren, um die Republik zu retten. Die Seereisen des Apostels Paulus sind Gegenstand des Beitrags von Peter Pilhofer. Der Verfasser konstatiert, daß das Mittelmeer im Neuen Testament überraschend selten vorkommt: Das Wort θάλασσα bezieht sich in den meisten Fällen gar nicht auf das Meer, sondern auf den See Genezareth. Ein abweichendes Bild ergibt sich lediglich für das lukanische Doppelwerk, wo θάλασσα tatsächlich das Meer meint und namentlich im Kontext der Paulusreisen begegnet. Pilhofer erstellt ein Gesamtitinerar der paulinischen Seereisen, das mit zahlreichen Photographien der historischen Schauplätze illustriert wird. Anhand einer Reisenotiz des Lukas in Apg 20,13f. kann gezeigt werden, daß auch Paulus (ebenso wie Cicero) kein passionierter Seefahrer war. Begab er sich auf eine Schiffahrt, so reiste er nicht allein, sondern mit einer Gruppe von Begleitern; auf diese gehen offenbar die jeweiligen Itinerare der Apostelgeschichte zurück. Was Paulus selbst über Seereisen dachte, läßt sich anhand des Peristasenkatalogs in 2Kor 11,22–29 herausarbeiten: Paulus assoziiert Schiffsreisen mit „Gefahr“ und „Krise“. Dennoch plante Paulus, bis nach Spanien zu reisen, und ist damit der einzige Missionar im ersten Jahrhundert, der einen globalen – eben mittelmeerweiten – Blickwinkel einnahm. Der anschließende Beitrag von Christian Fron untersucht, welche Bedeutung die Wahl des Schiffs als Verkehrsmittel für den Charakter von Reisen in kaiserzeitlichen Gelehrtenbiographien hat. Fron vergleicht die Wahrnehmung von Land- und Seereisen und arbeitet heraus, daß ein

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Reisender an Land in der Öffentlichkeit stand und in den Städten unterwegs seiner Lehrtätigkeit nachgehen konnte, während er auf einer Schiffsreise aus der menschlichen Gesellschaft heraustrat, von jeder Kommunikation abgeschnitten war und sich ganz dem unsicheren Element und dem Wohlwollen der Götter anvertrauen mußte. Die Schiffsreise galt als anonym und schnell, sie eignete sich damit zur Flucht und für heimliche Aktionen aller Art. Für Philosophen, die die eigene Genügsamkeit zur Schau stellen wollten, bot das von der Öffentlichkeit unbeachtete Reisen zu Schiff außerdem einen willkommenen Gegensatz zu Landreisen, die von prunkvollen Empfängen bei jeder Unterwegsstation begleitet wurden. Der letzte Beitrag dieser Sektion führt mit Rutilius Namatianus ins fünfte Jahrhundert. Der Dichter schildert in De reditu suo seine Schiffsreise von Rom nach Gallien im Jahr 417. Isabell Höhler zeigt in ihrer Analyse auf, daß die Schiffsreise dem Dichter nicht nur aus praktischen Gründen, das heißt zumal angesichts der veränderten Sicherheitslage dieser Zeit, als das kleinere wählbare Übel erscheint, um nach Gallien zu gelangen. Vielmehr beschreibt Rutilius im Bild des (See-)Reiseweges und seiner Unwägbarkeiten zugleich die Schwierigkeiten einer poetischen Narrativierung dieser Reise: Seine Dichtungsfahrt schlingert gleichsam zwischen den intertextuell immer wieder aufgerufenen Bezugsgattungen des Epos und der Satire hin und her, ein Vorgang, der dem Leser mimetisch und geradezu performativ vor Augen geführt wird. Mit dieser Eigenschaft stellt sich De reditu suo, so Höhlers These, als handlungsorientierter Versuch dar, dem Neuen und der Umbruchsituation, in der sich die Erfahrungswelt des Dichters zu befinden scheint, literarisch gerecht zu werden.

Nautik und Götter: Reisen unter göttlichem Schutz Der zweite Teil „Nautik und Götter: Reisen unter göttlichem Schutz“ behandelt einen Aspekt, den die antiken Texte zur Schiffahrt in ganz herausgehobener Weise betonen. Da Schiffsreisen als unwägbar gefährlich wahrgenommen wurden, wurden sie noch stärker als andere Lebensbereiche mit religiösen Vorstellungen verbunden und von kultischen Praktiken begleitet.18 Wie weit der Einfluß der Götter reichte und in welcher Weise er sich manifestierte, wird in den untersuchten Texten jedoch ganz unterschiedlich dargestellt. Entsprechend werden die Leitaspekte der Erfahrung und der Darstellung in den einzelnen Beiträgen verschieden gewichtet. Diese Sektion wird von zwei Beiträgen eröffnet, die sich unter verschiedenen Blickwinkeln mit der Textualität ihrer literarischen Untersuchungsgegenstände beschäftigen. So zeigt Helmut Krasser auf, wie in Statius’ Silve 3,2 – einem Geleitgedicht für Maecius Celer, der sich vermutlich im Jahr 91 n. Chr. auf eine Dienstreise an die römischen Ostgrenze begab – der Dichter die Situation von Abschied und Reise prozessual vor dem Auge des Lesers entfaltet: Sowohl in der Anrufung der Meeresgötter, mit der das Gedicht beginnt, als auch im später folgenden Isishymnus wird das Geschehen nachgerade szenisch-performativ dargeboten – so wird der Dichter etwa zu einer Art poetischem Reiseleiter, indem er im Isishymnus die Göttin als Perihegetin auftreten läßt, die Celer zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Ägyptens führt. Die auf diese Weise stark hervortretende Präsenz des Dichters wird durch eine weitere Dynamik

18 Vgl. nur den Klassiker Wachsmuth 1967.

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des self-fashionings ergänzt, durch die Strategie des Textes nämlich, die Dienstreise des Maecius Celer auf eine epische Folie zu stellen. Dadurch läßt der poeta cliens zum einen seinen patronus Celer als Mitglied einer kultivierten Elite erscheinen, nimmt zum anderen aber diesen den Adressaten betreffenden Akt literarischer Präsentation im starkem Maße auch für sich selbst in Anspruch: Durch die Konstruktion epischer Referenzräume wird die Reise des Celer zum Ort der Inszenierung dichterischer amicitia und zugleich zur Projektionsfläche literarischen und zumal epischen Geltungsanspruchs. Der folgende Beitrag von Boris Dunsch verfolgt das Ziel, die Debatte um den Kontext und die Funktion des Oceanus-Hymnus Anth. Lat. I2 , 718 R. neu zu eröffnen. Dunsch legt dazu eine detaillierte Interpretation dieses in der Forschung noch nicht eingehend behandelten Hymnus vor; dabei nimmt er Fragen der Textkonstitution ebenso in den Blick wie die Wortwahl und überhaupt die Stilistik des Gedichtes, seine Struktur (die dem Schema eines kletischen Hymnus folgt) und die Auseinandersetzung seines namentlich nicht überlieferten Dichters mit der literarischen Tradition. Zwei Aspekte erweisen sich in dieser Analyse als besonders bemerkenswert: Zum einen stellt der Hymnus an Oceanus im Gegensatz zum sonst in der antiken Literatur dominierenden Fokus auf den Gefahren, ja dem Scheitern der Schiffahrt gerade die Vision der gelungenen Seefahrt in das Zentrum. Zum anderen ist im Hymnus eine deutlich markierte Lukrez- und Vergil-aemulatio zu beobachten, die vor allem in zahlreichen Verweisen auf die Lehrdichtungen De rerum natura und Georgica hervortritt. Anknüpfend an dieses letztere Analyseergebnis plädiert Dunsch dafür, im Oceanus-Hymnus ein durch die Ungunst der Überlieferung versprengtes Proömium einer größeren Dichtung zu sehen, wahrscheinlich einer Lehrdichtung, die sich mit der Seefahrt beschäftigt hat. Den alltagshistorischen wie machtpolitischen Implikationen des Themenfeldes „Nautik und Götter“ geht der sich anschließende Beitrag nach, in dem Bernadette Descharmes Schutz- und Geleitvorstellungen am Beispiel der Gottheiten Aphrodite, Venus und Isis untersucht. Die Römer hatten Aspekte der Göttinnen Aphrodite, Astarte und Isis mit ihren Vorstellungen von Venus als Schutzpatronin der Seefahrt verschmolzen; entsprechende Heiligtümer lassen sich auf Inseln und in Hafenstädten nachweisen. Isis wurde schon seit hellenistischer Zeit als Schützerin der Kriegsflotte und der Getreidelieferungen aus Ägypten betrachtet. Als Herrscherin des Meeres wurde sie in ptolemäischer Tradition auch von Sulla und Pompeius in Anspruch genommen. Die Verbindung der Venus zur Schiffahrt dagegen, so Descharmes, wurde in den Hintergrund gedrängt, seit Caesar und Octavian die Göttin als Stammmutter der julischen Familie propagierten. Wie die Verfasserin im folgenden detailliert nachzeichnet, praktizierten Reisende und Seeleute vor, während und nach Schiffsreisen Kulthandlungen, um sich unter den Schutz der Göttinnen zu stellen; namentlich Gebete, Opfer, Gelübde und Weihungen. Anhand bildlicher Darstellungen ist plausibel nachvollziehbar, daß man sich die Gottheit während der Schiffsreise als wirklich anwesend dachte. Die beiden folgenden Beiträge wenden sich zwei konkreten Einzelfällen zu, in denen es um Erfahrungen göttlicher Präsenz bei Seereisen geht. Jens Börstinghaus untersucht die Rolle der göttlichen Hilfe in Seenotsituationen bei Aelius Aristides. Er interessiert sich dabei insbesondere für die individuelle Beziehung des Rhetors zu seinem persönlichen Soter Asklepios und für die Frage, welches Bild seiner Religiosität Aristides anhand seiner Schiffsreisenerlebnisse konstruiert. Hatte Aristides in früheren Phasen seiner Biographie Zeus und Sarapis in Seenot um Hilfe

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angefleht und ihnen seine Rettung zugeschrieben, so schildert er in den Hieroi Logoi gleich zwei Gefahrensituationen auf See, in denen Asklepios zu seinen Gunsten eingreift. Daß Aristides sich in Krisensituationen durch Asklepios an Bord geborgen und von ihm aus Seenot gerettet glaubt, ist Börstinghaus zufolge ein konstitutives Element der Selbstcharakterisierung seiner religiösen Identität. Im letzten Beitrag dieses Teils, der den Bogen von der paganen zur christlichen Vorstellungswelt schlägt, geht Matthias Schmidt der Frage nach, wie die Bemerkung in Apg 28,11 zu bewerten ist, nach der Paulus bei seiner letzten Seefahrt von Melite nach Rom auf einem Schiff im Zeichen der Dioskuren reist. Da nach Unglücken aller Art von diesem Punkt der Reise an alles glatt läuft, bedient der Hinweis auf Kastor und Polydeukes scheinbar die Logik des paganen Götterglaubens. Schmidt kann jedoch zeigen, daß die Verehrung der Schutzgötter nach der Darstellung der Apostelgeschichte für den Verlauf der Reise tatsächlich gar keine Rolle spielt. Weder vor noch während der Reise werden Opfer dargebracht, und noch im Angesicht der schlimmsten Katastrophen spricht niemand ein Gebet. Im Gegenteil begründet Lukas die Ereignisse auf See strikt innerweltlich: Die Reisenden geraten durch eigenes Verschulden in Gefahr. Paulus erscheint in diesem Zusammenhang als ein nautisch bewanderter Analytiker, der den Seeleuten plausibel begründete Ratschläge zu geben weiß. Erst eine nächtliche Offenbarung macht deutlich, daß der Gott Israels beschlossen hat, Paulus und seine Mitreisenden zu beschützen.

Poetik der Seereise: Das Meer als literarisch gestalteter Raum Der dritte Teil des Bandes präsentiert unter dem Titel „Poetik der Seereise“ Beiträge, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie ihren Schwerpunkt auf die Leitaspekte der Darstellung und der Rezeption legen. Die Anordnung der Beiträge innerhalb dieser Sektion folgt dabei der Chronologie der untersuchten Texte. Die Sektion wird eröffnet von Doris Meyers Beitrag, der untersucht, wie es den frühhellenistischen Dichtern Kallimachos und Poseidipp gelingt, das ursprünglich in Epos und Lyrik beheimatete Thema „Schiffbruch und Rettung“ in einem historisch und kulturell neuen Rahmen zu verankern. Wie Meyer aufzeigt, verfolgen beide Dichter dazu unterschiedliche Strategien: In den Epigrammen des Poseidipp werden die langen Distanzen, die von den Seefahrern der allgegenwärtigen Gefahr zum Trotz bewältigt werden, mit Hilfe epischer Reminiszenzen geopoetisch gefeiert. Kallimachos hingegen wählt eine andere Vorgehensweise, durch die er der Weisheit und eher kritischen Sicht auf die Seefahrt bei den großen poetischen Vorbildern treu zu bleiben scheint und doch auch den technischen Optimismus der eigenen Zeit bedient. So schafft er durch Modifikationen der Gattungsmerkmale, Sprecherrollen und Kommunikationssituationen textimmanent einen neuen Rahmen. Die vermeintliche Ablehnung der Seefahrt – so Meyers These – unterstreicht die Bedeutung der Könige und Götter für das Wohlergehen der alexandrinischen Griechen. Zugleich positioniert sich aber auch der Dichter, der in Anknüpfung an Hesiod als ein zwischen Herrschergötter und Menschen gesetzter Vermittler von „Wahrheiten“ unverzichtbar ist. Im anschließenden Beitrag widmet sich Christian Haß den nautischen Vergleichen und Metaphern in Vergils Georgica. Haß zeigt in einem ersten Schritt auf, daß Pflügen und Seefahrt

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im ersten Georgica-Buch zwei konkurrierende metapoetische Denkfiguren darstellen, die sich vor allem in ihrer jeweiligen Zeitform unterscheiden: Während das wiederholte Pflügen in seiner Rekursivität der zyklisch organisierten Welt des Bauern zugehört, steht die Seefahrt als eine zielgerichtete Bewegung metaphorisch für eine lineare und teleologische Organisationsform. Dabei wird die Zeitform der Linearität mit dem Sprechmodus des Epos, die Zeitform der Zyklizität hingegen mit dem Sprechmodus des Didaktischen assoziiert. In einem zweiten Schritt analysiert Haß die recusatio der Schiffahrt in georg. 2,35–46 und macht die These plausibel, daß hier der sprachliche Gegenstandsbezug nicht mehr ein metaphorischer, sondern ein metonymischer ist – von einer Seefahrtsmetapher (Dichtung und Rezeption als Schiffahrt) bewegt sich der Sprecher der Georgica zu einer „Metonymie der Erde“, indem er Dichten und Rezipieren als „Beackern“ von terrae figuriert. Damit geht insbesondere ein konkreter Bezug auf das Werk selbst einher, läßt sich doch die Schlüsselphrase in manibus terrae (2,45) auch verstehen als in manibus τὰ Γεωργικά („in den Händen [nämlich von Dichter und Rezipient] liegen die Georgica“). Ein weiterer Dichter der augusteischen Zeit, nämlich Horaz, steht im Mittelpunkt des Beitrages von Johannes Breuer. Breuer entfaltet zunächst ein detalliertes Inventar der Seefahrtsmotivik in Horazens lyrischen Gedichten und zeigt dabei ihren großen Facettenreichtum auf: Die Seefahrtsmotivik umfaßt Geleitgedichte, Aufbruchsszenen, Situationen von drohender oder aktueller Seenot und tatsächlichem Schiffbruch genauso wie die erhoffte oder tatsächliche Ankunft von Reisenden, und sogar Seeschlachten aus der Zeit der Punischen Kriege wie der zeitgenössischen Bürgerkriege werden aufgegriffen. Ebenso vielgestaltig sind, wie Breuer im Anschluß darlegt, die Funktionen dieser nautischen Elemente: Abgesehen von genre-immanenter Notwendigkeit wie im Falle von Propemptika verleihen sie Beteuerungen zusätzliches Gewicht, schildern anschaulich die Ausprägung menschlicher Eigenschaften oder symbolisieren Ereignisse der römischen Geschichte oder Gegenwart, um protreptisch oder apotropäisch zu wirken. Darüber hinaus liefern sie Stoff für Enkomiastik auf Götter, Heroen und Menschen. Schließlich dient die Seefahrt als Argument-, Bild- und Metaphernspenderin, um philosophischethische Überlegungen, Aspekte der condition humaine oder auch poetologische Grundsätze zu illustrieren. Im folgenden Beitrag zeigt Ulrike Egelhaaf-Gaiser auf, wie sich in der Schiffahrtsepisode in Petrons Satyrica (Kapitel 100–115) um die Figur des Dichters Eumolp herum eine Poetik des Schiffbruchs entspinnt. Die Funktion Eumolps als meta-literarischer Kristallisationsfigur zeigt sich dabei gleich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen wird Eumolp dem Leser des Romans als Figur präsentiert, die zwar Ambitionen auf den Status eines poetischen Steuermannes hat, deren Bemühungen aber durch die ungewollte Rettung aus der Seenot der Boden entzogen wird, bleibt Eumolp doch so der erstrebte grandiose Dichtertod auf See verwehrt. Andererseits aber betätigt sich Eumolp während der Schiffsreise als kundiger Ratgeber, als eloquenter Verteidiger und als tatkräftiger Helfer für seine beiden von der Situation überforderten Gefährten, so daß er zumindest episodenweise zum Konstrukteur der Romanhandlung und damit zum alter ego des Autors avanciert. Außerdem ist es am Ende der Episode Eumolp, der als gestrandeter Dichter und geerdeter Romanheld die stürmische Seereise doch noch erfolgreich und zu gegebenem Zeitpunkt zu einem markanten Schlußpunkt führt: Er dichtet ein Grabepigramm auf den ertrunkenen Steuermann Lichas und besiegelt so mit einer quasi-auktorialen Sphragis die Erzähleinheit.

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Die literarische Repräsentation der Schiffsreise in der flavischen Zeit untersucht Nina Mindt, deren Beitrag sich vor allem auf Plinius d. Ä. und Valerius Flaccus konzentriert. Wie Mindt herausarbeitet, gibt es zwischen den Werken der beiden Autoren, auch wenn sie verschiedenen Gattungen angehören – nämlich der Wissens- und der epischen Erzählliteratur –, viele Überschneidungen: Das betrifft die historiographischen und geologisch-geographischen Einschläge und die (wenn auch unterschiedliche) Verarbeitung von Periplus-Literatur, aber auch den gelehrten Umgang mit den Quellen, welcher explizit reflektiert wird. Die Seereise und deren Akteure werden zudem unter ganz ähnlichen Kategorien besprochen. Bei den verschiedenen Autoren lassen sich dabei unterschiedliche Wertungen in einzelnen Kategorien der Seefahrt erkennen: Bei Plinius werden die Verkürzung der Distanz und der zu Luxus degenerierende Handel negativ bewertet, bei Valerius der Krieg. Der Zusammenhang von Macht, Krieg und Meer ist allerdings bei beiden präsent. Die Seereise erweist sich so als ein aktuelles Thema, an dem sich Chancen und Gefahren, positive und negative Tendenzen des imperialen flavischen Rom ablesen lassen: in der Realität, in der Literatur und als Symbol für das eigene Schreiben. Den dritten Teil des Bandes beschließt der Beitrag von Cordula Bachmann. Gegenstand der Untersuchung ist hier eine Bildbeschreibung aus den Eikones des älteren Philostrat, die unter dem Titel Nêsoi/Inseln ein Gemälde schildert, das eine Gruppe von Inseln im Meer zeigt. Wie Bachmann darlegt, ist die Bildbeschreibung als Inselkreuzfahrt gestaltet, wobei die Empfindung des Fahrens vom Autor in erster Linie durch die Abfolge der angefahrenen Inseln und das sich auf ihnen abspielende Treiben vermittelt wird, während die Fahrt als solche nur einen kleinen Teil des Berichts einnimmt. Bachmann parallelisiert dieses Vorgehen mit modernen Kreuzfahrten, bei denen auch die Landausflüge und die angefahrenen Attraktionen im Mittelpunkt stehen: Die Summe der an Land gemachten Erfahrungen und die Anzahl der auf der Fahrt genossenen Sehenswürdigkeiten wird auch heute als Gradmesser für die Qualität der gesamten Reise betrachtet. In seinen Inseln, so Bachmanns Folgerung, zeigt Philostrat sich also nicht nur mit den Techniken der Malkunst bestens vertraut und präsentiert sich als Meister der rhetorischen Interpretationskunst. Vielmehr reflektieren die Nêsoi bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Erfahrung einer ausdrücklich touristischen Exkursion auf einer Art „Vergnügungsdampfer“.

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Teil I Mobilität auf dem Mittelmeer Reale und fiktionale Erlebnishorizonte

»Schiffe, dem Tode willkommene Mittel« Eine technikhistorische Betrachtung der Sicherheit römischer Handelsschiffe * Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch (Berlin) „Geht denn, wölbet noch Schiffe, dem Tode willkommene Mittel [. . . ]“, dichtete Sextus Propertius, nachdem ein Freund bei einem Schiffsuntergang ertrunken war.1 Viele Texte des Altertums berichten von gefahrvollen Seereisen, Schiffbrüchen und dem Tod auf dem Meer.2 Allerdings wächst ihre Zahl in der späten Römischen Republik und der Kaiserzeit. Dafür lassen sich allein mit Blick auf die Texte und ihren allgemeinhistorischen Kontext mehrere Gründe diskutieren: eine quantitativ bessere Überlieferungssituation, eine Zunahme des Reiseverkehrs, eine daraus folgende Änderung der Passagierstruktur und eine veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung der Seereise. Doch ohne die technische Betrachtung der Fahrzeuge läßt sich die Frage, ob römische Schiffe sicher oder Seelenverkäufer waren, kaum beantworten. Nach heutigem Forschungsstand erreichten Schiffbau und Schifffahrt in der römischen Kaiserzeit einen technologischen Höhepunkt. Folglich könnten viele Texte über die Gefahren der See eher der subjektiven Wahrnehmung ihrer Autoren entsprungen sein. Diese These bildet den Ausgangspunkt der folgenden Darstellung. Sie betrachtet zuerst die schiffbauliche Qualität des römischen Handelsschiffes, die Navigation und die Qualifikation der Mannschaften. Hinzu kommt der Reisekomfort, der den Eindruck der Passagiere von einer Seereise stark beeinflusst. Im Mittelpunkt der vorliegenden Darstellung steht die ingenieurwissenschaftliche Untersuchung von Kentersicherheit und Bewegungsverhalten römischer Handelsschiffe. Sie erfolgte anhand des Wracks von La Madrague de Giens (vgl. Abbildung 1). Kentersicherheit und Bewegungsverhalten beeinflussen die Sicherheit eines Schiffes maßgeblich. Starke Schiffsbewegungen beeinträchtigen aber auch das Wohlbefinden von Passagieren und Mannschaft. Eine häufige Folge ist die Seekrankheit, die viele Textquellen auch für die Antike belegen.3 Die Erkrankten leiden physisch und psychisch. Daher könnten vor allem seekranke Passagiere die ungewohnten Situationen an Bord schnell als Zeichen höchster Gefahr missdeutet haben.4 Die Seekrankheit wird so zu einem wichtigen Aspekt bei der kritischen Betrachtung historischer Seereiseberichte. * Die Autoren danken folgenden Wissenschaftlern und Organisationen für ihre Unterstützung bei der hier vorgestellten Studie: Besonderer Dank gilt Prof. Patrice Pomey für die Bereitstellung der Linienrisse sowie Dr. Ronald Bockius und Dr. Olaf Höckmann für ihren Rat und ihre Unterstützung. Weiterhin gilt unser Dank der BMT ARGOSS B.V. für die Bereitstellung der Seegangsdaten. 1 Properz III 7,29, Übers. Jacob/Binder 1914. 2 Mit einschlägigen Beispielen befassen sich im vorliegenden Band die Beiträge von Jens Börstinghaus (siehe unten, S. 209–225), Ulrike Egelhaaf-Gaiser (siehe unten, S. 329–348), Doris Meyer (siehe unten, S. 257–269) und Nicola Zwingmann (siehe unten, S. 37–60). 3 Oldelehr 1977, passim. 4 Marchaj 1988, 101.

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Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch

Abbildung 1: Handelsschiff vom Typ Ponto (Mosaik, Ostia; Beccatti 1961, Taf. CLXXXI, Nr. 110)

1. Die Seereise in römischen Textquellen Römische Prosa und Lyrik, Briefe, Biographien und Reisebeschreibungen berichten oft von den Gefahren der See. Wenn Plinius der Jüngere eine seiner Seereisen als „zuträglich für meine Gesundheit“5 beschreibt, so bildet dieses positive Urteil eine Ausnahme. Die meisten Texte zeichnen ein anderes Bild. Die größte Katastrophe überliefert Flavius Josephus: „Unser Schiff sank mitten auf dem Adriatischen Meere unter und wir mußten, fast 600 an der Zahl, die ganze Nacht hindurch schwimmen. Endlich, gegen Tagesanbruch, kam uns durch Gottes Fürsorge ein Fahrzeug aus Kyrene zu Gesicht, in das ich, neben einigen anderen [. . . ,] im ganzen etwa 80, aufgenommen wurde.“6 Einige Jahre zuvor war der Apostel Paulus auf derselben Route nur knapp einer Schiffskatastrophe entgangen.7 Auch den Dichter Terenz verschlang die Adria, als er von Griechenland nach Rom zurückreisen wollte.8 Lukrez nennt die Seefahrt eine „verderbliche Kunst“,9 und Seneca spricht vom „auch für die stärksten Männer furchtbaren Meere“.10

5 Plinius der Jüngere, Briefe X 17a,1, Übers. Klussmann/Binder 1912. 6 Flavius Josephus, Vita 3, Übers. Clementz 1923. 7 Apostelgeschichte 27,14f., Einheitsübersetzung 1983. Zur Romreise des Paulus insgesamt vgl. Seul 2003 und Börstinghaus 2010, weiterhin im vorliegenden Band die Beiträge von Peter Pilhofer (siehe unten, S. 109–114) und Matthias Schmidt (siehe unten, S. 229–251). 8 Sueton beruft sich auf Quintus Cosconius, nennt unter Berufung auf andere Quellen aber auch alternative Todesursachen. Sueton, de Poetis 11,82–87. 9 Lukrez V 1006, Übers. Binder 1910. 10 Seneca, ad Helviam 19,5.

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Öfter als tatsächliche Unfälle schildern antike Autoren Beinahekatastrophen. So beklagt Aelius Aristeides zahlreiche gefahrvolle Seefahrten.11 Cicero schreibt Atticus, „welche Angst (er) ausgestanden habe, als (er) im vorigen Jahr [. . . ] zur See war.“12 Besonders dramatisch schildert Synesios von Kyrene seine stürmische Fahrt: „Die Männer stöhnten, die Frauen schrien, jedermann rief Gott an, weinte laut und rief den Namen seiner Lieben.“13 Properz „verflucht“ jenen, „der Segel und Ruder erfunden, der in das grollende Meer Pfade zu schlagen versucht!“14 Und der alte Cato „pflegte zu sagen [. . . ,] er habe in seinem Leben nicht mehr als drei Dinge bereut [, darunter], dass er zur See nach einem Orte gereist sei, wohin er auch zu Lande hätte kommen können.“15 Die Beispiele ließen sich fast unbegrenzt fortsetzen. Alle römischen Texte über die Gefahren der See stammen von seemännischen Laien. Ihre Autoren erlebten die Seereise mit dem begrenzten Erfahrungshorizont eines Passagiers. Von einigen Autoren ist nicht einmal bekannt, ob sie je ein Schiff betreten haben. Entsprechende Texte von Seeleuten fehlen. Ihre Alltagstexte, wohl meist Briefe, sind fast vollständig verloren.16 So bleiben der Historiographie nur die Texte prominenter Autoren. Ob ihre Schilderungen realistisch sind, muss kritisch hinterfragt werden. Die große Zahl römischer Seereisetexte könnte aus einer intensivieren Reisetätigkeit resultieren, denn das zentralistisch organisierte Reich schickte Politiker und Diplomaten, Offiziere und Soldaten in bisher ungekanntem Umfang auf Reisen. Auch die Gruppe der Händler wuchs in einem Imperium, das zunehmend überregionale Märkte bildete. Die ersten Touristen kamen in der Kaiserzeit hinzu. Längere Vergnügungs- oder Bildungsreisen konnte sich zwar nur die Oberschicht leisten, doch gerade aus dieser Schicht ist die Überlieferungssituation von Textquellen besonders gut.17 Dass die Autoren eher Außergewöhnliches thematisieren, einen Sturm oder einen Schiffsuntergang, kann vorausgesetzt werden. Der langweilige Alltag an Bord bot wenig Interessantes. Den gestiegenen Seereiseaktivitäten der Römer stand ihre historisch bedingte Fremdheit der Seefahrt gegenüber. Griechen oder Phönizier befuhren die Meere viel intensiver. Sie betrieben schon früh überseeischen Handel, schickten ihre Landeskinder an ferne Küsten, um Kolonien zu gründen, und führten Kriege zur See. Odysseus oder die Argonauten gehörten zu ihren Helden. Die Römer dagegen blieben über Jahrhunderte Landmenschen. Ihr Ideal war der Bauer. Ihre Kriege fochten die Römer zu Land aus, bis sie der erste Punische Krieg zwang, eine eigene Kriegsflotte zu bauen. Die bloße Häufung überlieferter Textquellen belegt also nicht zwangsläufig eine besondere Gefährlichkeit der römischen Handelsschifffahrt. Belastbares statistisches Quellenmaterial zu

11 Vgl. unter anderem Aelius Aristeides, or. XLIII 2 und XLVIII 65f. Vgl. zu den Seenoterlebnissen des Aristides im vorliegenden Band den Beitrag von Jens Börstinghaus (siehe unten, S. 210–223). 12 Cicero, ad Atticum 10,12,4, Übers. Wieland 1841. Vgl. zu Seereisen des Cicero im vorliegenden Band die Beiträge von Yasmina Benferhat (siehe unten, S. 67–78) und Marcus Hellwing (siehe unten, S. 81–95). 13 Synesios, Epistulae 5,118–120, zitiert nach Casson 1976, 184f. 14 Properz I 17,13f., Übers. Jacob/Binder 1914. 15 Plutarch, Cato Major 9,9, Übers. Eyth 1912. 16 Briefe von Seeleuten liegen nur ganz vereinzelt vor. Vgl. Casson 1979, 332.375. 17 Zum Reisen in der römischen Welt vgl. unter anderem Giebel 1999, 131–138.

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antiken Seeunfällen fehlt. Trotzdem gehen viele Schätzungen von hohen Unfallraten aus. So vermutet Viereck, dass 25 Prozent der ausgelaufenen Schiffe nicht ankamen.18 Wachsmuth schätzt die Verluste für die Getreidefahrt zwischen Ägypten und Rom auf 20 Prozent des Frachtraumes. Höckmann dagegen schätzt allein die Totalverluste von Schiffen schon auf 20 Prozent. Hinzu kämen Ladungsverluste durch von Wasser verdorbene Ladung oder das Leichtern der Schiffe im Sturm.19 Gegen derart hohe Verlustschätzungen sprechen unter anderem die hohen Baukosten der Schiffe. Das Altertum arbeitete fast ausschließlich in Hand-Werkzeug-Technik. Auch große Handelsschiffe entstanden in Handarbeit. Zwar konnte die Archäologie inzwischen wassergetriebene Sägemühlen nachweisen, doch ist zweifelhaft, ob diese in großem Umfange oder gar im Schiffbau eingesetzt wurden.20 Zum hohen Arbeitsaufwand kamen die Materialkosten. Metalle oder spezielle Hölzer für den Schiffbau waren teuer. Allein der Preis eines Segels übertraf den Jahreslohn eines Handwerkers.21 So bleibt fraglich, ob sich ein Handelsschiff amortisierte, wenn es schon nach fünf Fahrten unterging. Fraglich ist auch, ob Passagiere ein Schiff bestiegen hätten, wenn sie mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu vier mit einer Katastrophe rechnen mussten. Zudem verfügten die Römer erstmals über ein dichtes Netz befestigter Straßen, die auf vielen Routen eine Alternative zur Seereise boten. Auch das Anwerben einer Mannschaft wäre schwierig gewesen, wenn den Männern nach ein oder zwei Jahren das nasse Grab drohte. Bestand die Mannschaft aus Sklaven, würde der Reeder Verluste erleiden, wenn sein Eigentum schon nach wenigen Fahrten ertrank. Sogar ein Sklave ohne besondere Qualifikation kostete über 10.000 Denare. Diese Summe entsprach zwei Jahreslöhnen eines Arbeiters. Zudem mußte der Besitzer seine Sklaven ernähren, kleiden und mit Trinkgeldern oder anderen Zuwendungen zur Arbeit motivieren. Sklaven amortisierten sich also erst nach Jahren.22 Starb ein Sklave, zumal kurz nach dem Kauf, verlor sein Besitzer Geld.

2. Das römische Handelsschiff Römische Handelsschiffe segelten. Gerudert wurden nur Kriegsschiffe, bei denen die Kosten und der Platzbedarf der Ruderer keine Rolle spielten. Antike Handelsschiffe beförderten zugleich Passagiere und Fracht. Große hochseegehende Segler erreichten in der späten römischen Republik und der Kaiserzeit Längen von bis zu 50 Metern, doch konstruktiv waren sich kleinere und größere Schiffe ähnlich. Die Seefahrt birgt bis heute Risiken. Ein Schiff kann leckschlagen oder kentern, an einer Küste zerschellen oder in Brand geraten. Schiffe sind komplexe technische Systeme, deren Sicherheit

18 Viereck 1996, 124f. 19 Höckmann 1985, 91. 20 Der bisherige Forschungsstand deutet eher auf Sägemühlen zur Steinbearbeitung hin. Vgl. unter anderem Oleson 2008, 50–53 und Grewe 2012, 86f. 21 Kosten geschätzt nach den Preisen für Textilien und den Arbeitseinkommen um 300 n. Chr., siehe Prell 1997, 206–208. 22 Löhne, Sklavenpreise und Zusatzkosten um 300 n. Chr., siehe Prell 1997, ebd.

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vom Zusammenspiel verschiedener Komponenten abhängt: Form und mechanische Stabilität des Rumpfes, Segeleigenschaften, Schiffsstabilität oder Navigation. Hinzu kommt das Geschick der Besatzung, die sogenannte Seemannschaft. Auf einen Schiffsrumpf wirken vor allem durch den Wasserdruck erhebliche Kräfte, denen er standhalten muß. Römische Schiffsrümpfe entstanden vorwiegend in der besonders hochwertigen Schalenbauweise. Dabei wurden die Planken an ihren Schmalseiten durch Holzbrettchen und Holzstifte direkt miteinander verbunden. Der so entstandene Rumpf wurde anschließend durch Spanten zusätzlich ausgesteift. Diese Bauweise erhöhte die Festigkeit des Rumpfes und wirkte dem Lockern und Aufreißen der Plankennähte entgegen. Besonders belastete Rumpfteile bestanden aus Hartholz. Dünne Bleiplatten schützten die Rümpfe vor Feuchtigkeit, Bewuchs und Bohrwürmern. Im Vergleich zum klassischen Griechenland hatte der Schiffbau sogar Fortschritte gemacht. Große Handelsschiffe erhielten geschlossene Oberdecks, die im Sturm das Eindringen von Wasser verhinderten. Das Spantenskelett wurde stabiler, und einige der großen Schiffe erhielten sogar doppelte Plankenlagen. Insgesamt entsprach die Qualität der römischen Schiffsrümpfe jenen der Frühen Neuzeit, teilweise genügten sie sogar heutigen Bauvorschriften.23 Trotz der hohen Qualität römischer Schiffsrümpfe wurden Lecks schnell gefährlich, denn die Handpumpen konnten starke Wassereinbrüche kaum bewältigen.24 Zudem fehlten den Rümpfen wasserdichte Längs- und Querwände. Ohne diese Schotten verteilte sich eindringendes Wasser ungehindert im gesamten Schiff. Fehlende Schotten waren aber kein spezifisch römisches Problem. Auch Feuer gehörte zu den Gefahren. Öllampen, Kerzen und Kochherde konnten die hölzernen Schiffe schnell in Brand setzen. Doch auch dieses Risiko bedrohte Schiffe noch lange. Öllampen oder Kerzen verschwanden erst am Ende des 19. Jahrhunderts, dank elektrischer Beleuchtung. Ging ein römisches Schiff unter, mussten viele Menschen schwimmen, sich an Wrackteile klammern oder ertrinken, denn Handelsschiffe besaßen nur ein einziges Beiboot. Allein Flavius Josephus berichtet schon von mehreren Hundert Toten.25 Über die Sicherheit eines Schiffes entscheiden auch seine Segeleigenschaften. Beschädigte Schiffe müssen den nächsten Hafen ansteuern können, sinkende wenigstens das rettende Ufer. Dagegen wollen intakte Schiffe der Küste eher fernbleiben, um nicht zu stranden oder auf Klippen zu zerschellen. Folglich muss ein Segelschiff, falls nötig, auch bei widrigen Winden seinen Standort (seine Höhe am Wind) halten oder sogar gegen den herrschenden Wind segeln können. Diese Fähigkeit bestimmt vor allem die Takelage. Sie hatte sich in römischer Zeit deutlich verbessert, indem große Handelssegler einen zweiten Mast auf dem Vorschiff erhielten. Mit mindestens zwei Segeln und der Fähigkeit, die Segel durch Trimmen und Reffen den jeweiligen Windverhältnissen anzupassen, segelte ein Schiff vermutlich bis zu 70° zum Wind.26 Trotzdem konnte bei Sturm und hohem Seegang, starkem Bewuchs des Schiffsrumpfes und Fehlern der Schiffsführung ein sicherer Hafen unerreichbar bleiben oder der Segler sogar auf

23 24 25 26

Hausen 1979, passim. Zu antiken Pumpen: Schönemann 1987, 38–41. Flavius Josephus, Vita 3, Übers. Clementz 1923. Aktueller Forschungsstand: Palmer 2009a, 90; Roberts 1995, 311f.; Tilley 1994, 311; Whitewright 2011.

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eine Leeküste27 treiben und in der Brandung zerschellen.28 Auch Paulus’ Schiff verfehlte den sicheren Hafen, als „von der Insel her ein Orkan losbrach“. Statt in Phönix auf Kreta einzulaufen, „wurde das Schiff mitgerissen“.29 Die Schiffssicherheit hängt auch von der Navigation ab. Die Besatzung muss die Position ihres Schiffes kennen, um Untiefen auszuweichen oder in einer Gefahrenlage einen Hafen oder das nächste Land zu finden. Da der Kompass noch unbekannt war, bildeten Sonne und Sterne die wichtigste Orientierungshilfe. Schon „die Sidonier waren weise Forscher, sowohl in der Astronomie, als in der Arithmetik, wozu sie durch die Schifffahrt bei Nacht veranlasst wurden“, berichtet Strabon.30 Allerdings fehlten den antiken Seeleuten die entsprechenden Instrumente. Ob sie Gnomon oder Astrolabium verwendeten, ist zweifelhaft.31 Ohnehin hätten diese Instrumente allein nur die geographische Breite angezeigt. So orientierten sich die Seefahrer allenfalls grob am Standort bestimmter Sterne. War der Himmel bedeckt, blieb nur die Beobachtung von Wind- und Meeresströmungen, Wasserfarben oder typischen Wolkenbildungen. In flachem Wasser warfen die Kapitäne das Lot aus, denn Wassertiefe oder die Art des Meeresbodens gaben ihnen Hinweise auf den Schiffsstandort. Zudem ist das Mittelmeer relativ klein und voller Inseln. In jeder Richtung ließ sich in wenigen Tagen Land erreichen, und in Küstennähe gelangt, orientierten sich die Seeleute an Landmarken. Zudem erbauten die Römer erstmals Leuchttürme. So ist zu vermuten, dass Schiffe ihre Ziele über die hohe See ungefähr ansteuern konnten. Nur bei sehr schlechter Sicht verloren die Seeleute jede Orientierung. Auch die Besatzung auf dem Schiff des Paulus wusste schließlich nicht mehr, wo sie sich befand: „Als es Tag wurde, entdeckten die Matrosen eine Bucht [. . . ]. Das Land selbst war ihnen unbekannt [. . . ]. Als wir gerettet waren, erfuhren wir, dass die Insel Malta heißt.“32 Über die Schiffssicherheit bestimmt auch die Seemannschaft, also die Qualifikation der Besatzung. Die antike Seemannschaft lässt sich nur schwer beurteilen, da Textquellen qualifizierter Beobachter fehlen. Wenn ein Passagier wie Aelius Aristeides die „Unfähigkeit des Steuermanns und der Matrosen“ beklagt, weil sie auf seine Ratschläge während eines Sturmes „nicht [. . . ] hören wollten“33 , so ist dies sicher kein verlässliches Urteil. Auch Synesios, ein Bischof, bezweifelte die Qualifikation der Seeleute, als er sich während einer stürmischen Seefahrt in „Todesgefahr“ wähnte. Doch bemerkte Synesios auch, dass „Amaranthus (der Kapitän) guter Dinge war“.34 Erkannte der Kapitän die Lage als gefahrlos? Jedenfalls deuten die von Synesios beschriebenen Schiffsmanöver darauf hin, daß Amaranthus die Situation beherrschte.35 Auch die Apostelgeschichte deutet auf Schiffsbesatzungen hin, die im Notfall das Richtige zu tun wussten. Nachdem der Segler des Paulus in einen Sturm geraten war, „sicherten die Matrosen [. . . ] das Schiff, indem sie Taue darum herum spannten.“ So erhöhten sie die Festigkeit des Rumpfes. Um nicht vollends 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Leeküste: Küste mit auflandigem (zum Land gerichtetem) Wind. Palmer 2009b, 329. Apostelgeschichte 27,14f., Einheitsübersetzung 1983. Strabon XVI 2,24, Übers. Forbiger 1910. Unter anderem Viereck 1996, 141. Apostelgeschichte 27,39–28,1, Einheitsübersetzung 1983. Aelius Aristeides, or. XLVIII 68, Übers. Schröder 1986. Synesios, Epistulae 5,120f., zitiert nach Casson 1976, 186. Casson 1976, 186.

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abzutreiben oder um das Schiff mit dem Bug in den Wind zu drehen, „ließen sie den Treibanker hinab und trieben dahin.“ Dann „erleichterten sie [. . . ] das Schiff, und am dritten Tage warfen sie eigenhändig die Schiffsausrüstung über Bord.“ Damit reduzierte die Besatzung die Eintauchtiefe des Schiffes, der Wasserdruck auf den Rumpf sank, und weniger Wellen gelangten auf das Deck. Später, als das Schiff drohte, auf Klippen zu laufen, „warfen sie vom Heck aus vier Anker“, um dem Ufer fern zu bleiben.36 Das Geschick der Mannschaft rettete schließlich Besatzung und Passagiere.37 Die Passagiereinrichtungen römischer Handelsschiffe waren schlecht. Der Raum unter Deck blieb der Ladung vorbehalten. Textquellen38 und archäologische Befunde deuten allenfalls für sehr große Schiffe auf einige Passagierkabinen hin.39 Folglich ist anzunehmen, dass die meisten Passagiere an Deck reisten, Wind und Wetter ausgesetzt. Entsprechend beschreibt Properz einer Dame namens Cynthia ihre geplante Seereise: „Kannst Du das Brausen des wütenden Meeres gleichmütig ertragen? Kannst in dem taumelnden Schiff liegen auf hartem Verdeck? Knitternden Schneefall mit dem zarten Fuße betreten? Cynthia, ertrügest Du wohl wirbelnder Flocken Gewirr?“40 Andere Quellen schildern Passagiere, die bei Sturm in die dunklen Laderäume flüchten müssen.41 Die Unbilden der See an Deck zu erleben, oft unterkühlt oder durchnässt, war sicher ebenso furchteinflößend, wie in dunklen, schwankenden Laderäumen zu hocken. Doch auch für die Besatzung ist die Wohnlichkeit eines Schiffes wichtig. Kälte oder Hunger verringern ihre Leistungsfähigkeit und erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Arbeitsunfällen und Fehlentscheidungen.42 Einige archäologische Befunde deuten zumindest auf einfache Mannschaftsquartiere und Küchenutensilien hin, die das Leben der Besatzung erträglicher machten.43 Es lässt sich festhalten, dass römische Handelsschiffe eine hohe bauliche Qualität aufwiesen und gute Segeleigenschaften zeigten. Die Möglichkeiten der Navigation reichten aus, solange keine extremen Wettersituationen auftraten. Die römische Seemannschaft scheint durchaus qualifiziert, soweit die vorhandenen Quellen ein Urteil erlauben. Nur der Passagierkomfort war sogar nach zeitgenössischen Maßstäben völlig unzureichend.

3. Technische Bewertung der Seetüchtigkeit antiker Rumpfformen Schiffsbewegungen beeinflussen die Seetüchtigkeit eines Schiffes, aber auch das Wohlbefinden von Passagieren und Besatzung maßgeblich. Zur Beurteilung der Seetüchtigkeit römischer Handelsschiffe wurde ihr Bewegungsverhalten mit Hilfe computergestützter Methoden untersucht. Bewegungsverhalten meint die Bewegung des Schiffes in Wind und Wellen. 36 Apostelgeschichte 27,17f.27.28 und 28,1, Einheitsübersetzung 1983. 37 Vgl. auch die Diskussion der einzelnen Maßnahmen im Beitrag von Matthias Schmidt im vorliegenden Band (siehe unten, S. 238f.). 38 Zu den Textquellen siehe unter anderem Athenaios V 206d–209 (Beschreibung der Syrakusia). 39 Unter anderem deutet ein Wrackfund vor Syrakus auf Passagierkabinen hin: Bockius 2007, 84. Vgl. zu den zumeist fehlenden Passagierkabinen auch den Beitrag von Nicola Zwingmann im vorliegenden Band (siehe unten, S. 51). 40 Properz I 8,5–8, Übers. Jacob/Binder 1914. 41 Höckmann 1985, 92. 42 Marchaj 1988, 18 und 25. 43 Vgl. unter anderem Gibbins 1991.

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Abbildung 2: Modellierter Rumpf des Wracks von La Madrague de Giens mit Spanten (links) und Schiff im irregulären Seegang (rechts)

Grundlage der vorliegenden Untersuchung ist das Wrack von La Madrague de Giens. Es gehört zu den am besten dokumentierten römischen Wracks. Das Schiff sank zwischen 60 und 50 v. Chr. östlich von Toulon, nahe der Halbinsel La Madrague de Giens. Mit 40 Metern Länge, 9 Metern Breite44 und zwei Masten repräsentiert es ein großes spätrepublikanisches respektive kaiserzeitliches Hochseeschiff.45 Es gehörte zum Typ Ponto, einem weit verbreiteten Typ von Handelsschiffen. Fahrzeuge dieser Größe konnten neben der Fracht auch mehrere Hundert Passagiere befördern. Die Passagierzahlen entsprachen der Nachfrage auf der jeweiligen Route. 3.1. Modellerstellung des Rumpfes Um das Bewegungsverhalten des Schiffes von Madrague zu analysieren, wurde der Schiffsrumpf in seinen grundlegenden Schiffsstrukturen als Computer-Modell erstellt (Abbildung 2). Die Grundlage der Rekonstruktion bilden die von Maurice Rival rekonstruierten Schiffslinien.46 Die Zeichnungen wurden skaliert und als Hintergrund der elektronischen Nachbildung als Referenz eingeladen. Es wurde eine mathematische Fläche erzeugt, die den Rumpf gut nachbildet. Diese Fläche47 lässt sich durch Kontrollpunkte manipulieren, so daß auch komplexe Rumpfpartien, wie der Bug, mathematisch beschrieben werden können. Diese Methode erlaubt eine weitgehend freie Formgestaltung bei einfacher mathematischer Darstellung der funktionalen Flächen. Neben der Rumpfform muss der Ladefall rekonstruiert werden, also das Gewicht des gesamten Schiffs mit Ladung. Dafür wurde die Schiffsstruktur des Rumpfes mit Beplankung, Spanten und Decks modelliert und sein Gewicht und dessen räumliche Verteilung ermittelt. Als Ladung wurden 7.000 Amphoren à 50 kg mit einem Gesamtgewicht von 350 t angenommen.48 Das Schiff transportierte zum Zeitpunkt seines Unterganges drei Lagen Amphoren vom Typ 44 45 46 47 48

Pomey 1982, 145. Tchernia/Pomey/Hesnard 1978, 10.27. Rival 1994. NURBS-Fläche: nicht gleichförmige, rationale Basis-Spline-Fläche (non uniform rational B-Spline). Ladungsgewicht gemäß den Schätzungen von Pomey/Tchernia 1978, 234.

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23

Tabelle 1: Angenommene Gewichtsaufteilung

Bezeichnung

Gewichte [t]

LCG [m]

VCG [m]

44,0

-19,60

0,23

Bleibeschichtung des Unterwasserschiffs

10,0

-19,60

0,24

Mast

5,0

-17,00

7,50

Sprit

3,0

-6,70

6,50

Struktur

40,0

-19,40

0,53

Deck

25,0

-19,80

3,00

7.000 Amphoren à 50 kg

350,0

-17,50

0,00

100 Passagiere à 120kg

12,0

-15,00

3,50

Ausrüstung

30,0

-18,00

3,50

Gesamter Ladefall

519,0

-17,88

0,60

Beplankung 49

Dressel 1 b und Keramik aus Kampanien.50 Hinzu kommt die schiffstechnische Ausrüstung mit rund 30 t. Sie reicht von Segeln, Seilen, Blöcken und Rudern bis hin zu Werkzeug. Für die Passagiere, ihr persönliches Gepäck, Proviant und gegebenenfalls notdürftige Unterschlüpfe als Schutz gegen Wind und Wetter wurden 120 kg pro Person angesetzt. Die Berechnung geht von 100 Passagieren aus. Um den Schwerpunkt des Gesamtsystems Schiff zu ermitteln, wurde die räumliche Verteilung der Einzelgewichte berücksichtigt. So wurde beispielsweise angenommen, dass sich das Gewicht der Passagiere homogen auf die vorderen ¾ der Decksfläche verteilt. Das hintere Viertel des Decks, unter anderem mit Ruderstand und Ausrüstungsgegenständen, bildete eher den Arbeitsbereich der Besatzung. Der vertikale Schwerpunkt der Passagiere wurde mit 0,5 m über dem Deck angenommen, was einem sitzenden Menschen entspricht. Der Nullpunkt liegt auf Höhe der Wasserlinie, am vorderen Lot (Vorderkante Wasserlinien), Mitte Schiff. LCG: Schwerpunkt in Längsrichtung (longitudinal center of gravity). VCG: Schwerpunkt in der Höhe (vertical center of gravity). 3.2. Hydrostatische Betrachtung Die hydrostatischen Betrachtungen berechnen die aufrechte Schwimmlage bei angenommener Gewichtsverteilung und die Stabilität des Schiffes. Stabilität bezeichnet im Schiffbau das Vermögen eines Schiffes, nach einer Auslenkung, zum Beispiel durch Seegang, in die Ruhelage zurückzukehren. Bei konventionellen Rümpfen liegt der Fokus auf der Querstabilität, also dem aufrichtenden Moment, welches einer Krängung und damit dem Kentern eines Schiffes entgegenwirkt. Um die Stabilität unterschiedlicher Schiffsgrößen miteinander zu vergleichen, werden die aufrichtenden Momente mit der Schiffsverdrängung normiert und über dem Krän49 Tchernia/Pomey/Hesnard 1978, 84–87. 50 Pomey/Tchernia 1978, 234–236.

24

Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch Hebelarmkurve 2 Wrack von La Madrague de Giens Anfangsstabilität

1,5

Referenzschiff 30m HochseeArbeitsschiff 1

aufrichtender Hebelarm [m]

0,5

0 0

20

40

60

80

100

120

140

160

180

-0,5

-1

-1,5

-2

-2,5

Krängungswinkel [°]

Abbildung 3: Hebelarmkurve des Wracks von La Madrague de Giens und eines modernen Vergleichsschiffes

gungswinkel aufgetragen. Diese Normierung erklärt sich aus der Herleitung des aufrichtenden Momentes.51 Abbildung 3 stellt die Stabilität des Schiffes von Madrague graphisch dar. In der Hebelarmkurve sind die Anfangsstabilität des Schiffes, dessen aufrichtender Hebelarm und der eines modernen Arbeitsschiffes52 gleicher Länge als Vergleich aufgetragen. Das antike Schiff weist bis zu einem Krängungswinkel von ungefähr 40° einen etwas geringeren, aber dennoch völlig ausreichenden aufrichtenden Hebelarm auf. Allerdings ist der Umfang seiner positiven Stabilität noch deutlich größer. Das moderne Schiff dagegen kentert schon bei einer geringeren Krängung von ca. 78° durch. Zudem ist die dafür notwendige Energie, die äquivalent zur Fläche unter der Hebelarmkurve ist, geringer. Das antike Schiff war folglich kentersicherer als das moderne Schiff. Weiterhin wurde das Schiff von Madrague bezüglich der Anforderungen des International Code on Intact Stability untersucht, der grundlegende Forderungen an die Schiffsstabilität definiert. Betrachtet wurden die Kriterien bezüglich der Eigenschaften der Hebelarmkurve53 51 Vgl. weiterführende Literatur, unter anderem Lehmann 2005. 52 Als modernes Vergleichsschiff dient zum Beispiel ein Hochsee-Arbeitsschiff (Crew Support Vessel) mit hartem Kimmknick. 53 RESOLUTION MSC.267(85) – ADOPTION OF THE INTERNATIONAL CODE ON INTACT STABILITY, 2008 (2008 IS CODE), Part A, Chapter 2, 2.2 Criteria regarding righting lever curve properties, 11–12.

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25

und der strengen Anforderungen für Passagierschiffe.54 Auch diese hielt das Schiff von Madrague ein. Die hydrostatische Betrachtung umfasst auch die Ermittlung des Freibords, also der Höhe des obersten wasserdichten Decks über der Wasseroberfläche. Je größer der Freibord, desto sicherer ist das Schiff, da Seewasser entsprechend schwerer auf und damit gegebenenfalls in das Schiff laufen kann. Der Freibord des Schiffs von Madrague betrug 2,90 m. Damit erfüllte das Schiff auch die heutigen Anforderungen der internationalen Freibord-Konvention55 für Schiffe vom Typ „B“ (Frachtschiffe), zu denen auch Passagierschiffe zählen.56 Das untersuchte Schiff, als Stellvertreter der großen antiken Handelsschiffe, zeichnet sich durch eine außerordentlich hohe Stabilität aus und erfüllt auch die heute geltenden Vorschriften für Passagierschiffe. Da es erst bei einem dynamischen Kenterwinkel von 120° kentert, ist es als sehr sicher zu bezeichnen. 3.3. Hydrodynamische Betrachtung Die Hydrodynamik betrachtet die Roll-, Tauch- und Stampfbewegungen von Schiffen. Starke oder lange anhaltende Schiffsbewegungen können die Sicherheit eines Schiffes beeinträchtigen. Ladung kann verrutschen und damit die Schwimmstabilität verändern. Auch die Arbeitssicherheit der Mannschaft leidet. Sogar das Schiff kann Schaden nehmen, indem die fortwährende Belastung im Seegang die Verbände lockert und das Schiff undicht wird. Für die hydrodynamische Untersuchung wurde der Rumpf des Wracks von Madrague mit der Streifenmethode analysiert. Sie zählt zu den linearen potentialtheoretischen Verfahren. Hierbei wird der Rumpf in Längsrichtung in „Scheiben“ respektive die Rumpfoberfläche in Streifen geschnitten. Jede dieser Scheiben wird zweidimensional betrachtet, um die hydrodynamischen Eigenschaften zu ermitteln. Anschließend werden diese Eigenschaften über die Schiffslänge integriert, um die globalen Koeffizienten der Bewegungsgleichung des Schiffes zu ermitteln, die abschließend gelöst wird. Hieraus resultiert eine gute Abbildung der harmonischen Tauch- und Stampfbewegung mit konstanter Dämpfung und hydrodynamischer Masse über den Frequenzbzw. Geschwindigkeitsbereich. Die Rollbewegung wird vereinfacht als gedämpftes Feder-MasseSystem eines Starrkörpers betrachtet. Weitere Randbedingungen der Streifenmethode sind die zugrunde liegende lineare Wellentheorie für Tiefwasserbedingungen (Hochseebedingungen) und das inkompressible, nicht-viskose und rotationsfreie Fluid. Die viskose Dämpfung der Schiffsbewegung berücksichtigt ein zusätzlicher Dämpfungsterm, der manuell eingegeben werden kann. Die Streifenmethode liefert zuverlässige Ergebnisse für konventionelle Schiffe mit senkrechten Seitenwänden in Verdrängerfahrt und für kleine Schiffsbewegungen. Damit ist sie für die Betrachtung des Schiffes von Madrague gut geeignet. Mit den aus der Streifenmethode resultierenden hydrodynamischen Kennwerten kann die Bewegungsdifferentialgleichung des Schiffes als Starrkörper aufgestellt und für verschiedene Erregerseegänge gelöst werden. Die Lösung erfolgt für 3,5 Freiheitsgrade: Tauchen, Stampfen, 54 RESOLUTION MSC.267(85) – ADOPTION OF THE INTERNATIONAL CODE ON INTACT STABILITY, 2008 (2008 IS CODE) – Part A – Chapter 3 – 3.1 Passenger ships, 17. 55 International Load Lines Convention – ILLC, Stand 2003. 56 Load Lines, 1966/1988, International Convention on Load Lines, 1966, as Amended by the Protocol of 1988, 92f.

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Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch Übertragungsfunktion für das Wrack von La Madrague de Giens bei 4kn Fahrt 45° zur Welle 4

3,5 Tauchen Rollen

Übertragungsfunktion [-]

3

Stampfen

2,5

2

1,5

1

0,5

0 2

3

4

5

6

7

8

9

10

Wellenperiode [sek.]

Abbildung 4: Übertragungsfunktion des untersuchten Rumpfes für Stampf- und Tauchbewegung bei 4 kn Fahrt und einem Welleneinfallswinkel von 45°

Rollen und Wogen durch die vorgegebene konstante Schiffsgeschwindigkeit. Das Ergebnis wird als Übertragungsfunktion (Response Amplitude Operator – RAO) der normierten Schiffsbewegungen über die Erregerperiode dargestellt. Die Berücksichtigung der Schiffsgeschwindigkeit erfolgt über die Korrektur der relativen Begegnungsperiode zwischen Schiff und Seegang, ähnlich dem akustischen Dopplereffekt. So kann es bei achterlichem Seegang und entsprechenden Geschwindigkeiten auch zu negativen Erregerperioden und somit zu Unstetigkeiten der Übertragungsfunktion kommen, wenn das Schiff schneller ist als die Welle. Des Weiteren treten bei achterlicher See nichtlineare Effekte auf, unter anderem parametrisches Rollen, wodurch die Ergebnisse der Streifentheorie für mitlaufende See kritisch zu betrachten sind. Die Übertragungsfunktion in Abbildung 4 zeigt die durch Wellenhöhe bzw. Wellensteilheit normierten Bewegungsantworten des Schiffes über der Wellenperiode. Kurze Wellen mit kleiner Periode regen die Schiffsbewegungen weniger an als längere Wellen, welche auch höher werden können. Eine Welle kann nur rund ein Siebtel ihrer Wellenlänge hoch werden, bevor sie bricht. Das Resonanzmaximum der Rollbewegung ist mit einem Faktor von mehr als 3 quantitativ kritisch zu sehen, da die Dämpfung, wie schon dargestellt, durch einen konstanten und vor allem geschätzten Dämpfungsfaktor berücksichtigt wird. Die Resonanzperiode von ca. 6 Sekunden gibt allerdings einen guten Anhaltspunkt zur Abschätzung des kritischen Seegangs. Da reale Seegänge irregulär sind und auch die Energie der Wellen bei der weiteren Analyse zu berücksichtigen ist, kommen unterschiedliche Seegangsspektren zum Einsatz. Die vorliegende

1 2 starkem Rollen anregen. Die faktisch hohe Sicherheit der Schifffahrt geht hier mit einer sehr starken Schiffsbewegung, insbesondere Rollen, einher, was auf den nautischen Laien Tode willkommene Mittel« 27 subjektiv sehr beängstigend»Schiffe, wirkendem kann. Tabelle Scatter-Diagrammdes des Untergangsortes La La Madrague de Giens mit farblicher Tabelle 2 2: Scateer-Diageamm Unteegangsoetesvorvoe Madeague de Giens mit faeblicheee Darstellung der im Jahresmittel, unterlegt sindfaebliche AuftretenswahrscheinDaestellung deeAuftretenshäufigkeit Aufeetensheäufggeit im farblich Jaheeesmitell unteelegt sind < 5und %, n0c% 10 % und > 10 % Aufeetenswaheescheeinlichegeiten < lichkeiten i%l < 0c%

5 6 0,3 1,6 6,1 8,4 4,4 0,5 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0

6 7 0,0 0,1 0,3 1,5 3,8 5,7 3,7 0,8 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0

7 8 0,0 0,0 0,0 0,0 0,1 0,4 1,4 2,8 2,1 1,1 0,2 0,0 0,0 0,0

8 9 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,2 0,4 0,6 0,3 0,1 0,0

9 10 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0

[ Totai 24,9 20,4 14,6 11,0 8,4 6,6 5,1 3,6 2,3 1,5 0,8 0,4 0,2 0,1

[

21,4

16,0

8,2

1,8

0,1

100,0

Weiienhröhre[ m]

Auftretenswahrtrsehreinniinehreeint[ %] [ Weiienpetrinode[ see] Untetre 1 2 3 4 [ [ Untetre Obetre 2 3 4 5 0 0,5 1,1 7,4 13,5 2,6 0,5 1 0,0 0,0 6,3 12,4 1 1,5 0,0 0,0 0,1 8,0 1,5 2 0,0 0,0 0,0 1,1 2 2,5 0,0 0,0 0,0 0,0 2,5 3 0,0 0,0 0,0 0,0 3 3,5 0,0 0,0 0,0 0,0 3,5 4 0,0 0,0 0,0 0,0 4 4,5 0,0 0,0 0,0 0,0 4,5 5 0,0 0,0 0,0 0,0 5 5,5 0,0 0,0 0,0 0,0 5,5 6 0,0 0,0 0,0 0,0 6 6,5 0,0 0,0 0,0 0,0 6,5 7 0,0 0,0 0,0 0,0 Totai

1,1

7,4

19,8

24,1

Die vorliegende Untersuchung basiert auf den Analysen eines JONSWAP-Spektrums (H=2m; T=5,0sec) für das gesamte Jahr und eines JONSWAP-Spektrums (H=5m; T=7,5sec) für einen raueren Seegang, 12 Stunden April oder zweieinhalb Stunden(JONSWAPim Juni Untersuchung nutztder dasstatistisch weit verbreitete JOintim North Sea WAve Project-Spektrum auftritt. Spektrum). Es bildet auch den Seegang des Mittelmeeres gut ab, da es relativ kurze, steile WelSchiffsbewegungen sind nicht nur von technischem Interesse, sondern beeinflussen len annimmt, wie sie für kleine Meere typisch sind. Um den Seegang des zu untersuchenden auch das Wohlbefinden der Menschen an Bord. Bei Personen mit intaktem Seegebietes korrekt abzubilden, müssen die charakteristische Wellenhöhe und die zugehörige Gleichgewichtsorgan verursachen periodische Bewegungen Reisekrankheit resp. Wellenperiode angegeben werden. Dazu dienen Langzeitstatistiken, die für die vorliegende Seekrankheit. Sie beeinträchtigt das Wohlbefinden der Passagiere, gefährdet aber auch das Studie durch waveclimate.com der BMT ARGOSS B.V. zur Verfügung gestellt wurden. Die Gesamtsystem Schiff, wenn sie die Mannschaft in ihrer Handlungsfähigkeit beeinträchtigt. Langzeitstatistiken werden in so genannten Scatter-Diagrammen dargestellt. Diese zeigen Zur Bewertung der Auswirkungen der Schiffsbewegungen auf die Leistungsfähigkeit derbeispielsweise verschiedener aus Wellenhöhe Besatzung die undAuftretenswahrscheinlichkeit das Wohlbefinden der Passagiere existierenKombinationen heute verschiedene und Wellenperiode. Die gesammelten Daten (Wellenmodell) ermöglichen auch Aussagen über Bewertungsmaßstäbe. Sie dienen dem modernen Schiffbau beim Schiffsentwurf. Etabliert die Wellenrichtung, dender zeitlichen über die Jahreszeiten oder den Einfluss des Windes sind die Auswertung lokalen Wechsel Beschleunigungen, die Bewegungs-Krankheits-Häufigkeit auf den Seegang. DasIncidence/ Scatter-Diagramm TabelleInduced 2 zeigt die statistische Verteilung Wellen(Motion Sickness MSI), dieinMotion Interruptions (MII) und von die Subjective Magnitude (SM). Alle viervon Bewertungsmaßstäbe wurden in dieser Untersuchung für vierZu höhen und Wellenperioden 1996 bis 2016 für den Fundort des Wracks von Madrague. Passagierpositionen an Deck ausgewertet. Für diese Positionen wurdenmit Beschleunigungen, erkennen ist, dass Wellen mit der Resonanzperiode „Rollen“ des Wracks einer statistischen Amplituden und Frequenz der Bewegungen aus den Schiffsbewegungen ermittelt und daraus Häufigkeit von ca. 37 % auftreten (in der Tabelle 2 rote Zahlen). Dieses häufige Auftreten zeigt, die entsprechenden Bewertungsmaßstäbe analysiert. dass Seegänge das untersuchte Schiff oft zu starkem Rollen anregen. Die faktisch hohe Sicherheit der Schifffahrt geht hier mit einer sehr starken Schiffsbewegung, insbesondere Rollen, einher, was auf den nautischen Laien subjektiv sehr beängstigend wirken kann.

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Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch

Abbildung 5: Darstellung der vier analysierten Positionen der Passagiere an Deck

Die vorliegende Untersuchung basiert auf den Analysen eines JONSWAP-Spektrums (H = 2 m; T = 5,0 sec) für das gesamte Jahr und eines JONSWAP-Spektrums (H = 5 m; T = 7,5 sec) für einen raueren Seegang, der statistisch 12 Stunden im April oder zweieinhalb Stunden im Juni auftritt. Schiffsbewegungen sind nicht nur von technischem Interesse, sondern beeinflussen auch das Wohlbefinden der Menschen an Bord. Bei Personen mit intaktem Gleichgewichtsorgan verursachen periodische Bewegungen Reisekrankheit respektive Seekrankheit. Sie beeinträchtigt das Wohlbefinden der Passagiere, gefährdet aber auch das Gesamtsystem Schiff, wenn sie die Mannschaft in ihrer Handlungsfähigkeit beeinträchtigt. Zur Bewertung der Auswirkungen der Schiffsbewegungen auf die Leistungsfähigkeit der Besatzung und das Wohlbefinden der Passagiere existieren heute verschiedene Bewertungsmaßstäbe. Sie dienen dem modernen Schiffbau beim Schiffsentwurf. Etabliert sind die Auswertung der lokalen Beschleunigungen, die Bewegungs-Krankheits-Häufigkeit (Motion Sickness Incidence/MSI), die Motion Induced Interruptions (MII) und die Subjective Magnitude (SM). Alle vier Bewertungsmaßstäbe wurden in dieser Untersuchung für vier Passagierpositionen an Deck ausgewertet. Für diese Positionen wurden Beschleunigungen, Amplituden und Frequenz der Bewegungen aus den Schiffsbewegungen ermittelt und daraus die entsprechenden Bewertungsmaßstäbe analysiert. Die Bewertung der lokalen Beschleunigungen erfolgt in Form von Grenzwerten57 , welchen eine ernste bzw. schmerzhafte Unannehmlichkeit zuzuordnen ist. Diese Grenzwerte unterscheiden zwischen verschiedenen Einwirkdauern in Abhängigkeit von der Erregerfrequenz. Die Bewegungskrankheitshäufigkeit (MSI) gibt an, wie viel Prozent der Personen an Bord sich erbrechen58 . Die Ermittlung des MSI erfolgte ursprünglich mit 300 männlichen Studenten. Um die Gegebenheiten auf einem Schiff nachzustellen, begaben sich die Probanden in eine Kabine mit 2,40 m Kantenlänge, in der sie für zwei Stunden einer vertikalen Bewegung mit Stampf- oder Rollbewegungen ausgesetzt waren. Die Studie umfasste unter anderem Variationen von Bewegungsperiode, Bewegungsamplitude, Beschleunigungen oder täglicher Gewöhnung. Der MSI unterscheidet Belastungsdauern von 30 bis 120 min. Allerdings betrachtet die vorliegende Untersuchung für das Schiff von Madrague nur den MSI für 120 min., da er darüber hinaus

57 Grenzwerte zum Beispiel in der ISO 2634. 58 Das mathematische Modell basiert auf der Arbeit von McCauley et al. 1976.

»Schiffe, dem Tode willkommene Mittel«

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Tabelle 3: Zuordnung der MII-Koeffizienten

Ereignis

MII-Koeffizient

Personen – Vor- & Zurücktippeln

0,17

Personen – seitliches Tippeln

0,25

Personen – Rutschen über trockenes Deck

0,70

Stuhl rutscht auf Linoleum

0,19

Rutschen eines Helikopters an Deck

0,80

ohnehin nur noch gering weiter ansteigt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass an der MSI-Studie nur junge, gesunde und psychisch ausgeglichene Probanden teilnahmen. Damit unterscheiden sich die Probanden aber deutlich von den antiken Passagieren, die unterschiedliche Lebensalter und unterschiedliche physische und psychische Konstitutionen aufwiesen. Die Motion Induced Interruptions (MII) illustrieren die aus den Schiffsbewegungen ermittelten Koeffizienten mit verschiedenen Auswirkungen auf Menschen oder Ausrüstungsgegenstände (Tabelle 3). Die beschriebenen Folgen spiegeln zwar teilweise die Gegebenheiten auf modernen Schiffen, geben aber trotzdem einen Eindruck, der sich auf die Verhältnisse auf antiken Schiffen übertragen läßt. Der subjektive Eindruck (Subjective Magnitude [SM]) nach Lloyd59 berechnet sich in Abhängigkeit von vertikaler Beschleunigung und einem von der Erregerfrequenz abhängigen Faktor. Die Skala geht von Null (Moderat) bis 30 (Intolerabel), bildet jedoch keine direkten Auswirkungen auf den Menschen ab. Abbildung 6 (S. 30) zeigt die Beschleunigungen für die vier Positionen der Passagiere und der Ladung, die Grenzwerte nach ISO 2631 und den Grenzwert für einen MSI von 5 % nach 2 Stunden Einwirkzeit für das Schiff von Madrague. Dargestellt sind die Ergebnisse für eine Geschwindigkeit von 4 kn, einem Begegnungswinkel60 von 45 ° und einem rauen Seegangsspektrum, das statistisch zum Beispiel 12 Stunden im April auftritt. Die Graphik zeigt, dass sowohl der Grenzwert für Beschleunigungen (Exposition länger als 8 Stunden) als auch der für einen MSI von 5 % für drei der vier Positionen jeweils überschritten werden. In dem in Abbildung 6 dargestellten Fall sind die Passagiere gemäß der Regularien zu hohen Beschleunigungen ausgesetzt. Nach nur zwei Stunden leiden schon mehr als 5 % der Passagiere an Seekrankheit. Abbildung 7 (S. 31) zeigt die signifikante Auslenkung des Schiffsrumpfes als Ergebnis dieser Analyse. Für die unterschiedlichen Positionen der Passagiere ergeben sich Bewegungsamplituden von über 2 m vertikal bzw. 1,2 m horizontal. Damit wird ein Passagier an Deck fortwährend um 2 m hochgehoben und abgelassen und zugleich um 1,2 m nach rechts und links bewegt, so als ob er auf einem Sporttrampolin hin- und hergeworfen würde.

59 Lloyd 1998, passim. 60 Winkel zwischen Schiffskurs und Wellenrichtung 45°, d. h. die Wellen kommen von schräg vorne.

30

Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch Lokale Beschleunigungen im Seegang 0,6 Passagier 1 Passagier 2 Passagier 3

Passagier 4

0,5

Ladung Grenzwert 2h

Lokale Beschleunigungen [m/s2]

Grenzwert 8h 0,4

MSI = 5% nach 2h

0,3

0,2

0,1

0 0,1

0,12

0,14

0,16

0,18

0,2

0,22

0,24

0,26

Erregerfrequenz [Hz]

Abbildung 6: Lokale Beschleunigungen über die Erregerfrequenz für 4 kn und 45° Begegnungswinkel im raueren Seegang

Das Polardiagramm in Abbildung 8 (S. 32) zeigt eine Auswertung der Untersuchung des MSI für die Passagier-Position im vorderen Drittel des Decks. Der MSI erreicht hier, je nach Schiffsgeschwindigkeit und Begegnungswinkel zwischen Welle und Schiff, Werte von bis zu 20 %. Folglich kämpft jeder fünfte Passagier mit deutlichen Symptomen der Seekrankheit. Wie oben schon dargestellt, sind die größeren MSI-Werte von über 36 %, aufgrund der Einschränkungen des Analyseverfahrens, kritisch zu betrachten. Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchungen zeigt, dass die Seegangseigenschaften des Schiffes von Madrague mit jenen heutiger Schiffe vergleichbar sind. Das antike Schiff zeigt die typischen Bewegungsmerkmale moderner Schiffe dieser Größe und Länge. Allerdings dämpft die rundere Rumpfform des antiken Schiffes die Rollbewegung etwas weniger, was zu höheren MSI-Werten führt, insbesondere bei seitlichem Seegang. Des Weiteren betrachtet die vorliegende Studie auch rauere Seegänge, jedoch nur im Frequenzbereich. Extreme Seegänge, zum Beispiel ein schwerer Sturm im Zeitbereich, wurden nicht betrachtet. Es liegt jedoch nahe, zum Beispiel in stürmischen Nächten eine deutlich höhere Zahl von Seekrankheitsfällen anzunehmen. Der Vergleich zwischen der Seekrankheitshäufigkeit auf antiken und modernen Schiffen zeigt, dass die Rollbewegungen antiker Schiffe stärker waren als jene vergleichbarer Schiffstypen der Gegenwart. Darüber hinaus muss ein Vergleich zwischen antiken und modernen Schiffen berücksichtigen, dass moderne Fahrgastschiffe größer sind, in der Regel um ein Vielfaches. Dadurch stampfen und rollen sie weniger und seltener. Zudem verwenden moderne Passagierschiffe Stabilisatoren. Folglich litten römische Passagiere auf See unter viel stärkeren Schiffsbewegungen als moderne Reisende.

»Schiffe, dem Tode willkommene Mittel«

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Abbildung 7: Auslenkung (Bewegung) des Schiffes durch Seegang; Tauchamplitude 1,92 m, Rollwinkelamplitude 22,8°, Stampfwinkelamplitude 9,51°

4. Seekrankheit und Gefahrenwahrnehmung Fast jeder Mensch leidet bei entsprechendem Seegang an Seekrankheit. Die Ursachen dieser Bewegungskrankheit (Kinetose) sind noch nicht abschließend geklärt. Am meisten Anerkennung findet derzeit die Sensory Conflict-Theorie. Demnach empfangen Gleichgewichtsorgan und Augen widersprüchliche Signale. Dem Gehirn ist unklar, ob der Körper ruht, wie ihm die Augen suggerieren, oder in Bewegung ist, wie es das Gleichgewichtsorgan registriert.61 Die Anfälligkeit für Seekrankheit hängt von der Gewöhnung und der mentalen Einstellung ab, vermutlich aber auch von einer genetischen Disposition.62 Angstzustände erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Seekrankheit und verstärken ihre Symptome.63 Zu diesen zählen Übelkeit, Erbrechen, Blässe, Schweißausbrüche und Appetitlosigkeit.64 Hinzu kommt oft das sogenannte Sopite-Syndrom. Typische Merkmale sind Langeweile, Apathie, Kopfschmerzen, Entscheidungsunfähigkeit, Wahrnehmungsschwierigkeiten, erhöhte Irritabilität und sogar Persönlichkeitsveränderungen. Zudem befällt die Kranken eine große Müdigkeit, gepaart mit unüberwindbarer Schlaflosigkeit.65 Auch Angstzustände und Panikattacken können auftreten.66 Das Sopite-Syndrom kann schon durch kurze intensive, aber auch durch lange niedrigschwellige Stimulation ausgelöst werden.67 Es dauert Stunden, Tage oder Monate.68 61 62 63 64 65 66 67 68

Zhang et al. 2016, 15. Lackner 2014, 2945. Ebd., 2500. Zhang et al. 2016, 15. Balaban/Yates 2017, 6. Lackner 2014, 2945. Lackner 2014, 2943f. Ebd.

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---------------Das Polardiagramm in Abbildung 8 zeigt eine Auswertung der Untersuchung des MSI für die Passagier-Position im vorderen Drittel des Decks. Der MSI erreicht hier, je nach Schiffsgeschwindigkeit und Begegnungswinkel zwischen Welle und Schiff, Werte bis zu 20 %. Folglich kämpft jeder fünfte Passagier mit deutlichen Symptomen der Seekrankheit. Thomas Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch Wie oben schonN.dargestellt, sind die größeren MSI-Werte von über 36 %, aufgrund der Einschränkungen des Analyseverfahrens, kritisch zu betrachten.

Abbildung ---------------8: Polardiagramm des MSI über Schiffsgeschwindigkeit und Begegnungswinkel

Abbildung 8: Polardiagramm des MSI über Schiffsgeschwindigkeit und Begegnungswinkel. ----------------

Ob die Autoren antiker Seereisetexte unter Seekrankheit litten, läßt sich im Einzelfall nur noch selten feststellen. Doch die Symptome eines Sopite-Syndroms, insbesondere die erhöhte Irritabilität, Angstzustände, Panikattacken und die eingeschränkte Fähigkeit, Gefahren realistisch einzuschätzen, hätten auch antike Autoren dazu verleiten können, die Situation an Bord falsch einzuschätzen. Das Konzept der Seekrankheit und der Umfang der ihr zugerechneten Symptome ist seit der Antike weitestgehend stabil. Allerdings unterscheidet das Altertum nicht zwischen vegetativen Reaktionen und dem Sopite-Syndrom.69 Als Ursachen der Seekrankheit galten die Schiffsbewegungen im Seegang, insbesondere auf hoher See ohne Landsicht, der Geruch von Bilgenwasser und die psychische Voreinstellung des Reisenden.70 So sieht Ariston von Chios eine Verbindung von Gewöhnung und Anfälligkeit: „Ein Steuermann wird weder auf einem großen Schiff, noch auf einem kleinen seekrank, die Unerfahrenen aber auf beiden.“71 Als Symptome der Seekrankheit nannte auch die Antike Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen, aber auch Kontrollverlust und Todesfurcht.72 Die Vorstellung, dass schon Erbrechen auf hoher See unter unglücklichen Umständen zum Tode führen könnte, illustriert der Schiffseigentümer Simylos in Lukians Toxaris: [. . . ] wurde Damon um Mitternacht seekrank, wie nicht anders zu erwarten bei derartig hochgehender See, und erbrach sich, über das Meer hinausgebeugt. Und da, ich glaube, als das Schiff sich heftiger auf die Seite legte, nach der er sich hinausbeugte, stürzte er kopfüber ins Meer.73

69 70 71 72 73

Balaban/Yates 2017, 6. Huppert et al. 2016, 562. SVF I 396, Übers. Oldelehr 1977, 29. Huppert et al. 2016, 562 Lukian, Toxaris 19, Übers. Oldelehr 1977, 55.

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Einen völligen Zusammenbruch der eigenen Persönlichkeit, verursacht von Todesfurcht und Kontrollverlust, erlebte Seneca während einer Seereise am eigenen Leibe: [. . . ] bald verstärkte sich der Wellenschlag. Ich säumte nicht, den Steuermann zu bitten, mich irgendwo an Land zu setzen. Er erklärte mir, dazu sei die Küste zu unwirtlich, sie hätte keinen Hafen, und bei dem Sturm fürchte er nichts so sehr wie eine Landung [Strandung]. Aber mir war so übel zu Mute, daß mir jeder Gedanke an die Gefahr fernlag; es quälte mich nämlich die Seekrankheit, dies zähe und hoffnungslose Leiden [. . . ]. Ich drang also in den Steuermann ein und zwang ihn, er mochte wollen oder nicht, nach der Küste zu steuern. Kaum waren wir in der Nähe, so ließ es mir keine Ruhe [. . . ]. Nein, alter Verehrer kalten Wassers, wagte ich mich, meiner Schwimmkunst eingedenk, ins Meer, in leichter Frieshülle, wie es einem Kaltbadenden ziemt. Was glaubst du, daß ich da alles auszuhalten hatte [. . . ]. Da war mir klar, daß die Seeleute das Land nicht mit Unrecht fürchten. Unglaublich, was ich alles zu tragen hatte, da ich mir selbst unerträglich war.74

Der Text spiegelt die für Seekranke typische Fehlinterpretation der eigenen Gefahr. Statt auf dem sicheren Schiff zu bleiben, gefährdet Seneca sich und die Menschen an Bord. Zuerst zwingt er die Mannschaft, eine Leeküste anzusteuern, dann riskiert er sein Leben durch einen Sprung in die Brandung.75 Erst später erkennt Seneca seine Fehlentscheidungen und schreibt sie folgerichtig der Seekrankheit zu. Wenn, wie hier geschehen, soziale Hierarchien solche von nautischer Kompetenz überlagerten, konnte die Seekrankheit eines einzigen Passagiers das ganze Schiff gefährden. Mit Blick auf die Seekrankheit erscheinen die antiken Berichte über schreckliche Seefahrten in einem anderen Licht. Zumindest einige Texte könnten einer getrübten subjektiven Wahrnehmung ihrer Autoren entsprungen sein, die ihre durch die Seekrankheit induzierte Panik und Todesfurcht, Übelkeit und Erbrechen als Zeichen mangelnder Sicherheit und großer Gefahr missdeuteten. Als Passagiere, mit der See und der Schiffsführung nicht vertraut, könnten sie sich schnell jenem scheinbar ausweglosen Elend der Seekrankheit gegenübergesehen haben, vor dem es auf hoher See mitunter wochenlang kein Entrinnen gibt. Da sie ihre Seekrankheit aber nicht in der erforderlichen Weise interpretierten, blieb ihnen auch ein sicheres Schiff als unsicher in Erinnerung. Angst und Schrecken rechneten sie dem Schiff und nicht der Seekrankheit zu. Nicht jeder Passagier verfügte über das Reflektionsvermögen eines Seneca. Zur wirklichen Gefahr wird die Seekrankheit, wenn sie die Besatzung befällt. Schwere Seekrankheit kann auch die Mannschaft physisch und psychisch handlungsunfähig machen.76 Eine durch Seekrankheit extrem erschöpfte, schlaflose, zugleich apathische wie panische Mannschaft kann kaum noch rational handeln. Daraus folgende Fehlentscheidungen können auch ein sicheres Schiff ins Verderben bringen: Etwa, wenn die Mannschaft statt der bewegten, aber sicheren Hochsee eine felsige, Schiffe zerschmetternde Küste ansteuert, oder wenn die Mannschaft das Schiff voreilig mit Rettungsbooten verläßt. Entsprechendes geschah noch 1979 beim FastnetRennen vor der irischen Küste. Während der Hochseeregatta verließen mehrere Mannschaften ihre vermeintlich dem Untergang geweihten Yachten und suchten ihr Heil in Rettungsinseln, in 74 Seneca, Epistulae morales 53,2–4, Übers. Apelt 1993, 183f. 75 Oldelehr 1977, 35. 76 Marchaj 1988, 101.

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Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch

denen sie ertranken. Ihre verlassenen Schiffe fand man später, stark beschädigt, aber schwimmfähig, auf hoher See treibend.77

Fazit Noch heute sinken Schiffe, geraten in Brand oder stranden, obwohl Schiffbau und Navigation große Fortschritte gemacht haben. Trotzdem war auch das römische Handelsschiff kein Seelenverkäufer, sondern eine im Rahmen des damals Möglichen sichere Technologie. Die Schiffe der späten römischen Republik und der Kaiserzeit übertrafen qualitativ sogar jene der Phönizier oder der Griechen und auch viele Schiffe des Mittelalters. Der Rumpf der Handelsschiffe zeigt eine gute mechanische Stabilität. Ein geschlossenes Deck machte ihn auch nach oben wasserdicht. Besegelung und Ruder verliehen den Schiffen eine gute Manövrierfähigkeit. Die Möglichkeiten der Navigation waren zwar begrenzt, für das kleine Mittelmeer aber ausreichend. Die Qualifikation der Mannschaften scheint in der Regel ausreichend gewesen zu sein. Die hydrostatische und hydrodynamische Untersuchung am Beispiel des Schiffes von Madrague zeigt, daß die römischen Fahrzeuge auch heutigen Sicherheitsstandards entsprachen, diese teilweise sogar übertrafen. Risiken barg allenfalls der extreme Belastungsfall. Ein schwerer Sturm, Feuer oder der Ausfall der astronomischen Navigation konnten die einzelnen Systembestandteile eines Schiffes an ihre Grenzen führen. Ein größeres Leck ließ sich durch die Pumpen kaum beherrschen, starke Winde oder ein gerissenes Segel konnten einen sicheren Hafen unerreichbar machen oder das Schiff auf eine gefährliche Küste treiben. Ging ein Schiff unter, fehlten Rettungsboote. Diese Risiken bestanden aber auch in vor- und nachrömischer Zeit. Viele jener römischen Textquellen, die gefahrvolle Seereisen schildern, sind vermutlich einer falschen Wahrnehmung ihrer Autoren entsprungen. Als Passagiere und seemännische Laien verzerrten sie die ungewohnten Erlebnisse auf See ins Negative. Schon das im Seegang schwankende Schiff oder die bloße Ferne des Landes erschienen ihnen schnell als Gefahr. Hinzu kam das unmittelbare Erleben des Geschehens durch die Deckspassage. Die Seekrankheit konnte das Gefühl der Unsicherheit noch verstärken, indem Reisende ihre von der Seekrankheit induzierte Panik und Todesfurcht, Übelkeit und Erbrechen als Zeichen großer Gefahr missdeuteten. Ein gut gewartetes römisches Handelsschiff, geführt von einer verantwortungsvollen Mannschaft, war ein durchaus sicheres Verkehrsmittel. Der Untergang großer Handelsschiffe scheint die Ausnahme gewesen zu sein. Für die von Teilen der historischen Forschung vermuteten hohen Unglücksraten findet die vorliegende Untersuchung keine Anhaltspunkte. Berichte von Schiffsuntergängen mit Todesopfern lassen sich zwar nicht anzweifeln, doch waren römische Handelsschiffe keine „dem Tode willkommene Mittel“.78

77 Ebd., 97. 78 Properz III 7,29, Übers. Jacob/Binder 1914.

»Schiffe, dem Tode willkommene Mittel«

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Thomas N. Kirstein, Sebastian Ritz und Alwin Cubasch

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Beim Sturm mit den Weibern um die Wette heulen? Frauen auf Schiffsreisen im literarischen Diskurs – von Seneca bis Synesios (Synes. epist. 5)* Nicola Zwingmann (Tübingen) In seiner im Jahr 2004 erschienenen Dissertation Mobility of Hellenistic Women formulierte Pasi Loman treffend: „Whereas works on ancient travel [. . . ] ignore women, general works about women in Antiquity do not deal with mobility.“1 Bisweilen finden reisende Frauen in den einschlägigen Publikationen zwar zumindest kurz Erwähnung, doch sucht man in den Indizes das Lemma ‚Frauen‘ bzw. ‚Reisen‘ meist vergeblich, was eine Untersuchung erheblich erschwert. Dies gilt gerade auch für die Literatur zum antiken Reisen im Allgemeinen und für die zu Seereisen in der Antike im Besonderen.2 Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Schiffsreisen von Frauen bislang meines Wissens überhaupt nicht beachtet worden sind. Seereisen von Frauen werden seit den Anfängen der griechischen Literatur thematisiert, wenn auch zunächst noch im Zusammenhang mit Menschenraub (man denke an die von Paris aus Sparta nach Troia entführte Helena oder an die Amme des Eumaios, des Schweinehirten des Odysseus, die von Piraten aus Sidon zur Insel Syria verschleppt und später von dort unter einem Vorwand auf ein Schiff gelockt wurde).3 Das Gros der Texte zu diesem Thema stammt aber aus der späten Republik und insbesondere der römischen Kaiserzeit, mithin aus einem Zeitraum, in dem bekanntermaßen besonders günstige infrastrukturelle, politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen herrschten, die ein hohes Verkehrsaufkommen zu Land und zur See zur Folge hatten.4 Auch beim Thema (See-)Reisen liegt der Fokus sowohl der antiken Texte, insbesondere der literarischen, als auch derjenige der Forschung auf der männlichen Elite, die dadurch gedanklich völlig überrepräsentiert ist. Dabei sind sich dessen meist weder die Autoren und Autorinnen noch die Leser und Leserinnen bewusst. Die verstreuten Belege liefern uns aber deutliche Indizien dafür, dass Frauen weitaus häufiger reisten, als man es zunächst erwarten würde – und dass sie eben auch weitaus häufiger zur See, mithin über größere Entfernungen reisten. Dieser Beitrag wird nur Texte berücksichtigen, die die Frauen auf Seereise in irgendeiner Form explizit * Für wertvolle Anregungen danke ich Hartmut Blum und Anja Wolkenhauer. 1 Loman 2004a, 26. Vgl. Parker 2009, 85 mit Anm. 1. 2 Ausführliche Kritik bei Loman 2004a, 20–27. Auch einschlägige Werke mit umfangreichem Sachregister führen dieses Stichwort nicht an: Casson 1994b. Börstinghaus 2010. Beachtung finden reisende Frauen bei: Foubert/ Breeze 2014. Zwingmann 2017b. Janni 2003, 21 erwähnt das Phänomen der zur See reisenden Frauen – mit Verweis auf Petron und Achilleus Tatios – immerhin knapp. 3 Helena: Hom. Il. 3,46–49. 6,290–293. Amme des Eumaios: Hom. Od. 15,415–433. 473–482. 4 Zwingmann 2012, 25f.

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thematisieren. Natürlich gibt es darüber hinaus zahlreiche Beispiele, aus denen hervorgeht, dass Frauen Seereisen unternahmen, weil sie an Orten nachgewiesen sind, zu denen sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit oder sicher per Schiff begeben haben.5 Des Weiteren greifen Rechtstexte privat-, familien- und erbrechtliche Fragen auf, die durch Seereisen von Frauen entstehen konnten.6 Doch soll hier der Fokus darauf liegen, wie über Frauen auf Schiffsreisen im literarischen Diskurs berichtet wird, das heißt über wen, warum und auf welche Art antike Autoren schreiben. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Beitrag zu der von Grant Parker im Jahr 2009 angestoßenen Frage „how travel was gendered in [the] Roman world.“7 Im Weiteren sollen einige Aspekte diskutiert werden, die mir in methodischer Hinsicht zentral für das Thema der Frauen auf Seereisen erscheinen: In einem ersten Schritt werden zwei geläufige literarische Motive herausgearbeitet, die in diesem Zusammenhang auftreten: Zum einen thematisieren Seefahrtsschilderungen häufig Rollenmodelle für weibliches Verhalten, die sich im Moment der Gefahr auf See in besonderer Deutlichkeit ausmalen ließen. So wird im Positiven die virtus muliebrum und im Negativen die ‚weibliche Ängstlichkeit‘ herausgestellt. Zum anderen sind immer wieder die Themenfelder Seereise und Erotik bzw. Sexualität miteinander verknüpft. In beide Motive sind Informationen über verschiedene Typen weiblicher Seereisender eingewoben, insbesondere über die vergleichsweise gut bezeugte Ehefrau römischer Provinzialstatthalter, aber auch über weitere, schwieriger zu fassende Typen, wie die Ehefrau anderer männlicher Berufsreisender, die aus beruflichen Gründen reisende Frau und die Dienerin der sozial hochstehenden weiblichen Reisenden. Ein zweiter Schwerpunkt soll auf dem nach meiner Kenntnis umfassendsten Text zum Thema liegen, dem auf eine lange literarische Tradition zurückgreifenden Brief des Synesios über eine stürmische Seefahrt, die er zusammen mit männlichen und weiblichen Mitreisenden durchlitt. Abschließend werden übergreifende Beobachtungen zum Anteil von Frauen unter den Seereisenden wie auch zu ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrer Bewertung im literarischen Diskurs vorgestellt.

1. Weibliches Heldentum: virtus muliebrum in Gefahrensituationen auf See Da die zur See reisende Statthalterfrau im Folgenden eine größere Rolle spielen wird, muss dieser Typus weiblicher Reisender zunächst kurz vorgestellt werden: Die Ehefrau des senatorischen römischen Amtsträgers, die mit ihm in die Provinz geht und in diesem Kontext mit ihm zusammen oder seltener auch alleine reist, ist der mit Abstand am besten belegte Typus weiblicher Reisender der paganen Antike.8 Man muss sich vor Augen halten: Die Aufenthalte römischer Amtsträger in den Provinzen und außerhalb des Römischen Reiches konnten sich 5 Loman 2004b, passim. Dillon 1997, 183–203, passim. Verwiesen sei auf das Beispiel der Munatia Plancina, die ihren Mann Cn. Calpurnius Piso 17 bis 19 n. Chr. nach Syrien begleitete; siehe unten, S. 39, Anm. 16. 6 Dig. 7,4,22 pr. (Pomponius). Dig. 19,2,19,7 (Ulpian). Dig. 23,4,26 pr. (Papinian). Dig. 33,7,27,1 (Scaevola). Dig. 34,5,22 pr. (Iavolenus). Dig. 34,5,23 pr. (Caius). Dig. 36,1,18,7 (Ulpian). Wolff 2006, 324. 7 Parker 2009, 85, vgl. ebd., 95. 97. Diese Frage wurde zuletzt aufgegriffen von Foubert 2017, 462, vgl. ebd., 477f. 481. 484. 8 Marshall 1975a. Ders. 1975b. Raepsaet-Charlier 1982. Dies. 2005, 204–208. Barrett 2006. Marie-Thérèse Raepsaet-Charlier hat für die ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte insgesamt über 125 senatorische Frauen aufgelistet, die ihre als Magistrate oder comites tätigen männlichen Familienangehörigen in die Provinz begleitet haben, vor allem als Ehefrau: Raepsaet-Charlier 1982, 64–69. Dies. 1987, 692–695 (Liste F). Dieser Typus ist

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im Laufe ihrer Karriere auf viele Jahre, ja sogar auf Jahrzehnte aufsummieren, eine Situation, die sich in der frühen Kaiserzeit noch verschärfte.9 Entsprechend lange dauerte die Trennung der Eheleute, wenn die Ehefrauen nicht mitkamen. In der republikanischen Zeit war es Sitte gewesen, dass die Ehefrauen von Amtsträgern, die in die Provinz entsandt wurden, zu Hause blieben.10 Die Gründe dafür lagen keineswegs nur darin, dass die Frauen vor den sittlichen Gefahren des Reisens bewahrt werden sollten, auch wenn dieses Argument im späteren literarischen Diskurs herausgestellt wird.11 Vielmehr war es ihre Aufgabe, während der Abwesenheit des Ehemanns seine und die Interessen der Familie zu Hause in Rom so weit wie möglich zu verteidigen und Gefahr oder sogar Proskription abzuwenden.12 Nach ersten Anfängen seit der sullanischen Zeit war es in der späten Republik aufgekommen, dass die Ehefrauen der zweiten Triumvirn ihre Männer in die Provinz begleiteten. So begab sich Octavia wegen Marcus Antonius mehrmals von Rom nach Griechenland.13 Dass die Ehefrauen der Kaiser und andere weibliche Mitglieder der kaiserlichen Familie an offiziellen Reisen teilnahmen, hatte sich gleich zu Beginn der Kaiserzeit zur üblichen Praxis entwickelt, wie die Beispiele der Livia, der Iulia oder der älteren Agrippina zeigen.14 In der Regierungszeit des Tiberius entbrannte unter den Senatoren eine heftige ideologische Debatte darüber, ob die republikanische Tradition, dass die Ehefrauen zu Hause bleiben, aufrecht erhalten bzw. wieder eingeführt werden sollte oder ob gute Gründe dafür sprächen, von diesem ungeschriebenen Verhaltenskodex eines pflichtbewussten römischer Amtsträgers abzulassen.15 Spätestens zu Beginn der Regierung des Tiberius, vermutlich aber bereits zunehmend seit sullanischer Zeit, hatte sich nämlich der Brauch, die Ehefrauen mitzunehmen, auf die Provinzstatthalter ausgedehnt, wobei als prominentes Beispiel Munatia Plancina genannt werden kann, die Ehefrau des Cn. Calpurnius Piso, des Statthalters von Syrien von 17 bis 19 n. Chr.16 All die genannten Frauen reisten offensichtlich zur See, was aber in den Texten nicht thematisiert wird.

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zum ganz überwiegenden Teil ausschließlich epigraphisch bezeugt, wobei die epigraphischen Belege meines Wissens keinerlei Informationen zu unserer Fragestellung liefern. Weibliche Mitglieder des Kaiserhauses begleiteten den Kaiser auf Reisen: siehe unten, Anm. 14. Auch Ehefrauen (sowie eine Mutter und eine Tochter) ritterlicher Procuratoren sind in der Provinz bezeugt, wozu Hans-Georg Pflaum für die ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte 27 ausschließlich epigraphische Belege zusammenstellen konnte: Pflaum 1950, 303–306. Weitere Beispiele ritterlicher Frauen in der Provinz: Marshall 1975a, 117. 121. Raepsaet-Charlier 1982, 59. Siehe auch das unten genannte Beispiel der Helvia. Zu alleine reisenden Amtsträgerfrauen siehe unten, S. 49f. mit Anm. 76. Tac. ann. 3,34,5. 40jährige Tätigkeit des Caecina: Tac. ann. 3,33,1. Barrett 2006, 139f. Zu den umfangreichen Reisen von Senatoren siehe Bérenger-Badel 2003. Heil 2012. Eck 2013. Heil 2014. Siehe außerdem die bei Pflaum 1950, 302 und Eck 2017, 109f. genannten Beispiele und die Karten bei Böhme 1977, 33 Abb. 13 (vgl. Foubert/Breeze 2014, 185 Abb. 9.3). 40 Abb. 18. 48 Abb. 24. 54 Abb. 30. 60 Abb. 34. 68 Abb. 41. Heil 2014, 307f. Abb. 1f. (= Heil 2012, 20, Abb. 2. 23 Abb. 5). Cic. Att. 7,2,2. Cic. fam. 14,5. Sen. contr. 9,2,1. Tac. ann. 3,33,2. Siehe die noch zu besprechende Schilderung in Iuv. 6,92–102 sowie Anm. 92f. Marshall 1975b, 11. Plut. Ant. 33,3. 35,2. 35,8. 53f. App. bell. civ. 5,76 (322f.). Cass. Dio 48,54,5. Marshall 1975a, 118f. Raepsaet-Charlier 1982, 57f. Halfmann 1986, 90–92. Siehe außerdem, auch für die spätere Zeit, die Zusammenstellungen bei Temporini 1978, 87 Anm. 388 und bei Raepsaet-Charlier 1982, 57 Anm. 8. Tac. ann. 3,33,3f. 4,20,6. Dig. 1,16,4,2 (Ulpian). Marshall 1975b, 119. 126. Barrett 2006, 134–146 kann schlüssig zeigen, dass dies bereits für die vortiberianische Zeit anzunehmen ist. Zu Munatia Plancina: Tac. ann. 2,55,6. 2,58,2.

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Seneca der Jüngere hingegen zeichnet ein ausführliches und dabei äußerst positives Bild einer Statthalterfrau auf Seereise. Um genau zu sein, handelt es sich um die Ehefrau eines ritterlichen Amtsträgers (die im Vergleich zur Ehefrau des senatorischen Amtsträgers viel schlechter überliefert ist). Nachdem Seneca 41 n. Chr. nach Korsika verbannt worden war, verfasste er eine Trostschrift für seine Mutter Helvia, die unter der Trennung von ihrem Sohn litt. Darin riet er ihr, Trost bei ihrer gleichnamigen Schwester zu suchen. Für deren außergewöhnliche Tugendhaftigkeit führt er zwei Beispiele an, darunter folgendes Erlebnis, bei dem Seneca selbst als Augenzeuge zugegen gewesen war und das seine Mutter natürlich mit Sicherheit bereits kannte: Seneca hatte nämlich seine Tante und deren Mann – der laut Seneca 16 Jahre lang praefectus Aegypti gewesen war und vielleicht mit C. Galerius zu identifizieren ist – in Ägypten besucht und war mit den beiden zurück nach Rom gereist. Dabei erlitten sie Schiffbruch, der Onkel starb. Obwohl seine Tante selbst in höchster Lebensgefahr war, barg sie die Leiche ihres Mannes, um ihn bestatten zu können – eine Leistung, die Seneca geradezu redundant hervorhebt.17 (4) Doch wenn ich diese kluge, unvergleichliche Frau recht kenne, wird sie [. . . ] Dir von einem Fall aus ihrem Leben erzählen, bei dem ich sogar Augenzeuge war. Ihren innig geliebten Mann hatte sie verloren, unseren Onkel, mit dem sie sich als Mädchen vermählt hatte, und dazu noch auf einer Seereise. Trotzdem bezwang sie zur gleichen Zeit sowohl die Trauer als auch die Furcht, überstand alle Stürme und brachte, schiffbrüchig, die Leiche ihres Mannes an Land! Ach, wievieler Frauen außerordentliche Leistungen liegen im Dunkel! Hätte sie das Glück gehabt, in jener alten Zeit zu leben, die große Taten aufrichtig bewunderte, in welchem Wettstreit der Talente würde die Gattin gepriesen, die, ohne an ihre Schwäche, ohne an das selbst für Helden fürchterliche Meer zu denken, ihr Leben um einer Beerdigung willen aufs Spiel setzte und, während sie an das Grab ihres Mannes dachte, das eigene überhaupt nicht fürchtete. Gerühmt wird in den Werken aller Dichter sie, die sich für den Gatten opfern wollte [sc. Alkestis, Anm. d. Vf.]. Das aber ist mehr, unter Lebensgefahr dem Mann zu einem Grabe zu verhelfen. (7) Das führe ich nicht deswegen an, um ihren Ruhm zu verkünden, den man nur schmälert, wenn man so rasch darüber hinweggeht, sondern damit Du erkennst, von welcher Seelengröße die Frau ist, die nicht Eitelkeit, nicht Habgier, die Begleiterinnen jeder Macht und ihr Ruin, bezwingen, und die auch die Todesfurcht, obwohl der Mast des Schiffs bereits gekappt

17 Sen. dial. 12,19,4–7 (ad Helv. matr.) (Übersetzung Fink 1992, 337. 339. 341): sed si prudentiam perfectissimae feminae noui, non patietur te nihil profuturo maerore consumi et exemplum tibi suum, cuius ego etiam spectator fui, narrabit. carissimum uirum amiserat, auunculum nostrum, cui uirgo nupserat, in ipsa quidem nauigatione; tulit tamen eodem tempore et luctum et metum euictisque tempestatibus corpus eius naufraga euexit. [19,5] o quam multarum egregia opera in obscuro iacent! si huic illa simplex admirandis uirtutibus contigisset antiquitas, quanto ingeniorum certamine celebraretur uxor quae oblita inbecillitatis, oblita metuendi etiam firmissimis maris, caput suum periculis pro sepultura obiecit et, dum cogitat de uiri funere, nihil de suo timuit! nobilitatur carminibus omnium quae se pro coniuge uicariam dedit: hoc amplius est, discrimine uitae sepulcrum uiro quaerere; maior est amor qui pari periculo minus redimit. [19,7] haec non ideo refero ut laudes eius exequar, quas circumscribere est tam parce transcurrere, sed ut intellegas magni animi esse feminam quam non ambitio, non auaritia, comites omnis potentiae et pestes, uicerunt, non metus mortis iam exarmata naue naufragium suum spectantem deterruit quominus exanimi uiro haerens non quaereret quemadmodum inde exiret sed quemadmodum efferret. Helvia: PIR2 H 79. Mirón 2008. Zu Helvias Ehemann und der Dauer seiner Statthalterschaft: Jördens 2009, 230 Anm. 249. 528.

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war und sie den Untergang vor Augen hatte, nicht davon abhalten konnte, an ihren entseelten Mann geklammert, sich zu fragen, nicht, wie sie sich aus dieser Lage retten, sondern wie sie ihn begraben könne.

Für eine (weibliche) Adressatin, seine Mutter, wählt Seneca als größten Trost in der Trauer (maximum solacium18 ) eine andere Frau, ihre vorbildhafte Schwester. Er charakterisiert seine Tante als Verkörperung des Ideals einer römischen Matrone, die sich durch Tugendhaftigkeit, Zurückhaltung und grenzenlose aufopfernde Hingabe an ihren Ehemann auszeichnet.19 In der Extremsituation des Schiffbruchs beweist sie übermenschliche moralische wie physische Stärke. In gewandelter Form findet sich das Motiv der virtus muliebrum in Bezug auf Seereisen auch in christlicher Zeit: Als Augustinus’ Mutter Monnica, eine Christin, 385 n. Chr. von Karthago nach Ostia reiste, um sich zu ihrem Sohn nach Mailand zu begeben, war das Schiff in eine nicht näher bezeichnete große Gefahr geraten. Während üblicherweise in solchen Situationen die Matrosen den – nicht mit der Seefahrt vertrauten – Passagieren Mut zusprächen, habe damals Monnica die Matrosen aufgerichtet (indem sie auf eine Vision verwies, die ihr die Rettung verheißen hatte).20 Die Protagonistin ist hier ebenfalls eine enge Verwandte des Autors und eine Heldin in der Seenot. Ihr Glaube an Gott befähigte sie, die Situation besser zu bewältigen als die Seeleute, die dazu eher hätten imstande sein müssen: sowohl aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung, was Augustinus erwähnt, als auch aufgrund ihres Geschlechts, worauf er nicht explizit verweist. In der Spätantike konnten sich (christliche) Frauen, die meist, aber nicht ausschließlich aus höchsten Kreisen stammten, durch Reisen soziales Prestige erwerben. Genauer gesagt handelt es sich um eine bestimmte Art von Reisen, nämlich Pilgerreisen zu den heiligen Stätten des Christentums, die vorrangig in Palästina und Ägypten lagen. Deswegen sind wir vergleichsweise gut über diese Reisen informiert.21 Das Prestige erwarben sie zum einen dadurch, dass sie zentrale Stätten des Christentums besuchten, allen voran die Schauplätze der Bibel, zum anderen auch durch die Reise an sich bzw. durch die Strapazen der Reise, die sie auf sich genommen hatten, was dem Ideal der gottgefälligen Askese entsprach. Die der paganen Oberschicht zuzurechnenden Frauen der späten Republik und der Kaiserzeit hingegen konnten keinen Prestigegewinn aus einer Reise ziehen (außer sie retteten unter Lebensgefahr die Leiche ihres Ehemanns). Im Gegenteil: Die Reise an sich und vor allem der Aufenthalt in der Provinz boten zahlreiche Angriffspunkte, gerade wenn von einflussreicher Seite ein Interesse darin bestand, einen Skandal zu inszenieren.22 Wie eben gesehen, bezeichnet Seneca Eitelkeit und Habgier als Begleiterinnen jeder Macht, nämlich der inoffiziellen Macht als Ehefrau des Provinzstatthalters.23 Die Kritik an deren angeblichem oder tatsächlichem Fehlverhalten zielte dabei letztlich auf den Ehemann. Anschuldigungen wie 18 19 20 21 22

Sen. dial. 12,19,1 (ad Helv. matr.). Vgl. Halfmann 1986, 91f. Aug. conf. 6,1,1. Zwingmann 2014. Tac. ann. 3,33. Vgl. das angeblich skandalöse Verhalten der Munatia Plancina während der Statthalterschaft ihres Ehemann Cn. Calpurnius Piso in Syrien 17 bis 19 n. Chr.: Tac. ann. 2,43,4. 2,55,6. 2,58,2. Zur sittlichen Gefahr von Reisen für Frauen: siehe oben, S. 39 mit Anm. 11 sowie unten, S. 43f. und S. 51–53 23 Sen. dial. 12,9,7 (ad Helv. matr.). Zur inoffiziellen Macht von Statthalterfrauen in der Provinz: Foubert 2017, 477– 483.

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Behinderung militärischer Kampagnen, Förderung von Korruption und Intrigen sowie persönliche Bereicherung finden sich insbesondere im Rahmen von Repetundenprozessen, die als Mittel zur Ausschaltung des (natürlich männlichen) politischen Gegners dienten.24 Entsprechend ist kein Fall bekannt, in dem nur die Frau und nicht auch ihr Mann angeklagt worden wäre. Die Reise einer Statthalterfrau an sich, sei sie nun zu Land oder zur See erfolgt, bot sich anscheinend nur im Sinne eines exemplum für die literarische Bearbeitung an, und entsprechend fiel die Charakterisierung der Frau, wie anhand der Schilderung Iuvenals gleich noch weiter auszuführen sein wird, dichotom aus.

2. ‚Weibliche Ängstlichkeit‘: Weiblich-weibisches Verhalten in Gefahrensituationen auf See Vorab sei bemerkt: Positiv besetzte Frauenfiguren werden in der antiken Literatur beim Seesturm oder Schiffbruch nicht ängstlicher als Männer geschildert oder sogar als Heldinnen dargestellt. Dazu zählen etwa die Protagonistinnen in Romanen,25 die bereits besprochenen Beispiele der Helvia und der Monnica oder die von Synesios beschriebenen Frauen, auf die noch zurückzukommen sein wird. Doch gleichermaßen ist die ‚weibliche Ängstlichkeit‘ auf Seereisen ein geläufiges Motiv. In seiner Invektive Über den Tod des Peregrinos lässt Lukian keine Gelegenheit aus, um diesen seinen Intimfeind zu diskreditieren. Ganz zum Schluss, als „‚Zugabe[.]‘ (wenn man so will)“,26 schildert er dem Adressaten der Schrift,27 damit er „lange zu lachen habe“, eine jenem bereits bekannte Begebenheit. Sie soll sich in der Ägäis auf einem Schiff zugetragen haben, auf das sich sowohl Lukian als auch Peregrinos in Alexandria Troas eingeschifft hatten. Peregrinos sei damals, so der Augenzeuge Lukian, bei einem nächtlichen Unwetter mit starkem Seegang „vor Angst zu den Weibern gekrochen und [habe] mit ihnen um die Wette geheult [. . . ]!“ So jedenfalls übersetzt Hanns Floerke im Jahr 1911 – frei, dramatisierend und für den von Lukian ohnehin diffamierten Peregrinos überdies unfair. Lukian schreibt eigentlich: ἐκώκυε μετὰ τῶν γυναικῶν („er wimmerte/heulte/jammerte zusammen mit den Frauen“).28 Auch andere Autoren differenzieren die Angstschreie beim Seesturm nach Geschlecht, so Achilleus Tatios, der das Wehgeschrei der Frauen (ὀλολυγμός) dem kämpferischen Schreien der Männer (ἀλαλαγμός) gegenüberstellt.29 Peregrinos ließ bekanntermaßen keine Gelegenheit aus, um seine für einen Kyniker typische Erhabenheit über den Tod zur Schau zu tragen (was in seiner öffentlichen Selbstverbrennung auf dem Scheiterhaufen gipfelte, die er 165 n. Chr. vor größtmöglichem Publikum, nämlich

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Marshall 1975b, 119f. Zum Beispiel Ach. Tat. 3,5,1. Börstinghaus 2010, 176. Adressat ist Lukians Freund Kronios: Lukian. Peregr. 37. Siehe Pilhofer 2005, 48 Anm. 1. Lukian. Peregr. 43. Siehe Börstinghaus 2010, 175–182. Ach. Tat. 3,2,8. Vgl. die von Horaz als unmännlich bezeichneten Angstschreie beim Seesturm (Hor. epod. 10,17: non virilis eiulatio). Synesios hingegen führt die Angstschreie der Frauen und Männer zwar getrennt an, jedoch ohne sie unterschiedlich zu werten: Synes. epist. 5, 120 (Garzya/Roques 2, 11): ἀνδρῶν οἰμωγή, γυναικῶν ὀλολυγή.

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anlässlich der Olympischen Spiele, vollzog, nachdem er sie bei den vorherigen Spielen vier Jahre zuvor angekündigt hatte30 ). Das ‚weibische‘ Verhalten, das er Lukian zufolge beim Seesturm an den Tag legt, ist eines jeden Mannes unwürdig, der ϑεῖος ἀνήρ Peregrinos aber gibt sich damit gänzlich der Lächerlichkeit preis und entlarvt einmal mehr seinen wahren Charakter und seine ‚Schein-Heiligkeit‘. Da seine Lehre und seine Lebensform nicht übereinstimmen, erleidet er in der tatsächlichen Seenot im übertragenen Sinne Schiffbruch.31 Davon, dass auch Frauen mit auf dem Schiff reisten, erfahren wir bei Lukian nur, weil er in ihnen das am besten geeignete rhetorische Mittel sieht, um das wahre, memmenhafte Wesen des Peregrinos aufzuzeigen. Das angeblich geschlechtsspezifische Verhalten von Frauen dient ihm, wie häufig in der antiken Literatur, als Negativfolie für inakzeptables Verhalten von Männern.32 Entsprechend ist er nur am Verhalten der Frauen interessiert, ohne irgendwelche Informationen anzugeben, die über ihre schiere Existenz hinausgingen, etwa über ihre Anzahl, ihre Reisemotive oder ihre soziale und geographische Herkunft.33 In trajanisch-hadrianischer Zeit macht Iuvenal deutlich differenzierter vom Motiv der ‚weiblichen Ängstlichkeit‘ Gebrauch. In seiner sogenannten Frauensatire warnt er einen kurz vor der Eheschließung stehenden Mann namens Postumus davor, was auf ihn zukommen werde, und spottet in diesem Zusammenhang über zur See reisende Ehebrecherinnen senatorischen Standes: Gibt es einen redlichen und ehrenhaften Grund, eine Gefahr auf sich zu nehmen, fürchten sie sich, eisig erstarrt ihre ängstliche Brust, und sie können nicht mit den zitternden Füßen auftreten: tapferen Mut bringen sie auf für Dinge, die sie schimpflich wagen. Wenn der Gatte dazu auffordern sollte, ist es hart, das Schiff zu besteigen, dann ist das Bilgewasser widerlich, dann dreht sich oben der Himmel: folgt eine dem Liebhaber nach, ist ihr Magen gesund. Die eine bekotzt den Ehemann, die andere frühstückt unter den Matrosen, wandert an Bord umher und hantiert voll Freude mit den harten Tauen.34

Wie sich aus der Formulierung si ratio est et honesta und dem unmittelbar vor dieser Passage erwähnten Beispiel der Senatorenfrau Eppia35 ergibt, denkt Iuvenal hier mit Sicherheit an die Ehefrau des politisch tätigen Senators, der im Laufe seiner Karriere auch als Provinzialamtsträger dient. Während Iuvenal es befürwortet, dass eine Frau ihren Ehemann in die Provinz begleitet,

30 Lukian. Peregr. 20. 35f. 31 Backhaus 2014, 95. Gerade Philosophen standen in bedrohlichen Situationen wie beim Seesturm unter besonderer Beobachtung und konnten sich leicht angreifbar machen, wie auch ein bei Aulus Gellius überliefertes Beispiel zeigt: Gell. 19,1. Aug. civ. 9,4,29–71. Vgl. Backhaus 2017, 395–399. Vgl. das nach eigener Aussage gefasste Verhalten des Aelius Aristides und die βοαί der übrigen Passagiere (Aristeid. 48,12). Vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Egelhaaf-Gaiser (siehe unten, S. 329–348). 32 Siehe oben, S. 41f. 33 Vgl. Apg 27, wo unter den 276 Passagieren nur Männer erwähnt werden (siehe unten, S. 56–58 mit Anm. 115). 34 Iuv. 6,94–102 (Übersetzung Adamietz 1993, 95. 97): iusta pericli/si ratio est et honesta, timent pauidoque gelantur/ pectore nec tremulis possunt insistere plantis:/fortem animum praestant rebus quas turpiter audent./si iubeat coniunx, durum est conscendere navem/tunc sentina gravis, tunc summus vertitur aer./quae moechum sequitur, stomacho valet, illa maritum/convomit, haec inter nautas et prandet et errat/per puppem et duros gaudet tractare rudentis. Vgl. Iuv. 6,92–94. 6,575f. 35 Iuv. 6,82.

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scheinen die Frauen ihrerseits, wie seine Verse zeigen, nicht immer gerne mitgekommen zu sein, nicht einmal in die ‚attraktiveren‘ Provinzen, die über das Meer zu erreichen waren.36 Bei einem unehrenhaften Grund, eine Seereise anzutreten (nämlich um ihres Liebhabers willen), wüchsen Frauen scheinbar plötzlich über sich und ihr Geschlecht hinaus.37 Die ‚typisch weibliche‘ Abneigung vor den Strapazen und die Angst vor den Gefahren der Seereise wird hier als fadenscheiniger Vorwand enttarnt, den ‚die Statthalterfrau an sich‘ vorschiebt, um nicht mit ihrem Ehemann in die Provinz gehen zu müssen, sondern in Rom bleiben zu können.

3. Die Erotik der Seereise Auffällig häufig werden die Motive der Reise, gerade der Seereise, und der Erotik bzw. Sexualität miteinander verknüpft,38 so auch bei der von Iuvenal charakterisierten Frau, die sich in vielerlei Hinsicht ungebührlich benimmt: Erstens ist natürlich der Ehebruch herauszustreichen. Im Fall der Eppia wird er noch dazu mit einem unstandesgemäßen Liebhaber, einem Gladiator, begangen, dem sie zur See nach Ägypten folgt. Dass Frauen für ihren Liebhaber solche Strapazen auf sich nehmen, ist ein Motiv, das sich auch an anderer Stelle findet.39 In der eben zitierten Passage könnte der Ehebruch zudem mit mehreren Intimpartnern erfolgen. Denn bei dem ‚freudigen Hantieren mit harten Tauen‘ handelt es sich wohl um eine sexuelle Anspielung,40 wobei der für die Taue verwendete Plural auch auf der Metaebene sinnreich gesetzt sein dürfte und auf (wohl ebenfalls nicht standesgemäße) Sexualkontakte mit anderen Passagieren oder eher sogar mit den erwähnten Matrosen abzielen wird. Zweitens macht sich die beschriebene Frau senatorischen Standes mit dem einfachen Volk, und zwar mit dessen rauesten Vertretern, den Matrosen, gemein, und drittens versucht sie sich in einer genuin männlichen Arbeit, der der Seemänner. Auch in Bezug auf andere Typen weiblicher Seereisender findet sich die Verknüpfung von Seereise und Erotik, wie gleich bei Petron und schließlich bei Synesios zu sehen sein wird: In Petrons schillerndem Werk Satyricon reist auf dem Schiff, auf dem die Protagonisten ihre turbulente Seefahrt unternehmen, auch eine Tryphaena.41 Es gab Versuche, Tryphaena historisch zu fassen, doch trägt sie zugleich deutliche Züge einiger weiblicher Theaterfiguren.42 Salomonisch

36 Vgl. Iuv. 6,575f. 37 Dass Frauen durch die Strapazen der Reise über das eigene, ‚schwache‘ Geschlecht hinauswachsen, ist ein geläufiger Topos der Berichte über christliche Pilgerinnen: Zwingmann 2014, 545f. In Bezug auf Seereisen findet er sich indirekt bei Felix Fabri am Ende des 15. Jhs., der unter den Passagieren und Passagierinnen zwei Gruppen einander gegenüberstellt, vorgeblich altersschwache Matronen und junge starke Ritter – wobei sich letztlich die Frauen um die seekrank gewordenen Ritter kümmerten: Fabri, Evagatorium 1, p. 31f. (Hassler 1843). Zwingmann 2014, 543. 38 Murgatroyd 1995. Futre Pinheiro/Skinner/Zeitlin 2012. Zwingmann 2017a, 103. 39 Prop. 1,8. Cynthia scheint hier als Geliebte eines Proprätors charakterisiert zu sein: vgl. Parker 2009, 89. 40 Zur erotischen Konnotation der harten Taue: Bellandi 1998, 10 Anm. 32. 41 Vgl. den Beitrag von Ulrike Egelhaaf-Gaiser in diesem Band (siehe unten, S. 332–348). 42 Zu Versuchen, Tryphaena über ihren Namen und ihre Schönheit bzw. über ihre Verwicklung in ein juristisches Verfahren mit einer historischen Persönlichkeit zu identifizieren, und zu ihrer Charakterisierung als Theaterfigur andererseits: Panayotakis 1995, 142f.

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urteilt Costas Panayotakis: Wie die meisten Charaktere dieses Werks sei auch diese Figur eine Mischung aus Literatur und Realität.43 Jedenfalls gibt Petron als ihren Reisegrund an, der Schiffseigner Lichas aus Tarent bringe sie aus dem Exil nach Tarent,44 was vermutlich auf einen uns verlorenen Teil des Romans anspielt. Ihre Beziehung zu Lichas, den sie von früher kennt, bleibt unklar. Sie ist aber wohl nicht seine Ehefrau.45 Die Forschung sieht in ihr häufig eine Prostituierte, wofür es aber keine Anhaltspunkte gibt.46 Neben der Rückkehr aus dem Exil nennt Petron als weiteren Reisegrund der Tryphaena folgenden: voluptatis causa huc atque illuc vecatur, was meist im Sinne von Vergnügungsreise oder Reiselust übersetzt wurde.47 Im Kontext des Satyricons ist voluptas jedoch sicherlich als „Lüsternheit“ zu verstehen, entsprechend dem programmatischen Namen Tryphaena („die Wollüstige“).48 Tryphaena wird als wohlhabend charakterisiert und reist mit ihrer familia, das heißt ihrer umfangreichen Dienerschaft, die Sklaven und Sklavinnen umfasst.49 Nicht zuletzt da es in der Antike nur ‚Selbstversorgerschiffe‘ gab, brachten alle Passagiere, die darüber verfügten, Bedienstete mit sich.50 Mindestens eine Sklavin der Tryphaena hat die Aufgabe, ihr ihre Perücken und künstliche Augenbrauen anzulegen, mithin ihr bei der Schönheitspflege behilflich zu sein.51 Ungeachtet der schwierigen Einordnung dieses Textes lassen sich hier zwei Typen von zur See reisenden Frauen fassen, die selten Eingang in die Überlieferung gefunden haben: Sklavinnen, die ihre Herrinnen auf deren Reise begleiten, sowie die ‚alleine‘, das heißt ohne Begleitung ihres Ehemanns oder eines anderen männlichen Angehörigen reisende Frau – oder aber, so Tryphaena doch die Ehefrau (oder Geliebte?) des Kapitäns sein sollte, die Frau eines männlichen Berufsreisenden, die zumindest unter besonderen Umständen zusammen mit ihrem Mann unterwegs sein kann. An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs über eine bildliche Darstellung eingefügt, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine weibliche Seereisende überliefert: Bei dem ins 3. Jahrhundert

43 Panayotakis 1995, 143: „As is the case with most of the characters of this novel, Thryphaena’s personality is a mixture of the literary and the real [. . . ] filtered through Petronius’ exuberant imagination.“ 44 Petron. 100,7, vgl. 108,5. Verdière 1956, 553. 45 Die in Petron. 106,2 genannte uxor des Lichas dürfte mit Hedyle (Petron. 113,3) und wohl nicht mit Tryphaena gleichzusetzen sein: Habermehl 2006, 338 ad 106,2. Verdière 1956, 554f. 46 Zum Beispiel Schmeling/Setaioli 2011, 597: „A high-class prostitute, traveling on Lichas’ ship“. Siehe aber Baldwin 1976, 53. Zu Seereisen von Prostituierten siehe unten, S. 49f., Anm. 75. „Flighty matron“ (Jones 1987, 139). 47 Petron. 101,5. „Die zu ihrem Vergnügen Kreuzfahrten macht“ bzw. „unternimmt“: Schönberger 1992, 167. Müller/ Ehlers 1983, 213. „Per diporto“: Ciaffi 1967, 253. „[. . . ] sales [. . . ] in the cause of pleasure“: Heseltine/Warmington 1969, 239. „Voyager pour son agrément“: Ernout 1958, 107. Vgl. die Übersetzung von exul in Petron. 100,7 bei Schönberger 1992, 165 als „Reisetante“. „Die aus reinem Zeitvertreib in der Welt spaziert“: Kytzler 2001, 109. „Reiselust“: Habermehl 2006, 339, vgl. aber ebd., 344f. 48 Zur Deutung als Wollust siehe zum Beispiel Petron. 106,2 (dort explizit voluptas in Bezug auf Tryphaena). 108,10. 109,2. 113,7 (mulier libidinosa). Schmeling/Setaioli 2011, 401 ad loc. Vgl. die in Petron. 113,3 in Zusammenhang mit Hedyle genannte libidinosa migratio. Zu Tryphaenas programmatischem Namen siehe Habermehl 2006, 339. 49 Sklavinnen: Petron. 105,6f. 108,8. 110,1. 110,5. 113,11. Sklaven: Petron. 114,7. Casson 1994a, 124f. 50 Casson 1994b, 153. Für ein weiteres Beispiel einer mit ihren Sklaven zur See reisenden Frau siehe Dig. 33,7,27,1 (Scaevola). 51 Petron. 110,1. 110,5.

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n. Chr. zu datierenden berühmten Torlonia-Hafenrelief,52 das von Roms Seehafen an der Tibermündung (Portus Augusti) stammt, handelt es sich offenbar um ein Grab- oder Votivrelief des Besitzers des abgebildeten Weinhandelsschiffs (bzw. der beiden abgebildeten Schiffe, denn es handelt sich entweder um zwei verschiedene Schiffe oder um ein Schiff zu unterschiedlichen Zeitpunkten). Das linke Schiff läuft gerade am Leuchtturm vorbei in den Hafen ein. Auf dem Dach des Deckhauses sind drei Personen beim Opfer dargestellt, die für die glückliche Heimkehr danken, zwei bärtige Männer und, in der Mitte, eine Gestalt mit zeittypischer schulterlanger Lockenfrisur.53 Die Figuren sind, der Schräge des Segels und dem Bedeutungsmaßstab folgend, zum Mast hin kleiner wiedergegeben. Die linke, bärtige und größte Person wurde als Kapitän bzw. Schiffseigner und Reliefstifter gedeutet, die mittlere Gestalt als seine Ehefrau, eine Dienerin oder eine hochrangige Passagierin.54 Die Ikonographie könnte auch auf einen männlichen Opferdiener weisen, da diese häufig Frisuren trugen, die modischen Frauenfrisuren entsprachen.55 Auf dem Schiff dürfte jedoch wohl kaum ein eigener Opferdiener mitgereist sein. Auch eine Deutung als Dienerin ist problematisch, da es meines Wissens nicht bezeugt ist, dass Männer in Begleitung weiblicher Bediensteter reisten. Man könnte allenfalls an eine Sklavin denken, die ihrem Besitzer sexuell zur Verfügung stehen musste, dann aber kaum als Opferdienerin infrage gekommen wäre. Die Figur ist somit als weibliche Seereisende anzusprechen.56

4. Synesios von Kyrene: Eine Reisegesellschaft mit vielen Frauen Mit den bisherigen Ausführungen ist der Horizont der Motivik abgesteckt, die im Zusammenhang mit zur See reisenden Frauen erwartbar ist. Die autobiographische Seefahrtsschilderung von Synesios von Kyrene, dem neuplatonischen Philosophen und (späteren57 ) Bischof von Ptolemaïs, agiert vor dem Hintergrund der aufgezeigten literarischen Tradition, geht aber in Form und Inhalt deutlich darüber hinaus, gerade auch in Bezug auf das Motiv der Erotik. Die 52 Siehe Abb. 21 (S. 199). 53 Siehe Abb. 9 (S. 47). 54 Pekáry 1999, 290 (Rom-M 56). Bilddatenbank des SPP 1630 ‚Häfen von der römischen Kaiserzeit bis ins Mittelalter‘, Projekt ‚Bilder und Vorstellungen römischer Hafenanlagen‘: http://arachne.uni-koeln.de/item/relief/300150809. Ehefrau: Wachsmuth 1967, 147. Casson 1994b, 128f. (dazwischenliegende Bildseite), Bildunterschrift zu Abb. 6. „Familie des Kapitäns?“: Bilddatenbank des SPP 1630. Ehefrau des hochrangigen Fahrgästepaars: Casson 1994a, 111, Bildunterschrift zu Abb. 84. „Dienerin“, „ein Mädchen bzw. eine junge Frau“: Feuser 2015, 39. Feuser plädiert aufgrund ihrer Größe für die Interpretation der beiden kleineren Figuren als Diener, zumal der Mann ganz rechts noch gebückt dargestellt ist. Wegen der „Geschlechterkonstellationen“ hält Feuser es für unwahrscheinlich, dass mit den beiden kleineren Figuren weitere Familienmitglieder gemeint sind (ich danke Stefan Feuser dafür, mir diesen Artikel zur Verfügung gestellt zu haben, sowie für wertvolle Hinweise). 55 Fless 1995, 37–43, besonders 40–43. 56 Eine weitere, nicht mehr erhaltene Darstellung weiblicher Seereisender zeigte ein Mosaik in der Basilika San Giovanni Evangelista in Ravenna. Galla Placidia, die Tochter Theodosius’ I., hatte diese Kirche zusammen mit ihren Kindern Grata Honoria und Placidus Valentinianus aufgrund eines Gelübdes nach ihrer Rettung aus Seenot durch den Heiligen Johannes gestiftet. Die Weihinschrift und die Darstellung sind uns nur durch mittelalterliche Chronisten bekannt. Das Mosaik zeigte zu beiden Seiten des Apsisbogens je eine Darstellung der Familie auf dem Schiff, einmal mit Johannes am Steuerruder. Möglicherweise gibt eine nach 1321 n. Chr. zu datierende Miniatur dieses Motiv wieder, wie in der Forschung häufig angenommen: Deichmann 1974, 95f. 107–119, besonders 112f. mit Abb. 54. Caillet 2016, 252f. mit Abb. 12. 57 Schmitt 2001, 52–54.

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Abbildung 9: Opferszene auf dem sog. Torloniarelief (Torlonia Museum Rom Inv.-Nr. 430; J. Felbermeyer, D-DAI-ROM 33.1326 [Ausschnitt])

Schilderung zählt zusammen mit der des Josephos und der des Lukas in der Apostelgeschichte über Paulus zu den bemerkenswertesten antiken Berichten über Seereisen,58 ist jedenfalls deren längste und zu weiblichen Reisenden die mit Abstand informativste. Der Brief ist in die ersten Jahre nach 400 zu datieren,59 doch wird man ihn, was das Treiben an Bord betrifft, zu großen Teilen auch für die früheren Jahrhunderte heranziehen können. In seinem fünften (bzw. nach alter Zählung vierten) Brief,60 einem der berühmtesten, längsten und humorvollsten in seinem Briefcorpus, schildert Synesios seinem Bruder Euoptios seine Seefahrt von Alexandria in die libysche Pentapolis, bei der es sich wohl um die letzte Etappe der Gesandtschaftsreise handelt, die ihn nach Konstantinopel geführt hatte.61 Genauer gesagt, berichtet er vom ersten Teil dieser Reise, und zwar von der Abfahrt aus Alexandria bis zur Notlandung in dem kleinen, uns unbekannten Hafenort Azarion, der wohl mehrere hundert

58 Synes. epist. 5 (Garzya/Roques 2, 6–19). Übersetzungen: Lateinisch: Hercher 1863, 639–645. PG 66,1327–1342. Deutsch: Volkmann 1869, 78–89. Vogt 1970, 401–406 = ders. 1985, 34–43. Französisch: Druon 1878, 437–447. Roques 2000, 6–19 (zweisprachig, mit Kommentar 92–108). Englisch: Fitzgerald 1926, 80–91. Davis 2009, 303– 307. Italienisch: Garzya 1989, 74–91 (zweisprachig). Janni 2003, 50–63 (zweisprachig mit Kommentar 64–80). Niederländisch: Meijer 1985. Wichtigste Abhandlungen: Grützmacher 1913, 72–79. Simeon 1933 , 62–78. Roques 1977. Long 1992. Janni 2003, 7–48. Soler 2005, 320–329. Roques 2008, passim. Börstinghaus 2010, 245–277. Einordnung des Briefes innerhalb des Corpus des Synesios: Long 1992, 351f. 59 Janni 2003, 38 Anm. 7. 65f. ad. 2,397–410. Schmitt 2001, 246–250. Börstinghaus 2010, 253–257. Als Daten wurden zum Beispiel vorgeschlagen: 23.10.407 n. Chr.: Roques 1977. Ders. 1989, 181–186, vgl. ders. 2008, 123 mit Anm. 247 (der Long 1992 nicht zu kennen scheint). 28.5.401 n. Chr. oder 22.10.401 n. Chr.: Long 1992, 357–376. 60 Zur Zählung der Briefe: Long 1992, 351 Anm. 1. 61 Schmitt 2001, 246–248 Anm. 16.

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Kilometer weiter westlich lag.62 Noch während Synesios sich einige Tage in diesem Hafenort aufhält, wo man vermutlich auf günstigen Wind wartete und das Schiff ausbesserte, zeichnet er anspielungs- und farbenreich die dramatischen und – wie er selbst am Ende seines Briefes hervorhebt – auch tragikomischen Umstände dieser Fahrt. Außerdem schildert er, mit einer meines Wissens einmaligen Ausführlichkeit, die Menschen an Bord, und zwar Besatzung wie Reisegesellschaft. Erstaunlicherweise ist dieser Aspekt des ansonsten vielbesprochenen Textes, ganz im Gegensatz zu den nautischen Details und der Frage der Datierung, in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben.63 Neben der 13-köpfigen, zu über der Hälfte jüdischen Schiffsbesatzung (bestehend aus dem Kapitän bzw. Steuermann und wohl auch Schiffseigner sowie 12 Matrosen bzw. Ruderern – einer wahren „Gurkentruppe“, um eine Formulierung von Jens Börstinghaus aufzugreifen),64 seien insgesamt über 50 Passagiere65 an Bord gewesen. Unter den Reisenden hebt Synesios folgende hervor: 1. sich selbst,66 2. „viele“ (συχνοί) Mitglieder einer arabischen Reitereinheit,67 3. in etwa 15 bis 20 Frauen, ungefähr ein Drittel der Passagiere, darunter eine ϑεραπαινίδιον aus Pontos, das heißt eine junge Sklavin, die als einzige herausgestellt wird (siehe unten), 4. und schließlich noch männliche Kinder bzw. Jugendliche (παῖδες/ἴουλοι = „Milchbärte“).68 Alles in allem handelt es sich, in den Worten von Georg Grützmacher, offensichtlich um „eine bunte, nach Nationalität und Religion gemischte Gesellschaft [. . . ], ein Spiegelbild der damaligen Gesellschaft im römischen Weltreich“,69 und es kann hinzugefügt werden, diese Gesellschaft war auch nach Alter, sozialer Zugehörigkeit sowie eben nach Geschlecht gemischt. Über die mitreisenden Frauen erfahren wir nun einiges: (1) Sie reisten von Alexandria in die Pentapolis. Letztere war das Reiseziel des Schiffs, des Synesios und wohl auch der anderen Passagiere, als deren Sprecher Synesios auftritt. Je nach 62 Zur Lokalisierung von Azarion: Janni 2003, 64 ad 2 Porto Azario. Roques 2000, 92 Anm. 1. 95 Anm. 11. 104 Anm. 69. Roques lokalisiert Azarion an der unfruchtbaren Küste der Marmarica. Eine solche Lokalisierung erscheint für den unwirtlichen ersten, namenlosen Ort, an dem das Schiff notlandete, passend: Synes. epist. 5, 170–176. 5, 184 [Garzya/Roques 2, 13]. Für Azarion hingegen, dessen landwirtschaflicher Reichtum sich in der Fülle und Zusammensetzung der Geschenke der libyschen Frauen offenbart, ist sie auszuschließen: Synes. epist. 5, 254–257 (Garzya/Roques 2, 16), siehe unten, S. 56 mit Anm. 110–113. Abfahrtsort Alexandria: Synes. epist. 5, 1f. (Garzya/Roques 2, 6). Reiseziel Pentapolis: Synes. epist. 5, 65f. (Garzya/Roques 2, 9). 63 Datierung: siehe S. 47 mit Anm. 59. Nautische Details: Roques 2000, 93f. Anm. 2 und Kahanov 2006, besonders 443 Anm. 2, mit der älteren Literatur. 64 Synes. epist. 5, 19–34 (Garzya/Roques 2, 7f.). „Gurkentruppe“: Börstinghaus 2010, 259. 65 Synes. epist. 5, 35f. (Garzya/Roques 2, 8). 66 Synesios dürfte, wie es üblich war, in Begleitung einiger seiner Sklaven gereist sein (siehe oben, S. 45 mit Anm. 49. Pando 1940, 46f.), die er allerdings nicht erwähnt. Außer den oben genannten Personen führt Synesios einen „römischen Mönch“ (ὁ ϑρησκευτὴς ὁ ῾Ρωμαῖος) an: Synes. epist. 5, 245f. (Garzya/Roques 2, 16). Für einen Mitreisenden hält ihn: Janni 2003, 78 ad 204. Druon 1878, 445 vermutet, dass er identisch mit dem alten Mann ist, der die Schiffe in den Hafen Azarion lotst, das heißt ein Einheimischer. Roques 2000, 105 Anm. 74: römisch = mit römischem Bürgerrecht. 67 Synes. epist. 5, 111–113 (Garzya/Roques 2, 11). Janni 2003, 72 ad 93. Diese Auxiliarsoldaten können, wenn man die Gesamtzahl der Reisenden bedenkt, kaum mehr als etwa 20 Männer gestellt haben: Roques 2000, 99 Anm. 38 ad loc. 68 Synes. epist. 5, 245. 260f. (Garzya/Roques 2, 16f.). 69 Grützmacher 1913, 78.

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genauem Zielort innerhalb der Pentapolis, vermutlich Phykous oder Apollonia, den Häfen von Synesios’ Heimatstadt Kyrene, überwanden sie somit eine Strecke von etwa 900 bis 1000 km.70 Bei ihrer Notlandung in Azarion hatten sie wohl bereits mehrere hundert Kilometer zurückgelegt.71 Denkbar wäre auch, dass die Frauen noch vor der Pentapolis bei einem geplanten Halt aussteigen wollten. (2) Mit immerhin etwa einem Drittel der über 50 Passagiere, das heißt 15–20 Personen, stellten die Frauen neben den Mitgliedern der arabischen Reitereinheit den größten Anteil unter den Reisenden. (3) Die Frauen gehörten dem griechisch-römischen Kulturkreis an, denn sie werden im Rahmen einer Fremdvölkerbeschreibung, die noch behandelt werden wird, indigenen Libyerinnen gegenübergestellt. Nach der ersten Notlandung stimmten Synesios und seine Mitreisenden (ohne dass die Frauen explizit genannt wären) Dankeshymnen an Gott an, wobei in der Forschung umstritten ist, an welchen Gott sich diese Hymnen richteten. Ob die Frauen Christinnen waren oder Anhängerinnen paganer Kulte, ist somit nicht mit Sicherheit zu entscheiden.72 (4) Die Frauen waren jung und anscheinend ohne erwachsene männliche Begleiter unterwegs, offenbar aber mit ihren Sklavinnen und ihren Kindern. Da die männlichen Jugendlichen kaum alleine gereist sein dürften und jedenfalls weder zu der Reitereinheit noch zu Synesios gehörten, könnte es sich um ihre Söhne handeln. Mädchen wurden in der Antike in der Regel früh verheiratet, so dass die Reisegefährtinnen des Synesios auch mit halbwüchsigen Söhnen noch jung gewesen wären.73 Die Frauen erscheinen durch ihr Alter, ihre familiäre Lebenssituation sowie ihre finanzielle Stellung, auf die gleich zurückzukommen sein wird, als Einheit. Das legt nahe, dass es sich um eine Reisegruppe handelte und nicht um einzelne weibliche Reisende mit ihren Kindern und Sklavinnen, die sich auf dem Schiff zusammengefunden hätten. Wie wir auch aus anderen Zusammenhängen wissen, reisten weibliche Reisende bisweilen in Frauengruppen.74 (5) Die Frage nach dem Reisemotiv der Frauen muss leider unbeantwortet bleiben. Fuhren sie als Pilgerinnen zu einem religiösen Fest oder kehrten sie von einem solchen zurück? War ihr Reiseanlass ein privater wie eine Familienfeier? Oder reisten sie aus beruflichen Gründen? Das Einzige, was wir diesbezüglich sagen können, ist, dass sie offensichtlich keine Prostituierten waren (welche sich besonders anlässlich großer Feste, auch zur See, zu Orten mit regionaler oder überregionaler Anziehungskraft begaben, an denen viele Klienten zu erwarten waren).75 Jedenfalls sind die genannten Reisemotive für Frauen, die ‚alleine‘ – mithin ohne Begleitung 70 Zu den Häfen: Schmitt 2001, 166f. mit Anm. 99. Zur Bedeutung Kyrenes als Hafen: Warnking 2015, 69. 138. 268. Zum Streckenverlauf: Roques 2008, 112–114. 130. 71 Zu Azarion siehe S. 48, Anm. 62. 72 Synes. epist. 5, 177–182 (Garzya/Roques 2, 13): ὕμνοι τῷ ϑεῷ. Roques 1987, 309f. Ders. 2000, 102f. Anm. 58 ad loc. Fernández Nieto 1991, 19 mit Anm. 9. Für einen paganen Kontext plädiert Janni 2003, 32f. 75 ad 147. 73 Unter „jung“ verstand Synesios – jedenfalls bei Männern – offensichtlich noch ein Alter von Anfang 30: vgl. Schmitt 2001, 145f. Dann wären die Frauen in etwa gleich alt wie Synesios gewesen: siehe ebd., 146. 74 Für eine Reisegruppe von Frauen ohne männliche Begleitung vgl. BGU 1,261. Bagnall/Cribiore 2006, 83. In den aus bestem Hause stammenden frühchristlichen Pilgerinnen mit ihrem Jungfrauengefolge fand die Frauenreisegruppe ihre bedeutendeste Ausprägung: Hier. epist. 108,11. 108,14. Evagrius Ponticus epist. 7. Zwingmann 2014, 533 mit Anm. 10. 536 Anm. 29. 541. 75 Prostituierte als Berufsreisende in der paganen wie der christlichen Antike: siehe Str. 12,8,17 C. 578f. D. Chr. 35,15. 77/78,4. McGinn 2004, 26f. Im Tross des Heeres zum Beispiel Liv. Per. lib. 52. McGinn 2004, 27. Explizit Reise zur See: Plaut. Rud. prol. 49–77. Clem. Al. Paed. 3,22,1. Vgl. die Heiligenvita der Maria, die sich im 6./7. Jh. n. Chr. vor

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männlicher Angehöriger, insbesondere ihres Ehemanns – unterwegs waren, auch für Seereisen überliefert.76 (6) Die Frauen waren in gewissem Umfang wohlhabend. Nicht nur, dass sie offenbar Sklavinnen besaßen, zu denen die junge Sklavin aus Pontos zu zählen sein dürfte: Als die Reisenden nämlich auf dem Meer in Lebensgefahr sind, ruft jemand, alle, die χρυσίον καὶ ἄξιος χρυσίου dabei hätten, das heißt Gold, Goldschmuck bzw. Goldmünzen sowie „Goldwertiges“, sollten es sich um den Hals hängen – damit, wer ihre Leiche fände, einen materiellen Anreiz habe, die Bestattungspflicht einzuhalten.77 Daraufhin legten die Frauen Schmuck an, den sie, wohl um keine Raubüberfälle zu provozieren, auf der Reise offensichtlich nicht trugen, sondern im Gepäck mit sich führten.78 Sie verteilten außerdem ἀρπεδόναι an alle, die das brauchten. ἀρπεδόνη heißt eigentlich „Faden“/„Schnur“/„Strick“, und mit „Schnur“ wird es auch häufig übersetzt. Anscheinend gaben die Frauen etwas aus ihrem Besitz, das andere, nämlich die männlichen Mitreisenden, nicht dabei hatten. Es fragt sich, warum. Fäden oder Schnüre mögen im Reisegepäck ja durchaus ihre Berechtigung haben (für ein Reisenähzeug oder als Jagdutensil zum Angeln und Fallenstellen? Letzteres ist eine Bedeutung, in der ἀρπεδόνη explizit belegt ist).79 Das gilt jedoch in gleichem Maße für Frauen wie für Männer. Außerdem handelt es sich offensichtlich um irgendetwas aus Edelmetall. ἀρπεδόναι dürfte hier demnach „Halsketten“ bezeichnen, eine Bedeutung, die ansonsten allerdings nicht bezeugt zu sein scheint.80 Dann

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ihrer Konversion zum Christentum in Erwartung guter Geschäfte in Alexandria auf ein Pilgerschiff einschiffte, das anlässlich eines religiösen Festes nach Jerusalem fuhr, wobei sie die Schifffahrt durch Prostitution finanzierte: Ps.Sophronios, V. Mariae Aegypt. 19–26 (PG 87,3,3712 A). Von den zahlreichen Beispielen seien folgende herausgegriffen, darunter auch einige, die Seereisen betreffen: Reise aus familiären Gründen: Plin. epist. 10,120,1f. 10,121. BGU 1,261, siehe Bagnall/Cribiore 2006, 83 (in einer kleinen Frauenreisegruppe). Aus gesundheitlichen Gründen: Plin. epist. 6,4. Aus religiösen Gründen: Iuv. 6,527–529. Siehe S. 49, Anm. 74. Im Zusammenhang der Reisen des in staatlichem Dienst stehenden Ehemanns: Nic. Dam. (= FGrH 90 F 134). Dig. 23,4,26,3 (Papinian). P. Mich. 2,214. Wegen eines Rechtsstreits: Dig. 33,7,27,1 (Scaevola). Isaac 1992, 63–65 zu P. Yadin 14,22f. 23, vgl. 25,6–20. Zwingmann 2017b, 934f. Zum Vergleich sei auf die in Papyri angegebenen Reisegründe von Frauen verwiesen: Von den ca. 40 auf Papyrus erhaltenen Briefen, in denen Frauenreisen thematisiert werden, ist bei der Hälfte der Reisegrund nicht angegeben, bei der anderen Hälfte lassen sich drei Kategorien von Reisen ausmachen: Familienbesuche, Reisen im Zusammenhang mit Geburten und Geschäftsreisen zur Inspektion von Landbesitz: Bagnall/Cribiore 2006, 81. Synes. epist. 5, 142–150 (Garzya/Roques 2, 12). Während die religiöse Pflicht, tot angeschwemmte Ertrunkene zu bestatten, in der antiken Literatur häufiger erwähnt wird, gibt es meines Wissens keine Parallelen zu Synesios’ Ausführung zum Gold in diesem Zusammenhang: vgl. Fernández Nieto 1991. Vgl. P. Mich. 2,214, wo Ende des 3. Jhs. n. Chr. ein Paniskos seiner Frau Ploutogenia rät, solange sie mit dem Boot den Nil hinunterfährt, ihren Goldschmuck nicht zu tragen, sondern im Gepäck zu verstecken. Siehe Casson 1994a, 177. 351 ad loc. Vgl. den wegen ihres Schmucks verübten tödlichen Raubüberfall auf eine junge Frau: CIL III 2399. LSJ 246, s. v. ἀρπεδόνη. ThGL I 2, 1831, 2032, s. v. ἀρπεδόνη. Während ihrer Notlandung in Azarion ernähren sich die Reisenden von selbst geangelten Fischen (siehe unten): Synes. epist. 5, 242–245. 259–263 (Garzya/Roques 2, 16f.). Vogt 1985, 38: „Und die, die Gold oder etwas Goldwertiges hatten, hängten es sich um. Die Frauen legten ihren Schmuck an und teilten Schnüre aus an die, die solche brauchten.“ Roques 2000, 12: „quant aux femmes, elles s’en paraient elles-mêmes et distribuaient aussi des fils à quiconque en demandait.“ Garzya 1989, 83: „distribuivano pezzi di corda“. Janni 2003, 57 Z. 120 übersetzt mit „cordini“ und geht auf diese Stelle in seinem ansonsten ausführlichen Kommentar nicht ein. Siehe aber Druon 1878, 442: „[. . . ] recommandation à laquelle s’empressent d’obéir tous ceux qui ont de l’or ou des objets précieux. Les femmes se parent de ce qu’elles ont de plus riche, et distribuent, à ceux qui n’ont rien, des ornements de quelque valeur.“ Long 1992, 354: „distributed their jewelry to the other passengers“.

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hätten die Frauen denjenigen, die selbst keinen Schmuck mit sich führten, von dem Ihrigen abgegeben und so viel Schmuck dabei gehabt, dass sie anderen davon abgeben konnten. (7) Synesios schildert die weiblichen Reisenden als sehr zupackend. In deutlichem Kontrast zur Seereise des Peregrinos gemäß Lukian äußern sie ihre Todesangst beim Seesturm ähnlich wie die Männer.81 Sie leisten zweimal einen erheblichen Beitrag, um der Reisegesellschaft in ihrer Gesamtheit zu helfen: außer in der eben genannten lebensbedrohlichen Situation in einer weiteren kritischen Situation, die noch zu besprechen sein wird. (8) Nach Synesios waren die weiblichen Mitreisenden in einer Art ‚Frauenabteil‘82 untergebracht. Bekanntermaßen gab es in der Antike keine eigene Passagierschifffahrt, sondern man reiste auf Frachtschiffen, die nur äußerst rudimentär auf die Beförderung von Passagieren ausgerichtet waren. Es gab vermutlich in aller Regel keine Passagierkabinen (außer auf großen Schiffen, und auch da nur für wenige hochstehende Reisende),83 sondern man legte sich auf Deck oder auf Zwischendeck direkt auf die Planken und bereitete sich mit selbst mitgebrachten Utensilien, etwa einer Matte, eine Bettstatt.84 Folglich hatte man in der Regel keine Privatsphäre. Durch Synesios erfahren wir hier ein interessantes, ansonsten anscheinend nirgends überliefertes Detail,85 wie man unter solchen Umständen eine notdürftige Geschlechtertrennung bewerkstelligen konnte: Mit einem „vor kurzem zerrissenen Segel“ hatte man einen eigenen Bereich für die Frauen abgespannt. Es handelt sich demnach wohl um eine improvisierte Maßnahme, die zumindest in dieser Form nicht zum Standard gehörte. Es bleibt offen, warum sie ergriffen wurde: War es ungewöhnlich, dass sich eine solch große Gruppe von Passagierinnen ohne männliche Begleitung an Bord befand? Handelt es sich um eine regionale Besonderheit? Wollten sich vornehme Damen von ihren sozial niedriger stehenden Mitreisenden abgrenzen? War die Maßnahme der strengeren Moral der beginnenden christlichen Spätantike oder gar der Initiative des Synesios selbst geschuldet? War eine Abtrennung nach Geschlechtern zwar doch üblich, ist aber ansonsten nicht überliefert worden? Oder hat sie Synesios schlicht erfunden, um die Komik der Erzählung zu steigern? Wir erfahren auch nicht, wo dieser Vorhang angebracht war – ob an Deck, irgendwo im Schiffsbauch oder doch tatsächlich in einer Kabine, die den über 50 Männer und Frauen als „Schlafsaal“ gedient hätte, wie Jean Rougé postuliert86 –, noch ob sich die Frauen in diesem Bereich ständig oder nur zum Schlafen aufhielten. Achilleus Tatios erwähnt auf Deck verteilte γέρρα, wohl Schirmwände aus Korbgeflecht, die dafür gedient zu haben scheinen, eine gewisse Privatsphäre zu wahren, und die auch für einen Regenschutz herangezogen wurden, denn die Reisenden an Deck waren Wind und Regen ausgesetzt.87 Wenn Synesios schreibt, dieser Vorhang sei für züchtige Männer wie die Mauer der Semiramis, mithin die sprichwörtliche, unüberwindbare (und von einer Frau errichtete) Sperrmauer 81 Siehe oben, S. 42, Anm. 29. 82 Höckmann 1985, 89. 83 Rougé 1984, 226–242. André/Baslez 1993, 423 mit Anm. 5f. Casson 1986, 180f. Ders. 1994a, 154. Vgl. dazu auch den Beitrag von Kirstein et al. im vorliegenden Band (siehe oben, S. 21). 84 Breusing 1886, 185f. Rougé 1984, 236. Höckmann 1985, 87–90. 173. André/Baslez 1993, 420. 423–425. Casson 1986, 177–181. Ders. 1994a, 152–154 mit den Addenda 347 zu den Anmerkungen zu S. 152–154. Ders. 1994b, 124f. 85 Roques 2000, 98 Anm. 19. 86 Kabine: Rougé 1984, 242, vgl. ebd., 236. Siehe auch Grützmacher 1913, 76. Auf Deck: Lacombrade 1950, 45. Jones 1964, 842. Höckmann 1985, 89. Janni 2003, 14. 87 Ach. Tat. 3,2,3f.

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Babyloniens,88 so möchte er hier wohl einmal mehr seine moralische Integrität sogar unter den erschwerten Bedingungen einer Seereise in Begleitung junger hübscher Frauen hervorheben.89 Doch obwohl die Frauen, nach Aussage des Synesios, fast alle jung und hübsch waren und anscheinend ohne männliche Begleitung reisten, wäre, wie er weiter ausführt, aufgrund der Wetterlage und der halsbrecherischen Manöver des Kapitäns selbst Priapos keusch geblieben. Dieser mit erigiertem Glied dargestellte und somit seine sexuelle Begierde und Hemmungslosigkeit zeigende Gott der Sexualität und Fruchtbarkeit war im Übrigen ein geläufiger Schutzgott von Schiffen.90 Synesios weist folglich ausdrücklich auf die sexuelle Versuchung im Rahmen einer Seereise hin, das heißt auf die Möglichkeit einer einvernehmlichen sexuellen Annäherung (selbst wenn die Privatsphäre äußerst eingeschränkt war), die auch im Rahmen von Prostitution stattfinden konnte, bzw. auf die Gefahr sexueller Übergriffe bis hin zu einer Vergewaltigung durch die männlichen Passagiere oder die Besatzung.91 Auf bildlichen Darstellungen sind Matrosen häufig nackt wiedergegeben, weshalb in der einschlägigen Literatur davon ausgegangen wird, dass Matrosen an Bord unbekleidet waren.92 Doch scheint dies eher eine Darstellungskonvention als die tatsächliche ‚Arbeitskleidung‘ gewesen zu sein. Unabhängig von moralischen Bedenken empfahl sich zumindest ein Lendenschurz, schon alleine wegen der Verletzungsgefahr beim Hantieren mit Tauen und Werkzeug und beim Klettern in der Takelage. Die sittliche Gefahr für Frauen durch Reisen ist ein in der antiken Literatur immer wiederkehrendes Thema, wenn auch nicht explizit für Seereisen, obwohl gerade hier die Tatsache, dass die Reisenden längere Zeit auf engem Raum ohne Ausweichmöglichkeit miteinander verbringen mussten, die Situation erheblich verschärft haben dürfte.93 Vielleicht sollte der Sichtschutz des Vorhangs nicht nur männliche Übergriffe verhindern, sondern auch, dass die Frauen durch die männlichen Mitreisenden und Seeleute, seien letztere nun nackt oder nicht, in sexuelle Versuchung kamen. Denn nach einer häufig formulierten antiken Auffassung mangelte es Frauen, gerade auch in sexueller Hinsicht, an Selbstbeherrschung, weshalb sie bei ihren Tätigkeiten im Haus bleiben sollten.94 Im Übrigen galt Intimverkehr an Bord, wie wir durch Achilleus Tatios wissen, als missgünstig für die Seefahrt und unterlag einem religiösen Tabu. Achilleus Tatios bezieht sich dabei auf ein heterosexuelles Paar (also nicht auf andere denkbare Konstellationen wie Sexualkontakte zwischen sich bislang unbekannten Passagierinnen und Passagieren oder 88 Siehe Janni 2003, 69 ad 34. Baumstark 1896, 2712. 89 Siehe unten, S. 54 mit Anm. 102. 90 Synes. epist. 5, 41–43 (Garzya/Roques 2, 8). Zu Priapos als Schutzgott von Schiffen: Blakely 2017, 371. 377f. Zur literarischen Tradition der Verknüpfung von Meer und Liebe bzw. Sexualität: Murgatroyd 1995; siehe oben, S. 44, Anm. 38. 91 Zur im 19. Jh. im Kontext der Atlantiküberquerungen thematisierten Gefährdung der Moral an Bord durch Promiskuität: Bellmann 2015, 261. 364–368. Zur Prostitution als Mittel für Frauen, eine Reise zu finanzieren, siehe oben, S. 49f. mit Anm. 75. Vgl. Procop. Arc. 9,27. 92 Höckmann 1985, 89. Casson 1986, 320f. aufgrund von Reliefdarstellungen wie anhand des Torlonia-Reliefs (= ebd., Abb. 144. 146), vgl. auch ebd., Abb. 147. 149. 151. Rougé 1966, Taf. VIb. Beispiele für mit kurzem Schurz bekleidete Matrosen: Casson 1986, Abb. 191. Ders. 1994a, 132 Abb. 96. Taf. 10. 93 Gelegenheit für außereheliche sexuelle Kontakte: Mart. 1,62. Siehe oben, S. 43f. zu Iuvenals Senatorenfrau und S. 44f. zu Petrons Tryphaena. Vgl. auch Prop. 1,11 und Iuv. 6,101f. (siehe oben, S. 44 mit Anm. 38). In der christlichen Antike ist dieses Motiv ebenfalls verbreitet: Gr. Nyss. epist. 2, besonders 4–7. Bonif., ep. 78 (MGH Epp. sel. 1, 1916, 169,15–24). Siehe oben, S. 41, Anm. 22. 94 Carson 1990, 138–145. Hanson 1990, 33f. Für diese Hinweise danke ich André Lardinois.

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Seeleuten oder aber homosexuelle Kontakte zwischen den Seeleuten oder zwischen Seeleuten und männlichen Passagieren).95 (9) Schließlich kommt Synesios in einem merkwürdigen Exkurs noch einmal auf seine weiblichen Mitreisenden zu sprechen: Nach der Notlandung in Azarion sei es ihnen zu verdanken gewesen, dass alle genug zu essen hatten. Denn da die Reise aufgrund des Sturms nun schon viel länger dauerte als vorgesehen, waren allen die Nahrungsmittelvorräte ausgegangen, die die Reisenden ja für sich auf das Schiff mitbringen mussten.96 Erst ernährten sie sich eine Woche lang kärglich von selbst gefangenen Fischen und Krustentieren und selbst gesammelten Napfschnecken. Doch dann konnte die Reisegesellschaft plötzlich wie im Schlaraffenland leben. Wie es dazu kam, führt Synesios in einem ausschweifenden Bericht aus, der ganz augenfällig in der Tradition der Randvölkerbeschreibungen der ethnographischen Literatur steht.97 In der Forschung wurde er aber meist unkommentiert stehen gelassen und teils offenbar für glaubwürdig gehalten, vermutlich weil der ehrbare spätere Bischof Synesios, dessen meiste Briefe in sachlichem Ton gehalten sind, diese Geschehnisse mit genauen chronologischen Angaben in Form eines Augenzeugenberichts daherkommen lässt und uns im Übrigen wissen lässt, er wolle diesen Brief in seine „Tagebücher“ eingliedern.98 Die bei der Hafenbucht wohnenden libyschen Frauen hätten nämlich ihren Geschlechtsgenossinnen auf dem Schiff in großen Mengen Mehl, Gerstenkuchen, Eier, Käse, Hammelfleisch, Hühner und sogar eine Trappe gebracht, und diese hätten all die Köstlichkeiten mit ihren männlichen Mitreisenden geteilt. Die weiblichen Reisenden hätten dafür allerdings eine sehr spezielle Gegenleistung erbringen müssen: Sie hätten sich von den Libyerinnen ihren Busen untersuchen lassen und ihn ihnen zeigen müssen. Die einheimischen Frauen selbst hätten anormal riesige Brüste, die sie nach hinten über die Schulter legen könnten und an denen ihre Kinder in dieser Position saugen würden.99 Sie glaubten den einheimischen Männern ‚mit Auslandserfahrung‘ 95 Ach. Tat. 5,16,8. Vgl. Wachsmuth 1967, 283–287 (mit ethnologischen Vergleichsbeispielen). Dieses Tabu findet sich auch in der Seefahrt des Mittelalters: Siehe die bei Janni 2003, 21 Anm. 65 genannte Literatur. 96 Höckmann 1985, 90. Rougé 1984, 228. 230. 97 Soler 2005, 326f. 98 Synes. epist. 5, 301–303 (Garzya/Roques 2, 18): ἐφημερίδες. Schmitt 2001, 33. Roques 2000, 106f. Anm. 89. Zur Datierung der Bischofsweihe des Synesios siehe oben, S. 46, Anm. 57. Zum Stil der Briefe: Roques 2000, LVI–LXX, bes. LXIII. 99 Zum ethnographischen Exkurs über den riesigen Busen sei Folgendes angemerkt: Libysche Frauen werden nirgends in der antiken Literatur entsprechend charakterisiert. Die nächste Parallele ist Iuv. 13,163 in Bezug auf Frauen aus Meroë im Reich von Kusch, deren Brüste größer seien als ihre Säuglinge; siehe Ficca 2009, 126f. ad loc. De Vries 1945 verweist auf ethnologisch-anthropologische Literatur aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs., die äußerst sexistisch und rassistisch ist und die, wenig überraschend, keine überzeugenden Parallelen bietet. De Vries’ ethnologischen ‚Belegen‘ wurde, vermutlich (man ist versucht zu sagen: hoffentlich) ohne die genannte Literatur zu überprüfen, wiederholt Glauben geschenkt, zum Beispiel von Long 1992, 356. Janni 2003, 78 ad. 226–229. Siehe aber Roques 2000, 105 Anm. 80. Während es nicht zielführend ist, in zweifelhaften Publikationen der ersten Jahrzehnte des 20. Jhs. nach Vergleichsbeispielen für besonders großbrüstige Afrikanerinnen zu suchen, sind frühneuzeitliche Berichte über Reisen nach Schwarzafrika von um 1600 bis ins 18. Jh. aufschlussreich. Schwarzafrikanerinnen, die ihre Kinder über die Schulter stillen, insbesondere ‚Hottentottenfrauen‘, das heißt zeitgenössische Beispiele von Randvölkern, waren dort ein beliebtes Motiv in Wort und Bild und gehörten „zu den ikonotypen Traditionen wie Dürers gepanzertes Rhinozeros“ (Mielke 1993, 48): Hirschberg 1962, Taf. 34 mit S. *10. Taf. 54 mit S. *14. Taf. 72 mit S. *16. Taf. 79 mit S. *17. Taf. 95 mit S. *21. Taf. 129 mit S. *31. Taf. 219 mit S. *55. Taf. 246 und 248 mit S. *60. Siehe auch die 1767 in Hamburg gehaltenen Rede des Gysbert Hemmys, der sich wie Synesios als Augenzeuge gibt: mulieres longis mammis praeditae sunt, quas trans humeros jactare et infantibus praebere possunt (Gysbert Hemmy,

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nicht, dass Frauen anderswo kleinere Brüste hätten. Diese Libyerinnen unternahmen demnach selbst keine Reisen und erst recht keine Seereisen, und es kann auch nicht besonders häufig vorgekommen sein, dass sie eine fremde Frau zu Gesicht bekamen, wenn man den Aufwand bedenkt, mit dem sie vorgingen. Dabei lag Azarion offenbar an einer vielbefahrenen Schiffsroute und sein Hafen bot genug Platz für mindestens neun Schiffe, darunter größere Zweimaster.100 Wenn jedenfalls eine fremde Frau zu ihnen käme, würden sie diese zuvorkommend behandeln und täten alles, bis sie sie untersuchen dürften. Sobald es einer dieser Frauen gelungen sei, einen andersartigen Busen zu sehen, wollten es die anderen auch und seien in großer Zahl gekommen. Die Sklavin aus Pontos sei unter den weiblichen Mitgliedern der Reisegesellschaft am erfolgreichsten gewesen und habe am meisten einnehmen können. Denn sie habe durch „Kunst und Natur“ (τέχνη καὶ φύσις) eine besonders schmale Taille, die noch die der Ameisen übertreffe. Die wohlhabenden einheimischen Frauen hätten sie vor drei Tagen (oder drei Tage in Folge?101 ), eine nach der anderen, zu sich nach Hause eingeladen, und die Sklavin sei sogar so unverfroren gewesen, sich auszuziehen. Da Synesios über allen Zweifel an seinem sittsamen Verhalten erhaben sein wollte, habe er selbst nichts von seinen weiblichen Mitreisenden angenommen, sondern weiterhin nur Fische und Meeresfrüchte gegessen, die ihm seine männlichen Reisegenossen schenkten, welche sie gefangen oder gesammelt hatten. Die anderen Männer trugen offensichtlich keine derartigen Bedenken, sondern ließen sich gerne die Leckereien der Frauen schmecken.102 Der kunstvolle Brief stellt eindrucksvoll die paideia und den Humor seines Autors unter Beweis: Er ist gespickt mit Zitaten aus Werken der ‚klassischen Literatur‘ der Antike (insbesondere aus Ilias und Odyssee, Sophokles und Aristophanes) und verweist häufig auf Gestalten der Mythologie. Er steht in der Tradition des Genres der Ekphrasis von Sturmbeschreibungen (die letztlich auf Hom. Od. 5,291–457 zurückgeht) und greift außerdem Motive des antiken Romans und der ethnographischen Literatur auf.103 All diese Einflüsse sind mit den realen

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Oratio Latina de Promontorio Bonae Spei, in Schola Hamburgensi D X Aprilis MDCCLXVII publice recita. Hamburgi, Litteris Dieterici Antonii Harmsen, 1767, 1–22, 8. „Sie besitzen lang herabhängende Brüste, die sie über die Schulter werfen und ihren Babies darbieten können“. Übersetzung Kytzler 2000, 327). Vgl. Mayor 1878, 276 ad Iuv. 13,163, jedoch ohne Quellenangabe. Wie die Abbildungen in den frühneuzeitlichen Reiseberichten zeigen, geht die Vorstellung der über die Schulter geworfenen Brust offensichtlich auf die für die Reisenden ungewohnte Sitte zurück, dass die nur mit einem Schurz bekleideten Afrikanerinnen ihre Säuglinge und Kleinkinder in einem Tuch auf dem Rücken trugen und sie in dieser Position stillten, indem sie entweder das Kind unter dem Arm nach vorne zur Brust zogen (siehe Hirschberg 1962, Taf. 45. Taf. 45 und 50 mit S. *13) oder die Kinder von hinten über ihre Schulter brachten und die Brust hochschoben (siehe die oben genannten Belege bei Hirschberg). Die zum Stillen nach hinten über die Schulter gebrachten Brüste sind darüber hinaus ein Wandermotiv der Randvölkerbeschreibung, das auch im arabischen Märchen in Bezug auf weibliche Ungeheuer zu finden und dort mindestens bis ins 9. Jh. n. Chr. zurückzuverfolgen ist: El-Shamy 1980, 55. 58. Bushnaq 1986, 68f. 92. Roques 2008, 115f. Siehe unten, S. 56 mit Anm. 110. LSJ 1537, s. v. προτρίτα: „for three days before“/„for three successive days“. „Vor drei Tagen“: Druon 1878, 446. Garzya 1989, 91. Roques 2000, 18 (irrtümlich: „vor zwei Tagen“). „Drei aufeinanderfolgende Tage“: Long 1992, 355. 366. „Die letzten drei Tage“: Meijer, 1985, 82. „Drei Tage im Voraus“: Vogt 1985, 43. Janni 2003, 63,242. Was Synesios bewog, keine Nahrungsmittel von den weiblichen Mitreisenden anzunehmen, bleibt unklar, siehe die unterschiedlichen Übersetzungen und Deutungen dieser Stelle bei Kraus 1865, 393f. Druon 1878, 445. Vogt 1985, 42. Roques 2000, 17. Janni 2003, 61, Z. 218–220. Soler 2005, 327. Soler 2005, 320–329. Zur literarischen Tradition der Sturmbeschreibungen: Börstinghaus 2010. Dunsch 2013. Roques 2000, 93f. Anm. 2.

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Reiseerlebnissen verwoben. Synesios wollte mit seinem in der ersten Person verfassten Brief gleichermaßen informieren und unterhalten und übertrieb um der komischen Darstellung willen, häufig mit wahrem Galgenhumor, aber eben auch sehr anzüglich.104 Bei dem ‚Busenexkurs‘ handelt es sich eindeutig um eine scherzhafte Variante des literarischen Motivs der verkehrten Welt bei Fremdvölkern: Hier sind es nicht die Griechen, sondern die Fremden, die ‚anthropologisch-ethnographische Studien‘ anstellen und am lebenden Objekt überprüfen, nämlich die indigenen Libyerinnen an den vom Sturm verschlagenen Griechinnen bzw. Römerinnen. Sowohl die Forschenden als auch die Untersuchten sind somit Frauen, was die Komik des Textes erhöht haben dürfte. Während Synesios seine Reisegenossinnen als verführerisch schön darstellt, charakterisiert er die Libyerinnen, wie es typisch für Fremdvölkerbeschreibungen ist, durch ihre nach hinten über die Schultern zu legenden riesigen Brüste als unattraktiv und monströs. Frauen wurde bekanntermaßen Leichtgläubigkeit unterstellt. Doch hier verlassen sich die Libyerinnen nicht auf ihr Wissen vom Hörensagen (das heißt, explizit erwähnt, auf Berichte einheimischer Männer, die anscheinend aus beruflichen Gründen herumkamen105 ). Sie wollen es vielmehr ganz genau wissen: Denn dass die fremden Frauen kleinere Brüste hatten als sie selbst, konnten sie ja auch in angezogenem Zustand gut erkennen. Und somit findet sich das Motiv der verkehrten Welt ausgerechnet noch in einer solch schlüpfrigen Variante mit übergroßen Brüsten, die zum Stillen über die Schulter gebracht werden, Busenuntersuchungen und dem wiederholten Striptease einer pontischen Sklavin.106 Wenn Synesios bereits ganz zu Anfang seines Briefes auf Priapos verweist, führt er diesen Tenor demnach gleich ein.107 Wie kann man diese Äußerungen einordnen? Der Exkurs zeigt besonders deutlich die methodischen Probleme auf, die sich beim Thema der zur See reisenden Frauen stellen. Auch wird die Problematik der scheinbar besonders glaubwürdigen Augenzeugenberichte in der antiken Literatur einmal mehr augenfällig, worauf am Schluss noch zurückzukommen sein wird.108 Das interpretatorische Problem des Briefs des Synesios liegt darin, dass er einen zwecks Erhöhung der Komik von Anfang an übertriebenen Bericht ins Phantastische abgleiten lässt, dabei aber im Rahmen des Möglichen bleibt, da er (wenn man von den über die Schultern zu legenden Brüsten absieht) keine unrealistischen Details wie Fabelwesen oder übernatürliche Geschehnisse vorbringt. Er kombiniert Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben oder zumindest in dieser Form hätten stattfinden können, und genaue chronologische Angaben einerseits mit einer Vielzahl literarischer Motive andererseits, mithin – in den Worten von Jacqueline Long – Realia und Folklore.109 Die Phantastik und der in weiten Teilen schlüpfrige Humor charakterisieren gerade auch seine Schilderung der reisenden Frauen. Ihre literarische Funktion innerhalb des Textes besteht nicht zuletzt darin, auf den ‚Busenexkurs‘ hinzuführen. 104 Casson 1994a, 128. Ein humorvoller Ton ist durchaus typisch für das Genre des autobiographischen Reiseberichts in der lateinischen Literatur (Lucil. 96–148. Hor. sat. 1,5. Janni 2003, 9), aber auch in der griechischen (Lukian. Am., siehe die bei Zwingmann 2017a, 80 Anm. 10 genannte Forschungsliteratur). 105 Marshall 2000, 15. 106 Soler 2005, 326f. Das Phänomen an sich wird bisweilen immerhin bemerkt und als ‚Jungherrenwitz‘ einordnet, das heißt als Hinweis auf eine Abfassungszeit des Briefes vor der Hochzeit des Synesios: Schmitt 2001, 451 mit Anm. 217. 107 Siehe oben, S. 52 mit Anm. 90. 108 Siehe unten, S. 58f. mit Anm. 124. 109 Long 1992, 352.

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Auch jenseits des ‚Frauenthemas‘ im engeren Sinne gibt es deutliche Indizien für eine freie literarische Gestaltung der tatsächlichen Geschehnisse und ihre parodistische Übertreibung. So geht Synesios nicht weiter auf die Versorgungsprobleme in Azarion ein, die sich gestellt haben dürften, wenn sich, wie er schildert, insgesamt mindestens neun Schiffe in den dortigen Hafen geflüchtet hatten110 – selbst wenn man zugutehält, dass Azarion offenbar in einer der Kornkammern des Römischen Reiches lag.111 Nimmt man hypothetisch an, alle Schiffe hätten im Schnitt ähnlich viele Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord gehabt wie dasjenige, auf dem Synesios reiste, und die anderen hätten ebenfalls während ihrer durch den Sturm bedingten unerwartet langen Fahrt112 ihre Nahrungsmittelvorräte aufgebraucht, hieße das Folgendes: An diesem kleinen Ort, der dem Verhalten der Libyerinnen nach zu urteilen selten von Fremden – und wohl nicht nur von fremden Frauen – frequentiert wurde, waren für einige Tage mindestens 450 Passagiere und 120 Seeleute gestrandet und mussten ernährt werden. Aus anderen Zusammenhängen wissen wir, dass es die Kapazitäten antiker Gemeinwesen überstieg, wenn unvermittelt eine große Menschenmenge mit Lebensmitteln zu versorgen war.113 Selbst in etwa 15 bis 20 Frauen über mehrere Tage mit solch hochwertigen Nahrungsmitteln in einer solchen Fülle zu verpflegen, dass sie davon noch an ihre über 30 männlichen Mitreisenden (und die 13 Besatzungsmitglieder ?) verteilen konnten und alle im Überfluss zu essen hatten, dürfte eine erhebliche wirtschaftliche Anstrengung für einen solch abgelegenen und kaum je besuchten Ort dargestellt haben. Und dennoch: Sicher wäre es falsch, den Informationen, die uns Synesios über die weiblichen Reisenden liefert, jedwede Glaubwürdigkeit abzusprechen und seinen Brief als rein fiktionale mimetische Schilderung einzuordnen. Die entscheidende und kaum zu beantwortende Frage ist, wo die Grenze zum Phantastischen verläuft. Die ausführliche Beschreibung der Menschen an Bord ist einzigartig, so dass Synesios hierfür jedenfalls nicht auf literarische Vorbilder zurückgreifen konnte. Sicher ist, dass die mitreisenden Frauen in seiner Reisebeschreibung wegen der humoristisch-erotisierenden Fremdvölkerbeschreibung über die großbusigen Libyerinnen nicht fehlen durften. Es ist dabei aber durchaus möglich, dass die die Reisenden und die Reisebedingungen betreffenden ‚harten Fakten‘ seines Berichts der Wirklichkeit hätten entsprechen können oder sogar entsprachen.

5. Übergreifende Beobachtungen zum Anteil von Frauen unter den Seereisenden, zu ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrer Bewertung im literarischen Diskurs In der antiken Überlieferung fallen weibliche Reisende – wie Frauen im Allgemeinen – in viel größerem Umfang als männliche Reisende – bzw. Männer im Allgemeinen – dem ‚kulturellen 110 Fünf Schiffe, zu denen noch „andere“ (ἄλλοι) Schiffe hinzustoßen, von denen wiederum „einige“ (ὧν ἔνιοι) vor dem Schiff, mit dem Synesios reiste, aus Alexandria losgefahren waren, das heißt mindestens weitere vier Schiffe, „eine richtige Flotte in einer kleinen Werft“ (ὁλόκληροως στολός ἐν νεωρίῳ μικρῷ): Synes. epist. 5, 227–235 (Garzya/Roques 2, 15f.). Vgl. Roques 2000, 104 Anm. 72 (der mit „plus de cinque cargos“ etwas zu tief greift). 111 Zur Lokalisierung siehe oben, S. 48, Anm. 62. 112 Siehe oben, S. 52f. 113 Verpflegungsprobleme andernorts: Lukian. Alex. 49. Plin. nat. 9,26. Plin. epist. 9,33,10.

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Vergessen‘ anheim. Es liegt, um einen Begriff von Aleida Assmann zu übernehmen, eine „strukturelle Amnesie“ vor.114 Dennoch berichten die antiken Autoren zwar nicht häufig, aber mit großer Selbstverständlichkeit über Frauen auf Schiffsreisen zur See. Dieser Typus von Reisenden stellte demnach nichts Ungewöhnliches dar. Auch wenn es meist nicht explizit erwähnt wird: Natürlich handelt es sich bei den zig oder sogar hunderten Passagieren, die uns für die antike Seefahrt bekannt sind,115 nicht ausschließlich um Männer. Die meines Wissens einzige Zahlenangabe stammt von Synesios, der, wie gesehen, ein Drittel Frauen unter den insgesamt über 50 Reisenden auf dem Schiff überliefert. Vergleichsweise gut belegt und zum Teil auch namentlich überliefert (wenn auch in der weit überwiegenden Zahl durch Inschriften) sind darüber hinaus Frauen, die die römischen Amtsträger und Kaiser auf Reisen begleiteten, wobei für die Seereisen Iuvenals Frauensatire und Senecas Zeugnis über seine Tante Helvia herangezogen werden können. Im mehrere Tausend Personen umfassenden Gefolge des Kaisers befanden sich außer seinen engsten weiblichen Angehörigen noch eine ganze Reihe weiterer Frauen, und dies konnte in kleinerem Maßstab offenbar auch für dasjenige der Statthalter und Oberbefehlshaber gelten, das mehrere zig bis um die hundert Personen umfasste:116 Hier sind zunächst die Ehefrauen der amici und comites sowohl des Kaisers als auch der Statthalter bzw. Oberbefehlshaber zu nennen. Dass Letztere ihre Ehefrauen an ihren Einsatzort mitnahmen, beleuchtet schlaglichtartig zum einen Tacitus in einer (allerdings fern jeden Meeres zu verortenden) Episode aus dem Germanienfeldzug des Germanicus, in der er die coniuges amicorum, allesamt feminae illustres, erwähnt, zum anderen ist auch inschriftlich ein Beispiel für Germanien bezeugt.117 Zu den genannten Typen reisender Frauen ist deren zum Teil recht umfangreiches weibliches Personal hinzuzuzählen (zuständig für die Körper-, Schönheits- und Kleidungspflege sowie für die Hilfe beim Ankleiden, eventuell 114 Assmann 1999, 61. Zu demselben Phänomen bei Sklavinnen siehe S. 57f. mit Anm. 118 und 120 sowie bei Sklaven S. 48, Anm. 66. 115 In den Manuskripten von Demosth. or. 34,10 (Contra Phormionem) wird die Anzahl der auf dem gesunkenen Schiff befindlichen Personen mit über τριακόσια (oder διακόσια) beziffert, das heißt 300, was in die Konjektur τριάκοντα – 30 – korrigiert wird (Dilts 2008, 130 ad loc.), obwohl Passagierzahlen in der Größenordnung von mehreren hundert Personen zumindest für die Kaiserzeit durchaus überliefert sind: Die Apostelgeschichte hebt nur Männer unter den 276 Menschen an Bord hervor: Paulus, seine (männlichen) Mitgefangenen, die sie bewachenden Soldaten samt Hauptmann sowie außerdem die Seemänner: Apg 27,1f. 15–21. 31. 37. Die Zahl 276 ist die häufigste in den Manuskripten, aber nicht die einzige: Aland et al. 1993, 513 ad v. 37. „Sechshundert Seelen“ auf dem Schiff, mit dem Josephos Schiffbruch erlitt: Jos. Vit. 15. Apollonios, seine Schüler und eine größere Anzahl weiterer Menschen, deren Geschlecht nicht angegeben ist, müssen ein größeres Schiff suchen, weil mehr Leute mit Apollonios reisen wollen, als das zunächst in Betracht gezogene Schiff fassen kann: Philostr. VA 4,13. 116 Zur Größe des kaiserlichen Gefolges: Halfmann 1986, 90–110, insbesondere 84. 102. 108–110. Vgl. Zwingmann 2012, 17 Anm. 15. Eine Liste der comites Augusti bis zum Ende des 3. Jhs. – ohne Ehefrauen – findet sich in der Appendix bei Halfmann 1986, 245–253. Zu weiblichen Mitgliedern der kaiserlichen Familie, die den Kaiser auf Reisen begleiteten: siehe oben, S. 39 mit Anm. 14. Zur Größe des Gefolges der Amtsträger: Eck 2013, 100–102. Eck listet nur die Ehefrau und die Kinder (das heißt auch die Töchter) mit auf, außerdem Diener (ohne das weibliche Personal der Ehefrauen explizit zu nennen), nicht aber die Ehefrauen der comites samt ihrem zumindest teils weiblichen Personal. Vgl. Bérenger 2014, 103–150 (die auf die Frauen im Gefolge nicht eingeht). Zu in der Provinz nachgewiesenen weiblichen Angehörigen männlicher Amtsträger siehe oben, S. 38–41 mit Anm. 8 sowie S. 43f. 117 Tac. ann. 1,40,4. 1,41,1. 1,43,3. Vgl. Barrett 2006, 142–144. Greene 2013, besonders 369–372. Cass. Dio 57,5,6f. schildert dieselbe Szene ohne coniuges amicorum. Für Germanien ist inschriftlich Attica belegt, die Ehefrau eines comes des Domitian: Raepsaet-Charlier 1982, 65, Nr. 127 (= dies. 1987, 692, Nr. 127).

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für die Verpflegung, Ammen mitreisender Kinder, etc.), wie es etwa in der Schifffahrtsepisode um Tryphaena seinen literarischen Niederschlag gefunden hat.118 Dieser Typus reisender Frauen, in der Regel wohl Sklavinnen, findet kaum Eingang in die Überlieferung und bleibt namenlos. Weiter sind hochrangige Gesellschafterinnen zu nennen, die sich zumindest im kaiserlichen Gefolge befanden, wie die Dichterin Iulia Balbilla, die in demjenigen des Hadrian oder wohl eher dem der Sabina nach Ägypten reiste, sicher in Begleitung einiger ihrer Sklavinnen und Sklaven, und die mehrere ihrer Werke auf dem Memnonkoloss einmeißeln ließ.119 Das heißt, wir sollten bedenken: Zu jeder Frau der Oberschicht, über die wir erfahren, dass sie zu Land wie zur See gereist ist (und über sie berichten die Texte eben am häufigsten), müssen wir weitere, teils gar nicht wenige Frauen ihres Personals bzw. Gefolges hinzudenken, nämlich Sklavinnen und gegebenenfalls gleichgestellte Freundinnen mit eigener Reisebegleitung, in der sich wiederum Frauen befanden. Da die Forschung die den Kaiser oder Amtsträger begleitenden Frauen nicht oder nur zum Teil einrechnet,120 war das Gefolge noch etwas größer als dort veranschlagt. Hinter jeder der Oberschichtsfrauen steht eine gewisse Anzahl an ‚unsichtbaren‘ weiblichen Reisenden (denen natürlich, wenn auch vermutlich proportional gesehen nicht ganz so viele ‚unsichtbare‘ männliche Reisende gegenüber stehen). Außer den Ehefrauen, die ihre Männer, (fast) ausschließlich Amtsträger oder Kaiser, auf deren Dienstreisen begleiteten, oder den römischen Matronen, die ihren Liebhabern aus demselben oder einem anderen Grund folgten, sowie den Dienerinnen im Gefolge ihrer Herrinnen, erscheint im literarischen Diskurs eine weitere Gruppe an Frauen: Sie reisten, nicht selten ohne dass wir wüssten warum, ohne ihre Ehemänner oder andere erwachsene männliche Angehörige zur See, aber mit ihren weiblichen und männlichen Bediensteten und gegebenenfalls ihren Kindern. Sie konnten alleine oder in einer Frauengruppe reisen.121 Schließlich wird noch ein Typus weiblicher Berufsreisender erwähnt, die Prostituierten.122 Was die Art und Weise betrifft, wie über die zur See reisenden Frauen berichtet wird, fallen vier Punkte auf: Erstens sticht die relative Häufung von Augenzeugenberichten ins Auge, die allesamt von Männern stammen. Während nämlich mit der frühchristlichen, für ein weibliches Publikum verfassten Peregrinatio ad loca sancta der Egeria zumindest ein umfangreicher Bericht einer Frau über ihre Landreise von Südgallien oder Gallizien ins Heilige Land und nach Ägypten erhalten ist, existieren für Seereisen nur fingierte Augenzeugenberichte von Frauen in Romanen.123 Drei Autoren – Seneca der Jüngere, Lukian und Synesios – geben sich als Augenzeugen aus, und 118 Personal für die Schönheitspflege: Petron. 110,1. Amme: Suet. Tib. 6. CLE 1845 = CIL XI 4991, vgl. Carucci 2017, 184. 119 Iulia Balbilla: Bernand/Bernand 1960, Nr. 28–31. Brennan 1998. Hemelrijk 1999, 119. 164–170. 120 Zu diesen häufig unbeachteten weiblichen Mitgliedern des Personals bzw. Gefolges: siehe oben, S. 45 mit Anm. 49f. sowie S. 57, Anm. 116. 121 Für Frauen überlieferte Reisegründe: siehe oben, S. 50 mit Anm. 76. Ohne Angabe der Reisegründe: zum Beispiel Lucian. Alex. 6. Novell. Iust. 22,7. Frauengruppe: siehe oben, S. 49 mit Anm. 74. 122 Siehe oben, S. 45 mit Anm. 46, S. 49f., Anm. 75 und S. 52, Anm. 91. Im Übrigen sind Frauen, die aus beruflichen Gründen reisten, schlecht bezeugt. Zu (auch zur See) reisenden Dichterinnen, Musikerinnen, Tänzerinnen und Akrobatinnen: Loman 2004b. 123 Zum Beispiel Rufin. Clement. 7,27,1–8 (GCS 7,22, p. 209f.). Weibliche Selbstzeugnisse über Reisen, wenn auch nicht über Seereisen, finden sich in auf Papyri erhaltenen Briefen: Bagnall/Cribiore 2006, 81–83. Vgl. auch Carucci 2017, 187.

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Augustinus ist zumindest sehr nah am Geschehen, wenn er berichtet, was seine Mutter ihm erzählt hat. Reisen betreffende Autopsieverweise sind nicht häufig und werden meiner Ansicht nach sehr bewusst zur Beglaubigung des Beschriebenen gesetzt, offenbar dann, wenn es dem Autor aus bestimmten Gründen nötig erschien. Wie die Schilderung des Synesios zeigt, sollte man im Übrigen anstatt von Autopsie eher von Autopsiebezeugungen sprechen, die den Zweck verfolgen, etwas glaubwürdig erscheinen zu lassen, ohne deswegen unbedingt in allen Details der Wahrheit zu entsprechen oder auch nur entsprechen zu wollen.124 Zweitens waren zur See reisende Frauen in der männlichen Wahrnehmung offenbar nicht normal und beflügelten die Phantasie – obwohl sie zumindest in der Kaiserzeit, sogar wenn sie alleine, das heißt ohne männliche Angehörige unterwegs waren, nichts Ungewöhnliches darstellten (ähnlich vielleicht dem in unserer Zeit zu beobachtenden Phänomen der negativen Bewertung Auto fahrender Frauen). Dieser Einschätzung liegt das normative Geschlechtsstereotyp zugrunde, das das Ideal der ehrbaren sesshaften Frau demjenigen des im Auftrag des Staates oder im Zusammenhang mit der Verwaltung seiner Landgüter reisenden Mannes gegenüberstellt. Reisen jeder Art – und worauf gleich nochmals zurückzukommen sein wird, die Seereise im Besonderen – kann folglich den Status als ehrwürdige Matrone gefährden.125 Damit hängt drittens zusammen, dass die Erwähnung gerade der (zur See) reisenden Frauen nach Ansicht der antiken Autoren klischeebedingt ein humoristisches Potential in sich geborgen zu haben scheint, was in geeigneten literarischen Gattungen zum Tragen kommen konnte. Es speiste sich zum einen aus der Komik geschlechtsunkonformen Verhaltens, wie im Fall der von Iuvenal beschriebenen Ehebrecherin, die bei den Matrosen mit anpackt. Zum anderen steht es im Zusammenhang mit dem Themenfeld Erotik und Sexualität, das wiederum häufig mit dem Themenfeld Meer und Schiff verknüpft ist,126 wie bei Petron, Iuvenal und Synesios zu sehen war. Viertens eignete sich die Seereise, und insbesondere die Seereise von Frauen, offensichtlich besonders zur kontrastierenden und moralisierenden Schilderung, und zwar im Spannungsfeld von lebensweltlichem Erfahrungshorizont und medialer Präsentation.127 Aufgrund der in mehrerlei Hinsicht extremen Rahmenbedingungen konnte die Seereise unabhängig von ihrem Verlauf als Extremsituation wahrgenommen oder zumindest dargestellt werden: bis zu mehrere Hundert Passagiere unterschiedlichsten Hintergrunds, unterwegs zu einem weiter entfernten Ziel, zusammengedrängt auf engem Raum für eine längere und dazu kaum berechenbare Zeitspanne, und zwar unter potentieller oder tatsächlicher Lebensgefahr. Es erstaunt wenig, dass wir über den unspektakulären Normalfall nichts erfahren. Dennoch fällt die starke (negative oder auch positive) Wertung der zur See reisenden Frauen auf. Nicht nur die Statthalterfrau wird gerade in Bezug auf Seereisen als exemplum malum oder exemplum bonum konstruiert, um eine gewissermaßen höhere Aussage zu veranschaulichen: In der Extremsituation der Lebensgefahr auf hoher See kommt der wahre Charakter zum Vorschein: Während Lukian seinen Intimfeind Peregrinos völlig versagen lässt, zeichnet Seneca seine Tante Helvia als exemplum bonum der 124 Vgl. Zwingmann 2012, 366–374. Zum auch hinsichtlich des Autopsieverweises stilbildenden Herodot: Bichler 2013. 125 Parker 2009, 95. 99. Foubert 2017, 477f., vgl. 481. 483. Die Männlichkeit kann beim Aufenthalt in fernen Gegenden durch Anpassung an dortige kulturelle Sitten bedroht sein: Foubert 2017, 484. 126 Siehe oben, S. 52, Anm. 90. 127 Vgl. auch die Einleitung zu diesem Band von Susanne Froehlich und Mario Baumann (siehe oben, S. 1–10).

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zu übermenschlichen Heldentaten befähigenden Gattenliebe und Augustinus seine Mutter als exemplum bonum der Gottesliebe. Lukian greift für seine Charakterisierung auf das Stilmittel zurück, Geschlechterstereotype zu vergleichen (um Peregrinos vor der Negativfolie angeblich typisch weiblichen Verhaltens zu diskreditieren), was indirekt auch für Augustinus gelten dürfte (um Monnica zu nobilitieren). Seneca verzichtet darauf und fokussiert seine Beschreibung ganz auf seine Protagonistin, vermutlich zum einen, weil sein Brief an eine Adressatin gerichtet ist, zum anderen vielleicht auch, weil er selbst, der die Situation miterlebt hatte, als ein möglicher männlicher Gegenspieler der Helvia in den Fokus geraten wäre. Schließlich wird, um auf ein exemplum malum zurückzukommen, in der humoristischen Wendung bei Iuvenal die Charakterschwäche des weiblichen Geschlechts augenfällig. Doch wie die vorhergehenden Beispiele zeigen, kann angeblich geschlechtsunkonformes Verhalten in bestimmten Zusammenhängen in der Deutung als Überwindung des eigenen, ‚schwachen‘ Geschlechts auch eine positive Wertung erfahren. Die Schilderung der zur See reisenden Frauen fügt sich demnach in die Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ein. Um auf den eingangs zitierten Grant Parker zurückzukommen:128 Roman travel is gendered.

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Reiseerfahrungen am Ende der Republik Das Beispiel Ciceros in seinen Briefen Yasmina Benferhat (Nancy) Einleitung Plutarch schrieb: „Cicero selbst kam glücklich nach Astura, bestieg ein Fahrzeug, welches er daselbst fand und fuhr mit günstigem Winde bis nach Circaeum. Als die Schiffer von da gleich wieder abfahren wollten, begab er sich ans Land, entweder weil er sich vor der Seereise fürchtete, oder weil er noch nicht alles Zutrauen zu Cäsar verloren hatte, und ging die hundert Stadien weit zu Fuße, als wenn er den Weg nach Rom nehmen wollte“.1 Diese Passage aus der Vita Ciceros ist besonders lesenswert wegen der Bemerkung über Ciceros Angst, mit einem Schiff zu reisen. Warum dachte denn Plutarch, dass Cicero Angst gehabt hätte? Weil es ein Topos war, dass die Römer Seereisen nicht gern hatten? Oder weil er seine Werke gelesen hatte, und darunter auch die Briefe, in denen man möglicherweise Furcht spüren kann? Gleichzeitig aber findet man oft Schiffsmetaphern, in den philosophischen Schriften – das ist bekannt2 – aber auch in den Briefen,3 besonders in den Jahren zwischen seinem Exil und dem Bürgerkrieg. Man kann an diesen Briefen sehen, wie gern Cicero das Verb gubernare benutzt,4 sei es für ihn oder für Pompeius. Die politische Lage ist genau wie ein Schiff: Alle sitzen in einem Boot. Manchmal kann es sein, dass die boni auf einem Schiff allein sind, und dieses Schiff mag sehr klein sein, manchmal nur ein skaphos. Auf jeden Fall könnte man denken, dass Cicero ein positives Bild der Seereise hatte. Aber es ist auch richtig, dass er immer versuchte, es zu vermeiden, weit von Rom zu sein: Seine Reisen,5 und besonders die Seereisen, scheinen fast immer eine Pflicht gewesen zu sein, ein Teil des Exils oder Prokonsulats – mit zwei Ausnahmen, zuerst im Jahr

1 Plutarch, Cicero 47.5: ὁ δὲ Κικέρων εἰς ῎Αστυρα κομισθεὶς καὶ πλοῖον εὑρών, εὐθὺς ἐνέβη καὶ παρέπλευσεν ἄχρι Κιρκαίου πνεύματι χρώμενος. ἐκεῖθεν δὲ βουλομένων εὐθὺς αἴρειν τῶν κυβερνητῶν, εἴτε δείσας τὴν ϑάλασσαν, εἴτ’ οὔπω παντάπασι τὴν Καίσαρος ἀπεγνωκὼς πίστιν, ἀπέβη καὶ παρῆλθε πεζῇ σταδίους ἑκατὸν ὡς εἰς ῾Ρώμην πορευόμενος (Übers. Güthling). Einen Hinweis auf diese Abneigung findet man schon

bei Seneca dem Älteren, der Livius gelesen hatte: Suasoriae 6.17. 2 Hönig 2000 und Deniaux 1993b, 65–83. 3 Vgl. Q. Fr. 1.1.5 (im Jahr 59: gubernatores); Att. 2.7.4 (im Jahr 59: iam pridem gubernare me taedebat); Att. 2.9.3 (im Jahr 59: male uehi malo alio gubernante quam tam ingratis uectoribus bene gubernare); Att. 4.18.2 (in 55: nobis gubernantibus); Fam. 1.9.21 (an Lentulus: in re publica gubernanda); Fam. 2.5.1 (an Curio, im Jahr 53: Tibi, etsi ubicumque es, ut scripsi ad te ante, in eadem es naui); Fam. 2.6.4 (an Curio, in 53 [?]: gubernator); Att. 7.3.5 (im Jahr 50: mihi skaphos unum erit quod a Pompeio gubernabitur); Fam. 12.25.1–5 (an Cornificius, im Jahr 44: una nauis est iam bonorum omnium, quam quidem nos damus operam ut rectam teneamus). 4 Deniaux 2008, 115–128. 5 Für eine Liste siehe Olshausen 1999, 252–259.

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79, als er nach Athen und Rhodos fuhr, um zu studieren, und viel später im Sommer 44, als er entschieden hatte, nach Griechenland zu fahren, um der politischen Krise zu entfliehen. Wie liegen also die Verhältnisse: Geht es um Furcht oder nicht? Ich möchte im folgenden untersuchen, was Cicero in seinen Briefen6 über Seereisen sagt: Welche Bedingungen thematisiert er, welche Vorteile und Nachteile spricht er an, welche Gefahren? Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen: Zuerst wird es um die Meteorologie gehen, dann um die Schiffe. Gleichzeitig werde ich die Frage stellen, inwiefern seine Bemerkungen von seinen Gefühlen beinflusst wurden: Was objektiv zu sein scheint, ist sehr oft auch subjektiv, indem Cicero an seine persönliche Lage denkt.

1. Cicero und die Meteorologie Es gibt verschiedene Hinweise auf Seereisen in Ciceros Briefen. Die materiellen Umstände werden alle beschrieben, mit einem besonderen Augenmerk auf der richtigen Zeit für die Schifffahrt. Eine Grundlinie war natürlich der Unterschied zwischen mare clausum im Winter und dem besseren Wetter im Frühling und Sommer. Das mare clausum bedeutete viel weniger Schiffe auf dem Meer, aber auch viel weniger Nachrichten.7 Auf jeden Fall gab es immer Leute, die im Winter reisten.8 Cicero beschreibt dies als besonders gefährlich, wie zum Beispiel in einem Brief an Munatius:9 pergratum mihi feceris, si ille intellexerit se, quod pro salute mea multa pericula adierit, saepe hieme summa nauigarit, pro tua erga me beneuolentia gratum etiam tibi fecisse.10

Der cliens Ciceros reiste im Winter für seine Geschäfte,11 multis cum periculis. Natürlich war dies gefährlich, aber es handelt sich auch um einen Empfehlungsbrief, und darum betont Cicero den Mut seines Klienten. Auf jeden Fall versteht man, warum Cicero seinem Bruder Quintus empfahl, vorsichtig zu sein:

6 Es gibt mehr als eintausend Briefe, aber die Hinweise findet man nur zu besonderen Zeitpunkten: es gibt nichts im Buch I oder Buch VII der Collection des Universités de France, fast nichts im Buch II (fünf Bemerkungen). Daher werde ich im wesentlichen auf die Bücher III, IV, V, VI und IX zurückgreifen, also auf die Briefe zwischen den Jahren 55 und 46, und später auf die Korrespondenz im Jahr 44 (die Ereignisse dieses Jahres, die man größtenteils im Buch X findet, werden im Beitrag von Hellwing in diesem Band untersucht [siehe unten, S. 81–95]). Vgl. Pittia 2002, 197–217. 7 Q. Fr. 2.4.7: tuas mirifice litteras exspecto: atque adhuc clausum mare fuisse scio, sed quosdam uenisse tamen Olbia dicebant. Vgl. Fam. 2.14 (Ende Februar 50, an Caelius): nam iam diu propter hiemis magnitudinem nihil noui ad nos adferebatur. Oder Fam. 3.9.4 (an Appius Pulcher, um den 20. Februar): difficultas nauigandi. 8 Saint-Denis 1947, 197–214: Er gibt Beispiele von Kriegsflotten und Händlern (200–205 für die Republik). 9 Deniaux 1993a, besonders 420–421 und 514–516 für eine prosopographische Notiz, aber auch 94 (über Munatius), 142 (über Trypho, einen libertus eines familiarissimus L. Livineius Regulus, der Senator war, vgl. 198). 10 Fam. 13.60.2 (an Munatius). 11 Das Ziel seiner Reisen wird diskutiert: Nach Ansicht von Deniaux 1993 erlaubt nichts zu behaupten, dass Trypho wegen Geschäften reiste (208); sie ist der Meinung, dass er „le principal intermédiaire entre Cicéron et ses amis au moment de son exil à Thessalonique“ (167) gewesen sei.

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fac, si me amas, ut considerate diligenterque nauies de mense Decembri.12

Cicero wollte auch nicht, dass Tiro13 im Winter reiste: festinare te nolo, ne nauseae molestiam suscipias aeger et periculose hieme nauiges.14 Sicher zeigt diese Sorge, die nicht allen galt, wer Cicero wirklich wichtig war, also Tiro, Quintus und auch Atticus: o nauigationem amandam! quam me hercule ego ualde timebam recordans superioris tuae transmissionis derreis.15

derreis ist griechisch: Atticus soll sich mit Pelzdecken beschützt haben, weil das Wetter Anfang Dezember schrecklich war. Besonders wichtig war das Äquinoktium, oder Tagundnachtgleiche: Zu dieser Zeit gibt es immer sehr starke Winde und sehr große Wellen. Deshalb musste man in der Antike warten, bevor man reiste.16 Cicero beklagte sich deswegen im Jahr 49: nunc quidem aequinoctium nos moratur quod ualde perturbatum erat.17

Dieser Satz ist bemerkenswert: Normalerweise ist das Äquinoktium Mitte März, aber dieser Brief wurde später geschrieben. Das kann man gut damit erklären, dass es vor der Reform Cäsars einen Unterschied zwischen dem römischen Kalender und dem astronomischen Jahr gab:18 Im Jahr 49 zum Beispiel war das theoretische Ende des mare clausum am 11. Februar, was eigentlich dem 2. April entsprach. Aber es kam in diesem Jahr noch später, wenn man mit der Interpretation von J. Beaujeu19 einverstanden ist. Stricto sensu dauerte das mare clausum ungefähr vier bis fünf Monate, vom 11. November bis zum 10. März, aber wie Jean Rougé in seinem Buch La navigation antique20 zeigt, gab es auch eine kürzere Frist für Seereisen, zwischen Mitte Mai, nach den Frühlingswinden, und Mitte September, vor dem Äquinoktiumswind. Es war wegen der Alternanz von Zeiten ohne Wind

12 Q. Fr. 2.1.3 (am 10. Dezember 57). Sternkopf 1904, 383–418 interpretiert den Brief so, dass Cicero seinem Bruder empfahl, früher zu reisen. Quintus musste als legatus Pompei nach Sardinien fahren. 13 Das schrieb auch Quintus dem Tiro im Januar 49: ac tamen, quamquam uidere te tota cogitatione cupio, tamen te penitus rogo, ne te tam longae nauigationi et uiae per hiemem nisi bene firmum committas neue nauiges nisi explorate. vix in ipsis tectis et oppidis frigus infirma ualetudine uitatur, nedum in mari et uia sit facile abesse ab iniuria temporis (Fam. 16.8.1). 14 Fam. 16.11.1. 15 Att. 4.19.1 (Anfang Dezember 54). 16 Att. 12.28.3 (am 24. März 45): Publilius, si aequinoctium exspectat, ut scribis Aledium dicere, nauigaturus uidetur. 17 Att. 10.17.1. Die Datierung dieses Briefs (16. Mai) hat M. Rambaud kritisiert, 1954, 164–193, besonders 173–175. Rambaud ist der Meinung, dass der Brief im April geschrieben wurde. 18 Brind’Amour 1983, 27–122 über die Reform und die letzten Jahre des alten Systems (besonders 27–35 über die Jahre 49–46) und Rüpke 2011, Kapitel 8. 19 Beaujeu 1993, 112. Vgl. Brind’Amour 1983, 35–36, der auch der Meinung ist, dass dieser Brief im Mai geschrieben wurde. 20 Rougé 1975, 23 (mare apertum zwischen dem 27. Mai und dem 14. September für die Reisenden, die Angst hatten) und Arnaud 2005, 16. Vgl. auch Rougé 1952, 316–325.

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und Zeiten mit sehr starken Winden schwierig, im Winter auf dem Meer zu reisen. Also, kurz gefasst: est enim hiberna nauigatio odiosa.21 War es aber besser, im Sommer auf einem Schiff zu reisen? Normalerweise konnte man sich tempestas erhoffen22 und commode nauigare.23 Aber es klingt nicht immer, als sei es so, und Cicero seufzte, als er Mitte Juli 51 nach Kilikien fahren musste:24 negotium magnum est nauigare atque id mense Quintili.25

Es gab nämlich manchmal heftige Winde, wie die weiteren Ausführungen dieses Briefs über die Seereise Ciceros nach Kilikien zeigen: sexto die Delum Athenis uenimus. pr. Nonas Quintilis a Piraeo ad Zostera uento molesto, qui nos ibidem Nonis tenuit. ante uiii Idus ad Ceo iucunde; inde Gyarum saeuo uento non aduerso [. . .] 26

Am schlimmsten waren die etesiae im Sommer: Diese Winde27 im nördlichen und östlichen Mittelmeer zwischen Griechenland und Asia Minor,28 heute meltem(i) genannt,29 waren im Juli bis August30 sehr stark. Die etesiae, die von West nach Ost wehen, waren ein echtes Problem für diejenigen, die aus Ägypten oder Syrien nach Italien fahren wollten. Das sieht man, wenn Cicero seine Seereise im Juli von Kilikien zurück nach Italien beschreibt: Rhodum uolo puerorum causa, inde quam primum Athenas, etsi etesiae ualde reflant [. . .] 31

In einem Brief an den Consul Marcellus Ende Juli 50 erklärte er, dass er genau dann reisen musste, als die etesiae da waren: ego, si me nauigatio non morabitur, quae incurrebat in ipsas etesias, propediem te, ut spero, uidebo.32

Am 1. Oktober 50 war Cicero wegen der Winde leider noch in Asien, in Ephesos: nos etesiae uehementissime tardarunt [. . .].33 Mitte Oktober konnte er endlich Griechenland erreichen, obwohl der Wind immer noch ungünstig war: 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Att. 15.25. Fam. 14.4.5, am 29. April 58. Cf. Fam. 16.1.2: tempestates. Att. 4.16.1, um den ersten Juli. Zu dieser Reise siehe Hunter 1913, 73–97 und Deniaux 2001, 94–95. Att. 5.12.1, Mitte Juli 51. Att. 5.12.1. Rehm 1907 (s. u. Etesiai). Vgl. auch Schmidt 1958, Sp. 2212–2214 sowie Gärtner 1967. Arnaud 2005, 24–25 und Gelsdorf 1994, Bd. 2, 751–758 (der Autor greift sehr stark auf L. Casson und J. Rougé zurück). Die Einzelheiten findet man am besten auf Webseiten über Seefahrt, vgl. http://www.plaisance-pratique.com/ le-meltem, oder über Meteorologie, vgl. http://www.poseidon.hcmr.gr/weather_forecast.php. Dieser Wind weht ungefähr vierzig Tage lang im Sommer, in den Kykladen. Rougé 1975, 24: vom 10. Juli bis zum 25. August. Das Adjektiv etesia kommt vom griechischen Wort etos (d. h. Jahr): es sind also Winde, die jedes Jahr zurückkommen. Att. 6.7.2 (Mitte/Ende Juli 50). Fam. 15.11.2. Cicero schreibt dasselbe an Caelius, vgl. Fam. 2.15.5 (Anfang August 50): ego, nisi quid me Etesiae morabuntur, celeriter, ut spero, uos uidebo. Att. 6.9.4.

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pr. Idus Oct. Athenas uenimus, cum sane aduersis uentis usi essemus tardeque et incommode nauigassemus.34

Diese Wichtigkeit der Winde35 erklärt, warum eine Seereise auch im Sommer gefährlich sein konnte. Man darf aber annehmen, dass Cicero dann nur an Rom dachte: deshalb ging es nie schnell genug. Es ist etwas anders, wenn Cicero sich Sorgen um Quintus macht, der aus Asien zurückfuhr, als er selbst ins Exil fliehen musste: sed et nauigatio perdifficilis fuit et ille incertus ubi ego essem fortasse alium cursum petiuit. nam Phaetho libertus eum non uidit. vento reiectus ab Ilio in Macedoniam Pellae mihi praesto fuit.36

Cicero fürchtete das Schlimmste für seinen Bruder: Wenn er auf See gestorben wäre . . . Die objektive Bemerkung über den Wind und die Seereise entspricht hier eigentlich seiner Verzweiflung über die Verbannung: reliqua quam mihi timenda sint uideo nec quid scribam habeo et omnia timeo, nec tam miserum est quicquam quod non in nostram fortunam cadere uideatur.37

Die Negationen nec [. . .] nec und quod non zeigen diese Verbindung zwischen einer schlimmen persönlichen Lage und der Angst vor der Seereise. Außerdem bestand immer die Möglichkeit eines Schiffbruches.38 So ist es keine Überraschung, dass er sich Sorgen um Atticus machte, der im Juli reiste.39 Der Wind konnte manchmal im Winter besser sein als im Sommer: Leucadem uenimus a. d. viii Id. Nou., a. d. vii Actium; ibi propter tempestatem a. d. vi Id. morati sumus. inde a. d. v Id. Corcyram bellissime nauigauimus. Corcyrae fuimus usque ad a. d. xvi K. Dec. tempestatibus retenti. a. d. xv K. in portum Corcyraeorum ad Cassiopen stadia cxx processimus; ibi retenti uentis sumus usque ad a. d. viiii K. – interea, qui cupide profecti sunt, multi naufragia fecerunt –. nos eo die cenati soluimus; inde austro lenissimo, caelo sereno nocte illa et die postero in Italiam ad Hydruntem ludibundi peruenimus, eodemque uento postridie – id erat a. d. vii K. Dec. – hora iiii Brundisium uenimus.40

Der Auster war also hilfreich für Cicero, der Italien endlich erreichen durfte. Dieser Wind hieß auch manchmal Notos: Es war ein Südwind, heiß und nass, der am Ende des Sommers wehte. Ein anderer guter Wind war der Onchesmites: Brundisium uenimus vii Kalend. Decembr. usi tua felicitate nauigandi; ita belle nobis flauit ab Epiro lenissimus Onchesmites.41 34 Fam. 14.5.1, am 16. Oktober 50. 35 Soubiran 2003, 55–57 und Fleury 1991, 61–88. Man findet weitere Erklärungen über jeden wichtigen Wind in der Antike in der RE (Böker 1958) und im Kleinen Pauly, wie zum Beispiel für den Nordwind Boreas Böker 1964. Vgl. auch Medas 2004, 48–60. 36 Att. 3.8.2, am 29. Mai 58. 37 Ibidem. 38 Zur Wahrscheinlichkeit des Schiffbruches vgl. den Beitrag von Kirstein/Ritz/Cubasch in diesem Band (siehe oben, S. 15–34). 39 Att. 4.16.1. 40 Fam. 16.9.1. 41 Att. 7.2.1 (25.–26. November 50). Siehe Biville 2000, 91–94.

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Das ist keine poetische Lizenz, auch wenn Cicero einen hier spondäischen Vers schafft: Dieser Wind hieß so wegen des Hafen Onchismos,42 der an der Küste gegenüber Italien zu Buthrotum (dem heutigen Butrint) hin lag: Mit diesem Wind konnte man Italien erreichen, und damit die Distanz zwischen dem Hafen und Brundisium als einfach erleben. Sei es Winter oder Sommer, eine Seereise war fast nie angenehm, wenn man Cicero zuhört:43 timor et nausea, so etwas durfte man erwarten.44 Atticus wurde nauseans, als er im Februar 50 nach Buthrotum fuhr,45 obwohl er eine gute Reise hatte: te in Epirum saluum uenisse et, ut scribis, ex sententia nauigasse uehementer gaudeo [. . .] 46

Wie oben bereits erwähnt, empfahl Cicero dem Tiro, ruhig zu bleiben, damit er nicht seekrank werde: festinare te nolo, ne nauseae molestiam suscipias aeger [. . .] 47 Wenn Cicero eine gute Reise beschreiben wollte, dann schrieb er: nauigauimus sine timore et sine nausea.48 Die Präposition sine, zweimal benutzt und dadurch betont, zeigt gut, was man nach Ciceros Darstellung normalerweise erlebte. Gab es einen Unterschied zwischen den Meeren, insbesondere zwischen dem Ozean und dem Mittelmeer? Diese Frage mag künstlich klingen, wenn man bedenkt, dass Cicero den Ozean nie gesehen hat: das einzige Meer war also für ihn das Mare Nostrum. Aber der Ozean ist präsent in den Briefen, wenn Quintus in Gallien mit Caesar kämpft: timebam Oceanum, timebam litus insulae: reliqua non equidem contemno, sed plus habent tamen spei quam timoris, magisque sum sollicitus exspectatione ea quam metu.49

Dieser Satz ist voll von Redewendungen, die Furcht bezeichnen; die Anapher am Anfang, das Wort metus am Ende . . . Man kann also spüren, wie sehr Cicero Angst hatte. War es so, weil der Ozean schon berüchtigt dafür war, schwieriger als das Mittelmeer zu sein? Cicero kannte die Stärke des Ozeans,50 aber es scheint, als ob die Römer glaubten, dass der Ozean nicht überall besonders stark war.51 Es ist das einzige Mal, dass Cicero vom Ozean redet; sonst geht es immer um das Mittelmeer, aber mit einem Unterschied zwischen mare Superum – oder Adriaticum – und mare Tyrrhenum. Als Cicero im Jahr 49 endlich Pompeius folgen wollte, musste er sich entscheiden, wo er abfahren wollte: omnia mihi prouisa sunt praeter occultum et tutum iter ad mare Superum. hoc enim mari uti non possumus hoc tempore anni.52 42 Cabanes 2001, 121–135 (Karte siehe 123). 43 Att. 5.13.1: nauigauimus sine timore et sine nausea. 44 Siehe Rolfe 1904, 192–200 (194–195 über Cicero, nach Horaz, Catull und Seneca). Plinius hatte ein Rezept gegen Seekrankheit, vgl. André/Baslez 1993, 493–494 und Kirstein/Ritz/Cubasch in diesem Band (siehe oben, S. 31–34). 45 Att. 5.21.3 (am 13. Februar 50). 46 Ibidem, 1. 47 Fam. 16.11.1. Vgl. Fam. 16.12.6: caue festines aut committas, ut aut aeger aut hieme nauiges [. . .]. 48 Att. 5.13.1 49 Q. Fr. 2.15.4. 50 Vgl. Div. 2.34 und Nat. Deor. 3.24. 51 Malissard 2014, 1–11. Es mag sein, dass Cicero hier als Leser auf Quintus’ litterae reagiert, nachdem er die wirkungsvolle literarische Darstellung des Ozeans und der anderen Dinge durch Quintus genossen hat. 52 Att. 8.16.1 (am 4. März 49).

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hoc mare bedeutet das mare Tyrrhenum: Cicero war damals nämlich in der Nähe von Capua. Die Frage lautet: Warum keine Seereise auf dem mare Tyrrhenum? Die Meteorologie erlaubte es nicht, so behauptet Cicero. War der Weg gefährlicher, weil das Meer auf dieser Seite Italiens stärker war, oder weil es von dort aus länger dauerte, nach Griechenland zu reisen?53 Wahrscheinlich ist es ein Distanzproblem. Man musste nämlich, um den kürzesten Weg zu nehmen, zwischen Messina und Italien fahren, aber das bedeutete genau, Charybdis und Scylla zu treffen; wollte man dagegen Messina vermeiden, dann musste man noch länger fahren.

2. Cicero und die Schiffe War es möglich, dank der Technik, wenn nicht alle Probleme, so doch zumindest einen Teil davon zu vergessen? Aus Ciceros Briefen erfährt man fast nichts über die Seeleute, denen er nicht vertraute, weil sie allein entschieden, wann man weiterfahren sollte: quas ego exspectassem Brundisii, si esset licitum per nautas, qui tempestatem praetermittere noluerunt.54

Natürlich könnte man denken, dass die Seeleute besser als die anderen wussten, wann es am besten war zu reisen, aber Cicero war eher der Meinung, dass sie nur an Geld dachten:55 solent nautae festinare quaestus sui causa.56 Sogar den Reedern war nicht zu vertrauen: Cicero empfahl Tiro, mit einem honestus homo zu reisen, cuius auctoritate nauicularius moueatur.57 Trotzdem stellt man fest, dass manchmal offenbar sogar die auctoritas eines Cicero keine Wirkung erzielen konnte. Technische Einzelheiten findet man öfter in der Korrespondenz über die verschiedenen Schiffe. So beschreibt Cicero beispielsweise, während er auf seiner Reise nach Kilikien noch in Athen weilt, dem Atticus seine Flotte: ego has pr. Nonas Quintilis proficiscens Athenis dedi, cum ibi decem ipsos fuissem dies. venerat Pomptinus, una Cn. Volusius; aderat quaestor; tuus unus Tullius aberat. aphracta Rhodiorum et dicrota Mytilenaeorum habebam et aliquid epikopon.58

Die Bezeichnung aphracta wurde für verschiedene Typen von kleinen Schiffen benutzt, wie Lionel Casson gezeigt hat:59 Es konnten Triremen sein, oder triemiola, die sehr ähnlich waren. Aber es konnten auch leichtere Schiffe sein, wie hemiola (mit zwei Ruderreihen) oder lemboi und dikrotoi. Wenn Cicero einen Unterschied macht, muss man dies wahrscheinlich so verstehen, dass seine aphracta Schiffe mit drei Remenreihen waren. Auf jeden Fall waren diese Schiffe aperta, dachlos. Cicero beklagte sich gern über die aphracta von Rhodos:60 53 Vgl. den Beitrag von Hellwing in diesem Band (siehe unten, S. 81–95). 54 Fam. 14.4.5 (am 29. April 58). 55 Casson 1991, 192–193 und Casson 1994, 152–158: Die Priorität wurde den Waren gegeben, nicht den seltenen Passagieren, die als priuati manchmal bezahlten, um auf diesen Handelsschiffen zu reisen. 56 Fam. 16.9.4 (am 26. November 50). 57 Ibidem. 58 Att. 5.11.4 (am 6. Juli 51). Vgl. Kolb 2000, 29 zu den Seereisen von Amtsträgern. 59 Siehe Casson 1971, 134–135. 60 Zur Seetradition in Rhodos siehe Casson 1991, 138–142 (und 164–166 zu Rhodos und Handel): Dieser Inselstaat hatte seit dem Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr. eine sehr wichtige Flotte. Am Ende der Republik war es also üblich, dass die Insel den römischen Magistraten ihre Schiffe zur Verfügung stellte.

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Yasmina Benferhat pr. Nonas Quintilis a Piraeo ad Zostera uento molesto, qui nos ibidem Nonis tenuit. ante viii Idus ad Ceo iucunde; inde Gyarum saeuo uento non aduerso; hinc Syrum, inde Delum, utroque citius quam uellemus, cursum confecimus. nam nosti aphracta Rhodiorum; nihil quod minus fluctum ferre possit. itaque erat in animo nihil festinare nec me Delo mouere nisi omnia akra Gureon pura uidissem.61

Kurz danach kritisierte er nochmals die aphractorum Rhodiorum imbecillitatem.62 Cicero hielt diese Schiffe für zu leicht: Sie konnten die Wellen nicht so gut ertragen. Es ist richtig, dass er zwei Wochen mit diesen Schiffen brauchte, um von Athen nach Ephesus zu reisen,63 während er höchstens vier Tagen mit einem Handelsschiff gebraucht hätte. Dies erklärt, warum man ein Jahr später, als er sein Prokonsulat in Kilikien beendet hatte, wieder von den aphracta hört: nos etesiae uehementissime tardarunt; detraxit xx ipsos dies etiam aphractus Rhodiorum. Kal. Octobr. Epheso conscendentes hanc epistulam dedimus L. Tarquitio simul e portu egredienti sed expeditius nauiganti. nos Rhodiorum aphractis ceterisque longis nauibus tranquillitates aucupaturi eramus; ita tamen properabamus ut non posset magis.64

Es gab Schiffe, die viel schneller als die aphracta waren und mit denen man sich um die Windstärke nicht besonders zu sorgen brauchte: Es waren die corbitae, Handelsschiffe.65 Die Handelsschiffe fuhren zwar viel schneller als die longae naues der offiziellen Seereisen, waren aber nicht zu empfehlen, was das decorum anging. Man sollte auch berücksichtigen, dass Cicero nicht freiwillig nach Kilikien fuhr und dass er es eilig hatte, nach Rom zurückzufahren: In einer solchen Situation fand er seine Schiffe nie gut genug, während die Perspektive eine ganz andere war, als er im Sommer 44 mit Brutus reisen wollte: paratiorem enim offendi Brutum quam audiebam. nam et ipse 〈et 〉 Domitius bona plane habet dicrota suntque nauigia praeterea luculenta Sesti, Buciliani, ceterorum.66

Plötzlich waren die dicrota wunderbare Schiffe . . . Zwar hatte Cicero zuerst geglaubt, dass Brutus nur kleine Schiffe hatte: minuta nauigia.67 Es war also eine angenehme Überraschung, und die Adjektive bona und luculenta zeigen seine Zufriedenheit. In dem einem Fall fühlte sich Cicero wie ein Gefangener des Protokolls, als er als Prokonsul Schiffe, die seiner dignitas entsprachen, benutzen musste; in dem anderen Fall hatte das Protokoll etwas Gutes, weil er endlich sichere Schiffe benutzen konnte, seitdem Brutus praetor war. Eine andere wichtige Gelegenheit, mehr über die Schiffe zu erfahren, ist mit Ciceros Entscheidung im Jahr 49, Pompeius nach Griechenland zu folgen, verbunden. Er brauchte nämlich ein Schiff. Eine parata nauis hatte er, als ihm von Pompeius befohlen wurde, Kampanien zu beschützen: 61 62 63 64 65

Att. 5.12.1. Att. 5.13.1 Casson 1994, 151. Att. 6.8.4. Siehe Casson 1971, 134f. Anm. 129: longae naues sind Kriegsschiffe. Höckmann 1985, 62–64 und Viereck 1996, 149 (Zeichnung von oneraria) und 152 (corbita). Vgl. auch Rougé 1953, 294–300 zu diesem Unterschied. 66 Att. 16.4.4 (am 10. Juli 44). 67 Att. 16.1.1 (am 8. Juli 44). Das Problem war, dass Brutus langsam reisen wollte, vgl. Att. 16.4.4: illud est mihi submolestum quod parum Brutus properare uidetur. primum confectorum ludorum nuntios exspectat; deinde, quantum

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nos adhuc in ea ora ubi praepositi sumus ita fuimus ut nauem paratam haberemus.68

Es handelte sich wahrscheinlich um ein Kriegsschiff. Aber später hat Cicero Schwierigkeiten, ein Schiff zu finden, wahrscheinlich, weil seine Reise diskret sein sollte, da Caesar und sein Unterstützer Antonius klar gemacht hatten, dass sie von ihm erwarteten, dass er in Italien blieb. In dieser Situation benutzt er fünf Wörter: luntriculum, nauis, nauigium, actuariola, oneraria. Der Kontext spielte also eine große Rolle,69 sei es die Geisteshaltung Ciceros oder die Lage. Es gibt ja Übertreibungen, wie zum Beispiel diese: ego uero uel luntriculo, si nauis non erit, eripiam me ex istorum parricidio.70

Ein luntriculum ist eine Verzweiflungsidee: Es ist nämlich ein sehr kleines Schiff, und der Diminutiv macht es noch kleiner. luntres oder lintres waren Schiffe, die man auf einem Fluss benutzte, aber man konnte sie auch im Hafen finden, solange das Wasser nicht tief war.71 Aber gleichzeitig spielt Cicero mit den Wörtern luntriculo [. . .] parricidio: Dieses Echo lässt seine Verärgerung hören. Einen Tag später schrieb er: nos iam nihil nisi occulte. de pueris quid agam? paruone nauigio committam? quid mihi animi in nauigando censes fore? recordor enim aestate cum illo Rhodiorum aphraktoi nauigans quam fuerim sollicitus; quid duro tempore anni actuariola fore censes?72

actuariola ist ein Diminutiv von actuaria:73 Es handelte sich dabei um ein Boot mit Ruder und Segel, das man für kleine Reisen benutzte. Und nauigium entspricht nauis, aber das Adjektiv paruus lässt erahnen, dass es nur eine Lösung wäre, wenn gute Alternativen fehlten. Man kann also Ciceros Verzeiflung nochmals spüren. Einen weiteren Tag später hatte er eine andere Idee: paraklepteon igitur et occulte in aliquam onerariam corrependum [. . .] 74

Eine oneraria war ein Handelsschiff:75 Darauf wurden Waren, aber auch Leute transportiert, wie oben bereits beschrieben . . . Es entsprach nicht der dignitas Ciceros, aber es wäre eine Lösung gewesen, seitdem er sich verstecken musste. Dieses Schiff hatte kein Ruder, sondern nur Segel. Einmal glaubte er auch, eine Lösung dank Hortensius, dem Sohn des Politikers, zu finden: quin etiam naui eius me et ipso conuectore usurum puto.76

Am 7. Juni war er endlich auf einem Schiff. Dies geschah natürlich nicht mit der Hilfe von Hortensius:

68 69 70 71 72 73 74 75 76

intellego, tarde est nauigaturus consistens in locis pluribus. tamen arbitror esse commodius tarde nauigare quam omnino non nauigare; et si, cum processerimus, exploratiora uidebuntur, etesiis utemur. Att. 8.11 B.1 (am 15. Februar 49). Rambaud 1976, 176–178 über die Tätigkeit der Offiziere von Caesar, um Cicero zu überwachen. Hortensius war dann in Kampanien, um die Küste zu verteidigen. Rambaud ist der Meinung, dass Hortensius dem Cicero ein Schiff vorschlug, um ihn besser zu überwachen, ihm aber letztendlich nichts zur Verfügung stellte. Att. 10.10.5 (am 3. Mai 49). Siehe Casson 1971, 333. Att. 10.12.4 (am 4. Mai 49). Höckmann 1985, 70. Att. 10.13.2 (am 5. Mai 49). Casson 1971, 169–175. Att. 10.17.1.

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Yasmina Benferhat nauem spero nos ualde bonam habere. in eam simul atque conscendi, haec scripsi.77

Wie L. Casson einleuchtend erklärt hat, hatte Cicero die Wahl zwischen zwei Typen von Seereisen und demnach zwei Typen von Schiffen: Eine erste Möglichkeit bestand darin, von Messina (oder Syracusa) direkt nach Patras mit einer oneraria (die corbita war ein Typ von oneraria) zu fahren. Der junge Curio, der damals Sizilien kontrollierte, hatte Cicero vorgeschlagen, eine Etappe auf der Insel einzuplanen, wobei dies wahrscheinlich eine List war, um zu erfahren, was der consularis tun wollte. Die zweite Lösung bestand darin, kleine Etappen mit einer actuaria zu machen.78 Der dritte für unsere Thematik interessante Zeitpunkt, nach der Reise nach Kilikien im Jahr 51 und dem Anfang des Bürgerkrieges im Jahr 49, ist der schöne Mai 44, mit den kleinen Seereisen entlang der italienischen Küste, die Cicero unternahm, um Freunde zu besuchen.79 Dabei scheint er überhaupt keine Angst zu haben, sondern vielmehr eine große Freude zu empfinden: v Nonas conscendens ab hortis Cluuianis in phaselum epicopum has dedi litteras, cum Piliae nostrae uillam ad Lucrinum, uilicos, procuratores tradidissem. ipse autem eo die in Paeti nostri tyrotarichum imminebam; perpaucis diebus in Pompeianum, post in haec Puteolana et Cumana regna renauigare. o loca ceteroqui ualde expetenda, interpellantium autem multitudine paene fugienda!80

Cicero war in Puteoli und wollte Papirius Paetus81 besuchen, der in der Nähe von Neapel wohnte. Danach machte er eine kleine Runde bis zu seinem eigenen Haus in Pompeii, bevor er nach Puteoli und Cumae fuhr. Dazu brauchte er kein großes Schiff: Ein phaselos erlaubte, Leute zu transportieren, meistens mit Segeln, aber auch mit Rudern.82 Die Reise war kurz: Am 2. Mai verließ er nämlich Cumae und besuchte L. Caesar83 in Neapel, aber wahrscheinlich auch Papirius Paetus in der Nähe; danach, am 3. Mai, war Cicero für eine Woche in seiner Villa in Pompeii.84 Am 10. Mai fuhr er nach Puteoli zurück: e Pompeiano naui aduectus sum in Luculli nostri hospitium vi Idus hora fere tertia. egressus autem e naui accepi tuas litteras quas tuus tabellarius in Cumanum attulisse dicebatur Nonis Maus datas. e Lucullo postridie eadem fere hora ueni in Puteolanum.85

77 Fam. 14.7.2 (am 7. Juni 49). 78 Diese Wahl hatte er wieder im Jahr 44, als er erneut nach Griechenland fahren wollte. Das hatte er schon im April 44 im Sinn (Att. 16.13.4: dann hatte er die Idee einer legatio), und am Anfang Mai (Att. 14.18.4: itaque de Graecia cotidie magis et magis cogito). Er dachte zuerst daran, auf dem Adriatischen Meer zu reisen (Att. 15.21.3), mit einer Etappe in Brundisium oder Hydronte, das heißt fünf Stunden bis Griechenland. 79 Über die Villen und das soziale Leben dort D’Arms 1970, 43–55 und Lafon 2001, 86–95 (mit Karten). Siehe auch Olshausen 2014, besonders 395–397 und 400 für die Karte. 80 Att. 14.16.1 (am 2. Mai 44). 81 Benferhat 2005, 170–172. 82 Casson 1971, 167–168 und Viereck 1996, 88. 83 Vgl. Att. 14.17.2. 84 Vgl. Att. 14.17.1. 85 Att. 14.20.1.

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Er wollte einmal Pilia sehen, die Gattin des Atticus, die nicht sehr gesund war. Aber er segelte schnell wieder, um Vestorius86 zu besuchen: eram continuo Piliam salutaturus, deinde ad epulas Vestori nauicula.87 Dieser schönen, leichten Atmosphäre einer Regatta in Campanien begegnet man im Juli 44 wieder. Es gibt dieselbe Mischung von Seereisen, Besuchen bei Freunden und dem Genuss von Abendessen, und man bemerkt dabei, dass Cicero überhaupt nicht krank war. Er konnte sogar auf dem Schiff schreiben: Nonis Quintilibus ueni in Puteolanum. postridie iens ad Brutum in Nesidem haec scripsi.88 Zwar war es diesmal nur ein Brief, den der Sekretär schrieb, aber später verfasst er sogar die Topica für Trebatius: itaque, ut primum Velia nauigare coepi, institui Topica Aristotela conscribere ab ipsa urbe commonitus amantissima tui: eum librum tibi misi Regio scriptum [. . .] 89

Von nausea hört man nichts, und ebenso wenig von Furcht . . . Jede Pause ist eine Gelegenheit, einen Freund wiederzusehen und einen mit einem Freund verbundenen Ort zu genießen: ego adhuc (perueni enim Vibonem ad Siccam) magis commode quam strenue nauigaui; remis enim magnam partem, prodromi nulli. illud satis opportune, duo sinus fuerunt quos tramitti oporteret, Paestanus et Vibonensis. utrumque pedibus aequis tramisimus. veni igitur ad Siccam octauo die e Pompeiano, cum unum diem Veliae constitissem; ubi quidem fui sane libenter apud Thalnam nostrum nec potui accipi, illo absente praesertim, liberalius. viiii Kal. igitur ad Siccam. ibi tamquam domi meae scilicet.90

Velia war die Heimatstadt des Trebatius,91 dem Cicero die Topica widmete: Cicero konnte dort ruhig an seinen ehemaligen Studenten denken. Thalna92 war zwar nicht da, als Cicero ankam, hatte aber alles für ihn in seinem Haus vorbereitet. Und Sicca93 war ein perfekter Gastgeber. Alles war bequem: Sogar die Winde waren freundlich, als ob sie Cicero helfen wollten . . . Die prodromi, jene Winde, die zwischen dem 10 und dem 20. Juli wehen, waren nicht da. Fast könnte man denken, dass es sich nicht um eine Seereise, sondern um eine Regatta handelte. Tatsächlich ist nicht völlig klar, ob es im Mai 44 wirkliche Seereisen waren, aber im Juli war es eine echte Seereise, eigentlich der erste Teil der Reise nach Griechenland. Es ist sehr bemerkenswert, dass Cicero im Mai, als er noch an eine schnelle Flucht zwischen Italien

86 D’Arms 1970, 52–53 und D’Arms 1981, 49–55: Vestorius war ein Geschäftsmann, der Cicero gern half. Siehe auch Andreau 1997, 99–118 für mehr Einzelheiten über die Geschäfte des Vestorius. 87 Att. 14.20.5 (am 11. Mai 44). Er blieb in Kampanien bis ungefähr zum 18. Mai: in Puteoli, dann in Cumae, und danach in Sinuessa. 88 Att. 16.1.1 (am 8. Juli). 89 Fam. 7.9 (am 28. Juli 44, an Trebatius). 90 Att. 16.6.1 (am 25. Juli 44). 91 Zu G. Trebatius Testa vgl. Benferhat 2016, 71–87 (besonders 81–85). 92 RE X, Sp. 1370f., Nr. 27 (s. u. Iuventius). Es geht um Ciceros Freund Iuventius Thalna (oder Talna: ShackletonBailey 1995, 59). 93 Vielleicht Ciceros prafectus fabrum in 63 (Lintott 2013, 180); Vibius Sicca. Ruoppolo 1988, 194–197 und Kelly 2006, 113f. Anm. 67. Es scheint, als ob Cicero bei seinem Freund Sicca in Vibo war, als er von seinem Exil in 58 erfuhr: Er entschied dann, nicht mehr im Haus des Sicca zu wohnen, sonst hätte die Lage gefährlich für seinen Gastgeber werden können. Aber Sicca überließ ihm seine Gärten.

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und Griechenland ab Hydronte, in der Nähe von Brundisium, dachte, diese kleine Seereise in Kampanien genoss. Und endlich hat er genau diese langsame Lösung gewählt.

* * * Wie liegen also die Verhältnisse? Hatte Cicero Angst vor Seereisen oder nicht? Die Wahrheit ist, dass wir sehr verschiedene Erfahrungen vorgefunden haben. Es ist klar, dass Cicero die Seereise nicht besonders gern hatte. Aber als er vor seinen Mördern floh, war die Lage ein bisschen wie im Mai oder Juli 44: Er benutzte kleine Schiffe von einer Stadt zur nächsten. Der große Unterschied war die Jahreszeit: Cicero ist Anfang Dezember gestorben, was bedeutet, dass er während des mare clausum fahren musste. Aber wahrscheinlich haben wir noch eine weitere Mischung von objektivem und subjektivem Grund: Cicero wollte nicht mehr fliehen.

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»Kein Ruder und kein Wind schienen schnell genug« Die Schiffsreise in Ciceros erster Philippica * Marcus Hellwing (Halle-Wittenberg) Wie groß ist weiterhin die Schönheit des Meeres, die Gestalt des Universums, die bunte Fülle der Inseln, die Lieblichkeit der Buchten und Küsten.1

Diese recht positive Einstellung zum Meer schildert Cicero in seiner Schrift „Über das Wesen der Götter“, die er im Jahr 45 v. Chr., also gut ein Jahr vor seiner ersten Philippischen Rede, verfasste. Nach den erfolgreich beendeten Seeräuberkriegen des Pompeius Magnus in den 60er Jahren ging im Mittelmeerraum von Piraten kaum noch eine Gefahr aus, und vom Ozean bis zum Pontos befand sich das Meer so fest in der Gewalt des römischen Volkes, „als handele es sich um einen einzigen sicheren und ringsum geschützten Hafen.“2 Die Vielzahl der Inseln des Mittelmeeres ist bereits in der Antike hinlänglich bekannt. Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts umschloss das Römische Reich beinahe das gesamte Mittelmeer, grenzte an den Atlantik und das Schwarze Meer. Das mare mediterranum war nicht nur das geographische Zentrum des Imperium Romanum, sondern hielt spätestens mit dem zweiten Punischen Krieg auch Einzug in die römische Kultur. Raimund Schulz zeichnete nach, dass unter anderem der Senatsadel der späten Republik mit dem Bau seiner Luxusvillen in den Städten am Meer wesentlich Anteil daran nahm. Aber nicht nur dieser Drang der Senatoren zu Immobilien am Meer, sondern auch das mit der zunehmenden Expansion einhergehende Interesse an Ethnographie und fremden Kulturen wurde ein Bestandteil der Texte zeitgenössischer Autoren, wie etwa Cicero.3 Dieser scheint aber durchaus einen gewissen Wandel seiner Sicht zur Seereise vollzogen zu haben, wie an seinen Äußerungen zwischen der Reise in seine Provinz Kilikien zum Antritt seiner Statthalterschaft im Jahr 51 v. Chr. bis zum Verfassen von De natura deorum erkennbar ist. Denn noch während der Fahrt von Rom über die Adria und Griechenland nach Kleinasien äußerte er sich gegenüber seinem Freund Atticus etwas zwiespältig gegenüber dem Meer, den Inseln und der Seefahrt. * Dieser Artikel sei meiner Großtante Uta und meinem Großonkel Anastasios Metaxas (†) gewidmet. Die Reisen zu ihnen nach Griechenland, die glücklicherweise nie vorzeitig abgebrochen werden mussten, trugen maßgeblich dazu bei, mein Interesse für die klassische Antike zu wecken und zu formen, weshalb ich ihnen beiden zu großem Dank verpflichtet bin. Auch ist meinen Freunden und Kollegen Philippus Lector und Dr. Fabian Germerodt für ihr kritisches Lektorat des Manuskripts zu danken, ebenso meiner Mutter, Birgit Hellwing, und Frau Anja Grosser. 1 Cic. nat. 2,100. at vero quanta maris est pulchritudo, quae species universi, quae multitudo et varietas insularum, quae amoenitates orarum ac litorum. 2 Cic. Prov. 31. virtute Cn. Pompei sic a populo Romano ab Oceano usque ad ultimum Pontum tamquam unum aliquem portum tutum et clausum teneri. 3 Schulz 2005, 196–206.

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Marcus Hellwing Heute, am 14. Juni, bin ich in Actium angekommen, nachdem ich in Korfu und auf den Sybotainseln von Deinen Liebesgaben, die Araus und mein Freund Eutychides mir aufs prächtigste und freundlichste zubereitet hatten, nach Salierart gespeist hatte. Nach der überaus unangenehmen Seereise habe ich mich entschlossen, von hier aus lieber zu Lande zu reisen; außerdem scheint mir die Fahrt um Leucas herum beschwerlich, und auf einem winzigen Ruderboot in Patras anzukommen ohne meine ganze Bagage halte ich für nicht recht standesgemäß.4

Er listet einzelne Stationen seiner Seereise auf und beschreibt, wie herzlich er von den Freunden des Atticus aufgenommen wurde. Und dennoch erscheint ihm die Fahrt zur See recht beschwerlich, sodass er sich für eine Weiterreise auf dem Land entscheidet.5 Die genauen Gründe dafür benennt er allerdings nicht. Von Seeräubern konnte zu dieser Zeit wohl kaum noch eine Gefahr ausgehen. Auch von Stürmen oder schwerem Seegang ist nicht die Rede. Einzig, dass Cicero mit einem Ruderboot – einer actuaria – ankommen würde, ist ein Zeichen dafür, dass er sich über die Schiffstypen, die auf den einzelnen Etappen zur Verfügung stehen, Gedanken macht. Dass er dieses allerdings explizit erwähnt, unterstreicht nur seine im Weiteren etwas hervorstechende Aussage, die seinen eigenen Status als Senator verdeutlichen soll, da es nicht standesgemäß ist – non satis visum est decorum. Wie wichtig ihm sein Status als ehemaliger Konsul und Senator ist, was für das Jahr 51 v. Chr. durchaus zutrifft, betont er auch zu Beginn der Philippischen Rede vom 2. September des Jahres 44 v. Chr.6 Der Staatsmann, Redner und Philosoph, der nach dem Aufdecken der Catilinarischen Verschwörung während seines Konsulats 63 v. Chr. als Retter der Stadt und Vater des Vaterlandes bezeichnet wurde, scheint sich in der Philippica zunächst rechtfertigen zu wollen, wieso er in der angespannten politischen Lage nach den Iden des März nicht nur Rom, sondern gleich Italien verließ. Nun, da er zurückgekehrt ist und den vermeintlichen tyrannischen Nachfolger Caesars – Marcus Antonius – zu bekämpfen sucht, scheint er sein vorheriges Handeln ausführlich darlegen zu wollen. Wozu jedoch diese breite Auskunft an den Senat? Es wäre anzunehmen, dass er eigentlich die Beschwerlichkeiten einer solchen Fahrt beschreibt, um den Hörern die Strapazen darzustellen, trotz derer er den mühevollen Weg nach Rom auf sich nahm. Der nun folgende Beitrag soll nach einem kurzen Überblick der Quellensituation zu den Gründen des Aufbruchs und der Reiseroute der Frage nachgehen, weshalb sich Cicero überhaupt im Rahmen dieser wichtigen politischen Rede so ausgiebig zu seiner Fahrt nach Griechenland äußert. Dabei soll durch eine kritische Zusammenschau mit seiner Korrespondenz zu Atticus und weiteren Freunden aufgezeigt werden, was er in der Philippica verschweigt oder beschönigt.

4 Cic. Att. 5,9,1. Actium venimus a. d. xvii Kal. Quintilis, cum quidem et Corcyrae et Sybotis muneribus tuis quae et Araus et meus amicus Eutychides opipare et philoprosenestata nobis congesserant epulati essemus Saliarem in modum. Actio maluimus iter facere pedibus qui incommodissime navigassemus, et Leucatam flectere molestum videbatur, actuariis autem minutis Patras accedere sine impedimentis non satis visum est decorum (Actium, 14. Juni 51). Siehe auch: Casson 1976, 175f. Zu Ciceros scheinbarer Angst vor den Gefahren der Seereisen siehe auch den Beitrag von Yasmina Benferhat in diesem Band (siehe oben, S. 67–78). 5 Eine Karte mit Ciceros jeweiligen Etappen in Kleinasien liefert: Hunter 1913, 74. 6 Cic. Phil. 1,1. ego cum sperarem aliquando ad vestrum consilium auctoritatemque rem publicam esse revocatam, manendum mihi statuebam, quasi in vigilia quadam consulari ac senatoria. Zum allgemeinen Aufbau der Rede siehe: Delaunois 1973, 350 und Hall 2002, 274f.

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Um am Ende ein Fazit ziehen zu können, soll der Frage nachgegangen werden, aus welchen Gründen Cicero offensichtlich recht ausführlich die Stationen und Begebenheiten während seiner Reise vor dem Senat in Rom darlegte. In einer Situation, in der es als notwendig erachtet wurde, zu den geregelten Verhältnissen der römischen Republik zurückzukehren, kam es deutlich auf schnelles Handeln an – warum dann erst eine gemächliche Schiffsreise in aller Breite beschreiben?

1. Die Quellensituation Die durchaus ausführliche Beschreibung der Griechenlandreise bringt Cicero in den Abschnitten 7 bis 9 der ersten Philippischen Rede. Aber bereits zu Beginn gibt er an, aus welchen Gründen er aus Rom abreiste, um dann im Rahmen der Reisebschreibung die Beweggründe für die Umkehr darzulegen. Der Gehalt dieser Darlegung von Planung und Verlauf der Reise Ciceros lässt sich am ausführlichsten in der Korrespondenz mit seinem besten Freund Atticus nachvollziehen. Ab Mitte Juni 44 berichtet er diesem regelmäßig davon, an welchen Tagen er wo ankommen und wo abfahren wolle und was er dort meint erwarten zu müssen. Die Beschreibung der Reise im Rahmen der Philippica ist bei weitem nicht so ausführlich, wie er sie vor allem in den Briefen 6 und 7 im 16. Buch der Briefe ad Atticum schildert. Aber im Wesentlichen scheint er die Ausführungen vor dem Senat an diese Berichte, die er seinem Freund sandte, angelehnt zu haben. In den Briefen an seine weiteren Freunde geben besonders die an den Juristen Trebatius, den er bereits Caesar für die Mitnahme auf den Gallischen Feldzug empfahl, Lucius Munatius Plancus, den Prätor des Jahres 45 v. Chr., und Caesars Vertrauten Gaius Oppius Auskunft über die Zeit nach dem Beginn seiner Reise am 17. Juli und seine Erlebnisse auf der Fahrt.7 Neben Ciceros eigenen Schriften – der Rede an sich und seiner Korrespondenz – ist die von Plutarch zu Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts verfasste Cicero-Biographie eine weitere wichtige Quelle. Allerdings ist die Darstellung der Reise im Jahr 44 v. Chr., wie sie in der ersten Philippica beschrieben ist, in der Vita bei Plutarch nur dürftig wiedergegeben. Eine weitere sekundäre Darstellung bei Cassius Dio, der erst zu Beginn des dritten Jahrhunderts n. Chr. schrieb, riss Ciceros Reise lediglich mit dem Verweis an, dass dieser in seiner Rede vor dem Senat seine Gründe für das Fernbleiben von Rom und seine Reise darlegte und wieso er zurückkehrte.8 Dies stimmt, wie später noch zu zeigen sein wird, mit Ciceros eigener Eröffnung der Rede überein. Über die Reise an sich schweigt Dio bei der Wiedergabe der ciceronischen Rede jedoch. Womöglich scheint ihm dieser Teil für seine historischen Ausführungen nicht erwähnenswert gewesen zu sein. Appian ließ in seiner Beschreibung der Bürgerkriege die Gründe für die Abreise Ciceros sowie dessen Reiseroute in Gänze außer Acht. Seine einzige kurze Anmerkung zu einer Seereise in der Zeit nach den Iden des März ist die Nennung der Fahrt Octavians über das Ionische Meer zur Rückkehr nach Rom.9 7 Eine gesamte, ausführliche Chronologie der Reise, vorwiegend basierend auf der Korrespondenz Ciceros, liefert Ehrenwirth 1971. 8 Cass. Dio, 45,18. ὧν μὲν ἕνεκα τὴν ἀποδημίαν, ὡς καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἐκδημήσων, ἐστειλάμην, καὶ διὰ σπουδῆς τὴν ἐπάνοδον, ὡς καὶ πολλὰ ὑμᾶς ὠφελήσων, ἐποιησάμην, ἠκούσατε πρῴην, ὦ πατέρες, ὅθ’ ὑμῖν περὶ αὐτῶν τούτων ἀπελογησάμην.

9 App. BC 3,10.

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2. Vorgeschichte – Von den Iden des März bis zur Abreise Dass die Ereignisse nach dem Mord an Caesar in Rom geradezu drunter und drüber gingen, ist wohl bekannt. Bereits zwei Tage nach der Attacke auf den Diktator fand eine Senatssitzung unter der Leitung des Marcus Antonius und des Dolabella statt, der als Ersatzkonsul in das Amt eingeführt wurde. Während dieser Sitzung beantragte Cicero eine Amnestie für die Caesarmörder. Weitere drei Tage später fand die Leichenfeier auf dem Forum in Rom statt, bei der Marc Anton die Leichenrede hielt. Währenddessen kam es unter den Bürgern zu Ausschreitungen gegen die Mörder. Caesars posthum adoptierter Großneffe Octavian betrat am 8. Mai den Boden Roms, um offiziell das Erbe des Diktators anzutreten und seine Ansprüche gegenüber Antonius geltend zu machen. Zuvor hatte er bereits Kontakt mit Cicero aufgenommen, um sich politisches Gewicht zu verschaffen.10 Ende Mai zog Antonius mit einer Garde aus Caesars Veteranen in Rom ein. In einer Senatssitzung am 1. Juni, bei der Cicero nicht anwesend war, setzte er dann eine Vielzahl der acta Caesaris durch; vermeintliche Gesetzesentwürfe, die Caesar vor seinem Tod geplant hatte. In der Volksversammlung einen Tag später ließ sich Antonius dann die Provinz Gallia Cisalpina, in der viele Veteraneneinheiten Caesars standen sowie vier Legionen aus Makedonien, auf fünf Jahre übertragen. Den Hauptakteuren der Verschwörung, Brutus und Cassius, wurden für das Folgejahr die unbedeutenden Provinzen Kreta und Cyrene zugesprochen, womit sie politisch vorerst kaltgestellt waren. Am 17. Juli brach Cicero dann zu seiner Reise nach Griechenland auf. Am 20. Juli leitete Octavian die ludi victoriae Caesaris, auf die auch Cicero während seiner Reise oft zu sprechen kam. Es war aber nicht nur dieses Ereignis, welches dazu führte, dass er seine Reise nach Griechenland abbrach und am 31. August zurück nach Rom kehrte, um bereits am 2. September seine erste Philippische Rede vor dem Senat zu halten.11 Plutarchs Angaben, dass Cicero die verdienstvollen Handlungen des Dolabella, der nach den Iden des März im Einvernehmen mit dem Senat agierte, in der Rede gegen Antonius lobte, stimmen mit den Informationen in den vorherigen Abschnitten der ersten Philippica überein.12 Im Gegensatz zu Cicero gibt Plutarch allerdings an, dass es wohl die für das Folgejahr 43 designierten Konsulen Aulus Hirtius und Gaius Vibius Pansa waren, die ihn von seinem Vorhaben abbrachten, eine Legatenstelle anzutreten, und die somit auch seine Reise nach Griechenland unterbrachen beziehungsweise verhinderten. Plutarch weiß aber zu berichten, dass Cicero anfangs nicht recht wusste, ob er diesen beiden „wackeren Männern und Verehrern seiner Person“ trauen könne, die ihn überzeugen wollten, dass er den Einfluss des Antonius brechen solle. Letztendlich konnte ihn Hirtius jedoch überzeugen und er vereinbarte mit Cicero, dass dieser nur den Sommer in Athen verbringe „und dann, wenn die beiden [also Hirtius

10 Cic. Att. 14,11,2. hic mecum Balbus, Hirtius, Pansa. modo venit Octavius et quidem in proximam villam Philippi mihi totus deditus (Puteoli, 21. April 44). Siehe auch: Gelzer 2014, 299. Noch im Juni traf sich sein Stiefvater L. Marcius Philippus mit Cicero, der bereits seine Reise plante, in Astura, um sich mit diesem auseinanderzusetzen und ihn von Octavian zu überzeugen. Cic. Att. 15,15,2. vitricus quidem nihil censebat; quem Asturae vidimus (Astura, 10. Juni 44). 11 Ausführlich zur Chronologie von Ciceros Handlungen und der Ereignisse zwischen den Iden des März und der 1. Philippica siehe unter anderem: Gelzer 2014, 295–324 oder Stroh 2010, 107–111. 12 Vgl. etwa Cic. Phil. 1,5 oder 1,29f. Siehe auch: Gelzer 2014, 300.

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und Pansa] ihr Amt übernommen hätten, nach Rom zurückkehren werde.“13 Einen Plan, Rom zu verlassen, um nach Griechenland zu reisen und dort bis zum Amtsantritt der designierten Konsulen Hirtius und Pansa im Januar 43 abzuwarten, fasste Cicero wohl bereits vor den Iden des März 44.14 Die einzige Information zur Reise nach Griechenland selbst schildert Plutarch an selbiger Stelle der Cicero-Vita wie folgt: Danach fuhr er allein ab. Als jedoch die Fahrt nicht ohne Aufenthalt verlief und – wie es zu gehen pflegt – aus Rom neue Nachrichten einlangten, Antonius habe eine überraschende Schwenkung vollzogen, treibe nun eine Politik in vollem Einvernehmen mit dem Senat, und die Verhältnisse erforderten nur noch seine Anwesenheit, um in die beste Ordnung zu kommen, da machte er sich selbst Vorwürfe wegen seiner allzu großen Ängstlichkeit und kehrte wieder um nach Rom.15

Von seiner Ängstlichkeit konnte Cicero in einer Rede vor dem Senat freilich nicht offen reden. Viel eher scheint es sein überwiegendes politisches Interesse gewesen zu sein, das ihn zur Umkehr bewegte – vor allem aber die Vermutung, dass der Caesargünstling Antonius eine Allianz mit den republikanisch gesinnten Caesarmördern schließen wollte.16 Ciceros Meinungswandel scheint viel mehr durch seine kritische Auffassung zu den Ereignissen in Rom als durch die Freude über das Umschwenken des Antonius bedingt gewesen zu sein.

3. Gründe für die Abreise Bevor ich mich zur politischen Lage äußere, versammelte Väter, wie es mir die gegenwärtigen Umstände zu fordern scheinen, will ich euch kurz die Gründe meiner Abreise und Rückkehr darlegen.17

Mit diesen Worten eröffnet Cicero am 2. September 44 v. Chr. seine erste Philippische Rede vor dem Senat in Rom. Die Reisebeschreibung zu Beginn der Philippischen Rede scheint in drei Teile gegliedert zu sein. Im ersten Teil gibt Cicero bei den Gründen für seine Abreise am 17. Juli

᾿ ντώνιον, ῞Ιρτιος καὶ Πάνσας, ἄνδρες ἀγαθοὶ καὶ 13 Plut. Cic. 43,4,3. ἐπεὶ δ’ οἱ μέλλοντες ὑπατεύειν μετ’ Α ζηλωταὶ τοῦ Κικέρωνος, ἐδέοντο μὴ σφᾶς ἐγκαταλιπεῖν, ἀναδεχόμενοι καταλύσειν τὸν Α ᾿ ντώνιον ἐκείνου παρόντος, ὁ δ’ οὔτ’ ἀπιστῶν παντάπασιν οὔτε πιστεύων, ∆ολοβέλλαν μὲν εἴασε χαίρειν, ὁμολογήσας δὲ τοῖς περὶ τὸν ῞Ιρτιον τὸ ϑέρος ἐν Α ᾿ θήναις διάξειν, ὅταν δ’ ἐκεῖνοι παραλάβωσι τὴν ἀρχήν, ἀφίξεσθαι πάλιν, αὐτὸς καθ´ ἑαυτὸν ἐξέπλευσε.

14 Syme 1939, 139. Zum wechselseitigen Verhältnis zwischen Hirtius, Pansa, Dolabella und Cicero nach den Iden des März siehe: Schuller 2013, 196–198. Siehe auch: Bleicken 1995, 118f. 15 Plut. Cic. 43,4,4f. γενομένης δὲ περὶ τὸν πλοῦν διατριβῆς, καὶ λόγων ἀπὸ ῾Ρώμης οἷα φιλεῖ καινῶν προσπεσόντων, μεταβεβλῆσθαι μὲν Α ᾿ ντώνιον ϑαυμαστὴν μεταβολὴν καὶ πάντα πράττειν καὶ πολιτεύεσθαι πρὸς τὴν σύγκλητον, ἐνδεῖν δὲ τῆς ἐκείνου παρουσίας τὰ πράγματα μὴ τὴν ἀρίστην ἔχειν διάθεσιν, καταμεμψάμενος αὐτὸς αὑτοῦ τὴν πολλὴν εὐλάβειαν ἀνέστρεψεν αὖθις εἰς ῾Ρώμην.

16 Dazu Ramsey 2001, 253. Ursula Ortmann hingegen nimmt an, dass Cicero durch die vermeintlich positiven Nachrichten zur Umkehr bewegt wurde, sieht jedoch nicht den Widerspruch zur recht überstürzten Abreise des Brutus und des Cassius aus Italien (Ortmann 1988, 135). 17 Cic. Phil. 1,1. antequam de republica, patres conscripti, dicam ea, quae dicenda hoc tempore arbitror, exponam vobis breviter consilium et profectionis et reversionis meae.

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an, dass er zum einen die Unruhen in der Stadt nicht miterleben wollte,18 zum anderen, dass ihm eine Legatenstelle zur Verfügung stand. Er sagt weiterhin, er hegte dabei auch den Vorsatz, am 1. Januar 43 wieder in Rom zu sein, da er dachte, dass an diesem Tag die erste reguläre Sitzung des Senats stattfinden würde. Im nächsten Abschnitt beschreibt er dann die Stationen seiner Reise und was ihm dort wiederfuhr, um im dritten Teil seine Rückfahrt darzustellen.19 Am 10. Juni 44 schreibt Cicero seinem Freund Atticus aus Antium, dass er von Dolabella wisse, dass sich dieser bereits nach Fahrgelegenheiten nach Asien umsehe und in Gedanken bereits unterwegs sei.20 Womöglich könnte dies auf Cicero geradezu ansteckend gewesen sein und ihn überkam dadurch bedingt umso mehr die Reiselust. Zur Vorgeschichte der Handlungen Ciceros nach den Iden des März gibt Plutarch in der Vita des Römers einige Informationen, die in der Rede vor dem Senat nur angerissen sind. Der Biograph beschreibt dort, dass Cicero eigentlich vorhatte, als Legat des Publius Cornelius Dolabella – Caesars Nachfolger im Konsulat mit Antonius im Jahr 44 und Ciceros ehemaliger Schwiegersohn – nach Syrien zu gehen, da er Angst davor hatte, dass sich Antonius selbst zum Alleinherrscher machen wolle.21 Aus seiner Korrespondenz mit Atticus geht hervor, dass Dolabella ihn am 7. Juni für ganze 5 Jahre zum Legaten ernannt hat.22 Er scheint darüber sehr erfreut gewesen zu sein, da er laut eigener Aussage aufgrund dieses Kommandos an nichts gebunden sei und kommen und gehen könne, wie es ihm beliebe.23 In einem Brief vom 26. April 44 an Atticus schreibt er allerdings zuvor, dass ein Plan, Rom und Italien mit einem Legatenamt zu verlassen, bereits noch zu Lebzeiten Caesars bestand. In dieser Nachricht an seinen Vertrauten vermerkte er: Gehe ich, wie ich ursprünglich beabsichtigte, als Legat nach Griechenland, dann würde ich mich wahrscheinlich der Gefahr des bevorstehenden Blutbades bis zu einem gewissen Grade entziehen, mir aber den nicht unberechtigten Tadel zuziehen, in schwerer Zeit das Vaterland im Stiche gelassen zu haben. Bleibe ich jedoch, so setze ich mich bestimmt der Gefahr aus, kann mich dann aber vermutlich dem Vaterlande nützlich erweisen. Im Übrigen sprechen auch einige persönliche Beweggründe mit: ich weiß, es wäre sehr angebracht, wenn 18 Dies war wohl bereits ein Ansatz seiner von Jon Hall als „rhetoric of crisis“ titulierten Argumentationsstruktur, die Cicero auch in den weiteren Philippicae benutzt (Hall 2002, 283–287). Dass sich die kritische politische Situation nach den Iden des März in nahezu allen Schriften Ciceros – auch den philosophischen – niederschlug, bemerkte auch Bringmann 1971, 196f. 19 Cic. Phil. 1,5f. 20 Cic. Att. 15,15,1. noster vero καὶ μάλα σεμνῶς in Asiam, postea quam mihi est adsensus tuto se Romae esse non posse (ludos enim absens facere malebat), statim ait se iturum simul ac ludorum apparatum iis qui curaturi essent tradidisset. navigia conligebat; erat animus in cursu. interea in isdem locis erant futuri (Antium, 10. Juni 44). Dazu auch: Ehrenwirth 1971, 26–28. 21 Plut. Cic. 43,1–3. εὐθὺς οὖν ὁ Α ᾿ ντώνιος ἐπῆρτο, καὶ πᾶσι μὲν ἦν φοβερὸς ὡς μοναρχήσων, τῷ δὲ Κικέρωνι φοβερώτατος. ἀναρρωννυμένην τε γὰρ αὐτῷ πάλιν ὁρῶν τὴν δύναμιν ἐν τῇ πολιτείᾳ καὶ τοῖς περὶ Βροῦτον ἐπιτήδειον εἰδώς, ἤχθετο παρόντι. καί πού τι καὶ προϋπῆρχεν ὑποψίας αὐτοῖς πρὸς ἀλλήλους κατὰ τὴν τῶν βίων ἀνομοιότητα καὶ διαφοράν. ταῦτα δὴ δείσας ὁ Κικέρων πρῶτον μὲν ὥρμησε πρεσβευτὴς ∆ολοβέλλᾳ συνεκπλεῦσαι εἰς Συρίαν. Zu Dolabella in Syrien siehe: App. BC 3,25f.

22 Ehrenwirth 1971, 25. 23 Cic. Att. 15,14,4. et heus tu! ne forte sis nescius, Dolabella me sibi legavit a. d. iii Nonas. id mihi heri vesperi nuntiatum est. votiva ne tibi quidem placebat; etenim erat absurdum, quae si stetisset res publica vovissem, ea me eversa illa vota dissolvere. et habent, opinor, liberae legationes definitum tempus lege Iulia nec facile addi potest. aveo genus legationis ut,

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ich einmal hinkäme, um Cicero (iunior) [sc. seinem gleichnamigen Sohn] ins Gewissen zu reden, und das war ja auch ursprünglich der einzige Grund, als ich mich entschloß, von Caesar eine freie Gesandtschaft zu erbitten.24

Darüber, dass er seinen Sohn in Athen besuchen wolle, gibt er in den Begründungen seiner Abreise vor dem Senat keine Auskunft. Wilfried Strohs Annahme in seiner Cicero-Biographie, dass er seinen Sohn – Marcus Tullius Cicero iunior – besuchen wollte, da dieser beim Studium wohl dem griechischen Wein sehr zugetan war,25 lässt sich nur schwer aus den Quellen lesen. Sie geben lediglich Verweise darauf, dass er knapp bei Kasse war. Dass dies am exzessiven Weinkonsum lag, ist zwar möglich, lässt sich jedoch kaum nachweisen. Allerdings berichtete Cicero seinem Freund Atticus auch, dass er ans Reisen nicht denken könne, solange er die Bilanz für fehlende Mietzahlungen nicht ausgeglichen habe.26 Viel naheliegender ist wohl Ciceros Überlegung, nach Griechenland zu fahren, um sich vom Fortschritt der Studien seines Sohnes zu überzeugen, da ihm über diesen nichts Gutes zu Ohren gekommen sei, wie er Atticus Anfang Mai 44 berichtete. Da Cicero iunior von seinen Lehrern nur mit den Worten „wie es augenblicklich steht“ gelobt werde, so könne ihm – also Cicero senior – das auf Dauer nicht genügen.27 Die zwei wahrscheinlichsten Gründe, wieso er dies in seiner Philippica nicht erwähnt, sind wohl zum einen, dass der Bezug zu den Studien des Sohnes politisch irrelevant war. Zum anderen aber auch, dass es dem großen Staatsmann mit Sicherheit peinlich gewesen wäre, dass der Sohn des größten römischen Redners und Philosophen sein Studium schleifen ließ, was wiederum ein schlechtes Licht auf ihn selbst hätte werfen müssen. Dass ein längerer Aufenthalt in Griechenland geplant war, steht jedoch außer Frage. Womöglich plante Cicero, neben dem Besuch seines Sohnes in Athen ebenso den Olympischen Spielen beizuwohnen.28 Und auch in der letzten Juni-Woche kamen ihm Zweifel an seinen Plänen auf, ob sein Weggang aus Italien nicht als Akt der Verzweiflung angesehen werden könne sowie dass ihm wohl selbst Geld für die Reise fehle.29 Jedoch schreibt Cicero bereits einen Tag nachdem er

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cum velis, introire exire liceat; quod nunc mihi additum est. bella est autem huius iuris quinquenni licentia. quamquam ›quid de‹ quinquennio cogitem? contrahi mihi negotium videtur. sed βλάσφημα mittamus (Antium, um den 7. Juni 44). Cic. Att. 14,13,4. suscipe nunc meam deliberationem qua sollicitor. ita multa veniunt in mentem in utramque partem. proficiscor, ut constitueram, legatus in Graeciam: caedis impendentis periculum non nihil vitare videor sed casurus in aliquam vituperationem quod rei publicae defuerim tam gravi tempore. sin autem mansero, fore me quidem video in discrimine sed accidere posse suspicor ut prodesse possim rei publicae. iam illa consilia privata sunt, quod sentio valde esse utile ad confirmationem Ciceronis me illuc venire; nec alia causa profectionis mihi ulla fuit tum cum consilium cepi legari a Caesare. tota igitur hac de re, ut soles, si quid ad me pertinere putas, cogitabis (Puteoli, 26. April 44). Stroh 2010, 105. Cic. Att. 15,18,1. ego de itinere nisi explicato nihil cogito; quod idem tibi videri puto (Astura, 14. Juni 44). Cic. Att. 14,16,3. nunc, mi Attice, me fac ut expedias. cupio, quom Bruto nostro adfatim satis fecerim, excurrere in Graeciam. Magni interest Ciceronis vel mea potius vd me hercule utriusque me intervenire discenti. nam epistula Leonidae quam ad me misisti quid habet, quaeso, in quo magno opere laetemur? numquam ille mihi satis laudari videbitur cum ita laudabitur, “quo modo nunc est.” non est fidentis hoc testimonium sed potius timentis (Puteoli, 2. Mai 44). Kurz bevor Cicero Pompei erreichte, beschreibt er Atticus am 19. August 44, dass er das Gerücht über eine potentielle Reise zu den Olympischen Spielen als Vorwurf des Senats sehe, dass er das Vaterland im Stich lasse. Cic. Att. 16,7,5. Siehe weiterhin: Schuller 2013, 199 und Gelzer 2014, 299. Zu touristischen Reisezielen der Römer in Griechenland siehe: Giebel 1999, 185–188. Cic. Att. 15,17,3. profectionem meam, ut video, Erotis dispensatio impedit. nam cum ex reliquis quae Nonis Aprilibus fecit abundare debeam, cogor mutuari, quodque ex istis fructuosis rebus receptum est, id ego ad illud fanum sepositum

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Atticus mitteilte, nicht ans Abreisen denken zu können – also am 15. Juni 44 –, an diesen, dass er längst auf See schwimme. Er wolle nun doch abreisen und habe dies auch Dolabella mitgeteilt.30 Die darauffolgenden Briefe bis Mitte Juli sendete er unter anderem von seinem Tusculanum oder aus anderen Städten Italiens, in denen seine eigenen Landgüter oder die seiner Freunde lagen. Wo genau er sich am 15. Juni auf See befand, gab er selbst nicht an. Durch den Besuch zahlreicher Freunde und Bürger hörte er die verschiedensten Ansichten über seine geplante Reise, wie er Atticus mitteilt.31 Aber am 2. Juli schreibt er Atticus, dass seine Vorbereitungen soweit abgeschlossen seien und er vorhabe, am 7. Quintilis – also am 7. Juli – in Puteoli zu sein. Nicht zuletzt der Rat und das Urteil seines Freundes Oppius behoben alle Zweifel, die Cicero beim Abwägen des Für und Wider zur Reise kamen. Denn dieser schreibe offen seine Meinung.32

4. Die Reiseroute und Probleme der Reise Cicero scheint viel Wert auf den Rat seiner Freunde gelegt, sich aber auch durch das vermeintliche Gerede anderer Leute beeinflussen lassen zu haben. Aber bereits während der Fahrt war er sich über die genaue Route immer noch nicht ganz sicher. So schreibt er am 25. Juli, also gut eine Woche nach dem Antritt der Reise, an Atticus: Bisher bin ich mehr bequem als schnell gereist – ich befinde mich nämlich in Vibo bei Sicca –, größtenteils unter Benutzung der Ruder, da die „Vorboten“ noch nicht da sind. Das war recht günstig, denn zwei Buchten waren zu überqueren, die von Paestum und Vibo; beide haben wir platt vor dem Winde durchfahren. So bin ich denn in acht Tagen von meinem Pompeianum zu Sicca gelangt; einen Tag habe ich in Velia Station gemacht, wo ich mich bei unserm Talna sehr wohl gefühlt habe; die Aufnahme konnte, zumal er selbst nicht da war, gar nicht freundlicher sein. Gestern, am 24. bin ich also bei Sicca eingetroffen, fühle mich hier natürlich wie zu Hause und habe deshalb noch einen Tag zugegeben. Ich denke, wenn ich in Reggio bin, entscheide ich mich dort, „die lange Fahrt noch erwägend“, ob ich mit einem Frachtschiff nach Patras oder mit einem Ruderschiff nach Leucopetra im Tarentinischen gehe und von dort nach Korfu, und falls ich ein Kauffahrtschiff finde, ob ich gleich übers Meer gehe oder erst in Syracus Station mache. Darüber schreibe ich Dir aus Reggio.33

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putabam. sed haec Tironi mandavi quem ob eam causam Romam misi; te nolui impeditum impedire (Astura, 13. Juni 44). Jon Hall sieht Ciceros Plan für die Abreise aus Italien als einen Plan, um politische Konfrontationen zu vermeiden, in Anlehnung an die Flucht des Brutus und Cassius (Hall 2002, 274). Siehe weiterhin auch: Ortmann 1988, 131f. Cic. Att. 15,19,1. xvii Kal. etsi satis videbar scripsisse ad te quid mihi opus esset et quid te facere vellem, si tibi commodum esset, tamen cum profectus essem et in lacu navigarem, Tironem statui ad te esse mittendum, ut iis negotiis quae agerentur interesset, atque etiam scripsi ad Dolabellam me, si ei videretur, velle proficisci petiique ab eo de mulis vecturae (unterwegs, 15. Juni 44). Cic. Att. 15,21. de meo itinere variae sententiae; multi enim ad me. Cic. ad Fam. 11,31,1. dubitanti mihi – quod scit Atticus noster – de hoc toto consilio profectionis, quod in utramque partem in mentem multa veniebant, magnum pondus accessit ad tollendam dubitationem iudicium et consilium tuum; nam et scripsisti aperte, quid tibi videretur, et Atticus ad me sermonem tuum pertulit (Rom, Anfang Juli 44). Cic. Att. 16,6,1. ego adhuc (perveni enim Vibonem ad Siccam) magis commode quam strenue navigavi; remis enim magnam partem, prodromi nulli. illud satis opportune, duo sinus fuerunt quos tramitti oporteret, Paestanus et Vibonensis. utrumque pedibus aequis tramisimus. veni igitur ad Siccam octavo die e Pompeiano, cum unum diem Veliae constitissem; ubi quidem fui sane libenter apud Thalnam nostrum nec potui accipi, illo absente praesertim,

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Cicero machte sich nicht nur sehr viele Gedanken über eine geeignete Route, sondern ebenso über die zu nutzenden Schiffe. Die Unterscheidung dieser Schiffstypen scheint auf seine Kenntnis über deren jeweilige Geschwindigkeit und ebenso auf verschiedene Handelsrouten, die zu Reisezwecken nutzbar waren, hinzudeuten.34 Er legte sich jedoch auf keines der beiden genannten Schiffe fest, sondern schien das nehmen zu wollen, was gerade verfügbar war. Es sind mehrere Deutungen dieser Handlung möglich. Zum einen scheint es ihm nicht darauf angekommen zu sein, so schnell wie möglich aus Rom beziehungsweise aus Italien zu verschwinden, da er nicht das schnellste Schiff bestieg. Möglich wäre allerdings auch die Annahme, dass es ihm gerade darauf ankam, Italien möglichst schnell zu verlassen, und er eben deshalb in Reggio das erstbeste Schiff nahm. Wie schnell dieses dann im Verlauf der Reise war und welche Route es wählte, wäre demgegenüber zu vernachlässigen. Diese Beschreibung des bis dahin geradezu genussvoll zurückgelegten Weges legt allerdings die Vermutung nahe, dass es ihm weder darauf ankam, schnell zu seinem Sohn zu kommen, noch möglichst schnell seine Legatenstelle antreten zu können. Was die Wahl des Weges über die Westküste Italiens und weiter über Syrakus in den Osten des Imperiums angeht, sagt er zu Beginn seiner Ausführungen zur Reise in der ersten Philippica, habe er nicht ohne Grund – non sine causa – den üblichen Weg nach Griechenland mit dem Schiff von Brundisium aus gemieden. Welcher Grund es denn nun aber war, darüber gibt er dem Plenum keine weitere Auskunft. Cicero berichtet im Senat: Ich habe dargetan, versammelte Väter, warum ich abgereist bin; ich will euch jetzt kurz den Grund meiner Rückkehr erläutern, die ja gewiß noch mehr Verwunderung hervorruft. Da ich Brundisium und die gewöhnliche Route nach Griechenland mit gutem Grund vermeiden wollte, traf ich am 1. August in Syrakus ein: man hatte mir empfohlen, von dort aus nach Griechenland überzusetzen.35

Wahrscheinlich konnte Cicero davon ausgehen, dass den Senatoren wohl bekannt war, dass Antonius in Brundisium bereits Legionen zusammengezogen hatte, welche er aus Makedonien beordert hatte. Es musste demnach wohl auch nicht weiter ausgeführt werden, vielleicht auch, um Antonius selbst nicht weiter zu verärgern, aber um doch bereits ein wenig zu sticheln. Appian weiß zu berichten, dass die in Brundisium lagernden Truppen Octavian verbunden waren, der sich nach der Annahme des Namen Caesars zu diesen begab.36 Es lässt sich, unabhängig davon, wem die Truppen nach den Iden des März treu waren, feststellen, dass die dort stationierten Militärs Heeresteile waren, die zuvor dem Dictator Caesar unterstanden. Und da es Ciceros liberalius. viiii Kal. igitur ad Siccam. ibi tamquam domi meae scilicet. itaque obduxi posterum diem. sed putabam, cum Regium venissem, fore ut illic “δολιχὸν πλόον ὁρμαίνοντας” cogitaremus corbitane Patras an actuariolis ad Leucopetram Tarentinorum atque inde Corcyram et, si oneraria, statimne freto an Syracusis. hac super re scribam ad te Regio (Vibio, 25. Juli 44). 34 Zu Reisebedingungen auf einzelnen Schiffstypen siehe: Giebel 1999, 151–153. Dass Cicero ein gewisses Interesse an der Topographie des Mittelmeerraumes hatte, zeigte er bereits in seiner Schrift über den Staat, in der er angibt, dass „offensichtlich den Ländern der Barbaren eine Art griechischer Küstensaum gewissermaßen angenäht worden“ sei. Cic. Rep. 2,4,9. ita barbarorum agris quasi adtexta quaedam videtur ora esse Graeciae. Zu besagtem „griechischen Saum“ siehe: Schulz 2005, 49f. 35 Cic. Phil. 1,7. exposui, patres conscripti, profectionis consilium; nunc reversionis, quae plus admirationis habet, breviter exponam. cum Brundisium iterque illud, quod tritum in Graeciam est, non sine causa vitavissem, Kalendis Sextilibus veni Syracusas, quod ab ea urbe transmissio in Graeciam laudabatur. 36 App. BC 3,35–38.

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Name war – obwohl er selbst nicht am Mord beteiligt war –, den die Mörder mit den blutigen Dolchen in den Händen ausriefen, ist es verständlich, dass er in der Gegenwart der Caesarischen Truppen um sein Leben fürchten musste. Da er nun aber nicht die gewöhnliche Route gewählt hatte, entschied er sich, sich über Syrakus einzuschiffen, und kam dort am 1. August an. Ein weiterer Grund, weshalb er die Überfahrt von Brundisium aus vermied, könnte sein, dass er beim Antritt seiner Statthalterschaft 51 v. Chr. mit den Seeverhältnissen auf dieser Strecke nach Griechenland schlechte Erfahrungen gemacht hatte, wie bereits gezeigt wurde. Zur Stadt Syrakus auf Sizilien pflegte er seit seiner Quästur und dem anschließenden, gewonnenen Repetundenverfahren gegen den korrupten Statthalter Gaius Verres, den er in seiner zweiten Prozessrede auch als Piraten bezeichnete,37 enge Verbindungen. Aber, so sagt Cicero in der Philippica weiter: Diese Gemeinde konnte mich, so nahe sie mir steht, trotz allen Bittens nicht länger als eine Nacht festhalten; ich fürchtete, mein plötzliches Erscheinen bei meinen Freunden könne Verdacht erregen, wenn ich mich dort länger aufhielte. Als mich nun aber der Wind von Sizilien nach Leukopetra, einem Vorgebirge bei Regium, verschlug, schiffte ich mich dort aufs Neue für die Überfahrt ein, und ich war noch nicht sehr weit gekommen, als mich der Südwind genau dorthin zurückwarf, wo ich mich eingeschifft hatte. Da schon tiefe Nacht war, blieb ich auf dem Landgut des P. Valerius, meines Begleiters und Freundes, und ich blieb dort auch noch am folgenden Tag, in Erwartung günstigen Windes. Da fanden sich mehrere Bürger von Regium bei mir ein, darunter einige, die soeben aus Rom gekommen waren. Von diesen Leuten erfahre ich zum ersten Mal, daß M. Antonius gesprochen habe, und seine Rede gefiel mir so gut, daß ich, sobald ich sie gelesen hatte, an meine Rückkehr zu denken begann.38

Auch an Atticus schreibt Cicero, dass der Südwind ihn zurück nach Leukopetra verschlug, obwohl er bereits etwa 300 Stadien zurückgelegt hatte. Er bezeichnete den auster sogar als vehemens – stark.39 Der Wind schien für Cicero, spätestens seit der Station an der Südspitze Italiens, eine wichtige Rolle gespielt zu haben, was wohl auf die Fahrt mit einem mit Segel ausgestatteten Handelsschiff hindeutet. Sowohl in der Rede als auch in den Briefen erwähnt er, dass ihn der Wind wieder zurückwarf beziehungsweise dass er auf günstigeren gewartet habe. Auch im zuvor bereits zitierten Brief an Atticus (16,6,1) schrieb er, dass er in Vibio auf die prodromi – die Nordostwinde – gewartet habe. Dass er in der Philippica beschreibt, wie ihn der 37 Cic. Verr. 2,1,90. [. . .] ostendent C. Verrem, in ea classe quae contra piratas aedificata sit, piratam ipsum consceleratum fuisse. 38 Cic. Phil. 1,7f. quae tamen urbs mihi coniunctissima plus una me nocte cupiens retinere non potuit. veritus sum, ne meus repentinus ad meos necessarios adventus suspicionis aliquid afferet, si essem commoratus. cum autem me ex Sicilia ad Leucopetram, quod est promontorium agri Regini, venti detulissent, ab eo loco conscendi, ut transmitterem, nec ita multum provectus, reiectus austro sum in eum ipsum locum, unde conscenderam. cumque intempesta nox esset mansissemque in villa P.Valeri, comitis et familiaris mei, postridieque apud eundem ventum exspectans manerem, municipes Regini complures ad me venerunt, ex iis quidam Roma recentes; a quibus primum accipio M. Antoni contionem, quae mihi ita placuit, ut, ea lecta, de reversione primum coeperim cogitare. Zum Südwind ausführlich siehe: Strab. 1,2,21. Weiterhin: Bringmann 2010, 254. Zu Ciceros Beobachtungen zu den Winden während seiner Seereisen siehe auch den Beitrag von Yasmina Benferhat in diesem Band (siehe oben, S. 70–72). 39 Cic. Att. 16,7,1. viii Idus Sextil. cum a Leucopetra profectus (inde enim tramittebam) stadia circiter ccc processissem, reiectus sum austro vehementi ad eandem Leucopetram. ibi cum ventum exspectarem [. . .] (19. August 44). Cicero scheint sich offenbar eine denkbar ungünstige Zeit ausgewählt zu haben, denn Beresford 2013, 83 gibt an, dass der Süd-Ost-Wind im Sommer in eher unregelmäßigen Abständen bläst.

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auster wieder zurückwarf, zeigt auch dem Plenum, dass Cicero wie so viele andere Seereisende auch abhängig von günstigen Winden und eine feste „Flucht“-Route deshalb kaum planbar war. Auch wenn er es nicht wörtlich in der Philippica erwähnt, so scheint Cicero kein Ruderschiff für die Überfahrt nach Griechenland gefunden zu haben. Es waren auch natürliche Bedingungen, man möchte fast sagen der Zufall oder der Wille der Götter, die sein Bleiben beziehungsweise seine Rückkehr mitbedingten.40 Diese offensichtliche Abhängigkeit von der Natur oder von den Göttern beeinflusste Ciceros Überlegungen zur Wahl des Fortbewegungsmittels maßgeblich. Dass er „größtenteils unter Benutzung der Ruder“ das Meer befuhr, also unabhängig vom Wind reiste, verschweigt er allerdings vor dem Senat. Entweder, da er es als irrelevant erachtet, oder eher, weil dies zeigen würde, dass ihm an einem schnelleren Fortkommen gelegen war. Das Ruderboot, mit welchem er sich beim Antritt der Reise einschiffte, war lediglich ein kleines Bötchen, was der im Brief an Atticus verwandte Diminutiv actuariola deutlich zeigt, mit dem er anfangs jedoch verhältnismäßig unabhängig vom Wetter war. Indem er in der Rede gänzlich auf die Erwähnung der Schiffstypen verzichtet, zeigt er dem Senat, dass er abhängig vom Wind war. Dass Cicero überlegte, nur ein kleines Boot zu nutzen, lässt durchaus darauf schließen, dass er nicht wie auf dem Weg nach Kilikien ein großes und somit auch ein einer breiteren Öffentlichkeit zugängliches Fortbewegungsmittel nutzen wollte. In einem Bötchen hätte er heimlich, still und leise verschwinden können. Dies allerdings vor dem Senat auszubreiten, wäre dem Zweck der Darstellung in der Rede jedoch abträglich gewesen. Seine eintägige Station in Patras findet in der Philippica gar keine Erwähnung. In zwei Briefen an Gaius Trebatius vom 20. und 28. Juli hingegen beschreibt er, wie liebenswert ihm diese Stadt erschien, da sie Trebatius trotz seiner Abwesenheit sehr schätzte. Auch schreibt Cicero, dass ihn diese Stadt dazu gebracht habe, gleich nach der Abreise die Topica des Aristoteles zu bearbeiten.41 Dies könnte wiederum als Zeichen dafür gesehen werden, dass seine Abreise keine Flucht war. Wieso aber findet sich davon keine Erwähnung in der Philippica? War der eintägige Zwischenstopp etwa nicht erwähnenswert? Eine Station in Velia gibt er lediglich für die Rückfahrt an. So sagt er, dass er sich nach dem Erhalt der Nachricht des Brutus und Cassius dort mit erstgenanntem traf.42 Der vor dem Senat erwähnte Publius Valerius – ein nicht weiter bekannter römischer Dichter – hatte wohl kaum politisches Gewicht und wurde dennoch in die Ausführungen aufgenommen. Aber gerade diesen scheint Cicero, im Gegensatz zu Trebatius, bewusst in die Rede eingebaut zu haben, denn dies unterstreicht wohl wieder einmal, dass es keine politische Flucht war, die ihn zur Abreise bewegte. Seine Freunde, die auf seiner Reise von Bedeutung waren und die in 40 Zu Problemen der Schifffahrt in römischer Zeit, wie etwa jahreszeitlich bedingte Windverhältnisse, bestimmten Schiffspassagen und anderem siehe: Casson 1976, 173–183; vgl. auch die entsprechenden Passagen im Beitrag von Kirstein/Ritz/Cubasch in diesem Band (siehe oben, S. 18–28). 41 Cic. ad Fam. 7,20 und 21. An Atticus schreibt er am 25. Juli, dass ihm auf der Reise auffiel, dass er in seiner Schrift über den Ruhm die gleiche Vorrede verwandte wie in der Academica. Cic. Att. 16,6,4. „De gloria“ librum ad te misi. at in eo prohoemium idem est quod in academico tertio (Vibio, 25. Juli 44). Zu Ciceros literarischer „Rückkehr zur Politik“: Bringmann 1971, 182–196. Zum Einfluss des Trebatius auf Ciceros Arbeit nach den Iden des März: Gelzer 2014, 310 und 324. Ebenso: Ehrenwirth 1971, 58f. 42 Cic. Phil. 1,9. atque ego celeriter Veliam devectus Brutum vidi, quanto meo dolore, non dico. turpe mihi ipsi videbatur in eam urbem me audere reverti, ex qua Brutus cederet, et ibi velle tuto esse, ubi ille non posset. Siehe auch: Cic. Att. 16,7,5. nam xvi Kal. Sept. cum venissem Veliam, Brutus audivit (Pompei, 19. August 44).

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Briefkontakt mit ihm standen – etwa Munatius Plancus und Trebatius – waren als Caesarianer durchaus auf der politischen Bühne Roms aktive Persönlichkeiten. Umso wahrscheinlicher ist die Erwähnung des Publius Valerius durchaus als bewusstes Element der Rede zu verstehen. Nach Plutarchs zuvor bereits erwähnten Angaben sagt dieser, dass Cicero alleine nach Griechenland fuhr. Dass Publius Valerius also lediglich als Alibi verwandt wurde, ist folglich durchaus denkbar.

5. Gründe für die Umkehr Die Station in Velia und der dortige Kontakt zu Brutus werden zumeist als Anstoß für die Rückfahrt nach Rom gesehen.43 Aber bereits im Juli dachte Cicero über eine doch verhältnismäßig frühe Rückkehr aus Griechenland nach Italien nach, die auf den Rat seines Freundes Atticus zurückging. „Du wolltest den Winter in Epirus verbringen, so wäre es mir lieb, wenn Du hingingest, ehe ich – auf Deinen Rat – nach Italien zurückkehren muß.“44 Die Reise nach Griechenland scheint also eher als ein Kurztrip geplant gewesen zu sein, an dessen Ende er noch einmal seinen Freund besuchen wollte. Für die Übernahme eines Legatenamtes im Osten des Reiches – zumal er dieses auf fünf Jahre hätte antreten sollen – wäre die Zeit viel zu kurz bemessen gewesen. Eine gewisse Route für die Rücktour schien er dabei offenbar auch bereits im Auge gehabt zu haben, wenn er dazu zu Atticus nach Epirus reisen wollte. Dass die Reise nicht lange dauern sollte, geht laut Cicero auf den Rat des Atticus – te auctore – zurück. Dieser Einfluss seines Freundes fand in den späteren Äußerungen zu seiner Rückkehr jedoch keine Erwähnung mehr. In einem im September 44 – wahrscheinlich erst nach der Senatssitzung am 2. September – verfassten Brief an den für das Jahr 42 designierten Konsul Munatius Plancus schreibt Cicero lediglich, dass er nach Griechenland reisen wollte, dass ihm der Ruf des Vaterlandes und Antonius jedoch keine Ruhe ließen. Gegenüber diesem Caesaranhänger spricht er von tanta insolentia – so großer Überheblichkeit – des Antonius, die er in der Philippischen Rede allerdings nicht als Grund für seine Rückkehr angibt.45 Die Frage danach, warum er gegenüber Plancus die Reise nicht als Annahme der Legatenstelle bezeichnet, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Womöglich versuchte Cicero, indem er sowohl Plancus als auch Trebatius vor dem Senat nicht erwähnt, zu vermeiden, den Eindruck zu erwecken, dass er eine allzu pro-caesarianische Haltung einnimmt. Zumal es ja um den Machtkampf zwischen Republikanern und dem Caesarianer Antonius ging. Cicero selbst empfahl diese beiden Freunde dem Dictator Caesar, welcher

43 So unter anderem: Syme 1939, 140, Bringmann 2010, 255 und Gelzer 2014, 313. 44 Cic. Att. 16,4,6. tu quoniam scribis hiematurum te in Epiro, feceris mihi gratum si ante eo veneris quam mihi in Italiam te auctore veniendum est (Puteoli, 11. Juli 44). Dazu: Ehrenwirth 1971, 55f. 45 Cic. ad Fam. 10,1,1. et afui proficiscens in Graeciam et postea, quam de medio cursu rei publicae sum voce revocatus, numquam per M. Antonium quietus fui, cuius tanta est, non insolentia – nam id quidem vulgare vitium est –, sed immanitas, non modo ut vocem, sed ne vultum quidem liberum possit ferre cuiusquam. itaque mihi maximae curae est, non de mea quidem vita, cui satisfeci vel aetate vel factis vel, si quid etiam hoc ad rem pertinet, gloria, sed me patria sollicitat in primisque, mi Plance, exspectatio consulatus tui, quae ita longa est, ut optandum sit, ut possimus ad id tempus rei publicae spiritum ducere (Rom, September 44).

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sie daraufhin auch in seinen politischen und militärischen Kreis aufnahm. Dass Cicero während der Wirren nach den Iden des März und seiner Reise engen Kontakt zu ihnen pflegte, hätte ihm von Seiten der „Verschwörer“ wahrscheinlich zu Lasten gelegt werden können. Wie bereits dargelegt wurde, konkretisiert Cicero in der Philippica auch nicht, dass es die durch Caesar designierten Konsulen Hirtius und Pansa waren, die ihm von den Aktionen des Antonius berichteten und ihn so von der Weiterreise abhielten. In den Briefen tat er dies seinen Freunden allerdings kund, und so wissen es auch die späteren Autoren zu berichten. Indem er diesen Fakt in der Rede vor dem Senat aber verschweigt, wer genau ihn von der Weiterreise abhielt, stellt er also wiederum erst einmal die Reise anstatt die politischen Akteure in den Vordergrund seiner Ausführungen. Aber hätte eine Bezugnahme zu den höchsten Staatsbeamten des Folgejahres nicht seine eigene politische Bedeutung für die Politik mehr bestärkt? Wieso also eher die Reiseroute beschreiben? Aufgrund des militärischen Potentials des Antonius und der angespannten Situation in Rom ist es naheliegend, dass Cicero damit wohl eher die beiden möglichen Verfechter seiner Sache schützen, als dass er in seiner vermeintlich gewohnt egozentrischen Art noch mehr seine eigene Bedeutung für die Politik nach den Iden des März unterstreichen wollte. Die einzigen Personen, die in seinen weiteren Schilderungen in diesem Abschnitt der Rede Erwähnung finden, sind Brutus und Cassius, die nach dem Caesar-Mord in der Politik Roms wohl kaum etwas zu verlieren gehabt haben. Die municipes Regini – die Bürger Regiums – spezifiziert er in der Philippica nicht mit Namen. Von ihnen erhielt er allerdings ein Edikt der beiden Caesarmörder, die er „mehr noch um des Staates willen, als aus vertrauter Freundschaft liebe.“46 An dieser Stelle waren es also eher die Mörder als die künftigen Konsulen, die ihn zur Rückfahrt bewegten. Und auch Atticus hatte wohl einen nicht geringen Anteil daran genommen, Cicero davon zu überzeugen, dass er umkehren solle.47 Die Beschreibungen der Abreise Ciceros sowohl in der Philippica als auch in den Briefen stellen eine durchaus ungeplante Fahrt dar, bei der er spontan von einem Ort zum anderen überging, anstatt einer fest vorbereiteten Route zu folgen. Die Möglichkeit, den üblichen Weg über Brundisium vermeiden zu können, scheint ihm zu diesem Zweck recht gelegen gekommen zu sein. Als er aber von den aktuellen Entwicklungen und den Aktionen des Antonius in Rom erfuhr, änderte er sein bisheriges Verhalten. Und auch dies erwähnt er in der Philippica. Zwar beschreibt er ab dieser Stelle keine Schiffsreise an sich mehr, bringt zum Abschluss seiner Reisebeschreibung jedoch noch einmal Bezüge dazu an und rundet damit diesen Teil seiner Rede ab:

46 Cic. Phil. 1,8. nec ita multo post edictum Bruti affertur et Cassi, quod quidem mihi, fortasse quod eos plus etiam rei publicae quam familiaritatis gratia diligo, plenum aequitatis videbatur. 47 Kramp Geweke 1937, 476. Dass der Wille zur Umkehr an Ciceros „reinster und wildester Freude“ über die Iden des März lag, wie es Gotter 1996, 124 annimmt, ist unwahrscheinlich, da er den Entschluss, Italien zu verlassen, erst im April fasste und auch die Entwicklungen eher kritisch beäugte. Weiterhin schrieb Cicero bereits im Mai, dass es mit seiner Freude über die Iden des März bereits vorbei sei. Cic. Att. 15,6,2f. quod scribis te nescire quid nostris faciendum sit, iam pridem me illa ἀπορία sollicitat. itaque stulta iam Iduum Martiarum est consolatio. [. . .] ut nostrae aetati, quoniam interfecto domino liberi non sumus, non fuerit dominus ille fugiendus (Arpinum, 24. Mai 44).

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Marcus Hellwing Da packte mich eine solche Ungeduld, nach Hause zu kommen, daß mir kein Ruder und kein Wind schnell genug schien – nicht als ob ich befürchtet hätte, zu spät einzutreffen; vielmehr drängte es mich, dem Staate so bald wie möglich Glück zu wünschen.48

Das Ende der Beschreibung der Schiffsreise in der ersten Philippischen Rede deutet wiederum noch einmal auf die Gemächlichkeit der bisherigen Fahrt hin. Es zeigt auch, dass es für die Rückreise in die Hauptstadt schnellere Fortbewegungsmittel geben müsse, die er zu Beginn der Reise allerdings nicht genutzt hat. Somit unterstreicht er für das Plenum nochmals, dass für ihn keine Absicht bestand, schnellstmöglich aus Italien zu fliehen.

6. Fazit Die Darstellung der Schiffsreise in Ciceros erster Philippica ist ein in sich geschlossener Teil der Rede, der auf den ersten Blick unabhängig von der eigentlichen Intention der oratio zu stehen scheint, denn offenbar ist dieser Teil fast frei von jeglichem politischen Hintergrund. Einzig die Gründe für die Ab- und der Grund für die Rückreise scheinen politisch motiviert gewesen zu sein. Die detaillierte Beschreibung der Reiseroute, einzelner Stationen und der wetterbedingten Änderungen während der Fahrt entlang der italienischen Westküste bis nach Syrakus, von wo aus er nach Griechenland übersetzen wollte, hat an sich nichts mit der eigentlich gewollten Eröffnung des „Kampfes“ gegen Marcus Antonius zu tun. Dennoch lässt sich daraus eine gewisse Absicht herauslesen, die Cicero hegte, wenn er vor dem Senat über die Schiffsreise berichtet. Indem er einzelne Landungen an verschiedenen Orten und seinen dortigen Aufenthalt beschreibt, deutet er eine gewisse Gemächlichkeit an, mit der er sich fortbewegte. Dies soll offenbar den Zuhörern suggerieren, dass er nicht schnellstmöglich aus Rom fliehen wollte, um während der Wirren nach den Iden des März als Republikaner lediglich seinen Hals zu retten. Indem er sagt, dass er abhängig vom Wind war, der ihn auch wieder unbeabsichtigt zurück warf, zeigt er, dass er sich den „allgemeinen“ Bedingungen einer Segelfahrt unterwarf und nicht etwa versuchte, durch schnelleres Rudern voranzukommen – was er allerdings, wie er in seinen Briefen berichtet, durchaus tat.49 Die Briefe, die er vor und während der Zeit seiner Reise an seine Freunde, vor allem an Atticus, schrieb, zeigen, dass Cicero verschiedene Gründe hatte, Italien zu verlassen, von denen er allerdings nicht alle in der Philippica nennt – etwa den Besuch seines Sohnes in Athen. Dass er unter anderem die erste Station in Velia verschweigt, mag an der Verbindung zum Caesarianer Trebatius liegen, ebenso das Verschweigen der Tatsache, dass es die Caesar-Freunde und designierten Konsuln für das Folgejahr, Hirtius und Pansa, waren, die ihn von der Rückkehr nach Rom überzeugten. Erstaunlich scheint auch, dass seine Verbindung zu Octavian, die bereits seit dem Frühjahr 44 v. Chr. bestand, als Grund für die Umkehr weder in seiner Korrespondenz mit Atticus und den Freunden während der Reise noch in der Reisebeschreibung in der Philippica Erwähnung findet. Im November schreibt Cicero an 48 Cic. Phil. 1,9. tum vero tanta sum cupiditate incensus ad reditum, ut mihi nulli neque remi neque venti satis facerent, non quo me ad tempus occursurum non putarem, sed ne tardius, quam cuperem, rei publicae gratularer. 49 Für die spätere Zeit des Jahres plagt Cicero die Frage, ob es denn gut ist, Rom schnell verlassen zu können, um auf sein Landgut zu kommen. Siehe etwa: Cic. Att. 16,14 (Arpinum, 10. November 44). Dazu auch: Kramp Geweke 1937, 477.

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Atticus, dass er täglich einen Brief von Octavian erhält, in dem ihn der junge Caesar bitte, ein weiteres Mal die Republik zu retten und dass er deshalb in Rom präsent sein solle.50 Die Vermutung liegt nahe, dass er all dies aus dem Grund verschwieg, um so selbst seine Kontakte zur „Partei“ Caesars wenn nicht geheim zu halten, so doch nicht vordergründig zu erwähnen, da er dem Plenum suggerieren wollte, auf Seiten der Republikaner zu agieren. Während vor allem die Briefe an Atticus an manchen Stellen doch eine gewisse Hast vermuten lassen, scheint die Rede großenteils eine gewisse Ruhe zu suggerieren. Allein um für die Republikaner den Staat retten zu können, bringt er am Ende der Reisebeschreibung nochmals zum Ausdruck, dass ihm nach dem Zusammentreffen mit dem Caesar-Mörder Brutus „kein Ruder und kein Wind schnell genug schien“, um nach Rom zurückzukehren.

Literatur Textausgaben — — — — — — — — — —

Appian, Bella Civilia, hg. von Veh, Otto (1989), Stuttgart. Cassius Dio, Romaike historia, hg. von Veh, Otto (2009), Düsseldorf. Cicero, Epistulae ad Atticum, hg. von Kasten, Helmut (1959), München. Cicero, Epistulae ad Familiares, hg. von Kasten, Helmut (1959), München. Cicero, De Natura Deorum, hg. von Gigon, Olof/Straume-Zimmermann, Laila (1996), Zürich. Cicero, Philippicae, hg. von Fuhrmann, Manfred (2013), Berlin. Cicero, De Provinciis Consularibus, hg. von Fuhrmann, Manfred (1993), München. Cicero, De Re Publica, hg. von Nickel, Rainer (2010), Mannheim. Cicero, In C. Verrem, hg. von Fuhrmann, Manfred (1995), Zürich. Plutarch, Cicero, hg. von Ziegler, Konrad (1957), Zürich/Stuttgart.

Sekundärliteratur Beresford, James (2013), The Ancient Sailing Season, Leiden/Boston. Bleicken, Jochen (1995), Gedanken zum Untergang der römischen Republik, Stuttgart. Bringmann, Klaus (1971), Untersuchungen zum späten Cicero, Göttingen. Bringmann, Klaus (2010), Cicero, Darmstadt. Casson, Lionel (2 1978), Reisen in der Alten Welt, übersetzt von Otfried R. Deubner, München. Delaunois, Marcel (1973), „Ciceros ‚Philippika‘: Statistische Zählungen der Gedanken innerhalb der einzelnen Reden“, in: Bernhard Kytzler (Hg.), Ciceros literarische Leistung, Darmstadt, 345–371. — Ehrenwirth, Ursula (1971), Kritisch-chronologische Untersuchungen für die Zeit vom 1. Juni bis zum 9. Oktober 44 v. Chr., München. — Gelzer, Matthias (2 2014/1969), Cicero. Ein biographischer Versuch, Stuttgart. — Giebel, Marion (1999), Reisen in der Antike, Düsseldorf/Zürich. — — — — — —

50 Cic. Att. 16,11,6. deinde ab Octaviano cotidie litterae ut negotium susciperem, Capuam venirem, iterum rem publicam servarem, Romam utique statim (Puteoli, 5. November 44).

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— Gotter, Ulrich (1996), Der Diktator ist tot! Politik in Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des zweiten Triumvirats, Stuttgart. — Hall, John (2002), „The Philippics“, in: James M. May (Hg.), Brill’s Companion to Cicero. Oratory and Rhetoric, Leiden/Boston/Köln, 273–304. — Hunter, Lesley W. (1913), „Cicero’s Journey to his Province of Cilicia in 51 B. C.“, in: The Journal of Roman Studies 3, 73–97. — Kramp Geweke, Lenore (1937), „Notes on the political Relationship of Cicero and Atticus from 56 to 43 B. C.“, in: The Classical Journal 32, 467–81. — Ortmann, Ursula (1988), Cicero, Brutus und Octavian, Republikaner und Caesarianer: Ihr gegenseitiges Verhältnis im Krisenjahr 44/43 v. Chr., Bonn. — Ramsey, John T. (2001), „Did Mark Anthony contemplate an Alliance with his political Enemies in July 44 B. C. E.?“, in: Classical Philology 96, 253–268. — Schuller, Wolfgang (2013), Cicero oder der letzte Kampf um die Republik. Eine Biographie, München. — Schulz, Raimund (2005), Die Antike und das Meer, Darmstadt. — Stroh, Wilfried (2 2010/2008), Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph, München. — Syme, Ronald (1939 [Ndr. 2002]), The Roman Revolution, Oxford.

Paulus und das Mittelmeer * Peter Pilhofer (Erlangen) Dem Andenken an Alfred Suhl gewidmet

Einleitung Die Mission des Apostels Paulus ist ohne das Mittelmeer nicht vorstellbar. Die zahlreichen Reisen nicht nur im Bereich der Ägäis, sondern weit darüber hinaus – über die Adria bis nach Rom – setzen Seereisen unbedingt voraus. Umso erstaunlicher erscheint der Sachverhalt, daß das Meer in der neutestamentlichen Forschung so gut wie überhaupt nicht vorkommt. Seine Bedeutung für die rasche Ausbreitung des Christentums von Antiochien am Orontes bis nach Rom und darüber hinaus wird nicht wirklich thematisiert.1 Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, ist in der Literatur schlicht Fehlanzeige zu konstatieren. Segler auf den Spuren des Odysseus gibt es zuhauf, einige von ihnen sind auch literarisch hervorgetreten, z. B. unter dem eingängigen Titel „Im Kielwasser des Odysseus“: — Schildt, Göran (1954), Im Kielwasser des Odysseus, Wiesbaden [Nachdr.: Fischer Bücherei 912, Frankfurt a. M./Hamburg 1968].2 — Der Klassiker: Bérard, Victor/Boissonnas, Fred (1933), Dans le sillage d’Ulysse. Album Odysséen, Paris.3 — Bradford, Ernle (1967), Reisen mit Homer. Die wiedergefundenen Inseln, Küsten und Meere des Odysseus (dtv 431), München.4 — Wolf, Hans-Helmut/Wolf, Armin (1968), Der Weg des Odysseus. Tunis – Malta – Italien in den Augen Homers (Die großen Rätsel der Vergangenheit I), Tübingen. * Vortrag bei der Tagung des Deutschen Vereins zur Erforschung Palästinas zum Thema Palästina und das Mittelmeer am 10. Dezember 2016 in Mainz. Den Teilnehmern an der Diskussion danke ich herzlich für ihre weiterführenden Hinweise. Frau Eva Maria Hille hat die nicht durchweg gut lesbaren Blätter des Mainzer Manuskripts in ein ordentliches TEXManuskript überführt, wofür ich ihr auch an dieser Stelle herzlich danken möchte. 1 Das ThWNT bietet erwartungsgemäß gar keinen Artikel θάλασσα, vgl. Band III (1938), S. 1. Im EWNT existiert hingegen ein einschlägiger Artikel: Kratz 1981. Zum Thema ist weiter heranzuziehen: Reynier 2003; Reynier 2006; Reynier 2009; Börstinghaus 2010. 2 Das Buch heißt nicht nur „Im Kielwasser des Odysseus“; Schildt war in der Tat in seinem Segelboot in den einschlägigen Gewässern unterwegs. 3 Ich benutze die griechische Ausgabe: Ακολουθώντας το πλοίον του Οδυσσέα, Athen 1991; die Photographien stammen aus dem Jahr 1912, vgl. ebd., 10. Im Gegensatz zu Göran Schildt waren die Autoren nur z. T. segelnd unterwegs, vgl. ebd., 11–12. 4 Ursprünglich in deutscher Sprache erschienen Bern/München 1964 als Übersetzung von „Ulysses found“. Auch Bradford ist ein Segel-Experte: „Zwischen 1950 und 1960 verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Mittelmeer, wobei das größte Fahrzeug, das ich mein eigen nannte, ein alter Kutter von 20 Tonnen war und das kleinste eine

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Segler auf den Routen des Paulus hingegen kenne ich weder persönlich noch aus der Literatur.5 Als ich vor 10 Jahren eine Exkursion mit drei Segelbooten im Kielwasser des Apostels in der Ägäis plante – die drei Skipper standen schon bereit –, waren nicht nur solche Kollegen, die selbst passionierte Segler sind, begeistert. Leider ist diese Exkursion seinerzeit nicht zustandegekommen.6

1. θάλασσα (tha.lassa) im Neuen Testament Wir nähern uns dem gestellten Thema daher auf ganz und gar konventionelle Weise, indem wir einen Blick in die Konkordanz zum Neuen Testament werfen.7 Wenn wir den Belegen für das Wort θάλασσα (tha.lassa) im Neuen Testament nachgehen, erleben wir eine Überraschung. Zwar kommt auch das Mittelmeer vor, keine Frage! Aber der Löwenanteil der Belege bezieht sich nicht auf das Mittelmeer, sondern auf den See Genezareth (von insgesamt 87 θάλασσα [tha.lassa]-Belegen beziehen sich 49 auf den See Genezareth!). Noch deutlicher wird der neutestamentliche Befund, wenn man die 24 Belege aus der Offenbarung des Johannes aussortiert, die in der Regel gar kein konkretes Meer bezeichnen. Dann haben wir insgesamt 63 θάλασσα (tha.lassa)-Belege, von denen sich 49 auf den See Genezareth beziehen. Als Zwischenergebnis können wir also festhalten: Für das Neue Testament als Ganzes ist der See Genezareth weit wichtiger als das Mittelmeer, trotz seiner überschaubaren Größe . . . (Für den See Genezareth wird eine Fläche von 166 km2 angegeben, lächerlich wenig, wenn man diese mit dem Mittelmeer vergleicht.8 )

* * * Nun soll nicht bestritten werden, daß die θάλασσα (tha.lassa)-Belege in bezug auf den See Genezareth in den Evangelien ungleich verteilt sind: Während Markus und Matthäus keine Scheu haben, den See Genezareth als θάλασσα (tha.lassa) zu bezeichnen (bei Markus haben wir 18 [17] Belege, bei Matthäus 17 [16]), ist Lukas da sehr viel zurückhaltender: Auch an den Stellen, an denen seine Vorlage θάλασσα (tha.lassa) bietet, ändert er gern in λίµνη (li.mn¯e), so daß der See Genezareth in seinem Evangelium in der Tat als See – nicht als Meer – erscheint.

5 6 7 8

Schaluppe von 7 Tonnen. Einmal, während ich den mittleren und östlichen Teil des Mittelmeers befuhr, verbrachte ich im Laufe von zweieinhalb Jahren nur fünf Nächte an Land. Ich habe dieses Meer, und dabei auch die ‚Odyssee‘, gründlich kennengelernt, fast so gründlich wie die Seekarten, die mich durch die Straße von Messina brachten oder über das Ionische Meer nach den Inseln und Ithaka“ (ebd., 10–11). Doch vgl. immerhin: Kettenbach 2 1997. Vgl. die Ankündigung http://www.antike-exkursion.de/aegaeis/nuntiatio.pdf. Altmodischerweise benutze ich die folgende Konkordanz: Moulton/Geden 5 1978 (die erste Auflage Edinburgh 1897). In den gängigen Nachschlagewerken wird der See Genezareth eher selten berücksichtigt, und wenn doch, nur in recht schütterer Weise. So greife ich für die Fläche des Sees Genezareth auf die Angaben in Wikipedia zurück: Artikel „See Genezareth“, www.wikipedia.de, aufgerufen am 7. Juni 2016.

Paulus und das Mittelmeer 26° ö.L.

T E NE D O S

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26° 30'

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Colonia Alexandria Troas

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39° n.B.

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30 km 26° ö.L.

26° 30'

© Entwurf: Peter Pilhofer 2018 27° Kartographie: B. Spachmüller

Abbildung 10: Die Troas (© Peter Pilhofer 2018)

2. Von Philippi nach Jerusalem (Apg 20–21) Ein begeisterter Seefahrer ist Paulus nicht gewesen, wie aus der merkwürdigen Passage Apg 20,13–14 hervorzugehen scheint. Paulus ist auf der Reise von Philippi nach Jerusalem, der letzten Reise, die er als freier Mann unternimmt. Unsere Passage ist Teil eines Wir-Berichts, was hier wichtig wird, da Paulus den „Wir“ gegenübergestellt wird.9 Diese Unterscheidung zwischen Paulus auf der einen, den „Wir“ auf der andern Seite wird erforderlich, weil sich die Wege trennen: Paulus wählt einen andern Weg als die „Wir“, die mit dem Schiff von Alexandria Troas um das Kap Lekton herumfahren, um nach Assos zu gelangen,

9 Zu den Wir-Berichten vgl. die Arbeiten Koch 1999 und Börstinghaus 2010. Paulus war im Zeitraum von 50 bis 60 n. Chr. auf dem Mittelmeer unterwegs.

100

Peter Pilhofer

Abbildung 11: Der Hafen von Alexandria Troas mit Tenedos im Hintergrund

wo Paulus wieder an Bord kommen soll, der es vorzieht πεζεύειν (pezeu.ein), „zu Fuß zu gehen“, wie der Verfasser der Apostelgeschichte sagt. Dabei handelt es sich zwar um eine Art Abkürzung, aber warum Paulus diese bevorzugt, verrät uns der Text leider nicht. Während die Fahrt mit dem Schiff durchaus reizvoll ist – man fährt zunächst im Windschatten der Insel Tenedos in Richtung Süden an der Küste entlang, biegt dann um das Kap Lekton herum in den adramyttenischen Golf ein und hat von hier aus einen traumhaft schönen Blick auf die Insel Lesbos –, erschließt sich die Schönheit der Route zu Fuß nicht: ein paar Schafe, ein paar Ziegen, karge Landschaft. Daß Paulus sich für das Heiligtum des Apollon Smintheus interessiert haben sollte, ist nicht wahrscheinlich. Selbst türkische Busfahrer im 21. Jahrhundert vermeiden diese paulinische Abkürzung von Assos nach Troas und nehmen lieber den deutlich weiteren Weg auf der großen Straße weiter im Landesinneren, um die engen Ortsdurchfahrten und Kurven der Abkürzung zu vermeiden.10 Bleiben die Motive des Paulus für den Landweg also im Dunkeln, kann es doch darüber keinen Zweifel geben, daß wir es hier mit einer historisch zutreffenden Notiz des Verfassers der Apostelgeschichte zu tun haben: Diese Passage ist schlicht unerfindbar. (Der Duden weigert sich aus mir unerfindlichen Gründen, das Wort „unerfindbar“ als Lemma aufzunehmen, obgleich ich es seit Jahrzehnten verwende und sicher nicht selbst erfunden habe – einen Goetheschen Beleg freilich vermag ich bislang nicht zu präsentieren . . . ) 10 Dies durften wir bei Gelegenheit einer Exkursion in der Troas feststellen, vgl. den Bericht unter http://www.antikeexkursion.de/orontes/orontes_teil4.pdf, S. 145–146.

Paulus und das Mittelmeer

101

Sodann ist eine theologische Absicht des Verfassers weit und breit nicht in Sicht. Und schließlich unterliegen die Wir-Berichte überhaupt dem Verdacht, auf Notizen jeweils eines Reisebegleiters des Paulus zurückzugehen, wie mein Münsteraner Lehrer Dietrich-Alex Koch einst in einem Aufsatz gezeigt11 und mein Erlanger Assistent Jens Börstinghaus in seiner Dissertation umfassend aufgewiesen hat.12 Dieser Fall dürfte auch hier vorliegen: Die Notiz ist frei von jeglicher Tendenz und spiegelt eine historische Entscheidung des Paulus wider. Wir halten als Zwischenergebnis fest: Paulus hat mindestens in diesem Fall den Weg zu Fuß einer Seereise vorgezogen – ein ausgepichter Seefahrer war er offensichtlich nicht . . .

* * * Im Zusammenhang13 mit dieser letzten Reise des Paulus von Philippi nach Jerusalem begegnet in 20,4 eine Liste seiner Reisebegleiter, die offenbar einzelne Gemeinden repräsentieren (Beroia und Thessaloniki in Makedonien werden beispielsweise genannt). Auch diese Liste hat der Verfasser der Apostelgeschichte nicht erfunden, sondern aus einer Tradition oder einer Quelle – in diesem Fall wohl einer Quelle – übernommen, ebenso wie die Liste der Reisestationen, die im Laufe des 20. und 21. Kapitels geboten wird: — — — — — — — — — — — —

Philippi (20,6) Alexandria Troas (20,7–12)14 Assos (20,13) Mytilene auf Lesbos15 (20,14) Chios (20,15) Samos (20,15) Milet (20,15–38)16 Kos (21,1) Rhodos (21,1) Pa.tara (21,1)17 Zypern (21,3) Tyros (21,3–7)

11 Koch 1999. 12 Börstinghaus 2010, 281–336. 13 Der folgende Abschnitt ist meiner laufenden Vorlesung zu Apg 1–8 entnommen, die im Netz unter http://www.dieapostelgeschichte.de/lehrveranstaltungen/vorlesung16/vorlesung16.html zugänglich ist. Die Liste findet sich dort S. 32. 14 Die Zwischenstationen Neapolis und Samothrake bedürfen keiner Erwähnung mehr, da der Leser sie schon aus Kapitel 16 kennt. 15 Der Verfasser der Apostelgeschichte verwendet die spätere Namensform Μιτυλήνη; „richtig“ aber ist die Form Μυτιλήνη. 16 Wegen der hier in Milet vom Verfasser eingeschalteten Abschiedsrede des Paulus tritt ein Unterbruch – so sagen meine Schweizer Freunde! – des Itinerars ein. Die Tatsache, daß Paulus nach Jerusalem reist, um dort seine Kollekte aus Achaia und Makedonien zu überbringen, ist für den Leser der Apostelgeschichte nicht erkennbar. 17 Hier wechseln die Reisenden das Schiff, auch dies eine Nachricht, die nach meinem Urteil „unerfindbar“ ist . . .

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Peter Pilhofer

— Ptolemaï.s (21,7) — Caesarea ad mare (21,8–14) — Jerusalem (ab 21,15)

* * * Aus dem Rückblick des Verfassers der Apostelgeschichte wird deutlich: Es ist die letzte Reise des Paulus in Freiheit, wir haben es fast schon mit einem Missionar a. D. zu tun: Das Werk des Paulus ist abgeschlossen. Diese Auffassung teilt Paulus selbst sicher nicht: Wie wir dem Römerbrief entnehmen können (Röm 1,10–11; Röm 15,22–29), bewegt er sich zwar faktisch nach Osten, in Gedanken aber ist er schon weit im Westen, um über Rom nach Spanien zu gelangen. Er ist nicht Missionar a. D., ganz im Gegenteil: In Jerusalem gilt es, eine überaus heikle Mission zu erfüllen, in Rom und in Spanien warten noch große Aufgaben auf ihn. Aus unserer heutigen Perspektive freilich liegt der Verfasser der Apostelgeschichte richtiger als Paulus mit seiner eigenen Einschätzung. Zum Zeitpunkt der Reise von Philippi nach Jerusalem können wir auf das Werk des Paulus als ein im wesentlichen abgeschlossenes zurückblicken: Die Übergabe der Kollekte in Jerusalem scheitert, Paulus gerät in römische Gefangenschaft, und mit seinem missionarischen Wirken ist es damit ein für allemal vorbei. Die Briefe sind – mit einer Ausnahme, auf die wir in Abschnitt 5 noch zu sprechen kommen werden18 – geschrieben und beginnen ihre überregionale Wirkung auszuüben. Das geschieht aber ohne direktes Eingreifen des Paulus, der im Gefängnis sitzt. Und dabei bleibt es. Am Ende dieser großen Reise angelangt, ziehen wir eine kurze Zwischenbilanz. 1. Paulus war kein passionierter Seefahrer; wo sich die Möglichkeit ergibt, zieht er schon einmal den Landweg vor. 2. Paulus reist nicht allein, sondern er hat eine Gruppe von Begleitern auf dem Meer um sich. Im günstigsten Fall ist sogar eine Namensliste erhalten (Apg 20,4). 3. Das jeweilige Itinerar geht offenbar auf jeweils einen dieser Reisebegleiter zurück, wie schon die „Wir-Stücke“ nahelegen.

3. Kleinere Seereisen – durchgeführte und geplante War Paulus wirklich, wie der Verfasser der Apostelgeschichte behauptet (21,39), ein Mann aus Kilikien (ἀνὴρ Κίλιξ [an¯e.r Ki.lix]) aus Tarsos, dann war ihm das Meer von Kindesbeinen an vertraut. Er konnte den herrlichen Blick hinunter zum Meer genießen, bei klarem Wetter bis hinüber zur Insel Zypern, die er bei seiner ersten Missionsreise (Apg 13,4–12) vielleicht nicht zum ersten Mal besuchte. Auch Richtung Südosten reichte der Blick weit19 , bis über den Golf von Issos hinüber zu dem Amano.s-Gebirge, hinter dem Antiochien am Orontes liegt, die langjährige spätere Wirkungsstätte des Paulus.20 18 Es handelt sich dabei um den Galaterbrief, den ich spät datiere und auf der letzten Reise von Caesarea am Meer nach Rom geschrieben sein lasse. 19 Diese Information entnehme ich Ramsay 1907, 93–116. 20 Ramsay 1907, 100–101.

Paulus und das Mittelmeer

Abbildung 12: Die Abkürzung nach Assos

Abbildung 13: Der Weg hinunter zum Hafen von Assos

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Peter Pilhofer 32° ö.L.

33°

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100 km © Entwurf: Peter Pilhofer 2018 Kartographie: B. Spachmüller

32° ö.L.

33°

34°

35°

36°

Abbildung 14: Tarsos, Zypern, Antiochien hinter dem Amanos (© Peter Pilhofer 2018)

Als kleiner Junge hat er vermutlich nicht nur an den berühmten Wasserfällen des Kydnos gespielt – seine Mutter war, wie sich versteht, strictissime dagegen –, sondern sich auch am künstlich angelegten Hafen, der Tarsos mit der weiten Welt verband, herumgetrieben.21 Wann Paulus damit begann, auch selbst das Meer zu befahren, vermögen wir nicht zu sagen. Quellen zu den Reisen des Paulus vor seiner Berufung zum Apostel fehlen gänzlich. Um so reichlicher sprudeln sie dann aber für seine christliche Phase, die sowohl durch seine Briefe als auch durch die Apostelgeschichte dokumentiert ist. 21 Den Ramsayschen Angaben zufolge liegt Tarsos „70 to 80 feet above sea-level, and about ten miles from the southern coast“ (Ramsay 1907, 93). Zum Hafen am See Rhegmoi bzw. Rhegma fünf oder sechs Meilen unterhalb der Stadt vgl. Ramsay 1907, 109; als Gewährsmann fungiert Strabon. „The lake was the harbour of Tarsus“ (ebd.). Kleinere Schiffe konnten sogar flußaufwärts bis in die Stadt fahren.

Paulus und das Mittelmeer

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Die erste Seereise könnte gleich nach seiner Berufung von Jerusalem nach Tarsos angenommen werden (Apg 9,30), was insbesondere die Erwähnung der Hafenstadt Caesarea ad mare nahelegte – wären da nicht die unüberwindlichen Widersprüche zum paulinischen Selbstzeugnis in Gal 1,17. Denn dem eigenen Bericht zufolge reiste Paulus keineswegs nach Jerusalem und weiter nach Tarsos, sondern er hielt sich vielmehr in der Arabia auf; ob damit eine Seefahrt etwa im Roten Meer verbunden war, können wir nicht wissen. Auf der sicheren Seite sind wir, wenn wir die Seereisen des Paulus mit der ersten Missionsreise beginnen lassen. Diese Reise fand wohl Mitte der 40er Jahre statt. Der Verfasser der Apostelgeschichte berichtet zunächst von der Überfahrt von Seleukia, dem Hafen von Antiochien am Orontes, nach Zypern (Apg 13,4) und dann von der Fahrt hinüber zum Festland (Apg 13,13), also von Paphos auf Zypern nach Perge in Pamphylien. Das sind noch keine großen Seereisen, sondern eher kleine Überfahrten; aber ein Anfang ist gemacht: Paulus übt noch für die großen Reisen, die er in den folgenden Jahren absolvieren wird . . . Der Vollständigkeit halber sei hier angemerkt, daß dem Verfasser der Apostelgeschichte zufolge auch die Heimreise nach Antiochien am Orontes zur See erfolgte. Apg 14,25–26 berichtet von der Seereise von Atta.leia (dem modernen Antalya) nach Antiochia (dem modernen Antakya).

* * * Nach dem Debakel in Antiochien, von dem neutestamentliche Forscher beschönigend meist als dem „antiochenischen Zwischenfall“ reden (Gal 2,11–21), bricht Paulus zur ersten eigenständigen Missionsreise gen Westen auf. Jahre später wird er im Philipperbrief diese Phase als ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου (arch¯e. tou. euangeli.ou) charakterisieren, als „Anfang des Evangeliums“ (Phil 4,15).22 Wenn wir dem Verfasser der Apostelgeschichte trauen dürfen, hatte Paulus zunächst nicht Makedonien und Achaia, sondern insbesondere die Asia, das heißt natürlich vor allem Ephesos, im Sinn. Doch in dem uns schon bekannten Alexandria Troas weist ihm ein nächtliches ὅραµα (ho.rama) ein ganz neues und überraschendes Ziel, das wieder eine Seereise erforderlich macht. Dem Paulus erscheint im Traum ein ἀνὴρ Μακεδών (an¯e.r Maked¯o.n) mit der Bitte: διαβὰς εἰς Μακεδονίαν βοήθησον ἡµῖν (diaba.s eis Makedoni.an bo¯e.th¯eson h¯emi.n). Und genau an dieser Stelle, Apg 16,9–10, setzt der erste Wir-Bericht ein, der wie alle folgenden Wir-Berichte mit einer Seereise des Paulus verbunden ist! Wir haben hier zwar nicht wie in Apg 20,4 eine Liste der Reisebegleiter des Paulus, aber genau wie bei der Reise von Philippi nach Jerusalem in Apg 20–21 auch hier ein sehr präzises Itinerar, das die Stationen Alexandria Troas, Samothrake, Neapolis und Philippi minutiös aufzählt, obgleich in Samothrake und Neapolis ja gar nichts passiert.23 Es wäre keine Schwierigkeit, dieser Reiseroute nachzusegeln; bei halbwegs gutem Wind käme man an einem Tag nach Samothrake, am nächsten dann nach Neapolis. 22 Vgl. dazu meine Studie: Pilhofer 1995, hier 147–148. 23 Bei der Reise in Apg 20 werden die Zwischenstationen Neapolis und Samothrake weggelassen, vielleicht weil sie dem Leser ja nun schon vertraut sind.

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Peter Pilhofer

Abbildung 15: Die zweite Missionsreise (Metzger 1956, 23, Fig. 2)

Damit komme ich zur letzten der kleinen Seereisen des Paulus, der Überfahrt über die Adria von Dyrrhachium nach Barium oder nach Brundisium, von wo aus er auf der Via Appia Rom zu erreichen hoffte; aus Rom wollte Paulus nach Spanien weiterreisen, um das Ende der Welt in Gades zu erreichen: Dann hätte die παρουσία (parousi.a) erfolgen können, nichts hätte ihr mehr im Wege gestanden! Wenn wir bis heute auf die παρουσία (parousi.a) warten, so ist daran ausschließlich der Kaiser Claudius schuld, der im Jahr 49 die Reise des Paulus nach Spanien verhindert hat, ohne es freilich zu wissen, der Unglücksrabe. Nach der Hypothese von Alfred Suhl aus dem Jahr 1975 hatte Paulus keineswegs vor, von Thessaloniki Richtung Süden nach Athen und weiter nach Korinth zu reisen.24 Ich habe diese Suhlsche These in den letzten Jahren aufgegriffen und – wie ich meine – besser begründet.25 Demnach wäre Paulus, aus Thessaloniki kommend, nicht Richtung Süden nach Athen abgebogen, sondern hätte die Route der Via Egnatia Richtung Westen beibehalten, um dann in Dyrrhachium anzulangen. Ob er das Schiff über die Adria schon gebucht hatte, um seinen Weg nach Rom fortzusetzen, können wir nicht wissen. 24 Suhl 1975, 93–96. 25 Vergleiche dazu meinen Wiener Vortrag aus dem Jahr 2015, der einstweilen im Internet unter http://www.dieapostelgeschichte.de/einzelthemen/paulus_albanien/vortrag.pdf dokumentiert ist.

Paulus und das Mittelmeer

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Abbildung 16: Brücke der Via Egnatia bei Pëqin

Entscheidend ist: Aus der Überfahrt über die Adria wurde nichts, denn wohl in Dyrrhachium erreichte den Paulus die Nachricht von dem Edikt (δόγµα [do.gma]) des Kaisers Claudius, wonach alle Juden in Rom unerwünscht waren (vgl. Apg 18,1–3). Unter diesen Bedingungen schien es dem Paulus nicht opportun, die Überfahrt nach Italien zu wagen, und so wandte er sich an der griechischen Westküste nach Süden, um über Athen nach Korinth zu gelangen.

* * * Der Vollständigkeit halber sei hier noch auf zwei weitere kleinere Seereisen verwiesen, vielleicht bzw. genauer: auf drei. Zwei davon kennen wir aus der paulinischen Korrespondenz, eine aus der Apostelgeschichte. Ich beginne mit der Reise, die uns die Apostelgeschichte berichtet. Sie führt von Korinth nach Ephesos (vgl. Apg 18,18–19) und dann weiter nach Caesarea am Meer und über Antiochien am Orontes zurück nach Ephesos. Historisch ist offenbar nur der erste Abschnitt von Korinth nach Ephesos.26 Diesen Weg hat Paulus später noch einmal in beide Richtungen zurückgelegt, von Ephesos nach Korinth und von Korinth nach Ephesos, wie wir im 2. Korintherbrief erfahren. Dabei 26 Zum Problem vgl. Bunine 2002.

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handelt es sich um den sogenannten „Zwischenbesuch“ in Korinth, der diese beiden weiteren Seereisen erforderlich machte.

4. Der Peristasenkatalog und das Meer (2Kor 11,22–29) Was die Reisen des Paulus im Mittelmeer angeht, haben wir eine Fülle von Informationen in der Apostelgeschichte, die, wie wir gesehen haben, in der Regel auf einen Reisebegleiter des Paulus zurückgehen. In diesem vierten Abschnitt fragen wir nun danach, wie Paulus selbst über diese Seereisen dachte. Ich konzentriere mich hier auf einen einzigen Text, den sogenannten Peristasenkatalog in 2Kor 11,22–29. Auf die Gefahr hin, Eulen nach Athen zu tragen, erläutere ich zuerst den technischen Begriff „Peristasenkatalog“. Der zweite Bestandteil, „Katalog“, bedarf keiner Erklärung, der erste, περίστασις (peri.stasis), hingegen schon. Die Grundbedeutung von περίστασις (peri.stasis) ist „Herumstehen“, oder eine Gruppe von Menschen, die herumsteht. „In einem weiteren Sinn bezeichnet es dann die ‚Umgebung‘, die ‚Umwelt‘ überhaupt. Schließlich bedeutet das Wort auch die Umstände, die Situation, den Stand der Dinge und speziell natürlich dann auch den schwierigen Stand der Dinge, die Krise. So kann Cicero in einem Brief an seinen Freund Atticus von dem Stand seiner Angelegenheiten sprechen, indem er dieses griechische Wort benutzt: περίστασις (peri.stasis) nostra. In unserm Zusammenhang ist der kritische Stand der Dinge gemeint, die Krise, die Gefahr. Ein Peristasenkatalog ist also eine Aufzählung kritischer Lebenssituationen.“27 Ich stelle Ihnen den Text dieses berühmten Peristasenkatalogs mit einer Übersetzung vor. In bezug auf die Übersetzung ist zu bemerken, daß ich gelegentlich auf Vorschläge von Erich Gräßer zurückgreife.28 22 ῾Εβραῖοί εἰσιν; κἀγώ. ᾽Ισραηλῖταί εἰσιν; κἀγώ. σπέρµα Ἀβραάµ εἰσιν; κἀγώ. 23 διάκονοι Χριστοῦ εἰσιν; παραφρονῶν λαλῶ, ὑπὲρ ἐγώ· ἐν κόποις περισσοτέρως, ἐν φυλακαῖς περισσοτέρως, ἐν πληγαῖς ὑπερβαλλόντως, ἐν θανάτοις πολλάκις· 24 ὑπὸ ᾽Ιουδαίων πεντάκις τεσσαράκοντα παρὰ µίαν ἔλαβον, 25 τρὶς ἐρραβδίσθην, ἅπαξ ἐλιθάσθην, τρὶς ἐναυάγησα, νυχθήµερον29 ἐν τῷ βυθῷ πεποίηκα· 26 ὁδοιπορίαις πολλάκις, κινδύνοις ποταµῶν, κινδύνοις λῃστῶν, κινδύνοις ἐκ γένους, κινδύνοις ἐξ ἐθνῶν, κινδύνοις ἐν πόλει, κινδύνοις ἐν ἐρηµίᾳ, κινδύνοις ἐν θαλάσσῃ, κινδύνοις ἐν ψευδαδέλφοις, 27 κόπῳ καὶ µόχθῳ, ἐν ἀγρυπνίαις πολλάκις, ἐν λιµῷ καὶ δίψει, ἐν νηστείαις πολλάκις, ἐν ψύχει καὶ γυµνότητι· 28 χωρὶς τῶν παρεκτὸς ἡ ἐπίστασίς µοι ἡ καθ’ ἡµέραν, ἡ µέριµνα πασῶν τῶν ἐκκλησιῶν. 29 τίς ἀσθενεῖ, καὶ οὐκ ἀσθενῶ; τίς σκανδαλίζεται, καὶ οὐκ ἐγὼ πυροῦµαι;

22 Sie sind Hebräer? Ich bin es auch! Sie sind Israeliten? Ich bin es auch! Sie sind Same Abrahams? Ich bin es auch! 23 Sie sind Beauftragte Christi? Ich rede im Wahnsinn: Ich bin es noch mehr! Öfter in Mühen, öfter in Gefängnissen, viel öfter verprügelt, oft in To-

27 Pilhofer 2010, 10. 28 Grässer 2005, 158–162. 29 Dieses Wort ist im Neuen Testament ein Hapaxlegomenon, vgl. Bauer/Aland, Sp. 1107, s. v.

Paulus und das Mittelmeer

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desgefahr. 24 Von Juden habe ich fünfmal die 39 Schläge bekommen, 25 dreimal bin ich gegeißelt30 worden, einmal bin ich gesteinigt worden, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen ganzen Tag verbrachte ich über dem Abgrund; 26 viel unterwegs,31 in Gefahren in den Flüssen, in Gefahren durch Räuber, in Gefahren durch Juden, in Gefahren durch Heiden, in Gefahren in der Stadt, in Gefahren in der Einsamkeit32 , in Gefahren auf dem Meer, in Gefahren unter falschen Brüdern, 27 in Mühe und Plage, oftmals ohne Schlaf, in Hunger und Durst, oft fastend, in Kälte und Nacktheit. 28 Von dem abgesehen, was ich unerwähnt lasse: der Andrang zu mir Tag für Tag, meine Sorge um alle Gemeinden. 29 Wer ist krank und ich bin es nicht auch? Wer wird zur Sünde verführt, und ich verzehre mich nicht?

Es ist bezeichnend, daß in diesem Peristasenkatalog in 2Kor 11 gerade die Krisen auf dem Meer eine wichtige Rolle spielen. Der Gedanke an das Meer ruft bei Paulus – anders als bei uns – also nicht die Assoziation „Vergnügen“ hervor, sondern die Assoziation „Gefahr“ oder „Krise“. Dabei steht dem Paulus bei der Abfassung dieses Textes der schlimmste Sturm seines Lebens auf der Fahrt nach Rom erst noch bevor! Wir haben gesehen, daß wir in bezug auf die Seereisen des Paulus über zwei Quellen verfügen, die eigenen Briefe des Paulus und die Apostelgeschichte. Der Peristasenkatalog macht uns deutlich, wie wenig der Verfasser der Apostelgeschichte über die περιστάσεις (perista.seis) des Paulus auf dem Meer weiß; gewiß, er schildert am Ende seines Buches die spektakuläre Fahrt durch den Sturm auf dem Weg nach Rom; aber von den hier in 2Kor 11 aufgezählten Fährnissen erfahren wir kein Wort, sei es, daß der Verfasser der Apostelgeschichte selbst nichts davon wußte, sei es, daß er es nicht für opportun hält, uns davon zu erzählen; denn so glorreich werden nicht alle diese Abenteuer für Paulus ausgegangen sein wie das in Apg 27–28 Erzählte.

5. Von Caesarea nach Rom (Apg 27–28) Dieser letzte Abschnitt33 hat die letzte Reise des Paulus zum Thema. Die letzte Reise beschreibt der Verfasser der Apostelgeschichte sehr ausführlich in Apg 27,1–28,16. Danach ist noch die Rede von seinem Aufenthalt in der Hauptstadt (28,17–31).34 Die Reise des Paulus von Caesarea nach Rom ist in den letzten dreißig Jahren heiß diskutiert worden. Diese Diskussion erfolgte nicht nur in neutestamentlichen Monographien und Zeitschriften, sondern auch in so weit verbreiteten Organen wie der ZEIT. Ausgelöst wurde die

30 Höflich wie Paulus sein kann, läßt er hier die Entsprechung zu ὑπὸ ᾽Ιουδαίων weg. Sie müßte natürlich ὑπὸ ῾Ρωµαίων heißen, da die Geißelung eine römische Strafe ist, vgl. etwa Apg 16,22. 31 Wörtlich übersetzt: „oft auf Reisen“. 32 Warum Paulus in diesem Zusammenhang in v. 26 nicht auch Hunde nennt, möchte ich gern wissen. Sind sie im Vergleich zu den andern aufgezählten Schrecknissen dann doch zu vernachlässigen? Meine eigenen Erfahrungen in den einschlägigen Provinzen des Imperium Romanum (beispielsweise in gebirgiger Gegend des Territoriums von Βεργίνα am 7. März 2006) sprechen eher dagegen . . . 33 Die folgenden Ausführungen sind zum Teil aus meiner Vorlesung zur Apostelgeschichte im Wintersemester 2007/2008 entnommen, S. 471–476. Vgl. http://www.die-apostelgeschichte.de. 34 Die Seereise des Paulus ist Thema der Erlanger Dissertation von Jens Börstinghaus: Börstinghaus 2010.

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Abbildung 17: Der Weg nach Rom (Metzger 1956, 57, Fig. 7)

Debatte durch eine Arbeit von Heinz Warnecke, die an der Universität Bremen als Dissertation angenommen worden ist.35 Warnecke befaßt sich in seinem Buch vor allem mit dem zweiten Teil der Romreise des Paulus, von Kreta über Μελίτη (Meli.t¯e) nach Rom. Wir müssen uns jedoch zunächst dem ersten Teil, von Caesarea nach Kreta, zuwenden. Sie können den Weg des Paulus auf der entsprechenden Karte verfolgen (Abb. 17). Paulus wird zusammen mit einigen andern Gefangenen aus Caesarea unter dem Hauptmann Iulius auf den Weg gebracht.36 In Caesarea war Paulus über längere Zeit im Palast des Statthalters, dem πραιτώριον (prait¯o.rion), in Gefangenschaft gewesen (Apg 23,35) – dem schönstgelegenen Gefängnis des Paulus, von dem wir wissen, wie die folgende Abbildung zeigt: Abb. 18, S. 112.

35 Warnecke 2 1989. Nach verschiedenen Zwischenfassungen liegt das Buch nun vor als: Warnecke 2000. Die große Beachtung, die das Buch fand, wurde möglich durch einen Artikel der ZEIT in der Ausgabe vom 23. Dezember 1988: Seppelfricke 1988. Nicht ohne Belang mag die Feststellung sein, daß es sich bei der Autorin, Agnes Seppelfricke, um die Ehefrau von Heinz Warnecke handelt . . . Angegriffen wurde Warnecke unter anderm aus Göttingen: Wehnert 1989; Wehnert 1990. Verteidigt wurde Warnecke damals von Alfred Suhl: Suhl 1991; Suhl 1992. Zuletzt wird Warnecke in wenig vornehmer Form angegriffen von Marius Reiser: Reiser 2001. 36 Apg 27,1: ὡς δὲ ἐκρίθη τοῦ ἀποπλεῖν ἡµᾶς εἰς τὴν ᾽Ιταλίαν, παρεδίδουν τόν τε Παῦλον καί τινας ἑτέρους δεσµώτας ἑκατοντάρχῃ ὀνόµατι ᾽Ιουλίῳ σπείρης Σεβαστῆς.

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Ein Schiff aus Adramytteion soll sie in die Städte der Asia bringen. Der Bericht ist wieder im Wir-Stil abgefaßt; ein Mitglied der Gruppe wird in 27,2 namentlich genannt: Aristarch, der Makedone, aus Thessaloniki.37 Dieser Aristarch ist uns aus der Liste in 20,4 schon bekannt. Über Sidon (Apg 27,3) geht es weiter an Zypern vorbei (v. 4) entlang an Kilikien und Pamphylien nach Myra – der Heimat des Nikolaus – in Lykien (v. 5). Dort wird das Schiff mit einem alexandrinischen vertauscht, das nach Italien segeln soll (v. 6). Ich zeige Ihnen hier ein Bild des Hafens von Andriake (Abb. 19 [S. 112]), der in der uns interessierenden Zeit als Hafen von Myra fungierte. Besonders interessant sind die riesigen Getreidespeicher (ho.rrea) in Andriake, die verständlich machen, warum der Hauptmann ausgerechnet hier das Schiff wechseln wollte. Langsam geht es dann weiter über Knidos und Salmone nach Kreta. Der dortige Hafen wird genau angegeben: Kaloi Limenes bei der Stadt Lasaia (Apg 27,8).38 Der folgende Abschnitt Apg 27,9–12 berichtet von einer Differenz zwischen Paulus einerseits und den für das Schiff Verantwortlichen andrerseits. Der Winter steht bevor, die Seefahrt ist unsicher. Das Schiff soll als Winterquartier Phoinix39 aufsuchen (laut Warnecke an der messenischen Küste, vgl. Abb. 20 [unten S. 113]). Paulus hält das für zu gefährlich und rät von dem Vorhaben ab. Das führt aber nicht zum Aufgeben dieses Plans, da der Hauptmann mit den Schiffsautoritäten sich über die Bedenken des Paulus hinwegsetzt. Damit beginnt der abenteuerliche, ja geradezu romanhafte Teil der Schiffsreise. Diese wird von Jens Börstinghaus in seiner Erlanger Dissertation untersucht.40 Dabei geht es vor allem um die unterhaltende Absicht des Verfassers der Apostelgeschichte. Als guter Schriftsteller will der Verfasser der Apostelgeschichte seine Leserinnen und Leser eben auch durch eine spannende Geschichte unterhalten. Diesen Teil der Reise können Sie auf der Metzgerschen Karte oben nachvollziehen (Abb. 17).41 Sogleich stellt sich heraus, daß es besser gewesen wäre, dem Rat des Paulus zu folgen. Kaum ist man vom Hafen aufgebrochen (27,13), beginnt der Sturm (v. 14), der das Schiff vom Kurs abbringt.42 Bei der kleinen Insel Klauda (vgl. die Karte) gelingt es mit Mühe, das Beiboot zu bergen (v. 16f.). Der Sturm nimmt noch weiter zu, so daß man Ladung abwerfen muß (v. 18): „Und am dritten Tag warfen sie mit eigener Hand die Schiffsausrüstung über Bord“ (Apg 27,19).43 Damit ist das Desaster perfekt: „Da weder Sonne noch Sterne sich während mehrerer Tage 37 ἐπιβάντες δὲ πλοίῳ Ἀδραµυττηνῷ µέλλοντι πλεῖν εἰς τοὺς κατὰ τὴν Ἀσίαν τόπους ἀνήχθηµεν, ὄντος σὺν ἡµῖν Ἀριστάρχου Μακεδόνος Θεσσαλονικέως.

38 µόλις τε παραλεγόµενοι αὐτὴν ἤλθοµεν εἰς τόπον τινὰ καλούµενον Καλοὺς Λιµένας, ᾧ ἐγγὺς πόλις ἦν Λασαία.

39 Apg 27,12 nennt Phoinix λιµὴν τῆς Κρήτης, was man naheliegenderweise als „Hafen Kretas“ übersetzt. Warnecke plädiert jedoch für die Übersetzung „Hafen für Kreta“ und sucht Phoinix in Messenien (vgl. Warnecke 2000, 58). 40 Börstinghaus 2010. 41 Vgl. zu diesem Teil der Reise im vorliegenden Band den Beitrag von Matthias Schmidt (siehe unten, S. 229–251). 42 Insbesondere zu der segeltechnischen Seite der Reise ist die Zulassungsarbeit von Christine Hofmann: Die Seereise des Apostels Paulus nach Rom. Der Schiffbruch und die Strandung des Paulus auf der Insel Μελίτη vor dem Hintergrund der römisch-kaiserzeitlichen Seefahrt, heranzuziehen, die online unter http://www.die-apostelgeschichte.de/zulassungsarbeiten/PaulusRomreise.pdf zugänglich ist. 43 Die Übersetzung nach Haenchen 16/7 1977, 665. Im griechischen Original: τῇ τρίτῃ αὐτόχειρες τὴν σκευὴν τοῦ πλοίου ἔρριψαν.

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Abbildung 18: Der Palast des Statthalters in Caesarea ad mare vom Theater aus

Abbildung 19: Andriake, der Hafen von Myra in römischer Zeit

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Abbildung 20: Die Reise nach Rom nach Warnecke: West-Abschnitt (Warnecke 2000, 89)

zeigten und ein nicht geringer Sturm uns zusetzte, schwand schließlich alle Hoffnung, daß wir gerettet würden“ (Apg 27,20).44 Jetzt schlägt die Stunde des Paulus: 21 Und als niemand mehr essen wollte, da trat Paulus in ihrer Mitte auf und sprach: „Man hätte, mir gehorchend, nicht von Kreta abfahren und diese Unbilden und Verlust vermeiden sollen. 22 Und jetzt ermahne ich euch, guten Muts zu sein. Denn keine Seele von euch wird verlorengehen, sondern nur das Schiff. 23 Denn es trat zu mir in dieser Nacht des Gottes, dem ich gehöre, Engel 24 mit den Worten: ‚Fürchte dich nicht, Paulus! Du mußt vor den Kaiser treten, und siehe, Gott hat dir alle mit dir Fahrenden geschenkt!‘ 25 Darum seid guten Mutes, ihr Männer! Denn ich vertraue Gott, daß es so sein wird, wie es mir gesagt worden ist. 26 Wir müssen aber auf eine Insel treiben.“45

So geschieht es dann auch: Man strandet an einer Insel, die dann später in 28,1 als Μελίτη (Meli.t¯e) identifiziert wird. Um diese Insel dreht sich der Streit: Handelt es sich bei Μελίτη 44 Die Übersetzung nach Haenchen 16/7 1977, 665. Im griechischen Original: µήτε δὲ ἡλίου µήτε ἄστρων ἐπιφαινόντων ἐπὶ πλείονας ἡµέρας, χειµῶνός τε οὐκ ὀλίγου ἐπικειµένου, λοιπὸν περιῃρεῖτο ἐλπὶς πᾶσα τοῦ σῴζεσθαι ἡµᾶς. 45 Übersetzung nach Haenchen 16/7 1977, 665. Im griechischen Original: 21 πολλῆς τε ἀσιτίας ὑπαρχούσης τότε σταθεὶς ὁ Παῦλος ἐν µέσῳ αὐτῶν εἶπεν· ἔδει µέν, ὦ ἄνδρες, πειθαρχήσαντάς µοι µὴ ἀνάγεσθαι ἀπὸ τῆς Κρήτης κερδῆσαί τε τὴν ὕβριν ταύτην καὶ τὴν ζηµίαν. 22 καὶ τὰ νῦν παραινῶ ὑµᾶς εὐθυµεῖν, ἀποβολὴ γὰρ ψυχῆς οὐδεµία ἔσται ἐξ ὑµῶν πλὴν τοῦ πλοίου· 23 παρέστη γάρ µοι ταύτῃ τῇ νυκτὶ τοῦ θεοῦ οὗ εἰµι [ἐγώ] , ᾧ καὶ λατρεύω, ἄγγελος 24 λέγων· µὴ φοβοῦ, Παῦλε· Καίσαρί σε δεῖ παραστῆναι,

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(Meli.t¯e) um Malta – so die bisherige Auffassung – oder um Kephallenia – so die These von Heinz Warnecke. Wenn Sie einen Blick auf die Warneckesche Karte werfen (Abb. 20 [S. 113]), erkennen Sie den Unterschied: Kephallenia liegt vor dem Golf von Patras an der griechischen Westküste, Malta dagegen im Süden von Sizilien. Das macht einen erheblichen Unterschied – nicht nur für das heutige Tourismusaufkommen. Bei den Reiseführern hat Warnecke gewonnen! Wenn Sie zum neusten Buch zu Kephallenia und Ithaka greifen (2016 in der 4. Auflage erschienen),46 so können Sie da lesen (S. 92), die Kritik an Warneckes Paulus-These sei verstummt, seine These sei daher nun anerkanntes Wissen. Ich verfalle in den Ton einer Gegendarstellung: „Die Kritik ist zwar verstummt, aber nicht, weil die These sich durchgesetzt hätte, sondern weil sie bei Erscheinen [des Warneckeschen Buches] mehr oder weniger nachhaltig abgelehnt wurde und nun kaum mehr erwähnt wird.“47 So kommen wir also zu dem Ergebnis: Wir bleiben dabei: Μελίτη (Meli.t¯e) meint Malta, nicht Kephallenia!

* * * Der Rest der Reiseroute ist nicht mehr strittig; die Stationen lauten Syrakus (28,12), Rhegion (28,13) und Puteoli (28,13) – „und so kamen wir nach Rom“ (28,14b).48

Schluß 1. Der paulinische Rahmen in bezug auf das Mittelmeer ist umfassend: Er reicht von Damaskus bis Gades und umgreift damit den gesamten Umfang des Mittelmeers. 2. Paulus will nach Spanien, um ans Ende der Welt zu gelangen, damit der παρουσία (parousi.a) nichts mehr im Wege steht. 3. Er ist damit der einzige Missionar des Christentums im ersten Jahrhundert – von dem wir wissen –, der eine globale Perspektive aufweist.

Literatur Vgl. auch die im Beitragstext schon als Vollzitat gebotenen Titel (siehe oben, S. 97). — Becht, Sabine/Talaron, Sven (4 2016), Reiseführer Kefalonia & Ithaka, Erlangen. — Börstinghaus, Jens (2010), Sturmfahrt und Schiffbruch. Zur lukanischen Verwendung eines literarischen Topos in Apostelgeschichte 27,1–28,6 (WUNT 2/274), Tübingen. — Bunine, Alexis (2002), Une légende tenace: Le retour de Paul à Antioche après sa mission en Macédoine et en Grèce (Actes 18,18–19,1) (Cahiers de la Revue Biblique 52), Paris. καὶ ἰδοὺ κεχάρισταί σοι ὁ θεὸς πάντας τοὺς πλέοντας µετὰ σοῦ. 25 διὸ εὐθυµεῖτε, ἄνδρες· πιστεύω γὰρ τῷ θεῷ ὅτι οὕτως ἔσται καθ’ ὃν τρόπον λελάληταί µοι. 26 εἰς νῆσον δέ τινα δεῖ ἡµᾶς ἐκπεσεῖν.

46 Becht/Talaron 4 2016. 47 Philipp Pilhofer, per e-mail am 15. November 2016. 48 Im griechischen Original: καὶ οὕτως εἰς τὴν ῾Ρώµην ἤλθαµεν; als Buchtitel verwendet bei: Walaskay 1983.

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— Gräßer, Erich (2005), Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 8,1–13,13 (ÖTK 8/2), Gütersloh. — Haenchen, Ernst (16/7 1977), Die Apostelgeschichte (KEK III), Göttingen. — Hammond, Nicholas G. L. (Hg.) (1981), Atlas of the Greek and Roman World in Antiquity, Park Ridge/ New Jersey. — Kettenbach, Günter (2 1997), Das Logbuch des Lukas. Das antike Schiff in Fahrt und vor Anker (EHS.T 276), Frankfurt a. M./Berlin/Bern. — Koch, Dietrich-Alex (1999), „Kollektenbericht, ‚Wir‘-Bericht und Itinerar. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem“, in: NTS 45, 367–390. — Kratz, Reinhard (1981), Art. „θάλασσα“, in: EWNT II, Sp. 313–316. — Metzger, Henri (2 1956), Les routes de saint Paul dans l’Orient grec (CAB 4), Neuchâtel/Paris. — Moulton, William F./Geden, Alfred S. (5 1978), A Concordance to the Greek Testament According to the Texts of Westcott and Hort, Tischendorf and the English Revisers, Fifth Edition Revised by Harold K. Moulton, Edinburgh. — Pilhofer, Peter (1995), Philippi I. Die erste christliche Gemeinde Europas (WUNT 87), Tübingen. — Pilhofer, Peter (2010), Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung (UTB 3363), Tübingen. — Ramsay, W. M. (1907), The Cities of St. Paul. Their Influence on his Life and Thought. The Cities of Eastern Asia Minor, London. — Reiser, Marius (2001), „Von Caesarea nach Malta. Literarischer Charakter und historische Glaubwürdigkeit von Act 27“, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hg.), Das Ende des Paulus (BZNW 106), Berlin/New York, 49–74. — Reynier, Chantal (2003), La Bible et la mer (LiBi 133), Paris. — Reynier, Chantal (2006), Paul de Tarse en Méditerranée. Recherches autour de la navigation dans l’Antiquité (Ac 27–28,16) (Lectio divina 206), Paris. — Reynier, Chantal (2009), Saint Paul sur les routes du monde romain. Infrastructures, logistique, itinéraires (LiBi 155), Paris. — Seppelfricke, Agnes (1988), „Paulus war nie auf Malta“, in: Die Zeit Nr. 52 (23. Dezember), 33–34. — Suhl, Alfred (1975), Paulus und seine Briefe. Ein Beitrag zur paulinischen Chronologie (StUNT 11), Gütersloh. — Suhl, Alfred (1991), „Gestrandet! Bemerkungen zum Streit über die Romfahrt des Paulus“, in: ZThK 88, 1–28. — Suhl, Alfred (1992), „Zum Titel πρῶτος τῆς νήσου (Erster der Insel) Apg 28,7“, in: BZ 36, 220–226. — Talbert, Richard J. A. (Hg.) (2000), Barrington Atlas of the Greek and Roman World, Princeton/Oxford. — Walaskay, Paul W. (1983), „And so we came to Rome“. The Political Perspective of St. Luke (SNTS.MS 49), Cambridge u. a. — Warnecke, Heinz (2 1989), Die tatsächliche Romfahrt des Apostels Paulus (SBS 127), Stuttgart. — Warnecke, Heinz (2000), Paulus im Sturm. Über den Schiffbruch der Exegese und die Rettung des Apostels auf Kephallenia, mit einem Geleitwort von Walther Hinz und einem Beitrag von Thomas Schirrmacher, Nürnberg. — Wehnert, Jürgen (1989), „Vom neuesten Schiffbruch des Paulus. Wie »Die Zeit« auf ein haarsträubendes Buch hereinfiel“, in: LM 28, 98–100. — Wehnert, Jürgen (1990), „Gestrandet. Zu einer neuen These über den Schiffbruch des Paulus auf dem Wege nach Rom (Apg 27–28)“, in: ZThK 87, 67–99.

Die Wahl des Schiffes und ihre Motivik zur Zeit der Zweiten Sophistik Ein Beitrag zur Sinnbildhaftigkeit des gewählten Verkehrsmittels für den Charakter einer Reise innerhalb kaiserzeitlicher Gelehrtenbiographien Christian Fron (Heidelberg) Einleitung Dass die günstigen Gegebenheiten der Kaiserzeit eine weitumfassende Mobilität innerhalb der Grenzen des Imperium Romanum begünstigten, ist von jeher bekannt und wird auch in der antiken Literatur entsprechend reflektiert.1 Demgemäß findet sich in der kaiserzeitlichen Literatur auch eine große Vielzahl an Verweisen auf die eigene oder auch die fremde Mobilität. Diese Reisetätigkeit offenbart sich dabei weit häufiger lediglich durch den bloßen Verweis auf den Aufenthalt einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort und den Bericht der dortigen Ereignisse. Entsprechende Anmerkungen zur Reiseroute, dem gewählten Verkehrsmittel sowie nähere Details zu den Erlebnissen während der Fahrt fehlen hingegen meistens. Die Reise selbst erscheint vielmehr lediglich als linear, vom Ausgangspunkt zu dem gewählten Zielort. Der Grund für diese Lückenhaftigkeit in der Darstellung ist recht naheliegend. Damals wie heute gehörten die Reise selbst und deren Gegebenheiten zu den Selbstverständlichkeiten des Lebensalltages, deren nähere Erläuterung – mit Ausnahme eventueller Devianten – üblicherweise literarisch nicht eigens verarbeitet werden musste.2 Daher ist es durchaus reizvoll, die nur gelegentliche Erwähnung der von einzelnen Protagonisten in spezifischen Situationen gewählten Verkehrsmittel und die dieser Angabe zugrundeliegende Motivik und mobile Kollektivsymbolik3 innerhalb der Literatur der Zweiten Sophistik einmal eingehender zu untersuchen. Mit welchen Attributen wurde die Fahrt auf dem Landweg üblicherweise verbunden, welche charakteristischen Merkmale besaß wiederum die Fahrt auf dem Schiff? In welcher Weise 1 Siehe etwa Casson 1976, besonders 135–149, Giebel 1999, 131–214, André/Baslez 1993, 119–166 und Friedländer 10 1922, 318 sowie Skeel 1901, 10f. Siehe ebenfalls Plin. nat. 2,117 und 17,66, Plin. epist. 8,20, Hor. epist. 1,11, Tac. Ann. 2,53, Sen. De Tranq. 2, Plut. mor. 408B sowie 469E. Sehr detailliert und in den wesentlichen Ausprägungen durchaus zutreffend gibt Aelius Aristides in seiner Romrede von den günstigen Gegebenheiten des Reisens Auskunft (or. 26, insbesondere 100–102). 2 Exemplarisch bemerkt etwa Morgan 2007, 145 im Falle der Kallirhoe des Chariton von Aphrodisias: „[. . . ] he shows virtually no interest in the process of how they [his characters, C. F.] get from place to place. The majority of Chariton’s journeys take place out of view, as it were, and nothing of much note happens in the course of them.“ Selbige Beobachtung ließe sich nicht nur auf Philostratos’ Sophistenbiographien, sondern auch auf zahlreiche weitere kaiserzeitliche literarische Werke, außerhalb des eigentlichen Feldes der Reiseliteratur und des sich in der hohen Kaiserzeit weiter ausbildenden Romans, übertragen. 3 Einige Beispiele für die Kollektivsymbolik von Mobilität am Beispiel der Kutsche und Eisenbahn mitsamt einer eingehenderen und treffenden Definition des Terminus „Symbol“ bietet Link 1998. Link versteht unter Kollektivsymbol „ein Symbol mit umfangreichem kollektivem Träger“ (ebd., 386).

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konnte somit die bloße Erwähnung eines Verkehrsmittels innerhalb eines literarischen Werkes für den Leser als Sinnbild für den Charakter einer Reise betrachtet werden? Dabei geht es mir bewusst um die reale Reise auf dem Schiff selbst und nicht um die allgemeine Symbolik des Schiffes in der Antike.4 Zur besseren Eingrenzung des Themas werde ich mich dabei im Folgenden vornehmlich auf die kaiserzeitlichen Gelehrtenbiographien und vornehmlich auf solche von Vertretern der Kultur der Zweiten Sophistik beschränken. Zusätzlich werde ich mich entsprechend des Oberthemas dieses Bandes insbesondere auf die dortige Wahrnehmung von Schiffsreisen fokussieren, wobei der Landweg hier häufig als Konterpart und Gegenbild zu sehen ist und somit notwendigerweise häufig miteinbezogen werden muss. Von besonderem Interesse sind dabei solche Reiseziele, die vom Ausgangspunkt sowohl auf dem Landweg wie auch auf dem Seeweg erreicht werden konnten und bei denen über die Wahl des Verkehrsmittels reflektiert wurde. Zur besseren Illustration der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Landund Seereisen soll daher mit einem solchen Exempel begonnen werden.

1. Eine Unterscheidung in der öffentlichen Wahrnehmung von Schiffsreisen und Fahrten über Land Einen ersten Einstieg in das Thema ermöglicht eine direkte Gegenüberstellung der beiden Reisearten, wie sie Ende des dritten nachchristlichen Jahrhunderts von Menander Rhetor vorgenommen wird. Im Rahmen seiner Behandlung der propemptischen, also einen Freund verabschiedenden Reden gibt er folgende Hinweise: Ferner wirst du nach all diesem verlangen, dass er an den früheren Umgang miteinander, die Zuneigung und die Freundschaft denkt, sowie, dass er das Leid der Entfernung durch Erinnerungen sowie durch Worte [vermutlich Briefe, C. F.] mildert. Wenn er eventuell auf dem Landweg reisen will, beschreibe den Weg und das Land durch welches er reist; wenn es sich trifft, dass er durch Thrakien kommt, wird er sich in der Lage befinden, gelobt, empfangen und wegen seiner Reden bewundert zu werden, und so auch in Lydien und Phrygien. Wenn er allerdings den Seeweg nehmen sollte, wirst du dir die Meeresgottheiten, den ägyptischen Proteus, Glaukos von Anthedon und Nereus in Erinnerung rufen, welche ihn begleiten und mit dem Schiff ziehen, wobei auch Delphine und Wale Glück wünschen, die mal freundlich grüßen, mal sich entfernen, weil Poseidon sein Schiff lenkt. Das Schiff aber soll eilen, weil es einen fast schon göttlichen Mann trägt, bis du ihn wohl in der Rede zum Hafen heranführst [. . . ].5 4 Siehe etwa Hilgert 1962 oder Kettenbach 1994. Dazu gehört ebenfalls die Symbolik des Steuermanns in der antiken Philosophie; siehe Kaiser 1954. Des Weiteren wäre hier ebenfalls die Symbolik des Schiffbruchs zu nennen; siehe hierzu etwa: Dunsch 2013 sowie zudem Blumenberg 1979 und Börstinghaus 2010. 5 εἶτα ἐπὶ τούτοις ἅπασιν ἀξιώσεις αὐτὸν μεμνῆσθαι τῆς πάλαι συνηθείας, τῆς εὐνοίας, τῆς φιλίας, καὶ παραμυθεῖσθαι τὴν ἀπόστασιν μνήμαις καὶ λόγοις, κἂν μὲν πεζεύειν μέλλῃ, διάγραφε τὴν ὁδὸν καὶ τὴν γῆν δι’ ἧς πορεύεται, οἷος μὲν ἔσται, ἐὰν οὕτω τύχῃ, διὰ τῆς Θράκης διϊών, ἐπαινούμενος καὶ προπεμπόμενος, ἐπὶ τοῖς λόγοις ϑαυμαζόμενος, οἷος δὲ διὰ Λυδίας καὶ Φρυγίας· ἐὰν δὲ διὰ ϑαλάττης ἀνάγηται, ἐκεῖ σοι μνήμη ϑαλαττίων ἔσται δαιμόνων, Αἰγυπτίου Πρωτέως, Α ᾿ νθηδονίου Γλαύκου, Νηρέως, προπεμπόντων τε καὶ συνθεόντων τῇ νηΐ, καὶ συνηδομένω δελφίνων τε ἅμα καὶ κητῶν, τῶν μὲν σαινόντων, τῶν δὲ ὑποφευγόντων, ὡς Ποσειδῶνος αὐτοῦ τὴν ναῦν προπέμποντος· ἡ δὲ ναῦς ϑείτω ϑεοῖς ἐναλίγκιον ἄνδρα φέρουσα, ἕως ἂν προσαγάγῃς αὐτὸν τοῖς λιμέσι τῷ λόγῳ [. . .] (Men. Rhet. II 398,26–399,10).

Vgl. zur Topik eines Propemptikon auch den Beitrag von Helmut Krasser im vorliegenden Band (siehe unten, S. 158f. und S. 162f.).

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Versteht man die Passage so, dass hier zwei mögliche Wege zu einem gleichbleibenden Reiseziel sowie die zu der Wahl des Reiseweges jeweils passende rhetorische Darstellung wiedergegeben sind, dann handelt es sich wahrscheinlich um eine Reise vom griechischen Festland nach Kleinasien.6 Bei dem zu umgehenden oder mit dem Schiff zu überquerenden Meer handelt es sich somit um die Ägäis. Als Zwischenstationen werden Thrakien, Lydien und Phrygien angegeben. Während Thrakien nur auf dem Landweg angesteuert wird, bilden Lydien und Phrygien auch bei der maritimen Überquerung der Ägäis (vermutlich mit Halt in Ionien) notwendige Zwischenstationen in das kleinasiatische Binnenland. Die stark voneinander abweichenden Darstellungen der beiden optionalen Reisewege sind als repräsentativ für die Unterschiede der allgemeinen und rhetorisch verdichteten Wahrnehmung zwischen Landreisen und Seereisen zu werten. Die Beschreibung der Landreise nimmt die erste Hälfte der obigen Passage ein. Der Übergang zur Darstellung der Schiffsroute wird von Menander Rhetor geschickt über die den beiden Wegoptionen gemeinsamen Stationen Lydien und Phrygien gebildet. Darauf folgt die Beschreibung der allgemein erwarteten Reiseerfahrungen bei der Wahl des Seeweges. Die Landreise ist geprägt durch eine genau zu verfolgende und sich klar abzeichnende Route, deren einzelne Stationen es zu beschreiben gilt (διάγραφε τὴν ὁδὸν καὶ τὴν γῆν δι’ ἧς πορεύεται). Das von Menander Rhetor gewählte wesentliche Kriterium bei der Qualifizierung und Darstellung dieser Einzelstationen wird am Beispiel von Thrakien klar formuliert: Bei der Landreise konnte sich der Gelehrte, in diesem Fall ein junger Sophist, der Öffentlichkeit präsentieren und seine Reise entsprechend zelebrieren. Es ging um die Bewährung als Redner, die sich in einem entsprechenden Empfang durch die jeweilige Polisgemeinschaft7 und deren Würdigung der rhetorischen Leistungen gegenüber dem reisenden Sophisten manifestierte. Ein entsprechendes Exempel einer solchen Reise liefert Libanios in seiner Autobiographie (Lib. or. 1,27–34). In Begleitung seines Jugendfreundes Crispinus von Herakleia reiste Libanios auf dem Landweg von Athen zu dessen Heimatpolis im kleinasiatischen Bithynien. Die Reise wird gemäß der Darstellung des Libanios zu einer Siegestour der beiden aufstrebenden Sophisten und natürlich vornehmlich des Libanios selbst, die „begleitet von Lob und Ruhm sowie als Euergeten Athens bezeichnet“ (ἐπαινούμενοί τε καὶ μακαριζόμενοι τῶν τε Α ᾿ θηνῶν εὐεργέται προσαγορευόμενοι, Lib. or. 1,29) von Stadt zu Stadt ziehen und sich gegenüber etablierten Sophisten bewähren.8 Anders wiederum verhält es sich bei der Reise auf der Ägäis. Hier winkt dem Reisenden gemäß der Darstellung des Menander Rhetor kein Ruhm. Die Ägäis ist ein gelegentlich sehr stürmisches Meer,9 dessen vor allem kleinere Inseln in der Kaiserzeit als oftmals weitestgehend verlassen wahrgenommen werden und sich daher bei den Kaisern als Exilorte großer Beliebt6 Wie auch die beiden Kommentatoren Russell und Wilson bereits anmerkten, handelt es sich höchstwahrscheinlich um zwei unterschiedliche Wege von Athen zu einem nicht näher genannten Ziel (vermutlich Laodikeia) im inneren Kleinasien; siehe Russell/Wilson 1981, 308. 7 Eine entsprechende Analogie zu sonst nur bei Kaisern bekannten Adventus-Szenen liefert etwa Aelius Aristides; siehe Aristeid. or. 48,81f. sowie 51,29 und Philostr. Apoll. 4,1. Zum passenden Empfang vor Ort siehe wiederum Aristeid. or. 51,29–34. 8 Siehe hierzu etwa Fron 2017, insbesondere 169–174. 9 Siehe etwa Aristeid. or. 44 und or. 50,31f. sowie 33–36. Siehe zudem Dion Chrys. 7,2, Lib. or. 1,32 sowie Cic. Att. 5,12.

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heit erfreuen.10 Dennoch bildete die Ägäis auch weiterhin ein wichtiges Bindeglied vor allem zwischen Griechenland und Kleinasien.11 Der Kontakt mit Menschen wird in der Darstellung des Menander Rhetor für die Schiffspassage allgemein völlig ausgeklammert. Vielmehr ist der Reisende aufs Engste auf die Gunst der maritimen Götter und der mit ihnen verbundenen und die göttliche Gunst repräsentierenden Meerestiere angewiesen. Deren heraufbeschworene Präsenz während der Reise dient vornehmlich dem Zweck, die auf dem Meer auch weiterhin allein auf die göttliche Hilfe und Beistand zurückgeführte sichere Fahrt über die Ägäis zu gewährleisten.12 Auf dem Meer war der Reisende weit mehr noch als auf dem Landweg den Naturgewalten ausgesetzt. Ihm bleibt gemäß der Darstellung von Menander Rhetor somit kein langer Aufenthalt auf dem per se menschenfeindlichen Meer zu wünschen, sondern vielmehr, dass er diesen Raum schnell wieder verlässt.13 Tatsächlich dürfte die Reise im Idealfall nicht allzu lange gedauert haben: Lionel Casson (1976, 175) gibt an, dass man die Route von Athen oder Korinth nach Ephesos oder Smyrna selbst mit einem langsamen Schiff problemlos innerhalb von drei oder vier Tagen bewältigen konnte. Damit bietet sich dem Leser zugleich der hauptsächliche Vorteil bei einer Reise zur See. Mit dem Schiff war der Reisende deutlich schneller am Ziel als auf dem umständlichen Landweg.14 Allerdings verließ man auf dem Schiff zugleich die

10 Die Bedeutung dieser Inseln in der Kaiserzeit beschreibt Friedländer 10 1922, 414 folgendermaßen: „Die Inseln der Ägäischen Meeres, einst blühend und volkreich, nun verödet und zum Teil von Verbannten bewohnt, boten den Vorüberfahrenden reichlichen Stoff zu Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen; um so weniger luden sie zum Aufenthalt ein.“ So beschreibt beispielsweise Antipatros von Thessaloniki die Situation von Delos nach dem Mithradatischen Krieg wie folgt: „Manches griechische Schiff segelt an Delos vorbei, das so geehrt war und heute verwüstet ist. Spät zwar, doch furchtbar hat nun Hera sich doch noch an Leto gerächt“ (Anth. Gr. 9,408: ὅσσαις ῾Ελλήνων νηυσὶ παραπλέομαι/∆ῆλος ἐρημαίη, τὸ πάλαι σέβας· ὀψέ πῃ ῞Ηρη /Λητοῦς, ἀλλ’ οἰκτρὴν τήνδ’ ἐπέθηκε δίκην, übers. nach Beckby). Siehe ebenfalls Anth. Gr. 9,421 sowie zu Delos in der Kaiserzeit Paus. 8,33,2. Beschönigender hinsichtlich der Ägäis jedoch Aristeid. or. 44,9. 11 Siehe etwa: Aristeid. or. 44,18 sowie Philostr. soph. 1,25,2; 532 sowie Lib. or. 1,15f. und schließlich Eun. vit. 10,1,4– 12; 485f. Siehe zudem SIG3 838. Zu der Situation der Ägäischen Inseln sowie ihren Verbindungen zum Festland in klassischer und hellenistischer Zeit liefern etwa die Untersuchungen von Brun 1996, Buckler 2003 sowie Constantakopoulou 2007 ein etwas detaillierteres Bild. Eine entsprechende Studie, welche darüber hinaus historisch-geographische Fragestellungen mitberücksichtigt, fehlt meines Wissens allerdings bislang insbesondere für die frühe und hohe Kaiserzeit. 12 Diese enge Bezugnahme auf göttliche Sphären bei der Seefahrt äußert sich ebenfalls bei den zahlreichen guten und schlechten maritimen Omina; siehe hierzu Wachsmuth 1967. Entsprechend dankte etwa auch Aelius Aristides in einer eigenen Rede dem Zeus Sarapis für die geglückte Rückreise und die Rettung aus einem Sturm (Aristeid. or. 45, insbesondere 13). Später erschien dann Asklepios als Retter in der Seenot; Aristeid. or. 42,10. Zu dessen Sicht auf das Meer siehe ebenfalls Aristeid. or. 47,2; or. 50,37. Siehe zudem das sehr eindrückliche Reisegebet bei Anth. Gr. 6,349. Diese besondere Ehrfurcht gegenüber dem Meer zeigt sich zudem in alljährlichen rituellen Handlungen, die jeweils die Schifffahrtssaison einläuten; siehe etwa Philostr. soph. 1,25; 530f. Zur Ehrfurcht und gleichzeitigen Faszination gegenüber dem Meer in der Antike siehe etwa Schulz 2005, 207–223. 13 Zu den generell negativen Wahrnehmung des Meeres siehe Schulz, 207–210. Entsprechend zählte Antipatros von Tarsos, ein Zeitgenosse von Cicero, eine gelungene Fahrt von Kilikien nach Athen zu den besonderen Glücksfällen seines Lebens (Plut. Mor. 469D). 14 Siehe etwa Fronto Ad. M. Caes. i, 6,4 (Naber, p. 13), wo die verschiedenen Möglichkeiten, um möglichst rasch ans Ziel zu kommen, in folgender Reihenfolge aufgeführt werden: 1. per Schiff, 2. auf dem Rücken eines Pferdes, 3. via cursus publicus. Einige Superlative bietet ebenfalls Plin. nat. 19,3f.

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eigentliche Gesellschaft der Menschen und begab sich in die Domäne der Götter.15 Entsprechend konnte von einem kaiserzeitlichen Literaten etwa die Odyssee als Analogie zur Beschreibung der eigenen Reiseerfahrungen herangezogen werden.16

2. Die Seefahrt als kurzfristiges Heraustreten aus der Gesellschaft der Menschen und ihre Folgen Befand ein Pepaideumenos sich während einer Landreise in der steten Öffentlichkeit und trat in diesem Sinne auch auf,17 so besaß die Schiffsreise eine gewisse Anonymität. Ein entsprechender literarischer Konnex zwischen Anonymität und der Wahl des Schiffes als Verkehrsmittel ergibt sich etwa innerhalb der Biographien des Philostratos. So berichtet er in seinen βίοι σοφιστῶν, dass Protagoras von Abdera vermeintlich auf seiner Flucht vor den Athenern und bei dem Versuch deren Trieren zu entfliehen mit einem ausdrücklich kleinen Boot (ἐν ἀκατίῳ μικρῷ), als Symbol für besondere Unscheinbarkeit, sank und ertrank (soph. 1,10; 494). Ebenso verließ Proklos von Naukratis seine Heimatstadt und die dortigen Streitigkeiten heimlich mit dem Schiff (ὑπεκπλεύσας), um mit einem großen, mitgenommenen Hausstand in Athen eine neue Heimat zu finden (soph. 2,21; 603). Besonders eindrücklich ist schließlich die Begebenheit, dass Hippodromos von Larissa bei seiner Reise nach Smyrna, das er noch nie zuvor besucht hatte, die Schiffsroute wählte und dort folgerichtig absolut inkognito an einer Unterrichtseinheit des Megistias von Smyrna teilnehmen konnte (soph. 2,27,5; 618f.).18 Dementsprechend erscheint das Schiff ebenfalls im Kontext der Flucht, was etwa sowohl das obige Exempel des Proklos von Naukratis wie auch ein weiteres Zeugnis aus der romanhaften Vita des Apollonios von Tyana des Philostratos belegen. So rät der Kyniker Demetrios dem Protagonisten Apollonios zu einer raschen Flucht vor der Verfolgung Domitians nicht auf dem Land-, sondern vielmehr auf dem Seeweg und in die „Peripherie“ (Philostrat. Apoll. 7,12).19 Einen großen Vorteil für die Anonymität bildet dabei der Umstand, dass es sich bei dem Schiff um ein Transportmittel für größere Menschenmengen handelte.20 Kam auf dem Landweg dem Individuum größere

15 Siehe ebenfalls Hilgert 1962, 22 mit weiteren Verweisen etwa auf Lib. or. 21,17. Vgl. dazu im vorliegenden Band auch die Beiträge von Jens Börstinghaus (siehe unten, S. 209–225), Bernadette Descharmes (siehe unten, S. 191– 206) und Matthias Schmidt (siehe unten, S. 229–251). 16 Aristeid. or. 48,64–68. Zu den speziellen Bezügen zu Odysseus und deren Bedeutung in den ἱεροὶ λόγοι siehe auch Holmes 2008, insbesondere 81f. 17 Siehe Sen. epist. 123,7, wobei die Bediensteten sicherlich auch die Funktion hatten, auf die Person selbst und nicht nur auf deren Stand hinzuweisen. Zum gewählten Reiseluxus siehe etwa Philostr. soph. 1,25,2; 532, Sen. epist. 123,6, Amm. 14,6,9, Philostr. soph. 2,10,4; 589, Apul. met. 10,18,3f. sowie Friedländer 10 1922, 343f. 18 Dieselbe Szenerie ergibt sich auch im Falle von Markos von Byzanz (Philostr. soph. 1,24,1; 529), wobei die Motivik des Schiffs erneut Verwendung findet, diesmal allerdings für die Enttarnung des Sophisten von Bedeutung ist. 19 Zur Motivik von Zentralität und Peripherie innerhalb der Apolloniosbiographie siehe Elsner 1997, insbesondere 32–34 sowie nun Abraham 2014. 20 Die Anzahl der Passagiere auf solchen Schiffen konnte auf langen Reisen bis auf 600 anwachsen (Ios. vita 15). 276 Passagiere sind es hingegen bei der Fahrt des Paulus nach Rom (Apg 27,37).

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Bedeutung zu, so konnte der Einzelne auf dem Schiff leicht untertauchen.21 Auch die antiken Quellen berichten von eher unverfänglichen Beschäftigungen der Reisenden, wie Würfeln, Singen und Schmausen.22 Darüber hinaus bildete das Schiff einen isolierten Raum, der für die Dauer der Reise – mit Ausnahme entsprechender Zwischenaufenthalte an diversen Häfen – von der sonstigen Welt und den dortigen Kommunikations- und Informationswegen abgeschnitten war. Eine eventuell dennoch erfolgende entsprechende Selbstdarstellung des Reisenden musste sich somit lediglich auf den über einen längeren Zeitraum konstanten Adressatenkreis der Mitreisenden beschränken. Mit derselben Motivik des Heraustretens aus der Gesellschaft, allerdings in seiner Verkehrung, arbeitet Philostratos in seiner Darstellung der Vita des Apollonios von Tyana. Damit der Protagonist auf seiner Erkundungsfahrt der – durch die griechische Paideia und die Ideale der Kultur der Zweiten Sophistik entscheidend mitgeprägten und erschlossenen – Welt23 die notwendigen Wechsel der großen Handlungsorte mit dem Schiff nicht allein zu durchleben hat und während dieser Reisen der gelehrten Öffentlichkeit nicht verlustig zu gehen droht, wird von Philostratos genau an mehreren dieser Stellen ausdrücklich auf die große Zahl der Anhängerschaft hingewiesen. Diese macht gelegentlich sogar die Wahl eines größeren Schiffes als ursprünglich eingeplant erforderlich – so im Falle des Wechsels von Kleinasien nach Griechenland, wo ihn eine große Menge begleiten will, weil sie sich von ihm göttlichen Schutz erhofft (Apoll. 4,13), oder bei der Überfahrt vom Kap Malea nach Kreta und von dort nach Rom, wo von den zahlreichen Schiffen, die dorthin segeln, dasjenige gewählt werden muss, das ausreichend groß für seine „Gemeinde“ (κοινόν), also seine Begleiter und deren Sklaven, ist (Apoll. 4,34).24 Entsprechend gestaltet sich auch die Ankunft des Apollonios im Hafen keineswegs anonym, sondern erregt die unmittelbare Aufmerksamkeit der ägyptischen Stadtbevölkerung (Apoll 5,24). Darüber hinaus konnte mit dem Heraustreten aus der Gesellschaft der Menschen eine gewisse Heimlichkeit von Unternehmungen verbunden werden. Einen eindrücklichen Beleg hierfür 21 Zur Kommunikation während der Landreise siehe etwa Lib. epist. 762F oder auch Apul. Met. 1,21. Entsprechend kann Bourry 1996 darauf verweisen, dass der große Unterschied in der Bahnreise im Gegensatz etwa zur damaligen Postkutsche in der nun ausbleibenden Kommunikation und der Bevorzugung einer entsprechenden Bahnlektüre bestand (ebd., 214f.). So attestiert auch er: „Das Reisen in einem Massenverkehrsmittel ist von Anonymität geprägt, was den Rückzug auf sich selbst zu fördern scheint“ (ebd., 215). 22 Dion Chrys. 3,63. Die Passivität dieser Reiseart zeigt sich nach Dion von Prusa zudem darin, dass der Passagier noch nicht einmal zu wissen brauchte, wo auf der Welt er sich gerade befand. Weitere Informationen über die literarischen Beschäftigungen auf Schiffsreisen bieten Ov. trist. 1,11,1–6; 9–10 sowie Cic. Att. 5,12. Gelehrtengespräche im engen Kreis der Freunde belegen wiederum: Gell. 2,21,1–3 sowie Nikolaos von Damaskos (FGrHist 90 F135 Jacoby), Philostr. Apoll. 4,11–16, Plut. mor. 503A und Plat. Hipp. Min. 368B–E. Zu Büchern auf Reisen vgl. Martial 1,2; 14,188, Apul. apol. 63,2, Philostr. Apoll. 6,3 und Iul. epist. 12 Weis. 23 Zu dieser sehr selektiven Beschreibung der Welt des Apollonios von Tyana im Werk des Philostratos anhand von dessen Reisestationen siehe Bowie 2013. Zu der symbolischen Bedeutung des Reisethemas innerhalb der Apolloniosbiographie des Philostratos siehe bereits Elsner 1997. Den engen Bezug zur griechischen Paideia beim Reisen verdeutlicht insbesondere eine zentrale Passage im ersten Buch der Apolloniosbiographie: σοφῷ ἀνδρὶ ῾Ελλὰς πάντα καὶ οὐδὲν ἔρημον ἢ βάρβαρον χωρίον οὔτε ἡγήσεται ὁ σοφὸς οὔτε νομιεῖ ζῶν γε ὑπὸ τοῖς τῆς ἀρετῆς ὀφθαλμοῖς (Philostr. Apoll. 1,35,2).

24 Diese Anhängerschaft hat dabei großes Interesse an den prophetischen Gaben des Apollonios und dessen göttlichem Schutz, die ihn auch auf dem Meer vor Unheil bewahren; siehe ebenfalls Philostr. Apoll. 5,18.

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liefert die Beschreibung von der Ankunft des jungen Eunapios aus Sardeis in Athen.25 Innerhalb des in Athen außerordentlich aggressiv ausgefochtenen Konkurrenzkampfes zwischen den einzelnen sophistischen Lehrern der Polis verschaffte sich Prohairesios von Kaisareia gegenüber seinen Kontrahenten einen Vorteil. Da tagsüber Schlägertrupps am Hafen neue Schüler für die jeweiligen Sophisten zwangsrekrutierten,26 wurden einige der aus Asien kommenden Schüler mitten in der Nacht eingeschifft und direkt zu Prohairesios geführt.27 Eine Andeutung einer solchen Heimlichkeit findet sich in einem der sogenannten Briefe des Apollonios von Tyana an seinen philosophischen Gegenspieler Euphrates von Tyros:28 Du hast von Syrien aus nach Italien die Provinzen bereist, wobei du dich selbst offen in sprichwörtlich königlichen Gewändern zur Schau gestellt hast. Auf einmal besaßest du einen abgetragenen Mantel sowie einen langen weißen Bart, ansonsten nichts. Wie kommt es, dass du nun auf dem Seeweg zurückkehrst, wobei du ein Frachtschiff angefüllt mit Silber, Gold, mannigfaltigen Hausgerätschaften, kunstvoller Kleidung, aller übrigen Formen der Ausschmückung, Einbildung sowie Prahlerei und Raserei mit dir führst?29

Die Kritik besteht dabei nicht alleine darin, dass der Stoiker Euphrates am Zielort ein anderes Verhalten an den Tag legt als während der Reise. Zugleich steht die jeweilige Wahl des Verkehrsmittels stellvertretend für die öffentliche Selbstdarstellung oder auch deren Ausbleiben. Verlief die Hinreise noch auf dem Landweg durch die einzelnen Provinzen und somit mit einer öffentlichen Zurschaustellung von Pracht in Gestalt von sophistisch anmutender Kleidung,30 so präsentierte sich Euphrates in Rom selbst in der für einen Philosophen weit eher angebrachten Armut.31 Demgegenüber will der Verweis auf die Rückkehr über die Schiffsreise andeuten, dass der Philosoph sich nun klammheimlich und mit noch größeren Reichtümern beladen aus Rom entfernte. Während der Reisende bei einer Landreise der Gesellschaft stets gegenwärtig blieb, verschwand er bei einer Schiffsreise für die Dauer der Fahrt aus ihr, nur um an einer völlig anderen Stelle wieder in ihr zu erscheinen. Entsprechend bot die Heimlichkeit und der Mikrokosmos des Schiffes auch die einzige Gelegenheit für den sich öffentlich als Kyniker gerierenden Peregrinus Proteus, um ein dort ungestörtes Leben in Üppigkeit auf der Fahrt (ἐν τῷ πλῷ τρυφήν) samt Liebesknaben zu führen und sich auch ansonsten unphilosophisch zu verhalten (Lukian. Peregr. 43). Demgemäß ist es auch allein dem Umstand, dass Lukian nach Eigenaussage als Mitreisender selbst Augenzeuge der Ereignisse war, zu verdanken, dass dieses Fehlverhalten zumindest auf literarischem Wege der Öffentlichkeit kenntlich gemacht wurde. 25 26 27 28

Zur Person des Eunapios siehe Janiszewski 2015. Siehe Lib. or. 1,16. Siehe hierzu Eun. vit. 10,1,4–12; 485f. sowie Watts 2006, 57 und Buck 1987. Siehe zu dem Brief ebenfalls den Kommentar bei Penella 1979, 91–93. Die Authentizität der Briefe ist für jeden Brief einzeln zu beurteilen, jedoch wird jeder vor oder im fünften Jahrhundert entstanden sein und spiegelt durchaus weit verbreitete Ansichten respektive Stereotypen zur Sichtweise eines Philosophen dieser Zeit wider; siehe zur Datierung Penella 1979, 23–29.

29 ᾿Επῆλθες ἔθνη τὰ μεταξὺ τῆς ᾿Ιταλίας ἀπὸ Συρίας ἀρξάμενος, ἐπιδεικνὺς σεαυτὸν ἐν ταῖς τοῦ βασιλέως

λεγομέναις διπλαῖς. Τρίβων δέ σοι πότε καὶ πώγων λευκὸς καὶ μέγας, πλέον δὲ οὐδέν. εἶτα πῶς διὰ ϑαλάττης νῦν ὑποστρέφεις, ἄγων φορτίδα μεστὴν ἀργυρίου, χρυσίου, σκευῶν παντοδαπῶν, ἐσθήτων ποικίλων, κόσμου τοῦ λοιποῦ, τύφου καὶ ἀλαζονείας καὶ κακοδαιμονίας; (Apoll. Ty. epist. 3).

30 Siehe Dion Chrys. 12,5, Lukian. rh. pr. 15, Philostr. soph. 2,5,3; 571 sowie 2,30; 623. 31 Siehe etwa: Dion Chrys. 7,8f. sowie Dion Chrys. 13,10f. Zur Kleidung von Philosophen als Erkennungsmerkmal siehe ebenfalls Philostr. Apoll. 6,3.

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3. Die Schiffsreise und die räumliche Distanz Zudem gewährte die Reise eine rasche räumliche Distanz zum vorherigen Abfahrts- und Handlungsort.32 So wird aus einem anderen Brief aus dem sogenannten Corpus von Apollonios von Tyana ersichtlich, dass als Zielort der von Rom ausgehenden Schiffsreise des Euphrates das weit entfernte kilikische Aigai genannt wird (Apoll. Ty. epist. 7). Selbstverständlich steht dieser Aspekt der Schiffsreise in engem Zusammenhang mit den Motiven der Flucht sowie der hohen Geschwindigkeit, bei denen dem Aufbau einer raschen räumlichen Distanz ebenfalls eine immense Bedeutung zukam und die ebenfalls als Beleg für diesen Aspekt des antiken Schiffsmotivs herangezogen werden können. Zudem erlaubt die Schifffahrt – wie ebenfalls im antiken Roman und dort zumeist verbunden mit einem Hinweis auf günstigen Wind als Symbol für die sichere Reise und das rasche Vorankommen – die Verbindung und den Übergang zwischen räumlich weit entfernen Handlungsorten und Handlungssträngen.33 So verknüpft die Reise mit dem Schiff etwa die Fahrten Solons von Athen nach Kreta und nach Ägypten miteinander (Diog. Laert. 1,43). Die Distanzangabe einer Schiffsreise dient Eunapios auch als Ausdruck für die große räumliche Trennung zwischen dem Neuplatoniker Aidesios und dessen Schüler Priskos (Eun. vit. 7,1,14; 474). Zudem verband die Schiffsreise auch diejenigen Orte mit der klassischen griechischen Welt, die, wie Alexandria, von dieser ansonsten geographisch weiter entfernt waren (Eun. vit. 20,1,5; 498). Umgekehrt konnte der Hinweis darauf, noch nie eine Schiffsreise begangen zu haben, ebenfalls sinnbildlich für die Verbundenheit mit der eigenen Heimat und dem Bezug auf das Lokale stehen. Ebenjenes Umstandes brüstete sich mit entsprechenden Verweisen auf das Meer und die Schifffahrt der Sophist Aelian von Rom (Philostr. soph. 2,31; 625). Zweifelsfrei sind derartige Verkündungen im Kontext der auf Rom fokussierten Politik des Kaisers Antoninus Pius und in Abgrenzung von dessen Vorgänger Hadrian zu sehen.34

4. Die Qualität der Schiffsreise und der Transport von Gütern Jenseits der angedeuteten Heimlichkeit verdeutlicht der oben behandelte Brief des Apollonios von Tyana (epist. 3) zudem ein weiteres Charakteristikum der Reise mit dem Schiff: das durch dieses Verkehrsmittel ermöglichte Volumen beim Transport großer Güter. In der Tat wird die Verschiffung von Gütern (nicht zuletzt aufgrund des größeren Volumens der durch ein Schiff zeitgleich zu transportierenden Güter) aus wirtschaftshistorischer und allgemeinökonomischer Sicht als kostengünstigere Transportmöglichkeit betrachtet.35 Entsprechende Anspielungen auf die Höhe des Transportvolumens finden sich gelegentlich ebenfalls. Aelius Aristides verweist 32 Genau darum geht es etwa Cicero bei seiner überstürzten Abreise, vgl. zur Abreise des Cicero den Beitrag von Christian Hellwing im vorliegenden Band (siehe oben, S. 85–92). 33 Siehe Morgan 2007. Dort heißt es zur Reise als Mittel der Unterteilung einer Geschichte in verschiedene Abschnitte: „Travel, we might say, provides form rather than content“ (ebd., 141). Ein Exempel für derartige Handlungsüberleitung durch rasche Fahrt nach Ionien, mit Zwischenhalt in Paphos und den Zwischenstationen Seleukeia und Zypernfindet sich bei Philostr. Apoll. 3,58. Zu Verweisen auf den günstigen Wind siehe beispielsweise Philostr. Apoll. 5,21 sowie 3,52. 34 Zu Antoninus Pius siehe SHA, Antoninus Pius 7,10f. Zu Hadrian wiederum SHA Hadr. 17,8. 35 Siehe etwa Finley 1973, 126–7; Duncan-Jones 1974, 1; Garnsey/Saller 1987, 44; 90. Siehe hierzu ferner Laurence 1998, hier 125, der sich gegen eine daraus häufig resultierende Geringschätzung des Landtransportes wendet.

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im Rahmen seiner krankheitsbedingten Rückreise von Rom zurück nach Smyrna im Jahre 143 n. Chr.36 gesondert auf folgenden Umstand: „Zu Land zwar ging es nicht, denn mein Leib konnte die Erschütterung nicht ertragen, aber wir versuchten es mit der Seefahrt. Von den mitgenommenen Zugtieren waren die einen dem rauen Winter erlegen, die überlebenden verkauften wir.“37 Bereits über seine beschwerliche Hinreise nach Rom im Januar 143 n. Chr. auf dem in den stürmischen Wintermonaten sichereren Landweg über die Via Egnatia nach Dyrrhachion und von dort aus per Schiff und über die Via Appia nach Rom, wo er vom April bis September blieb und seine berühmte Lobrede auf die römische Herrschaft hielt, gibt Aelius Aristides selbst ausführliche Auskünfte (or. 48,60–62). Die obige Passage dient der Rechtfertigung für die Entscheidung zugunsten der Rückreise per Schiff und gegen die für einen Sophisten durchaus vom Leser zu erwartenden Reise auf dem Landweg. Zwei große Vorteile gegenüber der Landreise werden bei der Schiffsreise daher als Argumente vorgebracht: 1. Die bereits bei der Hinreise beschriebenen persönlichen körperlichen Anstrengungen für den geschwächten Aelius Aristides wären bei einer Landreise im Spätherbst und Winter um eine Vielzahl größer gewesen als bei einer rascheren und für den bettlägerigen Sophisten viel eher im Liegen zu bestreitenden Schiffsreise. Zumindest bei einem von Aelius Aristides erhofften ruhigen Seegang erlaubte die Reise per Schiff es dem Reisenden, für das eigene Vorankommen während der Fahrt keine eigenen Mühen auf sich zu nehmen, gab ihm somit einige frei zur Verfügung stehende Zeit, die neben der körperlichen Erholung dem Spiel, dem Schreiben und anderen Tätigkeiten gewidmet werden konnte.38 2. Zahlreiche Zugtiere waren während der Hinreise und des weiteren Verlaufs des Winters verendet, ein erneuter Hinweis auf die harten klimatischen Bedingungen während der Hinreise des Autors. Hier hätte sich Aelius Aristides zum Transport seiner Güter entweder um einen entsprechenden Ersatz kümmern müssen (eine zusätzliche finanzielle wie auch zeitliche Belastung und zugleich mit der Befürchtung, dass auch diese Tiere bei einer Rückreise ein ähnliches Schicksal ereilen würde), oder er wählte das Schiff. Dieses Transportmittel bot offenkundig genügend Stauraum, um einige Wagenladungen samt Besatzung aufzunehmen. Lediglich entsprechender Zugtiere und ebenfalls der Wagen bedurfte es nun nicht mehr.

5. Die Wahl des Schiffes als Mittel der philosophischen Selbstdarstellung Entsprechende Möglichkeiten der Selbstdarstellung lassen sich bei Landreisen weit häufiger ausmachen als bei den Schiffsreisen. Dies mag vor allem daran liegen, dass sich die Wagen zumeist im Besitz der hochbetuchten Gelehrten befanden, womit die Wagen somit ebenfalls den gesellschaftlichen Status ihrer Besitzer widerspiegeln sollten.39 Entsprechend mangelt es Entsprechende Anwendungen dieser enormen Preisunterschiede finden sich ebenfalls bei http://orbis.stanford. edu/. Das enorme Volumen und welche Gewinne der Transport von Gütern mit einem Schiff in Aussicht stellte, belegt etwa Petron. Satyr. 76. 36 Zur Datierung siehe Klein 1981. 37 κατὰ γῆν μὲν οὖν ἄπορον ἦν, οὐ γὰρ ἔφερε τὸ σῶμα τὸν σεισμόν πλῷ δὲ ἐπεχειροῦμεν. τῶν δ’ ὑποζυγίων τὰ μὲν ὑπὸ τῶν χειμώνων ἐτεθνήκει, τὰ δὲ περιόντα ἀπεδιδόμεθα (Aristeid. or. 48,64). 38 Siehe etwa Dion Chrys. 3,63, Ov. trist. 1,11,1–6; 9–10 sowie Cic. Att. 5,12. 39 Der Besitz eines eigenen Wagens als Statussymbol erscheint ebenfalls mehrmals bei Lukian: etwa gall. 12; 14, Tox. 24; 46. Auch Herodes Atticus hat bei Lukian. Demon. 24 mindestens einen eigenen Wagen, der mit Pferden

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auch nicht an Bemerkungen zur repräsentativen Ausgestaltung von Wagen sowie Zugtieren und der Dienerschaft seitens der betuchten Oberschicht des Imperiums, denen vor allem die Sophisten üblicherweise angehörten.40 In Opposition zu dieser öffentlichen Zurschaustellung des eigenen Vermögens konnten sich wiederum einige Philosophen um eine entsprechende Armut und Genügsamkeit bemühen.41 Als Sinnbild der Genügsamkeit und als natürliches Gegengewicht gegen die weitverbreitete Prunksucht der Landreise konnte gegebenenfalls auch die Nutzung der Schifffahrt verstanden werden,42 da sich auch dem betuchten Reisenden durch ihren Status als einfache Passagiere auf dem Schiff nur wenige Möglichkeiten für die öffentliche Zurschaustellung eines gesteigerten Reiseluxus boten.43 Die deutlich bescheidenere Lebensqualität auf dem Schiff zeigt sich so etwa bereits anhand der Beschwerden über das dortige Essen (Athen. deipn. 9,405Cf.). Demgemäß bietet Dion von Prusa mit seiner euböischen Rede ein Zeugnis, welches diesem Bemühen um eigene Distinktion von der übrigen, luxuriös reisenden Gesellschaft und dem philosophischen Streben nach Schlichtheit eindrucksvoll Ausdruck verleiht. Darin fuhr Dion von Prusa in einem – wie er mehrfach betont – winzigen Boot (μικρὸν ἀκᾶτιον)44 mit einigen Fischern resp. Seeleuten (μετά τινων ἁλιέων) als einziger Passagier von

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bespannt wurde. Siehe zudem Liban. or. 62,11. Dass der Erwerb galatischer Maultiere oder eines Pferdegespannes schon manchen in den finanziellen Ruin gestürzt habe, betont Plut. Mor. 524A. Zumeist fuhr der Tross vor den repräsentativen Wagen des Herrn; siehe Apul. met. 10,18,3. Zu der repräsentativen Bedeutung des Trosses siehe Sen. epist. 123,7. Siehe etwa Philostr. soph. 1,25,2; 532 sowie 2,10,2; 587. In beiden Passagen verwendet Philostratos den Ausdruck Α ᾿ ργυροχάλινος und insgesamt als erster; vgl. Rothe 1989, 104. Siehe ebenfalls Symm. rel. 4,20. Beispiele für Reiseluxus finden sich etwa bei Friedländer 10 1922, 343f. Dass der Luxus beispielsweise auch durch die Mitnahme einer entsprechenden Dienerschaft respektive das dazugehörige Personal dargestellt werden konnten, belegt Kienast 1974, 539–41. Siehe zudem Sen. epist. 123,7, Suet. Nero 30,3, Amm. 14,6,9, Philostr. soph. 2,10,4; 589, Apul. met. 10,18,3f. Siehe etwa Dion. Chrys. or. 13,11 sowie 72,1–4, Apul. met. 11,8, Philostr. Apoll. 4,39 sowie 7,15, Apoll. Ty. epist. 8,1 sowie auch Lukian Ikar. 5, der gerade in seinem beißenden Witz diese äußeren Merkmale in ihrer Bedeutung bestätigt. Zu der üblichen Einfachheit des Mantels siehe zudem Tert. de pallio 4,7. Siehe hierzu ebenso Hahn 1989, 33–45 sowie zur Kleidung der Philosophen und ihrer Bedeutung ebenfalls Gasser 1998, 120f. Natürlich konnte die philosophische Bescheidenheit auch auf dem Landweg zum Ausdruck gebracht werden; siehe etwa Tert. ad nat. 2,14,4. Weitere Möglichkeiten bestanden in der Reise zu Fuß. So wird von Apollonios auch die Bedürfnislosigkeit der Kamele noch einmal lobend hervorgehoben, nachdem er vorher deren Nutzung nur deshalb zugestimmt hat, weil der Weg zu Fuß nicht zu bewältigen ist (Philostr. Apoll. 1,40). An derartigen Hinweisen auf den Reiseluxus zu Land und der eigenen Distanzierung hiervon mangelt es bei den Philosophen jedenfalls nicht. Genauere Beschreibungen, in welcher Weise die Philosophen sich von Reisegewohnheiten der Reichen auf dem Schiff distanzierten, gibt es jedoch meines Wissens im Regelfall nicht, was sicherlich mit dem per se einfacheren und bescheideneren Charakter der Seereise zusammenhängt. Nichtsdestoweniger nutzten zumindest Monarchen gelegentlich einige in ihrem Besitz befindliche Schiffe als Medien der herrschaftlichen Repräsentation; siehe Athen. deipn. 5,206–209 sowie Suet. Calig. 37. Zu den wenigen Kabinen an Bord sowie den Schlafmöglichkeiten auf dem Deck siehe Casson 1971, 179–181 mit Quellenangaben. Weitere Bemerkungen zu den Lebensbedingungen auf dem Schiff finden sich bei Reynier 2009, insbesondere 73–81. Siehe Dion Chrys. or. 7,2 sowie 6.

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Chios nach Euboia, wo er Schiffbruch erlitt. Auf Euboia selbst wird ihm, als Schiffbrüchigem45 und damit definitiv Mittellosem, von einem Jäger die Gastfreundschaft gewährt. Dies veranlasst ihn zu der Aussage: Ich folgte ihm gerne, ohne auch nur im Geringsten eine schlechte Absicht zu befürchten. Ich hatte ja auch nichts weiter bei mir als einen schäbigen Mantel. Schon früher hatte ich bei ähnlichen Gelegenheiten – ich war ja dauernd unterwegs – häufig die Erfahrung gemacht und machte sie auch diesmal, daß Armut in Wahrheit etwas Heiliges und Unantastbares ist und daß niemand einem etwas zuleide tut, noch viel weniger, als wenn man einen Heroldstab trüge.46

Statt einer Fahrt in einem größeren Schiff und zusammen mit einer Vielzahl anderer Gäste gibt sich der Autor in dieser hochstilisierten Passage betont bescheiden. So reiste er allein und ohne die in der Antike durchaus übliche Begleitung von Freunden.47 Die aus dem Text zu erschließende Größe des Schiffes erlaubte dabei vermutlich nicht einmal den rudimentären Reisekomfort einer kleinen Schiffsküche.48 Zudem wird die angegebene Strecke von Chios nach Euboia zumindest auf dem angedeuteten direktem Reiseweg auch nicht von anderen ägäischen Inseln unterbrochen, die als Zwischenstationen auf der Reise angesteuert werden konnten und wo eine warme Mahlzeit und ein einigermaßen bequemes Bett die Lebensqualität während der Reise hätten steigern können. Ohne jegliche Begleitung, in offenkundiger sowie betont gesuchter Armut49 und somit in gänzlicher Zurückgezogenheit reiste er nunmehr als Individualreisender allein mit einfachen Fischern und somit ohne angemessene Gesprächspartner50 über die einsame Ägäis. Jenseits der Betonung einer Schlichtheit der Reise kann auch eine andere Ursache für die Erwähnung der Größe des Schiffes ausgemacht werden. Wie Gustav A. Lehmann in seinem Kommentar zu dieser Stelle völlig zurecht anmerkt,51 ist der Verweis auf die Größe des Schiffes zusätzlich als Sinnbild der Heimlichkeit der Reise zu verstehen, stilisierte sich doch Dion von

45 Zum Schiffbruch und ihrer Bedeutung für die Philosophie siehe Blumenberg 1979. So soll auch Zenon von Kition, der Begründer der stoischen Philosophie, erst durch einen Schiffbruch zur Philosophie gelangt sein (Diog. Laert. 7,1,2). 46 ἐγὼ δὲ ἄσμενος ἠκολούθουν· οὐ γὰρ ἐπιβουλευθῆναί ποτε ἔδεισα, οὐδὲν ἔχων ἢ φαῦλον ἱμάτιον. καὶ πολλάκις μὲν δὴ καὶ ἄλλοτε ἐπειράθην ἐν τοῖς τοιούτοις καιροῖς, ἅτε ἐν ἄλῃ συνεχεῖ, ἀτὰρ οὖν δὴ καὶ τότε, ὡς ἔστι πενία χρῆμα τῷ ὄντι ἱερὸν καὶ ἄσυλον, καὶ οὐδεὶς ἀδικεῖ, πολύ γε ἧττον ἢ τοὺς τὰ κηρύκεια ἔχοντας· ὡς δὴ καὶ τότε ϑαρρῶν εἱπόμην (Dion Chrys. 7,8f. Übers. Winfried Elliger).

47 Jemanden auf einer Reise zu begleiten konnte durchaus zu den erwarteten Freundschaftspflichten gehören; vgl. Plut. mor. 95C zur Schiffsreise sowie allgemein zum Reisen 491D. Siehe ebenfalls Lib. or. 1,27. Konkrete Beispiele bietet zudem etwa: Aristeid. or. 48,13 sowie 76. 48 Zumindest findet sich ein Schiffskoch (παρασχαρίτος) als reguläres Mitglied der Schiffscrew im Νόμος ναυτικός (N. N. II 7). Dieser (N. N. II 10–11) verbot den Passagieren sowohl das Braten von Fisch als auch das Spalten von Holz; siehe hierzu Letsios 1996, 126. 49 Zu der Armut des Philosophen siehe ebenfalls Dion Chrys. 13,10f. 50 Zur Wahrnehmung von Schiffsleuten siehe etwa Philostr. Apoll. 3,23f., 4,32 sowie 5,20. 51 Siehe hierzu Lehmann 2012, 87 Anm. 5.

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Prusa sowohl hier wie auch in anderen Passagen seines Œuvres stolz als von Domitian exilierter Philosoph.52

Fazit Im Laufe der Untersuchung offenbarten sich enorme Unterschiede in der antiken Wahrnehmung von Land- sowie von Schiffsreisen. Standen die Landreisen sinnbildlich für den Aufenthalt in der Öffentlichkeit, der auch einer entsprechenden Reflexion über das Auftreten und die dortige Selbstdarstellung bedurfte, so wurden das Meer und dessen Befahrung als Domäne der Götter und der Aufenthalt auf dem Meer selbst somit als Heraustreten aus der Gemeinschaft der Menschen empfunden. Folgerichtig konnte der Benutzung des Schiffes durch literarische Protagonisten die Symbolik der Heimlichkeit und Flucht sowie ebenfalls der hierdurch erreichten Anonymität zugewiesen werden. Diese Symbolik beruhte zugleich auf dem Umstand, dass das Schiff das einzige Massentransportmittel im antiken Personenverkehr darstellte und somit gegebenenfalls das Untertauchen in der Menge der Reisenden, fernab der ländlichen Informationsnetzwerke, gewährleistete. Darüber hinaus konnte die Schiffsreise als eine möglichst körperschonende Transportart verstanden werden, die den bequemen Transport größerer Güter erlaubte. Derartige Charakteristika fanden ebenfalls Einzug in die kaiserzeitliche Literatur. Abschließend konnte der Hinweis auf das Schiff als Transportmittel als Sinnbild für eine bescheidene Reise dem Komfort und der Selbstdarstellung auf der Fahrt mit dem Wagen zu Land gegenübergestellt werden. Zusammenfassend erwies sich somit ein immenser Facettenreichtum bei der Schiffsreise als literarischem Motiv, die vor dem Spiegel der in diesem Beitrag unberücksichtigt gebliebenen Literaturgattungen und Werke aus der Kaiserzeit dennoch nur als schlaglichtartig und unvollständig betrachtet werden kann.

Literatur Textausgaben — Lehmann, Gustav A. [u. a.] (Einl.; Übers.; Interpr.) (2012), Armut – Arbeit – Menschenwürde. Die Euböische Rede des Dion von Prusa (Sapere 19), Tübingen. — Penella, Robert J. (1979), The Letters of Apollonius of Tyana. A critical Text with Prolegomena, Translation and Commentary (Mnemosyne Suppl. 56), Cambridge. — Russell, D. A./Wilson, N. G. (Hg.; Übers.; Komm.) (1981), Menander Rhetor, Oxford.

Sekundärliteratur — Abraham, Roshan (2014), „The Geography of Culture in Philostratus’ Life of Apollonius of Tyana“, in: CJ 109, 465–480. 52 Zu den Wanderjahren und der Stilisierung des Exils durch Dion von Prusa siehe Bekker-Nielsen 2014. Siehe zur Verbannung von Philosophen allgemein Hartmann 2002 sowie Stini 2011, 93–104. Verbannung galt neben dem Tod als die schlimmste Strafe (vgl. etwa Dion Chrys. 31,24).

Die Wahl des Schiffes und ihre Motivik zur Zeit der Zweiten Sophistik

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»Von Wind und Tag verlassen« Eine knappe Poetologie der Seekrankheit bei Rutilius Namatianus Isabell Höhler (Göttingen) 1. Wenn jemand eine Reise tut, . . . Auf die Frage, warum er für seine mutmaßlich im Jahr 417 n. Chr.1 angetretene Heimreise nach Gallien gerade den Seeweg wählt, formuliert der spätantike Dichter Rutilius Claudius Namatianus eine scheinbar sehr pragmatische Antwort: Es handele sich schlicht um das kleinste der wählbaren Übel. Die Sicherheitslage war für Reisende in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts wohl durchaus prekär.2 So beschreibt Rutilius selbst die Zustände der verbliebenen Infrastruktur folgendermaßen: Das Tuskerland und die Aurelische Straße hätten unter den Brandfackeln gotischer Horden aufs Ärgste gelitten, in den Wäldern gebe es keine Herbergen mehr, Flüsse und Straßen seien nicht mehr von Brücken überspannt. Dieses Schreckensszenario, das der Sprecher des „Reisegedichts“ noch vor seiner eigentlichen Abreise aus Rom in eindrücklichen Bildern entwickelt, lässt es tatsächlich klüger erscheinen, sich der „unsicheren See“3 anzuvertrauen als einem möglicherweise kaum noch existenten Landweg. Dabei wird der durchaus auch in anderen antiken Reisetexten geläufige Topos der Gefährlichkeit von Seereisen durch eine scheinbar sehr rationale Risikoabwägung gegenüber dem noch gefährlicheren Landweg argumentativ begründet.4 Wie meine Auseinandersetzung mit der konkreten Aufbruchssituation im Folgenden zeigen soll, lassen sich Rutilius’ Ressentiments gegenüber einer Abreise aus Rom nicht nur auf die mutmaßlich gefährliche und unmittelbar bevorstehende Seereise beziehen. Vielmehr scheint 1 Zur Datierung der Reise auf den 29. Oktober 417 n. Chr. siehe Doblhofer 1972, 35f., in Auseinandersetzung mit Cameron 1967 sowie Lana 1961, 11–60 und 105–143. 2 Zum zeitgenössischen Hintergrund siehe Doblhofer 1977, 17–22, zur Stelle 21: „Die Rückkehr des Dichters in das von Kämpfen gegen die Barbaren und gegen den Thronprätendenten verwüstete Gallien fällt mit dem Beginn (417) der durch den oben erwähnten Patricius Constantius eingeleiteten Restaurationspolitik zusammen. Aber noch sind die Länder des Westreiches von den langen Kriegen gezeichnet, liegen allenthalben Spuren der Verwüstung offen zutage. Überall herrscht die für eine Nachkriegszeit charakteristische Unsicherheit (Rutilius wählt den Seeweg!) und Depression.“ Als zeitgenössische Stimmen, die ein ähnliches Bild zeichnen, verweist Doblhofer 1979, 29, beispielhaft auf Orientius (Orient. comm. 2,165–184) und Hieronymus (Hier. epist. 60,16,2: viginti et eo amplius anni sunt, quod inter Constantinopolim et Alpes Iulias cotidie Romanus sanguis effunditur. Scythiam, Thraciam, Macedoniam, Thessaliam, Dardaniam, Daciam, Epiros, Dalmatiam cunctasque Pannonias Gothus, Sarmata, Quadus, Alanus, Huni, Vandali, Marcomanni vastant, trahunt, rapiunt). 3 Rutil. 1,42: incerto satius credere vela mari. 4 Dass der Landweg in der Tat nicht per se als sicherere Reiseroute gelten konnte, legt der Beitrag von Kirstein et al. in diesem Band sehr nahe (siehe oben, S. 15–34). Die Häufigkeit, mit der Erlebnisse von Schiffbruch und Seenot in literarischen Texten der Kaiserzeit verarbeitet werden, scheint auf die tatsächliche Seetauglichkeit römischer Handelsschiffe zu dieser Zeit nämlich nur sehr bedingt Rückschlüsse zuzulassen.

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der Dichter im Bild der Unwägbarkeiten des möglichen Reiseweges gleichzeitig auch die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer poetischen Narrativierung dieses Wegs zu beschreiben.5 Einige wiederkehrende Elemente von Rutilius’ Reise- und Wegmetaphorik scheinen dabei für das Verständnis von De reditu suo im Sinne eines performativen Texts von zentraler Bedeutung zu sein. Denn gerade diese Konstanten machen dem Leser die intertextuellen Bezüge und gattungsspezifischen Referenzen, von denen der Text durchsetzt ist, immer wieder transparent. Im zweiten Teil meiner Darstellung wird der Fokus stärker auf der Frage liegen, wie Rutilius das poetologische Set, das sich aus der konsequenten Verknüpfung von Weg und Werk im Verlauf der Reisebeschreibung sukzessive entfaltet, dem jeweiligen Streckenabschnitt seiner Reisebeschreibung anpasst und – wie ich insbesondere anhand der Poetologie der Seekrankheit beispielhaft aufzeigen will – bei Bedarf auch weiterentwickelt.6 Ausblickhaft soll in Abschnitt 4 die Frage angerissen werden, inwiefern man gerade vor dem Hintergrund der Besonderheiten des spätantiken Literaturbetriebs Rutilius’ dichterischen Schlingerkurs, wie er sich im Hinblick auf die in Abschnitt 3 untersuchte Text-Weg-Passage (Rutil. 1,313–348) nachzeichnen lässt, als Hinweis auf eine geradezu mimetische Performativität von De reditu suo begreifen kann.

2. Durch ein verwüstetes Land unter ovidischen Vorzeichen Rutil. 1,35–44: 35

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iamiam laxatis carae complexibus urbis vincimur, et serum vix toleramus iter. electum pelagus, quoniam terrena viarum plana madent fluviis, cautibus alta rigent. postquam Tuscus ager postquamque Aurelius agger perpessus Geticas ense vel igne manu non silvas domibus, non flumina ponte coercent. incerto satius credere vela mari crebra relinquendis infigimus oscula portis, inviti superant limina sacra pedes. Schon hat die geliebte Stadt ihre Umarmung gelockert; ich gebe mich besiegt und kann nun kaum das Ende der zu spät angetretenen Fahrt erwarten! Den Seeweg habe ich gewählt, weil die Landstraßen in der Ebene von Flüssen überschwemmt, auf den Höhen von Geröll übersät sind. Seit das Tuskerland und die Aurelische Straße unter den Schwertern und Brandfackeln gotischer Horden aufs ärgste gelitten haben, seit die Wälder des Landes keine Herberge mehr bieten und die Straße die Flüsse nicht mehr mit Brücken überspannt, ist es besser, der trügerischen See zu trauen und die Segel zu hissen. Kuß um Kuß drücke ich auf das Tor, das ich hinter mir lassen muß; schleppend nur schreiten die Füße über die heilige Schwelle.7

Allein schon aufgrund ihrer Verortung innerhalb von De reditu suo kommt der oben zitierten Textpassage eine prominente Rolle zu. Sie schließt sich nämlich einerseits unmittelbar an Rutilius’ 5 Soler 2006, 273–276, beschreibt diese Herausforderung als einen Transformationsprozess der realen Reise in eine virtuelle Reise, die ihrerseits das reale Reiseerlebnis überformt; hier 276: „L’écriture du poème altère la réalité de l’expérience, pour créer une autre réalité, qui satisfasse davantage le poète.“ 6 Siehe Abschnitt 3.1 bis 3.3 (unten, S. 138–148). 7 Übersetzung: Doblhofer 1972, 90.

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stark poetisierte Begründung des Reiseanlasses8 an und steht andererseits unmittelbar vor den sogenannten laudes Romae, einem umfangreichen Enkomion auf die Stadt Rom, das die Idee einer Roma aeterna nach allen Regeln der zeitgenössischen Dichtung und Rhetorik entfaltet.9 Inhaltlich fokussiert der obige Textausschnitt, wie ich bereits angedeutet habe, in den rahmenden Distichen (V. 35f. und 43f.) den Abschiedsschmerz des Reisenden gegenüber der Hauptstadt, während in der mittleren Partie die generelle Problematik des Reisens durch ein von Unwetter und Kriegstreiben verwüstetes Land sehr anschaulich hervortritt (V. 37–42). Bei seiner Darstellung des Abschieds von Rom fällt auf, dass sich der Sprecher in einer sehr passiven Rolle geriert und sich seinem „Schicksal“, Rom verlassen zu müssen, beinahe willenlos ergibt. Als Geschlagener (vincimur) müsse er eine Reise auf sich nehmen, die er nach eigener Aussage (allzu) lange hinausgezögert habe (et serum vix toleramus iter).10 Dabei scheint Roma höchstpersönlich ihn von der Fahrt abhalten zu wollen. Schließlich muss er sich aus ihrer Umarmung erst befreien, ehe er sich mit den erwartbaren Komplikationen auf seinem serum iter überhaupt auseinandersetzen kann. Das innige Verhaftetsein mit der geliebten Stadt und die Schwierigkeit, sich von ihr zu lösen, setzt der Dichter ein weiteres Mal im Schlussdistichon des hier betrachteten Textausschnitts ins Bild. Der Reisende verlässt Rom nämlich nicht mit einem simplen Abschiedskuss, sondern drückt dem Stadttor, das er hinter sich lassen muss, gleich eine Vielzahl von Abschiedsküssen auf (crebra oscula). Zudem scheinen sich auch seine Füße diesem letzten Schritt zu widersetzen, denn sie passieren nur widerwillig (inviti pedes), ohne dass der Sprecher tatsächlich Gewalt über sie auszuüben scheint, die heilige Schwelle des Stadttores. Man sollte sich von der Unmittelbarkeit des hier inszenierten Abschieds allerdings nicht allzu sehr blenden lassen. Mit dem eigentlichen Aufbruch im Sinne eines In-See-Stechens lässt sich der Reisende nämlich noch ein wenig Zeit. Erst in V. 165 überwindet er die Phase des rein gedanklichen Loslassens von der Hauptstadt und verlässt Rom tatsächlich (his dictis iter arripimus), um sich mit tum demum ad naves gradior ab V. 179 in Richtung Hafen zu bewegen. Dort wartet die Reisegesellschaft allerdings noch weitere 15 Tage auf besseres Wetter, so dass Rutilius’ Erzählung der Seereise im engeren Sinne erst mit dem Ankerlichten in V. 216 anhebt. Wie diese grobe strukturelle Analyse nahelegt, spielen gerade Momente des Nichtvom-Fleck-Kommens, des Steckenbleibens und der (zum Teil verklärten) Rückschau auf Rom für Rutilius’ Darstellung seiner Heimreise eine nicht unbedeutende Rolle, insofern der Text 8 Siehe Rutil. 1,19–34, besonders eindringlich in der Fügung at mea dilectis fortuna revellitur oris/indigenamque suum Gallica rura vocant. Intertextuelle Verdichtungen innerhalb der Passage durch motivische Anleihen an die bukolische Dichtung Vergils hat bereits Doblhofer 1977, 32, angedeutet, insbesondere mit Verweis auf ecl. 1,38f. Die Frage, inwiefern sich daraus eine Reminiszenz an die in den Eklogen verarbeiteten Bürgerkriegserfahrungen ableiten lässt, wird sowohl bei Wolff 2007, 50, als auch bei Fo 1992, 64, nur oberflächlich diskutiert. 9 Doblhofer 1977, 38–41, setzt sich intensiv mit dem Aufbau des sogenannten Romlobs auseinander und stellt enge Verknüpfungen zur rhetorischen Struktur des Städtelobs, wie Menander Rhetor es propagiert, her. Als Ergebnis seiner Untersuchung hält Doblhofer fest: „Menanders Fünfteilung ist da. Sie wird allerdings nicht sklavisch befolgt; selbstständiges Schalten mit der tradierten Stadtlobtopik ist nicht zu übersehen.“ Darüber hinaus verweist er auf eine breite Forschungsliteratur zur sogenannten „Romidee“ bzw. dem Topos der Roma aeterna, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre entstanden ist. Exemplarisch sind Kytzler 1972 und Fuhrmann 1968 zu nennen. 10 Zur doppelten Interpretationsmöglichkeit des Verses siehe Doblhofer 1972, 34, und Wolff 2007, 50. Ich präferiere im Zusammenhang mit vincimur die Deutung einer zwar hinausgezögerten Reise, die gleichwohl für den Sprecher kaum erträglich ist, gegenüber der Deutung, dass der Sprecher den letzten Reiseabschnitt, sprich seine Ankunft in Gallien, kaum erwarten kann.

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gerade an diesen Stellen einen performativen Charakter zu entfalten scheint.11 So lässt bereits die umfangreiche Schilderung des Abschiednehmens in ihrer Prozesshaftigkeit und der Deixis, mit der der Sprecher immer wieder deutlich auf seinen situativen „Reisestandort“ verweist, auf eine Interaktion „mit dem von ihm textuell repräsentierten Geschehenszusammenhang“ schließen, die man unter dem Begriff eines mimetischen Gedichts fassen könnte.12 Doch zurück zur oben zitierten Abreisesituation und dem darin geschilderten ersten Versuch innerhalb des reditus, Rom den Rücken zu kehren und in Richtung Gallien aufzubrechen. Wie schon vielfach beobachtet wurde, lässt sich als Prätext für die vom Abschiedsschmerz gegenüber Rom handelnden rahmenden Distichen eine einschlägige Passage aus Ovids Tristium 1,3, seinem „Abschiedsgedicht von Rom“, namhaft machen.13 Inwiefern die intertextuelle Verknüpfung mit diesem Text Rutilius’ Darstellung des Losreißens und Losreisens von Rom nochmals neu perspektiviert, soll im Folgenden veranschaulicht werden (Ov. Trist. 1,3,55–62): 55

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ter limen tetigi, ter sum revocatus, et ipse vincimur, indulgens animo pes mihi tardus erat. saepe “vale” dicto rursus sum multa locutus, et quasi discedens oscula summa dedi. saepe eadem mandata dedi meque ipse fefelli, respiciens oculis pignora cara meis. denique “quid propero? Scythia est, quo mittimur”, inquam, “Roma relinquenda est, utraque iusta mora.” Dreimal betrat ich die Schwelle, und dreimal ließ ich mich rufen, und meinem Herzenstrieb folgte der zaudernde Fuß. Oftmals sagt’ ich „Lebwohl“ und redete wiederum vieles, und einen letzten Kuß gab ich, als wollt’ ich nun gehen. Oftmals wiederholt’ ich den nämlichen Auftrag, ohn’ es zu merken, wandte noch einmal den Blick zu den Geliebten zurück. Schließlich sagt’ ich: „Was eil’ ich? Nach Skythien soll ich ja gehen, scheiden von Rom: Das sind zwei Gründe, um noch zu verzögern.“14

Augenfällig bei der Betrachtung der Ovid-Reminiszenzen ist zunächst, dass der Abschied von Rom im Grundsätzlichen bei Ovid wie bei Rutilius als äußerlicher Oktroy erscheint, dem sich der Sprecher zaudernd und tränenreich unterwirft. Dass der Sprecher des reditus, der ja fiktionsimmanent nicht wie Ovid vor einem Gang ins Exil, sondern vor einer Heimreise steht,

11 Auch Christian Haß verknüpft in seinem Beitrag im vorliegenden Band Elemente poetischer Seefahrtsmetaphorik mit Aspekten der Performativität (siehe unten, S. 273–292). 12 Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Krasser in diesem Band (siehe unten, S. 155–169). 13 Soler 2007, 276–280, hier 280: „Le moment du départ est donc particulièrement chargé de réminiscences ovidiennes. [. . . ] Le détour par le texte d’Ovide lui sert à affirmer l’identité romaine, l’attachement à Rome, qui selon lui, le caractérisent tout entier.“ Tissol 2002, beschreibt als erster explizit die kaum zu unterschätzende Bedeutsamkeit der Tristien für das Verständnis von De reditu suo, hier 442: „From such examples one can begin to perceive the larger importance of Ovidian exile as a mediating force in Rutilius’s creative effort – an effort that calls upon the reader’s memory of Ovid.“ Fo 1988, 51, betont, ausgehend von Überlegungen zum Metrum, die Bedeutung der ovidischen Exilliteratur für De reditu suo. Doblhofer 1977, 37, benennt lediglich im Zusammenhang mit der Enallage inviti pedes den Referenztext Ov. Trist. 1,3,55f. 14 Übersetzung nach Willige 4 2005.

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mit der Rolle des Quasi-Exilanten (nur) kokettiert, wird in diesem Zusammenhang von nahezu allen Kommentatoren des Textes hervorgehoben.15 Zweifellos vermittelt Rutilius durch die enge intertextuelle Verflechtung seiner Darstellung mit dem Tristien-Text sehr gekonnt den Eindruck, seine „eigentliche“ Heimat, Rom, verlassen zu müssen, um in ein Land zu reisen, das er nicht als „Zuhause“, sondern vielmehr als Barbarenland (perpessus Geticas ense vel igne manu, V. 41) begreift. Dass sich aus dieser Pose und weiteren Facetten des unfreiwillig Reisenden, die sich dem Leser während des reditus noch offenbaren werden, der Impetus ableiten lässt, Rutilius wolle sein Vaterland „Rom“ gleichsam ins Buch retten und eine bereits nicht mehr existente aristokratische Wertehaltung konservieren, halte ich allerdings für eine etwas eindimensionale Bewertung des Reisegedichts.16 Schließlich könnte man – wie ich im Folgenden noch deutlicher machen werde – hinter der großen Zahl intertextueller Vernetzungen und Verdichtungen, für die Rutilius neben den „Klassikern“ der epischen und satirischen Reisedichtung17 eben auch Ovids Exildichtung heranzieht, genauso den Versuch erkennen, gerade dem Neuen, der Umbruchsituation, in der sich die eigene Erfahrungswelt zu befinden scheint, literarisch gerecht zu werden. Es käme Rutilius dann also nicht primär auf eine perfekte Imitation überkommener poetischer Konzepte oder das literarische Fortschreiben eines darin vermeintlich enthaltenen Wertekanons an, sondern vielmehr darauf, aus dem Reservoir der klassischen Werke und Bildungsinhalte ein kreatives Potenzial zu generieren, das den Herausforderungen, die das eigene dichterische Schaffen gerade an ihn stellt, gerecht werden kann. Die Finesse, mit der Rutilius bei der Bewältigung dieser Aufgabe vorzugehen scheint, liegt zunächst darin, dass er dem Leser von De reditu suo durch das wechselhafte Aufrufen verschiedener Prätexte eine gattungsmäßige oder typologische Einordnung des Gedichts immer wieder vorenthält. Obwohl sich der Dichter also mit dem Fortschritt der Reisebeschreibung zusehends trittsicher auf den Spuren literarischer Vorbilder bewegt, macht er durch den häufigen Wechsel

15 Soler 2007, 276–280, hier 276: „le retour, grâce à la récriture continue d’Ovide, finit par apparaître comme un exil. Et le poète se plaira dans ce reflet rêvé de lui-meme.“ Wolff 2007, XXXIf.: „Ces allusions ont un sens: Rutilius veut dire qu’il écrit ses propres Tristes.“ Tissol 2002, 442: „Rutilius sees both his own subject matter and his poetic predecessors through Ovid’s representation of exile. For Rutilius his own journey and Rome’s plight can best find expression as a revision, a re-imagining, of Ovidian exilic topics and language.“ 16 Auch in der zeitgenössischen Forschungsliteratur unterstellt man Rutilius noch immer einen restaurativen, wertkonservativen Impetus. Exemplarisch sei auf Soler 2007 verwiesen, die hinter Rutilius’ versiertem Umgang mit literarischen „Klassikern“ auch eine Form individueller Selbstvergewisserung erkennt, hier 304: „L’écriture donne sens au parcours, et en fait un voyage de restauration de la grandeur de Rome, et de fondation d’une identité individuelle typiquement romaine.“ Drastischer noch Küppers 2000, 56f.: „[. . . ] der gallische Beamtenaristokrat [. . . ] beharrt auf der Illusion, Rom sei es bestimmt, wie eh und je die Herrin der Welt zu sein [. . . ]. Aus dieser rückwärtsgewandten und anachronistischen Position heraus verkennt Rutilius [. . . ] die politischen Erfordernisse seiner Zeit [. . . ].“ Vgl. auch Doblhofer 1970, 3f.: „Ohne also die Eigenständigkeit des Dichters seinen Vorbildern gegenüber zu verkennen, muß man doch festhalten, daß Rutilius zu Anfang des fünften Jahrhunderts eine Form wählt und eine Sprache führt, welche dieses Jahrhundert nicht mehr versteht. [. . . ] Er klagt um Gestern, den Männern von gestern und in der Sprache von gestern.“ 17 Zur Thematik der Reise und des Reisens außerhalb des Epos siehe zusammenfassend Küppers 2000, 41: „Die Reise bzw. die Reisebeschreibung wird als Thema in der lateinischen Dichtung nur gelegentlich und punktuell aufgegriffen, und zwar als persönlich-privater Reisebericht bzw. Itinerarium innerhalb der typisch römischen „Satura“ und innerhalb der Elegie sowie als situationsgebundenes Gelegenheitsgedicht, so insbesondere als Propemptikon [. . . ].“

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gerade zwischen epischen und satirischen Reminiszenzen immer wieder deutlich, dass er für seine eigene Reise auch formal eine Art der Darstellung anstrebt, die überkommene Muster zwar aufruft und einbringt, den eigenen Bedürfnissen jedoch stark anpasst und zu einem neuen Ganzen zusammensetzt. Eine weitere Besonderheit des reditus liegt darin, dass die von mir beschriebenen Prozesse des Suchens nach einer angemessenen Form häufig für den Leser sehr transparent gemacht werden. Beide Aspekte, die enge Verwebung von De reditu suo mit Tristium 1,3, einem „Klassiker“ der antiken Reisedichtung, und die hohe Selbstreferentialität der Reisebeschreibung können anhand der Schilderung des Abschieds von Rom beispielhaft dargestellt werden. Mit Blick auf das hier als Prätext deklarierte Tristium 1,3 wurde bereits deutlich, dass Rutilius Ovids Pose des unfreiwillig Scheidenden auf makrostruktureller Ebene durchgängig imitiert. Aber auch auf der Ebene einzelner Phrasen und Wörter lassen sich deutliche Anleihen erkennen. In beiden Texten etwa versagen die Füße dem Sprecher beinahe ihren Dienst (inviti pedes bzw. pes tardus), ja sie scheinen die Schwelle, die heilige Grenze zwischen „Innen“ und „Außen“, kaum überwinden zu können (limina superant bzw. ter limen tetigi). In beiden Texten fällt es dem Sprecher zudem schwer, nach vielen Abschiedsküssen den einen „letzten Kuss“ (crebra oscula bzw. oscula summa) aufzudrücken, ehe er sich von Rom losreißen kann, und in beiden Texten ist der Leitbegriff des „Verlassens“ formal als Gerundiv konstruiert (relinquendis bzw. relinquenda). Eingebettet in diese den ovidischen Abschiedsgeist atmenden Verse ist nun Rutilius’ Begründung für die Wahl des Seeweges. Dabei kann sein Klagen über Straßen, die keine mehr sind, da sie im Tal von Wassermassen, in den Höhen von Geröll überschwemmt sind, über fehlende Brücken und Herbergen und schließlich über die Geten, die für all dies verantwortlich zu sein scheinen, sicherlich als Ausdruck einer tatsächlichen infrastrukturellen Misere gelesen werden. Ein zeitgenössischer Leser konnte sich leicht ausmalen, was es bedeuten würde, unter solchen Umständen auf dem Landweg nach Gallien zu reisen. Hochwasser und Gerölllawinen würden eine Reise im Hinblick auf ihre Dauer schlicht unkalkulierbar machen. Das Vorankommen auf der Strecke würde sich von vornherein als mühevoll und kräftezehrend gestalten. Wiederholtes Festsitzen und unbeabsichtigte Wartezeiten wären gleichsam vorprogrammiert und umso unangenehmer, da man ja bereits im Vorfeld weiß, dass es unterwegs kaum Möglichkeiten zur Einkehr oder Übernachtung in einer intakten „Raststätte“ geben wird. Letztlich droht über all dem die Gefahr, in der Auseinandersetzung mit den „Geten“, die in den gallischen Provinzen als schwelender Konfliktherd gelten muss, unversehens zwischen die Fronten zu geraten und seines Lebens nicht sicher zu sein.18 18 Bei den Geten handelt es sich eigentlich um einen thrakischen Volksstamm, der im Ostbalkan und an der Ostküste des Schwarzen Meeres siedelte. In der Zeit des Rutilius wurde Geticus und Getae allerdings als bewusst poetisch verwendete Bezeichnung für die Goten verwendet. Doblhofer 1977, 37, weist in diesem Zusammenhang unter anderem auf eine Gleichsetzung in Oros. hist. 1,16,2 hin (modo autem Getae illi qui nunc Gothi), auf die sich der römisch-gotische Gelehrte Jordanes in seinen Getica unmittelbar bezieht und so die Identifikation von Goten und Geten ab dem 6. Jahrhundert literarisch fest etabliert. Für Rutilius scheint eine Gleichsetzung von Geten und Goten umso reizvoller zu sein, als er auf der Folie von Ovids Exilliteratur seine eigene Abreise ja als Gang ins Exil inszeniert, so dass sich auch Ovids Beschreibung der Geten als eines unzivilisierten Barbarenvolks gut in dieses Bild einfügen ließe. Ähnlich urteilt zum Beispiel Tissol 2002, 443.

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Die Unwägbarkeiten und Hindernisse, die der Sprecher bereits vor seiner Abreise imaginiert, scheinen sich letztlich auch in der stilistischen Darstellung des Landweges niederzuschlagen. So könnten etwa das anaphorisch gesetzte postquam in V. 39 oder die formal-antithetischen Dichotomien wie plana – alta, madent – rigent, fluviis – cautibus, ager – agger und Tuscus – Aurelius dazu dienen, durch ihre prosaisch klingende Schwerfälligkeit die Holprigkeit des Weges und das Stocken des möglichen Reiseverlaufs vor Augen führen. Gleichzeitig nimmt die schwerfällige und holprige Gestaltung der Verse das Bild der inviti pedes vorweg, das sich natürlich nicht nur auf die realen Füße des Aufbrechenden beziehen lässt, sondern auch auf die scheinbar ebenfalls widerspenstigen Versfüße des Dichters. Die Beschreibung der vielfältigen Komplikationen, die auf dem Landweg zu erwarten sind, würde somit nicht nur als plausibles Argument für eine Heimreise per Schiff fungieren, sondern auch als poetologische Aussage über die Herausforderungen, die in der dichterischen Bewältigung eben dieses Reiseweges liegen. Zudem lässt sich die Wahl des Seeweges auch als ein bewusstes Anknüpfen an epische Gattungstraditionen und eine (zumindest vorübergehende) Ablehnung gegenüber der satirischen Musa pedestris verstehen.19 In der Konsequenz scheint dem Dichter angesichts seiner beinahe „ausweglosen“ Situation (außer einer Fortschreibung seines Überforderungsgestus) also gar nichts anders übrig zu bleiben, als im Verlauf seiner Reise neue Breschen zu schlagen durch ein einst durch Straßen erschlossenes Land und vielleicht auch durch eine einst blühende Literaturlandschaft. Denn es gilt nicht nur, als Reisender Wälder (silvae)20 zu durchdringen und Flüsse (flumina)21 zu überwinden, sondern auch literarisch neue Wege zu beschreiten, die den veränderten Verhältnissen gerecht werden. Diese fiktionsimmanent immer wieder greifbaren Rahmenbedingungen, die der horazischen Reisesatire entlehnt zu sein scheinen, so zum Beispiel das unwegsame Gelände, die Bedrohung durch äußere Gefahren und die erzwungenen Aufenthalte, lassen die Reise und – wie die Abschiedsszene eindrücklich zeigt – auch die Reisebeschreibung in ihrer Gesamtheit als ein großes Wagnis erscheinen.22 Sie prägen aber auch die konkrete Wahrnehmung der einzelnen Etappen, die der Sprecher auf seiner Heimreise zu Wasser wie zu Land bewältigen muss.

19 Vgl. dazu auch meine Ausführungen unter 3.1 (siehe unten, S. 138–141), besonders S. 139–141. 20 silvae kann hier sowohl als natürlicher Wald als auch als literarische Gattung gelesen werden. Explizit sei an dieser Stelle auf den Beitrag von Krasser in diesem Band verwiesen (siehe unten, S. 155–169). Das dort untersuchte Propemptikon für Maecius Celer (Stat. silv. 3,2), in dem „die Ependichtung des Statius und die Seereise Celers eng miteinander verknüpft werden“ (siehe unten, S. 164), scheint gerade im Hinblick auf die kommunikative Strategie des Textes mit einigen Passagen von Rutilius’ De reditu suo vergleichbar zu sein. 21 flumen firmiert sowohl als Bezeichnung für den natürlichen Fluss als auch als rhetorischer Begriff im Sinne von „Redefluss“. Vgl. dazu Lausberg 2008, 484, mit Verweis auf Quint. inst. 9,4,61. 22 Eine ebenfalls poetologische Interpretation des horazischen Iter Brundisinum propagiert Gowers 1993. So fungiere das Iter innerhalb des ersten Satirenbuches als eine Art „Verschnaufpause“ für den Leser, in der der Dichter sich Zeit nimmt, im Bilde der nicht so recht von der Stelle kommenden Reisegesellschaft, die auf ihrem Weg mehrfach ins Stocken gerät, oftmals den richtigen Zeitpunkt versäumt und dann unversehens das eigentliche Ziel links liegen lässt, ein „making-off “ seiner satirischen Dichtung zu präsentieren. Vgl. ferner den Beitrag von Breuer in diesem Band (siehe unten, S. 299–326).

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3. Der dritte Reisetag (Rutil. 1,313–348) Als besonders anschauliches Beispiel für die Umsetzung einer solchen gattungsbezogenen Programmatik, auf deren Folie Rutilius eine spezielle Poetologie der Seereise zu entwickeln scheint, soll hier der dritte „echte“ Reisetag innerhalb des reditus herangezogen werden. Dieser Reisetag ist einer der wenigen, der fiktionsimmanent fast gänzlich der Reise im Sinne eines Vorankommens auf der Reiseroute gewidmet ist.23 Inhaltlich strukturiert er sich in mehrere Binnenetappen, die sich ihrerseits zu einem rahmenden „Äußeren“ und einem umrahmten „Inneren“ zusammenfügen lassen. Die rahmenden Partien zeichnen sich dadurch aus, dass sie neben dem reinen Beschreiben von Elementen der vorbeiziehenden Landschaft auch die Seefahrt im engeren technischen Sinne fokussieren, während sich im mittleren Teil aus der reinen Landschaftsbeschreibung ein geradezu historischer Erlebnisraum entwickeln lässt. So beschreibt Rutilius als erste Herausforderung des Tages die mühevolle Umschiffung des Mons Argentarius, um sich dann – im Wortsinne en passant – der Insel Igilium, einem erinnerungsträchtigen Monument der eigenen Zeitgeschichte, zu widmen. In der Nähe des Umbrodeltas schließlich gerät der Sprecher des Gedichts in eine äußerst unangenehme Reisesituation, die man als Seekrankheit definieren könnte, ehe er den Tag mit der Errichtung eines ephemeren Nachtlagers am Strand beschließt. 3.1 Der mühevolle Weg um den Mons Argentarius Rutil. 1,313–324:

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necdum decessis pelago permittimur umbris; natus vicino vertice ventus adest. tenditur in medias mons Argentarius undas ancipitique iugo caerula curva permit. transversos colles bis ternis milibus artat, circuitu ponti ter duodena patet, qualis per geminos fluctus Ephyreius Isthmos Ionias bimari littore findit aquas. vix circumvehimur sparsae dispendia rupis nec sinuosa gravi cura labore caret; mutantur totiens vario spiramina flexu: quae modo profuerant vela, repente nocent. Die Schatten sind noch nicht gewichen, als wir uns dem Meere anvertrauen; vom nahen Gipfel her weht ein günstiger Wind. Mitten in die Wogen hinein springt der Mons Argentarius vor und überragt mit zwiefachem Kamm die blauen Buchten. Quer über seine Hügel kürzt er den Weg auf zweimal drei Meilen; seine Küste zieht sich dreimal zwölf Meilen hin, wie zwischen Zwillingsfluten der Isthmus von Korinth die jonischen Gewässer mit Gestaden spaltet, die von zwei Meeren bespült werden. Kaum können wir die verstreuten Klippen auf Umwegen umfahren, und es kostet schwere Mühe, den vielen Krümmungen sorgsam auszuweichen, so oft wechselt mit der Fahrtrichtung auch der Wind; die Segel, die eben noch genützt hatten, schaden plötzlich.24

23 Doblhofer 1977, 38, „[. . . ] dieser und der Vortag sind die einzigen so voll ausgenützten Reisetage.“ 24 Übersetzung: Doblhofer 1972, 111f.

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Den Tagesanbruch dieses dritten Reisetages markiert Rutilius durch eine Szenerie und Motivik, die für die Strukturierung seines reditus durchaus typisch zu sein scheint und mit topischen Elementen der epischen Reise operiert. Der Aufbruch im Morgengrauen reiht sich neben dem Aufspannen der Segel und der Beschreibung der Route aus der Perspektive des Schiffsreisenden in ein Set aus Nostos-Anleihen ein, das Rutilius in verschiedenen Variationen für die Beschreibung der Eröffnung der einzelnen Tagesetappen zu nutzen weiß.25 Am dritten Tag also sei man, noch bevor die Schatten der Nacht sich erhoben hätten, in See gestochen26 , da sich ein ausdrücklich günstiger Fahrtwind den Reisenden angekündigt habe, der – man beachte die vAlliteration (vicino vertice vento, V. 314) – vielleicht auch vom Leser zu vernehmen ist. Stark von einer poetischen Visualisierung scheint nun die erste erwähnenswerte „Sehenswürdigkeit“ geprägt zu sein, der sich der Schiffsreisende an diesem Tag nähert. Denn der Mons Argentarius taucht geradezu bildlich von Wogen umrahmt (in medias mons Argentarius undas) vor dem Auge des Betrachters auf und bedrängt die blauen Buchten mit der geographischen Besonderheit eines doppelten Kamms (ancipitique iugo). Die Art und Weise, in der Rutilius an dieser Stelle den Mons Argentarius in Szene setzt, scheint dabei für den Texttyp einer Reisebeschreibung nicht ungewöhnlich zu sein.27 Unter dem Aspekt der Bewegung des Betrachters wird die natürliche Umgebung nämlich oftmals nicht beiläufig wahrgenommen, sondern als bedeutend „erlebt“.28 Dabei scheint Rutilius das unmittelbare „Erlebnis“ der Umfahrung des Mons Argentarius in mehrfacher Hinsicht überhöht darzustellen. Zum einen schätzt er die räumlichen Verhältnisse zwischen der Strecke, die man zum Umfahren der Halbinsel zu Wasser zurücklegen muss, also „seinem Weg“, und dem überquerenden Landweg sehr unrealistisch ein. Denn, auch wenn man in Rechnung stellt, dass Längenverhältnisse im Vorbeifahren nur schwerlich ins Verhältnis zu setzen sind, scheint es sich bei einem „Verschätzen“ um das Eineinhalbfache kaum um einen dichterischen Fauxpas zu handeln.29 Des Weiteren passt zu dieser deutlich überhöhten Beurteilung des eigenen Fahrtweges auch der anschließende Vergleich des wohl eher unter Experten bekannten Mons Argentarius mit der vielleicht berühmtesten und geschichtsträchtigsten Meerenge im Mittelmeer, dem Isthmos von Korinth. Diese von Rutilius augenscheinlich gesuchte hyperbolische Vergleichsebene lässt sich bis in stilistische Details verfolgen, zum Beispiel durch die auffälligen Epitheta (Ephyreius, Ionias), die der Beschreibung einen color Graecus verleihen und die Darstellung so insgesamt sehr prätentiös erscheinen lassen.30 25 Die strukturierende Funktion epischer Tagesverläufe (Aufbruch im Morgengrauen, Aufspannen der Segel, Beschreibung der Route aus Perspektive des Schiffsreisenden) wird bereits von Grupp 1953, 125–135, einschlägig beschrieben, ebenso wie Rutilius’ offenkundige Orientierung an der Schiffsroute des Aeneas. Dazu auch Maaz 1988, 237–239. 26 Der Text ist an dieser Stelle stark konjiziert. Doblhofer 1977, 151, geht in Bezug auf decessis [umbris] von einem Partizip Perfekt Passiv in aktiv-intransitiver Bedeutung aus, wobei es sich um einen altlateinischen Sprachgebrauch handele, der im Spätlateinischen wieder gebräuchlich geworden sei. Ähnlich argumentiert Wolff 2007, 75. In Bezug auf permittimur übernehmen beide Textausgaben eine Konjektur von Castalio. Überliefert ist einhellig das unpersönliche permittitur. Vgl. dazu Doblhofer 1977, 152, sowie Wolff 2007, 75. 27 Vgl. dazu den Beitrag von Cordula Bachmann in diesem Band (siehe unten, S. 373–384), der sich mit einer Insel(und Inselfahrts-) Ekphrasis in Philostrats Eikones auseinandersetzt. 28 Siehe Haye 2003, hier 181. 29 Siehe dazu Doblhofer 1977, 153: „Der Umfang beträgt höchstens zwei, nicht drei Dutzend Meilen.“ 30 Zu Rutilius’ Affinität zum sogenannten color Graecus im Zusammenhang mit italischen Ortsbezeichnungen siehe Doblhofer 1977, 153.

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Die starke dichterische Überhöhung des Mons Argentarius strahlt im Folgenden auch auf die Beschreibung der nautischen Herausforderungen des Streckenabschnitts aus. Insofern der Mons Argentarius einem Miniatur-Isthmos gleichkommt, kann wohl auch seine Umschiffung als anspruchsvolle Herausforderung für einen geübten Steuermann gelten. Es überrascht daher nicht, dass der Sprecher die Kunst des Kurshaltens angesichts der augenscheinlich schwierigen topographischen Bedingungen im Umfeld des Mons Argentarius (sparsae dispendia rupis, totiens mutantur spiramina) deutlich hervorhebt. Bei der Einhaltung eines solch komplizierten Weges hängt das Schicksal der Reisegesellschaft schließlich umso mehr von der cura eines Steuermannes ab, der zu keiner Zeit unachtsam sein darf und seiner Aufgabe stets mit großer Anstrengung (gravi labore) nachkommen muss. Was hier als komprimierte Aussage über die Komplexität der Umschiffung des Mons Argentarius erscheint, dürfte dem Leser allerdings nicht nur die cura des Steuermanns31 beim Einhalten des Seeweges vor Augen führen, sondern gleichzeitig auch die cura des Dichters bei der Kontrolle des entsprechenden „Textweges“. Beide Tätigkeiten sind zweifellos Expertisen, die dem, der sie ausübt, äußerste Anstrengung (gravi labore) abverlangen.32 Grundlegende Richtungswechsel können sich beim Dichten wie in der Seefahrt leicht als gefährlich erweisen, und auch die Erfahrung, dass die „Segel“, die eben noch nützlich waren, nun das Gegenteil bewirken, lässt sich unschwer von der Nautik auf die Poetik übertragen.33 Dass Rutilius in seiner Reisebeschreibung eine Affinität zu stilistischen Richtungswechseln hat, legte andeutungsweise bereits meine Analyse der Abschiedsszene von Rom nahe. Denn mit der Zurückweisung des Landweges scheint hier implizit eine Zurückweisung der Musa pedestris inszeniert zu sein. Allerdings eilen die (Vers-)Füße des Dichters auch der präferierten Seereise, die traditionell mit dem Epos in Verbindung gebracht wird, nicht sogleich entgegen. Gerade bei einem Schlingerkurs, wie er also nicht nur von einem Steuermann, sondern auch von einem Dichter gefordert (und gelegentlich wohl auch herausgefordert) wird, dürfte nur ein Meister seines Faches nicht Schiffbruch erleiden.34 Nicht überraschend ist es daher, dass Rutilius das,

31 Bei der cura sinuum handelt es sich wohl um einen Fachbegriff aus der Seefahrt, der das sorgfältige Einhalten der Fahrtrichtung bei der Umschiffung von Krümmungen beschreibt. Diese Aufgabe obliegt dem Steuermann. Vgl. Doblhofer 1977, 154. 32 Vgl. Krasser (in diesem Band, siehe unten, S. 166): „Ganz explizit wird im Blick auf die Produktion und schließlich die Vollendung des Epos der Aspekt labor und damit der poetischen Anstrengung und nicht zuletzt der poetischen Feile hervorgehoben. Zugleich wird aber mit dem Motiv der Reise und zumal der glücklichen Ankunft im Hafen auch auf die lange Dauer, den prozessualen Charakter der Entstehung eines Werkes und nicht zuletzt auf das artificium des geschickten Navigators verwiesen, der ja ebenfalls als Chiffre für den kunstfertigen Literaten Verwendung findet.“ 33 Der Vergleich des Dichters und Redners mit einem Steuermann ist durchaus geläufig. Vgl. Lieberg 1969 zur Schifffahrtsmetaphorik bei Pindar, hier 211: „Bei der poetischen Seefahrt kann sowohl der Dichter wie sein Gesang als Passagier oder auch aktiv als der die Bewegung des Schiffes lenkende Seemann erscheinen“, und in den Reden Ciceros, hier 221: „Der Redner ist wie ein Kapitän, seine Rede wie ein Schiff, Schwierigkeiten der Verteidigung sind Untiefen und Klippen; nach deren Umschiffung kann das Schiff der Rede seine ungestörte Reise auf offener See antreten.“ 34 Auch die Schwierigkeiten, denen der Steuermann/Dichter/Redner bisweilen ausgesetzt ist, bilden innerhalb der Seefahrtsmetaphorik ein etabliertes Set, das in unterschiedlicher Ausprägung zum Beispiel bei Cicero zu finden ist, der von den perturbationes spricht, durch die er seine oratio hindurchsteuern muss (Cic. Tusc. 4,14,33), oder bei

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was im Falle seiner Dichtung als „Schiffbruch“ gelten könnte, gegen Ende der Tagesetappe noch einmal ins Bild setzt und die beiden Extreme, zwischen denen er seinen Text im Verlauf der Reise hin und her bewegt, in entsprechenden Metaphern verdeutlicht. Seine Expertise in der „Steuerung“ des Textverlaufs führt der Dichter dem Leser zunächst aber in Bezug auf eine andere Fähigkeit direkt im Anschluss an den kurzen metapoetischen Einschub vor Augen. Den nächsten Fixpunkt seiner Reisebeschreibung lässt Rutilius nämlich qua poetischer Imaginationskraft gleichsam zu einem „Erinnerungsort“ der eigenen Zeitgeschichte werden. Der Leser erfährt hier von einem Flüchtlingsdrama, das sich erst kürzlich (nuper) auf der Insel Igilium ereignet habe, das aber auf einen Erfahrungsraum verweist, der unmittelbar dem Epos zu entspringen scheint. 3.2 Igilium – die Insel der Flüchtlinge Rutil. 1,325–336: 325

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eminus Igilii silvosa cacuminal miror, quam fraudare nefas laudis honore suae. haec proprios nuper tutata est insula saltus sive loci ingenio seu domini genio, gurgite cum modico victricibus obstitet armis tamquam longinquo dissociate mari. haec multos lacera suscepit ab urbe fugatos, hic fessis posito certa timore salus. plurima terreno populaverat aequora bello contra naturam classe timendus eques. unum mira fides vario discrimine portum tam prope Romanis, tam procul esse Getis. Von fern bewundere ich die bewaldeten Gipfel der Insel Igilium; ein Frevel wäre es, sie um die Ehre des ihr gebührenden Lobes zu betrügen. Diese Insel schützte vor kurzem ihre eigenen Wälder, sei es durch die günstige Lage, sei es durch den Genius des Kaisers, als sie obgleich nur durch einen schmalen Meeresarm vom Festland getrennt, den Waffen der Sieger so widerstand, als läge sie weit draußen im Meer. Sie nahm viele Flüchtlinge aus der zerstörten Stadt auf; hier winkte den Erschöpften Furchtlosigkeit und Geborgenheit. Meer um Meer hatten im Laufe eines Landkrieges verheert die Reiter, die wider die Natur zu Schiff ein Schrecken wurden; wunderbar ist es und doch wahr, dass in unterschiedlichem Abstand ein und derselbe Hafen so nah den Römern, so fern den Geten liegen konnte.35

Der äußerliche Anblick der Insel Igilium scheint den Sprecher des Gedichts zunächst in einen Zustand staunender Bewunderung zu versetzen.36 An diesem unmittelbaren Reflex sind – so suggeriert jedenfalls die Wahrnehmungslenkung des Textes – die bewaldeten Gipfel (silvosa cacumina) der Insel schuld. Das geographische Detail dient allerdings nicht nur zur VisualisieProperz, der sich gar vor einem Schiffbruch fürchten muss, sofern er sein leichtes Boot überlädt und dem Tumult der hohen See aussetzt (einschlägig Prop. 3,3,22–24 und 35f.). Siehe dazu Lieberg 1969, 221, 235–238. 35 Übersetzung: Doblhofer 1972, 113. 36 Mit dem stark rhetorisch geprägten Abschluss der Episode durch mira fides (V. 335) scheint der erste Eindruck des miror nochmals aufgegriffen zu werden.

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rung des entsprechenden Fixpunktes der Reise, sondern stellt möglicherweise auch eine textuelle Markierung dar, die ein entsprechendes intertextuelles Echo innerhalb der Reisebeschreibung erzeugt. Denn mit der Beschreibung der silvosa cacumina der Insel Igilium scheint Rutilius mit großer Finesse auf einen Prätext zu verweisen, der das Flüchtlingsdrama von Igilium in einen stark episierten Erfahrungshorizont stellt. Es handelt sich bei diesem Prätext um eine recht kurze fahrtbeschreibende Passage im Anschluss an die Harpyien-Episode der Aeneis, in der mit dem plötzlichen „Auftauchen“ der klanglich den silvosa cacumina sehr ähnlichen nimbosa cacumina auf den nächsten Haltepunkt der trojanischen Flüchtlinge, den Mons Leukatae, hingewiesen wird.37 Ein intertextueller „Nachhall“ der vergilischen Beschreibung nimbosa cacumina dürfte vor dem Hintergrund, dass die Echo-Wirkung Igiliums im folgenden Distichon ja geradezu deiktisch im Text inszeniert wird, für einen gebildeten Leser durchaus vernehmbar gewesen sein.38 In V. 328 nämlich scheint das abschließende genio (des Kaisers) das zuvor genannte ingenio (des Ortes) widerhallen zu lassen. Die silvosa cacumina aus V. 325 könnten somit – in einer etwas artifizielleren Ausprägung – ebenfalls als Widerhall wahrgenommen werden, und zwar als Widerhall des Klangbildes nimbosa cacumina aus der Aeneis. Eine solche mnemo-akustische Verbindung erscheint umso plausibler, insofern sich die nimbosa cacumina von Leukates und die silvosa cacumina von Igilium auch auf motivischer Ebene parallelisieren lassen. Beide fungieren als Zufluchtsort für eine Gruppe von Flüchtlingen: Leukates für die Trojaner um Aeneas und Igilium für die Römer, die 410 durch den Einfall der Vandalen aus Rom vertrieben wurden.39 Die Sprechhaltung innerhalb des Passus zeugt ihrerseits vom Bestreben, die Insel Igilium innerhalb des reditus als einen Ort zu stilisieren, in dem sich die dramatischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit episodisch verdichten. So scheint sich der Sprecher des Gedichts von Beginn an dem Bann der Insel kaum entziehen zu können. Seine Affizierung durch das ingenium loci geht sogar so weit, dass er die Örtlichkeit selbst als einen Handlungsträger begreift, der sich der Siegermacht der Feinde aktiv entgegengestellt habe (victricibus obstitit armis). Den erschöpften römischen Flüchtlingen scheint Igilium einen Zufluchtsort geboten zu haben, der aufgrund seiner Sicherheit und Geborgenheit mit den glücklichen Landungsorten im Irrfahrtenbuch der Aeneis verglichen werden kann.40 Eine Parallelisierung von Igilium mit Leukates, dem Ort, an dem Aeneas nach dem Harpyien-Abenteuer überwintert, wird mit diesem Detail also erneut provoziert.41 37 Verg. Aen. 3,274f.: mox et Leucatae nimbosa cacumina montis/et formidatus nautis aperitur Apollo. 38 Bereits für die Beschreibung der Haltepunkte Graviscae und Cosa, die der Sprecher am Vortag passiert (Rutil. 1,277– 292), spielte diese Aeneis-Reminszenz eine gewisse Rolle, insofern sie der auf der Textoberfläche episch überhöhten Fahrt des Sprechers auf der Schiffsroute des Aeneas – Graviscae und Cosa werden beide im Heerfolgekatalog der Aeneis genannt – durch die pointierte Verknüpfung des Sumpfloches Graviscae mit den stinkenden Harpyien aus der Aeneis einen leicht satirischen Unterton verleiht. 39 Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund siehe Wolff 2007, 76: „Lacera . . . ab urbe (v. 331) fait sans dout allusion aux événements de 410, quand les Romains cherchèrent un refuge loin de la ville qu’ Alaric mettait à sac. Le role joué par Igilium (aujourd’hui Isola del Giglio) en la circonstance n’est attesté par aucune autre source.“ 40 Soler 2006, 300, führt als Parallelstellen zum Beispiel die Landung der Trojaner in Delos an (Aen. 3,78f.): huc feror, haec fessos tuto placidissima portu/accipit. Auch in Aen. 3,85 (Kreta) und Aen. 3,376 (Leukates) wird mit ähnlichen Stereotypen operiert. 41 Bezeichnenderweise gehen die Trojaner hier ebenfalls explizit als Erschöpfte an Land (Aen. 3,276): hunc petimus fessi.

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Neben der Stilisierung des Ortes als quasi-epische Flüchtlingsinsel operiert Rutilius bei der Imagination der Ereignisse, die sich jüngst auf Igilium zugetragen haben, mit starken antithetischen Fügungen, die gleichzeitig die Macht der Feinde Roms und die Widernatürlichkeit ihrer Kriegsführung zum Ausdruck bringen. So hätten beispielsweise die hier als Geten bezeichneten Invasoren in einem Krieg, der eigentlich ein Landkrieg gewesen sei, das Meer verheert (terreno populaverat aequora bello, V. 333). Ihre Reiterei hingegen sei gerade durch die (kooperierende) Flotte zum Schreckgespenst der Römer geworden (classe timendus eques, V. 334). Aus der Schilderung der Widernatürlichkeit (contra naturam, V. 334) einer solchen Kriegsführung lässt sich ein Gefühl der Verunsicherung des Sprecher-Ichs ableiten, insofern sicher geglaubte Deutungskategorien (Wasser – Land) nicht mehr zu greifen und entsprechende militärische Handlungsstrategien nicht mehr zum Erfolg zu führen scheinen. So wie sich See- und Landkrieg bei den Geten zu neuartigen Manövern verbinden, von denen die Gegner unversehens überwältigt werden, scheint auch Rutilius in der Darstellung der Geschehnisse neue Verbindungen zwischen epischen Seereiseerfahrungen und der „Fußgängermuse“ zu erproben. Die poetologischen Sets, die traditionell mit Seefahrt und Landgang verknüpft sind, werden – wie der Abschluss des dritten Reisetags noch zeigen wird – nicht nur vermischt und in eine neuartige Verbindung gebracht, sondern während der bisweilen schlingernden Fahrt auch hinterfragt und bei Bedarf neu austariert. Die Insel Igilium als Beispiel für eine solch enge Verknüpfung von intertextueller Perspektivierung und poetologischer Überformung innerhalb des reditus wird insofern also nicht nur dadurch zu einem Erinnerungsort, dass der Sprecher des Textes hier, obwohl es dafür keine „sichtbaren“ Anhaltspunkte mehr zu geben scheint, ein Flüchtlingsdrama der unmittelbaren Vergangenheit pathetisch nacherzählt. Vielmehr provoziert Rutilius in diesem Zusammenhang eine Wahrnehmungsverschiebung – von der grünen Insel (silvosa cacumina) zum historischen „Monument“ –, indem er ein Ereignis seiner Zeitgeschichte auf der Folie aeneischer Flüchtlingserfahrungen schildert. Im Zuge der Beschreibung der konkreten Kriegshandlungen wird der epische Erfahrungsraum allerdings ein wenig aufgewühlt. Denn der Dichter scheint Igilium zwar einerseits als einen Ort im kulturellen Gedächtnis seiner Zeitgenossen etablieren zu wollen, an den sich die erschöpften römischen Flüchtlinge retten konnten. Andererseits aber gibt er auch den Geten, die in ihrer Kampftechnik klassische Handlungsmuster unterlaufen und die Römer so erst zu Flüchtlingen gemacht haben, einen nicht unbedeutenden Raum in seiner Darstellung. An diesem Detail lässt sich bereits eine besondere Dynamik des Textes erahnen, bei der ein durchgängig wahrnehmbarer epischer Grundton zum Beispiel durch bestimmte inhaltliche Wendungen relativiert wird und so für Konventionen anderer antiker „Reisegattungen“ Darstellungsund Deutungsräume eröffnet. Im konkreten Falle könnte die beschriebene Kampftechnik der Geten also eine gewisse Verunsicherung darüber auslösen, ob sich Rutilius’ Darstellung gerade noch im Seefahrtsmodus, sprich epos-typisch, oder eher im Fußgängermodus, sprich satiretypisch, bewegt. Denn die hier vorgenommene Verbindung von Land und Meer erscheint geradezu grotesk, führt man sich eine Flotte, besetzt von Reitern und Schlachtrössern, bildlich vor Augen. In ihrer Widernatürlichkeit und Absurdität erinnert ein solches Szenario beinahe an Formen der Epospersiflage, wie sie für die Reisesatire typisch zu sein scheint und zum Beispiel auch in Horazens Iter Brundisinum im Rahmen seines Aufenthaltsauf dem Landgut des Cocceius

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theatralisch geschildert wird.42 Man könnte also in der militärischen Mischform, die Rutilius den Geten hier attestiert, eine Metapher erkennen, und zwar für die variantenreiche Vermischung überkommener Gattungskonventionen, die Rutilius im Verlauf seiner Reisebeschreibung zu erproben scheint. Beide Implikationen einer solch selbstreferentiellen Deutung des Textes, also die Schwächung der epischen Perspektive und die metapoetische Aufladung des Topos der (widernatürlichen) Vermischung, scheinen für die letzte Binnenetappe des dritten Reisetages eine gewisse Rolle zu spielen. 3.3 Unannehmlichkeiten nahe dem Umbrodelta und Nachtlager Rutil. 1,337–348:

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tangimus Umbronem; non est ignobile flumen, quod tuto trepidas excepit ore rates. tam facilis pronis semper patet alveus undis, in pontum, quotiens saeva procella ruit. hic ego tranquillae volui succedere ripae, sed nautas avidos longius ire sequor. sic festinantem ventusque diesque reliquit: nec proferre pedem nec revocare licet. littorea noctis requiem metamur arena; dat vespertinos myrtea silva focos. parvula subiectis facimus tentoria remis, transversus subito culmine contus erat. Wir passieren die Mündung des Umbro. Der ist kein unbekannter Fluss, nimmt er doch Schiffe in Seenot in sicherer Mündung auf; so leicht zugänglich steht sein Bett stets mit geneigten Wellen offen, sooft ein grimmiger Sturm über die See hereinbricht. Hier wollte ich an der stillen Küste landen, doch fügte ich mich den Seeleuten, die auf Weiterfahrt drangen. Auf dieser hastigen Fahrt ließen mich der Wind und das Tageslicht im Stich: wir können weder vorwärts noch zurück. Auf dem Sandstrand messen wir den Lagerplatz für die Nachtruhe aus; ein Myrtenwald spendet das Holz für das abendliche Feuer. Wir errichten kleine Zelte: gekreuzte Ruderpaare wurden in die Erde gesteckt und eine Ruderstange quer darübergelegt; so entstand schnell ein Dachfirst.43

Der dritte Reisetag findet seinen Abschluss mit einer weiteren fahrtbeschreibenden Passage. Wie sich schon bei der Analyse der Abreiseszene gezeigt hat, nutzt Rutilius Erzählphasen, in denen er die konkrete Reisebewegung fokussiert, gerne dazu, sein eigenes Dichten ins Bild zu setzen.44 Auch in dieser erzählerische Einheit (V. 337–348) scheinen metapoetische Überlegungen den Text inhaltlich zu verdichten und kompositorisch auf den Anfang des dritten Reisetages zurückzubeziehen. Denn bereits unmittelbar vor seiner Vorbeifahrt an der Insel Igilium ließ sich die kurze Anmerkung des Sprechers über die Schwierigkeiten des Kurshaltens bei wechselnder Fahrtrichtung nicht nur als Hinweis auf die Kunst des Steuermanns lesen, sondern auch als Hinweis auf die Expertise des Dichters, der – wie ein Steuermann sein Schiff – seine Fahrtbeschreibung stetig auf Kurs halten muss. 42 Hor. sat. 1,5,50–70. 43 Übersetzung: Doblhofer 1972, 113. 44 Vgl. dazu oben Rutil. 1,35–44 und meine Interpretation der Szene.

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Das epische Motiv des Seesturms, das in dieser ersten fahrtbeschreibenden Passage des Tages mit dem häufigen Wechsel der spiramina (V. 323) bereits angedeutet wurde, greift Rutilius nun bei der Beschreibung der Mündung des Umbro wieder auf. Das Flussbett des Umbro nämlich sei vom Meer aus besonders leicht zugänglich und biete einen sicheren Hafen, sooft ein hässlicher Sturm (saeva procella, V. 340) aufziehe. Nach der kurzen Darlegung der besonderen Eigenschaften des Umbrodeltas widmet sich Rutilius mit hic ego tranquillae volui succedere ripae (V. 341) allerdings recht unvermittelt den Befindlichkeiten des Sprecher-Ichs bei der Vorbeifahrt an diesem Fixpunkt der Reisebeschreibung. Die sich darin abzeichnende Verschiebung des Fokus von der Beschreibung der Landschaft hin zu einem sehr persönlichen Erleben des Fahrtverlaufs deutet auf einen Wechsel in der Sprechhaltung hin, der für den letzten Abschnitt des dritten Reisetages prägend ist. Der „epische Reisemodus“, der durch die topische Aufbruchsszenerie und die intertextuellen Aeneis-Verweise bei der Umfahrung von Igilium mehrfach unterstrichen wurde, wird dabei vorübergehend in den Hintergrund gedrängt. Auf der Ebene des Plots wird der Eindruck eines solchen relativ abrupten „Richtungswechsels“ durch die Tatsache unterstrichen, dass der Wunsch des Sprechers, an den stillen Ufern des Umbros zu landen, durch die vorausgehende Beschreibung der Flussmündung nicht unmittelbar motiviert wird. Von einem landläufig bekannten Haltepunkt in der Umgebung des Umbrodeltas, sei es, dass es sich um ein besonderes „Naturwunder“45 , eine historische Stätte oder Ruine46 , eine technische Attraktion47 oder schlicht um den benachbarten Wohnsitz eines Freundes48 handelt, erfährt der Leser jedenfalls nichts. Diese Leerstelle innerhalb der Beschreibung lässt ihrerseits einen gewissen Raum für Spekulationen, so dass man für die unerwartete Sehnsucht nach einem ruhigen Ufer auch ganz persönliche Gründe des Sprecher-Ichs konstruieren könnte, zum Beispiel plötzlich auftretende gesundheitliche Beschwerden. Dass Reisende bei aufkommendem Wind und stärkerem Seegang, was in dieser Umgebung des Umbrodeltas ja nicht selten der Fall zu sein scheint, seekrank werden, ist per se wohl nichts Ungewöhnliches. Die folgenden Ausführungen über den Zustand des Sprechers scheinen eine solche Hypothese tatsächlich zu stützen.49 45 Beispielhaft kann der Besuch der Thermae Taurinae genannt werden, deren geographisch-balneologische Beschreibung Rutilius mit einem aus dem Namen entwickelten Lokalaition verbindet. Siehe Rutil. 1,249–276. Aber auch die Beschreibung der Hafenanlage von Pisa (Rutil. 1,533–540) wird mit den Worten mira loci facies eingeleitet. 46 Als Ruinenlandschaft wird eine Reihe von Orten dargestellt, die der Sprecher auf der Schiffsroute des Aeneas am ersten und zweiten Reisetag passiert: Pyrgi, Caere (Rutil. 1,223–226), sowie Cosa und Graviscae (Rutil. 1,277–292). 47 Dazu lassen sich zum Beispiel die Salinen zählen, die der Sprecher des Gedichts im Zusammenhang mit einem Besuch bei seinem Freund Albinus besichtigt (Rutil. 1,475–490). 48 Beispiele für Besuche bei Freunden der aristokratischen Oberschicht zählen zu den Standardsituationen innerhalb der Reisebeschreibung. Oft nimmt Rutilius den Besuch zum Anlass, um entsprechende Enkomia in seinen Text einzuflechten. Exemplarisch könnte man den Aufenthalt bei Victorinus anführen (Rutil. 1,490–510), den Rutilius als Glück im Unglück darstellt, insofern er hauptsächlich der ungünstigen Wetterlage geschuldet sei: o quam saepe malis generatur origo bonorum!/tempestas dulcem fecit amara moram. (Rutil. 1,490f.). Zudem gibt es für das Motiv des der Zwischenstopps bei Freunden auch in klassischen Texten lateinischer Reiseliteratur prominente Beispiele. In diesem Band setzt sich Benferhat unter anderem mit Cicero-Briefen auseinander, in denen das „Absteigen bei Freunden“ thematisiert wird (siehe oben, S. 76–78). 49 Vgl. dazu Norwood 1947, 36, der über den Vorfall recht rigoros urteilt: „No doubt he was seasick.“ Tatsächlich litten römische Passagiere aufgrund der stärkeren Rollbewegung antiker Schiffe unter sehr viel stärkeren Schiffsbewegungen als moderne Reisende. Vgl. dazu Kirstein et al. in diesem Band (siehe oben, S. 21–30).

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Die Seeleute nämlich, die auf eine rasche Weiterfahrt aus gewesen seien, hätten sich dem Begehren nach einer Rast am Ufer des Umbro widersetzt und damit eine Entscheidung getroffen, die nicht folgenlos bleiben sollte.50 Den (nun entgegen dem eigenen Willen auf dem Wasser) dahineilenden Sprecher lassen „Wind und Tag“, die Grundkonstanten einer sicheren Kontrolle der Fahrt, im Stich (sic festinantem ventusque diesque reliquit, V. 343). Dabei ist sein persönliches Erleben der Reise vorbei am Ruhe verheißenden Umbrodelta in Worte gekleidet, die Aeneas’ Begegnung mit Skylla und Charybdis gleichen. Hier verlassen nämlich – so wörtlich – „Sonne und Wind“ die erschöpften Seefahrer, ehe sie anscheinend steuerungsunfähig bei den Cyclopen stranden.51 Erkennt man im „Verlust von Wind und Tag“ eine gesuchte Aeneis-Reminiszenz, scheint Rutlilius das konkrete Fahrterlebnis also zunächst erneut episch zu perspektivieren. Als Begegnung mit einer „Quasi-Charybdis“ würde sich dieses Detail mit Begebenheiten, die Rutilius’ iter als persönlichen Nostos stilisieren, nur allzu gut verknüpfen lassen.52 Eine Besonderheit dieser konkreten Anleihe besteht allerdings darin, dass der vorübergehende „Verlust von Wind und Tag“, wenn man die Wendung hier konkret auf den persönlichen Erfahrungshorizont des Sprechers appliziert, auch als Symptombeschreibung der Seekrankheit gelesen werden könnte. Als „Dahineilender“ von Wind und Tag verlassen zu werden, würde dann so viel bedeuten, wie einen umfangreichen Verlust der eigenen sinnlichen Wahrnehmung zu erleiden.53 Eine in diesem Sinne individualisierte Form des Kontrollverlusts lässt sich zwar nicht mehr so gut in einen epischen Erfahrungshorizont einordnen, dafür aber umso besser in die ebenfalls sehr subjektiven (zum Teil sogar ein wenig selbstmitleidigen) Krankheitserlebnisse in den satirischen Reisebeschreibungen. So kämpft Horaz auf seinem Weg nach Brundisium bekanntlich mit einer hartnäckigen Augenentzündung und sein Reisegefährte Vergilius verdirbt sich den Magen, was dazu führt, dass die beiden nicht – wie ihr Reisegefährte Maecenas – in Capua am Ballspiel teilnehmen können, sondern das Bett hüten müssen.54 Dieser ganz freimütigen und beinahe naiven Beschreibung der Konsequenz des Krankseins („Wir konnten nicht mitspielen“) lässt sich ebenfalls ein Element aus Rutilius’ Darstellung gegenüberstellen. Denn auch hier werden die „Folgeerscheinungen“ des erlittenen Wahrnehmungsverlusts geradezu bildlich vor Augen geführt. Die Tatsache, dass der Sprecher seine eigenen Bewegungen nicht mehr koordinieren kann, wird durch die Unmöglichkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen oder [einen Fuß] zurückzuziehen (nec proferre pedem 50 Dass ein Reisender die Schiffsmannschaft darum bittet, ein sicheres Ufer anzusteuern, lässt sich bereits als vorausdeutender Hinweis für die sich einstellende Seekrankheit des Sprechers lesen. Vgl. zu irrationalen Verhaltensmustern von seekranken Passagieren Kirstein et al. in diesem Band (siehe oben, S. 31–34) mit dem Verweis auf eine ähnliche Reiseerfahrung des jüngeren Seneca (Sen. epist. 53,2–4). 51 Vgl. Verg. Aen. 3,567: interea fessos ventus cum sole reliquit. 52 Zu nennen wären hier zum Beispiel die einschlägigen Reminiszenzen am ersten und zweiten Reisetag an die Schiffsroute des Aeneas sowie die Verknüpfung der in Graviscae vorgefundenen stinkenden Sumpflandschaft mit der Harpyien-Episode aus dem Irrfahrten-Buch der Aeneis. Zum „Nachhall“ der Harpyien-Episode bei der Beschreibung von Igilium siehe meine Ausführungen oben. 53 Rutilius beschreibt hier ein typisches Merkmal des sogenannten Sopite Syndroms, das neben Übelkeit und Erbrechen einen Teilbereich der Seekrankheit darstellt. Das Sopite Syndrom äußert sich in Form von Langeweile, Apathie, Kopfschmerzen, Entscheidungsschwierigkeit, Wahrnehmungsschwierigkeiten, erhöhter Irritabilität und sogar Persönlichkeitsveränderungen. Vgl. dazu Kirstein et al. in diesem Band (siehe oben, S. 31f.). 54 Hor. sat. 1,5,30f. sowie 1,5,48f.

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nec revocare licet, V. 343), drastisch dargestellt. Eine Ähnlichkeit zu Horazens Reiseerfahrungen besteht an dieser Stelle also nicht nur im Kranksein des Sprechers an sich, sondern auch in der durch die Krankheit erzwungenen Bewegungsunfähigkeit. Formal scheint Rutilius den Satiriker in seiner Darstellung des Krankseins sogar noch zu überbieten, insofern er durch die Verwendung des Präsens das Leiden des Sprecher-Ichs sogar noch etwas „dramatischer“ beschreibt als Horaz.55 Seine konkrete Wortwahl wirkt dabei zunächst allerdings eher undramatisch, denn die Kernaussage scheint geradewegs dem Fachjargon der Seeleute entlehnt zu sein. pedem proferre fungiert nämlich in der Nautik als Ausdruck für das „Ausstrecken“ des pes veli, des Segeltaues.56 Die Kombination der Fügung mit nec revocare muss in diesem Zusammenhang hingegen ein wenig irritierend wirken. Was sollte man unter dem „Zurückrufen“ eines Fußes oder gar eines Segeltaus verstehen? Es stellt sich daher die Frage, wie die Brüchigkeit in der Metaphorik an dieser Stelle zu verstehen ist. Beim Versuch, die scheinbare Inkonzinnität aufzulösen, stößt man schnell auf eine weitere Bedeutungsebene des Begriffs pes, aus der sich eine gänzlich neue Lesart des Verses ergibt. Dabei handelt es sich um eine Lesart, die die Autoreflexivität des Textes in den Vordergrund stellt und pes dementsprechend weder als konkreten Körperteil noch als nautisches Fachwort begreift, sondern als „Versfuß“. Die Unfähigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen, geschweige denn einen Fuß zurückzurufen, ließe sich dann als eine Art „Lähmung der Versfüße“ verstehen, die den Dichter in seinem rastlosen Dahineilen ohne feste Wahrnehmungskoordinaten (sic festinantem ventusque diesque reliquit, V. 343) befällt. Auch der zweite Teil der beschriebenen Symptomatik, die Unmöglichkeit, einen Versfuß „zurückzurufen“ und damit das, was einmal fixiert wurde, wieder zu revidieren, scheint sich hier ins Bild einzufügen. Denn eine dichterische Krise kann sich ja nicht nur durch ein Stocken im produktiven Textfluss dartun, sondern auch durch zwanghaftes Festhalten an einem vorläufigen Textentwurf. Gemäß einer solchen metapoetischen Lesart von V. 344 würde also der Sprecher die Möglichkeit des Scheiterns an der Aufgabe, den realen reditus in einen literarischen Text zu transformieren, im Bild der Seekrankheit in Szene setzen. Dies scheint vor dem Hintergrund, dass Rutilius ja bereits zu Beginn der dritten Tagesetappe mit der Schwierigkeit des „Kurshaltens“ kokettierte (V. 323f.), nicht unplausibel zu sein. Schließlich würde sich auch die doppelte Perspektivierung von V. 343, im Sinne eines quasi-epischen Charybdis-Erlebnisses bzw. im Sinne eines quasi-satirischen Krankheitserlebnisses, in eine solche Interpretation einbinden lassen. Sie bringt nämlich die beiden Extrempole, zwischen denen sich Rutilius’ Reisebeschreibung stetig hin- und herbewegt, im Sinne eines doppelten Verweises auf engstem Raum zusammen. Die dichterische Bewegungsunfähigkeit (V. 344: nec proferre pedem nec revocare licet) wäre dann als Gegenmodell zum meisterhaften Lavieren zwischen den beiden Extrempolen „Epos“ und „Satire“ zu verstehen, welches der Dichter zuvor mit der Expertise eines Steuermanns verglichen hatte. Dass ein solcher Kontrollverlust über den Textverlauf hier allerdings nur kurzfristig aufscheint, der Sprecher aber während der gesamten Fahrt niemals wirklich „Schiffbruch“ erleidet, 55 Die Wahl des Präsens licet gegenüber dem erzählenden Perfekt reliquit im Vers zuvor könnte auch für eine Abgrenzung von Ursache (V. 343) und Wirkung (V. 344) sprechen. 56 Siehe Doblhofer 1977, 160, mit Verweis auf eine entsprechende Verwendung bei Plin. nat. 2,128 und Sen. Med. 321f.

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zeigt sich bereits darin, dass er – trotz Skylla und Charybdis, trotz Seekrankheit und/oder trotz Schaffenskrise – noch in der Lage ist, die Tagesetappe in den folgenden beiden Distichen „ordnungsgemäß“ zu Ende zu bringen. Er beschreibt darin nämlich die Errichtung eines provisorischen Camps am Strand, ohne auf die Unannehmlichkeiten, die ihn während der Fahrt angeblich zusetzten, mit einem einzigen Wort einzugehen. Schnell wird deutlich, dass er sich dabei, was Szenerie und Ablauf betrifft, wieder sicher auf epischem Terrain bewegt. Das Errichten des Nachtlagers an sich zählt nämlich – als Pendant zur Beschreibung des morgendlichen Aufbruchs – zu den Elementen, die Rutilius’ Text am stärksten gliedern und in ihrer konkreten Ausgestaltung den entsprechenden Passagen aus der Aeneis am stärksten nachempfunden sind.57 Das Campieren in improvisierten Zelten, wie Rutilius es am Ende der dritten Tagesetappe darstellt, erinnert im Setting zudem stark an den Ort, an dem Aeneas und seine Gefährten unmittelbar vor ihrer Begegnung mit Charybdis übernachtet haben.58 Auch dieses Detail in der Beschreibung des Tagesabschlusses stellt also eine Verknüpfung mit dem zuvor inszenierten Kontrollverlust des Sprecher-Ichs her und hebt auf der Ebene des Prätextes gleichzeitig die Überwindung der Krisensituation hervor. Fasst man meine Überlegungen zur metapoetischen Struktur des dritten Reisetages zusammen, ergibt sich gerade vor dem Hintergrund der programmatischen Abschiedsszene von Rom die Hypothese, dass Rutilius seine in De reditu suo durchgängig zu beobachtende (See-)Wegmetaphorik am dritten Seereisetag gleichsam um eine knappe Poetologie der Seekrankheit erweitert.

4. . . . so kann er was erzählen Dass jemand, der eine Reise tut, etwas erzählen kann, scheint eine sprichwörtlich gewordene Wahrheit zu sein.59 Schließlich unterscheidet sich der Erlebnishorizont des Gereisten in vielen Dimensionen von dem seiner Zuhörer, so dass es ein Leichtes sein müsste, sie mit den eigenen Fahrterlebnissen zu beeindrucken und letztlich auch zu unterhalten. Bei meiner Analyse des dritten Reisetages innerhalb des spätantiken Reisegedichts De reditu suo lag der Fokus allerdings nicht so sehr auf dem „Etwas“, das der Reisende zu erzählen weiß, als vielmehr auf dem „Erzählen“ und „Erzählenkönnen“ selbst. Denn die Reise ist in Rutilius’ Gedicht nicht nur unmittelbar für den konkreten poetischen Plot verantwortlich, sondern fungiert gleichzeitig als strukturierendes Element seiner metapoetischen Überlegungen. Gerade Beschreibungen, in denen der Dichter die Fahrt selbst in den Blick nimmt, scheinen dabei in hohem Maße einen selbstreferentiellen Charakter zu haben, insofern Rutilius hier auf sein Werk als „Gedicht gewordene“ Fahrt verweist und bisweilen auch die schwierigen Umstände seiner Entstehung mit ins Bild setzt. Diese enge Verknüpfung von „Seefahrt und Werk“ stellt an sich noch keine Besonderheit dar. Rutilius bewegt sich mit einer solchen Programmatik vielmehr auf bereits „ausgefahrenen Wegen“ der poetologischen Darstellung.60 Charakteristisch erscheint allerdings der enge Bezug, 57 Vgl. dazu Grupp 1953, 125–135. 58 Aen. 3,509–511. 59 Das Zitat stammt aus Mathias Claudius’ Urians Reise um die Welt, erstmals veröffentlicht 1774 im Wandsbecker Bothen. 60 Als Überblick über die metaphorischen Verknüpfungen von Weg und Werk ist Lieberg 1969 immer noch einschlägig. Neuere Untersuchungen zur Wegmetaphorik finden sich zum Beispiel bei Asper 1997, 22–61.

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den er bei der Beschreibung von Seefahrt und Landgängen zu den entsprechenden Referenzgattungen der antiken Reisedichtung herstellt, so dass der Reiseverlauf an sich auf metapoetischer Ebene auch als Fahrt zwischen den Extrempolen „Epos“ und „Satire“ gelesen werden kann. Eine weitere Besonderheit von De reditu suo besteht darin, dass Rutilius den Prozess seines Suchens und Schlingerns geradezu performativ in Szene setzt. Beinahe mimetisch ahmt die Darstellung des Reiseverlaufs durch wiederkehrende Situationen des Beinahe-Scheiterns und Wiederaufrappelns das dichterische Abarbeiten am Textverlauf nach. Rutilius’ niemals ganz abgeschlossener dichterischer Selbstfindungstrip erscheint dabei weder als ängstlicher Versuch einer poetischen Rückbesinnung auf große Vorbilder noch als Ausdruck eines ethisch-moralischen Eskapismus. Vielmehr stellt sich De reditu suo gerade auf der Ebene seiner metapoetischen Differenziertheit und seiner prätentiösen Selbstreferentialität als handlungsorientiertes Experiment dar, das in der selbstbewussten Auseinandersetzung mit tradierten Vorbildern als Paradebeispiel für ein dichterisches Abarbeiten an der spätantiken Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gelesen werden kann.

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Teil II Nautik und Götter Reisen unter göttlichem Schutz

Mit Göttern reisen Das Propemptikon für Maecius Celer (Statius silvae 3,2) Helmut Krasser (Gießen) ERNST A. SCHMIDT OCTOGENARIO

1. Exposition Zu den spektakulärsten Anblicken auf den Meeren der Antike dürften die gewaltigen alexandrinischen Getreideschiffe gezählt haben, wie etwa jenes, das, vom Sturm abgetrieben und in Athen gelandet, ob seiner exorbitanten Größe das Staunen Lukians erregte.1 Anders als in Athen, das in der Kaiserzeit keine Bedeutung für den Seehandel hatte, war das Erscheinen eines oder mehrerer solcher „Ozeanriesen“ im campanischen Pozzuoli, das bis zum Ausbau Ostias Hauptumschlagplatz für den Seehandel und insbesondere für die ägyptischen Getreidelieferungen darstellte, ein gängiges Phänomen.2 Die ausführlichste Schilderung, in welcher Weise ein solches Riesenschiff (celsa ratis v. 19) nach Entladung der Fracht wieder seeklar gemacht wird, findet sich erstaunlicherweise in einem lateinischen Gedicht, eben jener Silve des Statius, in der der Dichter Maecius Celer mit einem Geleitgedicht das Lebewohl des Klienten entbietet. Maecius Celer befindet sich vermutlich im Jahr 91 im Dienste Domitians auf dem Weg zu einem militärischen Kommando an der römischen Ostgrenze: a sacratissimo imperatore missus ad legionem Syriacam, wie es in der praefatio zu Buch 3 der Silven heißt. Im Folgenden nun die Beschreibung von Schiff und seinen Zurüstungen in Silve 3,2:3 25

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huius utrumque latus molli praecingite gyro, partitaeque vices vos stuppea tendite mali vincula, vos summis adnectite sipara velis, vos zephyris aperite sinus; pars transtra reponat, pars demittat aquis curvae moderamina puppis; sint quibus exploret plumbo gravis alta molybdus, quaeque secuturam religent post terga phaselon uncaque summersae penitus retinacula vellant; temperet haec aestus pelagusque inclinet ad ortus: officio careat glaucarum nulla sororum.

1 Lukian nav. 4–6. 2 Casson 1976, 183; Casson 1995, 186–189 insbesondere zu den Dimensionen und Kapazitäten des unter dem Namen Isis segelnden Getreideschiffs. Zum Schiff des Maecius Celer: Casson 1968. 3 Statius silv. 3,2,25–34. Übersetzung: Neumeister 2005, 33. Weitere Übersetzungen aus den Silven des Statius in Anlehnung an Wissmüller 1990.

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Helmut Krasser Dieses Schiffes beide Seiten umringt mit eurer geschmeidigen Leiber Kreis, und – die Aufgaben teilend, spannt ihr hier die hanfenen Seile, des Mastes Fesseln! Knüpft ihr da ganz oben das zweigeteilte siparum4 ans große Segel! Öffnet ihr den Westwinden der Segel Bausch! Ein Teil von euch lege die Planken des Decks an ihren Ort zurück, ein anderer lasse hinab ins Wasser des runden Heckschiffs Doppelsteuerruder; auch sollen da welche sein, denen ganz vorn das schwere Vordersegel erkunde des (Windes) Wehn, und welche, die, damit es hinten folge, vertäuen das Beiboot, und welche, die, hinuntertauchend, vom Grund der Anker Haken lösen. Diese hier mäßige das Wallen der Flut und lenke ihre Strömung hin gen Osten! Ohne Pflicht soll nicht eine sein der meerblauen Schwestern!

Vor dem Auge des Lesers entfaltet sich gerade durch die intensive Verwendung seetechnischen Vokabulars – Schiff und Takelage werden nautisch fachgerecht benannt – ein bis ins technische Detail präzises Bild der vor der Abfahrt erforderlichen Zurüstungen. Höchst außergewöhnlich ist jedoch das hier seemännisch aktive Personal. Zum Dienst am Schiff werden vom Dichter keine geringeren als die Nereiden beordert. Die oben geschilderte Szene ist nämlich Teil einer groß angelegten Götterepiklese, in der von Neptun über die Dioskuren, Doris und ihre Töchter, die Nereiden, Proteus und Glaucus, Palaemon und schließlich Aeolus alle denkbaren Gottheiten und mythologischen Gestalten aufgerufen werden, die mit der Seefahrt in Verbindung stehen, um Maecius Celer Schutz und Geleit angedeihen zu lassen.5 Die von Statius verwendeten Verfahren entsprechen dabei in vielerlei Hinsicht den Regularien des propemptikos logos, wie sie sich etwa im rhetorischen Handbuch Menander Rhetors finden lassen.6 Jenseits eines rhetorischen Modells handelt es sich aber um eine für die Silven des Statius ganz typische Verbindung alltäglicher, insbesondere technischer Aspekte (von der Errichtung von Statuen über die Konstruktion von Thermen und Villen bis hin zum Straßenbau) mit mythologischer Szenerie.7 Dabei ist das Ziel keineswegs nur die Poetisierung des Alltäglichen, sondern im Kontext der Auftragsdichtung nicht zuletzt die hyperbolische Überhöhung des Adressaten durch die innovative Kreuzung unterschiedlicher Referenzsysteme.8 In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die geographisch korrekte Beschreibung der Seeroute von Alexandria nach Pozzuoli, die ebenfalls in den Götterhymnus eingebettet ist und gleichermaßen technische wie poetisch-mythologische Expertise miteinander verknüpft. Doch sollen im Weiteren weniger die technischen Details antiker Nautik als vielmehr der Kommunikationsakt zwischen Dich-

4 Eine Art Bramsegel. 5 Hierzu und insbesondere zu Nereiden-/Meergöttergruppen in Literatur und Bildkunst Egelhaaf-Gaiser 2015. 6 Menander Rhetor RG III 395–399 Sp. Die Relevanz dieses Formulars hat insbesondere Hardie 1983, 156–164 bei seiner Diskussion der Silve ausführlich herausgearbeitet. 7 Technische Aspekte der Produktion von Bauten und Kunstwerken werden bei Statius immer wieder deutlich akzentuiert. Besonders eindrückliche Beispiele sind silv. 1,1 (monumentale Reiterstatue Domitians) und silv. 4,3, die eine höchst detaillierte Schilderung des Straßenbaus (Via Domitiana) bietet. Die Überblendung und Vermischung von Technik und Mythologie, wobei immer wieder mythologische Akteure Aufgaben bei der Herstellung übernehmen, gehören zur hyperbolischen Darstellungstechnik des Statius. Technische Produkte sollen damit in die Kategorie des Außergewöhnlichen und des Mirabilen eingeordnet werden. Höchst eindrucksvoll geschieht dies beim Bau des Hercules-Tempels in silv. 3,1, wo Hercules selbst Hand anlegt und für die Planierung und Befestigung des Geländes sorgt. Die Silve projiziert damit zugleich ein mythologisches Aition in die zeitgenössische Welt (so auch etwa in silv. 2,3). 8 Siehe hierzu auch unten, S. 162–167.

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ter und Adressat sowie Aspekte der Intertextualität und der poetischen Selbstinszenierung im Mittelpunkt stehen. Nicht zuletzt wird dabei auch die Aufladung des Propemptikons und der Seereise als poetologische Metapher im Dienste der Selbstinszenierung des Literaten Statius in den Blick genommen werden. Hier wird insbesondere der Frage nach der Verbindung der Schifffahrt mit epischen Rollenmodellen nachzugehen sein.

2. Poeten und Patrone Zum besseren Verständnis der allgemeinen kulturellen Verhältnisse und der Produktionsbedingungen statianischer Texte zunächst eine kurze Vorbemerkung zur Patronagedichtung im Rom des 1. Jhs. und insbesondere in flavischer Zeit.9 Mit Statius bewegen wir uns im Milieu von Berufsdichtern, die für ihren Unterhalt und ihre Position im Kulturbetrieb auf die Unterstützung und die Förderung durch patroni angewiesen waren. Eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des Systems ist dabei der enorme Stellenwert, den kulturelle Kompetenz, zumal auf dem Feld der Literatur, für die römische Gesellschaft, v. a. aber für die Mitglieder der gesellschaftlichen Elite in dieser Zeit besaßen. Im Rahmen dieser Ausführungen kann die komplexe Entwicklung des Patronagesystems und seiner Voraussetzungen nicht ausführlich behandelt werden, deshalb seien hier nur einige wenige für die Besprechung des Gedichts relevante Punkte benannt. Die Silven des Statius sind nahezu durchgängig an patroni bis hin zum Kaiserhaus gerichtet und in ihrer Mehrzahl wie auch unser Gedicht okkasionsgebunden, d. h. sie thematisieren spezifische Anlässe vom Besuch in einer Villa über die Teilnahme an einem Gastmahl bis hin zu Hochzeits- und Trauergedichten. Neben dem Reichtum der patroni, der häufig in einer Sprache von Glanz und Kostbarkeit vorgeführt wird,10 spielt aber v. a. der oben apostrophierte Bereich von Bildung und kultureller Kompetenz eine zentrale Rolle. Dies manifestiert sich einerseits explizit darin, dass die patroni als kultivierte Connaisseure dargestellt werden, die über literarische und philosophische Expertise sowie Kennerschaft im Bereich der sonstigen Künste verfügen, zum anderen implizit darin, dass sie als kompetente Leser der durchaus komplexen und literarisch voraussetzungsreichen Texte des Statius erscheinen. Als Gegenleistung für die literarische Propagierung der patroni und ihres gesellschaftlichen Anspruches konnte Statius andererseits finanzielle oder ideelle Unterstützung erwarten. Es handelt sich dabei um eine Form des Gabentausches zwischen sozial Ungleichen, zwischen cliens und patronus, in der materielle Zuwendungen in kulturelles Kapital in Form gesellschaftlichen Prestiges verwandelt werden. Allerdings wird in den Texten diese soziale Ungleichheit immer wieder im Rahmen des wechselseitige Bezugs auf die literarische Kultiviertheit und Kompetenz mit einer Rhetorik der auf prinzipiell gleichen Interessen beruhenden amicitia überspielt, so dass, wie auch in unserem Text, der Aspekt von Nähe und Vertrautheit zwischen Dichter und Adressat immer wieder betont wird.11

9 Zu Statius im Rahmen der Patronagedichtung seien exemplarisch genannt: Hardie 1983; Nauta 2002; Leberl 2004; Rühl 2006. 10 Siehe hierzu grundsätzlich Zeiner 2005. 11 Hierzu insbesondere Rühl 2006, 13–79 und 215–283.

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3. Mit Göttern durchs Gedicht: Inhalt und Gliederung Vorab aber eine kurze Übersicht über den Inhalt des Propemptikons, wobei ich im Wesentlichen der von Laguna gegebenen Gliederung folge:12 Die Verse 1–49 umfassen die hymnische Anrufung der Meeresgötter und die Bitte ums gute Geleit. In den Versen 50–60 liegt der Fokus auf dem Abschied. Hier wird v. a. die Emotionalität der Beziehung zwischen Sprecher und Adressaten in den Mittelpunkt gestellt. Die Verse 61–100 bieten mit der vituperatio/psogos ein im Kontext des Propemptikons ebenfalls gängiges Element, das die Schrecken und Gefahren der Seefahrt thematisiert. Hier zeigt sich Statius zum einen als virtuoser Beherrscher der literarischen Topik und betont durch die Imagination des gesteigerten Gefährdungspotentials für den Reisenden die eigene emotionale Affiziertheit. Der in den Versen 101–126 folgende Isishymnus führt einerseits das Motiv maritimer Schutzgottheiten fort und leitet zudem zu einer ganz zentralen Station der Reise Celers über. Isis fungiert im Weiteren als eine Perihegetin, die den Reisenden zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Ägyptens geleitet.13 Mit dem hier angelegten Motiv einer Bildungsreise wird der Aspekt von Bildung und Gelehrsamkeit als wesentliches Merkmal der Unternehmung Celers in den Text eingeführt. Die Passage schließt mit der Übergabe Celers an eine neue Geleitgottheit, nämlich Mars (vv. 121–126). Damit wird wenigstens in einer kurzen Vignette der eigentlich militärische Charakter der Reise beleuchtet, der gerade in der Isis-Passage völlig ausgeblendet war und auch sonst in keiner Weise dominant behandelt wurde. In den Versen 127–143 schließt das Gedicht mit einer von Emotionalität und entschiedener Freundschaftsbekundung getragenen Imagination von Rückkehr und Wiedersehen, in der aber neben der Heimkehr noch einmal mit dem Verweis auf die Fertigstellung seiner Thebais in prononcierter Weise auch der poetischen Unternehmungen des Dichters und seiner Leistung gedacht wird. Mit der großen Bandbreite unterschiedlicher Aspekte des Reisens könnte man die Silve durchaus als ein poetisches Kompendium des Reisens zur See verstehen. Von den technischen Aspekten des Transportmittels, der Beschreibung einer wichtigen Seeroute über die Gefahren des Meeres und der Schifffahrt bis hin zu unterschiedlichen Reisemotivationen wie etwa Seehandel, Bildungsreise oder Dienstreise werden beinahe alle erdenklichen Aspekte einer Seefahrt im Laufe des Textes thematisiert. Im Weiteren wollen wir uns jedoch zunächst einmal auf den Isishymnus, das Reiseziel Ägypten und seine für das Patronageverhältnis relevanten Implikationen konzentrieren.

4. Die Wunder Ägyptens und die Kultur der paideia Innerhalb der im Text imaginierten Reiseroute spielt nämlich das Wunderland Ägypten eine besondere Rolle.14 Geleitet von Isis soll Celer die Rätsel und Sehenswürdigkeiten Ägyptens erkunden. Naturwissenschaftliches, Kultisches, Historisches, Legendarisches und Touristisches wie das Unterhaltungsviertel Canopus werden dabei gleichermaßen berücksichtigt.15 12 13 14 15

Laguna 1992, 192–193. Zum Motiv der ägyptischen Bildungsreise: Casson 1976, 107–125; Krasser 2010, besonders 71–79. Zur Wahrnehmung Ägyptens als Wunderland und zum römischen Ägyptenbild: Maderna 2005; Clauss 2005. Siehe hierzu Krasser 2010, besonders 71–77.

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Allerdings unterscheidet sich die Aufzählung der Sehenswürdigkeiten durchaus von üblichen Katalogen vergleichbarer Natur.16 In der Silve 3,2 wird der Akzent entschieden auf das Feld der studia im engeren Sinne gelenkt. Isis entpuppt sich nicht nur als Reiseführerin, sondern als kundige Gelehrte und Lehrerin. te praeside noscat in v. 107 ist in diesem Sinne als programmatisch zu werten. So wird denn im Weiteren v. a. gelehrte Ursachenforschung betrieben – im Text durch das wiederkehrende cur betont.17 Hervorheben möchte ich hier nur die etymologische Spekulation um den Namen Memphis, der mit dem griechischen μέμφεσθαι in Verbindung gebracht wird,18 oder die Behandlung von Canopus, dessen touristische Reize als alexandrinisches Rotlichtviertel mit dem Wörtchen lasciviat zwar durchaus anklingen, dessen hier aber in erster Linie unter Rücksicht des mit Sparta verbundenen und hier mit dem gelehrten Epitheton Therapnaei aufgerufenen Aitions gedacht wird.19 Vergleichbares gilt für den gesamten Bereich unterschiedlicher ägyptischer Kulte, die ebenfalls in erste Linie unter dem Aspekt religiösen Wissens aufgerufen werden.20 Mit Fug und Recht wird man davon sprechen können, dass die Reise des Celer, die eigentlich eine militärische Dienstreise ist, sich jedenfalls in der Regie des Dichters zuvörderst in eine Bildungsreise verwandelt. Demgegenüber tritt im Text die militärische Seite der Unternehmung entschieden in den Hintergrund, was sich auch in den Gegenständen der in der Imagination des Dichters vorweggenommenen Erzählungen des heimgekehrten Celer spiegelt, in denen v. a. von den Wundern des Euphrats und seiner Städte sowie den Kostbarkeiten des Orients und eben nicht von militärischen Unternehmungen die Rede ist.21 Wir können unschwer erkennen, in welcher Weise die Kultur der paideia und das Interesse an kultureller Kompetenz auch hier zum Teil der Repräsentation des reisenden patronus, aber selbstverständlich auch von Statius selbst gemacht wird, der sich ja ohnedies, wie wir noch sehen werden, als Lehrer Celers stilisiert. Nicht verhehlen wollen wir, dass der die Ägyptenreise beschließende Besuch am Alexandergrab natürlich als Vorverweis sowohl auf das Ziel der Reise als auch auf deren militärische Natur verstanden werden kann.22 Aber auch hier geht es nicht zuletzt um historisches Wissen und römische Selbstvergewisserung, wird der Besuch am Grab Alexanders doch noch um einen Abstecher an den Todesort Cleopatras und die damit verbundene Erinnerung an den Sieg des Augustus erweitert.23

5. Ein performatives Propemptikon oder der Dichter als Reiseleiter Wie wir gesehen haben, bietet der Text alle zentralen Motive eines Propemptikons. Im Weiteren wollen wir nun aber die Rolle des Sprechers und Dichters näher beleuchten. Hier lassen sich signifikante Unterschiede zu vorgängigen Modellen fassen. Dies betrifft vor allem die Interaktion des Sprechers mit der Abschiedssituation. Das Gedicht bietet nämlich nicht nur 16 Zum Beispiel die Rundreise des Germanicus bei Tacitus ann. 2,59–61. Zu kaiserlichen Reisen in der Kaiserzeit: Halfmann 1986. 17 Statius silv. 3,2,135; 137; 138. 18 Statius silv. 3,2,110. 19 Statius silv. 3,2,111. 20 Statius silv. 3,2,112–116. 21 Rühl 2006, 207f.; Krasser 2010, 74f. 22 Statius silv. 3,2,134f. 23 Statius silv. 3,2,136–138.

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die poetischen Reisewünsche des Dichters, sondern entfaltet die Situation von Abschied und Reise prozessual vor dem Auge des Lesers. Das Geschehen wird dabei nachgerade szenischperformativ dargeboten.24 Der Vollzug der Reise wird in seinen einzelnen Stationen von der Zurüstung der Reise über den Abschied des Dichters, das Programm der künftigen Tour bis hin zum glücklichen Wiedersehen als Sukzession von Ereignissen entworfen, an denen der Dichter, sei es unmittelbar oder in seiner Imagination, partizipiert. Besonders eindringlich gilt dies für das Geschehen im Hafen. Immer wieder wird durch Dichterkommentare und Elemente der Deixis auf den situativen Rahmen und den konkreten Ablauf der Ereignisse hingewiesen. Bereits die Markierung des szenischen Rahmens in Vers 4, in dem sich der Sprecher als zu den Göttern Betender präsentiert, dessen Gebet dann in direkter Rede wiedergegeben wird, lässt sich unter dieser Rücksicht deuten. Deutlicher wird dies aber noch in der minutiösen Schilderung der Abreisevorbereitungen und dem emphatischen Bild des unmittelbaren Abschieds in den Versen 50–60, in denen sowohl durch den Verweis auf die ins Wasser fallende Gangway als auch durch die Schilderung der emotionalen Affiziertheit des Sprechers ein suggestives Bild der Handlung erzeugt wird. Hier ist nicht zuletzt auch noch einmal auf die bereits zitierte Passage zu verweisen, in der der Sprecher im Medium der Anrufung der Gottheiten gewissermaßen als poetischer Hafenmeister fungiert, der durch seine Kommandos die Zurüstung des Schiffes steuert. Solche Elemente der Rückbindung des Sprechaktes an den situativen Kontext sind auch im Weiteren an signifikanten Schaltstellen des Textes zu beobachten. Ein besonders instruktives Beispiel findet sich inmitten des als vituperatio charakterisierten Teils. Dabei wird die scheinbar parekbatische, sich vom unmittelbaren Geschehenszusammenhang lösende Rede des Dichters durch den Blick auf das entschwindende Schiff unterbrochen und auf den unmittelbaren situativen Kontext bezogen, wobei die Situation auf der textuellen Ebene durch das suggestive Enjambement von lumina (v. 80) noch unterstrichen wird.25

80

iusta queror; fugit ecce vagas ratis acta per undas paulatim minor et longe servantia vincit lumina tot gracili ligno complexa timores. Zurecht klag ich! Schau hin, da entschwindet das Schiff vorwärtsgetrieben fort durch die unsteten Wogen, wird kleiner und kleiner und entzieht sich allmählich dem Blick des Betrachters, der lange noch nachschaut, und birgt in zerbrechlichem Holz den Gegenstand vielfältiger Ängste.

Diese Art der Interaktion des Sprechers mit einem von ihm textuell repräsentierten Geschehenszusammenhang fasst man üblicherweise unter dem Begriff des mimetischen Gedichtes, das durch seine Form der Darstellung den Leser in besonderer Weise zur Vergegenwärtigung und Partizipation einlädt.26 Der Sprecher rückt dabei gleichsam in die Rolle eines Organisators und Regisseurs, der den Ablauf der Dinge nicht nur deskriptiv wiedergibt, sondern ihn gewissermaßen im Medium des Textes herstellt. Dementsprechend mutiert der Poet im Weiteren 24 Zu Aspekten von Performativität im Kontext poetischer Seefahrtsmetaphorik vgl. auch den Beitrag von Christian Haß im vorliegenden Band (siehe unten, S. 273–292). 25 Statius silv. 3,2,78–80. 26 Zum mimetischen Charakter des Textes mit knappem Verweis Hardie 1983, 157; Rühl 2006, 267. Generell zur Kategorie des mimetischen Gedichtes ohne Berücksichtigung des Statius-Gedichts Albert 1988.

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vom Hafenmeister zu einer Art Reiseleiter, der en détail das künftige Reiseprogramm vorgibt. Hier ist in erster Linie an die in ein Gebet an Isis gekleidete Ägyptentour zu denken. Dieser inszenatorische Gestus wird bis zum Schluss des Gedichtes konsequent durchgehalten, da die Wiedersehensszene sowohl hinsichtlich ihres szenischen Charakters als auch hinsichtlich der im Text transportierten emotionalen Affizierung des Sprechers ganz analog zur Abschiedsszene gestaltet ist. Die forcierte Inszenierung des Sprechers manifestiert sich jedoch noch auf einer zweiten Ebene, denn die Wirksamkeit des poetischen Sprechens offenbart sich auch im Erfolg der im Gebet vorgetragenen vota. Das Flehen des Dichters um günstige Winde wird tatsächlich erhört. Von allen Winden, die potentiell auch widrig oder gefährlich sein könnten, erhebt sich allein, wie vom Dichter gewünscht, der sanfte und die Fahrt begünstigende Zephyr. Explizit wird diese Wirkung der vota mit einem lakonischen audimur („wir werden erhört“) in v. 50 kommentiert, wobei durch das Präsens die unmittelbare Gegenwärtigkeit des Ereigniseintrittes nachhaltig unterstrichen wird. Damit wird zugleich den poetischen vota und nicht zuletzt auch der Dichtung des Statius eine besondere Wirkungsmächtigkeit unterstellt. Das traditionelle Motiv der schützenden Musen wird auf das statianische Propemptikon projiziert und der Dichter zum poetischen Beschützer des Reisenden, indem er mit seinem Gebet an Aeolus den Seesturm stillt, bevor er überhaupt entstehen kann.27 Auf der Basis dieser Erfahrung gewinnen auch die Segenswünsche für den weiteren Verlauf der Reise beinahe prophetische Qualität, wie zu Beginn werden die Fürbitten des Dichters sich auch günstig für die weitere Reise und deren glücklichen Abschluss auswirken. In diesen Horizont wird man auch den Anfang des Gedichtes einrücken dürfen. Denn bereits dort zeigen die Worte des Dichters ihre die Natur besänftigende Wirkung: hier wird die See allerdings noch nicht für die Reise zur Ruhe gebracht, sondern vergleichbar mit dem Stilleruf bei Beginn einer Kulthandlung in eine geräuschlose, die Handlung nicht unbillig störende Kulisse verwandelt.28 Die Schlussformulierung non obstrepat unda precanti (v. 4) unterstreicht diesen Aspekt noch einmal mit Nachdruck. Diese Dimension der vota als wirkmächtiger Schutz wird auch am Ende jener Passage, in der die Gefahren und Drohungen des Meeres in ganz grundsätzlicher Weise aufgerufen werden, noch einmal in Erinnerung gebracht. Nach der Selbstanklage des Dichters, dass er den Freund nicht auf seine gefahrvolle Reise begleitet, heißt es dort: 29 100

sed pectore fido numquam abero longisque sequar tua carbasa votis. Aber doch werde ich Dir, Dich treu in meinem Herzen bewahrend, niemals von der Seite weichen und Deine Segel stets aus der Ferne mit meinen Segenswünschen begleiten.

In dem hier formulierten Geltungsanspruch ist in erster Linie ein Verweis auf die besondere Qualität statianischer Dichtung zu sehen, zum anderen wird man darin aber auch einen kompensatorischen Akt vermuten können, der sich aus der Tatsache ergibt, dass der poeta cliens dem patronus eben nicht auf seine Reise folgt. Die physische Präsenz des Dichters wird durch die in den vota ausgedrückte intensive und im Text immer wieder imaginierte innige 27 Zur Beziehung der entsprechenden Passage zur vergilischen Seesturmschilderung: Gibson 2006, 177. 28 So etwa auch Kallimachos hymn. 2,17–24 und Horaz c. 3,1,1–4. 29 Statius silv. 3,2,99f.

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Teilnahme am Geschick des scheidenden Freundes ersetzt. Doch auch hier ist nicht allein die Gefühlsebene, die Bekundung von Freundschaft und Nähe, von Bedeutung. Vielmehr ist es auch die besondere Qualität des Textes, seine performative Kraft, die als Voraussetzung für das Gelingen der Kompensation verstanden werden kann. Die Formulierung, mit der Statius das Gedicht in der praefatio zu Buch 3 charakterisiert, legt sogar die Vermutung nahe, dass die Gegenwart des Dichters durch die Gegenwart des Textes ersetzt wird und das Gedicht als virtueller Reisebegleiter fungieren soll.30

6. Propemptikon und Epos. Vom Patron zum Dichter Die Frage nach der außergewöhnlichen Qualität der statianischen Dichtung wird aber auch jenseits des Motivs der poetischen vota und ihrer Wirksamkeit in unserem Text reflektiert. Eine weitere Dimension der qualitativen Einordnung des Gedichtes ergibt sich nämlich aus der Tatsache, dass es sich dabei um das Propemptikon eines epischen Dichters handelt und dass es auch als solches markiert wird. Meines Erachtens ist die Rolle des Epikers ein unverzichtbarer Bestandteil der kommunikativen Strategie des Textes. Hier spielen v. a. intertextuelle Bezüge sowohl zur vorgängigen epischen Dichtung von Homer bis zu Vergil als auch explizite Verweise auf das epische Hauptwerk des Statius, die Thebais, eine zentrale Rolle.31 Dieser Aspekt ist bei der Diskussion von Silve 3,2 durch die einseitige Fokussierung auf das Subgenre Propemptikon und die hierfür relevanten literarischen Modelle nahezu vollständig aus dem Blick geraten. Dabei lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen vielfältige Signale beobachten, die gerade auf diesen literarischen Referenzraum verweisen. Folgende drei Ebenen scheinen mir hier von Bedeutung zu sein: 1. Allgemeine Motive epischer Dichtung. 2. Statius und die Thebais. 3. Das Propemptikon als Manifestation epischen Geltungsanspruchs. Beginnen wir mit dem ersten Punkt und dabei zunächst einmal mit niederschwelligen Verweisen auf epische Sujets. Dabei ist in erster Linie an epische Assoziationshorizonte, die unmittelbar mit dem Motiv der Reise verbunden sind, zu denken. Hierher gehören die Passage zu Aeolus und seiner Herrschaft über die Winde im anfänglichen Meergötterhymnus32 oder die Erwähnung von Scylla und Charybdis oder dem düsteren Land der Kimmerier in der vituperatio, die gleichermaßen an die Reisen und Gefahren von Odysseus und Aeneas denken lassen.33

30 Dort heißt es: Sequitur libellus, quo splendidissimum et mihi iucundissimum iuvenem, Maecium Celerem, a sacratissimo imperatore missum ad legionem Syriacam, quia sequi non poteram, sic prosecutus sum („Es folgt ein Büchlein, mit dem ich dem trefflichen und mir höchst sympathischen jungen Maecius Celer, der vom allerheiligsten Kaiser zur syrischen Legion geschickt wurde, auf diese Weise das Geleit gegeben habe, da ich ihm ja nicht folgen konnte“). 31 Auf die Bedeutung epischer Assoziationshorizonte verweist bereits Hardie 1983, 162f., ohne diesen Aspekt allerdings konsequent zu verfolgen und ihn für die Gesamtinterpretation des Textes fruchtbar zu machen. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sein Hauptaugenmerk auf intertextuellen Bezugnahmen zu anderen Propemptika, insbesondere der augusteischen Zeit liegt (Horaz c. 1,3; epod. 1; Ovid am. 2,11). Siehe hierzu auch unten, S. 165–169. 32 Statius silv. 3,2,42–49. 33 Statius silv. 3,2,85f. und 92.

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Hierher könnte man natürlich auch den Blitze schleudernden Jupiter und den Verweis auf die Gigantomachie rücken, die die Schrecken der Seereise hyperbolisch überhöhen.34 Nun ließe sich in der Tat zu Recht einwenden, dass es sich dabei um eher topische, auch sonst in Propemptika für Seereisen in Erscheinung tretende Phänomene handelt, die der Silve nicht zwingend ein episches Couleur oder, wenn überhaupt, eben nur dieses verleihen. Deutlich weiter reichend und semantisch stärker aufgeladen ist aber jenes epische Rollenspiel, das sich am Ende der vituperatio und damit an einer signifikanten Scharnierstelle des Textes befindet:35 si quondam magno Phoenix reverendus Achilli litus ad Iliacum Thymbraeaque Pergama venit imbellis tumidoque nihil iuratus Atridae, cur nobis ignavus amor? Wenn doch einst Phoenix, verehrungswürdig dem großen Achill, ans ilische Gestade und zum thymbraeischen Troja kam, unkriegerisch zwar und nicht als einer, der dem anmaßenden Atriden Gefolgschaft geschworen hatte, warum erweist sich meine Zuneigung als feige?

Unmittelbar auf diesen Text folgt die bereits angesprochene Bekundung treuer Gefolgschaft in Form der dichterischen vota.36 Damit befinden wir uns an einer höchst problematischen Stelle der Kommunikation zwischen Dichter und Adressat. Hier gewinnt nun die epische Referenz in vielschichtiger Weise Bedeutung. Zum besseren Verständnis sei angefügt, dass Phoenix neben Chiron zu den Erziehern Achills gehört und im 9. Buch der Ilias mit einer emotionalen Rede, in der er gerade die sich dadurch ergebende langjährige Bindung zum Helden betont, diesen zur Rückkehr in den Kampf bewegen will.37 Diese Rollenverteilung von Erzieher und Kämpfer wird von Statius hier in ausgesprochen raffinierter Weise im Kontext der Patronagesituation ausgebeutet. Einerseits gewinnt er daraus das Kompliment, Celer implizit mit dem größten Helden vor Troia und Celers Unternehmungen mit entsprechenden Heldentaten zu vergleichen, andererseits gerät Statius selbst durch den Vergleich mit Phoenix in die Rolle des Freundes, Ratgebers und Erziehers, eine Funktion, die er ja bereits bei der Gestaltung des Reiseprogramms entschieden zur Geltung bringt. Diese Funktion von Phoenix als statianisches Rollenmodell wird dabei durch die mit der tatsächlichen Situation vor Troja nicht wirklich zur Deckung zu bringenden Charakterisierung als imbellis explizit betont. Der epische Prätext gewinnt hier, anders als in den bisher genannten Stellen, eine unmittelbare Funktion für das Verständnis der Interaktion zwischen Sprecher und Adressat. Damit möchte ich mich der zweiten Ebene, den Verweisen auf die Thebais, zuwenden. Schon die Tatsache, dass das Gedicht mit den Worten claudat mihi pagina Thebas schließt,38 sollte den Leser für entsprechende Signale hellhörig werden lassen. Doch bevor wir uns der Pointe

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Statius silv. 3,2,64–72. Statius silv. 3,2,96–99. Siehe oben, S. 161f. Homer Il. 9,432–619. Auf das Verhältnis Phoenix-Achill als Modell der amicitia/Patronage verweist auch Rühl 2006, 266. 38 Silv. 3,2,143.

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des Gedichtschlusses zuwenden, möchte ich eine Passage in den Blick nehmen, in der die Seereise Celers und die Ependichtung des Statius in ein prononciertes Verhältnis zueinander gerückt werden:39 40

tu tamen ante omnes, diva cum matre Palaemon, annue, si vestras amor est mihi pandere Thebas, nec cano degeneri Phoebeum Amphiona plectro. Du aber vor allen samt Deiner göttlichen Mutter Palaemon nicke Gewährung mir zu, wenn mich danach verlangt, Euer Theben zu künden, sing ich doch gewiss nicht Amphion, der dem Apollon lieb ist, mit unedlem Plektron.

Innerhalb des Meeresgötterhymnus werden diese Verse bereits dadurch hervorgehoben, dass sie mit einer erneuten Apostrophe an Palaemon eine weitere Steigerung der Götteranrufung darstellen. Palaemon, dem diese Anrufung gilt, steht offenkundig in einem besonderen Nahverhältnis zum betenden Dichter. Dieses Nahverhältnis wird auch explizit begründet. Es ist die enge Beziehung Palaemons zu Theben, dem er als Sohn der Ino/Leukothea durch seine Herkunft verbunden ist.40 Dementsprechend verbindet Statius hier mit einer kühnen thematischen Kreuzung die schützende Seegottheit mit einer Inspirationsinstanz. Der Thebaner Palaemon soll samt Ino dem Ependichter bei seinem Lied auf Theben hilfreich zur Seite stehen. Für einen Augenblick gerät die Seereise des Celer in den Hintergrund, und der Ependichter betritt die Szene. Dabei sind aber beide Ebenen in höchst intrikater Weise miteinander verbunden. Die poetische Leistung und der performative Akt des Gebets werden in eine Wechselbeziehung gesetzt. Es ist gerade das epische Gedicht des Statius, das die besondere Bindung an Palaemon, den nautischen Schutzgott, konstituiert und damit zugleich zur Voraussetzung für die Nachhaltigkeit der Bitte des Statius um göttlichen Schutz für Maecius Celer wird. Damit werden aber auch die Ependichtung des Statius und die Seereise Celers eng miteinander verknüpft. Gleiches gilt für das Verhältnis von Propemptikon und Epos des Dichters. Das Gebet um günstigen Ausgang der Seereise ist zugleich das Gebet um den günstigen Fortgang der epischen Dichtung. Auf diesen Punkt werden wir bei der Besprechung der Schlussverse noch einmal zurückkommen, weil erst dort diese Engführung der Bereiche von Reise und Dichtung ihr eigentliches Ziel findet. Hinzuweisen bleibt hier noch auf den dritten Vers der Apostrophe. Auch hier wird mit Amphion auf Theben verwiesen und die Rolle des Epikers, der in seiner Thebais auch den Apollonschützling Amphion besingt, nachdrücklich zu Geltung gebracht: Insbesondere die Formulierung non degeneri plectro verdient Aufmerksamkeit. Es ist eben das anspruchsvolle Plektron des Epikers, von dem hier die Rede ist, sodass man daraus sicher den Schluss ziehen darf, Statius erhebe hier den Anspruch, der Glanz seiner epischen Dichtung manifestiere sich auch dann, wenn er Dichtung ganz anderer Art zu Gehör bringt. Zugleich wird mit diesem Hinweis die Wertschätzung des Adressaten eingefordert und die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Interaktion epischer und lyrischer Dichtung gelenkt. Diese Verschränkung von Epos und Propemptikon findet ihren Höhepunkt in der abschließenden Parallelisierung der

39 Silv. 3,2,39–41. 40 Die Verbindung Palaemons mit der Thebais bemerkt bereits Hardie 1983, 163.

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Rückkehr Celers mit der Vollendung der Thebais, die zugleich auch ein Äquivalent zwischen der Leistung Celers und jener des Statius herstellt.41 ast ego, devictis dederim quae busta Pelasgis quaeve laboratas claudat mihi pagina Thebas. Doch ich werde dann davon berichten, welche Bestattung ich habe den Pelasgern zuteil werden lassen und welche Seite mein Theben, an dem ich lange mich mühte, beschließt.

In gewisser Weise führt dies sogar zu einem kuriosen Rollentausch, da sich die Berichte des Militärs Celer gerade nicht auf kriegerische Ereignisse und Leistungen richten, während Statius in der Zwischenzeit zumindest literarisch tief in den Krieg um Theben verstrickt war. Mit Sicherheit soll aber auch hier noch einmal im bereits oben skizzierten Sinn nachdrücklich die Rolle des Epikers zur Geltung gebracht werden. Dieser Aspekt der Parallelisierung von Reise und Dichtung – und damit kommt die dritte Ebene des epischen Referenzraums zur Geltung – gewinnt eine noch weitreichendere Bedeutung, wenn wir auf zwei Referenztexte blicken, in denen Statius ebenfalls die Seereise als poetologische Metapher verwendet. Dabei handelt es sich zum einen um eine Passage in der an Vitorius Marcellus gerichteten Silve 4,4, zum anderen um den programmatisch hochgradig aufgeladenen Schluss der Thebais.42 Bei Silve 4,4 handelt es sich um ein Briefgedicht in horazischer Manier, in dem zunächst der Weg des Briefes von Neapel nach Rom thematisiert wird, ehe dann das Thema der Sommerfrische und ihrer möglichen Gestaltung in den Mittelpunkt rückt. Dabei stellt Statius Vitorius Marcellus als vielseitig begabten und auch im politischen und militärischen Bereich aktiven Mann vor, der die sommerliche Auszeit wie Achill zur Rekreation der für ihn erforderlichen Kräfte nutzt. Kontrastiv dazu fällt der Blick auf den im neapolitanischen otium weilenden Dichter. Dabei wird die musische Aktivität des Dichters nachgerade als Form beschaulicher Entspannung vorgeführt. Besonders suggestiv sind hier die Verse 51–55:

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en egomet somnum et geniale secutus litus ubi Ausonio se condidit hospita portu Parthenope, tenues ignavo pollice chordas pulso Maroneique sedens in margine templi sumo animum et magni tumulis adcanto magistri. Ich gebe mich der Ruhe hin und dem einladenden Strande, wo im ausonischen Hafen sich die aus der Fremde gekommene Parthenope niedergelassen hat. Lässig zupfe ich mit dem Daumen die zarten Saiten, sitze am Rande des maronischen Grabmonuments, schöpfe Mut und singe dem Grab des großen Meisters mein Lied.

Insbesondere die Begriffe somnum (v. 51) und ignavo pollice (v. 53) steigern diesen Eindruck. Doch ganz ähnlich wie in Silve 3,2 wird am Schluss des Gedichtes doch noch auf die höchst fordernde und anspruchsvolle Qualität und Gestaltung der statianischen Dichtung verwiesen,

41 Statius silv. 3,2,142–143. 42 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nina Mindt im vorliegenden Band (siehe unten, S. 362).

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so dass in gewisser Weise ein Äquivalent zur Aktivität des Adressaten hergestellt wird. Dies geschieht zunächst einmal mit dem Verweis auf die Fertigstellung der Thebais, die unter anderem in eine Seefahrt-Metapher gekleidet wird:43

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nunc si forte meis quae sint exordia musis scire petis, iam Sidonios emensa labores Thebais potato collegit carbasa portu Parnasique iugis silvaque Heliconide festis tura dedit flammis et virginis exta iuvencae votiferaque meas suspendit ab arbore vittas. Wenn Du wissen willst, was das Vorhaben meiner Muse ist, so höre, meine Thebais hat die sidonischen Kämpfe beendet und ihre Segel im ersehnten Hafen eingezogen, und auf dem Gipfel des Parnass und im Wald des Helikon übergab sie den Weihrauch und die Eingeweide einer jungen Kuh den festlichen Flammen und hängte meine Weihebinden an den Votivbaum.

Hinsichtlich des Assoziationsfeldes Seefahrt sind hier zwei Aspekte von Bedeutung. Ganz explizit wird im Blick auf die Produktion und schließliche Vollendung des Epos der Aspekt des labor und damit der poetischen Anstrengung und nicht zuletzt der poetischen Feile hervorgehoben. Zugleich wird aber mit dem Motiv der Reise und zumal der glücklichen Ankunft im Hafen auch auf die lange Dauer, den prozessualen Charakter der Entstehung eines Werkes und nicht zuletzt auf das artificium des geschickten Navigators verwiesen, der ja ebenfalls immer wieder als Chiffre für den kunstfertigen Literaten Verwendung findet.44 Mehr noch – und dies wird im anschließenden Vorverweis auf das künftige Projekt der Achilleis deutlich – wird auch der Aspekt einer riskanten, ja gefährlichen Unternehmung, einer Herausforderung, die stets von der Gefahr des Scheiterns bedroht ist, in das Blickfeld gerückt:45 95

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Troia quidem magnusque mihi temptatur Achilles, sed vocat arcitenens alio pater armaque monstrat Ausonii maiora ducis. trahit impetus illo iam pridem retrahitque timor. stabuntne sub illa mole umeri an magno vincetur pondere cervix? dic, Marcelle, feram? fluctus an sueta minores nosse ratis nondum Ioniis credenda periclis? Troja und den großen Achilles versuche ich zu besingen, aber der bogentragende Vater ruft mich anderswohin und zeigt mir die noch größeren Waffentaten des ausonischen Führers. Lange schon zieht mich ein starkes Verlangen dorthin, aber die Furcht hemmte mich. Werden unter jener Last die Schultern standhalten oder wird unter dem großen Gewicht mein Nacken nachgeben? Sag, Marcellus, werde ich die Last tragen können oder kann ich das an geringere Wogen gewohnte Schiff den Gefahren des ionischen Meeres noch nicht anvertrauen?

43 Statius silv. 4,4,87–92. 44 Zum Beispiel Ovid ars 1,1–8. Zur poetologischen Metaphorik der Seefahrt Kambylis 1965, 149–155; Lieberg 1969; Nünlist 1998, 265–276. Mit Fokus auf die Schifffahrtsmetaphorik bei Horaz c. 1,3 und den auch für Statius einschlägigen Kontrast zwischen kleiner und großer Dichtung (Epos): Lyne 1995, 79–81; Rumpf 2009. Hierzu auch insbesondere mit Betonung des Gefährdungsmotivs der Beitrag von Johannes Breuer im vorliegenden Band (siehe unten, S. 299–326). 45 Statius silv. 4,4,94–100.

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Auch in dieser Passage wird mit Begriffen wie magnus Achilles, arma maiora und illa mole die Größe poetischen Anspruchs und poetischer Leistung – in gängiger Weise mit einem Bescheidenheitstopos gepaart – in den Mittelpunkt gerückt. Die Selbstinszenierung des vor einem gewaltigen Wagnis stehenden Dichters mündet dann in den Vergleich epischen Dichtens mit einer Fahrt auf der für ihre Unwetter und Stürme bekannten ionischen See. Mit dieser Fortführung des für die Beendigung der Thebais gewählten Vergleichs markiert Statius nicht nur die außerordentliche Stellung des Epos im Gattungshorizont und die besonderen Anforderungen eines panegyrischen Großgedichtes, sondern zugleich auch die für die Bewältigung dieser Aufgabe erforderliche literarische Qualität des Dichters. Dadurch wird zugleich natürlich wie in Silve 3,2 auch das Leistungsvermögen des Epikers als konstitutiver und wertsteigernder Bestandteil seiner Gelegenheitsdichtung insgesamt und insbesondere seines literarischen Kompliments für Vitorius Marcellus eingespielt. Wie zentral das Motiv der Schifffahrt als Chiffre epischen Dichtens für Statius ist, mag man auch daran ermessen, dass es uns auch im poetologisch hochgradig aufgeladenen Schluss der Thebais begegnet.46 vix novus ista furor veniensque implesset Apollo, et mea iam longo meruit ratis aequore portum. Kaum schafft so etwas jemand, den grade Apollo erst anhaucht. Schon verdient nach langer Meerfahrt mein Schifflein den Hafen.

Seefahrtmetaphorik ist auch hier zentraler Bestandteil der Selbstinszenierung des Epikers. Vor diesem Hintergrund wird man also mit Fug und Recht von einer epischen Rollenkonstruktion im Kontext der Silven sprechen können.

7. Appendix: Ergo erit illa dies. Statius, Vergil und die Dichtung des Triumphs Doch können wir noch eine weitere Dimension dieser Bezugnahme auf die Leistung des Epikers sichtbar machen, nämlich die Verbindung zwischen Epos und Triumph. Hier ist v. a. die Prophezeiung von Bedeutung, die den Schlussabschnitt eröffnet:47 ergo erit illa dies, qua te maiora daturus Caesar ab emerito iubeat discedere bello Daher wird jener Tag kommen, an dem Dir Caesar, um Dir Größeres zu verleihen, befiehlt, aus dem Krieg, in dem Du Dir Verdienste erworben hast, zurückzukehren.

Worin die maiora bestehen und welcher Art das bellum ist, an dem Celer teilgenommen hat, stand bislang im Mittelpunkt der erklärenden Literatur zu dieser Stelle. Die eigentliche Pointe des Textes erschließt sich aber erst bei einem Blick auf intertextuelle Referenzen, die sich aus der prophetischen Formulierung ergo erit illa dies ergeben. Diese Wendung ist in dieser Form in der lateinischen Literatur nur an zwei Stellen belegt, die zudem deutliche inhaltliche Parallelen zum Statiustext aufweisen. Bei der ersten handelt es sich um eine zwar als Parallele in den Kommentaren angeführte, aber interpretatorisch nie fruchtbar gemachte Referenz auf die ars amatoria Ovids, bei der 46 Theb. 12,808f. (Übersetzung Rupprecht 2000). 47 Statius silv. 3,2,127f.

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zweiten um eine bislang noch nie beachtete Anspielung auf die achte Ekloge Vergils. In beiden Texten findet sich eine vergleichbare von Statius in seinem Gedicht unverkennbar aufgegriffene Formulierung, mit der auf künftiges Geschehen vorausgedeutet wird. Schauen wir zunächst auf Ovid:48 ergo erit illa dies, qua tu, pulcherrime rerum, quattuor in niveis aureus ibis equis. Also kommt dann der Tag, wo ganz in Gold Du einherfährst, Schönster der Welt, auf vier Rossen, die weiß sind wie Schnee.

Bei Ovid handelt es sich um die Vorausdeutung auf die triumphale Rückkehr des Caius Caesar von einem tatsächlich nie stattgefundenen Feldzug gegen die Parther, der, so die Vorstellung des Dichters, dem poeta amator reichlich Gelegenheit bieten wird, vor einem Mädchen mit seinen Kenntnissen ferner Länder zu renommieren, um diese für ein Liebesabenteuer zu gewinnen. Wenige Verse zuvor hatte er zudem angekündigt, dass er dieses Ereignis in einem Gedicht verewigen werde, das durch die Formulierung magno ore sonandus eris (v. 1,206) unzweifelhaft als Epos gekennzeichnet wird. Beim zweiten Text handelt es sich um eine Widmungsanrede an den Adressaten der achten Ekloge, wobei umstritten ist, ob es sich dabei um Asinius Pollio oder den jungen Octavian handelt. Dies ist für uns allerdings nicht von entscheidendem Belang. Wichtiger ist die Verbindung des Adressaten mit einer militärischen Unternehmung (in diesem Fall in Illyrien) und der Vorstellung seiner triumphalen Rückkehr. Die Prophezeiung richtet sich dabei allerdings nicht unmittelbar auf das Heimkehrgeschehen, sondern vielmehr auf die Reaktion des Dichters, der verkündet, er werde dann die Taten des Adressaten besingen:49 tu mihi seu magni superas iam saxa Timavi, sive oram Illyrici legis aequoris, en erit umquam ille dies, mihi cum liceat tua dicere facta? Du aber, sei es, dass Du die Felsen des gewaltigen Timavus bezwingst, sei es, dass Du die Küste der Illyrischen See entlang ziehst, ach kommt wohl je jener Tag, an dem es mir vergönnt ist, Deine Taten zu singen?

Auch hier steht außer Frage, dass es sich bei dieser Ankündigung der literarischen Darstellungen von Kriegstaten um den Vorverweis auf eine mögliche epische Dichtung handelt. Ähnliche Ankündigungen finden sich auch sonst im Frühwerk Vergils. Was können nun diese beiden Passagen zum Verständnis des Statius-Textes beitragen? Beiden gemeinsam ist der Bezug auf militärische Siege und – mehr oder minder deutlich – auf die triumphale Heimkehr des Siegers. Bei beiden tritt zudem noch die Ankündigung einer mit dem Sieg verbundenen rühmenden Dichtung hinzu. Wir haben es bei Statius also mit einer durchaus vergleichbaren Konstellation zu tun, denn auch dort wird in Verbindung mit dem Heimkehrmotiv ein Werk des Dichters angekündigt (vv. 131f.):50 48 Ovid ars 1,213f. (Übersetzung Holzberg 2011). 49 Vergil ecl. 8,6–8. 50 Statius silv. 3,2,131f.

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o tum quantus ego aut quanta votiva movebo plectra lyra! O als welch Großer und mit welch großer Lyra werde ich dann meine vota im Lied erklingen lassen!

Die quantifizierenden Begriffe quantus und quanta sind vor der Folie des bisher Beobachteten und der beiden eben besprochenen Parallelen ebenfalls als Marker epischer Dichtung zu verstehen. Allerdings gibt es auch eine signifikante Differenz zu Vergil und Ovid. In beiden Fällen handelt es sich dabei tatsächlich um eine Rückkehr als Sieger und im Triumph, eine Dimension, die man selbst bei freundlichster Auslegung des Begriffes emerito nicht für Celer wird in Anschlag bringen. Auch ein potentieller Verweis auf die Tatsache, dass Triumphe im 1. Jh. nach Christus ohnedies nur dem Kaiser vorbehalten waren, hilft hier nicht weiter. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen der Leistung des Celer und seiner Rühmung in einem epischen Gedicht. Eine Lösung wird man daher – und der abschließende Verweis auf die Thebais am Ende des Gedichtes legt dies auch nahe – darin zu suchen haben, dass wir es hier in erster Linie mit einem forcierten Akt der Selbstdarstellung des Dichters als Epiker zu tun haben, der seine prinzipielle Befähigung zu derlei literarischen Großtaten nachhaltig unter Beweis gestellt hat. Dennoch wäre es sicher falsch, in dieser Akzentverschiebung vom Adressaten auf den Dichter eine Herabsetzung des patronus zu sehen. Im Gegenteil: Im Horizont eines auf den Gewinn kulturellen Prestiges gestellten Gabentausches gewinnt das Propemptikon gerade durch das Renommee des Dichters auch für den Adressaten einen gesteigerten Wert. Dies gilt umso mehr, wenn man den Verweis auf die letzte Seite der Thebais ernst nimmt, die mit einem Vergillob endet, durch das sich Statius dezidiert in die Tradition des größten Epikers Roms stellt. Gleichzeitig kann man gerade im Umfeld der Patronagedichtung diese Art des epischen self-fashioning auch als eine Art Werbemaßnahme des Dichters auf dem kulturellen Markt betrachten. Abschließend lässt sich festhalten, dass eine zentrale Strategie des Textes darin besteht, die Dienstreise des Maecius Celer auf eine epische Folie zu stellen und ihn dabei zudem als Mitglied einer kultivierten Elite erscheinen zu lassen. Allerdings wird dieser den Adressaten betreffende Akt literarischer Präsentation in unserer Silve in massiver Weise auch für den Dichter selbst in Anspruch genommen, der auf unterschiedlichen Ebenen – ich nenne die Stichwörter performatives Sprechen und die Konstruktion epischer Referenzräume – ein forciertes self-fashioning betreibt. Die Reise des Celer wird dabei einerseits zum Ort der Inszenierung dichterischer amicitia und zugleich zur Projektionsfläche literarischen und zumal epischen Geltungsanspruchs.

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Sint fluctus, celerem valeant qui pellere puppem Die poetische Vision der gelungenen Seefahrt im Oceanus-Hymnus (Anth. Lat. I2 , 718 R.)* Boris Dunsch (Marburg) 1. Der Oceanus-Hymnus: Text und Kontext In der antiken Literatur wird die Seefahrt ambivalent beurteilt. Einerseits lobt man sie, da sie den Austausch von materiellen und kulturellen Gütern über größere Distanzen hinweg erleichtere und so eine zentrale kulturstiftende Funktion erfülle. Andererseits – und ungleich häufiger – wird die Seefahrt als ein Akt der Transgression beschrieben, als ein frevelhaftes Überschreiten der von den Göttern gesetzten Grenze zwischen Land und Meer. In diesem Zusammenhang werden zugleich regelmäßig ihre Motive aus moralischen Gründen kritisiert, da die Menschen zu ihr fast immer durch den Wunsch, Kriege zu führen oder Handel zu treiben, animiert würden, also durch negativ zu bewertende Impulse von Machtstreben und Habgier.1 Die negative Bewertung der Seefahrt ist sicherlich ein Grund dafür, dass sie in der antiken Dichtung vorzugsweise im Vollzug ihres Scheiterns dargestellt wird – einem Scheitern, das fast immer als göttliche Strafe gedeutet wird. So wundert es nicht, dass Schilderungen der Gefährdung und des ultimativen Scheiterns einer Seefahrt, also von Seestürmen und Schiffbrüchen, seit frühester Zeit zum Repertoire nicht nur des Epos gehören.2 Darüber hinaus bieten gerade Seesturm- und Schiffbruchszenen mit der ihnen eigenen existentiellen Dynamik dem Dichter viel bessere Möglichkeiten, sein Werk dramatisch zu gestalten, eine Vielzahl von Gefühlen zu erregen, Spannung zu erzeugen, Anteilnahme hervorzurufen und Identifikationspotentiale zu schaffen, als es die Ekphrasis eines ruhigen Meeres bei Windstille oder die Narration einer gelungenen (und daher an spektakulären Details eher armen) Seefahrt jemals vermöchte. Wenn daher in einem Text der Blick vom Meer aufs Land gerichtet wird, tritt die gelungene Seefahrt regelmäßig als nicht eigens thematisierte Voraussetzung dieses Blicks hinter andere Darstellungsziele zurück, wie zum Beispiel die Schilderung von Küstengegenden, und wird kaum eigens narrativ entfaltet. In merklichem Kontrast hierzu steht die Entwicklung einer naturästhetischen Freude am Blick vom Land aufs Meer in der Kaiserzeit, die wohl nicht zuletzt mit der schon in der späten Republik einsetzenden Weiterentwicklung der villegiatura als

* Ich danke allen Tagungsteilnehmern, die meinen Beitrag kommentiert haben, für ihre Anregungen, besonders Eckhard Wirbelauer, Christian Haß, Helmut Krasser und Peter von Möllendorff. Auch Kurt Smolak und Hartmut Wulfram bin ich für wichtige Hinweise zu Dank verpflichtet. Mein ganz besonderer Dank gilt den beiden Herausgebern, Susanne Froehlich und Mario Baumann, für ihre verständnisvolle Geduld. 1 Grundlegend Heydenreich 1970; vgl. auch Schulz 2005, 207–223 und Dunsch 2015. 2 Zu diesen typologischen Szenen vgl. Dunsch 2013a.

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Lebensform der Eliten zusammenhängt.3 Auch dies ist ein Faktor, der dazu beigetragen haben mag, dass antike Dichter die Vision der gelungenen Seefahrt selten in Verse gefasst haben. Zugespitzt könnte man sagen: Gelingende Navigation scheint als literarisch eher unergiebig angesehen worden zu sein. Dies gilt sogar für die Gattung des Propemptikons. Gerade ein Geleitgedicht, das an jemanden gerichtet wird, der zu einer Seereise aufbricht, wäre für einen Dichter ein geeigneter Ort, so möchte man zunächst denken, um seinem Publikum eine gelungene Seefahrt im Modus des Optativs vor Augen zu stellen. Doch wird in dieser Gattung zwar dem Abreisenden eine gute Fahrt gewünscht, dieser Wunsch aber in der Regel e negativo oder privativ formuliert, nämlich als eine an die Götter adressierte Bitte um Abwehr der Hauptgefahren, denen eine Seefahrt unterworfen sein konnte, wie sie der Dichter in traditionell gewordenem Arrangement aufzählt.4 Allerdings findet sich in der Anthologia Latina ein Text, in dessen zweitem Teil gerade eine gelungene Seefahrt in einiger Ausführlichkeit dargestellt wird. Der Text umfasst in seinem jetzigen Zustand 28 Hexameter und ist in einer auf das 9. Jh. datierten Pariser Handschrift (Par. Lat. 13026 = P) anonym überliefert. Es handelt sich auf den ersten Blick um einen Hymnus an den Gott Oceanus. Dieser scheint neben den griechischen Versen des 83. Orphischen Hymnus das einzige literarisch gestaltete, umfänglichere Gebet an diese Gottheit zu sein, das uns aus der Antike erhalten ist.5 Um diese Verse soll es im Weiteren gehen. Hier zunächst der Text, der im Jahre 1773 das erste Mal im Druck erschien,6 gefolgt von einer Übertragung ins Deutsche:7 Incipit de Oceano

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Undarum rector, genitor maris, arbiter orbis, Oceane, o placido complectens omnia 〈fluctu〉, tu legem terris moderato limite signas, tu pelagus quodcumque facis fontesque lacusque. flumina quin etiam te norunt omnia patrem; te potant nubes, ut reddant frugibus imbres, cyaneoque sinu caeli tu diceris oras partibus ex cunctis inmenso cingere nexu. tu fessos Phoebi reficis si gurgite currus

3 Vgl. Römer 1981, 67: „Für den kultivierten Römer der Kaiserzeit scheint das Meer seine Schrecken verloren zu haben, zumindest für den nur Betrachtenden.“ Zur Ästhetisierung von „water and nakedness“ an Flussufern und vor allem Meeresstränden in der Dichtung vgl. Griffin 1985, 88–111; zur villegiatura Vogt-Spira 2013. 4 Typische Beispiele sind Hor. carm. 1,3; 3,27. Freilich gibt es Ausnahmen, zum Beispiel Ov. trist. 1,19 und Stat. silv. 3,2 (vgl. zu letzterem Gedicht auch den Beitrag von Helmut Krasser in diesem Band [siehe oben, S. 155–169]), wo zumindest Teile des Textes die Vision einer gelungenen Seefahrt bieten. Oft hängt die Verwendung von Hinweisen auf Gefahren damit zusammen, dass das argumentative Ziel des Propemptikons eigentlich die Verhinderung der Seereise der geliebten Person ist, vgl. Cairns 1972, 190f. Im Detail ist das topologische Inventar des Propemptikons allerdings sehr viel differenzierter als dies hier auf knappem Raum dargestellt werden kann. 5 Vgl. Smolak 1989a. 6 Burmann 1773, 382f. Pieter Burmann der Jüngere (1713–1778) stützte die Editio princeps auf eine Abschrift, die Nicolaus Heinsius der Ältere (1620–1681) von den Versen angefertigt hatte. 7 Anth. Lat. I2 , 718 R. In den kritischen Apparat wurden, gestützt auf Wernsdorf 1785, Baehrens 1881, Haupt 1875 und Riese 1906, nur die wesentlichsten Angaben übernommen. Für meine Übersetzung habe ich dankbar die von Pighi 1958, 213, Verdière 1974, 24, Chapot/Laurot 2001, 359f., Barry 2011, 33f. sowie eine deutsche Übertragung konsultiert, die Eva und Otto Schönberger im Dezember 2016 als Weihnachtsgruß verschickt haben.

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exhaustisque die radiis alimenta ministras, gentibus ut clarum referat lux aurea solem, si mare, si terras caelum mundumque gubernas, me quoque, cunctorum partem, venerabilis, audi. alme parens rerum, supplex precor: ergo carinam conserves, ubicumque tuo committere ponto hanc animam, transire freta et discurrere cursus aequoris horrisoni sortis fera iussa iubebunt. tende favens glaucum per levia dorsa profundum, ac tantum tremulo crispentur caerula motu, quantum vela ferant, quantum sinat otia remis. sint fluctus, celerem valeant qui pellere puppem, quos numerare libens possim, quos cernere laetus; servet inoffensam laterum par linea libram, et sulcante viam rostro submurmuret unda. da, pater, ut tute liceat transmittere cursum, perfer ad optatos securo in litore portus me comitesque meos. quod cum permiseris esse, reddam quas potero pleno pro munere grates.

2 Oceane, o Heinsius : Oceano P fluctu Wernsdorf : lacuna in P gyro Huemer, alii alia 3 limite Heinsius : limine P 5 te norunt Burmann : tenerunt P 6 te potant Wernsdorf : temptant (vel te portant) P 8 inmenso Burmann : in mensa P inmensos Baehrens 9 fessos Heinsius : fesso P si P : in Heinsius, alii alia 16 freta et Haupt : fretum et Burmann ferete P 17 sortis Burmann : -tem P 20 si nat (i. e. sinat) P : sint Riese 23 par Buecheler : pars P 24 et Wernsdorf : te P 25 liceat Heinsius (vel Burmann) : liceant P 26 portus Heinsius (vel Burmann) : portas P 28 pro mu〈nere〉 Heinsius (vel Burmann) : promu P

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Herrscher der Wellen, des Meeres Schöpfer, Gebieter der Welt, Oceanus, o du mit ruhiger Strömung alles Umfassender, du bezeichnest der ganzen Erde8 rechte Ordnung mit maßvoller Grenze, du schaffst ein jegliches Meer und die Quellen und die Seen. Ja sogar die Flüsse kennen dich alle als Vater; von dir trinken die Wolken, um Früchten Regen zu spenden, und es heißt, dass du mit azurblauem Bogen die Ränder der Welt9 auf allen Seiten mit riesiger Windung umgürtest. Wenn du des Phoebus erschöpftes Gespann in der Meeresflut erfrischst und den vom Tag erschöpften Strahlen Nahrung spendest, damit das goldene Licht den Völkern die leuchtende Sonne zurückbringen kann,10 wenn du Meer, wenn du Land, Himmel, ja den Kosmos lenkst, so höre, Ehrwürdiger, auch mich, einen Teil nur von Allem. Gütiger Vater der Dinge, demütig flehe ich: Also mögest du mein Schiff beschützen, wo auch immer deiner hohen See11 anzuvertrauen

8 Für diese Bedeutung von terrae siehe OLD s. v. terra 8a und b (vor allem Lucr. 5,446; Ov. met. 7,528; Iuv. 2,25). 9 Für diese Bedeutung von ora siehe OLD s. v. ora 4a; vgl. vor allem Lucr. 5,143 in aqua [. . .] aut altis aetheris oris („im Wasser [. . . ] oder an den hohen Rändern des Äthers“); Sen. nat. 7,13,2 summa caeli ora („oberste Himmelsregion“). Für caelum = „Welt“ (im Sinne von „Weltall“) siehe OLD s. v. caelum 9; vgl. vor allem Cic. Tim. 4. 10 Hypallage (die Sonne bringt das Licht zurück, nicht das Licht die Sonne). 11 Zu dieser Konnotation von pontus vgl. Luque Moreno 2011, 238f.

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mein Leben, zu überqueren wallende Fluten12 und entlangzueilen die Routen des schrecklich tosenden Meeres mir des Schicksals grausame Befehle gebieten werden. Breite gnädig über dem glatten Rücken der See die blaugraue Fläche des Meeres13 aus, und nur so viel sollen die blauen Fluten14 sich kräuseln mit zitternder Bewegung, wie die Segel aushalten, wie15 den Rudern Ruhe erlaubt. Es sollen Wogen da sein, die stark genug sind, um das schnelle16 Heck anzustoßen, die ich vergnügt zählen kann, die ich mit Freude betrachte.17 Es soll eine gleichmäßige Linie der Schiffsborde das Gleichgewicht ungestört bewahren18 und, während der Schiffsschnabel seinen Weg pflügt, möge die Welle leise rauschen. Gib, Vater, dass es mir vergönnt ist, sicher den Kurs zu durchmessen, trage zu den gewünschten Häfen an sicherer Küste mich und meine Gefährten. Wenn du dies zu geschehen erlaubst, werde ich dir so viel Dank, wie ich kann, abstatten für deine reiche Gabe.

Dieser Text ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Er wirft eine Reihe grundsätzlicher Fragen auf, was Funktion, Datierung und Adressat sowie die Zuweisung an einen Autor betrifft. Da der Oceanus-Hymnus in der Forschung noch nicht eingehend behandelt worden zu sein scheint, ist es das Ziel dieses Beitrags, nicht nur die Vision der gelungenen Seefahrt näher zu untersuchen, sondern den gesamten Hymnus zu interpretieren und auch seinen Text auf Grundlage der bisherigen Ausgaben zum Teil neu zu konstituieren. Anhand der Ergebnisse der Untersuchung soll schließlich eine Vermutung über die Funktion dieses Textes angestellt werden.

2. Zur Analyse des Oceanus-Hymnus Das Gedicht ist formal nach dem Schema eines kletischen Hymnus gestaltet. Strukturell finden sich die typischen Elemente Epiklese, Aretalogie und Euchai, die auch die Gliederung des Hymnus bestimmen: In den ersten beiden Versen wird die Gottheit Oceanus angerufen, in den Versen 3–11 werden die Leistungen des Gottes in einem Lobpreis narrativ entfaltet, schließlich in den Versen 12–28 die an Oceanus gerichteten Bitten des Sprechers formuliert. In diesem dritten 12 Nach antiker Auffassung ist fretum mit Brausen und Wallen konnotiert: Luque Moreno 2011, 165–167. 13 Zu profundum vgl. Luque Moreno 2011, 312f. Im Unterschied zu fretum betont profundum die Tiefe, Größe und Ruhe des Meeres. 14 Für diese Bedeutung von caerulea beziehungsweise caerula (scil. maris) vgl. Luque Moreno (2011) 320f. 15 Das erste quantum ist Akkusativ (Objekt zu ferant), das zweite Nominativ (Subjekt zu sinat), wie Timpanaro 1963, 392 unter Berufung auf Wernsdorf richtig feststellt. 16 Prolepse des attributiven Adjektivs: Tatsächlich nimmt das Schiff erst durch den Anstoß an Fahrt auf. Vgl. zum Beispiel Verg. Aen. 1,69: submersas [. . .] obrue puppis. 17 Gemeint ist, dass Oceanus so viele Wellen schicken soll, dass das Schiff optimal beschleunigt wird, aber nicht so viele, dass der auf das Meer schauende Seefahrer ständig ängstlich deren Frequenz und Höhe prüfen muss (ein Gegenbild hierzu: Ov. trist. 1,2,49). 18 Es wird um geringe axiale Bootsbewegungen gebetet, etwa dass das Schiff nicht rollt (sich periodisch um seine waagerechte Längsachse dreht) oder stampft (sich im Seegang um seine waagerechte Querachse bewegt); zu den Bewegungen antiker Schiffe vgl. den Beitrag von Kirstein et al. in diesem Band (siehe oben, S. 21–30). Mit laterum par linea ist wahrscheinlich eine gedachte waagerechte Linie gemeint, wie Pighi („la linea d’acqua si mantenga equilibrata dalle due bande“), Verdière („le niveau égal des flancs“), Chapot/Laurot („le plat équilibre des deux bords“) und Barry („an even keel“) anzunehmen scheinen, kaum ein um die Bordwände verlaufendes Tauwerk zur Stabilisation des Schiffes. Für linea in der Bedeutung „Tauwerk“ siehe immerhin Jal 1848, 934 („menu cordage“),

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Teil findet sich die Beschreibung der gelungenen Seefahrt in den Versen 18–24 als der näher spezifizierte Gegenstand dieser Bitten. Den ersten Vers der Epiklese bildet ein Trikolon zweigliedriger isosyllabischer Periphrasen des Oceanus, das zu einer inhaltlichen Klimax geordnet ist. Die Gottheit wird zunächst mit einem gewichtigen, bis zur Penthemimeres reichenden, spondeisch realisierten Ausdruck als Herrscher allen bewegten Wassers19 bezeichnet. Es schließen sich im zweiten, daktylisch organisierten Versteil zwei weitere, gegenüber dem ersten chiastisch, zueinander aber parallel formulierte Ausdrücke an, die inhaltlich jeweils eine Steigerung darstellen: Oceanus ist nicht nur Beherrscher, sondern sogar Schöpfer des Meeres, zuletzt sogar Herr über den gesamten Erdkreis. Die zweite Periphrase wird von der dritten durch eine bukolische Dihärese abgesetzt; die dritte Periphrase bildet somit metrisch einen Adoneus, dessen Form zum intensiven und affektgesteigerten Abschluss der effektvollen Anrufung besonders geeignet ist. Die drei pentasyllabischen Periphrasen sind als harmonisches, aber zugleich untereinander spannungsvolles Trikolon gestaltet; die Verseinschnitte unterstützen den kletischen Charakter des Verses. Die Analyse schon allein dieses ersten Verses zeigt, dass der Verfasser keine bloße Gefühlsaufwallung versifiziert hat. Im Gegenteil – bereits dieser Vers für sich genommen markiert, obschon implizit, so dennoch überdeutlich, den hohen ästhetischen Anspruch, den der Verfasser erhebt und den er im Folgenden auch einlösen wird. Alle drei Periphrasen des Eröffnungsverses bewegen sich inhaltlich und sprachlich innerhalb der literarischen Tradition. Okeanos wird schon in der Ilias als Gott des Urwassers und aller Gewässer bis hin zu den großen Brunnen angesehen (21,195–197), so dass es an anderer Stelle von ihm auch ganz einfach heißt, ὅς περ γένεσις πάντεσσι τέτυκται, „der doch der Ursprung ist von allem“ (14,246).20 Ganz so weit wie Homer zieht der Dichter des Hymnus den Kreis des von Oceanus Geschaffenen nicht, bezeichnet ihn aber immerhin als genitor maris, ein Attribut, das bei Ovid Neptun zukommt (met. 11,202): cum [. . .] tridentigero tumidi genitore profundi; so auch bei Statius (Ach. 1,61): magni genitor rectorque profundi.21 Wie Statius den Gott Neptun (Ach. 1,78), so bezeichnet der Dichter des Hymnus den Oceanus als rector undarum.22 Besonders auffällig ist die Junktur arbiter orbis. Diese findet sich, im Sinne eines arbiter orbis Christiani,23 in Hexameterausgängen spätantiker und mittelalterlicher Dichtung als Periphrase Gottes.24 Auf der Basis dieser christlich anmutenden Formulierung könnte man versucht sein,

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aber ohne Beleg. Der Eintrag im ThLL s. v. linea, Sp. 1432, 2f. bietet zwar einen Beleg, aber aus einem Glossar, der zudem nicht auf Taue zur Umgürtung eines Schiffs, sondern auf solche zur Befestigung von Segeln bezogen ist. Das Verständnis von unda beziehungsweise undae als „Wasser in Bewegung“ entspricht sowohl antiker Etymologie (Isid. orig. 13,20) als auch allgemeinem Wortgebrauch; siehe die Belege bei Luque Moreno 2011, 89–101. Zum kosmogonischen Aspekt vgl. Romm 1993, 23f., 176f.; Nesselrath 2005, 153f. Vgl. Verg. Aen. 1,155 und 5,817, wo Neptun als genitor bezeichnet wird, allerdings ohne weitere Angabe des von ihm Geschaffenen. Zum christlichen Gebrauch von genitor vgl. Smolak 1973, 218f. Für weitere Überschneidungen zwischen Poseidon/Neptun und Okeanos/Oceanus in der antiken Literatur vgl. Simons 2012, 342 mit Anm. 53. In der Frühen Neuzeit wird dieser Ausdruck dann zum politischen Schlüsselbegriff, vgl. Kampmann 2001. Vgl. zum Beispiel Ven. Fort. App. 18,25f. (hoc age ut, ad thalamus cum venerit arbiter orbis/visceribus puris inmaculata mices), verfasst nach 567 n. Chr.; Avit. carm. 6,628 (Avitus von Vienne, ca. 460–518): humanum in partes dirimet genus arbiter orbis. Bei Flavius Cresconius Corippus (ca. 500–570), Paneg. Anastas. 26, wird der Ausdruck allerdings in der Anrede an einen Menschen, den Quaestor Anastasius, gebraucht: summe magistrorum, procerum decus, arbiter orbis.

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den Hymnus eher spät zu datieren, vielleicht sogar erst ins 5. oder 6. Jh.25 Doch ist eine Spätdatierung nicht zwingend, da sich der Dichter mit dieser Junktur durchaus noch im Rahmen des paganen Sprachgebrauchs bewegt. So wird in Senecas Hercules furens Jupiter von Amphitryon so angerufen (205): o magne Olympi rector et mundi arbiter;26 ähnlich sagt Seneca über die ordnende Tätigkeit Gottes in epist. 16,5: arbiter deus universi cuncta disposuit. Dazu passt die Formulierung einer anonym zitierten Kritik an Chrysipp bei Gellius (7,2,5), in der es heißt, dass diesem zufolge alles durch das Wirken von necessitas quaedam et instantia geschehe, also durch einen unvermeidlichen Impuls, omnium quae sit rerum domina et arbitra, per quam necesse sit fieri, quicquid futurum est. Hier ist es ein personifiziertes Abstraktum (necessitas), das wie eine Gottheit attribuiert wird. Bei Ammianus Marcellinus wird die Göttin Adrasteia beziehungsweise Nemesis als arbitra rerum bezeichnet (14,11,26); im Vergilkommentar des Tiberius Claudius Donatus findet sich arbiter orbis als Explikation des Attributs altus zu Verg. Aen. 6,9 (at pius Aeneas arces, quibus altus Apollo).27 Als arbiter maris wird schließlich Neptun in der ersten Strophe eines stilisierten anonymen Ruderliedes der Spätantike umschrieben (Anth. Lat. I, 388a = I, 384 Sh.-B.): Arbiter effusi late maris ore sereno/placatum stravit pelagus posuitque procellam,/ edomitique vago sederunt pondere fluctus.28 Im zweiten Vers der Epiklese wird die Gottheit zunächst unmittelbar mit Namen angerufen. Dann folgt eine vokativische Partizipialperiphrase, die in ihrer Formulierung an eine Stelle in Catulls Epyllion auf die Hochzeit von Peleus und Thetis erinnert: Oceanusque, mari totum qui amplectitur orbem (64,30).29 Die Vorstellung, die vom Oceanus als weltumfassendem, gleichsam unbegrenztem Strom hier evoziert wird, geht auf Homer und Hesiod zurück.30 Schon hier in der Epiklese deutet sich an, worum es dem Bittenden später in den Euchai gehen wird, nämlich um eine ruhige See und eine gelungene Seefahrt. Das Versende ist in der Handschrift unvollständig überliefert; es fehlt das letzte daktylische Metrum. Riese ergänzte gyro und folgte damit einer Konjektur von Huemer, für die dieser sich auf eine vermeintliche Parallelstelle im Carmen paschale des Sedulius stützt (2,63–66a): salve, sancta parens, enixa puerpera regem,/qui caelum terramque tenet per saecula, cuius/nomen et aeterno conplectens omnia gyro/imperium sine fine manet [. . .]. Sedulius ruft Maria an und beglückwünscht sie zur Geburt Christi, des Himmelskönigs, dessen Herrschaft, die alles in ewiger Kreisform umfasst, ohne Ende bleibt.31 Die Parallele ist aber eine bloß äußerliche. Die durch 25 Ich danke Eckhard Wirbelauer für diesen wichtigen Einwand, von dem ich hoffe, ihn im Folgenden hinreichend ausräumen zu können. 26 Vgl. auch die Verse 597f. derselben Tragödie (caelestum arbiter/parensque) mit dem Kommentar von Fitch 1987, 278: „Arbiter is a verbal variation on the more usual rex/rector, but without discernible difference in meaning.“ Vgl. zudem das arbitrium terrarum orbis, das nach Suet. Caes. 7,2 Julius Cäsar in einem inzestuösen Traum angekündigt wurde. 27 Vgl. Jakobi 1997, 28, der zeigt, dass es sich bei arbiter orbis um echte Überlieferung handelt (eine ins Lemma eingeschobene Explikation). 28 Für diese und weitere Belege siehe ThLL s. v. arbiter III.B.1, Sp. 406f., beziehungsweise arbitra II, Sp. 407f. Das Ruderlied stellt übrigens auch eine gelingende Seefahrt bei glatter See dar. 29 Vgl. die Parallele bei Tib. 4,1,147 Oceanus ponto qua continet orbem. Vgl. überdies den Beginn von Tacitus’ Germania, wo der Oceanus, der die Grenzen Germaniens einschließt, als latos sinus et insularum immensa spatia complectens beschrieben wird, „weite Buchten und unermesslich große Inseln umfassend“ (1,1). 30 Vgl. Romm 1992, 12–26. 31 Scheps 1938, 146 weist darauf hin, dass Sedulius sich in der Formulierung an Lucan. 4,189 anlehnt, wo die Concordia angerufen wird: nunc ades, aeterno conplectens omnia nexu.

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Huemers Konjektur entstehende Junktur placido [. . .] 〈gyro〉 bleibt im spezifischen Kontext des Oceanus-Hymnus unglücklich, da keine befriedigende Bildvorstellung erzeugt wird:32 Das Adjektiv placidus sollte als Bezugswort besser ein Substantiv bei sich haben, das eine potentiell bewegliche Substanz (in diesem Fall also: Wasser) bezeichnet, und nicht eines, das eine substanzlose Form beschreibt, wie gyrus.33 Daher ist einem der Vorschläge Wernsdorfs, fluctu oder ponto, der Vorzug zu geben und Haupt zuzustimmen, der fluctu als „das einfachste“ bevorzugte.34 Diese Ergänzung kann durch eine Parallele in den Argonautica des Valerius Flaccus abgesichert werden (1,265–267: [. . . ] placido35 si currere fluctu/Pelea vultis, ait, ventosque optare ferentes,/hoc, superi, servate caput [. . . ]). In den folgenden Versen (3–11) wird die Aretalogie in typischer Weise mit einer polyptotisch realisierten Prädikation im Du-Stil in reicher Wortfülle durchgeführt. In V. 3 wird zunächst wieder der ordnende und mäßigende Einfluss der Gottheit hervorgehoben, deren hier in juristischer Terminologie formuliertes Wirken schon in der Periphrase arbiter orbis anklang; die Parallele bei Ovid (met. 1,69: vix ita limitibus dissaepserat omnia certis) unterstreicht, dass Oceanus hier in der Rolle des fabricator mundi beschrieben wird. In den Versen 4 und 5 wird unter Rückgriff auf eine bei Ovid (met. 2,238) und Statius (Theb. 4,700) verwendete Junktur (fontesque lacusque) das Motiv des genitor maris als pater rerum (so eine Bezeichnung des Oceanus in Vergils Georgica) weiter entfaltet.36 In Aufbau, Anlage und sprachlichem Ausdruck besitzen die Eingangsverse auch eine gewisse Ähnlichkeit mit denen der Aratea des Germanicus, in denen er sein Werk Tiberius zueignet (1–4): ab Iove principium magno deduxit Aratus, carminis at nobis, genitor, tu maximus auctor, te veneror, tibi sacra fero doctique laboris primitias, probat ipse deum rectorque satorque.

In den Versen 6–11 erweitert der Dichter die Sphäre des Handelns der von ihm gepriesenen Gottheit im Rahmen einer meteorologischen Theorie beträchtlich. Im Rückgriff auf eine seit Xenophanes (DK 21 A 46) vertretene Ansicht wird in V. 6 (te potant nubes) die Entstehung von Wolken darauf zurückgeführt, dass sie sich aus vom Meer aufsteigender Feuchtigkeit bilden, also „nähren“.37 Es ist interessant, dass Xenophanes in seinem hexametrischen Gedicht Περὶ φύσεως (DK 21 B 30) das große Meer (μέγας πόντος) als Erzeuger (γενέτωρ) von Wolken, Winden und Flüssen besingt, ganz so wie der Verfasser des Hymnus den Oceanus als genitor maris preist.38 32 Ganz anders liegt die Sache bei Lucan. 4,79, wo inperfecto [. . .] gyro sehr passend vom Halbkreis des sich über die Erde erhebenden Regenbogens gesagt wird. 33 Die Junktur placido [. . .] nutu, die sich unter anderem auf Parallelen bei Avit. carm. 5, 574 und in der Vergilvita des Focas (Vita Focae 89 Götte: Caesaris huic placido nutu repetuntur agelli) stützen könnte, ist aus denselben Gründen abzulehnen; ebenso gilt dies für zwei Konjekturen Burmanns, motu und cursu. 34 Haupt 1875, 309. 35 Das in vielen Ausgaben zu lesende placidum (mit Bezug auf Pelea) ist eine unnötige moderne Konjektur. 36 Für die gesamte in V. 3 ausgedrückte Idee des pater Oceanus als göttlicher Ordnungskraft vgl. auch Avien. Phaen. 164–168. Zu Verg. georg. 4,382 (Oceanus als pater rerum) vgl. Romm 1993, 177 mit Anm. 14 sowie Erren 2003, 935. 37 Dasselbe glaubte man auch vom Regenbogen, vgl. Asso 2010, 131 zu Lucan. 4,81 (Oceanumque bibit). Zur Formulierung vgl. noch Stat. Theb. 9,405f. (über die Grotte des Ismenos): unde aurae nubesque bibunt atque imbrifer arcus/ pascitur. 38 Dennoch ist natürlich eine direkte Xenophanes-Kenntnis des Verfassers auszuschließen.

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Im Ausgang von V. 6 wird mit dem Adoneus frugibus imbres ein vergilisch anmutender Akzent gesetzt. Ein gleichlautender Versausgang findet sich nämlich in den Eklogen (3,80), allerdings in negativem Kontext: Den reifen Früchten (maturis frugibus), heißt es, bringe starker Regen Unheil, den Tieren in ihren Ställen der Wolf.39 Andererseits entwickelt Vergil ein positives Bild der Wirkung des Regens in der Invocatio generalis im hymnischen Gebet zu den Göttern des Landlebens im Eingang des ersten Georgica-Buches (1,5–23; hier: 21–23), wo es heißt, dass diese die Äcker beschützen, junge Feldfrüchte (novas [. . .] fruges) nähren und reichlich Regen vom Himmel herabschicken.40 Mit beiden Vergil-Stellen tritt der Verfasser des Oceanus-Hymnus in einen kreativen Dialog. Formal schließt er sich den Eklogen an, inhaltlich den Georgica; Regen ist ihm zuvorderst Voraussetzung für das Wachstum der Pflanzen. Im Ergebnis stellt er die Leistung des Gottes Oceanus auf genau die Stufe, auf der Vergil die Leistung einer Götterpluralität ansiedelt; auf diese Weise unterstreicht der Hymnusdichter die herausragende Bedeutung und umfassende göttliche Macht des Oceanus. In V. 7 erweist sich der Verfasser vielleicht sogar noch deutlicher als bisher als poeta doctus, wenn er das Meer als cyaneus, „dunkelblau“, bezeichnet.41 Dem griechischen κυάνεος entspricht das lateinische caeruleus. Dieses wird im Altertum, etymologisch zutreffend, mit caelum verbunden – eine Etymologie, mit der schon Ennius in den Annales (65 V. = 54 Sk.) und nach ihm zum Beispiel Ovid (fast. 3, 449) spielt. Außerdem besteht nach einer in der Antike vertretenen Auffassung, die sich bei Isidor von Sevilla (orig. 13,15,1) findet, eine etymologische Beziehung zwischen Oceanus und κυάνεος: Oceanum Graeci et Latini ideo nominant quod in circuli modum ambiat orbem. item quia ut caelum puprpureo colore nitet: oceanus quasi κυάνεος. iste est, qui oras terrarum amplectitur, alternisque aestibus accedit atque recedit; respirantibus enim in profundum ventis aut removit maria aut resorbet.

Diese Zusammenhänge begründen die erlesene Wortwahl des Dichters zu Beginn von V. 7;42 durch sie macht er zugleich deutlich, auf welch hohem literarischen Niveau er sich selbst sieht und beurteilt werden möchte. Zugleich verweist er in diesem Vers mit dem Passiv diceris, wenn auch nur vage, auf die Werke anderer Autoren, die Oceanus behandelt haben. Damit situiert er sich jetzt auch explizit im Umfeld einer literarischen Tradition, mit der er sich, wie bereits die anspruchsvollen Eingangsverse gezeigt haben, zu messen gedenkt. In den Versen 9–11 avanciert Oceanus zum Ernährer der Sonne. Diese naturkundliche Theorie findet sich bereits bei Diogenes von Apollonia (DK 64 A 18) und dann bei Kleanthes (zitiert bei Cic. nat. deor. 2,40):

39 Verg. ecl. 3,80: triste lupus stabulis, maturis frugibus imbres. 40 Verg. georg. 1,21–23: di deaeque omnes, studium quibus arva tueri,/quique novas alitis non ullo semine fruges,/quique satis largum caelo demittitis imbrem. 41 Zu cyaneus vgl. Bartalucci 1987. 42 Das Adjektiv cyaneus ist selten; es findet sich zuerst in den pseudovergilischen Dirae (40: cyaneo [. . .] aethere), sonst in Plinius’ Naturgeschichte zur Beschreibung der Farbe des Eisvogels (10,89), der Pflanze chamaeleon (22,45) und des Saphirs (37,120).

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“ergo”, inquit (sc. Cleanthes), “cum sol igneus sit Oceanique alatur umoribus” – quia nullus ignis sine pastu aliquo possit permanere – “necesse est aut ei similis sit igni, quem adhibemus ad usum atque victum, aut ei, qui corporibus animantium continetur.”

In der römischen Dichtung ist sie verbreitet; es sei hier nur auf Lucan. 1,415f. und 10,258–261 verwiesen.43 Mit V. 12 geht der Oceanus-Hymnus von der Aretalogie zu den Euchai über, also zu den an die Gottheit gerichteten Fürbitten. An einer strukturell äquivalenten und hochsignifikanten Stelle findet sich in Lukrezens De rerum natura das gleiche Wort wie hier, nämlich die schon bei einigen Vorsokratikern gebräuchliche Steuermanns- oder besser Kapitänsmetapher gubernas (1,21):44 quae quoniam rerum naturam sola gubernas. Während der Gegenstand dieses Steuerns, Lenkens und Regierens der Gottheit bei Lukrez umfassend als rerum natura, „Natur der Dinge“, bezeichnet wird, wählt der Autor des Oceanus-Hymnus eine Umschreibung, mit der er einen vergleichbar umfassenden Anspruch erhebt: Das topische, ebenfalls aus Lukrez (5,92) und zum Beispiel Ovid (met. 1,256f.) bekannte Trikolon mare – terra – caelum wird mit dem übergeordneten Begriff mundus zusammengefasst, in dem diese drei Weltbereiche, wie bei Lukrez in der natura triplex (5,93), aufgehoben sind.45 Die intertextuelle Botschaft ist klar erkennbar: Nicht nur Lukrezens Venus, sondern auch der Oceanus des Anonymus darf Anspruch auf unbegrenzte Herrschaft über die Welt erheben. Wem dieser Verweis auf De rerum natura als Prätext des Hymnus noch nicht deutlich genug gewesen sein sollte, für den klingt im nächsten Vers (13) mit dem Vokativ venerabilis nochmals die Göttin Venus an. Im übernächsten Vers (14) wird dann mit dem Vokativ alme parens rerum, der sich, wie der Anruf der alma Venus bei Lukrez (1,2), am Versanfang findet, noch einmal nachdrücklich auf Venus und die natura rerum verwiesen und zugleich auf die bereits erwähnte vergilische Bezeichnung des Oceanus als pater rerum. An der korrespondierenden Stelle der Epiklese (V. 2) in unserem Hymnus findet sich natürlich der Vokativ Oceane. Ich halte das Cluster der intertextuellen Verweise für hinreichend dicht, um zuversichtlich konstatieren zu können, dass der Oceanus-Dichter hier eine Lukrez-aemulatio markiert.46 An die allgemeine Bitte um göttliches Gehör schließen sich die Euchai im engeren Sinne an (VV. 14b–17): Der Gott möge das Schiff des Bittenden allezeit und überall beschützen, wann auch immer die grausamen Befehle seines Schicksals ihm befehlen, seine Seele (gemeint ist: sein Leben) dem hohen Meer anzuvertrauen.47 Wie dieser Schutz sich im Näheren gestalten

43 Weitere relevante Stellen bei Pease 1958, 635f. 44 Vgl. Dunsch 2016, 162f.; zum Begriff Heinemann 2005, 27. Vgl. auch natura gubernans und Fortuna gubernans bei Lucr. 5,77 beziehungsweise 107. 45 Zum Trikolon mare terra caelum bei Lukrez vgl. Schmidt 1988; für die Spätantike vgl. Smolak 1971. Zum übergeordneten Vierten als Gliederungsprinzip in der europäischen Kulturtradition vgl. Brandt 1998, dort speziell zu Lukrez 146f. 46 Zur Lukrezrezeption in der Spätantike vgl. Hardie 2007 und Deufert 2010; speziell für die Prosa bis Laktanz Gatzemeier 2013. Für die exemplarische Herausarbeitung unentdeckter Lukrezreminiszenzen in einem Gedicht des Hilarius vgl. Smolak 1973. 47 committere wird, wenn von Seefahrt die Rede ist, häufig in negativ getönten Kontexten verwendet, die eine innere Distanz zu und Ablehnung von Meeresreisen ausdrücken; vgl. Cic. Arat. 296 cave te in pontum studeas committere; fam. 16,8,1; Att. 10,12,4; Hor. carm. 1,3,10–12.

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soll, das führt der Sprecher dann in den Versen 18–24 aus, in denen er seinem Publikum die poetische Vision einer gelungenen Seefahrt bietet.

3. Die Vision der gelungenen Seefahrt als Kernstück der Euchai Zwar wird das Meer hier mit Allusion an das lukrezische horrisono [. . .] fragore (5,109)48 als aequor horrisonum (V. 17) bezeichnet,49 und die gefährliche Fahrt auf ihm wird, wie es heißt, dem Sprecher der Verse von seinem Schicksal mit grausamen Befehlen (fera iussa) geboten, was vielleicht ein Anklang an Ovids Remedia ist, wo ebenfalls mit iubere und iussum gespielt wird (495f.: non ego te iubeo [. . . ]/non sunt imperii tam fera iussa mei). Dann aber, formal gekennzeichnet durch den Übergang zum Imperativ und danach zum Konjunktiv, folgen Verse (18–24), in denen ein völlig anderes Bild vom Meer entworfen wird. Die See liegt ruhig und glatt da (V. 18: per levia dorsa), ihre Farbe ist bläulich-blaugrün (glaucum) und nicht bedrohlich schwarz, wie es nach Auffassung der antiken Meteorologie bei vorherrschendem Nordwind der Fall wäre, was Gellius 2,30,11 mit Hinweis auf die pseudo-aristotelischen Problemata ausführt.50 Das Ende von V. 18 (glaucum per levia dorsa profundum) ist über fünf Wörter hin sprachlich äußerst eng verbunden mit einer Stelle aus der Mosella des Ausonius (55), in der die Mosel angeredet wird: spectaris vitreo per levia terga profundo.51 Zugleich erinnert an die Formulierung im Hymnus und bei Ausonius eine Stelle in Nemesians Cynegetica, an der es um die physischen Eigenschaften einer besonderen Pferderasse aus Kappadokien geht, die bei der Jagd mit Hunden zum Einsatz kommt (240–250). Von diesen Pferden heißt es unter anderem: illis ampla satis levi sunt aequora dorso/immodicumque latus parvaeque ingentibus alvi (243f.). Auffällig ist hier zunächst die Bezeichnung der Pferderücken als aequora,52 was gerade in Verbindung mit der Junktur levi [. . .] dorso deutlich auf das Bildfeld des Meeres verweist, das sich möglicherweise durch die semantischen Ambiguitäten der Wörter latus („Bordwand“) und alvus („Schiffsbauch“)53 noch in den nächsten Vers erstreckt. Deutlicher wird der maritime Bezug in den VV. 272–278, einem breit ausgeführten Vergleich aus der maritimen Sphäre, der in einer Art Ringkomposition auf die weniger eindeutigen Bilder kurz nach Beginn des Abschnitts über die Pferde zurückverweist.54 48 Zwei Verse zuvor setzt Lukrez übrigens auch die von mir bereits erwähnte Kapitänsmetapher ein (5,107: fortuna gubernans). 49 Vgl. auch Cic. Tusc. 2,23 (horrisono freto) in einer Übersetzung aus Aischylos; vom Wind beim Meeressturm: Luc. 2,454f. (cum mare possidet Auster/flatibus horrisonis). 50 Vgl. Gell. 2,30,11 (mit Bezug auf Aristot. probl. 26,37): id quoque a peritissimis rerum philosophis observatum est, austris spirantibus mare fieri glaucum et caeruleum, aquilonibus obscurius atriusque. cuius rei causam, cum Aristotelis libros Problematorum praecerperemus, notavi. 51 Das Bild vom „Rücken des Meeres“ findet sich seit Homer; Belege bei Gruber 2013, 136. 52 Vgl. Jakobi 2014, 144f., der die Formulierung als Hypallage erklärt, bei der dorsum als Vox propria in untergeordneter Position stehe. 53 Vgl. Tac. hist. 3,47,3 über den Schiffstyp der Kamaren: camaras vocant, artis lateribus latam alvum sine vinculo aeris aut ferri conexam. 54 Wegen ihrer Ambiguität (hippologisch beziehungsweise maritim) auffällig sind auch folgende Formulierungen in den übrigen Versen des Abschnitts: longos [. . .] intendere cursus (253); deformis [. . .] alvus (263); spatiosa per aequora (269).

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Die Windverhältnisse werden als ideal beschrieben (VV. 19–20): nicht zu viel und nicht zu wenig. Es soll also genug Wind herrschen, um unter Segeln gute Fahrt machen zu können, aber nicht so viel, dass der Wind die Stabilität der Segel gefährdet, und nicht so wenig, dass man die Ruderer einsetzen müsste. Diese Äußerung macht deutlich, dass der Sprecher hier an eine Fahrt über das offene Meer denkt und nicht an Küstenschifffahrt, bei der man im Mittelmeer in aller Regel zu bestimmten Tageszeiten am Morgen und am Abend mit ausreichend starkem aboder auflandigem Wind rechnen kann, der das Schiff voranbringt, ohne dass man, außer zum Navigieren, Ruderer einsetzen müsste.55 Den günstigen Windverhältnissen, die der Sprecher imaginiert, entspricht der von ihm vorgestellte Seegang (V. 21: fluctus), der gerade stark genug sein soll, um das Schiff mit guter Geschwindigkeit schnell voranzubringen: celerem [. . .] puppem (mit Prolepse des attributiven Adjektivs). Diese Wellen, so der Sprecher, werde er mit Freuden anschauen und vergnügt zählen (V. 22). Gemeint ist, dass Oceanus gerade so viele Wellen schicken soll, dass das Schiff optimal beschleunigt wird,56 aber nicht so viele, dass der Ausschau auf das Meer haltende Seefahrer ständig ängstlich deren Frequenz und Höhe prüfen muss, was in der Antike üblicherweise geschah.57 Ein eindrucksvolles Gegenstück hierzu bietet das Bild der topischen zehnten Woge im Seesturm, zum Beispiel in Ovids Tristien (1,2,49f.): qui venit hic fluctus, fluctus supereminet omnes:/posterior nono est undecimoque prior. Freilich bedeutet fluctus numerare hier nicht ein „Abzählen“ im engeren Sinne, wie es Martial in einem Kussgedicht (6,34,2) als Metapher benutzt, um eine unendlich große Zahl zu umschreiben. Dort heißt es: Wenn du mich fragst, wie viele Küsse du mir geben sollst, dann ist das, als gebötest du mir, die Wellen des Ozeans zu zählen: Oceani fluctus me numerare iubes. Vielmehr verarbeiten die VV. 21–22 des Hymnus wahrscheinlich eine Stelle aus Vergils Georgica (2,103–108), an der die Emphase auf das Nicht-Zählbare gelegt wird, das unter anderem durch den Versuch versinnbildlicht wird, bei einem Sturm die Wellen an der Küste Ioniens zu zählen. Der Dichter des Oceanus-Hymnus hingegen korrigiert Vergil und betont nicht nur die Möglichkeit des numerare, durch welches das wilde Element der See kontrollierbar wird, sondern hebt zugleich in einer metapoetischen Ambiguität dessen ästhetischen Mehrwert hervor; denn der numerus, um den es hier geht, ist zugleich Zahl und Rhythmus der Wellen, die damit auf die textuelle Praxis des Oceanus-Dichters selbst verweisen. Der nächste Vers (23) beschreibt eine Situation, in der das Schiff seinen Kurs hält und nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Mit laterum par linea ist dabei wohl eine gedachte waagerechte Linie gemeint, wie Verdière und Barry in ihren Übersetzungen („le niveau égal des flancs“ beziehungsweise „an even keel“) anzunehmen scheinen, vielleicht aber auch ein um die Bordwände verlaufendes Tau zur Stabilisation des Schiffes.58

55 Vgl. zum Beispiel Medas 2004, 54f. 56 Windstille wäre nämlich mindestens so gefährlich wie zu starker Wind, vgl. zum Beispiel die saeva quies pelagi des vereisten Meeres in Lucan. 5,436–455. 57 Vgl. zum Beispiel Beresford 2013, 178, 188f. 58 Vgl. oben Anm. 18 (S. 174f.).

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Während das Schiff sicher durch das Wasser gleitet, heißt es dann im folgenden Vers (24) in leichter Variation des spätestens seit Cicero topischen murmur maris,59 sollen die Wellen nur sanft rauschen,60 ganz im Gegensatz zu dem sonst in der Dichtung üblichen lauten Tosen des Meeres, das zum Beispiel bei Vergil (Aen. 1,124) Teil einer Sturmschilderung ist: magno misceri murmure pontum. Eine recht enge Parallele zu diesem Vers findet sich bei Rutilius Namatianus (2,13f.: arridet placidum radiis crispantibus aequor/et sulcata levi murmurat unda sono).61 Die letzten vier Verse des Textes (25–29) enthalten eine Bitte an den Oceanus als pater (wieder die oben erwähnte Georgica-Reminiszenz62 ) um sichere Passage über das Meer (ut tute liceat transmittere cursum – die letzten beiden Wörter sind ebenfalls eine Vergilreminiszenz63 ), insbesondere eine Bitte um sichere Ankunft in den Zielhäfen (V. 26: ad optatos [. . .] portus),64 die sich der Sprecher nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Gefährten wünscht. Zur Bekräftigung des Wunsches schließt er in VV. 28b–29 ein votum an, das entsprechend dem klassischen do-ut-des-Konzept formuliert ist. In den Wunsch für eine sichere Fahrt schließt der Sprecher ausdrücklich auch seine comites ein. Eine naheliegende Deutung für das Wort wäre „Mannschaft“ oder „Reisegefährten“65 – ob sie das Richtige trifft, soll weiter unten diskutiert werden.

4. Zur Deutung des Oceanus-Hymnus Bisher wurde der Oceanus-Hymnus von einem großen Teil der Forschung als für sich allein stehendes Gebet an die Gottheit Oceanus gelesen und zum Teil sogar als Ausdruck der persönlichen Religiosität ihres Verfassers verstanden. So konstatierte zum Beispiel Pighi, dass der Hymnus „è ispirato da una vera e sincera fede“.66 Doch finden sich für diese These im Text kaum Anhaltspunkte. Im Gegenteil verhält es sich so, dass der Text sehr sorgfältig gestaltet ist und mit Nachdruck auf zahlreiche Prätexte verweist. Dietrich Wachsmuth hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in Euploia-Gebeten hymnisch-preisende Prädikationsmittel in der Regel nur sparsam verwendet werden. Dieser Befund steht in einem markanten Gegensatz zu dem an Epiklesen abundierenden und literarische aemulatio nachgerade zelebrierenden Stil des Oceanus-Hymnus. Wachsmuth charakterisiert diesen daher richtigerweise als „poetisch freie, nicht zweckgebundene oder als jedenfalls im Schiffskult kaum gesprochene“ Gebetsform.67 Dazu passt auch, dass Okeanos nicht zu den üblichen thalassischen Soter-Gottheiten zählt,

59 Vgl. Cic. de orat. 3,161. 60 Dass das Rauschen (murmur) des Meeres allerdings auch als laut und störend empfunden werden konnte, zeigt zum Beispiel Cic. Tusc. 5,116. 61 Doblhofer 1977, 265 weist noch auf Verg. Aen. 10,212 hin (spumea semifero sub pectore murmurat unda), ein Vers, den auch der Hymnus-Dichter im Ohr gehabt haben könnte. 62 Vgl. die oben erwähnte Stelle Verg. georg. 4,382. 63 Verg. Aen. 6,313 (transmittere cursum); vgl. Timpanaro 1963, 393. 64 Vgl. Sil. 11,484f. (lauro redimita subibat/optatos puppis portus). 65 So zum Beispiel Hor. sat. 1,5,9. 66 Pighi 1958, 203. 67 Wachsmuth 1967, 470 Anm. 2246. Er verweist in diesem Zusammenhang auf weitere ähnliche Dichtungen wie den Poseidon-Hymnus des Pseudo-Arion (Ail. nat. 12,45).

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zu deren Kreis unter anderem die Dioskuren, Aphrodite Euploia, Apollon Delphinios, Ino Leukothea, Glaukos, Triton, die Nereiden, Isis, Priap und Zeus zu rechnen sind.68 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass der Sprecher nicht um den Schutz des Oceanus auf einer ganz bestimmten Seereise bittet, sondern vielmehr darum, sicher zu den jeweils gewünschten Zielhäfen zu gelangen (V. 26). Die Verwendung des Plurals port¯us macht es unwahrscheinlich, dass es sich bei diesem Text um ein Gebet aus Anlass einer bestimmten Reise handelt. Die fehlende Gebundenheit an eine bestimmte Gelegenheit, also der mangelnde Kasualcharakter der Verse, verweist diese in Hinsicht auf ihre Pragmatik in einen anderen Bereich als in den des mit einem bestimmten Anlass verknüpften Euploia-Gebets. Vielmehr ist die Seereise, die der Sprecher der Verse im Sinn hat, als eine circumnavigatio vorzustellen, in deren Verlauf mehrere Häfen hintereinander angesteuert werden. Auch die durchgängige Verwendung der ersten Person Singular ab V. 1369 betont die Vereinzelung des Sprechers und lässt keine Assoziation an einen pragmatischen Kontext aufkommen, in dem er etwa stellvertretend für seine auch anwesenden Kameraden die Gottheit anriefe. Die Nennung der comites in V. 27 wirkt vielmehr wie nachgetragen, zumal der Sprecher spätestens in V. 16 bereits die Gelegenheit gehabt hätte, neben seiner Person (haec anima) auch auf eventuell anwesende Dritte zu verweisen. Auch das Gedicht insgesamt als eine Allegorie auf das menschliche Leben aufzufassen, wie dies Pighi getan hat („La navigazione di cui vi si parla è, evidentemente, la vita“),70 ist wegen der breit ausgeführten Beschreibung einzelner Bewegungen des Schiffes auf dem Wasser und der Verwendung von zum Teil unanschaulichem, technisch anmutendem Vokabular (vor allem in V. 23) wenig überzeugend, zumal da in diesem Fall die in der Antike mehrfach formulierte Grundforderung an jede Allegorie weitgehend unerfüllt bliebe, nämlich dass sich ihre einzelnen Teile sinnvoll dem von ihnen jeweils spezifisch Gemeinten zuordnen lassen sollen.71

5. Der Oceanus-Hymnus als (Teil-)Proömium eines nautischen Lehrgedichts? Tatsächlich liegt es wegen der deutlich markierten Lukrez- und auch Vergil-aemulatio und den Verweisen auf die Lehrdichtungen De rerum natura und Georgica näher, in diesen Versen ein durch die Ungunst der Überlieferung versprengtes Proömium einer größeren Dichtung zu sehen, wahrscheinlich einer Lehrdichtung, die sich mit der Seefahrt beschäftigt hat. Falls diese Annahme zutrifft, hätte der Dichter der an Oceanus gerichteten Verse wie vor ihm zum Beispiel Hesiod, Empedokles, Arat und Lukrez einen an diejenige Gottheit gerichteten Hymnus an den Beginn seines Werkes gestellt, die für den Gegenstandsbereich des Lehrgedichts zuständig ist.72

68 Vgl. Wachsmuth 1967, 477f. und den Katalog bei Sandberg 1954, 42f. Zu Venus, Aphrodite und Isis als Göttinnen der Seefahrt vgl. auch den Beitrag von Bernadette Descharmes in diesem Band (siehe unten, S. 191–206). 69 Es finden sich me (VV. 13 und 27), precor (V. 14), hanc animam (V. 16; mit dem Ich als deiktischer Origo), possim (V. 22), meos (V. 27), reddam und potero (V. 28). 70 Vgl. Pighi 1958, 203. 71 Locus classicus dieser Forderung: Quint. inst. 8,6,44. 72 Zu diesem Charakteristikum antiker Lehrdichtung vgl. zum Beispiel Pöhlmann 1973, 850f. Varro und Vergil rufen jeweils eine Götterpluralität an, vgl. Erren 2003, 13–17.

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Gleichzeitig ergäbe sich für den Hymnus-Dichter eine interessante Möglichkeit, im „Ich-Teil“ seiner Verse (12–28) den Gegenstandsbereich „Oceanus“ für eine metapoetische Aussage zu nutzen, indem er sein Lehrgedicht über die Seefahrt mit einer Fahrt über die hohe See vergleicht und geradezu mit ihr überblendet, wobei er sich in der Durchführung auf die toposhafte Identifikation der homerischen Dichtung beziehungsweise Homers mit dem Oceanus stützen könnte.73 Den Prozess seiner dichterischen Produktion stellt der Autor des Hymnus in VV. 25– 28 als eine sichere Seereise dar, nachdem er schon vom ersten Vers an eine auf die Zähmung des eigentlich unbezähmbaren Meeres, der gefährlichen, ja bösen Anderwelt74 abzielende poetische Bewegung programmatisch auf zwei Ebenen inszeniert hat, und zwar zum einen auf der theologischen durch die rituell abgesicherte Performanz eines Hymnus an Oceanus als monotheistisch überhöhten Kosmokrator, zum anderen auf der metapoetischen durch den prozeduralen Vollzug der Textproduktion selbst.75 Die Bitte um sicheren Kurs auf See in V. 25 (da, pater, ut tute liceat transmittere cursum) wäre dann nicht nur als ein Verweis auf den Wortlaut von Aen. 6,313 zu lesen, sondern, wichtiger noch, auf die Fahrtmetapher in Georg. 1,40, die Vergil gegen Ende des Proömiums im Rahmen seiner Bitte um inspirierten Vortrag verwendet (da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis). Auch das scheinbar unvermittelte Auftauchen der comites in V. 27 im Oceanus-Hymnus ließe sich unter dieser Prämisse besser erklären: Man könnte in ihnen die fingierten Adressaten des Lehrgedichts sehen, also Seeleute, die gleichsam zusammen mit dem Dichter in See stechen, nachdem er sie in sein Dichterschiff aufgenommen hat – ganz so, wie Vergil in Georg. 1,40–42 die der Agrikultur unkundigen Landleute mit an Bord seiner Lehrdichtung nimmt.76 Auch die letzten anderthalb Verse des Hymnus, in denen der Sprecher dem Meeresgott feierlich die Erstattung seines Dankes ankündigt, wenn dieser sich dem Vorhaben geneigt zeigt und es gelingen lässt, haben nicht unbedingt abschließenden Charakter. Eine ähnliche Formulierung findet sich am Ende der Praefatio zu den Laudes Iustini des Corippus (beziehungsweise Gorippus),77 wo es heißt: huic ego sananti, si qua est fiducia servis,/grates semper ago et pro munere carmina porto.78 Damit weist Corippus auf die Fortsetzung des Textes durch den folgenden Panegyricus in vier Büchern hin. Ähnlich könnte auch im Falle des Oceanus-Hymnus die scheinbare Schlussformel als Übergangsformel zu dem sich nach Ende des Proömiums anschließenden Lehrgedicht gedeutet werden, das der Dichter dem von ihm besungenen Gott wie einem weltlichen Herrscher weiht. Sollte also der Oceanus-Hymnus das versprengte Proömium (oder einen Teil davon) eines nautischen Lehrgedichts bilden – gäbe es Autoren oder Texte, die man plausibel mit diesem in Verbindung bringen könnte? Während es in der griechischen Literatur einige Hinweise auf die 73 Vgl. Quint. inst. 10,1,46: hic (scil. Homer) enim, quem ad modum ex Oceano dicit ipse amnium fontiumque cursus initium capere, omnibus eloquentiae partibus exemplum et ortum dedit. Vgl. auch Eust. in Il. 1,1,8–10. Interessant sind in diesem Zusammenhang Stoffel 2014 zur Technik der „Naufragisierung“ der epischen Narration sowie Harrison 2007 zum „Ocean of Epos“. 74 Zum „bösen Meer“ vgl. Rahner 1964, 280–303 mit vielen Belegen, zum Oceanus-Hymnus 281 und 286 Anm. 103. 75 Ich danke Christian Haß herzlich für eine äußerst anregende Korrespondenz zu diesen Aspekten. 76 Vielleicht sind auch bei Stat. Ach. 2,166 fingierte Rezipienten mitgemeint? 77 Zu dem bereits oben (Anm. 24 [S. 175]) kurz erwähnten Corippus vgl. Schindler 2009, 227–303. 78 Coripp. Iust. praef. 47f. Für diesen Hinweis bin ich Kurt Smolak sehr zu Dank verpflichtet.

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Existenz von Lehrgedichten nautischen Inhalts gibt, beginnend mit einer in Antike und Neuzeit zum Teil Thales zugeschriebenen Nautischen Astronomie,79 finden sich solche in der lateinischen Literatur nur spärlich. Immerhin wird in der Vita des Carus, Carinus und Numerianus in der Historia Augusta ein Lehrgedicht Nemesians erwähnt, das seinem Titel (ναυτικά) nach wahrscheinlich die Seefahrt zum Gegenstand hatte: versu autem talis fuisse praedicatur, ut omnes poetas sui temporis vicerit. nam et cum Olympio Nemesiano contendit, qui ἁλιευτικά, κυνηγετικὰ et ναυτικὰ scripsit quique omnibus coloniis illustratus emicuit, et Aurelium Apollinarem, iamborum scriptorem, qui patris eius gesta in litteras retulit, eisdem quae recitaverat editis, veluti radio solis obtexit.80 Aber in Hinsicht auf seine Verskunst wird er (sc. Numerian) gerühmt, so begabt gewesen zu sein, dass er alle Dichter seiner Zeit übertraf; denn sogar mit Olympius Nemesianus maß er sich, der Gedichte über den Fischfang, die Jagd mit Hunden und die Seefahrt verfasste und der, in allen Kolonien gefeiert, hervorleuchtete, und Aurelius Apollinaris, den Jambendichter, der die Taten seines (sc. Numerians) Vaters aufzeichnete, verdeckte er nach Herausgabe seiner eigenen Vorträge wie ein Strahl der Sonne.

Nemesian werden in dieser Notiz drei schon von ihren Titeln her als Lehrgedichte kenntliche Werke zugeordnet. Von diesen haben sich die Cynegetica teilweise erhalten. Vom Proömium und Anfang des ersten Buches haben wir ein Fragment von 325 Versen,81 wohingegen von den Halieutica und Nautica nach fast einhelliger Ansicht der Forschung nichts überliefert ist. Wenn die Vermutung der Mehrheit der modernen Herausgeber der Historia Augusta zutrifft, werden die drei Werktitel im Text der Vita mit griechischen Buchstaben geschrieben; doch spricht die Tatsache, dass die uns überlieferten Cynegetica Nemesians auf Latein verfasst sind, sehr für die Annahme, dass dies auch für die Halieutica und die Nautica zu gelten hat, unabhängig von der Form der hier verwendeten Werktitel, dass also alle drei Gedichte in lateinischer Sprache verfasst waren. Die Glaubwürdigkeit der von der Historia Augusta mitgeteilten Nachricht, Nemesian habe drei Lehrgedichte geschrieben, ist in der Forschung bezweifelt worden.82 Doch lassen sich hierfür, außer einer generell sicherlich berechtigten, im Einzelfall aber auch übertriebenen Skepsis,83 keine überzeugenden Gründe anführen. Vielmehr sind alle drei Werktitel nach inneren Kriterien plausibel, so dass im Prinzip nichts dagegen spricht, für die Spätantike die Existenz eines nautischen Lehrgedichts in lateinischer Sprache unter dem Titel Nautica anzunehmen. Somit wäre der im späteren 3. Jh. dichtende Nemesian eigentlich ein aussichtsreicher Kandidat, wenn es um die Zuschreibung der Autorschaft des Oceanus-Hymnus als Teil seiner Nautica geht. 79 80 81 82

Vgl. Dunsch 2013b. SHA Car. 11,2. Der Text folgt, mit Modifikationen, Paschoud 2002. Wie viele Bücher das Werk gehabt hat, lässt sich nicht mehr sagen, vgl. Williams 1986, 193. Vgl. zum Beispiel Barnes 1978, 71 („a fictitious context“); Schetter 1994, 179 mit Anm. 129; Smolak 1989c, 313; Paschoud 2002, 367. Für die Authentizität der Nachricht: Pighi 1958, 202; Syme 1971, 279. 83 Zu dieser Skepsis vgl. zum Beispiel von Albrecht 2012, 1191, der die Historia Augusta als „ein ärgerliches Konglomerat aus wertvollen Nachrichten und schamlosen Lügen“ bezeichnet. Erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit der Quellenbenutzung in der Historia Augusta äußert zum Beispiel auch Flach 1998, 272f. Das vernichtende Urteil Theodor Mommsens („eine der elendsten Sudeleien, die wir aus dem Altertum haben“) zitiert unter anderem Sonnabend 2002, 214.

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Einen solchen Vorschlag hat denn auch Raoul Verdière gemacht, der damit eine beiläufige und vorsichtig-zurückhaltende Bemerkung im von Friedrich Lenz84 verfassten Artikel zu Nemesian in der Real-Encyclopädie aufgriff. Verdière sieht in den VV. 58–63 der Cynegetica Nemesians mit ihrer nautischen Bildersprache „une allusion à la mise en chantier des Nautica“.85 Willy Schetter hat diese Interpretation Verdières überzeugend widerlegt.86 Dem Urteil Schetters hat unlängst Rainer Jakobi zugestimmt; 87 dieses spezielle Problem darf damit als abschließend geklärt gelten. Aber auch wenn Nemesian als möglicher Kandidat wegfällt, hat sich Verdières These damit noch nicht völlig erledigt. Dass nämlich im Hymnenstil verfasste Proömien von Lehrgedichten in der Spätantike von ihrem Gesamttext abgetrennt und danach separat überliefert werden konnten, lehrt uns das Beispiel des Venus-Hymnus (Anth. Lat. I2 , 720 R.), der in zahlreichen Handschriften im Anschluss an die in das 3. Jh. n. Chr. datierenden Collectanea rerum memorabilium des Solinus überliefert ist und sehr wahrscheinlich das Proömium (oder einen Teil davon) eines Lehrgedichts mit dem Titel Pontica darstellt, das Meerestiere und vielleicht Fischfang behandelt hat.88 Ein weiterer wichtiger Aspekt könnte in diesem Zusammenhang die Frage sein, mit welchen Texten der Oceanus-Hymnus im Codex Par. Lat. 13026, dem einzigen Überlieferungsträger,89 vergesellschaftet ist.90 Es handelt sich um eine hibernolateinisch beeinflusste grammatische Sammelhandschrift mit Provenienz aus der Gegend um Paris, wahrscheinlich Corbie, die – teils fragmentiert – zunächst die Ars de verbo des Eutyches bietet (1r–10r), dann die Epitomae des Virgilius Maro grammaticus (11r–40r), ein kurzes Glossar (40v), die Lehrschrift De metrica ratione des Crundmáel (41r–56v), Prudentius’ Contra Symmachum (57r–73r), Tituli historiarum/ Dittochaeon (73r–75r) und De opusculis suis (75r), danach drei Gedichte aus der Anthologia Latina, darunter auch den Oceanus-Hymnus (75r–76r), die Hymnen 11 und 8 aus Prudentius’ Peristephanon (76r–78r), Avians Fabeln (78r–84b), weitere Gedichte aus der Anthologia Latina (84r–84v), aus Boethius’ De consolatione philosophiae (84v–92v) und aus Martianus Capellas De nuptiis Mercurii et Philologiae (92v–100v), Paulinus von Nolas Natalicia (100v–120v), den Donatus Orthigraphus (121r–160v), die Ars grammatica des Mac Salchan/Malsachanus grammaticus (161r–181v) sowie ein Fragment lateinischer Prosa (182r–182v). Die Auswahl der Texte weist auf irischen Einfluss hin, der Kodex könnte „in Corbie nach aus St. Denis übernommenen Vorlagen kopiert worden sein, die (oder deren Vorlagen) von

84 Lenz 1935, 2330: „Auch das ist vielleicht möglich, daß N. den Vergleich seiner Dichtung mit der Küsten- und Seeschiffahrt deswegen breiter ausgeführt hat, weil er bereits sein Gedicht ναυτικά (?) in Arbeit hatte oder plante.“ 85 Verdière 1974, 18; ähnlich, aber vorsichtiger, schon Lenz 1935, 2330: „Für ausgeschlossen sind solche ganz leisen Anspielungen oder Andeutungen nicht zu halten.“ 86 Schetter 1994, 179f.: „Doch schließt der die Periode einleitende Hauptsatz [. . . ] eine solche geradezu absurde Auffassung aus. Und der anschließende, durch dum mit dem Indikativ Präsens eingeführte und mithin eine gleichzeitige Handlung bezeichnende Nebensatz macht zwingend deutlich, daß das Werk, mit dem sich Nemesian jetzt zum ersten Mal (nunc primum) auf die offene See wagt, kein anderes Werk als eben das Lehrgedicht über die Jagd ist.“ 87 Vgl. Jakobi 2014, 81. Vgl. auch Küppers 1987, 490, ebenfalls ablehnend. 88 Zum Venus-Hymnus vgl. La Bua 1999, 431f.; Smolak 1989b. Auch Verdière 1974, 19–23 erwähnt das PonticaFragment, um es – nicht überzeugend – als Proömium der Halieutica Nemesians zu vindizieren. 89 Ich danke Eckhard Wirbelauer herzlich dafür, mich auf die Bedeutung aufmerksam gemacht zu haben, die der Codex P für meine Untersuchung haben könnte. 90 Die folgenden Angaben richten sich im Wesentlichen nach Baldzuhn 2009, 698–703.

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einem irischen Lehrer auf den Kontinent mitgebracht wurden. Zu dieser Annahme würde nicht zuletzt der Handbuchcharakter des vorliegenden Bandes passen, der ja nicht auf eine erst in Corbie entwickelte Textfolge zurückgehen muss.“91 Die äußere Beschaffenheit des Bandes deutet darauf hin, dass er nicht primär als Unterrichtstext beziehungsweise Schulbuch gedacht war, sondern als Textspeicher, als kompendiöses Handbuch zur ars grammatica und ars metrica, einschließlich geeigneten Übungsmaterials.92 Zu diesem Übungsmaterial zählt unter anderem auch der Oceanus-Hymnus, der seine Auswahl als Vorlagentext für den Grammatik- und Metrikunterricht sicherlich seiner ausgefeilten sprachlichen Gestaltung verdankt. Es ist denkbar, dass der Oceanus-Hymnus wegen seiner Eignung für den Unterricht aus seinem Ursprungskontext entfernt und als Musterexemplar eines Hymnus in das Grammatik-Kompendium übernommen wurde.93 Den wichtigsten Anhalt für die spezifische literarische Ausrichtung dieses ursprünglichen Kontexts (wenn der Oceanus-Hymnus denn einen hatte, was ich für wahrscheinlich halte) böte ein konkreter textbasierter Nachweis, vorzugsweise durch das Auffinden tragfähiger intertextueller Bezüge, dass der Verfasser des Oceanus-Hymnus – unabhängig davon, ob es sich nun um Nemesian handelt oder nicht – sich tatsächlich in die Tradition didaktischer Dichtung stellen will. Dies zu zeigen ist jedenfalls Verdière in seiner Arbeit, vielleicht wegen seiner Fixierung auf Nemesian, schuldig geblieben. Mit der hier vorgelegten Studie hoffe ich zumindest diesen Nachweis bis zu einem gewissen Grad erbracht zu haben, ohne dass das Problem als abschließend geklärt gelten darf. Daher sollte die Diskussion der Frage, ob der Oceanus-Hymnus das versprengte Proömium eines nautischen Lehrgedichts sein könnte, neu eröffnet werden.

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91 Baldzuhn 2009, 701. 92 Vgl. Baldzuhn 2009, 702. 93 Das Incipit des Oceanus-Hymnus, De Oceano, deutet freilich nicht zwingend auf den Titel einer Lehrdichtung περὶ τοῦ ᾿Ωκεανοῦ (so zum Beispiel der Titel der berühmten Schrift des Pytheas von Massilia, die allerdings kein nautisches Lehrbuch war); dies zeigt schon allein ein Blick auf das Incipit des eindeutig als Einzelhymnus konzipierten Gedichts De luna (Anth. Lat. I2 , 723 R.). Für diesen Hinweis danke ich Kurt Smolak herzlich.

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Seefahrt mit Dame Schutz- und Geleitvorstellungen am Beispiel der Aphrodite, Venus und Isis Bernadette Descharmes (Braunschweig) Einleitung Gleich zu Beginn der Aeneis, dem bedeutendsten Heldenepos der Römer, eröffnet sich uns das Szenario des Schiffbruchs: Die zornige Juno hatte Äolus, den König der Winde, angestachelt, das Meer aufzupeitschen. Als Neptun der wild gewordenen See gewahr wird, ermahnt er die Winde:

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Seid ihr denn auf euer Geschlecht so stolz mir geworden? Himmel und Erde, ihr Winde, in Aufruhr wagt ihr zu stürzen ohne meinen Befehl, wagt Wogenmassen zu türmen? Euch will ich [. . . ]! aber zunächst geht’s vor, die Fluten zu glätten. Nächstens büßt so leicht ihr nicht für solches Vergehen. Macht euch schleunigst davon und meldet eurem Gebieter: Nicht i h m gab die Herrschaft im Meer und den furchtbaren Dreizack sondern m i r das Los [. . . ].1

In der Sagenwelt des Vergil hängt der Erfolg der Seereise des Helden entscheidend von der Gunst des Neptun ab.2 Venus tritt einzig als sich sorgende Mutter auf, greift aber nicht ein, wenn die Gewalten des Meeres ihren Schützling auf seiner Reise in Gefahr bringen, und das obwohl sie den antiken Menschen als Herrscherin über das Meer und Schützerin der Seefahrt durchaus bekannt war. Allein schon der griechische Name der Göttin, Aphrodite, kündet von der Herkunft aus dem Schaum der Wellen (aphros: Schaum). Vergils Aeneis sowie die augusteische Propaganda insgesamt akzentuierten hingegen Venus’ Rolle als Stammmutter des julischen Kaiserhauses. Ihre Verbundenheit mit dem Meer und ihre Funktion als Schutzgöttin der Seefahrt geriet dabei zunehmend in den Hintergrund, so dass uns Venus heute weitestgehend nur noch als antike Allegorie für Fruchtbarkeit, Liebe und Schönheit vertraut ist. Dies bewirkte ferner, dass die enge Verbindung der Göttin zur Schifffahrt auch in der Forschung oftmals ausgeblendet blieb.3 Martin Eckert hat indes mit seiner 2016 erschienenen Dissertation zumindest für den griechischen Bereich die kultische Verehrung einer 1 tantane vos generis tenuit fiducia vestri?/iam caelum terramque meo sine numine, venti,/miscere et tantas audetis tollere moles?/quos ego [. . .]! sed motos praestat componere fluctus;/post mihi non simili poena commissa luetis./ maturate fugam regique haec dicite vestro:/non illi imperium pelagi saevomque tridentem,/sed mihi sorte datum [. . . ] (Verg. Aen. 1, 132–139, Übers. Götte). 2 Siehe auch: Verg. Aen. 5, 779–815. 3 Die religionsgeschichtlich zu verortenden Arbeiten zur Venus beziehungsweise Aphrodite schenken dem maritimen Machtbereich der Göttin vergleichsweise wenig Beachtung: z. B. Koch 1955; Cyrino 2010; Pirenne-Delforge 1994; Pironti 2007; Seifert 2009, Smith/Pickup 2010. Auch in Erörterungen zu römischen Seefahrerkulten

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Aphrodite der Seefahrer aufgearbeitet und damit ihre Funktion als Schützerin und Begleiterin der Seereisenden in den Mittelpunkt gestellt.4 Der vorliegende Beitrag greift die umfassenden Untersuchungen Eckerts auf. Vor dem Hintergrund der Frage, wie die antiken Menschen eine Schiffsreise erlebten, wird aufgezeigt, wie die Kulte der Venus und ihrer griechischen und ägyptischen Pendants, Aphrodite und Isis, in die Praxis der Seereise sowie die antike Seepolitik eingebunden waren.5 Die Schiffsreise der Antike stellte eine Krisenerfahrung dar6 und war deshalb von religiöskultischen Praktiken und Vorstellungen umbettet, was hier am Beispiel des Aphrodite-, Venusund Isis-Kults illustriert werden soll. Die kultische Verehrung gipfelte in der Aneignung der göttlichen Patronage durch politische Akteure, die ihre Unternehmungen nicht nur unter die Schutzherrschaft der Göttinnen stellten, sondern ihr Bild auch als Symbol maritimer Dominanz einsetzten. So war die Beziehung der antiken Menschen zur Seefahrt von einer Ambivalenz geprägt: einerseits vom Bewusstsein, dass der Schritt auf das Meer mit existentiellen Gefahren verbunden ist, andererseits von der Gewissheit, dass der Beistand der Götter Wohlstand und Erfolg verleiht.

Die Nähe der Aphrodite, Venus und Isis zum Meer – Kultstätten an der Küste Als Göttin der Seefahrt war die Venus, wie viele andere Götterfiguren, keine römische Erfindung. Über die Entstehung des Venus-Kultes wurde viel diskutiert und spekuliert,7 doch werden m. E. die Ursprünge nie vollständig rekonstruiert werden können. Festzuhalten bleibt, dass es sich bei der Entstehung des Venus-Kultes um einen äußerst komplizierten Vorgang handelte, der Kulturkontakte von mehreren Seiten voraussetzte.8 In ihrer Eigenschaft als Schützerin der Seefahrt hat die Venus vor allem Eigenschaften der griechischen Aphrodite und phönizischen Astarte übernommen. Später wurde sie mit der ägyptischen Isis gleichgesetzt, deren nautische Kompetenzen unter den Ptolemäern wiederum mit den maritimen Eigenschaften der Aphrodite verschmolzen. Isis wurde noch in der Kaiserzeit, vor allem im Osten des Römischen Reiches, aber auch in Italien und sogar in Rom selbst, als Schützerin der Seefahrer verehrt.9 Das wertvollste Indiz für die Gleichsetzung und gemeinsame Verehrung der drei nichtrömischen Göttinnen sind Inschriften aus Delos aus der Zeit zwischen 200 und 140 v. Chr. ᾿ στάρτει „Der Isis Soteria Astarte Aphrodite Euploia“ (z. B. IDélos 2132: ῎Ισιδι Σωτείραι Α

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(z. B. Ladewig 2014, 278–286) vermisst man Hinweise auf Venus in ihrer Funktion als Patronin der Seefahrt. Zum Problem der einseitigen Rezeption der Venus vgl. Bolder-Boos 2015, 81–134, die vor allem die kriegerische Seite der Göttin in den Blick nimmt. Eckert 2016. Zur Thematik des göttlichen Schutzes auf der Seereise vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Matthias Schmidt (siehe unten, S. 229–251), Jens Börstinghaus (siehe unten, S. 209–225) und Boris Dunsch (siehe oben, S. 171–187). Zur Wahrnehmung der Schiffreise siehe auch den Beitrag von Thomas Kirstein/Sebastian Ritz/Alwin Cubasch in diesem Band (siehe oben, S. 16–18 und S. 31–34). Bolder-Boos 2015, 82f. Grundlegend: Koch 1955. Takács 1995, 34. Zur Verehrung als Isis Pelagia in Rom: Bricault 2006, 105. Der Autor verweist auf die Grabinschrift eines aedituus (Servius Sulpicius Alcimus) der Isis Pelagia (CIL VI 8707 = ILS 4421).

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Α ᾿ φροδίτηι Εὐπλοίαι).10 Aphrodite, Astarte und Isis wurden hier offenbar gemeinsam verehrt.

Isis in ihrer Funktion als Retterin und Aphrodite als Euploia, als Göttin der guten Seefahrt, standen neben der phönizischen Astarte. Wir dürfen diese Inschrift sicher als Beleg dafür nehmen, dass der kosmopolitische Besucherstrom unterschiedliche Namen für ein und dieselbe Göttin der Seefahrt mitbrachte.11 Auf Delos, das vor allem seit hellenistischer Zeit ein wichtiger Umschlagshafen der Ägäis war, besaßen also nicht nur Apollon, sondern auch Aphrodite und Isis Euploia eigene Tempelbauten.12 Auch in vielen anderen Küstenstädten hatten sich fest installierte Heiligtümer entwickelt, die den Seeleuten und Seereisenden die Möglichkeit boten, den Göttinnen bei Abfahrt und Ankunft ein Opfer oder eine Votivgabe zu bringen.13 In Pantikapaeum (Krim), welches vermutlich von Milesiern aus Handelsinteressen gegründet worden war, wurde als Schutzgottheit neben Poseidon Sosineos auch Aphrodite Nauarchis verehrt.14 In Milet selbst verfügte man ebenfalls über ein Aphrodite-Heiligtum in der Nähe der Stadt, das bis in die frühe Kaiserzeit in Betrieb war.15 Dort und auch in Kenchreai bei Korinth befanden sich die Kultstätten unweit des Hafenbeckens.16 Diese Lage diente aber nicht nur praktischen Zwecken, sie unterstrich die Nähe der Aphrodite zum Meer auch auf einer symbolischen Ebene. Dass das Heiligtum der Venus in Pompeji dann auch an der Porta Marina stand, und damit an der Straße, die ursprünglich zum Meer führte, dürfte nicht weiter überraschen.17 Der Ort war, wie im Fall des Aphrodite-Heiligtums in Milet, sicher nicht nur symbolisch gewählt. Wer sich auf den Weg zum Hafen machte, konnte der Gottheit noch einen Besuch abstatten, um sich gutes Geleit zu wünschen, und wer sicheres Land betrat, konnte der Göttin beim Erreichen der Stadt seinen Dank ausdrücken. Auch im Isis-Kult kam die Verbundenheit der Göttin mit dem feuchten Element in der Lage ihrer Heiligtümer

10 Euploia ist das weitest verbreitete Epitheton, das die Göttin als Schützerin der Seefahrer kenntlich macht. Hierzu: Jessen 1925, 1225–1226 oder Furtwängler 1884–1886, 401f. Mit dem Beinamen Epilimenia ist sie in Ägina, als Pontia in Hermione (Paus. 2, 34, 11) und in Troizen (Eur. Hipp. 522) belegt. Dank an Eckhard Wirbelauer für den Hinweis auf die Aphrodite Limenarchis auf Leukas (IG IX 12 , 4 1475). Für Isis ist ebenfalls der Beiname Euploia belegt sowie Pelagia, Pharia, Kybernetes und Hormistra. Die Belege hierzu bei: Bricault 2006, 101–112. Isis Pharia bezieht sich dabei dezidiert auf die ägyptische bzw. alexandrinische Göttin, welche die von dort kommenden annonae schützt. 11 Auch die Votivgaben im Aphrodite-Heiligtum in Milet stammen aus dem gesamten östlichen Mittelmeerraum und zeigen, dass Seereisende aus Syrien, Phönikien und Ägypten bei ihrer Landung in Milet dem Heiligtum einen Besuch abstatteten. Auch andere Heiligtümer zeigen, dass Aphrodite-Kult ein „internationales“ Ereignis war, z. B. weist das Heiligtum in Kenchreai bei Korinth keine klassische griechische Bauart auf, sondern integriert Architektur aus Zypern oder Syrien. Siehe: Eckert 2011, 112. 12 Bruneau 1961, 301–308. 13 Die Verbindung der Aphrodite/Venus-Verehrung als Seefahrerkult und die Küstenlage betonen bspw. auch Koch 1955, 26 oder Demetriou 2010, 70–81. Die umfassendste Auflistung mit statistischen Überlegungen zum Zusammenhang von Topographie und der Funktion Aphrodites als Seefahrergottheit bietet jetzt Eckert 2016, 463–472. 14 Stephani 1883, 134f. 15 Weihinschriften weisen die Anlage beim Berg Zeytintepe als Kultstätte der Göttin aus, von der auch bei Theokr. 7, 96–127; 27, 3–4 berichtet. Siehe auch: Eckert 2011, 110, Greaves 2004, 27–33, Senff 2003, 11–25. 16 Pausanias 2, 2, 3. 17 Die Via Marina hat aber mit dem Umbau der Hafenanlagen in der Kaiserzeit als Zufahrtstraße zum Hafen an Bedeutung eingebüßt, da der Verkehr jetzt über die Porta Stabia lief. Siehe: Eschebach/Eschebach 1995, 97; Wolf 2009, 221–355.

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zum Ausdruck: In römischer Zeit befanden sich diese häufig in einem „wasserhaltigen Gebiet“,18 das heißt in der Nähe eines Hafens, eines Flusses oder einer bedeutenden Wasserquelle. Die Verbindung der Göttinnen zum Meer wird aber nicht nur auf der Mikro-Ebene, sondern auch auf der Makro-Ebene sichtbar. Aphrodite-Heiligtümer lagen auffälligerweise oft an landschaftlich markanten Stellen, die für die Navigation als Orientierungspunkte dienten.19 Andere Orte waren strategisch wichtige Umschlagplätze für den überregionalen Warenverkehr innerhalb des Mittelmeerraumes. Die Küstenlage einiger in der Antike offensichtlich wichtiger und prominenter Aphrodite-Heiligtümer ist außerdem durch den römischen Dichter Catull belegt. Es geht in seinem Gedicht 36 zwar primär um eine Anrufung der Göttin in Liebesangelegenheiten, aber ihre Verbindung zum Meer und zur Seefahrt ist dennoch mitgedacht: Jetzt, o du aus dem blauen Meer Geborene, die du das heilige Idalium, das offen daliegende Urion und Ancona und das schilfreiche Knidos bewohnst und Amathus und Golgi und Dyrrhachium, die Taverne der Adria, laß das Gelübde als angenommen und erfüllt gelten, so wahr es nicht ohne Geist und ohne Charme ist!20

Dieses Gedicht ist ein wertvoller Beleg dafür, wo in spätrepublikanischer Zeit wichtige AphroditeHeiligtümer in Betrieb waren. Ein Bericht des Tacitus zeigt außerdem, dass die AphroditeHeiligtümer von den Römern als Venus-Heiligtümer gepflegt wurden. Tacitus berichtet, wie Titus, der Sohn des Kaisers Vespasian, auf dem Weg nach Syrien das Heiligtum der Venus von Paphos besuchte: So segelte er [also Titus] denn an der Küste Achaias, Asiens und den links gelegenen Meeresstrecken vorbei und hielt auf die Inseln Rhodos und Cypern, dann, in gewagterer Fahrt, auf Syrien zu. Da überkam ihn die Lust, den bei Einheimischen und Fremden berühmten Tempel der paphischen Venus zu besuchen und zu besichtigen. Es ist wohl kaum zu weitläufig, wenn ich über den Ursprung des dortigen Kultes, die Tempelgebräuche, das Bild der Göttin (eine solche Darstellung von ihr findet sich nämlich sonst nirgends) kurz berichte.21

Nach einem Bericht über die Geschichte und die Besonderheiten des Heiligtums erfahren wir, dass Titus das dortige Orakel „über seine weitere Seefahrt“ befragte. Er bekam die Zusage, „der Weg sei frei und das Meer ihm günstig“ (Tac. hist. 2, 4).22 Wir dürfen das als

18 Grieshammer/Takács/Haase 1998, 1131. 19 Aphrodite-Heiligtümer an markanten Küstenplätzen: Kap Kolias beim alten Athener Hafen in Phaleron, Kap Andreas (Zypern), Kap Greco und Kap Zephiro. Siehe z. B. Paus. 1, 1, 5 und Strab. 14, 6, 3 und weitere frühere Belege bei Eckert 2011, 109. 20 nunc, o caeruleo creata ponto,/quae sanctum Idalium Uriosque apertos/quaeque Ancona Cnidumque harundinosam/ colis quaeque Amathunta quaeque Golgos/quaeque Durrachium Hadriae tabernam,/acceptum face redditumque votum,/si non illepidum neque invenustum est (Catull. 36, 12–17, Übers. Holzberg). 21 igitur oram Achaiae et Asiae ac laeva maris praevectus, Rhodum et Cyprum insulas, inde Syriam audentioribus spatiis petebat. atque illum cupido incessit adeundi visendique templum Paphiae Veneris, inclitum per indigenas advenasque. haud fuerit longum initia religionis, templi ritum, formam deae (neque enim alibi sic habetur) paucis disserere (Tac. hist. 2, 2, Übers. Borst). 22 Übers. Borst.

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deutlichen Hinweis dafür nehmen, dass sowohl für Tacitus als auch für den zukünftigen Kaiser Venus für die Seefahrt zuständig war. Was wir nun für die Aphrodite beobachtet haben, gilt auch für die Heiligtümer der phönizischen Astarte. Auch diese befanden sich in Küstennähe oder an für die Navigation markanten Plätzen und wurden von den Römern als Kultstätten der Venus besucht. Als Beispiele möchte ich nur das Heiligtum der Astarte auf dem Berg Eryx auf Sizilien nennen.23 Bei Vergil ist ebenjenes Heiligtum der Venus geweiht und von Aeneas gegründet worden.24 Das Heiligtum der Astarte wurde damit ein ur-römisches. Und auch beim Astarte-Heiligtum in Punta del Nao bei Cadiz zeigt sich in besonderer Weise, wie die Römer die phönizische Astarte mit ihrer Venus gleichsetzten. Denn in der Küstenbeschreibung des Avienus wird es als Heiligtum der Venus marina bezeichnet – ihre Funktion als Göttin des Meeres war also in dieser Übertragung miteingeschlossen.25 Die Römer führten demzufolge die fremden Kulte für die Göttinnen der Seefahrt unter dem Namen der Venus fort. Sie erneuerten aber auch bereits bestehende Tempelbauten oder errichteten neue Heiligtümer der Venus in ihrer Funktion als Schützerin der Seefahrt. Von Vitruv ist uns sogar die Empfehlung überliefert, man solle Hafenanlagen mit Venus-Heiligtümern ausstatten,26 und eine Vielzahl an Hafenstädten trug offenbar den Namen Portus Veneris.27

Die kultische Verehrung der Aphrodite, Venus und Isis auf der Seereise Seereisende verehrten die Göttinnen in einer komplexen Kultpraxis. Wir wissen von Kulthandlungen vor und während des Auslaufens eines Schiffes (epibaterion) sowie bei der Ankunft (ekbaterion), während der Fahrt28 und natürlich in konkreten Gefahrensituationen.29 Vor der Reise Wie heute wurde auch in der Antike der Beginn einer Reise nicht selten von den guten Wünschen der Angehörigen und Freunde begleitet.30 Gleichermaßen wünschte sich auch Horaz in seiner dritten Ode für seinen Freund Vergil göttlichen Geleitschutz: So geleite dich denn die mächtige Göttin von Zypern, So die Brüder der Helena, funkelnde Sterne, Und der Vater der Winde,

23 Weitere Beispiele: Capo S. Elia bei Cagliari, Kap Bon beim heutigen Ras ed-Drek, bei Tas Silg auf Malta, Kition auf Zypern und Punta del Nao an der Nordspitze von Cadiz. Zu Letzterem: Sánchez 1999. 24 Verg. Aen. 5, 760–761. Bereits bei seiner Abreise von Karthago opferte Aeneas dem Heros Eryx, einem Sohn des Poseidon oder der Aphrodite, der dem italischen Berg seinen Namen gab (Verg. Aen. 5, 772). 25 Avien. 315–317. In Bezug auf das Heiligtum der Astarte in Tas Silg haben wir einen Bericht des Cicero über eine Weihung von Victorien für die Göttin. Von den Phöniziern wurde Astarte, genau wie Venus, nicht nur als Göttin der Liebe und Seefahrt, sondern auch als Kriegsgöttin verehrt (Cic. Verr. 2, 4, 46). 26 Vitr. 1, 7, 1. 27 Jannoray 1953, 411–418. 28 Zum Beispiel beim Passieren von Heiligtümern, etc. Siehe: Eckert 2011, 107. 29 Eckert 2011, 106. 30 Siehe hierzu den Beitrag von Helmut Krasser in diesem Band (siehe oben, S. 155–169).

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Bernadette Descharmes Wenn er alle außer dem Iapyx gefangen hält, du Schiff, das den dir anvertrauten Vergil dem attischen Lande schuldig ist.31

Horaz richtete seine Bitte nicht etwa an Neptun, den Herrscher über das Meer, sondern an die zyprische Göttin Kypris. Gemeint ist Venus, beziehungsweise die griechische Göttin Aphrodite, die auf Zypern große Verehrung genoss, da die Insel als ihre Heimat galt.32 Man könnte vermuten, Horaz habe sich mit dem Propemptikon lediglich eines literarischen Motivs bedient, das sich schon in der griechischen Dichtung großer Beliebtheit erfreute.33 Doch den Zeilen liegt eine konkrete Verehrungspraxis zugrunde, die die Römer der Göttin zukommen ließen. Ein Gebet, in dem die Göttin vor der Abreise direkt adressiert wird, ist in einem Gedicht des Gaetulicus aus dem 1. Jh. n. Chr. enthalten, das uns darüber hinaus auch konkrete Hinweise auf Opfergaben für die Göttin, auf ihre Zuständigkeit sowie auf das Ziel der Reise gibt: Hort vor Klippen im Meer, dir leg ich den wenigen Kuchen und dies schlichte Geschenk meiner Verehrung hierher. Morgen will ich die Wogen des Jonischen Meeres durchfahren, meine Eidothea ruft zu ihrem Busen mich hin. Fächle mir freundlichen Schimmer aufs Schiff wie über die Liebe, Herrin des Ehegemachs, Kypris, und Herrin der See.34

Ein weiteres Gebet an Aphrodite ist uns bei Chariton überliefert: Kurz bevor Kallirhoe an Bord ihre Schiffes ging, betete sie noch zu Aphrodite: „Dank sei dir, Herrin, für das, was jetzt geschieht! Endlich versöhnst du dich mit mir. Doch gib dass ich auch Syrakus wiedersehe! Ein weites Meer liegt dazwischen und mich erwartet die schreckliche See, aber ich fürchte mich nicht, wenn du mit mir fährst.“35

Chariton präsentiert hier eine Protagonistin, die, wohl nicht ganz ungleich den Lesern, angesichts der „schreckliche[n] See“ für ihre Überfahrt um göttliche Begleitung bittet. Vor dem Auslaufen des Schiffes galt es zudem als selbstverständlich, der Gottheit ein Opfer zu bringen. Bei Livius ist diese Sitte explizit als mos verbürgt.36 Neben Trankopfern, die man in das Meer goss, wurden auch andere Dinge dem Wasser zugeführt: Kränze, Waffen und Tiere. Es sind aber auch Schlachtopfer belegt. Welche Art Tier geopfert wurde, hing dabei von der 31 Sic te diva potens Cypri,/Sic fratres Helenae, lucida sidera,/Ventorumque regat pater/Obstrictis aliis praetor Iapyga,/ Navis, quae tibi creditum/Debes Vergilium finibus Atticis (Hor. carm. 1, 3, 1–6, Übers. Fink). 32 Vgl. Hor. carm. 3, 26, 5.9; 4, 11, 15 (Venus marina). 33 Für Wachsmuth bildet das Propemptikon eine in Versen und zur Liedgattung gewandelte „Form der Reisefürbitte beim Antritt einer Seefahrt“. Wachsmuth 1967, 108. 34 Α ᾿ γχιάλου ῥηγμῖνος έπίσκοπε, σοὶ τάδε πέμπω/ψαιστία καὶ λιτῆς δῶρα ϑυηπολίης·/αὔριον ᾿Ιονίου γὰρ ἐπὶ πλατὺ κῦμα περήσω,/σπεύδων ἡμετέρης κόλπον ἐς Εἰδοθέης./οὔριος ἀλλ’ ἐπίλαμψον ἐμῷ καὶ ἔρωτι καὶ ἱστῷ,/δεσπότι καὶ ϑαλάμων, Κύπρι, καὶ ἠιόνων (Anth. Gr. 5, 17, Übers. Beckby). 35 μέλλουσα δὲ ἐμβαίνειν εἰς τὴν τριήρη ἡ Καλλιρόη τὴν Α ᾿ φροδίτην προσεκύνησε. “χάρις σοι” φησίν “ὦ δέσποινα, τῶν παρόντων. ἤδη μοι διαλλάττῃ· δὸς δέ μοι καὶ Συρακούσας ἰδεῖν. πολλὴ μὲν ἐν μέσῳ ϑάλασσα καὶ ἐκδέχεταί με φοβερὰ πελάγη, πλὴν οὐ φοβοῦμαι σοῦ μοι συμπλεούσης” (Chariton Kallirhoe

8, 4, 10, Übers. Meckelnborg/Schäfer). 36 Liv. 29, 27, 5. Weitere Hinweise auf Selbstverständlichkeit des Opfers bei Reiseantritt: Wachsmuth 1967, 114 Anm. 175.

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jeweiligen Gottheit ab, für die die Gabe bestimmt war. Für Poseidon/Neptun sind Pferde und Stiere, für Aphrodite ist uns bei Plutarch eine Ziege37 und für Isis in der Anthologia Graeca eine Gans – die ebenfalls Aphrodite heilig ist – belegt.38 Welche Gottheit man anrief, konnte sehr verschieden sein. In Frage kamen regionale Gottheiten, Götter der Heimat, des Berufstandes und letztlich auch die Gottheiten, die einen besonderen Bezug zum Meer und zur Seefahrt hatten. Darunter fielen eben auch Venus und die mit ihr identifizierten Göttinnen. Während der Reise Für das Gebet während der Reise gab es auf den Schiffen einen Platz, an dem die Gottheit verehrt wurde. Meist handelte es sich um Kultbilder, Büsten oder Statuetten der Gottheit am Bug oder Heck eines Schiffes.39 Auch Anker mit Weihinschriften und magischen Formeln unterrichten uns über die Zuständigkeit der Aphrodite und Venus.40 Die Gottheit war damit in den Augen der Reisenden selbst auf dem Schiff anwesend und eine ständige Begleiterin auf der Fahrt.41 Diese unmittelbare Präsenz der Gottheit und ihre Wirkkraft unter den Menschen zeigen sich auch auf einem Fresko aus dem Haus des Lesbianus in Pompeji. Dargestellt ist ein Schiff mit vollem Segel. Am Ruder links sieht man eine göttliche Gestalt, die das Schiff lenkt. Dass es sich um eine Göttin handeln muss, erkennt man an der schieren Größe der Figur. Im Vergleich dazu sind die Seeleute, die sich ebenfalls auf dem Schiff befinden, wesentlich kleiner dargestellt. Dass diese Gottheit Aphrodite als Retterin darstellt, wissen wir durch eine Inschrift, die sich unter dem Bild befand: ΑΦΡΟ∆ΕΙΤΗ CΩΖΟΥCΑ.42 Somit ist dieses Fresko eine besonders wertvolle Illustration davon, wie die Menschen die Anwesenheit der Gottheit während der Schiffsreise imaginierten.43 Während der Reise war es üblich, beim Passieren von Landmarken, die einer Gottheit geweiht waren, einen Gruß an diese Gottheit zu richten oder ein Trankopfer vom Schiff aus zu leisten. Nicht selten wurde die Fahrt aber auch unterbrochen, um an Land zu opfern, so wie Theseus bei seiner Rückkehr von Kreta auf Delos Halt gemacht haben soll, um der Aphrodite dort ein Kultbild aufzustellen.44 Ohnehin war es üblich, längere Reisen zu unterbrechen, um die Besatzung mit Trinkwasser und Nahrung zu versorgen; so dürften auch bei jedem Stopp kleinere Kulthandlungen vollzogen worden sein.45

37 Plutarch Theseus 18. 38 Anth. Gr. 6, 231. Muscheln als Weihgabe für Aphrodite sind belegt bei: Kall. epigr. 5 (= 14); Plin. nat. 9, 79f.; 32, 1. 39 Athen. Deipnosophistai 5, 207e bezeugt sogar ein der Aphrodite geweihtes triklinon auf einem Riesenfrachter des Hieron II. von Syrakus. 40 Eckert 2011, 104f. 41 Solcherlei Vorstellungen des göttlichen Geleits (pompe) hätten sich, so Wachsmuth 1967, 75f., seit der archaischen Zeit in kaum veränderten Formen weitertradiert und sind so auch bei römischen Autoren greifbar, z. B.: Liv. 29, 24, 7; Verg. Aen. 3, 116 und weitere Verweise bei Wachsmuth 1967, 78 Anm. 67. 42 CIL IV 9867. Heute leider nicht mehr in situ erhalten. 43 Siehe auch das römische Mosaik aus Volubilis, bei dem zwar keine menschlichen Gestalten dargestellt sind, Venus aber auf dem Bug des Schiffes ihren Umhang als Segel spannt. Siehe hierzu: Thouvenot 1977, 37–52. 44 Kall. h. Delos 316–323. 45 Eckert 2011, 198 mit Quellenverweisen.

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Der Kult spielte vor allem auch in Gefahrensituationen eine Rolle.46 Durch einen Bericht des hellenistischen Historikers Polycharmos von Naukratis ist uns überliefert, dass Herostratos von Naukratis in Paphos eine Statuette (agalmation) der Aphrodite erworben und mit an Bord genommen hatte. Wie Polycharmos weiter berichtet, geriet das Schiff in einen Sturm und kam infolgedessen vom Kurs ab. Zudem seien die Reisenden von Seekrankheit geplagt gewesen. So hätten sie sich zu diesem agalmation der Aphrodite geflüchtet und gebetet, dass die Göttin sie rette.47 Auf dem Schiff habe sich schließlich der Duft von Myrte verbreitet – ein deutliches Signal für die Anwesenheit eines Gottes –, der Sturm habe sich beruhigt und die Reisenden seien sicher nach Naukratis gelangt.48 Als Dank für die Rettung aus dem Sturm habe Herostratos nach seiner Ankunft die von ihm auf Zypern erworbene Statue dem Tempel der Aphrodite überlassen. Auch wenn uns diese Geschichte höchst wundersam erscheint, ist sie doch ein Beleg für eine elementare Furcht vor einem Schiffbruch. In den Augen der Seefahrenden wurde dieser von den Göttern, die über die natürlichen Gewalten herrschten und diese im Falle des Sturmes entfesselten, zwar einerseits verursacht49 , andererseits wurde er aber durch göttliche Hilfe auch abgewendet. Im Gegensatz zu Herostratos hatten die Reisenden in Petrons Satyricon keine Götterfurcht an den Tag gelegt.50 Wir erfahren, dass Tryphaena der Statue der Schutzgöttin einen Ölzweig entrissen hat.51 Aufgrund der Äußerung des Lichas („Du, Enkolp, komm uns in unserer Not zu Hilfe, gib also das göttliche Gewand und das Sistrum dem Schiff zurück“52 ) können wir vermuten, dass in einer uns nicht mehr erhaltenen Passage besagter Enkolp der Schutzgöttin geweihte Objekte entwendet hatte, wobei das Sistrum als unverkennbarer Kultgegenstand der Isis-Verehrung galt. Diese Missachtung der Göttin bezahlten die Protagonisten mit dem Schiffbruch. Das Satyricon des Petron mag zwar eine überzogene und humoristische, sowie gänzlich fiktionale Schilderung einer Seereise mit Schiffbruch sein, doch liegt gerade in der Missachtung der kultisch-religiösen Vorschriften die Komik des Textes. Und diese Komik funktionierte nur dadurch, dass dem zeitgenössischen Leser das penetrante und ignorante Fehlverhalten der Protagonisten bewusst war. Die Leser des Satyricon wären sicher selbst nie auf die Idee gekommen, dem Standbild der Isis das Sistrum zu entreißen, sondern waren vielmehr auf die Einhaltung kultisch-religiöser Regeln bedacht. Nach der Reise Die Gottesfürchtigkeit machte es ohnehin notwendig, nach der Reise und insbesondere, wenn man einen Schiffbruch, ein Unwetter oder ein anderes Unglück zur See überlebt hatte, der

46 47 48 49 50 51 52

Siehe hierzu den Beitrag von Jens Börstinghaus in diesem Band (siehe unten, S. 209–225). FGrHist 640 F 1; Athen. Deipnosophistai 15, 675. Wachsmuth 1967, 159. Dunsch 2015, 26. Siehe auch: Dunsch 2013. Zu dieser Schiffsreise vgl. den Beitrag von Egelhaaf-Gaiser in diesem Band (siehe unten, S. 329–348). Petron. 108, 13. “tu” inquit “Encolpi, succurre periclitantibus, id est vestem illam divinam sistrumque redde navigio [. . .]” (Petron. 114, 5, Übers. Holzberg).

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Abbildung 21: Das sog. Torloniarelief (Torlonia Museum Rom Inv.-Nr. 430; J. Felbermeyer, D-DAI-ROM 33.1326)

Gottheit zu danken. Das sogenannte Torloniarelief (um 200 n. Chr.)53 zeigt eine Sakralhandlung an Bord eines Handelsschiffes, das gerade in den Hafen einläuft. Zu sehen sind drei Personen, die auf dem Deckhaus ein Opfer bringen: Links streut ein Mann Weihrauchkörner in ein Feuer, in der Mitte trägt eine Frau ein Weihrauchkästchen (acerra), rechts hält ein weiterer Mann eine Schale (patera) für das Trankopfer bereit.54 Es war auch nicht ungewöhnlich, dass man einer Gottheit für die Rettung aus Seenot die Weihung eines Tempels, einer Statue oder auch etwas kleinere Zeichen der Verehrung in Aussicht stellte.55 Dies verleitete Juvenal zu seiner spöttischen Bemerkung: „wer weiß nicht, daß die Maler von der Isis ernährt werden?“56 Will man Juvenal glauben, so waren Votivtafeln, die den eigenen Schiffbruch dokumentierten, in der Kaiserzeit ein Massenphänomen.57 In den Weihungen, Euploia-Gebeten und Opfern für die Göttinnen werden nicht nur kultische Handlungen im Kontext antiker Seefahrt, sondern auch die Erfahrungen und die dadurch

53 Siehe Abb. 21. 54 Casson 1995, 182. Ein vergrößerter Ausschnitt der Opferszene findet sich im Beitrag von Nicola Zwingmann im vorliegenden Band (Abb. 9 [siehe oben, S. 47]). 55 Zum Beispiel Anth. Gr. 9, 601. 56 pictores quis nescit ab Iside pasci? (Iuv. 12, 28, Übers. Adamietz). 57 Isis wurden beispielsweise auch schiffförmige Lampen dargebracht. Über die Votivgaben für Isis im Einzelnen mit Diskussion über ihre verschiedenen, nicht immer eindeutigen Funktionen: Bricault 2006, 123–134.

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gespeisten Ängste der Reisenden greifbar. Unter Griechen wie auch unter Römern war die Verehrung der Venus, Aphrodite und Isis demnach nicht ausschließlich, aber eben doch in großem Maße mit der Seefahrt und mit konkreten Erfahrungen und Vorstellungen der Schiffsreisenden verknüpft. Venus war nicht nur aus dem Meer geboren, sondern war auch in den Heiligtümern an der Küste präsent. Sie sorgte für gutes Reisewetter und eine ruhige See, geleitete die Reisenden und rettete sie aus Seenot.

Aphrodite und Isis als maritime Schutzgottheiten im politischen Kontext Unsere Beispiele haben bisher gezeigt, dass die verschiedenen Kulthandlungen von Händlern, Reisenden und Seeleuten praktiziert wurden. Die Göttinnen der Seefahrt wurden aber auch unter politischen und militärischen Vorzeichen verehrt: als Schützerinnen der Kriegsflotte und der Getreidelieferungen aus Ägypten. Dort hatte Kallikrates von Samos, Flottenbefehlshaber unter Ptolemaios Philadelphos (308– 246) und seiner Gattin Arsinoë (316–268), am Kap Zephyrion ein Heiligtum für Arsinoë Kypris Aphrodite Zephyritis installiert.58 Arsinoë II. Philadelphos wurde dort mit Aphrodite gleichgesetzt. Im Selbstverständnis einer Seemacht wie der der Ptolemäer spielte die Königin damit als Schützerin der Seefahrt und der ptolemäischen Flotte eine Rolle.59 Fragmentarisch erhaltene Epigramme des Poseidippos, wie das folgende, belegen die Vorstellung, dass die Verehrung der Arsinoë Euploia eine gute Überfahrt gewähren sollte:

5

Sei es, dass du das Meer mit dem Schiff durchfahren, sei es, dass du am Festland das Tau festmachen willst: Schenk Arsinoë, der Hüterin der Seefahrt, einen Gruß und rufe die hehre Göttin aus dem Tempel, den der Sohn des Boiskos als er Nauarch war, Kallikrates aus Samos, vor allem für dich, Seefahrer, geweiht hat. Oft aber strebt auch ein anderer Mann nach glücklicher Seefahrt und bedarf dieser Göttin. Deswegen, wenn du 〈wieder〉 an Land gehst und wenn du aufs erhabene Meer hinausfährst, wirst du in ihr eine Göttin finden, die deinen Bitten Gehör schenkt.60

Im Rahmen der politischen Sinnstiftung erschien Arsinoë/Aphrodite jedoch nicht nur als Patronin der Seefahrt, sondern auch als Herrscherin über das Meer oder wie im Fall des Kaps Zephyrion als Herrscherin über die Küste.61 Der göttliche Wirkungsbereich wurde zum einen

58 Poseidippos 116, 5–7. 59 Bricault 2006, 27, Hauben 1970, 43; Hauben 1983, 111–114; Müller 2009, 216. 60 καὶ μέλλων ἅλα νηῒ περᾶν καὶ πεῖσμα καθάππειν χερσόθεν, Εὐπλοίαι “χαῖρε” δὸς Α ᾿ ρσινόηι, 5

πότνιαν ἐκ νηοῦ καλέων ϑεόν, ἣν ὁ Βοΐσκου ναθαρχῶν Σάμιος ϑήκατο Καλλικράτης, ναυτίλε, σοὶ τὰ μάλιστα· κατ’ εὔπλοιαν δὲ διώκει τῆσδε ϑεοῦ χρήιζων πολλὰ καὶ ἄλλος ἀνήρ· εἵνεκα καὶ χερσαῖα καὶ ἅλα δῖαν ἀφιεὶς εὐχὰς εὑρήσεις τὴν ἐπακουσομένην.

Poseidippos 39, Übers. Wessels/Stähli (in: Seidensticker/Stähli/Wessels 2015); siehe auch: Poseidippos 119. 61 P. Lit. Goodspeed 2 II 14; Poseidippos 119, 3. Zum Goodspeed-Papyrus: Barbantani 2005, 135–165.

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durch eine solche Herrschaftsterminologie explizit als Herrschaftsbereich konzipiert. Zum anderen wurde über die gottgleiche königliche Schutzherrschaft der Arsinoë auch die Herrschaft der Ptolemäer in die Landschaft des östlichen Mittelmeeres eingeschrieben. Viele Städte an den Küsten des Roten Meeres und der Ägäis erhielten unter den Ptolemäern den Namen Arsinoës.62 Mit der Errichtung des Kultes wollte sich Kallikrates sicher nicht nur göttlicher Unterstützung bei einer Flottenunternehmung vergewissern oder sich für eine solche bedanken. Der Kult ermöglichte den Ptolemäern und auch Kallikrates, die Sieghaftigkeit der Flotte einem breiten Publikum sichtbar zu machen. Im Rahmen der expansiven Seepolitik des Ptolemaios bildete die Figur der Arsinoë geradezu die perfekte Verkörperung ägyptischer Seemacht.63 Im Herrscherkult der Arsinoë, die ja nicht nur eine ägyptische, sondern auch eine griechische Königin war, verschmolzen schlussendlich die Eigenschaften der griechischen Aphrodite mit jenen der einheimischen Isis, die traditionellerweise die Herrin der Winde war, die ebenso die Wogen des Nils aufbrausen lassen wie auch eine ruhige Fahrt gewähren konnte.64 Doch die mediale Inszenierung der Königin und auch ihrer Nachfolgerinnen sowie das religiöse Programm der Ptolemäer wirkten nicht allein am Nil, sie beeinflussten die religiöse Praxis auch außerhalb Ägyptens. Bereits im zweiten Jahrhundert v. Chr. wurde Isis in Italien als Patronin der Seefahrer verehrt.65 Kleopatra VII. stand mit ihrer Selbstinszenierung als Isis Aphrodite in der Tradition der ptolemäischen Königinnen vor ihr. Anders als ihre Vorgängerinnen propagierte sie sich jedoch verstärkt auch außerhalb Ägyptens als Isis Aphrodite.66 Auch die Isis-Aretalogien, die in verschiedenen Städten Griechenlands und Kleinasiens überliefert wurden, belegen die Verbreitung des Isis-Kults außerhalb Ägyptens. In einem Text, der auf einer Stele in Kyme gefunden wurde und aus dem ersten vor- oder nachchristlichen Jahrhundert stammt, heißt es: „Ich [Isis, Anm. B. D.] habe die Seefahrt erfunden. [. . . ] Ich bin die Herrin (kyria) der Flüsse, der Winde und des Meeres. [. . . ] Ich besänftige das Meer und lasse es aufwogen. [. . . ] Ich bin Herrin (kyria) der Schiffahrt.“67 Isis hatte Macht über Flüsse, Winde, das Meer und über die Seefahrt im Allgemeinen.68 Sie erscheint in der Aretalogie im Grunde als omnipotente Gottheit. Dies spiegelt sich auch in Apuleius’ Roman Metamorphosen, der zudem zeigt, dass Isis auch unter den Römern als Herrscherin des Meeres und Erfinderin der Navigation verstanden wurde. Hier lässt Apuleius die Göttin selbst auftreten und ihre Kompetenzen umreißen. Sie bezeichnet sich als diejenige, die unter anderem „des Meeres wohltätiges Wehen“ durch ihren „Wink leite“ (Apul. met. 11, 5, 1, Übers. Helm). Der Protagonist des Romans adressiert sie im Zuge seiner

62 Longega 1968, 114–118. 63 Barbantani 2005, 146. 64 Bricault 2006, 33. Dieser Angleichungsvorgang wird verschiedentlich gedeutet. Hierzu z. B. Barbantani 2005, 152 Anm. 62; Griffiths 1975, 32–37. 65 Barbantani 2005, 152. 66 Kunst 2012, 99. 67 ἐγὼ ϑαλάσσια ἔργα εὗρον. [. . . ] ἐγὼ ποταμῶν καὶ ἀνέμων καὶ ϑαλάσσης εἰμὶ κυρία. [. . . ] ἐγὼ πραΰνω καὶ κυμαίνω ϑάλασσαν. [. . . ] ἐγὼ ναυτιλίας εἰμὶ κυρία (IG XII 14 § 15, 39, 43, 49f. = I. Kyme 41, Übers. Merkelbach). Siehe hierzu: Pfeiffer 2015, 199–205 mit weiterführender Literatur. 68 Siehe auch: Lukian. dial. Deorum 3.

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Initiation in den Kult mit folgenden Worten: „Auf deinen Wink blasen die Winde, spenden die Wolken, keimen die Samen, wachsen die Keime. Vor deiner Allmacht (tuam maiestatem) erschauert die Vogelschar, die am Himmel streift [. . . ], die Tiere, die im Meer schwimmen.“69 Wie in den Aretalogien, so ist auch in den Metamorphosen der Wirkungsbereich der Isis mit einer konkreten Herrschaftsterminologie umschrieben.70 Zudem liefert uns Apuleius einen detaillierten Bericht über das Fest zu Ehren der Isis (navigium Isidis oder ploiaphesia), das am 5. März stattfand, sowie über das sacrum Phariae am 25. April.71 Diese Feiern fielen in die Zeit, in der man die Schifffahrt, die durch die Wetterverhältnisse im Winter sehr eingeschränkt war, wieder aufnahm. Damit die Seereisenden, die Händler und ihre Fracht, aber auch die Getreidetransporte in die Städte des Römischen Reiches von den Gefahren der See verschont blieben, wurde der Isis ein Schiff als Ablösungsopfer auf das Meer gelassen.72 Weitere Bestandteile des Festes waren ein Festzug und ein Opfer, bei dem die Teilnehmer „eine aus Milch hergestellte Mischung“ (Apul. met. 11, 16, 7–8) in das Meer gossen. Eventuell fanden zu Ehren der Isis auch Naumachien statt, wie sie eine Bemalung im Iseum in Pompeji zeigt.73 Zweifellos wäre auch dies als Ausdruck der maritimen Macht der Isis über das Meer zu interpretieren, und sogar mehr: Die Römer selbst inszenierten sich als Günstlinge der Isis, als Beherrscher über das Element. Es spricht vieles dafür, dass dieses Fest in vielen Städten des Römischen Reiches gefeiert wurde.74 Eventuell sind sogar die im See von Nemi entdeckten luxuriösen Riesenschiffe des Caligula im Kontext des navigium Isidis zu deuten.75 Auf kaiserzeitlichen Münzprägungen begegnet uns Isis in ganz unterschiedlichen Posen. Unter Trajan, Hadrian, Mark Aurel und Antoninus Pius erschien sie als Isis Pharia, mit wehendem Mantel, ein aufgeblähtes Segel haltend, vor der Kulisse eines Leuchtturms, wahrscheinlich des Pharos von Alexandria (siehe Abb. 22 [S. 203]).76 Das Sistrum und das Basileion erlauben, die Göttin eindeutig als Isis zu identifizieren.77 Münzprägungen des Septimius Severus wiederum kombinierten die Isis Lactans mit der Isis als Göttin der Seefahrt: Den Horus-Knaben an der Brust haltend, stützt sie ihr Bein auf einen Schiffsschnabel, ein Ruder lehnt hinter ihr.78 Gemeinsam mit der Umschrift SAECULI FELICITAS verwies die Prägung auf die dynastischen Bestrebungen der Severer und ihr Versprechen 69 tuo nutu spirant flamina, nutriunt nubila, germinant semina, crescunt germina. tuam maiestatem perhorrescunt aves caelo meantes, [. . . ] beluae ponto natantes (Apul. met. 11, 25, 4, Übers. Helm). 70 Für weitere Texte, in denen Isis als Herrscherin über das Meer konzipiert wurde, siehe die Verweise bei Barbantani 2005, 151 Anm. 60. 71 Bricault 2006, 134. 72 Apul. met. 11, 5, 5; 11, 16, 4–6. Zur Deutung als Ablösungsopfer mit weiteren Verweisen zu Schiffsvotivgaben (skaphai): Wachsmuth 1967, 130. 73 Museo Archeologico Nazionale di Napoli (inv. 8519) sowie Bricault 2006, 142. 74 Bricault 2006, 143. 75 Bricault 2006, 143. 76 Thiersch 1909, Taf. I 17–19; 37–48; Taf. II, 49–58; 67–72; 79; 84–85; 88–98; Taf. III, 100–120. 77 Bricault 2006, 43–65. Eine große Zahl der Münzen wurde in Kenchreai bei Korinth geprägt, wo sich das Heiligtum der Isis Pelagia in der Nähe des Aphrodite-Heiligtums befand und wo Apuleius nicht zuletzt auch seine Schilderung der ploiaphesia platzierte. Siehe: Paus. 2, 2, 3; 2, 4, 6. Zu den archäologischen Befunden: Bricault 2006, 68. 78 RIC IV Septimius Severus 577. 645. 865.

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Abbildung 22: Alexandrinische Münze, Hadrian 133/4 n. Chr. (Thiersch 1909, Taf. I, Abb. 47)

auf politische Stabilität und Wohlstand.79 Wohlstand repräsentierte Isis auch in einer weiteren bildlichen Form, mit Füllhorn und Ruder. In dieser Gestalt konnte Isis sowohl als maritime Gottheit als auch als Schicksalsgöttin, als Isis-Tyche oder Isis-Fortuna, verstanden werden.80 Die Seereise diente ohnehin als Metapher für den Lauf des Schicksals. Beides, Seefahrt und Schicksal, brachten im günstigsten Fall Wohlstand und Reichtum.81 Das Erscheinen der Göttin in der kaiserlichen Münzprägung sowie die seit Domitian zunehmende Pflege des Kultes durch die principes lassen die politische Dimension der Isis-Figur erahnen. Aufgrund des Datums der alljährlichen Isis-Feste, ihrer Rolle als Schützerin der Seefahrt und Garantin von Wohlstand sowie letztlich auch aufgrund der Herkunft der Göttin wird die Isis-Verehrung in Zusammenhang mit den Getreidefahrten aus Ägypten gedeutet, die für die Versorgung der römischen Bevölkerung von existentieller Bedeutung waren.82 Der Schutz der Getreidetransporte war schlussendlich eine politische Aufgabe (cura annonae), welche die Kaiser unter der Gunst der Isis zu gewährleisten suchten.

Venus als maritime Schutzgottheit im politischen Kontext Nach diesem kurzen Überblick über die politischen Funktionen der Aphrodite und Isis als Schutzgöttinnen der Seefahrt stellt sich nun die Frage, ob auch Venus in dieser Weise eine Rolle in der politischen Kommunikation spielte. Die wichtigsten Quellen für diese Frage bilden Münzen, denn sie dienten bekanntlich nicht nur als Zahlungsmittel, sondern auch als Medium zur Verbreitung politischer Ideen. Gibt es also Münzbilder, die Venus als Göttin der Seefahrt zeigen und wenn ja, können diese in Bezug gesetzt werden zur römischen Flottenpolitik? 79 Takács 1995, 115. 80 Bricault 2006, 83. Siehe auch: Nagel 2010, 160 mit weiteren Literaturverweisen. In ähnlicher Weise können wir auch die Venus Pompeiana als Verschmelzung von Schicksals- und Seefahrtsgottheit deuten. 81 Zum Beispiel Anth. Gr. 10, 65. 82 Bricault 2006, 101–112.

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Abbildung 23: Römisches As, 106 v. Chr., RRC 313/2 (Crawford 1974, Taf. XLI.19)

Unter dem Münzmeister Lucius Memmius Galeria wurde 106 v. Chr. eine Münzserie geprägt, bei der auf dem Avers unterschiedliche Gottheiten, auf dem Revers aber immer ein Schiffsschnabel zu sehen ist, der von einem Amor bekränzt wird (siehe Abb. 23). Dieser Amor verweist auf die Präsenz der Venus, deren Gesicht man bei genauer Betrachtung am Vordersteven des abgebildeten Schiffsbugs erkennen kann. Es bleibt jedoch unklar, ob diese Serie auf ein konkretes maritimes Ereignis verweist, oder ob sich darin ein eher allgemeiner Bezug zur Seefahrt widerspiegelt.83 Die politischen Zusammenhänge einer Prägung aus dem Jahr 75 v. Chr. werden widersprüchlich gedeutet. Man erkennt auf dem Avers die Göttin Libertas, auf dem Revers Roma und Venus, die auf Schiffsschnäbeln stehen. Sie werden von Steuerrudern flankiert und halten jeweils ein Zepter in der Hand. Venus ist eindeutig durch die Figur des Amor zu identifizieren und die Pose der Roma verweist auf einen kriegerischen Kontext. Crawford deutete das Ensemble dieser Prägung als Versuch, nach dem Tode Sullas, der sich die Göttin als persönliche Schutzgottheit gewählt hatte, ein alternatives Venus-Bild zu entwerfen – ein Bild, das die Göttin Venus wieder näher an das römische Volk und die Republik rücken sollte.84 Koch hingegen zog Venus als Schutzgottheit der samnitischen gens der Egnatier in Erwägung. Gaius Egnatius Maxsumus [sic!] habe als Münzmeister das Nebeneinander der Roma und der Venus propagiert und damit zwar die Geschichte einer ursprünglich italischen gens betont, diese aber in bereits unauflösbarer Verbundenheit mit den Römern dargestellt.85 Der maritime Aspekt der Darstellung wurde aber weder von Crawford, noch von Koch kommentiert,

83 RRC 313/2–4. 84 RRC 391/3. Bolder-Boos folgt offenbar Crawford in der Interpretation, es als Versuch zu sehen, dass man gegen das Venusbild Sullas nach dessen Tod ein alternatives Venusbild entwirft, das die Göttin mit einem „volksnahen Rombild und mit Libertas“ (Bolder-Boos 2015, 119) verbindet. 85 Koch 1955, 17f.

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wahrscheinlich weil auch hier wieder der Zusammenhang mit einem konkreten Ereignis nicht zu rekonstruieren ist. Es wäre aber zumindest denkbar, dass das Bild auf einen Seesieg der römischen Flotte anspielt. Nach Sulla und Pompeius verstand sich vor allem Caesar als Günstling der Venus. Doch obwohl Venus auch unter ihm eine prominente Rolle auf den Münzprägungen einnahm, finden wir sie nicht mit maritimen Attributen ausgestattet.86 Und auch im politischen Programm Octavians spielte sie als Göttin der Seefahrt keine Rolle, vermutlich weil ihre Rolle in der augusteischen Propaganda auf die der göttlichen Stammmutter festgelegt war.87 Das augusteische Bildprogramm hatte in dieser Hinsicht offenbar nachhaltige Wirkung. Lediglich eine Münze des Antoninus Pius zeigt die Venus mit einem maritimen Bezug. Auf dem Avers sehen wir die Tochter des Kaisers, Faustina. Auf der Rückseite haben wir das Bild der Venus mit Steuerruder. Sie wird als Venus Pelagia (pelagos gr.: Meer) gedeutet.88 Ein konkreter Rahmen für die Abbildung der Venus Pelagia ist aber auch in diesem Fall kaum zu rekonstruieren, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Faustina mit verschiedenen Göttinnen in Bezug gebracht wurde. Immerhin können wir dieses Münzbild als Beleg dafür nehmen, dass Venus mit ihren Attributen als Meeresgöttin auch noch im politischen Bildrepertoire des zweiten Jahrhunderts n. Chr. präsent war. Selbst in der Literatur dieser Zeit findet sich weiterhin die Idee der Venus als Herrscherin über das Meer. In seinen Metamorphosen entfaltete Apuleius ein zwar ausgesprochen poetisches Bild der Venus, spickte dieses aber mit einem dezidiert politischen Vokabular. So sprach sie [Venus], und mit lechzenden Küssen küßte sie den Sohn lange und fest; dann sucht sie das nächste Gestade des brandenden Meeres auf, und kaum hat sie mit rosigen Sohlen nur das oberste Naß der sich kräuselnden Wogen betreten, siehe, da ruht schon die Meerestiefe mit heiterem Scheitel, wie sie es gerade erst zu wünschen beginnt; und sofort, als hätte sie’s längst geboten, stellt sich ohne Säumen das Meeresgefolge (marinum obsequium) ein. Es erscheinen des Nereus Töchter, den Reigen singend, und Portunus struppig mit schilfgrünem Bart und, den Busen schwer beladen mit Fischen, Salacia und, auf dem Delphine reitend, der kleine Palaemon; schon hüpfen die Scharen der Tritonen weit und breit durchs Meer; einer trompetet sanft auf tönender Muschel, dort wehrt einer mit seidenem Schleider der feindlichen Sonnenglut, ein anderer hält der Herrin (dominae) den Spiegel vors Antlitz, wieder andere schwimmen zu zweit unter dem Joch des Wagens. Solch ein Heer (exercitus) geleitet Venus, wie sie um Okeanus eilt.89

86 Mit Ausnahme der Serie von 46 v. Chr. (RRC 463/3) mit Venus (Avers) und Amor auf einem Delphin reitend (Revers). 87 Zanker 1987, 198–201. 88 RIC III Antoninus Pius 517 c. 89 sic effata et osculis hiantibus filium diu ac pressule saviata proximas oras reflui litoris petit plantisque roseis vibrantium fluctuum summo rore calcato ecce iam profundum maris sudo resedit vertice, et ipsum quod incipit velle; et statim, quasi pridem praeceperit, non moratur marinum obsequium: adsunt Nerei filiae chorum canentes et Portunus caerulis barbis hispidus et gravis piscoso sinu Salacia et auriga parvulus delphinis Palaemon; iam passim maria persultantes Tritonum catervae hic concha sonaci leniter bucinat, ille serico tegmine flagrantiae solis obsistit inimici, alius sub oculis dominae speculum progerit, curru biiuges alii subnatant. talis ad Oceanum pergentem Venerem comitatur exercitus (Apul. met. 4, 31, 3–5, Übers. Helm).

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Das Gefolge der Venus wird als obsequium bezeichnet. An diesen Terminus ist die Idee sozialer und politischer Unterordnung sowie militärischen Gehorsams geknüpft. Diese Konnotation wird durch die Bezeichnung exercitus noch einmal unterstrichen. In der Anrede domina wiederum verdichtet sich das Konzept herrschaftlicher Gewalt. Das Meer, seine Gewalten und seine Bewohner – sie alle sind in diesem imposanten dichterischen Gemälde der Venus untertan. Dennoch nahm die Göttin innerhalb der römischen Politik offensichtlich nie eine übergeordnete Rolle als Repräsentationsfigur maritimer Stärke ein.

Schluss Der Blick auf die kultischen Praktiken der Seereisenden hat gezeigt, wie Venus und Aphrodite als Schützerinnen der Seefahrt verehrt wurden. Die Schiffsreise galt für die Griechen und Römer zumeist als ein waghalsiges Unterfangen, und so ist die kultische Verehrung nicht nur als Antizipation der Gefahren der Seefahrt, egal ob als Händler oder Flottenkommandant, zu verstehen, sondern auch als Reaktion auf die Erlebnisse während der Fahrt auf See. Doch die Menschen der Antike pflegten ein widersprüchliches Verhältnis zum Meer.90 Die Quellen vermitteln einerseits einen Eindruck der Unsicherheit und Furcht, der sich die Reisenden angesichts der Gefahren ausgesetzt sahen, weshalb sie sich göttlichen Reisegeleits versicherten. Andererseits zeugen gerade die politischen Selbstinszenierungen von einem Bewusstsein maritimer Fähigkeit und Stärke unter göttlicher Gunst. In der hellenistisch-römischen Mittelmeerwelt spielten in dieser Hinsicht seit dem 3. Jahrhundert Aphrodite Arsinoë und Isis eine nicht zu unterschätzende Rolle: die eine als Repräsentationsfigur der ptolemäischen Seemacht, die andere als Patronin der für Rom überlebenswichtigen Getreidefahrten. Anders die Venus: Selbst wenn ihre Macht über das Meer nie vollständig aus der Vorstellungswelt der Römer verdrängt wurde, so hatte sie in der politischen Kommunikation der Römer als Schützerin der Seefahrt nur eine marginale Stellung inne. Zum einen dürfte die zunehmende Popularität des Isis-Kultes eine Rolle gespielt haben, der sich seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. in der Mittelmeerwelt ausgebreitet hatte und die Venus in ihrer Funktion als Schutzgöttin der Seefahrt ablöste. Zum anderen war seit Caesar und Octavian die Rolle der Venus als Stammmutter der julischen Familie in den Vordergrund gestellt worden, weshalb sie bei Vergil selbst ihren eigenen Sohn nicht mit eigener Kraft vor dem Schiffbruch bewahren konnte.

Literatur Textausgaben — Anthologia Graeca (4 Bde., hg. von Hermann Beckby), Berlin 1965 (2. verb. Auflage). — Apuleius, Metamorphosen oder Der goldene Esel (übers. von Rudolf Helm), Berlin 1970 (3. durchg. und erw. Auflage).

90 Dunsch 2015, 31.

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— Apuleius of Madauros, The Isis-Book (Metamorphoses, Book XI) (hg., übers. und kommentiert von John Gwyn Griffiths), Leiden 1975. — Avienus, Ora maritima (übers. und kommentiert von André Berthelot), Paris 1934. — Catullus, Carmina (übers. und hg. von Niklas Holzberg), Berlin 2011 (12. Auflage). — Chariton, Kallirhoe (hg., übers. und kommentiert von Christina Meckelnborg und Karl-Heinz Schäfer), Darmstadt 2006. — Horaz, Oden und Epoden (hg. und übers. von Gerhard Fink), Berlin 2002. — Juvenal, Satiren (hg., übers. und mit Anm. versehen von Joachim Adamietz), Berlin 1993. — Petronius Arbiter, Satyrische Geschichten (hg. und übers. von Niklas Holzberg), Berlin 2013. — Der Neue Poseidipp. Text, Übersetzung, Kommentar (hg. von Bernd Seidensticker/Adrian Stähli/Antje Wessels), Darmstadt 2015. — Tacitus, Historien (hg. und übers. von Joseph Borst unter Mitarbeit von Helmut Hross und Helmut Borst), Berlin 2011. — Vergil, Aeneis (hg. und übers. von Johannes Götte), Berlin 1994 (8. Auflage).

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Seenot und die Hilfe der Götter bei Aelius Aristides Jens Börstinghaus (Erlangen) Es sollte eigentlich nicht nötig sein, Aelius Aristides als einen der großen Rhetoren des 2. Jh.s hier vorzustellen; doch ein paar Sätze sind dazu wohl am Platz, weil der Mann nach wie vor kaum ins Zentrum gräzistischer oder althistorischer Forschung gerückt ist. Bekannt ist Aristides wohl in erster Linie durch seine Romrede (Or. XXVI) und den länglichen Παναθηναϊκός (Or. I); nach und nach ist aber immer deutlicher ein anderes Werk in den Fokus geraten, nämlich die sechs Bücher umfassenden ἱεροὶ λόγοι, die nach Inhalt und Form ein ganz einzigartiges Werkstück sind. Mit vollem Namen heißt er Publius Aelius Aristides Theodoros1 und stammt aus Kleinasien. Er war der Sohn eines moderat wohlhabenden Landbesitzers und Zeus-Priesters in Mysien und hat eine hervorragende Ausbildung erhalten. Dementsprechend hat er auch eine glänzende Karriere als Rhetor gemacht bis hin zur persönlichen Bekanntschaft mit den Kaisern Marc Aurel und Commodus – auch wenn seine Karriere gewiß unter seiner Krankheit und der dadurch bedingten zeitweisen Untätigkeit gelitten haben wird.2 Aelius Aristides darf aber mit Recht als Rhetor höchsten Ranges eingeschätzt werden; er ist einer der fast makellosen Attizisten im Rahmen der sogenannten Zweiten Sophistik. Von ihm sind uns zahlreiche Prunk- und Lobreden auf Städte, Götter, Gewässer etc. erhalten. Das Urteil über ihn als hervorragenden Rhetor dürfte Bestand haben, auch wenn Aristides zuweilen in philologischen Kreisen heftiger Kritik ausgesetzt war und auch mit Geringschätzung bedacht wurde. „Langeweile“ – so etwa Eduard Norden – hat man seinen Reden attestiert; dazu kommt eine – sicherlich nicht ganz in Abrede zu stellende – maßlose Eitelkeit, die man bei ihm festzustellen glaubte, was man in den Literaturgeschichten immer wieder lesen kann.3 Letzteres bezieht sich vor allem auf die eben schon genannte Schrift, aus der später auch noch einige Stellen zu besprechen sind, die sogenannten ἱεροὶ λόγοι. Hinzu 1 Den vierten Namen Θεόδωρος hat er als weiteres cognomen den tria nomina hinzugefügt – wie er in Or. L 53 berichtet, aufgrund eines Traumgesichts; § 54 führt er den Namen dann auf Asklepios zurück (ebenso § 70). Vgl. zu diesem zusätzlichen Namen Behr 1968, 47; Downie 2013, 12–14. 2 Siehe dazu die Bemerkungen des Aristides zur immer wieder neuen Förderung seiner Redekunst durch Asklepios, etwa Or. L 14, wo er nach der Erwähnung einer krankheitsbedingten einjährigen Schaffenspause notiert: καθηµένῳ δέ µοι ἤδη ἐν Περγάµῳ κατὰ τὴν κλῆσίν τε καὶ ἱκετείαν γίγνεται παρὰ τοῦ θεοῦ πρόσταγµα καὶ παράκλησις µὴ προλιπεῖν τοὺς λόγους (Als ich mich schon in Pergamon aufhielt, gemäß dem Ruf [des Gottes] und

[meiner] Bitte, da erging vom Gott Befehl und Ermahnung an mich, die Reden nicht aufzugeben); vgl. überhaupt Or. XLII 3.12f.; L 14–20.25–31. Auch Philostrat erwähnt die Krankheit des Aristides, fügt aber nur hinzu, daß sie ihn nicht vom Studieren abgehalten habe: νοσώδης δὲ ἐκ µειρακίου γενόµενος οὐκ ἠµέλησε τοῦ πονεῖν (VS II 9,1 [581]), um dann noch die ἱεροὶ λόγοι lobend anzuführen (VS II 9,2 [581]). Zur im Blick auf die Förderung durch den Gott sogar ausdrücklich positiven Bewertung seiner Krankheit durch Aristides siehe etwa Or. XXIII 16; L 27. 3 Beim erwähnten Eduard Norden liest sich das so: „Über des A r i s t e i d e s gesinnungstüchtige Langeweile, die noch empfindlicher wird durch das süßliche Wesen des Mannes, seine impertinente Eitelkeit, seine ewigen Versicherungen, er gerate durch seine Reden selbst in Verzückung und Raserei, wird sich jeder geärgert haben, der, wie ich selbst, auch nur einige seiner Reden ganz hat zu Ende lesen können“ (Norden 1958, 401).

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kommt die Einschätzung des Aristides als eines klassischen Hypochonders.4 Die jüngeren, eher kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten zu Aristides5 gehen weitaus milder mit ihm um als die Alten – wobei unter letzteren Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff als Ausnahme herauszustellen ist, der den Rhetor nicht nur wegen seines Stils geschätzt hat.6 Ebenfalls die ἱεροὶ λόγοι betrifft natürlich das medizinhistorische Interesse an Aristides, der in dieser Schrift – wie sattsam bekannt – auch seine umfangreiche Krankengeschichte mitteilt. So war und ist diese Schrift eine Quelle erster Güte für die antike Medizingeschichte – auch wenn sie gewiß in ihrer verschrobenen Diktion mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert. Hier jedoch haben wir uns nicht mit Aristides als Literat im eigentlichen Sinne, seinen Qualitäten als Rhetor (oder ähnlich) auseinanderzusetzen und auch nicht mit Aristides als einem höchst interessanten Fall der antiken Medizin, sondern es soll hier um Aristides als Reisenden gehen. Aristides ist wie viele seiner Zeitgenossen gleichen Standes natürlich viel gereist, zu Zwecken der Bildung und vor allem zur Förderung und Ausübung seiner rhetorischen Tätigkeit.7 Dabei hat er – wie seine erwähnten Standesgenossen – neben zum Teil strapaziösen Reisen über Land natürlich auch häufig Strecken per Schiffspassage bewältigt, wobei er nach den eigenen Notizen mehrfach in Seenot geraten war. Nun interessieren aber hier nicht die Seereiseberichte des Aristides an sich, eben als Berichte oder als Literatur, was ja bei dem verbreiteten Genre der Seefahrtserzählungen oder dem geläufigen Topos der Seefahrtsmetaphorik durchaus naheliegen könnte, sondern das bei ihm immer wieder auftauchende Phänomen, die Rettung aus den Gefahren des Meeres verschiedenen Göttern zuzuschreiben, die er in der Bedrohung angefleht habe. Diese Passagen lassen sich, schaut man sie zusammen, auf erhellende Weise zur religiösen Biographie und zur von ihm – insbesondere in den ἱεροὶ λόγοι – konstruierten religiösen Identität in Beziehung setzen. Die ersten beiden Beispiele stammen meines Erachtens aus der Zeit vor der Aufnahme der innigen Beziehung unseres Autors zu seinem persönlichen Retter Asklepios; es handelt sich um zwei Passagen aus dem Zeus- und dem Sarapis-Hymnus. Die erste zu würdigende Passage stammt aus dem Proöm des Zeus-Hymnus (Or. XLIII 2f.): καίτοι πρὸς αὐτῷ γιγνόµενος οὐκ ἔχω τίς γένωµαι, ἀλλὰ νῦν µοι δοκῶ καὶ σφόδρα µανθάνειν ὡς τελέως ἄρα ἐκινδύνευον, καὶ οὐκ ἐν ἐµαυτῷ ἦν ὑπὸ τῆς θαλάττης, κατὰ τοιούτων εὐχόµενος, ἃ µήτε ἀποπληρῶσαι ῥ¥διον µήτε ἐγχειρῆσαι σωφροσύνης ἴσως 4 Siehe etwa Phillips 1952. Zur unterstellten Hypochondrie vgl. auch Downie 2013, 25.29f. mit Anm. 75. 5 Vgl. beispielsweise Petsalis-Diomidis 2010; Israelowich 2012. 6 Vgl. Wilamowitz-Moellendorff 1925. Vgl. auch zur wechselvollen Beurteilung des Rhetors von der Spätantike in die byzantinische Zeit bis zum 19./20. Jahrhundert Downie 2013, 17–23. 7 Verstörend wirkt da zunächst nur die biographische Notiz des Philostrat, Aristides sei nicht viel unterwegs gewesen: ἀποδηµίαι δὲ Ἀριστείδου οὐ πολλαί (οὔτε γὰρ ἐς χάριν τῶν πολλῶν διελέγετο οὔτε ἐκράτει χολῆς ἐπὶ τοὺς µὴ ξὺν ἐπαίνῳ ἀκροωµένους), [. . .] (Viel unterwegs war Aristides nicht [denn er sprach weder zum Gefallen der Menge, noch hatte er seinen Zorn im Griff, wenn die Zuhörer nicht applaudierten], [. . . ], VS II 9,3 [582]). Das mag wohl im Vergleich zu manch anderen Sophisten gelten, die mehr oder weniger permanent on tour waren; übers Ganze gesehen ist aber für Aristides schon eine gewisse Reisetätigkeit belegt, auch wenn er späterhin hauptsächlich nur noch in der Asia unterwegs war. Vgl. zu meiner Einschätzung auch Downie 2017, 53. Es ist müßig, aus der überfließenden Literatur hier Referenzen zu Reisen im Kontext der sogenannten Zweiten Sophistik angeben zu wollen; vgl. nur die jüngste Dissertation zu diesem Thema: Fron 2018 [im Druck], sowie ebenfalls von Fron den Beitrag im vorliegenden Band (siehe oben, S. 117–128), weiterhin zu einer – im echten Wortsinn – imaginären sophistischen Reise den Beitrag von Bachmann (siehe unten, S. 373–384).

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ἔχει πίστιν, ὑπισχνούµενος ὕµνον ἐρεῖν ∆ιὸς, καὶ ταῦτα ἄνευ µέτρου. | ἦ πολλὴ τότε ἦν 〈ἡ〉 θάλαττα καὶ πᾶν ἐποίει καὶ πράττειν καὶ λέγειν· ὅµως δὲ – οὐ γὰρ ἐκλειπτέον οὐδὲν εὐκταῖον, φασὶν, ἀλλὰ πᾶν ὁτιοῦν ὁπωσοῦν ἀποδιδόµενον κρεῖττον ἢ καθάπαξ ἐκλειφθέν – πειραθῶµεν ἀµωσγέπως ἀφοσιώσασθαι πρὸς τὸν θεόν· τοῦ δὲ κάλλιον ἢ ἐνδεέστερον αὐτῷ µελήσει.

Nun aber, da ich mich daran mache, weiß ich nicht, was ich tun soll, sondern meine jetzt erst recht zu erkennen, daß ich wirklich in größter Gefahr schwebte und wegen des Meeres nicht bei mir selbst war, als ich gegen solche Widrigkeiten ein Gelübde ablegte, das nicht leicht zu erfüllen ist, und der Versuch vielleicht nicht gerade Vertrauen auf meine Besonnenheit erweckt, denn ich versprach, einen Hymnus auf Zeus zu dichten, und das ohne Metrum. | Wahrlich ging die See damals hoch und brachte mich dazu, alles zu tun und zu sagen; dennoch – denn keinem Gelübde darf man sich entziehen, wie man sagt, sondern jedwede Art der Abgeltung ist besser, als daß es ganz und gar übergangen würde – wollen wir versuchen, irgendwie die Schuld dem Gotte gegenüber zu tilgen. Ob das besser oder schlechter ausfällt, wird bei ihm liegen.

Aristides setzt § 1 mit einem Gebet ein, in dem er Zeus um freundliche Annahme und Geleit der Rede bittet, so daß er sich nicht völlig lächerlich mache,8 um dann die großen Schwierigkeiten zu benennen, mit der Rede dem Gegenstand und Ziel überhaupt gerecht zu werden (§ 2). Das ist topisch und dient dazu, unter dem Deckmäntelchen der Bescheidenheit des Redners gerade umgekehrt die Größe der Aufgabe und so natürlich den Rang des Werks über die Maßen herauszustellen.9 Was den Anlaß und den propagierten Zweck der Rede betrifft, und das ist hier von Interesse, wird der Zeus-Hymnus als χαριστήριον vorgestellt – näherhin als Dankesgabe für eine Rettung aus Seenot (§ 1), in der Aristides sich offenbar vor Abfassung der Rede befunden haben muß. Er verbindet nun an unserer Stelle die Schwierigkeiten der Aufgabe mit dem Charakter der Dankesgabe, indem er diese auf ein Gelübde zurückführt, das er in höchster Not abgelegt habe (§ 3); salopp gesagt: Es gibt Situationen, in denen einem einfach alles rausrutscht! In der Bedrohung zur See, vielleicht in Todesangst, habe er versprochen, dem Zeus einen Hymnus zu dichten, und zwar ohne Metrum (καὶ ταῦτα ἄνευ µέτρου, § 2). Das ist pfiffig! Je nach Geschmack kann man es wohl aber auch als etwas dick aufgetragen einschätzen; aber, so ist er eben, der Aristides. Die auffällige Hervorhebung, daß es sich bei dem versprochenen Hymnus um einen prosaischen handeln solle, mag vielleicht zunächst den Eindruck erwecken, als werde hier Neuland beschritten – darauf wird gleich zurückzukommen sein. 8 ὡς µὴ τελέως καταγέλαστοι γενώµεθα (Aristid. Or. XLIII 1). Korenjak wertet diese Bemerkung im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Gefahr, sich lächerlich zu machen, aus – insbesondere für Redner und Sophisten; etwas überinterpretierend parallelisiert er in seiner Lektüre sogar die Gefahr, zum Gespött zu werden, mit der des Schiffbruchs (Korenjak 2000, 85f.): „Wenn Aelius Aristides eine Rede an Zeus mit einem Gebet darum beginnt, er möge sich nicht gänzlich lächerlich machen (ὡς µὴ τελέως καταγέλαστοι γενώµεθα), und ein solches Scheitern mit der physischen Vernichtung durch Schiffbruch auf eine Stufe stellt (Aristid. 43.1), so drückt er damit nur angemessen den wohl schlimmsten Alptraum eines Sophisten aus.“ Ich halte das deshalb für etwas überinterpretiert, weil ja hier nicht ausdrücklich der Schiffbruch als Metapher für das literarische Scheitern benutzt wird, sondern lediglich die erbetene Annahme und Förderung des Hymnus durch den Gott mit der schon durch diesen erfolgten Rettung parallelisiert wird (καὶ ὥσπερ ἔσωσας εὐµενῶς [. . .], Or. XLIII 1) – das liegt zwar nicht weit auseinander, ist aber doch etwas anderes. Zur sonst natürlich häufiger vorkommenden Schiffbruchsmetapher für das literarische bzw. poetische Scheitern vgl. im vorliegenden Band etwa die Beiträge von Höhler (siehe oben, S. 140–148) und Egelhaaf-Gaiser (siehe unten, S. 330–348). 9 Vgl. zur Topik in den Proömien der Götterreden Amann 1931, 2–5.

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Vorher ist gleich die zweite relevante Passage anzuführen; sie stammt aus dem SarapisHymnus (Or. XLV 33f.): [. . .], ὦ κοινὸν ἅπασιν ἀνθρώποις φῶς, ἡµῖν τε δὴ πρώην περιφανῶς γενόµενος, ὅτε ἐπιρρεούσης τῆς θαλάττης καὶ πολλῆς πάντοθεν αἰροµένης καὶ οὐδενὸς ὁρωµένου πλὴν τοῦ µέλλοντος καὶ σχεδὸν ἤδη παρόντος ὀλέθρου χεῖρα ἀντάρας οὐρανόν τε κεκρυµµένον ἐξέφηνας καὶ γῆν ἔδωκας ἰδεῖν καὶ προσορµίσασθαι, τοσοῦτον παρ’ ἐλπίδα ὥστ’ οὐδ’ ἐπιβᾶσι πίστις ἦν. | τούτων τε δή σοι πολλὴ χάρις, ὦ πολυτίµητε, [. . .]

[. . . ], o du allen Menschen gemeinsames Licht, der du uns kürzlich wieder offenbar geworden bist, als du, während das Meer auf uns losstürzte und sich von allen Seiten gewaltig auftürmte, und nichts zu sehen war als das bevorstehende und nahezu schon über uns gekommene Verderben, mit zur Gegenwehr erhobener Hand den verdeckten Himmel freimachtest und uns Land sehen und im Hafen anlanden ließest, so sehr wider alles Erwarten, daß wir nicht einmal, nachdem wir schon an Land gegangen waren, daran glaubten. | Dafür statte ich dir großen Dank ab, o du Vielgeehrter, [. . . ]

Hier haben wir etwas der Stelle aus dem Zeus-Hymnus ganz Vergleichbares vor uns. Im Gegensatz zur eben behandelten Passage befinden wir uns hier nicht im Proöm, sondern im Epilog des Sarapis-Hymnus, in dem ebenfalls auf die Hilfe in Seenot durch einen göttlichen Retter abgehoben wird. Am Ende des Proöms des Hymnus stellt Aristides auch ausdrücklich fest, daß diese Rede ebenfalls zur Erfüllung eines Gelübdes gedichtet ist (ἄλλως τε καὶ εὐχὴν ἀποπληροῦντας, ἐπειδήπερ ἐσώθηµεν, § 13), womit wir dann also die gleiche Lage wie beim ZeusHymnus vorfinden: Seenot, Wendung an einen Gott um Hilfe mit Ablegung eines Gelübdes, Abfassung einer Rede als χαριστήριον zur Erfüllung des Gelübdes. Es ist bei beiden Hymnen sehr fraglich, wie sie zu datieren sind, und – damit verbunden – in welche Reihenfolge sie zu stellen sind. Dazu kursieren in der Forschung verschiedene Vorschläge, die hier nicht en détail durchzugehen sind. Inzwischen besteht ein gewisser Grad an Einigung darin, den Sarapis-Hymnus auf die Zeit unmittelbar nach der Rückkehr des Aristides von seiner Ägyptenreise, also ca. 142 n. Chr., zu datieren. Die Rede könnte dann zu einem Fest des in Smyrna verehrten Zeus Sarapis gehalten worden sein.10 Die Frage ist aber nun, in welchem Verhältnis der Zeus-Hymnus dazu steht – das ist weit heftiger umstritten. Einzelhinweise aus dem Text, die auf den möglichen Ort und die Zeit der Rede hindeuten könnten, sind in ihrer Bedeutung natürlich schwer zu gewichten; trotzdem kann man Einzelaspekte finden, die im Blick auf den Zeus-Hymnus für eine frühe Entstehung sprechen und örtlich eher nach Ägypten weisen könnten,11 wobei insbesondere die im unmittelbaren Kontext nicht zwingend motivierte Erwähnung des Nils anzuführen ist:12 10 Vgl. beispielsweise Wilamowitz-Moellendorff 1925, 339; Amann 1931, 28f.; Höfler 1935, 1–4; Behr 1981, 419f. (Anm. 1); Fron 2014, 210. Anders etwa Baumgart 1874, 90, der die Sarapisrede wie die Zeusrede nach Alexandria setzen will. Johann Goeken geht die Argumente für die Datierung und Verortung des Sarapis-Hymnus durch und hütet sich vorsichtig vor einer eindeutigen Festlegung (Goeken 2012, 547–556, besonders 555f.): Einen terminus ante quem will er nur in der Komposition der (ιεροὶ λόγοι, also ca. 170/171, anerkennen (ebd., 556); vgl. auch die Notiz bei Downie 2013, 16 mit Anm. 40. 11 Siehe Baumgart 1874, 79f.; Amann 1931, 29–35. 12 Or. XLIII 28.

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ποταµῶν τε ὁ κάλλιστος καὶ ἀξιολογώτατος καὶ αὐτὸς ἄρα ‘διιπετὴς’ [Νεῖλος] 13 ἦν, ἅτε δὴ µιµούµενος τὸν πατέρα, καὶ οἷον ὕπαρχος ὑπ’ αὐτοῦ τῶν κατ’ Αἴγυπτον τεταγµένος, ἀντὶ τῶν ∆ιὸς ὄµβρων αὐτὸς ἔπεισι καὶ πληροῖ τὴν γῆν.

Und der schönste und bedeutendste der Flüsse war auch wirklich ‚dem Zeus entsprungen‘, weil er ja den Vater nachahmt, und er kommt – gleichsam als Statthalter über Ägypten14 von ihm eingesetzt – selbst anstelle der Regengüsse des Zeus und flutet das Land.

Baumgart hat das meines Erachtens schon richtig ausgewertet und auf die Frage nach der nicht sofort einsichtigen Abschweifung über den Nil erklärt: „Die einzige Erklärung finde ich in der Annahme, dass, wie Aristides in den meisten Reden höchst ostensibel an die localen Mythen, Traditionen, Heiligthümer, an die wirklichen und eingebildeten Vorzüge der Orte, an welchen er spricht, anknüpft und keinen Kunstgriff der panegyrischen Redegattung spart, um den Beifall seiner Zuhörer zu captiviren, so auch hier er diese Wendung speciell auf die augenblicklichen Zuhörer berechnete, vielleicht dieselbe beim Vortrage noch breiter ausspann. Dieselbe musste umso schwerer wiegen, als sie dem bedeutend pathetisch gehobenen Schlusse der ganzen Rede untermischt wurde, ohne in diesem »parva componere magnis« eine Licenz zu verrathen. – Es müsste demnach die Rede in Ägypten, vielleicht in Alexandria, gehalten sein.“15 Die durchaus verbreitete Hypothese einer Entstehung des Zeus-Hymnus nach der Hinfahrt nach Ägypten und des Sarapis-Hymnus nach der Rückfahrt aus Ägypten erscheint also insgesamt als attraktive Möglichkeit.16 Damit hätten wir natürlich den auf den ersten Blick merkwürdig befremdlichen Befund vor uns, daß Aristides bei seiner Ägyptenreise sowohl auf der Hinfahrt als auch auf der Rückfahrt in Seenot geraten wäre und jeweils einem anderen Gott für die Rettung Dank abgestattet hätte; doch für gänzlich ausgeschlossen wird man das nicht halten dürfen.17 13 Νεῖλος athetiert von Wilamowitz. Amann 1931, 97, will auch das folgende ἦν tilgen. 14 Behr erwägt zwei Verständnismöglichkeiten des Ausdrucks ὕπαρχος [. . .] τῶν κατ’ Αἴγυπτον: einmal die metaphorische im Sinne des Präfekten von Ägypten und daneben die einfache im Sinne eines Delegierten des Zeus (Behr 1981, 418 [Anm. 35]). Die Formulierung mit οἷον scheint mir eher auf die erste Möglichkeit hinzudeuten, auch wenn das kein zwingendes Argument ist. Behr selbst entscheidet sich auch für die Übersetzung mit: „prefect of Egypt“ (ebd., 256). 15 Baumgart 1874, 79f. Vgl. Amann 1931, 29f.97, der Baumgart zustimmend zitiert. Wilamowitz hatte die Stelle aber anders als Hinweis darauf gelesen, der Zeus-Hymnus sei erst nach der Ägyptenreise verfaßt: „43,28 wird der Nil als διιπετής nach Homer δ 581 so erklärt, daß Zeus ihm, seinem Sohne, die Macht verliehen hat, ohne himmlischen Regen die Felder zu befruchten. Es kehrt im Aigyptios [Or. XXXVI, J. B.] 104 wieder und beweist, daß die Rede nach der ägyptischen Reise verfaßt ist“ (Wilamowitz-Moellendorff 1925, 338, Anm. 1). –Warum das ein „Beweis“ für die Abfassung „nach“ der Ägyptenreise sein soll, leuchtet nicht unmittelbar ein. Vorsichtiger äußert sich auch Mesk, der lediglich auf die Möglichkeit einer solchen Bemerkung auch nach der Ägyptenreise hinweist (Mesk 1927, 663). 16 So das Ergebnis bei: Amann 1931, 36; Höfler 1935, 2–4. Dagegen Behr, der die Zeusrede weit später datiert und zur Überfahrt von Klazomenai nach Phokaia (Or. XLVIII 12–14) in Beziehung setzt (Behr 1981, 417 [Anm. 1]) – dagegen spricht aber, daß im Bericht der ἱεροὶ λόγοι darüber Asklepios als der Retter in dieser Situation herausgestellt wird (Aristid. Or. XLVIII 14; vgl. zur ganzen Szene Börstinghaus 2010, 46–53). 17 Siehe wieder Höfler 1935, 3f. Das Befremdliche an dieser Annahme verschwindet geradezu, wenn man sich verdeutlicht, daß die Einschätzung von Gefahren zur See – insbesondere durch Laien – oftmals völlig verfehlt sein kann, weil insbesondere starke Rollbewegungen des Schiffes solches Unwohlsein verursachen, daß sowohl Leistungs- als auch Beurteilungsfähigkeit des Betroffenen mehr oder weniger stark eingeschränkt sein können (Stichwort: Seekrankheit bzw. Sopite-Syndrom), d. h. Gefahren können leicht überbewertet werden, eine objektiv nicht vorhandene Seenot als solche empfunden werden. Vgl. zur Einschränkung der Leistungsfähigkeit der

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Noch zu zwei Gegenargumenten: Josef Mesk hat in der Festschrift Ramorino (1927) über das zeitliche Verhältnis beider Hymnen gehandelt;18 dabei stellt er zahlreiche Bezüge heraus, die seiner Einschätzung nach als Rückgriffe des Zeus-Hymnus auf den Sarapis-Hymnus zu deuten sind.19 Mir schien nach einer schnellen Durchsicht, daß man die Beziehung auch durchaus umgekehrt verstehen kann,20 wie ja überhaupt solche Entscheidungen leicht zur Geschmacksfrage hin tendieren können. Als stichhaltiger Beweis können die Meskschen Darlegungen meiner Meinung nach jedenfalls nicht gelten. Ein zweiter, meines Erachtens gewichtigerer Punkt, ist der Versuch Mesks, das bemerkenswert lange Proöm des Sarapis-Hymnus dahingehend auszuwerten, daß der Sarapis-Hymnus als die erste der Götterreden anzusehen sei.21 In dem langen Proöm (§§ 1–13) rechtfertigt Aristides aufs ausführlichste seine Entscheidung, den Gott in Prosa zu preisen, was man nach Mesk am ehesten verstehen könnte, wenn diese Rede eben das Erstlingswerk seiner Art wäre. Wir haben aber oben gesehen, daß auch im Zeus-Hymnus § 2 die prosaische Götterrede aus Sicht des Aristides als Besonderheit herausgestellt und mit den Schwierigkeiten der zu bewältigenden Aufgabe verbunden wird. Dieser Hinweis ist natürlich etwas ganz anderes als die ausführliche Argumentation, die zwischen Poesie und Prosa abwägt und sich dabei teils in Dichterschmähung ergeht; aber vielleicht ist der schnell hingeworfene Hinweis im Zeus-Hymnus doch als prägnant einzustufen, so daß man sich möglicherweise auch die umgekehrte Abfolge gut erklären kann: Das χαριστήριον an Zeus ist durchaus als die erste Götterrede des Aristides in Prosa denkbar, wobei er nur in einer kurzen nachgeschobenen Verdeutlichung das mit den Schwierigkeiten der Aufgabe verbindet, während er beim zeitlich ja nicht fernstehenden Sarapis-Hymnus zu so ausführlicher Reflexion darauf übergeht, daß der Rahmen eines Pröoms schon fast gesprengt erscheint. Ich erachte dieses Verhältnis ebenfalls als denkbar, so daß wiederum das Argument als nicht stichhaltig anzusehen ist.22 Somit halte ich also bis auf weiteres an der Hypothese fest, daß der Zeus-Hymnus vor dem Sarapis-Hymnus zu datieren und möglicherweise nach Ägypten zu setzen ist. Was die in Seenot angerufenen Götter betrifft, wäre weiter zu fragen: Warum gerade sie? Beim Zeus-Hymnus drängt sich die Frage nüchtern betrachtet allerdings kaum auf, sondern man wird vielleicht eher zurückfragen: Warum nicht Zeus? Aristides wird natürlich mit Zeus von Kindesbeinen an vertraut gewesen sein; es liegt mithin schlicht nahe, daß er sich in der Not an den höchsten Gott des Pantheon wendet und ihm einen Hymnus gelobt, in dem er dann den Gott als Allschöpfer und Ursprung allen Lebens feiert – weit über eine bloße Darstellung oder

18 19 20 21 22

Besatzung durch Schiffsbewegungen Marchaj 1988, 90f. mit Abb. A, sowie zur fehlerhaften Gefahrenbeurteilung ebd., 101; dazu ausführlicher auch im vorliegenden Band Kirstein et al. (siehe oben, S. 15 und S. 31–34). Mesk 1927. Mesk 1927, 666. So auch Amann 1931, 35; Höfler 1935, 3. Fron 2014, 213 mit Anm. 36, schließt sich dagegen der Datierung und Einordnung durch Behr an, verweist aber für die Bezüge „der Zeusrede auf den Hymnos auf Sarapis“ auf Amann und Höfler, ohne anzumerken, daß diese die Bezüge eher umgekehrt auswerten wollen (Anm. 36). Mesk 1927, 664f.: „Denn die Rede, in der er seine Ansicht begründet, dass die Prosa für das Lob der Götter geeigneter und diesen willkommener sei (8 f.), muss doch wohl an die Spitze der Götterhymnen in Prosa gestellt werden“ (S. 665). Vgl. hierzu auch Amann 1931, 35.

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Wiederholung des Mythos hinaus.23 Für Sarapis, wo sich die Frage eher aufdrängt, mag man darauf verweisen, daß Aristides sich aufgrund beeindruckender Erfahrungen in Ägypten zu diesem Gott hingezogen gefühlt hat24 und dann – folgt man der Hypothese oben – in abermaliger Seenot den Sarapis angerufen und nun ihm ebenfalls eine Preisrede versprochen hat. Auffällig ist dabei auch, daß Sarapis mit der – ja durchaus verbreiteten – akklamatorischen Formel als εἷς Ζεὺς Σάραπις tituliert wird.25 Diese Abfolge kann man gewiß als eine Art von verständlicher religiöser Entwicklung betrachten. Bedenkt man nun zusätzlich, daß die Zeus- und die Sarapis-Rede im Vergleich mit den anderen Götterreden in wichtigen Merkmalen abweichen, so ergibt sich ein bemerkenswerter Befund. Tatsächlich erweisen sich diese Reden – hinzu wird man wohl die kurze λαλιὰ εἰς Ἀσκληπιόν (Or. XLII) nehmen können – als ganz anders gefaßt als etwa die Reden auf Herakles (Or. XL) oder Dionysos (Or. XLI), um nur zwei Beispiele zu nennen: Jene Reden nämlich machen einen deutlich wärmeren Eindruck als die anderen und sind inhaltlich durch persönliche Bezüge und Erfahrungen bereichert, während die Behandlung des Mythos in ihnen zurücksteht, die in den übrigen Götterreden weiten Raum einnimmt. Vielleicht kann man eingeschränkt auch noch die Rede auf die Asklepiaden hier mitnennen, auch wenn dieses Stück – pejorativ formuliert – durchs Mythologische belastet erscheint. So hat man mit Recht bei der Suche nach persönlichen religiösen Überzeugungen des Aristides in seinen Hymnen diese drei besonders herangezogen.26 Wilamowitz hatte es so formuliert: „Zu Dionysos oder Herakles trieb ihn kein Glaube, aber allen Gottheiten des Kultus zu huldigen, ist ihm immer Pflicht gewesen und geblieben. Um so wichtiger sind die beiden Hymnen, auf Zeus und Sarapis, die vor seine Krankheit und seine Hingabe an seinen Heiland Asklepios fallen.“27 So kann man die Preisungen des Sarapis als Allgott durchaus als belastbaren religiösen Ausdruck verstehen, der über die sonst in den Götterreden gepflegte Frömmigkeit und Verehrung hinausgeht: eben eine wirkliche religiöse Überzeugung, die sogar ansatzweise theologisch reflektiert wird.28 Die ἱεροὶ λόγοι zeigen, daß die ägyptischen Götter tatsächlich für Aristides – freilich weit hinter Asklepios zurückstehend – große Bedeutung hatten. Man gewinnt den Eindruck, daß die ägyptischen Götter wieder besonders relevant für ihn werden, als ca. 148 n. Chr. sein Pflegevater Zosimos starb, was den Rhetor offenkundig in tiefe Trauer gestürzt hat. So treten jetzt wieder verstärkt Isis und Sarapis auf den Plan, wie insbesondere das Ende des dritten Buchs der ἱεροὶ λόγοι zeigt (Or. IL 45–50). Sie nämlich

23 Vgl. zur Vorstellung des Aristides von Zeus als höchstem Gott Boulanger 1923, 185–192. 24 Vgl. Höfler 1935, 1: „Aus dem ersten Paragraphen des Aigyptios (XXXVI. Keil) ersehen wir, mit welcher Hingabe er Ägypten durchforschte, und wenn einen, so hat ihn vor allem die Religion interessiert.“ Eine andere Bewertung der Interessen beziehungsweise Eindrücke der Ägyptenreise bei Wilamowitz-Moellendorff 1925, 336.339. 25 Vgl. zu dieser Titulierung auch Boulanger 1923, 185 mit Anm. 3. 26 Vgl. etwa die Deutung bei Höfler 1935, 3: „Das ist eine durchaus natürliche Entwicklung der Religiosität. Sonst kann ja von einer solchen in den Hymnen des Aristeides wenig die Rede sein: Die meisten sind Paradestücke mit allem Aufputz der Rhetorik und mit einer Leichtigkeit der Übertragung gewisser Gottesbegriffe von einem Gott auf den andern; nur diese drei Hymnen können als psychologisch gerechtfertigt gelten: der an Zeus, Sarapis und Asklepios. Diese sind tatsächlich ehrwürdige Marksteine eines religiös sich wandelnden Menschen.“ 27 Wilamowitz-Moellendorff 1925, 338. 28 Zur Auffassung des Aristides von Sarapis als „dieu tout-puissant et universel“ vgl. auch Boulanger 1923, 192–194, hier 192.

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können ein jetzt virulent gewordenes religiöses Bedürfnis befriedigen, indem sie die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode, ein irgendwie besseres Geschick im Jenseits versprechen, womit Asklepios nicht dienen konnte. Dieses anscheinend amplitudenartig sich steigernde und dann wieder absenkende Interesse an den ägyptischen Göttern hat Charles Allison Behr in einem Beitrag zur Festschrift Vermaseren von 1978 darzustellen versucht; er gibt dem Beitrag den vielsagenden Untertitel: „an unsuccessfull search for salvation“.29 Somit spricht einiges dafür, die Vorstellungen des Aristides von Zeus und Sarapis als aufeinander folgende Etappen seiner religiösen Biographie zu verstehen: Von der theologisch stark aufgeladenen Zeus-Verehrung hin zum Allgott Sarapis, der seine Bedeutung für Aristides auch später, nach seiner fast kompletten Hingabe allein an Asklepios, nie vollends eingebüßt hat. Diese Etappen lassen sich interessanterweise nun eben direkt mit den Erfahrungen des Aristides in Seenot verbinden.

* * * Kommen wir jetzt zu Aristides als Asklepios-Verehrer. Es nimmt natürlich nicht wunder, daß auch Asklepios dem Rhetor in Seenot zur Seite gestanden haben soll, wie der wesentlich später verfaßte kurze Asklepios-Hymnus (Or. XLII 10) zeigt: ἤδη τοίνυν τινῶν ἤκουσα λεγόντων ὡς αὐτοῖς πλέουσι καὶ θορυβουµένοις φανεὶς ὁ θεὸς χεῖρα ὤρεξεν, ἕτεροι δέ γε φήσουσιν ὡς πράγµατα ἄττα κατώρθωσαν ὑποθήκαις ἀκολουθήσαντες τοῦ θεοῦ· οὐδὲ ταῦτα ἀκούειν µᾶλλον ἢ λέγειν ἔχοµεν πεπειραµένοι. ὅσα δ’ αὐτῶν οἷόν τε ἀποµνηµονεῦσαι, ἐν τοῖς ἱεροῖς καὶ ταῦτα ἔνεστι λόγοις.30

Ferner habe ich Leute erzählen gehört, daß der Gott ihnen erschienen sei und seine Hand ausgestreckt habe, als sie zu Schiff unterwegs waren und in Schwierigkeiten gerieten; andere werden sagen, daß sie verschiedene Unternehmungen erfolgreich zu Ende geführt haben, weil sie den Anweisungen des Gottes Folge leisteten. Keineswegs haben wir nur von solchen Dinge gehört, sondern vielmehr haben wir davon zu erzählen, weil wir selbst solche Erfahrungen gemacht haben. Wieviel davon erwähnt werden kann, das steht auch in den Hieroi Logoi.

Hier betont Aristides, daß er die Hilfe des Asklepios zur See nicht nur vom Hörensagen kenne, sondern eben selbst einschlägige Erfahrungen gemacht habe. Diese Erfahrungen schildert er aber nicht einmal ansatzweise, sondern verweist kurzerhand auf seine große, hauptsächlich seine Krankheiten und die Beziehung zu Asklepios behandelnde Schrift ἱεροὶ λόγοι. In ihr finden sich zwei ausführlich geschilderte Erlebnisse von Seenot, nämlich erstens die Rückreise von seinem Rom-Aufenthalt im Jahre 144 n. Chr.31 im zweiten Buch (Or. XLVIII 65–68); zu 29 Behr 1978. 30 Russell hält den letzten Satz des Paragraphen (ὅσα [. . .] λόγοις) für eine Interpolation, die erneut künstlich einen Bezug zu den ἱεροὶ λόγοι herstellen will: Russell u. a. 2016, 62, Anm. 126; siehe ebenso Text und Übersetzung, S. 48f., sowie die Introduction von Michael Trapp, S. 27. 31 Ob man hier von einem ersten Aufenthalt in Rom sprechen und somit auch einen zweiten annehmen sollte, ist umstritten. Damit hängt freilich auch die Datierung der berühmten Rom-Rede des Aristides (Or. XXVI) zusammen. Behr hatte leidenschaftlich für einen zweiten Rom-Aufenthalt im Jahre 155 n. Chr. sowie die Datierung

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dieser Reise erzählt er im vierten Buch eine weitere Episode, wobei er sich genauer den Vorkommnissen in der Ägäis widmet, auf die er im zweiten Buch (§ 68) schon kurz hingewiesen hatte, und zwar den Aufenthalt auf Delos (Aristid. Or. L 33–36). Zweitens ist im zweiten Buch ausführlich die eher kurze Überfahrt über die Bucht von Smyrna von Klazomenai nach Phokaia erzählt (Or. XLVIII 12–14), während der ein Sturm losbricht, und Schiff sowie die Menschen an Bord – wie Aristides sagt – „viele verschiedene Gefahren“ zu überstehen hatten (πολλὰ δὲ καὶ παντοῖα κινδυνεύσαντες, § 12); abgeschlossen wird diese Episode durch die bemerkenswerte Inszenierung eines „Schiffbruchs“ mit einem kleinen Boot.32 Beiden Erzählungen widme ich mich anhand eines in vierlerlei Hinsicht umstrittenen Inschriftenfragments aus Pergamon, das breit göttliche Hilfe in Seenot thematisiert (IvP III 145). Diese Inschrift ist deshalb hier zu behandeln, weil sie – wenn denn die Zuweisung an Aristides als ihren Autor stimmte – den Befund im Blick auf die von Aristides reklamierte göttliche Hilfe in Seenot erweitern und in bestimmten Aspekten profilieren könnte; dazu im folgenden, zunächst aber der Text nach Habicht:33

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[– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – ] [– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – ] [κληθεὶς ἐν νυξίν τε καὶ ἤµασι πολλ] άκι [παῦσας] [τειρόµενον νούσωι καρφαλ] έ. η. ι. κραδίην. [εἰν ἁλὶ δὲ πρόφρων µου] κήδεαι οὐδ’ ἐσ [ορᾶις µε] [δεινὰ βιαζόµενον] πήµασι λευγαλ [έοις] , [ἀλλ’ ἀδεῶς µὲν πέµψας] , ὅτε πλώοντά µε ∆ [ήλωι] [ἴσχες ἅµ’ Αἰγαῖον τ’ οἶδ] µα καταστόρεσας, [ῥύσαο δ’ αὖ ναυηγό] ν, ὅτε στροφάλιγγι βαρεί [ηι] [κῦµα τρόπει µι] κρῆι στῆσας ὑφ’ ἡµετέρηι, [πρήυνας δ’ ἀνέ] µους, ὅτ’ ἐπ’ ἄνδρασι µαίνετ’ ἀ [ήτης] [αἰνὴν ἀµ] φ’ αὐτοῖς αἶσαν ἄγων θανάτου. [ἐκ δ’ ἀλέη] ς µε σάωσας ἀεικέος ἔκ τε ῥο [άων] [χειµε] ρίων ποταµῶν ἔκ τ’ ἀνέµοιο βίη [ς] . [αὐτὸς δ’] Αὐσονίων ἕταρον ποίησας ἀν [άκτων] [καὶ κλέ] ος ἐκ πολίων ἐσθλὸν ἔνευσ [ας ἄγειν] [εὐλογίηι ζ] αθέης Βειθυνίδος ἔνδοθι [χώρης] [καὶ γῆν θεσπ] εσίην σὴν ἀνὰ Τευθρ [ανίην] .

der Rom-Rede auf diesen Besuch argumentiert und sich dafür auf eine Stelle im sechsten Buch der ἱεροὶ λόγοι berufen (Or. LII 3, wo von περὶ τῶν ἐν ᾽Ιταλίᾳ µεγάλαι προρρήσεις die Rede ist) sowie auf die seines Erachtens festzustellende Unwahrscheinlichkeit, die Rom-Rede schon dem Besuch im Jahre 144 n. Chr. (oder nach anderen 143 n. Chr.) zuzuweisen. Vgl. dazu Behr 1968, 23f. mit Anm. 6.88f. mit Anm. 92; Behr 1981, 373; ebenso votiert Swain 1996, 256f.265f. mit Anm. 49.274. 32 §§ 13f., siehe unten, S. 222. 33 Habicht 1969, Nr. 145 (S. 144f.) nach dem Text von: Herzog 1934, (754.)757; mit brieflich übermittelten Korrekturen von Herzog selbst bei: Gerth 1941, 99. Vgl. auch (zum Teil mit Übersetzungen): E. Edelstein/L. Edelstein 1945, T. 596 (S. 331f.) (alter Text von Herzog mit engl. Übersetzung); Bowie 1989, 219f. (Text nach Habicht, mit engl. Übersetzung); Behr 1986, 425f. (engl. Übersetzung nur der erhaltenen Passagen, ohne die Herzogschen Ergänzungen); Girone 1998, Nr. IV.1 (S. 140– 146) (Text nach Habicht S. 142, ital. Übersetzung S. 143f.); Merkelbach/Stauber 1998, Nr. 06 / 02 / 16 Pergamon (S. 594–596) (vorsichtig rekonstruierter Text unter Benutzung vor allem der Vorschläge von Herzog und Maas); Puech 2002, 503 (erhaltener Text mit sehr vorsichtigen Ergänzungen).

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Abbildung 24: IvP III 145 (Habicht 1969, Taf. 40) [ἀνθ’ ὧν σὸν τιµ] ῶ τε καὶ ἅζοµαι οὔν [οµα, Σῶτερ] ,34 [κληίζων χω] ρῆς πε [ίρ] ατ’ [ἐς ἡµεδαπῆς] .35 [. . . ] Angerufen bei Nacht und Tag, hast du mir oft Ruhe verschafft, | der ich im Herzen von dumpfer Krankheit gequält war. | Auf See hast du dich freundlich um mich gekümmert und nicht mit angesehen, wie ich | schrecklich bedrängt wurde vom jammervollen Verderben, | sondern sicher hast du mich geleitet, als du mich, der ich gerade zu Schiff unterwegs war, auf Delos | festhieltest und sogleich den ägäischen Wogenschwall stilltest; | wieder rettetest du 34 Maas 1935 rekonstruiert vv. 9–17 so: λββλββ] µους, ὅτ’ ἐπ’ ἄνδρασι µαίνετα. [λι | [10] αἰνὴν ἀµ] φ’ αὐτοῖς αἶσαν ἄγων θανάτου. | ἐκ δ(ε) ****] ς µε σάωσας ἀεικέος ἔκ τε ῥο [άων | χειµε] ρ. .ίων ποταµῶν ἔκ τ’ ἀνέµοιο βίης. | ἀλλὰ καὶ] Αὐσονίων ἕταρον ποίησας ἀν. [άκτων | καὶ κλέ] ος ἐκ πολίων ἐσθλὸν ἔνευσ [ας ἔχειν | | [15] τῶν θ’ ὅσσαι ζ] α. θέης Βιθυνίδος ἐνδόθι [κεῖνται, | τῶν θ’ αἳ θεσπ] εσίην σὴν ἀνὰ Τευθρ [ανίην. | νῦν δέ σε κληίζ] ω τε καὶ ἅζοµαι οὕν. [εκα λι. 35 Jones 2004, 98, schlägt für vv. 15–18 vor: [οὐ µόνον ἠγ] αθέης Βειθυνίδος ἔνδοθι [γαίης] , | [οὐδ’ αὖ θεσπ] εσίην σὴν ἀνὰ Τευθρ [ανίην] , | [ἀλλά σε κληίζ] ω τε καὶ ἅζοµαι, οὕν. [εκα πάσης] | [ἤγαγες ἐς χώ] ρης πε [ίρατα κῦδος ἐµόν] .

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mich als Schiffbrüchigen, als du in heftigem Wirbel | die Woge unter unserm kleinen Kiel erregt hast, | die Winde hast du besänftigt, wenn das Wehen gegen die Menschen raste | und sie ringsum mit dem furchtbaren Geschick des Todes bedrohte. | Du hast mich aus Gluthitze gerettet, aus | winterlichen Flußströmen und aus der Gewalt des Windes. | Selbst hast Du mich zum Gefährten der ausonischen Herrscher gemacht | und mir gewährt, großen Ruhm bei den Städten zu gewinnen | durch Lobpreis im heiligen bithynischen Land | und in deinem gottgeweihten teuthranischen Land. | Für diese Taten dankend, ehre ich und huldige deinem Namen, Heiland, | ich besinge dich bis an die Enden unseres Landes.

Hierbei handelt es sich um ein Inschriftenfragment, das im Bereich der Südhalle des Asklepieions von Pergamon gefunden wurde, und das Wiegand 1932 in seinen Zweiten Bericht über die Ausgrabungen in Pergamon 1928–32: Das Asklepieion aufgenommen hat; er hatte es als Weihinschrift für Ἀσκληπιὸς Σωτήρ gedeutet und sehr konkret als Dankesgabe des Caracalla für eine Rettung aus Seenot erläutert.36 Adolf Wilhelm ist ihm darin gefolgt und erklärt ausdrücklich Caracalla zum Sprecher des Dankgedichts,37 während Wilhelm Weber dieselben Geschehnisse ins Auge gefaßt, aber als Verfasser den Historiker Cassius Dio angesehen hatte.38 Rudolf Herzog hat kurz darauf gegen diese Deutungen kraftvoll die Hypothese vertreten, der in elegischen Distichen abgefaßte Text sei eine Weihung des Aelius Aristides für Asklepios.39 Die Herzogsche Rekonstruktion ist sicher als gewagt einzuschätzen, weil er sich an der Wiederherstellung fast gänzlich verlorener Zeilen in einem Text versucht, bei dem man nicht auf ein Formular zurückgreifen kann.40 Trotzdem ist sein Rekonstruktionsversuch beeindruckend und, wenn man die Zuweisung an Aristides ernsthaft erwägt, in gewisser Weise bestechend. Herzog hat natürlich Widerspruch erfahren, aber auch Zustimmung und Bewunderung. Zu den Kritikern gehört Charles Allison Behr; er hat sich sogar veranlaßt gesehen, seine Übersetzung lediglich des unergänzten Texts des Fragments unter der Rubrik „Inscriptions falsely attributed to Aristides“ in Band I seiner großen Aristides-Sammlung aufzunehmen.41 Seine Kritik an Herzogs Zuweisung und Rekonstruktionsversuch wertet neben dem massiven Gebrauch des augmentlosen Aorist vor allem auch die Erwähnung Bithyniens und die Darstellung der Flußbäder aus; in Band I seiner Sammlung hatte er die für ihn entscheidenden Gegenargumente in vier Punkten kurz zusammengefaßt:42 1. Die Erwähnung von Bithynien in v. 15, wo Aristides nie gewesen sei. 2. Die Auslassung von Ionien in vv. 14–16, wo Aristides seine größten Erfolge hatte.43 36 Wiegand 1932, Nr. 6 (S. 53f.) 37 Die Inschrift ist bei Wilhelm ausführlich behandelt: Wilhelm 1933, 836–846 (Nr. I); S. 838 findet sich die explizite Zuweisung. 38 Weber 1932, 57, Anm. 3: Er gehöre „einem aus Bithynien stammenden comes Augusti (Z. 13)“ – „wohl kaum ein anderer als Dio Cassius“. 39 Siehe den schon erwähnten Beitrag Herzog 1934. 40 Vgl. Maas 1935, 441, der feststellt: „2–9 zu ergänzen ist Spiel;“ siehe oben, S. 218, Anm. 34, seine Rekonstruktion der vv. 9–17. 41 Behr 1986, 425f. 42 Behr 1986, 506 (Anm. 15 zu S. 425). Ausführlicher äußert er sich zur Deutung der Inschrift durch Herzog in seinem späteren Beitrag: Behr 1994, 1217–1219. 43 Die Einwände Nr. 1 und 2 sind bei Berücksichtigung des alternativen Ergänzungsvorschlags von Jones (siehe oben, S. 218, Anm. 35) als weit weniger stichhaltig einzuschätzen, weil mit ihm ja Bithynien und Teuthranien nur noch

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3. Die Darstellung der Flußbäder. 4. Augmentauslassung. Über Behr hinaus gehört zu den weiteren Kritikern etwa schon Helmut Kasten, der erklärt: „So bestechend die Ausführungen Herzogs auf den ersten Blick sind, so überzeugen sie doch nicht völlig; die bei Aristeides aufgewiesenen Parallelen sind meines Erachtens doch nicht so charakteristisch, daß man aus ihnen unbedingt auf den gleichen Verfasser schließen müßte, sie gehen kaum über das hinaus, was jeder andere Dichter eines Asklepioshymnos eben auch gesagt haben könnte“.44 Weiter zeigt sich auch Bernadette Puech skeptisch.45 Herzogs Rekonstruktion hat aber auch namhafte Fürsprecher gefunden, wie Reinhold Merkelbach und Josef Stauber46 sowie Christopher P. Jones, der seinen 2004er ZPE-Beitrag zu dieser Inschrift folgendermaßen abschließt: „The positive arguments for Aristides’ authorship are almost too obvious to need rehearsing: his devotion to Asclepius, his long association with the Asclepieion of Pergamon, his activity (not least his poems written on dedications in the Asclepieion), his belief that the god oversaw almost all his actions and his successes. It is possible that an unidentifiable contemporary shared all these characteristics, but it is shurely more economical to ascribe the poem, as Herzog did, to Aelius Aristides.“47 Wenigstens auf das Behrsche Argument der verzerrenden Darstellung der Flußbäder ist hier noch kurz einzugehen. Kasten hatte diesen oben als dritten genannten Punkt auch schon aufs Korn genommen: „[. . . ] vor allem aber: wie dürfte Aristeides in bezug auf die ihm von Asklepios als Kur verordneten winterlichen Flußbäder sagen »du hast mich aus den Strömungen winterlicher Flüsse gerettet«? Damit scheidet der Hauptpunkt in Herzogs Beweisführung als nicht stichhaltig aus.“48 Behr faßt dann genau dieses Argument so: „The ‚miraculous‘ nature of these insane prescriptions was that there was paradoxically no danger involved in them, since they were cures ordained by Asclepius. Nowhere does Aristides even hint that he was saved from such perils. Rather he was saved by such perils.“49 Herzog hatte sich für seine Deutung der Stelle vor allem auf die Schilderung des Bades im Selinus in Pergamon (Or. XLVIII 52f.) bezogen,50 wo ja tatsächlich die möglichen Gefahren der Situation mit Händen zu greifen sind, wenn etwa die starke Strömung (anschaulich durch ἠχὴ δὲ καὶ θόρυβος) und Treibgut wie Steine und Holz (πέτραι/ὕλη) erwähnt werden.51 Die Verzerrung nun, die man mit Herzog annehmen müßte, bestünde dann lediglich darin, daß Aristides im Nachhinein dem Gott für die Rettung aus oder wunderbare Bewahrung in Umständen dankte, in die er ja gerade erst durch Anordnung

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unter anderem genannt werden und das Ganze nun auf die Ausbreitung des Ruhms ἐς χώρης πείρατα (Z. 18) hinausläuft. Kasten 1942, 133f. Puech 2002, 502f. Vgl. auch ihre Bemerkungen in AÉ 2004 (2007), Nr. 1389 (S. 495), worauf auch SEG 54 (2004) [2008], Nr. 1242ter (S. 435), verweist. Merkelbach/Stauber 1998, 594: „R. Herzog hat in dem hier folgenden Gedicht so viele Anklänge an Ereignisse und Gedanken gefunden, welche in den Schriften des Aelius Aristides vorkommen, dass seine Folgerung unausweichlich ist: Dieses Gedicht ist von Aristides selbst verfasst.“ Jones 2004, 98. Kasten 1942, 134. Behr 1994, 1218. Herzog 1934, 763. Vgl. auch die berühmte Schilderung des Bades im Fluß Meles bei Smyrna (Aristid. Or. XLVIII 20f.).

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des Gottes gekommen war. Daß dem Aristides solcherlei möglicherweise doch zuzutrauen ist, kann man mit Blick auf eine andere Stelle zeigen, nämlich die schon erwähnte und gleich noch anzusprechende Seenotsituation bei der Überfahrt nach Phokaia (Or. XLVIII 12–14), wo er den Gott ausdrücklich als Retter preist (§ 14), obwohl gerade dieser offenbar durch Befehl im Traum für die Überfahrt verantwortlich zeichnet (§ 12).52 Damit ist also die Argumentation von Kasten und Behr nicht vernichtend für die Herzogsche Zuweisung des Gedichts. Hier ist nun aber in erster Linie der Textausschnitt zu behandeln, der die Hilfe in Seenot thematisiert (die drei Distichen vv. 5–10): (1) Das Distichon vv. 5f. will Herzog nun auf den Aufenthalt auf Delos (Or. L 33–36) beziehen und ergänzt flugs ∆ήλωι sowie ἴσχες.53 Auf dieser ägäischen Insel hatte Aristides (aus Ärger über den Steuermann) die Abfahrt verweigert und nach einem Besuch im Apollonheiligtum sich auf sein Zimmer begeben – mit Anweisung an seine Diener, die Leute vom Schiff wegzuschicken, falls die zur Abfahrt drängten. Die wollten auch tatsächlich in See stechen, wurden aber schroff abgewiesen (§ 34). Zum Ende der Nacht brach dann ein gewaltiger Sturm los, der zahllose Schiffe im Hafen beschädigte und einige auf Land gespült hat.54 Am Morgen kamen dann die Freunde und auch die zuerst verstimmten Seeleute, um sich bei Aristides für die Bewahrung vor großem Unheil zu bedanken. Aristides formuliert das so (Or. L 36): ἅµα δὲ τῇ ἕῳ παρῆσαν µὲν οἱ φίλοι σπουδῇ, οὓς ἔτυχον ἀνειληφὼς ἰδίοις τέλεσι πλέων, εὐεργέτην, σωτῆρα ὀνοµάζοντες, συγχαίροντες τῆς παρὰ τῶν θεῶν προνοίας· παρῆσαν δὲ καὶ οἱ ναῦται χάριν ἤδη εἰδότες καὶ θαυµάζοντες ἐξ οἵων κακῶν ἐπικειµένων ἐσώθησαν [. . .]

Gleich bei Tagesanbruch waren meine Freunde eilig herbeigekommen, die ich auf eigene Kosten auf die Fahrt mitgenommen hatte, nannten mich ihren Wohltäter, ihren Retter, und freuten sich mit mir über die Vorsehung der Götter. Da waren dann auch die Seeleute da, die sich jetzt dankbar zeigten und darüber staunten, aus welch großem Übel, das ihnen drohte, sie gerettet worden waren [. . . ]

Aristides und seine Freunde schrieben es also der göttlichen πρόνοια, der Vorsehung, zu, daß sie auf solche Weise gerettet wurden; Aristides selbst geht aber noch weiter und spielt mit dem Gedanken, daß sein auf Anweisung des Apollon gedichteter Paian für das Überstehen der 52 Vgl. meine Überlegung zur Stelle: Börstinghaus 2010, 53, und zur Deutung des ἐδόκει (§ 12) im Sinne einer Beauftragung im Traum S. 49 mit Anm. 52. Ähnlich hatte auch schon Jones dem Argument entgehen wollen: Jones 2004, 97. 53 Herzog 1934, 758f. 54 § 35: ἀλεκτρυόνων τε ᾠδαὶ πλησίον ἦσαν, καὶ καταρρήγνυται σκηπτὸς ἐξαίσιος καὶ ἡ θάλαττα ἠλαύνετο λαίλαπι ἀγρίᾳ καὶ πάντα ἐπεκλύζετο, καὶ τὰ πλοιάρια τὰ ἐν τῷ λιµένι τὰ µὲν εἰς τὴν γῆν ἐξέπιπτεν, τὰ δ’ ἀλλήλοις ἐνέπιπτε καὶ συνετρίβετο· ἡ δ’ ὁλκὰς ἡ κοµίζουσα ἡµᾶς ἀπορραγέντων τῶν καλωδίων ἐκυλινδεῖτο ἄνω καὶ κάτω, καὶ µόλις σὺν βοῇ πολλῇ καὶ ταραχῇ τῶν ναυτῶν διασώζεται· καὶ ἐπιγίγνεται ὕδωρ ἐξ οὐρανοῦ πολὺ καὶ λάβρον, καὶ ἐν τῇ νήσῳ θόρυβος ἦν ὥσπερ ἐν νηΐ (Die Zeit des Hahnenschreis

war da, und es brach ein ungeheurer Sturm los, das Meer wurde vom wilden Sturmwind aufgewühlt und alles wurde überspült; die Schiffe, die im Hafen lagen, wurden teils aufs Land geschleudert, teils liefen sie gegeneinander und wurden zertrümmert. Das Frachtschiff, das uns transportierte, trieb mit zerrissenen Tauen auf und ab und konnte nur mit Mühe, unter lautem Geschrei und unter Aufregung der Seeleute gerettet werden. Dazu trat noch starker und heftiger Regen ein, und auf der Insel herrschte Aufruhr wie auf einem Schiff; Übersetzung aus Börstinghaus 2010, 58).

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gesamten Reise in Rechnung zu stellen sei, und somit eben Apollon (!) gleichsam als göttliche Dankesgabe die Rettung gewährt haben könnte (Or. L 31.36f.).55 (2) Vv. 7f. will Herzog auf eine der wohl amüsantesten Episoden aus den ἱεροὶ λόγοι beziehen, nämlich das Bootskentern im Hafen von Phokaia (Or. XLVIII 13);56 dabei handelt es sich sozusagen um die Nachgeschichte zur stürmischen Überfahrt über die Bucht von Smyrna (Or. XLVIII 12). Nach der Bewahrung in wirklicher Seenot wird dem Aristides nämlich von Asklepios offenbart, daß das Unheil geschehen sei, weil ihm vom Schicksal Schiffbruch nun einmal verhängt worden sei. Asklepios gibt daher Anweisung, dieses Schicksal voll und ganz zu erfüllen, und zwar so: Aristides soll sich ein kleines Boot nehmen und es dann irgendwie zum Kentern bringen, aber solchermaßen, daß er von irgend jemandem bequem aus dem Wasser gezogen werden könnte. Damit sei, so der Gott, das Schicksal erfüllt. Aristides setzt das natürlich mit Freuden ins Werk (ἐποιοῦµεν ταῦτα ἄσµενοι δηλονότι, § 13). Aristides schreibt selber (Or. XLVIII 13f.): [. . .] καὶ νῦν ἔτι δέοι ὑπὲρ ἀσφαλείας καὶ τοῦ παντάπασιν ἐκπλῆσαι τὸ χρεὼν ἐµβάντα εἰς λέµβον ἐν τῷ λιµένι οὕτω ποιῆσαι· ὡς τὸν µὲν λέµβον ἀνατραπῆναι καὶ καταδῦναι, αὐτὸν δὲ ἐξάραντός τινος ἐξενεχθῆναι πρὸς τὴν γῆν· ἐν γὰρ τούτῳ τελεῖσθαι τὰ ἀναγκαῖα. ἐποιοῦµεν ταῦτα ἄσµενοι δηλονότι. | καὶ πᾶσι δὴ θαυµαστὸν ἐδόκει τὸ σόφισµα τῆς ναυαγίας ἐπ’ ἀληθινῷ τῷ κινδύνῳ γενόµενον. [. . .]

[. . . ] und jetzt sei es nötig, sicherheitshalber das, was geschehen müsse, ganz und gar zu erfüllen, und ich sollte, nachdem ich ein kleines Boot im Hafen bestiegen hätte, es so einrichten, daß der Kahn kentere und untergehe, ich aber von irgendjemandem herausgezogen und an Land gebracht würde; damit werde das Notwendige erfüllt. Wir führten das natürlich mit Freuden aus. | Allen erschien tatsächlich der schlaue Kunstgriff mit dem Schiffbruch nach der überstandenen wirklichen Gefahr bewunderungswürdig. [. . . ]

Ob die von Herzog angenommene „Woge unter dem kleinen Kiel“ (v. 8) dazu paßt, kann man so oder so beurteilen.57 (3) Das letzte die Seefahrt betreffende Distichon (vv. 9f.) ordnet Herzog nicht explizit zu, sondern versteht es als zusammenfassende Schau mehrerer erfahrener Sturmstillungen durch den Gott.58 Christopher Jones will dieses Distichon nun aber konkreter auf die eben geschilderte Delos-Episode beziehen, mit der Herzog ja vv. 5f. in Verbindung gebracht hatte. Jones beruft

55 Vgl. zu dem Seefahrtserlebnis auf der Rückreise von Rom Börstinghaus 2010, 53–58. 56 Herzog 1934, 759f. 57 Herzog hatte selber zur Rechtfertigung seiner Ergänzung formuliert (Herzog 1934, 760): „Ich wollte danach zuerst κύµατα νηὶ µικρῆι setzen, aber H i l l e r v o n G a e r t r i n g e n warnte mich, weil erst ganz spät μ˘ικρός gemessen wird. Es hatte mir auch gleich nicht recht gefallen, weil es sich auch bei Aristeides um einen Kahn handelt, was weniger ist als ein kleines Schiff. Ich fand guten Ersatz in κῦµα τρόπει (oder -π¯ι) µικρῆι. Das Wort τροπίς »Kiel« hat schon Homer, es paßt hier besonders gut, weil Aklepios [sic!] die Welle u n t e r d e m K i e l in einem schweren Strudel sich erheben läßt, wie bei Homer Φ 313 Skamandros dem Simoeis zuruft: ἵστη δὲ µέγα κῦµα (vgl. v. 306f. 326f.), um den Achilleus umzuwerfen. In späterer Dichtung ist τροπίς auch als pars pro toto für Kahn oder Schiff beliebt [. . . ]“. 58 Herzog 1934, 760f.; er schließt die Besprechung dieses Distichons mit: „Es ist möglich, daß Aristeides mit diesem letzten Fall v. 9f. alle seine Sturmerlebnisse zusammenfassen will“ (S. 761).

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sich darauf, daß v. 9 mit ἐπ’ ἄνδρασι andere Leute gemeint seien als der Weihende selbst.59 So kann er die Stelle mit dem Aufenthalt auf Delos gut verbinden, weil Aristides dort ja den Sturm mehr oder weniger gemütlich in seinem Pensionszimmerchen abgewettert hat, während die Menschen draußen auf See und noch im Hafen massiv vom Unwetter betroffen waren. Dann freilich bezieht er die weiter vorn stehenden vv. 5f. nicht auf den Aufenthalt auf Delos wie Herzog, sondern auf die ebenfalls stürmische Fahrt in der Ägäis auf Delos zu.60 Als Konsequenz daraus wird er aber natürlich die Herzogsche Ergänzung ἴσχες v. 6 nicht halten können oder anders deuten müssen – doch über diese Ergänzung redet er nicht. Wie immer man über die Details der Zuordnung zu einzelnen Notizen des Aristides denkt, so kommt jedenfalls keiner der Interpreten, die für die Zuweisung der Inschrift an Aristides plädieren, ohne einen Bezug auf die in jedem Reiseabschnitt ja aus Sicht unseres Rhetors desaströse Rückreise von Rom aus. Damit ergibt sich nun über die Einwände gegen eine Identifikation des Weihenden mit Aristides, die etwa Behr gesammelt hat,61 eine aus meiner Sicht besonders interessante Schwierigkeit: Diese Rückreise vom Rombesuch im Jahre 144 n. Chr.62 liegt vor der – vielleicht etwas gewagt – fast als Bekehrung zu verstehenden Hinwendung zu Asklepios, die nämlich erst mit der von Ärzten nicht zu bewältigenden Krankheit des Aristides anhebt (Or. XLVIII 7: [. . .] ἐνταῦθα πρῶτον ὁ Σωτὴρ χρηµατίζειν ἤρξατο. [. . .]). So wird das glückliche Überstehen der verschiedenen Bedrohungen auf See auf dieser Reise ja auch Apollon zugeschrieben und nicht Asklepios. Somit hätten wir dann, wenn wir der Zuweisung an Aristides und dem Bezug auf diese Reise folgen, das Phänomen zu konstatieren, daß Aristides in seiner Weihinschrift eine, ja vielleicht sogar mehrere Rettungstaten (bei Jones) in der Rückschau (fälschlicherweise) dem Asklepios zugeschrieben hätte, die er in den ἱεροὶ λόγοι dem Apollon verdankt hatte. Vielleicht aber paßt das sogar zum religiösen Wesen des Aristides, der in seinem begeisterten Überschwang, was Asklepios betrifft, kaum haltzumachen vermag und auch sonst das Handeln verschiedener Götter in eins bringen kann. Einen Zug in diese Richtung kann man vielleicht auch in der die Delos-Episode abschließenden Reflexion erkennen, wo das Handeln des Apollon mit dem des Asklepios verknüpft wird (Or. L 37). Gewiß bleibt die Zuweisung dieser Inschrift an Aristides unsicher;63 allerdings würde das den Befund, der sich auch schon aus den ἱεροὶ λόγοι und der λαλιὰ εἰς Ἀσκληπιόν ergibt, enorm verdichten und profilieren. So wäre das Urteil, daß die Hilfe in Seenot, die Aristides den Göttern und näherhin gerade Asklepios verdanken will, entscheidend mit zum religiösen Selbstverständnis des Rhetors gehört, deutlich untermauert. Die Bewahrung in Gefährdungen zur See ist somit neben zwei andere Aspekte zu stellen: Als erstes ist da natürlich die Krankheit des Aristides zu nennen, die ihn zunächst einmal überhaupt zu Asklepios führt. In immer wieder neuen Wellen der Verschlimmerung und zwischenzeitlichen Verbesserung seines körperlichen

59 Jones 2004, 97: „The couplet refers to ‚winds‘, and to others than the author himself who were endangered by a storm.“ 60 Jones 2004, 96. 61 Siehe oben, S. 219f. 62 Zur Frage, ob es sich hierbei um den ersten Besuch in Rom gehandelt hat, siehe oben, S. 216f., Anm. 31. 63 Siehe oben, S. 219–221.

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Zustands intensiviert er die Beziehung zu seinem, inzwischen als persönlichen Σωτήρ empfundenen Gott auf ein Höchstmaß. Dabei treibt ihn die Hoffnung auf Heilung oder wenigstens Linderung seiner Leiden immer aufs neue an; die Freude, in gesundheitlichen Angelegenheiten ganz spezieller Offenbarungen teilhaftig zu werden, tritt hinzu. Man kann die Krankheit des Aristides geradezu als den Brennstoff verstehen, der das zwischen ihm und Asklepios lodernde religiöse Feuer mit immer neuer Energie versorgt. Dazu ist ein Zweites zu erwähnen – sicher funktional der Krankheit gegenüber als etwas weniger bedeutsam einzustufen, aber für das präsentierte Selbstverständnis des Aristides wohl nicht minder wichtig:64 Je länger und intensiver die Beziehung zu Asklepios sich gestaltet, um so mehr schreibt er ihm auch die Förderung in seiner rhetorischen Profession zu. In Zeiten annähernd völligen Darniederliegens sind es zuweilen Offenbarungen des Asklepios, die ihn zur Neuaufnahme seiner Tätigkeit animieren. Ja, zum Teil erhält er sogar Themen und ansatzweise Vorlagen für anzugehende Rede- oder Gedichtprojekte. Die λαλιὰ εἰς Ἀσκληπιόν (Or. XLII) ist da auch wieder zu nennen, weil hier ganz besonderes Gewicht darauf gelegt wird, daß Aristides alles, was er ist, was sein Leben ausmacht – als Rhetor nämlich – ganz und gar dem Asklepios verdankt. In dieser Denkrichtung tendiert Aristides an manchen Stellen dazu, seine gesamte Existenz von der Beziehung zu seinem Σωτήρ her zu verstehen: seine Gesundheit, seine Rednerkarriere, sein physisches Leben; aber die Freude, vom Gott so herausragend gewürdigt zu werden, überstrahlt all das manchmal noch und läßt es in die zweite Reihe treten. Das ließe sich an mancher Stelle zeigen. Als drittes – vielleicht wiederum etwas abgestuft – wäre dann, was die Bewahrung des physischen Lebens betrifft,65 eben auch der Aspekt der Rettung aus Seenot zu nennen, sei es nur als Bewahrung vor Unheil oder sogar als Abwendung des Todes. Als Kranker, als Rhetor und eben als Seereisender fühlt sich Aristides offenbar wunderbar geborgen bei Asklepios.

* * * Zusammenfassend läßt sich also folgendes formulieren: 1. Die Seenotnotizen des Aristides, in denen er den Anspruch erhebt, göttliche Hilfe erfahren zu haben, lassen sich als – sicher fragmentarische – Repräsentation seiner religiösen Biographie 64 Anders setzt Downie 2013 diese Aspekte ins Verhältnis zueinander; die Hauptthese ihrer Studie ist, daß die religiöse Rhetorik der ἱεροὶ λόγοι der professionellen Selbstdarstellung als Rhetor diene, der Aspekt der Rhetorik also stärker zu betonen sei, als es zuweilen geschehe (vgl. etwa Downie 2013, 7.33f.187f. und öfter): „[. . . ] in the HL, I suggest, Aristides pushes the rhetoric of religion to its limts. At the vanishing point, in the pages of hist firstperson memoir, logoi and iera merge“ (ebd., 7). 65 Ein zu ergänzender Einzelfall in Sachen Bewahrung des physischen Lebens, der mit der Seefahrt nichts zu tun hat, ist noch die von Aristides dem Asklepios zugeschriebene Rettung vor dem Erdbeben im Raum Smyrna im Jahre 177 (siehe zur Datierung auf 177 Behr 1968, 112, Anm. 68): ὅπως δὲ αὐτὸς ἐξέφυγον ποθεῖτε ἴσως ἀκοῦσαι. ἡµέραις τισὶ πρότερον τῶν συµβάντων ἐκίνησέ µε ὁ θεὸς καὶ κατέστησεν εἰς χωρίον τι, καὶ προσέταξε κατὰ χώραν µένειν, οὗ δὴ καὶ διατρίβων τὰ συµβάντα ἐπυθόµην (Ihr begehrt vielleicht zu hören, wie ich

selbst entkommen bin. Einige Tage vor dem Geschehen bewegte mich der Gott und brachte mich auf ein Landgut, und er befahl mir, dort zu bleiben, wo ich dann auch während meines Aufenthalts erfuhr, was geschehen war, Or. XIX 6, ähnlich auch Or. XX 3). Vgl. dazu auch Downie 2013, 16f., die das Beben 176 ansetzt. Siehe zur Beziehung des Aristides zu Smyrna umfassend Franco 2005 (Datierung des Bebens auf 178, ebd., 471).

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lesen: vom schon theologisch erhöhten Zeus über Sarapis, der weiterhin bis zu einem bestimmten Punkt, wenn auch zeitweise nur latent, bedeutend bleibt, zu Asklepios als dem ganz persönlich empfundenen Retter, als dessen bevorzugten Adepten sich Aristides begreift. 2. Die Seenotnotizen des Aristides fügen zu Krankheit und Rhetorentätigkeit ein weiteres Feld hinzu, in dem Aristides sich als von den Göttern, zum Schluß natürlich (fast) ausschließlich von Asklepios besonders Begünstigter ansieht. Die Bewahrung vor und Rettung aus Gefahren zur See gehören mithin zu den konstitutiven Elemente der Selbstcharakterisierung seiner Religiosität, ja seiner (religiösen) Identität, wie er sie literarisch, vor allem in den ἱεροὶ λόγοι, konstruiert.

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Zwillinge an Bord Die Schiffsreise des Apostels Paulus nach Puteoli und der Verweis auf die Dioskuren in Apg 28,11* Karl Matthias Schmidt (Gießen) Bis Melite geht (fast) alles schief, ab Melite läuft alles glatt. So könnte man die Erzählung über die Schiffsreise des Apostels Paulus von Caesarea Maritima nach Puteoli zusammenfassen. Nachdem man bei widrigen Winden mit Mühe bis Kreta gelangt und von dort wieder abgefahren ist, gerät das Schiff, das Paulus als Gefangenen nach Italien bringen soll, damit er sich vor dem Kaiser verantworten kann, in schwere See und läuft schließlich vor der Insel Malta, die mit „Melite“ bezeichnet ist, auf Grund. Als man wieder von der Insel aufbricht, an deren Küste man sich gerettet hat, besteigt man ein anderes Schiff, mit dem man ohne größere Schwierigkeiten den Zielhafen erreicht. Der Wendepunkt, der mit dem Aufenthalt auf der Insel gegeben zu sein scheint, wäre nicht weiter zu problematisieren, hätte der Autor des lukanischen Doppelwerkes, dessen zwei Bücher das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte umfassen, nicht eine kleine Randbemerkung in Apg 28,11 einfließen lassen, die alles Potential hat, bei einer vordergründigen Lektüre des Textes zu irritieren: Μετὰ δὲ τρεῖς μῆνας ἀνήχθημεν ἐν πλοίῳ παρακεχειμακότι ἐν τῇ νήσῳ, Α ᾿ λεξανδρίνῳ, παρασήμῳ ∆ιοσκούροις.1 Es ist die letzte Qualifizierung, die stutzen lässt. Offenbar schien erwähnenswert, dass das Schiff, mit dem man Melite wieder verließ, unter dem Zeichen der Dioskuren fuhr. Das verstört deshalb, weil damit scheinbar die Logik des paganen Götterglaubens bedient wird, aber eben nur scheinbar. Nach Darstellung der Apostelgeschichte spielt die Verehrung der beiden Schutzgötter für den Verlauf der Reise nämlich keine Rolle. Um das zu zeigen, soll die Notiz in vier Schritten in den Zusammenhang der Schiffsreiseerzählung in Apg 27–28 eingeordnet werden. Zunächst gilt es, den Befund zu Apg 28,11 zu problematisieren und bisherige Lösungsansätze vorzustellen (1). Sodann ist zu zeigen, dass die Erzählung die rechtzeitige Überwinterung als die für Wohl und Wehe maßgebliche Größe bestimmt und die Widerfahrnisse zur See zuvorderst auf innerweltliche Kausalzusammenhänge zurückführt (2). Es kann daher nicht überraschen, dass der Evangelist im Kontext der Notiz auch anderen griechisch-römischen Göttern neben den Dioskuren keinen Einfluss auf das Schicksal der Reisenden zugesteht (3). Abschließend bleibt zu fragen, welche Rolle der Gott Israels für die in Apg 27–28 beschriebene Ereignisfolge spielt (4).

* Für die Aufnahme des Beitrags in den vorliegenden Sammelband gilt mein Dank dem Herausgeber und der Herausgeberin, der ich zudem hilfreiche Anmerkungen zum Manuskript verdanke. 1 „Nach drei Monaten fuhren wir ab in einem Schiff, das auf der Insel überwintert hatte, einem alexandrinischen, mit den Dioskuren als Zeichen“ (Text: Novum Testamentum Graece 2012).

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1. Griechisch-römische Schutzgötter für einen Gesandten Christi? Die Randbemerkung in Apg 28,11 ist umso bemerkenswerter, als sich in der Apostelgeschichte kaum etwas Vergleichbares findet. Es mangelt nicht an expliziten oder impliziten Verweisen auf pagane Gottheiten. Immer wieder werden die Erzählfiguren, allen voran Paulus, mit griechischrömischen Konzepten der Götterwelt konfrontiert.2 Aber in der Regel stehen die Verkünder des Evangeliums wie der Erzähler in Distanz zu diesen. In Lystra verbitten sich Barnabas und Paulus nicht nur eine Identifizierung mit Zeus oder Hermes, sondern machen auch unmissverständlich klar, dass sie mit derart Nichtigem nichts gemein haben (Apg 14,15). In Apg 17,16 notiert der Erzähler, dass sich Paulus über die Götzen in der Stadt echauffierte. Der vom Apostel erwähnte Altar eines unbekannten Gottes (Apg 17,23) bildet nur insofern eine Ausnahme, als er als Anknüpfungspunkt dient, um Athen mit dem Gott Israels bekannt zu machen. In Ephesus macht man Paulus zum Vorwurf, er polemisiere gegen von Händen gemachte Götter und gefährde damit nicht nur das Geschäft derjenigen, die von der Bekanntheit des Tempels lebten, sondern bringe die Artemis Ephesia selbst in Verruf (Apg 19,26–27). Auf Melite scheinen die Dinge anders zu liegen. Denn das Schiff, mit dem Paulus die Insel verlässt, unterscheidet sich kaum von jenem, das ihn von Myra bis Kreta und darüber hinaus brachte, um dann auf Grund zu laufen und zu zerschellen. In beiden Fällen handelt es sich um ein alexandrinisches Schiff (Apg 27,6; 28,11), mutmaßlich um einen Getreidefrachter. Ein Merkmal erwähnt der Erzähler allerdings nur bei dem Schiff, mit dem Paulus von Melite aufbricht: Es trägt das Zeichen der Dioskuren. Der Eigner hatte sich für Fahrt auf hoher See wenigstens ikonographisch der mindestens viertelgöttlichen Zwillinge verschrieben, die für dieses Geschäft zuständig waren. 1.1 Das Problem: Die Erwähnung des Schiffszeichens Ein Schiffszeichen implizierte zwar nicht notwendig, dass man seine Fahrten unter den Schutz des jeweils Abgebildeten stellte, zumal das Emblem auch lediglich den Namen des Schiffes bezeichnen konnte, der nicht regelmäßig einer Gottheit entlehnt war. Aber Statius setzte immerhin voraus, dass die namensgebende Gottheit auch in der puppis zu finden war (Stat., Theb. VIII 269–270), in Form eines Bildnisses auf dem pulvinar. Nicht von ungefähr waren Gottheiten, die einen Bezug zur Seefahrt hatten, besonders beliebt als Namenspatrone, „Isis“ ist ein weiteres Beispiel.3 Apg 28,11 schlägt jedenfalls eine erzählerische Brücke zu den Dioskuren als den Schutzgöttern zur See. Wer seine Fahrt unter das Zeichen von Kastor und Polydeukes stellte, durfte darauf hoffen, im Fall der Seenot zwei ausgewiesene Helfer an seiner Seite zu wissen.4 Suggeriert der Text demnach, dass die Passage von Melite über Syrakus und Rhegion nach Puteoli gefahrlos verlief, weil man die Reise den Dioskuren anvertraut hatte? Aber wie fügt sich eine solche 2 Vgl. dazu Kauppi 2006. 3 Vgl. Lukian., Navigium 5, zu παράσημος und Schiffsnamen insgesamt vgl. Dölger 1940–1950 und Wachsmuth 1967, 98–112, der auch Listen der unterschiedlichen Namen anführt. 4 Vgl. etwa Wachsmuth 1967, 354–355.

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Notiz zur Distanz oder Polemik, mit der die Apostelgeschichte der Verehrung paganer Götter begegnet? Wer Apg 27–28 für einen zumindest in einzelnen Teilen historischen Bericht hält, mag gewillt sein, in dem Verweis auf das bei antiken Schiffen geläufige Zeichen der Dioskuren einen verbliebenen Sprenkel der Realität zu erblicken.5 Der Rückgriff auf eine verlorene Quelle, welcher die Information entnommen worden sein könnte, oder gar auf die eigene Erfahrung des Autors verfängt aber schon deswegen nicht, weil der Evangelist den unwillkommenen Hinweis sicherlich getilgt hätte, wenn dieser seinem Erzählkonzept widersprochen hätte. Der vorliegende Beitrag schließt einen realen Hintergrund des Textes zwar nicht aus – als historisches Substrat der Reise dürfte mindestens unzweifelhaft sein, dass Paulus per Schiff von Caesarea Maritima nach Italien gelangte.6 Er befasst sich aber nur mit der vom Evangelisten gestalteten Erzählung und klammert die historische Rückfrage wie redaktionskritische Fragestellungen aus. Auch der Verfasser einer fiktionalen Darstellung kann sich um ein realistisches Szenario bemühen. Auch fiktionale Textpassagen können realitätsnahe Informationen über Winde, Reiserouten oder nautische Manöver enthalten und darin einer faktualen Darstellung ähneln. So zeigt etwa Lukian im Rahmen eines satirischen Vergleichs, dass alles, was sich historisch zur See ereignete, auch literarisch verwertet oder entfaltet werden konnte.7 Fraglos können die in die lukanische Erzählung aufgenommenen Elemente zuletzt auf historische Begebenheiten zurückgehen. Im Folgenden wird aber vorausgesetzt, dass diese Elemente eine Funktion innerhalb der Erzählung haben. Der Erzähler vermerkt demnach zu einem bestimmten Zweck, das Schiff auf Melite sei unter dem Zeichen der Dioskuren gefahren. „Überraschenderweise halten die Kommentare diese Nachricht nicht für überraschend.“8 Dennoch ist das dem Anschein nach Tendenzwidrige der Notiz bemerkt worden. „Mit diesem Schiff, das unter besonderem Schutz steht, wird sich das frühere Mißgeschick nicht noch einmal wiederholen. [. . . ] Bedient sich Gott also dieser fremden Truppen? Aber dieser Gedanke dürfte doch zu weit führen, selbst für Lukas.“9 Trotz seiner verbleibenden Skepsis ist für Hans-Josef Klauck die Erwähnung der Dioskuren immerhin ein Zeichen von fehlendem „Fanatismus“, denn der Evangelist störe sich nicht „an solchen äußeren Formen heidnischer Götterverehrung“10 . Mit dieser Einstufung ist die Funktion der Notiz aber kaum umfassend bestimmt. Das gilt allerdings auch für weitergehende Lösungsansätze, die im Folgenden zu sichten sind. 1.2 Lösungsansätze zur Einbindung der Dioskuren in Apg 28,11 Um der Bedeutung der in Apg 28,11 erwähnten Dioskuren auf die Spur zu kommen, hat Knut Backhaus vier Merkmale unterschieden, mit denen die Charakterisierung der Brüder in der 5 So selbst Wehnert 1990, 97, demzufolge der historische Kern der Erzählung überschaubar ist. Vgl. auch etwa Börstinghaus 2010, 345. 6 Arthur Breusings Optimismus im Hinblick auf die Erzählung ist allerdings längst fragwürdig geworden: „Jeder Seemann sieht auf den ersten Blick, daß sie nur von einem Augenzeugen verfasst sein kann“, Breusing 1886, XIII. 7 Vgl. Lukian., De mercede conductis 1–2. 8 Backhaus 2015, 165. Zur Diskussion des Problems in der Literatur vgl. ebd. 165–167, 177–181. 9 Klauck 1996, 133. 10 Klauck 1996, 133.

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kulturellen Enzyklopädie der ersten beiden Jahrhunderte umschrieben werden kann. Demnach fungieren die Dioskuren als Retter (1) und Rächer (2), als Boten von guten Nachrichten und Schutzgötter Roms (3) sowie „als Bezugsgottheiten des römischen Machtanspruchs und der kaiserlichen Repräsentation“11 (4). Dabei agieren sie insbesondere hinsichtlich der ersten beiden Merkmale vorrangig zur See. Backhaus zufolge „steht das Detail der Dioskuren am Bug des alexandrinischen Schiffes [. . . ] für das neue kulturelle Ufer“12 , zu dem sich Paulus aufmacht. Die Brüder werden zwar nicht „als Soter-Gottheiten zur See“13 angeführt, aber „als kulturelles Signal“14 , das gewissermaßen den kulturellen transitus der Seereise in einem Symbol verdichtet. „Die beiden Seegötter führen die reichsrömische Zukunft des Evangeliums [. . . ] vor Augen“15 . Die Allusion in Apg 28,11, mittels derer der Evangelist dem neuen Kulturraum scheinbar seine Reverenz erwies, umfasst nach Backhaus nicht nur einzelne Merkmale, sondern große Teile des enzyklopädischen Bedeutungsspektrums der Dioskuren. Demnach illustriere die Notiz nicht nur den Aspekt der Gerechtigkeit, sondern auch die Übermittlung einer neuen Heilsbotschaft an Rom und den Beginn einer „kognitiven Eroberung des mare nostrum“16 . Die Dioskuren werden geradezu zum Signum eines neuen Zeitalters: „In ihrem Zeichen zieht Paulus in Rom ein wie – der Vergleich sei erlaubt – mit der Trikolore in Paris.“17 Backhaus’ Bemühungen, in der Erwähnung der Dioskuren das gesamte enzyklopädische Wissen abgedeckt zu sehen, werden jedoch infrage gestellt durch die Einbindung der Notiz in den Kontext. Wer innerhalb einer Erzählung dem Namen einer Gottheit begegnet, ist nicht genötigt, sein ganzes Wissen über diese in das Textverständnis einzubinden. Vielmehr wird er je nach Zusammenhang entscheiden, in welcher Funktion oder Eigenschaft die jeweilige Gottheit angesprochen ist. Angesichts der zuvor geschilderten Ereignisse und der Darstellung der beiden Götter im Schiffszeichen steht jedoch außer Frage, dass die Dioskuren als Götter zur See angesprochen sind. Aufgrund der dramatischen Havarie sind daher vor allem die beiden von Backhaus zuerst benannten Funktionen zu bedenken: der allgemeine Schutz der Schifffahrt und das Eingreifen auf offenem Meer, um von Reisenden begangene Vergehen zu rächen.18 Die antike Vorstellung von einem kausalen Zusammenhang zwischen dem eigenen ethischen Verhalten und dem zur See erlittenen Unheil,19 die sich angesichts des schicksalhaften Erlebens einer Schiffsreise nahelegen konnte, ist fraglos ein Moment, das der Evangelist aufgriff. Dabei 11 Backhaus 2015, 168, vgl. auch 167–168, sowie Backhaus 2014, 214–216, außerdem Ladouceur 1980, 443–449, und Kauppi 2006, 112–114. Kritisch zeigt sich Praeder 1984, 685 Anm. 7: „D Ladouceur [. . . ] makes too much of the ancient reader’s response“, ihre Lösung greift aber wohl zu kurz: „The reference to the Dioscuri [. . . ] perhaps portends a safe voyage“. 12 Backhaus 2015, 178. Ähnlich, wenn auch mit anderer Stoßrichtung, Reynier 2006, 171: „Les navigations de Paul le font passer [. . . ] du bassin oriental de la Méditerranée au bassin occidental.“ 13 Backhaus 2015, 177. 14 Backhaus 2015, 177. 15 Backhaus 2015, 178. 16 Backhaus 2015, 181. 17 Backhaus 2015, 181. 18 Vgl. nur Eur., El. 990–993.1347–55. 19 Vgl. dazu Miles und Trompf 1976, Ladouceur 1980, Talbert und Hayes 1999, 270–272, Labahn 2001, 89–95, Talbert 2005, 215–218, Kauppi 2006, 114–117, Backhaus 2014, 210–216.

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mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Paulus selbst kolportiert hatte, er habe dreimal Schiffbruch erlitten (2 Kor 11,25). In Apg 27–28 zeigt sich die Unbescholtenheit des Apostels schon daran, dass sein Gebet erhört wird (Apg 28,8), wobei aus dem Gebet zugleich ersichtlich wird, dass Paulus kein Gott ist.20 Am signifikantesten wird die Vorstellung von einem Zusammenhang zwischen dem moralischen Handeln und der erwarteten Bestrafung auf dem Meer im Urteil der Bewohner von Melite thematisiert, die Dike am Werk sehen, als Paulus, der stürmischen See gerade entkommen, von einer Schlange gebissen wird (Apg 28,4). In diesem Fall hätte das Urteil den vermeintlichen Übeltäter erst an Land ereilt. Wo die gerechte Strafe dagegen auf dem Meer herbeigeführt wurde, waren Kollateralschäden für die Mitreisenden oft nicht zu vermeiden. So erklären sich die Warnungen in der antiken Literatur, mit Ungerechten nicht im gleichen Boot zu sitzen.21 Ironisch gebrochen wird die Vorstellung auch in einem der Referenztexte jüdischer Provenienz greifbar: Per Los ermittelt man Jona als Übeltäter, ignoriert aber, nachdem man von seinem Vergehen erfahren hat, dessen eigenen Wunsch, ins Meer geworfen zu werden, und legt sich stattdessen solidarisch für ihn in die Riemen. Als auch das nichts hilft, wirft man den Propheten schließlich doch unter Entsühnungsgebeten ins Meer, um nicht mit ihm unterzugehen. Sogleich beruhigt sich die See, woraufhin man dem Gott Israels Opfer darbringt (Jona 1,7–16).22 Vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen gewinnt an Bedeutung, dass nicht nur Paulus aus dem Sturm gerettet werden soll, sondern um seinetwillen auch die mit ihm Reisenden, die der Gott Israels ihm geschenkt hat.23 In der Apostelgeschichte findet sich das Moment einer Schicksalsgemeinschaft mit den Mitreisenden folglich unter umgekehrten Vorzeichen und in der Form einer Überbietung. Denn dass dort, wo ein Gerechter vor Schiffbruch bewahrt werden sollte, stabile Planken notgedrungen auch die Übeltäter schützten, musste bisweilen in Kauf genommen werden. Mit Paulus zusammen wurden aber alle gerettet – auch einige andere Gefangene (Apg 27,1.42), deren Inhaftierung möglicherweise auf handfesteren Vorwürfen basierte –, obwohl der Schiffbruch Rachegöttern eine hervorragende Möglichkeit bot, die Spreu vom Weizen zu trennen. Der Gerichtskontext scheint schon dadurch auf, dass ein Bote Gottes Paulus während der Schifffahrt mitteilt, dieser müsse vor dem Kaiser erscheinen.24 Denn dadurch wird der Prozess des Apostels in Erinnerung gerufen. Außer Acht lassen wird man auch nicht dürfen, dass mit Paulus’ Zusicherung, keiner werde ein Haar verlieren,25 ein Wort aus der lukanischen Endzeitrede adaptiert wird, das die Bewahrung der Gläubigen in der Verfolgung verheißt,26 auch dort, wo man ἐπὶ βασιλεῖς καὶ ἡγεμόνας („vor Könige und Statthalter“, Lk 21,12) geführt werde. Dabei lässt der Kontext in Lk 21,16.19 erkennen, dass nicht notwendig an eine innerweltliche Rettung gedacht ist. 20 Vgl. Talbert 2005, 218. 21 Vgl. etwa Eur., El. 1355, Diog. Laert. I 86, dazu auch Backhaus 2015, 169–170. 22 Für „eine typologische Reihe Jona – Jesus – Paulus“, so Kratz 1979, 350, bietet der Text der Apostelgeschichte keine Anhaltspunkte. 23 Apg 27,24: κεχάρισταί σοι ὁ ϑεὸς πάντας τοὺς πλέοντας μετὰ σοῦ. 24 Vgl. Apg 27,24, außerdem Apg 25,10.11.12.21.25; 26,32; 28,19. 25 Apg 27,34: οὐδενὸς γὰρ ὑμῶν ϑρὶξ ἀπὸ τῆς κεφαλῆς ἀπολεῖται. 26 Lk 21,18: καὶ ϑρὶξ ἐκ τῆς κεφαλῆς ὑμῶν οὐ μὴ ἀπόληται.

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Die Dioskuren konnten in der Antike fraglos als jene Gottheiten beschrieben werden, die für die Wahrung oder Wiederherstellung der Gerechtigkeit zur See Sorge trugen. Doch der Text der Apostelgeschichte bietet keine Anknüpfungspunkte, um die Fragen von Recht und Moral mit dem Schiffszeichen zu verbinden.27 Es war Dike, die nach Apg 28,4 in der Vorstellungswelt der Erzählfiguren Recht und Gerechtigkeit durchsetzte. Worauf könnte eine Erwähnung des Schiffszeichens in diesem Kontext abzielen? Sollte der Hinweis auf die Dioskuren andeuten, dass Paulus endlich ein Schiff bestieg, das seinem tadellosen Leben entsprach? Weder der Apostel noch die Leser des Textes benötigten griechisch-römische Götter als Gewährsmänner für Paulus’ Leumund. Es ist der Gott Israels, der dem Gesandten Christi die Rettung aus den Stürmen voraussagt, die Paulus’ Unschuld im Rahmen eines Tun-ErgehenZusammenhangs bestätigen würde. Zu Kastor und Polydeukes lässt sich von dieser Warte aus nur mit großer Mühe eine Linie ausziehen. Daher ist das Schiffszeichen unabhängig von der Frage nach Moral und Gerechtigkeit in Relation zum vorher durchlebten Schiffbruch zu setzen. Die Rolle der Dioskuren als Retter in Seenot war in der Antike geläufig und muss hier nicht weiter ausgebreitet werden.28 Sie verdankte sich unter anderem dem mit ihnen identifizierten Sternbild der Zwillinge, das für die astronomische Navigation insgesamt stand. Wenn Encolpius im Satyricon vor dem Besteigen des Schiffes, mit dem er ablegen möchte, zu den Gestirnen betet (Petron. 99,6), dürfte daher zuvorderst an die gemini gedacht sein, die von den Seeleuten angerufen wurden.29 Im Kontext des Schiffsbruchs, den Paulus kurz zuvor erlitten hat, ist die Konnotation der Schutzgötter daher so dominant, dass die Notiz in Apg 28,11 auf dieser Folie zu deuten ist. Beverly Roberts Gaventa hat im Anschluss an Charles H. Talbert und John Herbert Hayes sowie F. Scott Spencer30 grundsätzlich den richtigen Zusammenhang benannt, indem sie vermerkte: There „is a whiff irony here, as those who seek the protection of the Twin Brothers have stayed ashore during the winter while the true God protected both Paul and those outside the community of believers“31 . Allerdings „hat das alexandrinische Schiff die Überfahrt nach Malta im Zeichen der Dioskuren unbeschadet überstanden, während das Schiff unter Aufsicht des ‚true God‘ havariert ist“32 , wie Knut Backhaus zu Recht bemerkt. Auch Richard I. Pervo tangiert die Stoßrichtung des Textes nur, wenn er über das Schiff mit dem Namen „Dioskuren“ schreibt: „The Dioscuri evidently benefited from its patrons, for it had been able to winter at Malta.“33 Es lohnt sich, dem Zusammenhang von Überwinterung und Schiffszeichen weiter nachzugehen. Dieser dürfte allerdings in die gegenläufige Richtung zielen und eine etwas andere Pointe bergen.

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So aber etwa Ladouceur 1980, 444–449. Vgl. nur etwa Lukian., De mercede conductis 1; Navigium 9. Vgl. etwa Epikt., Diss. II 18,28–29; Diod. IV 43,2. Vgl. Talbert und Hayes 1999, 277 Anm. 23 (außerdem Talbert 2005, 220), sowie Spencer 1997, 236. Vgl. auch Kauppi 2006, 115–116, der unter Verweis auf Apg 19,26 eine Kritik an hölzernen, kraftlosen Idolen gegeben sieht. 31 Gaventa 2003, 360. 32 Backhaus 2015, 166. 33 Pervo 2009, 676.

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2. Schifffahrt und Ratio Das Zeichen der Dioskuren ist nicht das einzige Merkmal, welches das zweite alexandrinische Schiff vom ersten unterscheidet. Denn als man die Insel verlässt, geht man an Bord eines Schiffes, das überwintert hat. Damit bietet Apg 28,11 zwei Deutungen für die ab Melite glücklich verlaufende Schiffsreise an. Die Ursache für die ruhige Fahrt lässt sich entweder auf das im Schiffszeichen zum Ausdruck gebrachte Vertrauen auf die Schutzgötter der See zurückführen oder auf die Rationalität der Schiffsmannschaft und die rechtzeitige Überwinterung. Liest man Apg 28,11 im Kontext der Schiffsreiseerzählung, wird deutlich, welche Interpretation der Text der Apostelgeschichte unterstützt, nämlich jene, die Erfolg und Misserfolg einer Überfahrt vom nautischen Sachverstand, einer korrekten Analyse der Gegebenheiten und der Bereitschaft, die gebotenen Entscheidungen zu fällen, abhängig macht. Das Kriterium eines Götterbildes ist dagegen dem Aberglauben zuzuordnen. In einem ersten Schritt soll daher dargelegt werden, dass die Entscheidung, den Hafen wieder zu verlassen, den Paulus’ Schiff auf Kreta erreicht hatte, eine Fehlentscheidung gegen den nautischen Sachverstand des Apostels war. Im Anschluss daran ist zu zeigen, dass der weitere Reiseverlauf von dieser Fehlentscheidung bestimmt wird und der Text den Schiffbruch als Ergebnis einer rational verständlichen Abfolge von nautischen Gegebenheiten darstellt. 2.1 Die Fehlentscheidung auf Kreta In Apg 27–28 interessiert sich der Erzähler kaum dafür, wie das Schiff im Zeichen der Dioskuren von Melite nach Puteoli gelangte, die Beschreibung der Reise umfasst nur drei Verse (Apg 28,11– 13). Ins Zentrum rückt er die Schilderung, wie man die Insel Melite erreichte. Fraglos verdankt sich das Ungleichgewicht den turbulenten Ereignissen, die fast unweigerlich auf den Schiffbruch zulaufen. Derartige Reiseberichte über Stürme und rauen Seegang gehören bekanntlich nicht nur zum Epos oder zum romanesken Erzählen der Antike.34 Aber der Erzähler nutzt den Verlauf der Reise, um Paulus als rationalen Analytiker mit einem Sinn für die Erfordernisse der Schifffahrt darzustellen. Die Fahrt nimmt von Beginn an keinen guten Verlauf, das Wetter spielt nicht mit. Als das alexandrinische Schiff, das man in Myra bestiegen hat,35 wegen widriger Winde kaum vorankommt, beschließt man, den Weg durch die Ägäis aufzugeben und Kreta zu umsegeln (Apg 27,6–7). Apg 27,9 benennt in wünschenswerter Klarheit das Problem: Längst ist zu viel

34 Zu den Schifffahrtserzählungen der Antike vgl. Börstinghaus 2010, 15–277, außerdem neben der kurzen Auflistung bei Talbert und Hayes 1999, 268–270, etwa Dunsch 2013 und Stoffel 2014 sowie die dort jeweils angeführte Literatur. 35 Nach Warnking 2015, 266, verkürzt die „Route von Alexandria über Lykien den Weg nach Italien um rund 8 Tage, was ein starkes Argument für deren Nutzung gewesen sein dürfte.“ Demnach wäre Myra ein Kontenpunkt gewesen. „Es handelte sich also um den Ort, an dem sich die Zypern-Route und die direkte Route trafen. [. . . ] Die ‚Reisegruppe‘ des Paulus wäre dann nicht zufällig in Myra auf einen Frachter gestoßen. Der Zenturio konnte davon ausgehen, dort mit ziemlicher Sicherheit einen Frachter zu finden. Vielleicht sogar erst dort mit ziemlicher Sicherheit, weil viele Schiffe eben nicht die Küste entlangfuhren, sondern den direkten Weg wählten“, Warnking 2015, 267.

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Zeit verflossen, die Sommermonate sind verstrichen, weshalb eine sichere Schiffsreise nur noch eingeschränkt möglich ist. Schon hat man den Jom Kippur, den Tag der Versöhnung, an dem Israel fastete, hinter sich gelassen.36 Paulus rät zum einzig Richtigen: Weiterfahren ist keine Option und würde den Verlust der Ladung und des Schiffes, ja des eigenen Lebens bedeuten (Apg 27,10). Der Apostel verdankt diese Erkenntnis keiner Offenbarung,37 ϑεωρέω bezeichnet nicht wie in Apg 7,56 eine Vision, sondern die Schlussfolgerung (vgl. Apg 17,22) bzw. das, was dem Einsichtigen vor Augen liegt. Das zeigt schon der Rückgriff auf Apg 27,10 in Apg 27,21–22: Man hätte auf Paulus hören sollen, reklamiert dieser,38 von einem Gott ist nicht die Rede (vgl. dagegen Apg 5,29.32). Dessen Initiative wird nicht etwa ausgeblendet, weil der Apostel mit Menschen spricht, die den Gott Israels nicht kennen. Es war schlicht eine prudenzielle Entscheidung, die Paulus von einer Weiterfahrt abraten ließ.39 Steuermann und Schiffseigner schätzen die Lage jedoch anders ein, eine Fahrt entlang der Küste erscheint ihnen noch möglich. Der erreichte Hafen ist für eine Überwinterung nämlich nicht gut geeignet. Die Mehrheit entscheidet sich daher für den Versuch, nach Phönix40 zu gelangen (Apg 27,11–12). Die Formulierung πλείονες ἔθεντο βουλήν („die Mehrheit fasste den Beschluss“, Apg 27,12) erweckt den Eindruck, als würde in einer Gruppe über die zu treffende Entscheidung abgestimmt. Unklar bleibt, wer gemeint ist, kaum die Gesamtheit der Reisenden, möglicherweise die Besatzung41 oder eine engere Crew um den Steuermann herum. Vermutlich ist jedoch lediglich an die vier erwähnten Erzählfiguren gedacht. Der Zenturio Julius ist einer unter anderen mit Mitspracherecht; er stimmt mit den Fachleuten. Eine Pattsituation bleibt aus, weil drei gegen einen votieren. Paulus ist folglich, eigentümlich genug, als Gefangener in die Entscheidungsfindung eingebunden,42 wird aber überstimmt. Damit durchkreuzt der Text die Rollenerwartung. Ein Häftling votiert nicht nur gegen den ihn beaufsichtigenden Befehlshaber, sondern auch gegen die Entscheidungsträger mit nautischer Kompetenz, den Steuermann und den Schiffseigner, und wird Recht behalten. Sowohl die Kräfte, von denen sachkundige Analysen und aus diesen 36 Nach Warnking 2015, 275 Abb. 23, führte die Hauptstrecke ab Myra nördlich an Kreta vorbei. Wegen der schwierigen Windverhältnisse in der Ägäis hätte die Route an der Südküste Kretas entlang von den Seeleuten aber einkalkuliert werden müssen, weshalb es im Zeitplan kaum zu einer größeren ungeplanten Verspätung kommen konnte. Die Erzählung will jedoch, dass ein ursprünglicher Plan nach Verzögerungen aufgegeben wird. Ob der Evangelist die Windverhältnisse nicht genau kannte oder die Mannschaft subtil kritisieren wollte, indem er sie zu lange mit dem Kopf und dem Bug gegen die Wand aus Wind anrennen ließ, muss offenbleiben. Immerhin hält man nicht so lange am falschen Kurs fest wie der Steuermann der Isis in Lukian., Navigium 9, der sich deshalb den Spott des Lykinos zuzieht. Unsicher ist dabei, ob die Route, die Kreta östlich liegen gelassen und über das Kap Malea geführt hätte, die Alternative nach dem Sturm vor dem Chelidon beschreibt oder den vom Schiffseigner bevorzugten Kurs von Alexandria über Kreta nach Italien. Der vom Steuermann gewählte Kurs sollte ursprünglich Zypern westlich passieren und somit möglicherweise direkt auf Lykien zuhalten (vgl. Lukian., Navigium 7). 37 Vgl. auch etwa Tannehill 1986–1990, II 331. 38 Vgl. Apg 27,11 (πείθω) und Apg 27,21 (πειθαρχέω). 39 Vgl. dagegen Gaventa 2003, 352: „Paul speaks not only as an experienced traveler [. . . ] but as an agent of God who brings about the rescue of the ship.“ Ähnlich auch etwa Haenchen 1977, 679, und Börstinghaus 2010, 356–357. Wehnert 1990, 92, erblickt in der Differenz zwischen der vermeintlichen Prophetie in Apg 27,10 und Apg 27,22 eine Spannung zwischen Quelle und Redaktion. 40 Vgl. dazu Strab. X 4,3 (475). 41 Vgl. etwa Haenchen 1977, 670–671 Anm. 7. 42 Vgl. dazu auch etwa Haenchen 1977, 678, und Labahn 2001, 84–86.

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resultierende gut begründete Entscheidungen zu erwarten wären, als auch das Instrument des Mehrheitsentscheides versagen. Dagegen gibt ein grundsätzlich Unkundiger den von der Ratio geleiteten richtigen Rat. Der Text erwähnt nicht, was den erreichten Hafen zum Überwintern ungeeignet erscheinen lässt. Naheliegend ist, dass er nicht hinreichend Schutz für das Schiff bietet.43 Aber da παραχειμασία nicht nur die Überwinterung in Häfen, sondern auch etwa das Winterquartier einer Legion oder Mannschaft bezeichnet, kann der Begriff auch die Perspektive von Personen implizieren, die den Überwinterungsort auch im Hinblick auf Unterkünfte und Annehmlichkeiten beurteilen. In jedem Fall handelt es sich dem Evangelisten zufolge um einen Hafen (Apg 27,12).44 Als τόπος (Apg 27,8) wird der Ankerplatz nur bezeichnet, um eine Doppelung zu vermeiden, weil in der Folge dessen Name angeführt wird: Man hatte Καλοὺς λιμένας („Gute Häfen“) erreicht. Im lukanischen Doppelwerk kann καλός zwar auch die Schönheit akzentuieren (Lk 21,5), in der Regel ist jedoch das qualitativ Korrekte, Wertvolle oder Geeignete bezeichnet.45 Auch wenn der Evangelist einen realen Ort mit dem Namen des Hafens erwähnte, gewinnt dieser im Rahmen des Erzählwerkes somit die Konnotation eines guten Hafens. Umso bemerkenswerter ist, dass er als nicht geeignet für eine Überwinterung gilt. Aber selbst wenn es nicht an Annehmlichkeiten für Passagiere und Besatzung fehlte, sondern der Hafen dem Schiff keinen hinreichenden Schutz bot und der Text somit lediglich nautische Argumente für die Mehrheitsentscheidung voraussetzt, zeigt sich doch, dass die Weiterfahrt ein Fehler war. Es kommt, wie es kommen musste: Zunächst bläst der notus nur leicht, der Südwind scheint die Verwirklichung der Pläne zu ermöglichen. Man segelt westwärts nahe an Kreta entlang (Apg 27,13), um nicht der im Herbst rauer werdenden See auf offenem Meer ausgesetzt zu sein. Apg 27,12 hält eigens fest, Phönix sei über zwei Hafeneinfahrten erreichbar, die gen Südwesten bzw. Nordwesten (βλέποντα κατὰ λίβα καὶ κατὰ χῶρον) blickten, von wo libs bzw. corus wehten – weshalb sich ein guter Schutz der vertäuten oder an Land gezogenen Schiffe vor Winden und damit die Überwinterungstauglichkeit hinsichtlich des Schiffes nicht unmittelbar erschließt. Für das Einlaufen stehen somit zwei Optionen offen, man scheint für Eventualitäten gewappnet zu sein, als man der Küste Kretas entlangsegelt und sich dem Hafen mit Südwind von Osten her nähert. Leider unterschätzt man bei der Kalkulation die Wetterkapriolen. Es zeigt sich eine Tücke der Schifffahrt außerhalb der Saison: Schon bald ändern sich Intensität und Richtung des Windes.46 Der εὐρακύλων, der als Wirbelwind (ἄνεμος τυφωνικός, Apg 27,14) von der Insel her aufkommt, weht von Nordnordost.47 Er steht nicht nur der Einfahrt in den Hafen Phönix aus westlicher Richtung entgegen, sondern drückt das Schiff auch vom Land weg. Bald zeichnet 43 Zu Landeplätzen und an Häfen gestellte Anforderungen vgl. Warnking 2015, 142–145. 44 Vgl. dagegen Jervell 1998, 605: „‚Guthafen‘, Καλοὶ λιμένες, ist eine nach Osten offene Bucht nahe der Stadt Lasäa, also kein Hafen.“ Ganz ähnlich schrieb schon Haenchen 1977, 669: „trotz des schönen Namens ‚Guthafen‘ nur eine nach Osten offene Bucht nahe der Stadt Lasaia.“ 45 Vgl. Lk 3,9; 6,38.43; 8,15; 9,33; 14,34; Apg 25,10. 46 „Die durchschnittliche Windgeschwindigkeit ist im Winter nicht nur höher, die Winde wechseln auch ihre Richtung häufiger als im Sommer“, Warnking 2015, 131. Vgl. auch Beresford 2013, 53–105, sowie Warnking 2015, 132 Anm. 442 und 133–134 Anm. 448.449, zu den antiken Einschätzungen über die Seefahrt im Winter. 47 Zur Windrichtung vgl. Hemer 1975, 101–104, Reiser 2001, 63–66, und Börstinghaus 2010, 432–441.

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sich ab, dass man eine Fehlentscheidung traf, als man gegen den Rat des Paulus zu optimistisch auf eine Weiterfahrt setzte, statt in Kaloi Limenes zu bleiben. Der Zusammenhang zwischen der ungenutzten Möglichkeit der Überwinterung (παραχειμασία/παραχειμάζω, Apg 27,12) und dem weiteren Verlauf der Reise deutet sich begrifflich an. Denn bald nach der Abfahrt setzt den Reisenden ein Stürmen (χειμάζω, Apg 27,18) hart zu. Dieser Sturm (χειμών, Apg 27,20), der als Steigerung zum vorher wehenden ἄνεμος zu verstehen ist, hält mehrere Tage an und raubt Besatzung und Passagieren schließlich die letzte Hoffnung. Fraglos verdanken sich die begrifflichen Interdependenzen der Etymologie. Dennoch: Angesichts der Relevanz, die der Überwinterungsfrage innerhalb der Erzählung zukommt, gewinnen auch die verwandten Lexeme Bedeutung. Den tobenden Stürmen sahen sich diejenigen nicht ausgesetzt, die wie die Besatzung des in Apg 28,11 erwähnten Schiffes rechtzeitig überwintert hatten. Zu fragen ist daher auch, inwieweit Melite für eine Überwinterung geeignet schien. Über den Liegeplatz des Schiffes erfahren wir so wenig wie über den Verbleib der Ladung, wohl aber über die Lebensumstände, mit denen ähnlich auch die auf Melite überwinternde Besatzung konfrontiert worden sein dürfte, bevor die Schiffbrüchigen an Land gespült wurden: Die Insel wurde nicht regelmäßig angelaufen, sie wird nicht erkannt, als ihre Silhouette im Morgengrauen auftaucht (Apg 27,39). Angelandet findet man sich im Kreis von Barbaren wieder, es ist kalt und regnerisch. An Annehmlichkeiten gibt es zumindest für die Schiffbrüchigen zunächst nur ein Feuer zu genießen. Wer Pech hat, wird von einer Schlange gebissen (Apg 28,2–3). Auf Anhieb erscheint Melite nicht als sonderlich gastlicher Ort, um die stürmische Jahreszeit vorüberziehen zu lassen. Dennoch lässt sich auch dort überwintern. Die Einheimischen pflegen eine außergewöhnliche Philanthropie (Apg 28,2), man genießt zudem die Gastfreundschaft des Publius (Apg 28,7).48 Als man abreist, wird man für die Weiterreise ausgestattet (Apg 28,10). Obwohl der Text zu den Gründen, die gegen eine Überwinterung in Kaloi Limenes sprechen, keine Angaben macht, lässt die ambivalente Ortslage auf Melite die Entscheidung gegen das Verweilen auf Kreta vielleicht noch fragwürdiger erscheinen. 2.2 Nautische Kausalzusammenhänge Freilich konnte die Gruppe um Paulus Melite nicht vor dem Winter erreichen, aber der Text deutet an, dass es sinnvoll gewesen wäre, in Kaloi Limenes zu bleiben, statt weiterzufahren. Das Schiff auf Melite, auf dem Paulus nach Puteoli gelangen wird, existiert nicht etwa deswegen noch, weil es das Zeichen der Dioskuren trägt, sondern weil seine Mannschaft die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Auch die Crew des Schiffes, das man in Myra bestiegen hat, besteht nicht aus Dilettanten. Wenngleich der Hinweis, dass man das Schiffsgerät eigenhändig (αὐτόχειρες, Apg 27,19) über Bord wirft, die Sinnhaftigkeit der Aktion fragwürdig erscheinen lassen könnte,49 und sich 48 Dabei dürfte nur an Paulus, den wundersamen Schiffbrüchigen, mit seinen Begleitern gedacht sein, kaum an die ganze Reisegesellschaft. 49 Offenbar unterscheidet der Evangelist τὸ σκεῦος (Apg 27,17) und τὴν σκευήν. Man verzichten auf τὴν σκευὴν τοῦ πλοίου (Apg 27,19), also etwas, das zum Schiff gehört oder diesem zugeordnet ist. Dabei unterstreicht αὐτόχειρες allerdings vorrangig die Dramatik. Was über Bord geht, bleibt offen.

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das lange Segeln gegen den Wind (Apg 27,7) als Fehler erweist, ergreift die Besatzung des Schiffes überwiegend angemessene Maßnahmen, um der Lage Herr zu werden. Der Ton liegt zumindest nicht durchgängig auf dem Versagen der Mannschaft, obwohl trotz des beherzten Krisenmanagements ein schlechtes Licht auf sie fällt: Als man Land in der Nähe wähnt, versucht die Besatzung sich im Beiboot abzusetzen, um angesichts möglicher Klippen und Untiefen dem drohenden Schiffbruch zu entgehen. Nur hier werden ναῦται erwähnt (Apg 27,27.30), wenngleich sie auch dort Anteil an den Manövern haben dürften, wo das Agens in der dritten Person unbestimmt bleibt. Die detaillierte Darstellung des Krisenmanagements akzentuiert nicht nur die Dramatik, sondern auch das rationale Verhalten in der Notsituation. Dennoch wird der Handlungsspielraum nach der Fehlentscheidung in Kaloi Limenes immer kleiner. Der Text beschreibt die Reise ab Kreta in der Folge der verpassten Überwinterungsmöglichkeit als zunehmenden Kontrollverlust bis hin zur lähmenden Ohnmacht: Das Schiff wird von der Insel weggedrückt und kann nicht mehr in den Wind gedreht werden, man gibt den Kampf auf und lässt sich treiben (Apg 27,15), die Segel hat man folglich eingeholt. Doch bald darauf verliert man bei Kauda in der Strömung um ein Haar das Beiboot, das man erst spät sichert. Als man fürchtet, vom euroaquilo in die für den Schiffbruch berüchtigte Syrte getragen zu werden, wo das Schiff wegen der Gezeiten und der Untiefen leicht auf Grund laufen konnte,50 setzt man Notfallmaßnahmen um, indem man dem Boot mit Tauen zusätzliche Stabilität verleiht,51 zugleich aber die Takelage einholt oder gar den Mast umlegt (Apg 27,16–17).52 In der Folge büßt man Tag für Tag Dinge durch Seewurf ein, die man über Bord gehen lässt (vgl. Iuv. 12,33–53), um den Tiefgang zu vermindern.53 Schließlich ist nicht mal mehr eine Navigation möglich (Apg 27,18–20). 50 Vgl. etwa Strab. XVII 3,20 (835–836). 51 Der Ausdruck ὑποζωννύντες τὸ πλοῖον (Apg 27,17) scheint sich auf die ὑποζώματα (vgl. etwa Plat., leg. XII 945c; rep. X 616c; Athen. V 204a) zu beziehen, Taue, mit denen die Planken stabilisiert werden sollten, um gegen die Wogen bestehen zu können. Diese Stabilisierung erfolgte allerdings als prophylaktische Maßnahme vor der Abreise (Apoll. Rhod. I 367–370; App., civ. V 91 [383]). Entweder erfasste der Evangelist den Sachverhalt nicht genau oder er bezeichnete eine andere Konstruktion. Denkbar wäre, dass das Ruder fixiert wurde. Dann würden in Apg 27,40 die Maßnahmen, wenngleich begrifflich anders gefasst, zum Teil rückgängig gemacht werden: Die Anker, die man in Apg 27,29 auswarf, werden gekappt (τὰς ἀγκύρας περιελόντες εἴων εἰς τὴν ϑάλασσαν); das festgezurrte Ruder wird gelöst (ἀνέντες τὰς ζευκτηρίας τῶν πηδαλίων) und das Vorsegel gehisst (ἐπάραντες τὸν ἀρτέμωνα). Nach Poll. I 89–90 bezeichnet ὑπόζημα auch einen Teil des Ruders. Allerdings wäre in Apg 27,17, wenn dort vom Festzurren des Ruders die Rede wäre, impliziert, dass mit dem festgesetzten Ruder das Schiff dauerhaft auf Kurs gehalten worden wäre, was kaum ratsam war und daher nicht plausibel erscheint. Außerdem ist ὑποζωνύντες τὸ πλοῖον ein Terminus technicus, weshalb der Evangelist offenbar an das Gürten des Schiffes dachte, das ihm unabhängig vom genauen Vorgang dazu diente, die Bedrohung durch die See zu unterstreichen. Zur Diskussion der beiden strittigen Maßnahmen in Apg 27,17 vgl. Börstinghaus 2010, 364–374. 52 Iuvenal zufolge (vgl. Iuv. 12,53–56) griff man zu der Schutzmaßnahme des Mastumlegens (zu praesidia adferimus [Iuv. 12,56] vgl. Apg 27,17: βοηθείαις ἐχρῶντο, dazu auch Backhaus 2014, 197–198), mit der das Boot verkleinert wurde (navem factura minorem, Iuv. 12,56), sodass der Schwerpunkt gesenkt und die Angriffsfläche im Wind weiter reduziert werden konnte, nur dann, wenn das Überleben auf Messers Schneide stand (discriminis ultima, Iuv. 12,55, Text: Iuvenalis 1997). Damit war das Boot aber noch schlechter zu manövrieren. Auch auf dem Schiff des Paulus nahm man möglicherweise in Kauf, dass man nach einem Abflauen des Sturmes hinsichtlich der Fahrt und der Manövrierfähigkeit stark eingeschränkt sein würde. In Apg 27,40 wird man jedenfalls nur noch das Vorsegel hissen (ἐπάραντες τὸν ἀρτέμωνα τῇ πνεούσῃ, vgl. Iuv. 12,68–69: vestibus extentis et, quod superaverat unum, velo prora suo), das sich allerdings auch schlicht für die leichte Fahrt voraus anbieten konnte. 53 Breusing 1886, 184–185, zieht auch eine Verlagerung des Schwerpunktes in Erwägung.

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Der Text macht zwar weder Angaben dazu, wie viel die Besatzung des Schiffes mit dem Zeichen der Dioskuren auf dem Weg nach Melite riskierte oder wie verantwortungsvoll sie agierte. Möglicherweise deutet er aber an, dass sich die problemlose Weiterfahrt nach Puteoli auch den Entscheidungen der neuen Crew verdankte. Da Μελίτη für die erzählte Welt mit Malta gleichzusetzen ist,54 gilt für diese Besatzung nämlich die Redewendung „eile mit Weile“. Obwohl Sizilien nicht mehr weit und zum Überwintern sicherlich besser geeignet ist, entschließt man sich dazu, auf Malta zu bleiben. Nach dem Aufbruch von der Insel landet man in Syrakus und verweilt drei Tage. Schließlich lichtet man wieder die Anker,55 passiert aber nicht sogleich die Straße von Messina, sondern macht kurz darauf in Rhegion erneut Station, um auf den richtigen Wind zu warten. Die Geduld zahlt sich schon bald aus. Mit stabilem Südwind56 passiert man in einem Halbvers die gefürchtete Meerenge bei Scylla und Charybdis und landet binnen zwei Tagen sicher in Puteoli (Apg 28,12–13). Malta wird durch die Nähe Siziliens gewissermaßen zum Kaloi Limenes des zweiten Schiffes. Die Parallele zu Phönix bildet allerdings weniger der nächste Hafen, Syrakus, sondern Rhegion. Denn während es in Apg 27,12 heißt, dass man erwog, ob man Phönix erreichen könne,57 um zu überwintern, ist in Apg 28,13 zu lesen, dass man, nachdem man auf Malta überwintert und in Syrakus dennoch drei Tage gewartet hatte, tatsächlich nach Rhegion gelangte.58 Schon aus erzählerischen Gründen ist daher von Belang, dass Paulus das alexandrinische Schiff, das die Route entlang der nordafrikanischen Küste gewählt haben mochte,59 auf Malta antraf. Es wäre übertrieben zu behaupten, die ganze Reihe von Ereignissen und Entscheidungen während der Seereise sei nur mit Blick auf die Dioskuren-Notiz hin gestaltet. Die Reise nach Rom erfüllt verschiedene Funktionen. Aber der Verweis auf die Überwinterung und die Schutzgötter zur See gewinnt vor diesem Hintergrund seine Bedeutung und sein kritisches Potential. Ob man auf offenem Meer bestand oder nicht, hing nicht vom Schiffszeichen oder der Verehrung eines 54 Der Name Μελίτη lässt erkennen, dass der Evangelist Malta meinte (vgl. dagegen etwa Jervell 1998, 610 Anm. 491). Zur Widerlegung der von Warnecke 1987 und unter nicht weniger exklamatorischem Titel auch in Neubearbeitung (Warnecke 2000) vorgebrachten These, Μελίτη sei mit Kephallenia zu identifizieren (vgl. auch Warnecke 2002, 101–102), vgl. die entfesselte Kritik bei Wehnert 1990 (Erwiderungen bei Suhl 1991a und Suhl 1991b), sowie Reiser 2001, 66–68, und Börstinghaus 2010, 431–442. Zur Auseinandersetzung mit älteren Malta-Alternativen vgl. Hemer 1975, dessen Gegenargumente teilweise auch den Versuch von Thornton 1991, 324–326, treffen, Melite nahe der libyschen Küste zu situieren. 55 Statt περιελόντες, das in Apg 28,13 von !‫ *א‬B Ψ (gig) bezeugt wird, schreiben P74 !‫א‬2 A L 048vid .066.81.323.614.945. 1175.1241.1505.1739 M lat sy περιελθόντες. Die Lesart ist mit der zweiten Hand des Sinaiticus und P74 gut bezeugt und könnte nach Apg 27,40 (τὰς ἀγκύρας περιελόντες) als lectio difficilior eingestuft werden. Die Verwendung des Verbes in Apg 19,13 spricht allerdings kaum der in Apg 28,13 geschilderten Situation, weil man vor Syrakus wohl nicht kreuzte. Geographisch passt die Semantik ebenfalls schlecht. Reynier 2006, 160–161, vermerkt, dass περιελόντες ein Objekt erfordern würde. Das war nach Apg 27,40 aber entbehrlich. Das Fehlen des Objektes macht die Lesart vielleicht nicht zur lectio difficilior, es kann aber die Änderung zu περιελόντες befördert haben. 56 Vgl. die jeweilige Erwähnung des νότου in Apg 27,13 und Apg 28,13. ὑποπνεύσαντος deutet in Apg 27,13 an, dass der Südwind, auf den man leichtsinnig seine Hoffnung setzte, nur schwach wehte. 57 Apg 27,12: εἴ πως δύναιντο καταντήσαντες εἰς Φοίνικα. 58 Apg 28,13: ὅθεν περιελόντες κατηντήσαμεν εἰς ῾Ρήγιον. Der Evangelist verwendet ὅϑεν zwar lokal, drückt damit aber eine Rückkehr zu einem zuvor verlassenen Ort aus (Lk 11,24; Apg 14,26). Daher könnte ὅθεν auch kausal verstanden sein (vgl. Apg 26,19). Das würde bedeuten, dass man wegen der Wartezeit von drei Tagen in Syrakus die nächste Station erreichte. 59 Zu dieser Route vgl. Warnking 2015, 260–261.

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bestimmten Gottes ab, sondern von den Entscheidungen, die man traf. Der Evangelist wusste sicherlich, dass die literarischen Preisungen der Dioskuren nicht ungebrochen die paganen Gottesvorstellungen spiegelten, aber er kritisierte die mit diesen Darstellungen verbundenen Konzepte. Der Hinweis auf das Schiffszeichen erfolgt allerdings nicht auf der Ebene der Figuren, sondern durch den Erzähler, der nicht vermerkt, dass Julius dieses Mal nach einem Schiff mit den richtigen Schutzgöttern Ausschau hielt, sondern schlicht notiert, das Schiff habe das Zeichen der Dioskuren getragen. Die Kritik an den falschen Maßstäben ist folglich auf der Ebene der Erzählung angesiedelt und richtet sich damit an die Leser, denen auf engstem Raum zwei Deutungsangebote gemacht werden. Der Ich-Erzähler in Apg 28,11 könnte damit als „unreliable narrator“60 aufgefasst werden, der besonders trügerisch erscheinen würde, weil auch in vorgeblich autobiographischen Erzählungen der Ich-Erzähler grundsätzlich als verlässlich gelten darf. Der Erzähler erzählt als am Geschehen beteiligte Figur, man habe ein Schiff mit dem Zeichen der Dioskuren gewählt, und suggeriert scheinbar, er habe als Figur der Erzählung, als Reisender, diesem Merkmal Bedeutung beigemessen. Dieses Erzählkonzept trägt zu den Schwierigkeiten bei der Interpretation der Dioskuren-Notiz bei: Die Bedeutung, die dem Detail durch dessen Erwähnung zugewiesen wird, scheint in der Erfahrungswelt der Figur zu gründen. Das ist aber nicht zwangsläufig vorauszusetzen. Der Ich-Erzähler kann in der unkommentierten Wiedergabe des Details allenfalls dann als „unreliable narrator“ erscheinen, wenn man den Fokus auf Apg 28,11 beschränkt.61 Stattdessen birgt die Notiz eine versteckte Polemik gegen den Aberglauben,62 die im Kontext teilweise enthüllt wird. Vorbereitet wird die verdeckte Distanzierung von der Möglichkeit, den Erfolg der Seefahrt von der Verehrung der Dioskuren oder ihrem Wohlwollen abhängig zu machen, zuvor nämlich bereits auf der Ebene der Figuren, mit der sich der nächste Abschnitt vorrangig beschäftigen wird. Dabei ist auch die Kehrseite einer Rückbindung der Geschehnisse an die nautischen Kausalzusammenhänge in den Blick zu nehmen, nämlich das Fehlen beinahe jeglicher religio während der Schiffsreise.

3. Schifffahrt und religio Nachdem man von einer Überwinterung in Kaloi Limenes abgesehen hat, entwickelt sich die Schiffsreise wegen eines Unwetters zu einem Desaster. Wie reagiert man in solch einer Situation? Plutarch setzt in seiner Schrift über den Aberglauben voraus, dass vernunftgeleitete Menschen sich in Seenot zwar zu Gebeten flüchten und die Götter anrufen mögen – wobei σωτῆρας auch an die Anrufung der Dioskuren denken lässt63 –, aber das Gebotene in Angriff nehmen, um der Gefahr zu entgehen. ἀλλὰ δεινὸν τὸ τῆς δεισιδαιμονίας σκότος ἐμπεσὸν τοῦ ἀνθρώπου συγχέαι καὶ τυφλῶσαι λογισμὸν ἐν πράγμασι μάλιστα λογισμοῦ δεομένοις. Γλαῦχ’, ὅρα, βαθὺς γὰρ 60 61 62 63

Vgl. Booth 1983, 158–159. „But difficult irony is not sufficient to make a narrator unreliable“, Booth 1983, 159. Vgl. dagegen Backhaus 2015, 181: „Unsere Notiz trägt keinen polemischen Zug.“ Zu den Belegen vgl. Wachsmuth 1967, 437–439.

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Karl Matthias Schmidt ἤδη κύμασιν ταράσσεταιπόντος, ἀμφὶ δ’ ἄκρα Γυρέων ὀρθὸν ἵσταται νέφος, σῆμα χειμῶνος. τοῦτ’ ἰδὼν κυβερνήτης εὔχεται μὲν ὑπεκφυγεῖν καὶ ϑεοὺς ἐπικαλεῖται σωτῆρας, εὐχόμενος δὲ τὸν οἴακα προσάγει, τὴν κεραίαν ὑφίησι, φεύγει μέγα λαῖφος ὑποστολίσας ἐρεβώδεος ἐκ ϑαλάσσης.64 .

Das von Plutarch propagierte Verhalten schließt religiöse Frömmigkeitsübungen nicht aus.65 Dennoch gilt es, den jeweiligen Erfordernissen zur See entsprechend rational zu handeln. Wie oben dargelegt wurde, akzentuierte auch der Evangelist das rationale Verhalten mit seiner Beschreibung der Überfahrt, die er durch eine Reihe von nautischen Details taktete. Der Erzähler der Apostelgeschichte besingt weder die Meere noch beklagt er wortreich die Katastrophe, stattdessen interessiert er sich vor allem für die notwendigen Entscheidungen, die aus den jeweiligen Situationen resultieren. Ein Glied fasst in das nächste in einer Kette von Ereignissen, die alle eine rational nachvollziehbare Ursache haben.66 Dagegen fehlt jeglicher Bezug auf die Frömmigkeit in der Gefahr. „Kultische Akte bei antiken Seereisen erfolgen beim Reiseantritt, nach der Landung, als ‚Zwischenopfer‘ auf hoher See beim Passieren von Küstenheiligtümern oder im Falle eines Unwetters und in Seenot.“67 In der Reisegesellschaft des Paulus fragt niemand vor der Abfahrt nach Auspizien, während der Fahrt werden auch keine Opfer dargebracht. Nachdem man Kaloi Limenes verlassen hat, verliert man sukzessive die Kontrolle über das Schiff, diese Ohnmacht wird aber an keiner Stelle durch die Zuwendung zu den Göttern kompensiert. Niemand betet.68 Fraglos muss das Selbstverständliche in einer Erzählung nicht notwendig platziert werden.69 Die Leerstelle verdankt sich allerdings nicht einer Ellipse. Der Evangelist interessiert sich 64 Plut., mor. 169 A–B: „Furchtbar ist aber die Finsternis des Aberglaubens, die auf den Menschen fällt, um die Vernunft zu verwirren und zu blenden in Dingen, die der Vernunft am meisten bedürfen. Glaukos, sieh, denn schon wird das tiefe Meer durch Wogen aufgewühlt, um die Spitze der Gyrai aber legt sich eine rechte Wolke, Zeichen des Sturmes. Wenn der Steuermann das sieht, betet er zwar zu entfliehen und ruft Götter als Retter an, betend zieht er aber das Ruder zu sich, schickt die Rah herunter, flieht das große Segel herablassend aus dunklem Meer“ (Text: Plutarchos 1967–1986). 65 An anderer Stelle rekurriert Plutarch ausdrücklich auf das Eingreifen der Götter, von denen die Stürme kontrolliert werden, vgl. etwa Plut., mor. 426 C; 1103 C–D. 66 Diese Darstellungsweise dürfte dazu geführt haben, dass Breusing 1886, XIII, die Erzählung als das „wertvollste uns aus dem Altertume erhaltene nautische Dokument“ gelten konnte. Vgl. auch Reiser 2001, 51, 72. Zur Diskussion des Verhältnisses zwischen realen und fiktiven Elementen der Erzählung vgl. etwa Praeder 1984, Seul 2003, 333– 486, Hummel 2000 (formale Korrektur bei Hummel 2001), Reiser 2001, Reiser 2013, Neumann 2015, außerdem Alexander 1998. Gilchrist 1996, 50, formuliert als in dieser Zuspitzung fragwürdige These: „The shipwreck narrative is not a literary invention: the shipwreck is a matter of fact, and its location is a valid archaeological aim.“ Auf der anderen Seite überfordert MacDonald 1999 die literarische Parallele der Odyssee. 67 Wachsmuth 1967, 115. Zu den unterschiedlichen Kulthandlungen vgl. besonders 63–74, 113–200, 424–450. Vgl. auch den Beitrag von Bernadette Descharmes in diesem Sammelband (siehe oben, S. 195–200). 68 Vgl. dagegen etwa Lukian., Navigium 9; Jona 1,4–16. 69 Zur Abwesenheit oder Anwesenheit göttlicher Wirkmächtigkeit in Schiffsreiseerzählungen vgl. Hilton 2012, der wegen Apg 27,22–25 das göttliche Eingreifen in der lukanischen Schiffsreiseerzählung betont: „On the human level there was nothing to be done; the crew had tried everything possible, including sounding the depth of the sea, the use of four anchors, and other nautical manoeuvres. The purpose of this narrative is primarily soteriological“ (282). Die jeweilige Aktzentsetzung hängt allerdings von der Perspektive ab. Fraglos gibt es Seesturmbeschreibungen, die mit weniger Religiosität auskommen, aber gemessen an den anderen Episoden der Apostelgeschichte übt sich die Darstellung in Zurückhaltung.

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durchaus für Fragen der Verehrung, was Apg 27,23 erkennen lässt. Obschon von keinem der Mitreisenden der Dienst gegenüber seinen Göttern erwähnt wird, beschreibt der Text aber kein „jonaeskes“ Verhalten der Erzählfiguren. Es geht folglich nicht darum, dass diese die geforderte religio vermissen lassen. Für ein Eingreifen der Götter, wie es schon der Hymnus kennt,70 bietet der Erzähler keinen Raum. Die Leerstelle wird daher zur These: Nicht durch einen Rachegott geraten die Reisenden auf See in Not, sondern durch eine Fehlentscheidung. Nicht durch ein Wunder werden sie gerettet, sondern durch eine logische Abfolge von plausibel aufeinander aufbauenden Ereignissen und Konsequenzen. Pagane Götter finden innerhalb der Erzählung gleichwohl Erwähnung, wenn auch erst in der Melite-Episode. Sie nehmen aber keinen Einfluss auf das Geschehen. Als Paulus, der gerade erst der Gewalt des Meeres entkommen ist, von einer Schlange gebissen wird, führt man dieses Unglück auf die Initiative der Dike zurück, die gleichsam ihr Recht einfordert und sich des Reptils bedient, um des Entflohenen habhaft zu werden. Kaum zeigt sich, dass der Schlangenbiss keine Folgen nach sich zieht, erklärt man den Gebissenen selbst zum Gott (Apg 28,3–6). Der Biss der Schlange hat zu unterschiedlichen Überlegungen Anlass gegeben. Gern wird in diesem Zusammenhang ein Epigramm angeführt, das denjenigen beklagt, der dem Schiffbruch entkommen einer Schlange zum Opfer fällt.71 Auch auf Philoktetes, der von einer Schlange gebissen auf einer Insel ausgesetzt wurde, ist verwiesen worden.72 Annette Weissenrieder hat nicht nur den Umstand, dass nach dem Hinweis auf die in die Hand des Apostels verbissene Schlange eigens vermerkt wird, das Tier habe von der Hand herabgehangen,73 vor dem Hintergrund ikonographischen Materials mit der Äskulapschlange in Verbindung gebracht, sondern ausgehend von der unwidersprochenen Deklarierung des Apostels als Gott74 die ganze Schifffahrtserzählung im Kontext der Überführung des Heilgottes nach Rom gedeutet.75

70 Vgl. etwa Hom. h. 33,7–11. 71 Vgl. Anth. Gr. VII 290 (Statilius Flaccus), vgl. dazu etwa Haenchen 1977, 682 Anm. 2, Förster 2007, 75–76, oder Talbert 2005, 216–218, der weiteres Material zum Motiv der Bestrafung durch den Schlangenbiss anführt, ebenso Börstinghaus 2010, 406–419. Klauck 1996, 130, verweist wegen der dort thematisierten Schuld auf Anth. Gr. IX 269 (Antipatros von Thessalonike). Nach Wehnert 1990, 93–94, zählt „die von Lukas verwendete Motivkette [. . . ] zu den ältesten bekannten Erzählstoffen überhaupt, wie ein Vergleich mit der altägyptischen ‚Geschichte des Schiffbrüchigen‘ zeigt.“ Schon dort sei die Schlange göttlich, weshalb Wehnert sie als Personifizierung der Dike deutet, die von Paulus besiegt werde. Vgl. außerdem etwa Backhaus 2014, 217–222. 72 Zu Hom., Il. I 718–728 vgl. Klauck 1996, 130. 73 Apg 28,3: καθῆψεν τῆς χειρὸς αὐτοῦ; Apg 28,4: ὡς δὲ εἶδον οἱ βάρβαροι κρεμάμενον τὸ ϑηρίον ἐκ τῆς χειρὸς αὐτοῦ, πρὸς ἀλλήλους ἔλεγον. 74 Vgl. dagegen Apg 10,25–26; 14,11–15. 75 Vgl. Weissenrieder 2005, besonders 135, 152–156. Angesichts des Äskulap-Heiligtums auf der Tiber-Insel erhielte zwar der dezidierte Hinweis des Apostels, man müsse auf einer Insel anlanden (Apg 27,26, vgl. Apg 28,1.7.9.11), eine zusätzliche erzählerische Funktion. Zieht man die im 1. Jh. n. Chr. wohl prominenteste Darstellung der Überfahrt Äskulaps in den Metamorphosen Ovids als Referenztext hinzu, sind zudem einzelne Motivparallelen zu beobachten: Apg 27,23–24/Ov., met. XV 651–664; Apg 27,24/Ov., met. XV 658; Apg 28,6/Ov., met. XV 677; Apg 27,12; 28,11/Ov., met. XV 713–728; Apg 28,15/Ov., met. XV 729–736; Apg 28,27–28/Ov., met. XV 744. Die sprachlichen Merkmale und die Erzählmomente in der Apostelgeschichte lassen sich jedoch überwiegend mit anderen Erzählfunktionen erklären. Das von Weissenrieder gebotene einschlägige ikonographische Material zur Schlange an der Hand Äskulaps ist zudem sehr überschaubar. Daher muss ein Zusammenhang mit den Asklepiostraditionen fraglich bleiben, gegen Schmidt 2011, 69–71, und Schmidt 2008, 146.

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Die erzählerische Funktion des Schlangenbisses könnte aber ähnlich unspektakulär sein wie die irrtümliche Einstufung des Apostels als Gott, der innerhalb der Figurenwelt nicht widersprochen werden muss, weil das Urteil der Barbaren nicht publik wird. Schon über das vermeintliche Eingreifen der Dike tauscht man sich nur untereinander aus; deswegen wird auch die Annahme, Paulus sei ein Gott, nur intern kommuniziert, innerhalb der Gruppe der Einheimischen.76 An der Reaktion des Apostels zeigt der Text kein Interesse, weil es nicht um die Konkurrenz von Gottheiten,77 die Verkündigung auf der Insel oder die Zurückweisung einer unangemessenen Verehrung geht, sondern um das Gegenüber von rationaler und abergläubischer Interpretation. Während der Text mit den Dioskuren auf der Ebene des Erzählers den Lesern eine Sackgasse als Erklärung für die Geschicke auf See anbietet, zeigt sich die Ablehnung einer solchen Weltsicht auf der Figurenebene in der Darstellung der Einheimischen auf Melite. Auch in diesem Fall wertet der Erzähler nicht, er lässt die Deutungsmöglichkeit unkommentiert. Aber auch in diesem Fall rückt er mit dem Hinweis auf die Hitze des Feuers (Apg 28,3) eine rationale Erklärung neben das abergläubische Urteil, ähnlich wie bei dem Schiff, das nicht nur das Zeichen der Dioskuren führt, sondern auch auf Melite überwintert hat. Die irregeleitete Annahme der Inselbewohner, Paulus müsse ein Gott sein, weil der Schlangenbiss folgenlos blieb, wird nicht von einer rationalen Erklärung flankiert, sofern der Evangelist mit ἔχιδνα nicht eine ungiftige Schlange bezeichnete.78 Der Text hält mutmaßlich offen, ob die Schlange überhaupt giftig war, ob Paulus so schnell reagierte, dass sie ihr Gift nicht injizieren konnte, oder ob der Apostel unter einem besonderen Schutz stand. Eine alternative Deutung der Unversehrtheit neben der Annahme, Paulus sei ein Gott, ist aber nicht notwendig, wo die Irrationalität des Aberglaubens auf die Spitze getrieben und damit ad absurdum geführt wird: In kaum mehr als der üblichen Latenzzeit eines Schlangengiftes wird ein von der Göttin verfolgter Mörder79 gewissermaßen in den Olymp erhoben. Eine vergleichbare Groteske lässt sich finden, wenn man sich Senecas Apocolocyntosis oder anderen Beispielen des satirischen Genres zuwendet. In solcher Wankelmütigkeit, die durch das Zueinander von πάντως („gewiss“, Apg 28,4) und μεταβαλόμενοι („sie verwarfen die Annahme“, Apg 28,6) unterstrichen wird, deutet sich die Irrationalität und Fragwürdigkeit eines Urteils an, das jegliche Widerfahrnisse auf das Schicksal oder den Willen der Götter zurückführt. Im Urteil der Einheimischen wird die Spitze gegen diese Form des paganen Götterglaubens deutlicher vernehmbar, weil der Ich-Erzähler, der grundsätzlich das Vertrauen der Leser genießt, selbst das Schiffszeichen erwähnt. Aber auch der Hinweis auf die Dioskuren enthält eine ironische Note.80

76 Apg 28,4: μεταβαλόμενοι πρὸς ἀλλήλους ἔλεγον; Apg 28,6: ἔλεγον αὐτὸν εἶναι ϑεόν. 77 Gegen Schmidt 2011, 70–71. 78 In Lk 3,7 erwähnt der Evangelist eine ἔχιδνα. In Lk 10,19, wo das Gefahrenpotential hervorgehoben wird, spricht er von einem ὄφις. Die Ausführungen bei Schmidt 2011, 69, sind unpräzise. 79 Zur Tabuisierung des Mörders auf See vgl. Wachsmuth 1967, 270.280–281. 80 Als Kontrastfolie dienen allerdings nicht die ἀδελφοί in Apg 28,14.15, wie Spencer 1997, 236, meint. Die Dioskuren werden in Apg 28,11 nicht vorrangig als Brüder angesprochen.

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Bei der Frage, ob Ratio oder religio die Geschicke während einer Schifffahrt bestimmen, schließt der Evangelist jeden Einfluss der paganen Gottheiten aus und votiert für ein von menschlichen Kompetenzen bestimmtes Verständnis der auf See erlebten Geschehnisse. Abschließend ist zu klären, ob er dem Gott Israels (im Folgenden auch einfach „Gott“ genannt) einen Einfluss auf den Reiseverlauf einräumt und welche Interdependenzen zwischen dessen Wirksamkeit und dem Handeln der Reisenden bestehen. Folglich ist die Frage nach dem Zusammenhang von Schicksal und freiem Willen aufzunehmen, die beispielsweise auch der jüdische Historiker Flavius Josephus thematisierte.

4. Der rettende Gott Wenn Josephus die unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb des Judentums abgrenzte, bediente er sich für die Verständigung mit paganen Lesern unter anderem solcher Merkmale, mittels derer man auch philosophische Schulen klassifizieren konnte. Distinkt waren für ihn vor allem die Haltung zur Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem Tod und die Frage nach der Selbstbestimmung des Menschen. Wurde das eigene Leben von der εἱμαρμένη bzw. dem numen bestimmt oder von den eigenen Entscheidungen? Josephus fand bei den Essenern ein eindeutiges Votum für das vom Gott Israels bestimmte Schicksal, bei den Sadduzäern ein unumschränktes Bekenntnis zum freien Willen und bei den Pharisäern ein entschiedenes „sowohl als auch“.81 Unter Voraussetzung der etwas grobschlächtigen Differenzierung stand der Evangelist in dieser Hinsicht den Pharisäern nahe. 4.1 Der abwesende Gott In Apg 27–28 werden zwar fraglos die Grenzen der eigenen Möglichkeiten beschrieben, einen unmittelbaren Einfluss Gottes auf den Verlauf der Schiffsreise sucht man jedoch vergeblich. Dennoch entspricht die Fahrt grundsätzlich dem Heilsplan Gottes. Dieses dialektische Ineinander der Realisierung eines göttlichen Heilswillens bei gleichzeitiger Autonomie der menschlichen Akteure, das heißt die vermittelte immanente Wirksamkeit eines innerweltlich abwesenden Gottes, thematisiert der Text in der Seesturmerzählung. Der Gott Israels rettet Paulus so wenig aus dem Toben des Meeres wie die Dioskuren den Steuermann oder Julius. An keiner Stelle greift er in das Geschehen ein, zumindest nicht derart, dass dieses Eingreifen wahrnehmbar wäre. Unabhängig von ihrer moralischen Integrität trifft alle Reisenden das gleiche Schicksal. Es gibt keinen plötzlichen Wetterumschwung zum Guten, der den Dioskuren immer wieder zugeschrieben wurde;82 und wo das Elend seinen Lauf nimmt, werden die Widrigkeiten nicht auf Gott zurückgeführt. Der Evangelist ist vielmehr daran interessiert, die innerweltlichen Kausalzusammenhänge der Schifffahrt zu unterstreichen.

81 Vgl. Ios., bell. Iud. II 154–165; ant. Iud. XIII 171–173; XVIII 11–18. 82 Vgl. etwa Eur., El. 1239–1242; Theokr. 22,8–22; Hor., Carm. I 12,25–32; Plut., mor. 1103 C.

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Ein einziges Mal meldet sich Gott zu Wort. Seine Ankündigung wird zudem nur im Referat des Apostels vernehmbar, dem die Mitreisenden hinsichtlich der angeblichen Offenbarung folglich vertrauen müssten, als er verkündet, das Schiff werde untergehen, man selbst aber werde gerettet werden.83 Eine ganze Reihe von Faktoren muss ineinandergreifen, damit sich diese Prophetie erfüllt. Der Evangelist ist bemüht, die Entsprechung zwischen der Weissagung und dem Ende der Schiffsreise aus einer logischen Folge von Handlungen und Ereignissen abzuleiten. Da Apg 27,22 das φορτίον (Ladung, Apg 27,10) nicht mehr erwähnt und dieses nicht Teil der Prophezeiung ist, dürfte es zumindest in Teilen bereits in Apg 27,18 über Bord gegangen sein, weshalb der Weizen, der erst in Apg 27,38, nach der Mahlzeit, ins Meer geworfen wird, wohl vorrangig die Ration für Besatzung und Passagiere umfasst.84 In jedem Fall gibt man die Ladung verloren, um das Schiff zu erleichtern. Als man sich dem Land nähert, versuchen die Seeleute zu fliehen, nur sie allein könnten so dem Meer entkommen.85 Die Haltetaue des Beiboots werden gekappt, weshalb eine Rettung auf diesem Weg verstellt ist. Man muss versuchen das Schiff am Strand zu landen, dabei zerschellt es wie angekündigt in den Fluten. Da die Soldaten im Chaos die Gefangenen nicht bewachen können, planen sie eine Exekution auf dem sinkenden Schiff. Julius will Paulus schützen und sorgt so zugleich dafür, dass sich schließlich alle an Land retten können (Apg 27,30–44). Die Prophezeiung hat sich erfüllt. Das Schiff ist dahin, kein Leben ging verloren. Doch der Text versteht die Offenbarung nicht als self-fulfilling prophecy. Die Weissagung führt zu keiner Sinnesänderung, die Reisenden vertrauen ihr nicht, arbeiten ihr teilweise sogar entgegen, sodass ihre Wirkung vordergründig verpufft. Die Seeleute glauben bestenfalls an den Teil vom Untergang des Schiffes, doch die Gefahr erschließt sich ihnen angesichts der Untiefen selbst. Julius will Paulus retten, dem er von Beginn an gewogen war (Apg 27,3), sein Interesse gilt nicht allen Gefangenen und folglich nicht der Verwirklichung der Offenbarung. Während er bei der Abfahrt von Kreta den Seeleuten vertraute, setzen seine Soldaten nach dem Eintreffen der Katastrophe vor Melite die Anweisungen des Gefangenen um. Aber hier mögen das Interesse, 83 Der Text lässt nicht ganz deutlich werden, welche Informationen die Offenbarung im nächtlichen Traum umfasste. Nur die Zusage, dass kein Menschenleben verloren gehen werde, wird im Zitat referiert (Apg 27,24). Wegen der inhaltlichen Entsprechung von Apg 27,22.24 hinsichtlich der Reisenden dürfte der Untergang des Schiffes jedoch ebenfalls Bestandteil der Offenbarung sein, deren Inhalt durch εὐθυμέω (guten Mutes sein, Apg 27,22.25) gerahmt wird. Mit τὰ νῦν („das jetzt“) wird ja der Lagebericht gleichsam aktualisiert und auf den Ist-Stand nach der Offenbarung gebracht, die im Anschluss als Begründung angeführt wird. Fraglich bleibt, ob die Behauptung des Apostels, man müsse auf eine Insel verschlagen werden (Apg 27,26), ebenfalls noch zur Offenbarung gehört und folglich ein göttliches Urteil umschreibt oder die prudentielle Gewissheit zum Ausdruck bringt, dass das Erreichen einer Insel als letzte Chance gelten muss, weil das Schiff nicht mehr manövrierbar ist. Apg 27,25 bezieht sich nur auf die Zusage, dass kein Menschenleben verloren gehen werde, und schließt nicht aus, dass weitere Informationen zur Offenbarung folgen. Der weitere Verlauf der Ereignisse lässt vermuten, dass sowohl der Untergang des Schiffes als auch das Erreichen der Insel den Inhalt der Offenbarung beschreiben. 84 Vgl. zu Apg 27,38 (ἐκβαλλόμενοι τὸν σῖτον εἰς τὴν ϑάλασσαν) auch Apg 27,21.33 (ἀσιτίας ὑπαρχούσης/ἄσιτοι διατελεῖτε). 85 Woran Paulus den Fluchtversuch erkennt, wird nicht erzählt. Das Ausbringen des Ankers vom Beiboot beschreibt ein für die Situation plausibles Vorgehen. Breusing 1886, 193–194, der die Erzählung als Augenzeugenbericht versteht (ebd., XIII), zweifelt, ob er den Vorwurf des Fluchtversuches gelten lassen soll. Für die Erzählung ist relevant, dass die Verhinderung der Flucht in ihrer Konsequenz eine Evakuierung über das Beiboot unmöglich macht.

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den Fluchtversuch der Crew zu unterbinden, oder die Umsicht des Apostels, der man auf Kreta leider nicht gefolgt war, maßgeblich sein. In der Entsprechung zwischen der Prophetie und dem Ausgang der Ereignisse zeigt sich folglich bestenfalls die schicksalhafte Vorbestimmung der Existenz, die sich im Handeln des einzelnen realisiert, ähnlich wie im Fall des Ödipus. Offenkundig wird die unmittelbare Wirkungslosigkeit der Prophetie darin, dass sie ihr Ziel verfehlt: Als eine allgemeine Schwermut die Leute nicht einmal essen lässt, weil wegen des Unwetters weder tagsüber noch nachts eine Navigation anhand der Himmelskörper möglich ist, ergreift Paulus das Wort, um die Reisenden zu ermutigen (εὐθυμέω, Apg 27,22.25). Doch nichts passiert. Die Ermutigung bleibt aus, die Appetitlosigkeit kann Paulus zunächst niemandem nehmen.86 Dennoch ist die Rettung von Passagieren und Crew dem Gott Israels zuzuschreiben. Das macht der Text mittels der Diskrepanz zwischen der prudentiellen Einschätzung des Apostels auf Kreta und der Prophezeiung deutlich, wegen derer er sich zum zweiten Mal zu Wort meldet (παραινέω, Apg 27,9.22). Paulus’ Einschätzung zur Lage war in einem Punkt nicht korrekt, er hatte die Rechnung gewissermaßen ohne den Herrn der Meere gemacht. Während der Apostel in Apg 27,10 auch um das Leben der Reisenden fürchtete,87 kann er nun berichten, was ihm des Nachts durch einen Engel Gottes kundgetan wurde: Keiner sollte sein Leben verlieren.88 Wer der Katastrophe entkam, verdankte seine Rettung somit nicht den Dioskuren, sondern dem Gott Israels. Ähnlich wie Apg 18,9 markiert die nächtliche Offenbarung, die wie dort unter dem Aufruf μὴ φοβοῦ („fürchte dich nicht“) erfolgt, einen Wendepunkt auf dem Weg zu den Völkern. Die Wende zwischen der missglückten und der glücklichen Fahrt ist folglich nicht erst mit Melite und dem Wechsel des Schiffes anzusetzen. Sie realisiert sich aber auch nicht sogleich mit der Verkündigung der nächtlichen Offenbarung. 4.2 Das rettende Mahl Es ist kein Zufall, dass der Erzähler die 276 ψυχαί (Apg 27,37), die gerettet werden, erst nach der Sättigung erwähnt. Die Bedeutung des Mahles wird schon dadurch betont, dass die vierzehn Nächte, die vergangen sind, von der Einstellung der Nahrungsaufnahme ab gerechnet sind.89 Das bedeutet aber auch, dass Ermutigungsversuche des Paulus (Apg 27,22.25) zwei Wochen lang 86 87 88 89

Vgl. auch etwa Tannehill 1986–1990, 333. Apg 27,10: οὐ μόνον τοῦ φορτίου καὶ τοῦ πλοίου ἀλλὰ καὶ τῶν ψυχῶν ἡμῶν μέλλειν ἔσεσθαι τὸν πλοῦν. Apg 27,37: ἀποβολὴ γὰρ ψυχῆς οὐδεμία ἔσται ἐξ ὑμῶν πλὴν τοῦ πλοίου. Vgl. Apg 27,21.27.33. Die vierzehn Nächte in Apg 27,27 werden folglich durch das Fasten bestimmt und nicht durch das Treiben auf der Adria. Vgl. dagegen Wehnert 1990, 79. Der Genitivus absolutus (διαφερομένων ἡμῶν ἐν τῷ Α ᾿ δρίᾳ) in Apg 27,27 ist hinsichtlich seines Bezuges ähnlich unbestimmt wie ἡγεμονεύοντος τῆς Συρίας Κυρηνίου (Lk 2,2), die syntaktisch nächste Parallele, wenngleich dort kein mit ὡς eingeleiteter Temporalsatz vorausgeht. Da wegen Lk 2,1 mit ἡγεμονεύοντος τῆς Συρίας Κυρηνίου lediglich der Zeitrahmen in der Provinz Syrien durch die temporale Gleichzeitigkeit bestimmt sein dürfte, kann auch διαφερομένων ἡμῶν ἐν τῷ Α ᾿ δρίᾳ schlicht das zeitlich Parallele bezeichnen. Nachdem man sich der Syrte genähert hatte und zwischendurch ohne Navigation unterwegs war, erfolgt nun die erste Ortsangabe, die überhaupt nur im Rückschluss von der bald darauf erreichten Insel möglich ist. Man treibt folglich weder notwendig bereits vierzehn Nächte in der Adria noch die erste Nacht in der Adria. Als die vierzehnte Nacht gekommen ist und man inzwischen, wer weiß wie lange schon, in der Adria treibt, wähnen die Seeleute Land in Sicht. Zur Erstreckung des adriatischen Meeres in der Antike vgl. Hemer 1975, 106–107.

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keine Früchte trugen, auch dann nicht, als sich die in Apg 27,21 in Aussicht gestellte Insel in der Dunkelheit bereits abzuzeichnen schien. Erneut kündigt der Apostel schließlich die Rettung an und versichert, niemand werde auch nur ein Haar einbüßen (Apg 27,34). Neben dem oben erwähnten intratextuellen Rückgriff auf Lk 21,18 enthält diese Ankündigung auch eine motivgeschichtliche Pointe. Wer in schwere See geriet, ließ sich für die von den Göttern erflehte Befreiung aus der Seenot zur Besiegelung seines Gelübdes oder aus Dank für eine erfolgte Rettung den Kopf kahl scheren.90 Setzt man diese Folie voraus, zeigt sich in Apg 27,34 eine erste Distanzierung von der Wirkmächtigkeit der paganen Götter zur See: Man wird aus dem Schiffbruch gerettet werden, ein Haaropfer ist jedoch entbehrlich. Damit setzt sich der Text von der üblichen religio an Bord eines Schiffes ab. Stattdessen heißt es von einem Mahl, dass es der Rettung dient.91 Es ist dieses Mahl, das zur Ermutigung führt.92 In der Welt der Erzählfiguren gibt Paulus lediglich ein Beispiel. Wie er essen auch andere. Die Erzählung weist dem Mahl über eine intratextuelle Verknüpfung aber eine tieferliegende Bedeutung zu. Denn wenngleich die Danksagung über das Brot zu den Segenshandlungen eines jüdischen Mahles gehört, ruft das Brechen des Brotes93 innerhalb des Doppelwerkes doch zwei Begebenheiten wach: Semantisch berührt sich die Formulierung zuvorderst mit dem sogenannten Einsetzungsbericht beim letzten Abendmahl Jesu vor der Kreuzigung,94 syntaktisch steht sie dem Mahl näher, zu dem sich der Auferstandene mit den beiden nach Emmaus aufgebrochenen Jüngern zusammensetzt.95 Der Vergleich macht zugleich deutlich, dass Paulus das gebrochene Brot nicht unter den Anwesenden verteilt.96 Dennoch ist die Anlehnung an das Herrenmahl unverkennbar. Es ist das Brechen des Brotes, das die Wende herbeiführt. Denn in Apg 27,36 fassen alle endlich Mut (εὔθυμοι δὲ γενόμενοι πάντες) und beginnen wieder zu essen, alle 276 ψυχαί (Apg 27,37), die um Paulus willen gerettet werden sollen (Apg 27,22). Die Begegnung mit dem rettenden Gott ähnelt in ihrer Struktur damit der Zusammenkunft zweier Jünger mit Jesus auf dem Weg nach Emmaus: Auf die Wortverkündigung folgt das Mahl (Lk 24,13–35). Aber erst das Brotbrechen lässt die Jünger den Erstandenen erkennen (Lk 24,30– 31.35). Obschon die Sättigung an Bord des Schiffes kein Essen unter Gläubigen darstellt und nicht zur Erkenntnis des Erstandenen führt, hat sie doch eine wichtige Funktion. Die Rettung der Havarierten erfolgt gewissermaßen im Angesicht des Bundesmahls, das denjenigen erinnert 90 Vgl. Petron. 103,5; 107,15; Iuv. 12,81; Lukian., De mercede conductis 1; Anth. Gr. VI 164. Backhaus 2015, 176, verweist auf das Tabu, sich an Bord eines Schiffes die Haare zu schneiden (Petron. 104,5; 105,1.4, vgl. dazu Wachsmuth 1967, 97, 302–304, der allerdings aus dem gleichen Kulturraum keine Belege neben dem Satiriker Petron anführt), und kommt zu dem Schluss, in Apg 18,18 werde Paulus „in ambivalenter Weise als frommer Seefahrer vor Augen geführt.“ Doch Petron. 103,3–6; 104,5–105,4 belegt nicht die Praxis, sich vor einer Fahrt den Kopf zu scheren, vielmehr entstellt ein geschorener Kopf (Petron. 107,15; 108,1; 109,8–110,5; 113,5), weshalb man die Prozedur nur in äußerster Not vornahm. Petron. 107,13–14 beschreibt das geplante Schneiden vor der Abfahrt als praktikables oder ästhetisches Kürzen der Haare und demonstriert die völlig missratene Verteidigung der beiden Angeklagten, die vom angeführten „Seerecht“ vorgeblich gar nichts wussten. 91 Apg 27,34: τοῦτο γὰρ πρὸς τῆς ὑμετέρας σωτηρίας ὑπάρχει. 92 So auch etwa Schneider 2002, II 393 Anm. 79, Tannehill 1986–1990, II 335, und Börstinghaus 2010, 392. 93 Apg 27,35: λαβὼν ἄρτον εὐχαρίστησεν τῷ ϑεῷ ἐνώπιον πάντων καὶ κλάσας ἤρξατο ἐσθίειν. 94 Lk 22,19: λαβὼν ἄρτον εὐχαριστήσας ἔκλασεν καὶ ἔδωκεν αὐτοῖς. 95 Lk 24,30: λαβὼν τὸν ἄρτον εὐλόγησεν καὶ κλάσας ἐπεδίδου αὐτοῖς. 96 So auch etwa Tannehill 1986–1990, II 335, und Börstinghaus 2010, 391.

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oder gegenwertig werden lässt, dem sich dem Evangelisten zufolge die Rettung der verlorenen Menschen verdankt. Damit wird aber auch deutlich, wie der Gott Israels – zumindest in der Zeit der Gemeinde, für die der Evangelist schrieb, also etwa siebzig Jahre nach dem Tod Jesu und gut vierzig Jahre nach den erzählten Ereignissen zur Zeit des Apostels – in die Geschicke der Menschen eingriff: nicht durch Wunder, sondern durch eine Ermutigung, die durch ein Mahl vermittelt wird. Die Heilsgeschichte verläuft nach Plan, aber nicht in einer Weise, dass direkte Interdependenzen zwischen der religio und dem Verlauf der Reise bestehen würden. Für ihre Rettung müssen die Betroffenen daher selbst Hand anlegen.97 Das zeigt schon das Zusammenspiel der Begriffe σωτηρία und σῴζω bzw. διασῴζω: Als tagelang Dunkelheit herrscht, lassen die Reisenden alle Hoffnung auf Rettung fahren (Apg 27,20). In dieser Situation kündigt Paulus an, keiner werde sein Leben verlieren, alle seien ihm laut einer Offenbarung geschenkt (Apg 27,22–24). Da die Crew fliehen will, bedeutet er den Soldaten, sie selbst könnten ohne die Mannschaft nicht gerettet werden (Apg 27,31), daraufhin werden die Militärs aktiv und greifen ein. In Apg 27,34 heißt es vom Essen, wie gesehen, ausdrücklich, dass es der Rettung dient, wobei der Ausdruck πρὸς τῆς ὑμετέρας σωτηρίας ὑπάρχει Apg 27,21 aufnimmt: ἀσιτίας ὑπαρχούσης. Es geht also nicht um eine eucharistische Teilhabe. Die Stärkung ist notwendig für die Rettung, weil das Verhängnis allen schon zu lange auf den Magen schlug. Man muss also wenigstens etwas zu sich nehmen, um gerettet zu werden. Als die Soldaten die Gefangenen liquidieren wollen, ist es schließlich der Zenturio, der Paulus retten will und mit seinem umsichtigen Handeln dafür sorgt, dass alle gerettet werden.98 Außer in Apg 27,20 bezeichnet πᾶς in der Schiffsreiseerzählung und der Melite-Episode immer die Gesamtheit der Reisegesellschaft,99 bei der Weissagung, beim Mahl und beim Erreichen des rettenden Ufers. Die Rettung vollzieht sich also unter tatkräftiger Mithilfe des Militärs. In Rom wird Paulus summierend festhalten, dass den Völkern das Heil bzw. die Rettung gesandt worden sei,100 vor dem Hintergrund in Apg 26,17 wird deutlich: in der Person des Paulus.101 Im Gegensatz zum Steuermann im obigen Beispiel Plutarchs beschränkt der Paulus des Evangelisten die religio auf das Mahlhalten, das die paganen Mitreisenden nicht einordnen können. Aber wie bei Plutarch ist der Mensch in der Apostelgeschichte auch selbst seines Glückes Schmied, alles andere wäre Aberglaube. Weder bei dem sachlich begründeten Urteil des Apostels oder im Zuge der Mehrheitsentscheidung, die falsche Prioritäten setzt, noch während des weiteren Verlaufs der Reise oder bei der Rettung ist ein Gott unmittelbar beteiligt. Paulus kündigt an, man müsse auf eine Insel verschlagen werden (Apg 27,26). Aber nicht deshalb steuert man auf Melite zu. Man erkennt das Land zunächst gar nicht (Apg 27,39); erst als man dort ist, wird deutlich, dass man tatsächlich eine Insel erreicht hat (Apg 28,1). Trotz der Offenbarung erfolgt die Zuwendung Gottes vermittelt. Die Rettung erscheint nicht schicksalhaft, und das Handeln der Akteure realisiert ganz unbewusst die Prophetie. Der Text 97 98 99 100

Vgl. auch O’Connor 2002, 6–7. Vgl. Apg 27,43.44, außerdem Apg 28,1.4. Vgl. Apg 27,24.35.36.37.44; 28,2. Apg 28,28: γνωστὸν οὖν ἔστω ὑμῖν ὅτι τοῖς ἔθνεσιν ἀπεστάλη τοῦτο τὸ σωτήριον τοῦ ϑεοῦ αὐτοὶ καὶ ἀκούσονται. 101 Apg 26,17: ἐξαιρούμενός σε ἐκ τοῦ λαοῦ καὶ ἐκ τῶν ἐθνῶν εἰς οὓς ἐγὼ ἀποστέλλω σε.

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erzählt daher auch von keinerlei Reaktion der Geretteten zugunsten dieses Gottes, obwohl alles der Ankündigung des Apostels entsprechend eintrat. Als das Schiff schon wie angekündigt zerborsten ist, wollen die Soldaten den Gottgesandten in Erfüllung der vermeintlichen Pflicht noch niedermachen (Apg 27,42). Gegen eine solche Interpretation, der zufolge der Evangelist gegen Ende der Apostelgeschichte rationale Zusammenhänge in den Vordergrund rückt, scheint zu sprechen, dass es auf der Insel durch das Eingreifen des Apostels zu spontanen Heilungen kommt. Die Beschreibung einer Fieberheilung zeigt trotz aller Unterschiede102 sogar einzelne Berührungen mit jener wundersamen Heilung, bei der Jesus die Schwiegermutter des Petrus vom Fieber heilte.103 Doch auch in diesem Fall scheint die Erzählung an den rationalen Zusammenhängen interessiert zu sein; die Erwähnung der Ruhr (δυσεντέριον) thematisiert die medizinische Ursache des Fiebers.104 Die Differenzen zur Heilung des Fiebers durch Jesus dürften daher durchaus gewollt sein. Die Handlung, die zur Heilung des Publius führt,105 ähnelt formal am meisten der Beauftragung in Apg 13,3: In der Gemeinde von Antiochia legt man Barnabas und Paulus aufgrund der Aufgabe, die vor ihnen liegt, nach Fasten und Gebet die Hände auf.106 Dabei lässt der Kontext erkennen, dass der Auftrag zur Verkündigung vom Heiligen Geist ergeht (Apg 13,2.4); man handelt also nicht aus eigener Initiative.107 Auf Melite macht insbesondere das Gebet des Apostels deutlich, dass nicht eine medizinische Therapie aufgrund einer Indikation zur Genesung führt, sondern das Wirken des Gottes Israels. Diese Wirksamkeit ist innerweltlich aber nur am Ergebnis ablesbar. Denn die Linderung der Beschwerden erfolgt im Gegensatz zu den Heilungen Jesu108 nicht unmittelbar aufgrund der Zuwendung des Akteurs, sondern vermittelt durch eine Bitte an Gott. Sie unterscheidet sich in ihrem Verlauf damit deutlich von der Heilung des Äneas durch Petrus (Apg 9,33–35) und ähnelt eher einem Verfahren, das Jak 5,14 beschreibt. Der Text schildert eine plötzliche Genesung auf Melite, keine Wunderheilung, die aufgrund von spezifischen Handlungen eines Wundertäters bewirkt würde. Der Heilungsprozess selbst ist zwar auch hier der Erfahrung entzogen, Hinweise auf eine medizinische Therapie fehlen. Zugleich wurden aber auch die Merkmale einer Wunderheilung in der Erzählung reduziert. Es ist das Gebet, das zur Heilung durch Gott führt, der ähnlich wie beim Schiffbruch im Hintergrund wirkt, weshalb sein Eingreifen nicht unvermittelt, ohne die Zuwendung von Mitmenschen,

102 Vgl. dazu etwa Weissenrieder 2005, 154–155, und Kirchschläger 1979. 103 Lk 4,38: ἀναστὰς δὲ ἀπὸ τῆς συναγωγῆς εἰσῆλθεν εἰς τὴν οἰκίαν Σίμωνος. πενθερὰ δὲ τοῦ Σίμωνος ἦν “συνεχομένη πυρετῷ” μεγάλῳ καὶ ἠρώτησαν αὐτὸν περὶ αὐτῆς. Apg 28,8: ἐγένετο δὲ τὸν πατέρα τοῦ Ποπλίου 104 105 106 107 108

πυρετοῖς καὶ δυσεντερίῳ συνεχόμενον κατακεῖσθαι, πρὸς ὃν ὁ Παῦλος εἰσελθὼν καὶ προσευξάμενος ἐπιϑεὶς τὰς χεῖρας αὐτῷ ἰάσατο αὐτόν.

Vgl. dazu Weissenrieder 2005, 148–152. Apg 28,8: προσευξάμενος ἐπιθεὶς τὰς χεῖρας αὐτῷ. Apg 13,3: τότε νηστεύσαντες καὶ προσευξάμενοι καὶ ἐπιθέντες τὰς χεῖρας αὐτοῖς. Vgl. auch Apg 6,6 sowie Apg 8,17.19; 19,6. Vgl. Lk 4,40; 13,13, außerdem auch Apg 9,12.17.

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erfahrbar wird. Dabei erwähnt Paulus aber nicht einmal den Gott Israels oder den Namen Jesu, der allerdings während der ganzen Überfahrt keine Rolle spielt, weil es nicht zur Verkündigung kommt.109 Eine Preisung des Wundertäters nach der Heilung bleibt daher aus. Der Heilungserzählung geht es folglich nicht um den Erweis der Macht Gottes auf der Ebene der Figuren, so wenig wie der Schiffsreiseerzählung. Wenn aber innerhalb der Erzählung selbst der Gott Israels gegen Ende des Doppelwerkes zunehmend als transzendenter Gott verstanden wird,110 dessen Rettungshandeln im Verborgenen wirksam ist und keine Reaktionen nach sich zieht, bleibt für die Dioskuren als Retter kein Platz mehr, weder in der Welt der Figuren noch in jener des Erzählers. Die Wirksamkeit Gottes zeigt sich nicht in Spektakeln und Epiphanien oder einem unmittelbaren Eingreifen, wie es von Dioskuren berichtet wurde und von Lukian karikiert werden konnte.111 Der Gott Israels sitzt nicht auf der Rah. Mit Apg 28,11 schifft sich Paulus daher nicht ein, um mit den Dioskuren in Puteoli einzuziehen wie mit der Trikolore in Paris, sondern um literarisch in den Hafen der Rationalität einzulaufen und damit in der nüchternen Zeit der Lesegemeinde anzudocken.

5. Fazit „Zwillinge an Bord?“ könnte die Frage derjenigen gelautet haben, die ihre Schiffsreise den Dioskuren als Schutzgöttern anvertrauen wollten. Wie man es mit Kastor und Polydeukes hielt, konnte gleichsam als Gretchenfrage in stürmischer See gelten. Der Evangelist drückte mit der Einbindung der Gottheiten in Apg 28,11 weder seine Zustimmung zu solchem Aberglauben noch die Offenheit des Christentums gegenüber der griechisch-römischen Kultur aus. Er wies mit der Notiz abergläubische Tendenzen zurück und sprach sich für ein Gottesbild aus, das in dem Maße, in dem sich Paulus innerhalb der Erzählung Rom nähert, die Züge einer unmittelbaren immanenten Wirksamkeit Gottes mehr und mehr verliert. Welche Erfahrungen beschreibt die Schilderung der Seereise somit? Wer sich aufs Meer begab, war auf sich gestellt oder von den Mitreisenden abhängig. Mochte das Schicksal auch vorbestimmt sein, in rauem Wetter hing das Überleben vom eigenen Handeln, nicht von der Zuwendung der Götter ab. Umgekehrt realisierte sich im Handeln der Seeleute jedoch der Heilsplan Gottes. Diese Einsicht präsentiert der Text unter Verzicht auf ausdrückliche Kommentierungen mit Signalwörtern und Allusionen auf unterschiedlichen Ebenen, nicht nur in der Figurenwelt, sondern auch mittels der Erzählerstimme. Den Rezeptionshorizont der Leser bestimmten folglich sowohl die geschilderten Erlebnisse der Seefahrer als auch die impliziten Reflexionen über die Götter Roms und den Gott des Paulus.

109 Schreiber 1996, 123, führt das auf den „Perspektivwechsel vom Verkündiger zum Gefangenen und Angeklagten“ zurück. Es erschließt sich aber nicht, warum Paulus, der in Haft den Philipper- und Philemonbrief schrieb, vom Evangelisten angesichts von Lk 12,11–12; 21,14–15; Apg 4,8–12.19–20; 5,29–32; 21,33–22,21; 26,1–23 nicht als gefangener Verkündiger dargestellt werden sollte. 110 Vgl. auch etwa Alexander 1999, 446, sowie Backhaus 2014, 45–46. 111 Vgl. etwa Lukian., De mercede conductis 1. Zum Elmsfeuer und den Dioskuren auf der Rah vgl. Wachsmuth 1967, 438–439.

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Teil III Poetik der Seereise Das Meer als literarisch gestalteter Raum

Schiffbruch mit Homer und Hesiod Ethisches und Poetisches in einigen frühhellenistischen Epigrammen Doris Meyer (Straßburg) Wolfgang Kullmann zum 90. Geburtstag Natur- und menschengemachte Katastrophen beschäftigen heute Nachrichtenagenturen und social media, sie werden Gegenstand des öffentlichen Redens und Handelns und stimulieren die Vorstellungskraft jedes Einzelnen. Dabei wird die menschliche Phantasie nicht allein vom öffentlichen Diskurs beflügelt: Nicht weniger ist es wohl die lange Tradition der literarischen oder filmischen Erzählung vom Großunglück, die das jeweilige Katastrophen-Narrativ mit eigenen Erlebnissen mischt, ausgestaltet und mit einer Deutung versieht. Auch Schiffsunglücke und spektakuläre oder unerwartete Rettungen aus Seenot lassen sich diesem Erzähltypus zuordnen. Abgesehen von der menschlichen Freude an Gruselgeschichten, an der nicht am eigenen Leib erfahrenen Not und Gefahr,1 bietet sich der unverhofft glückliche Ausgang einer Katastrophengeschichte dem Erzähler für eine Deutung als Neubeginn an, so wie das Überleben eines einzigen oder zumindest nur sehr weniger Akteure bewirkt, dass sich aus Altem Neues entwickelt. Altorientalische Erzählungen von der Sintflut-Seenot verwenden dieses Schema, griechische Epen und Gründungssagen und nicht zuletzt die christliche Literatur.2 Die mit der Seefahrt verbundenen religiösen und ethischen Assoziationen wirken zudem bei der Entstehung eines Metaphernfeldes mit, das die Literatur- und Ideengeschichte bis heute bereichert. Tenor vieler mariner Metaphern ist die conditio humana, insbesondere die Fragilität der menschlichen Existenz, deren ‚Rettung‘ nur die Götter bewirken können.3 Dass auch die Realisierung eines poetischen Werkes im Vortrag oder während der Lektüre mit der Metapher einer Schifffahrt (ναυτιλία) beschrieben werden kann, unterstreicht die Notwendigkeit des göttlichen Beistands für den Sänger. Die Wahl des vehicle ‚Seefahrt‘ zeigt

1 Vgl. Aristoteles, Poetik 1448b10–13 zur durch die Wiedergabe in Bild oder Erzählung geschaffenen ästhetischen Distanz, die sich beim Rezipienten der schaurigen Szene einstellt. 2 Burkert 1972, 148–152 und 178–181; Caduff 1986, 272; Masciardi, 2008, 347; zur antiken Schilderung von Seestürmen allgemein zum Beispiel Kahlmeyer 1934; Mertens 1987; Corvisier 1999; Dunsch 2013; zum Motiv ‚Schiffbruch‘ in Kunst und Literatur seit der Antike siehe Thompson 2013; vgl. ferner Schmidt in diesem Band mit Beispielen im antiken christlichen Kontext (siehe oben, S. 229–251). 3 Ausgehend von Hesiod deutet Hans Blumenberg 1979 den Schiffbruch als „Daseinsmetapher“; zu einem altägyptischen Text (‚Die Geschichte des Schiffbrüchigen‘), der diese Metapher bereits verwendet, siehe Goedicke 1974, 82. – Zu tenor und vehicle einer Metapher siehe etwa Asper 1997, 14.

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aber auch die Bedeutung, die im antiken Griechenland den beiden Kulturtechniken – der Steuermannskunst4 und der Kunst der ergreifenden Rede – zugeschrieben wurde.5 Die Aktualität des Themas im Zeitalter der expandierenden Diadochenreiche dürfte ein Grund dafür sein, dass sich hellenistische Epigrammdichter für Seefahrt und Schiffbruch interessierten. Aber auch die ethischen und religiösen Aspekte der alten Seefahrermythen werden in dem von Philosophie und kulturhistorischem Interesse geprägten Milieu eine Rolle gespielt haben. Zu Beginn des 3. Jhs. v. Chr. verfasst Poseidipp von Pella die erste Epigrammserie unter dem Titel Ναυαγικά (‚Schiffbrüchigenepigramme‘), von der wir Kenntnis haben.6 Auch bei Kallimachos finden sich Epigramme desselben Typus; zahlreiche Variationen verschiedener zeitgenössischer oder jüngerer Dichter sind in der Anthologia Palatina überliefert. Wir wissen nicht genau, ob die Zeitgenossen Poseidipp und Kallimachos als Erfinder des Nauagikons gelten können7 und ob sie die Gedichte mit Blick auf den jeweils anderen verfassten;8 die Originalität und Thematik dieser Epigramme passt jedoch in die Zeit der literarischen Innovation im frühhellenistischen Alexandria. Im Folgenden soll es darum gehen, wie es den Dichtern Kallimachos und Poseidipp gelingt, das ursprünglich in Epos und Lyrik9 beheimatete Thema ‚Schiffbruch und Rettung‘ in einem historisch und kulturell neuen Rahmen zu verankern. Ausgangspunkt der Reflexion ist dabei die bekannte und vielfach behandelte Beobachtung, dass die Elite der hellenistischen Dichter ihr innovatives Werk zugleich als praktizierte Literatur- und Kulturgeschichte verstand. Im Alexandria des 3. Jhs. v. Chr. war die Bezugnahme auf die literarischen Autoritäten der griechischen Archaik Teil eines kulturerneuernden ‚Projekts‘, in dem es auch um die von ‚den Alten‘ vermittelten Werte ging.10 Das Meer, seine Gefahren und der Wagemut des Seefahrers sind Themen der griechischen Dichtung seit frühester Zeit, in denen sich lebensweltliche Erfahrungen der Mittelmeeranrainer, Seefahrer und Kolonisten spiegeln.11 Literaturgeschichtlich folgenreich werden neben den Seefahrerepen Argonautika und Odyssee die Hexameter des Hesiod (um 700 v. Chr.), in de-

4 Der Steuermann spielt eine Hauptrolle in der antiken Seefahrtsliteratur und -metaphorik, vgl. in diesem Band etwa die Beiträge von Schmidt (siehe oben, S. 235–249) und Egelhaaf-Gaiser (siehe unten, S. 331–348). 5 Zur Entstehung des poetologischen Metaphernfeldes ‚Navigation‘ aus Mythos und Gedächtnispraxis bietet Giannisi 2006 einen guten Überblick (305–319), besonders 197f. mit Literatur und Hinweisen auf die wichtigen Arbeiten von Jesper Svenbro und Claude Calame, ferner 193 Anm. 416, 209 Anm. 453, 257 Anm. 564; siehe auch Scheid/ Svenbro 2014, 73; 139 mit Anm. 55 und 142f.; generell auch Humphrey 2005, 80 zu Linearität der mündlichen Erzählung und ‚songlines‘. 6 Siehe dazu Zanetto 2002; Thomas 2004; Di Nino 2010, 77–186 und Mateo Decabo 2015, mit Literatur; zu Nauagika in der Anth. Pal. auch Lattimore 1962, 199–200; Campetella 1995 und 1997–1998 sowie Tueller (im Druck). 7 Mateo Decabo 2015, 321f. 8 Vieles spricht dafür, vgl. zum Beispiel Lelli 2005. 9 Zu Schiffbrüchigen in den nichtepischen Gattungen vgl. Mateo Decabo 2015, 321f. Archilochos Fr. 115 IEG enthält zahlreiche Anspielungen auf die Odyssee und ist gewissermaßen ein umgekehrtes Propemptikon, siehe Bagordo 2011, 156. Zur Seefahrt als Metapher für das Symposium und zum ‚Schiff der Symposiasten‘ bei den frühgriechischen und klassischen Lyrikern siehe Nünlist 1998, 317–325. Einschlägige Stellen bei den Tragikern, von denen Euripides das meiste bietet, versammelt bereits Rappolt 1877, 15–28. 10 Vgl. Meyer 2013, 32–45 zu Forschung und neuerer Literatur. 11 Reiches Material zum Wahrnehmungsraum ‚Mittelmeer‘ bieten Horden/Purcell 2000, in unserem Zusammenhang besonders 124–132 („Lines of Sound and Lines of Sight“).

Schiffbruch mit Homer und Hesiod

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nen er den Seehandel und die Fahrt übers offene Meer mit negativen moralischen Vorzeichen versieht.12 Aber auch in der homerischen Odyssee ist die Seefahrt negativ konnotiert. Die Odyssee bietet packende Schilderungen von Seenot und Stürmen, in denen die Todesgefahr und das Beinahe-Tod-Erlebnis akzentuiert werden.13 So kämpft Odysseus im fünften Buch zuerst auf dem selbstgezimmerten Floß und dann schwimmend ums Überleben, was ihm schließlich aufgrund der eigenen Klugheit, aber auch mit Hilfe eines namenlosen Flussgottes und der Meeresgöttin Ino-Leukothea, Beschützerin der Schiffbrüchigen14 , gelingt. Zur epischen Erzählweise gehören Gleichnisse und Reden, die das Geschehen anschaulich machen. Unter den Tiervergleichen des archaischen Epos ist das Bild des tauchenden Seevogels dasjenige, das in besonderer Weise mit dem Meer, aber auch mit den Lebensräumen Luft und Erde verbunden ist.15 Die Monologe des schiffbrüchigen Odysseus verdeutlichen, welche Art von Tod ihn erwartet: ruhmlos und ohne Grabesehren (5,299–312), an Felsen zerschmettert oder von Seeungeheuern verspeist (5,408–423), an unbekanntem Gestade angespült, erfroren oder von Landtieren getötet (5,465–474).16 Im 24. Buch der Odyssee schließlich wendet sich Laërtes an den noch unerkannten Odysseus mit Worten, die man als Schiffbrüchigenepigramm (Nauagikon) avant la lettre lesen kann: [. . . ] meinen Sohn – wenn er denn je war – den Unglücklichen, den wohl fern von den Seinen und dem väterlichen Lande entweder irgendwo im Meer die Fische verzehrt haben, oder er ist auf dem Festland den wilden Tieren und Vögeln zur Beute geworden, und nicht hat ihn die Mutter für die Bestattung geschmückt und beweint, noch auch der Vater, die wir ihn zeugten, und nicht hat die teuer erworbene Gattin, die verständige Penelopeia, ihn, ihren Gatten, auf der Bahre beklagt, wie es sich ziemt, und ihm die Augen zugedrückt: denn das ist die Ehre der Gestorbenen.17

Auch Hesiod, der Dichter der Werke und Tage, sieht in der Seefahrt wenig Gutes. Als Grund seiner Bedenken nennt Hesiod vor allem ethische und religiöse Motive: Nur dann, wenn man 12 Hesiod, Erg. 618–694; vgl. 45; 235f. Gräzisten denken auch an das Ethos des 1. Stasimons der sophokleischen Antigone, besonders 331–337 (πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει·/τοῦτο καὶ πολιοῦ πέραν/ πόντου χειμερίῳ νότῳ/χωρεῖ, περιβρυχίοισιν περῶν ὑπ’ οἴδμασιν). – Einen Einblick in das Fortwirken dieses Diskurses in späterer Zeit gibt der Beitrag von Mindt in diesem Band (siehe unten, S. 351–368). 13 Od. 5,291–463. Mit dem dramatischen Schiffbruch, bei dem er die Gefährten verliert, beendet Odysseus die Erzählung seiner Erlebnisse am Hofe der Phäaken (12,403–450). Der Schiffbruch ereignet sich zudem im Nachgang zu einer problematischen Liebesbeziehung, vgl. Scheid/Svenbro 2014, 73–75 zur Metapher ‚Liebe als gefährliche Schifffahrt‘. Das Bild wird zum Beispiel von Poseidipp in 128 AB = Anth. Pal. 5,209 aufgegriffen. 14 Vgl. zum Beispiel Erbse 1986, 51. 15 Ino-Leukothea, die sich – einst ins Meer gestürzt – jetzt wie der Vogel Aithyia schnell zwischen Luft und Wogen bewegt (αἰθυίῃ δ’ ἐϊκυῖα, 5,337 und 353); die Gefährten, die wie „Wasserkrähen“ vom Deck stürzen (κορώνῃσιν ἴκελοι, 12,418). Vgl. Apollonios von Rhodos, Arg. 2,932–935; Rappold 1878, 21–27 zu Vogel- und Flügelgleichnissen bei Homer und den Tragikern. 16 Vgl. auch das ‚anthropologische‘ Gleichnis 5,394–398: Rettendes Land und schützender Wald erscheinen Odysseus so willkommen wie Söhnen erst das Leben und dann der Tod des von langer Krankheit getroffenen Vaters. 17 [. . .] ἐμὸν παῖδ’ εἴ ποτ’ ἔην γε/δύσμορον· ὅν που τῆλε φίλων καὶ πατρίδος αἴης/ἠέ που ἐν πόντῳ φάγον ἰχθύες, ἢ ἐπὶ χέρσου/ϑηρσὶ καὶ οἰωνοῖσιν ἕλωρ γένετ’· οὐδέ ἑ μήτηρ/κλαῦσε περιστείλασα πατήρ ϑ’, οἵ μιν τεκόμεσθα·/οὐδ’ ἄλοχος πολύδωρος, ἐχέφρων Πηνελόπεια,/κώκυσ’ ἐν λεχέεσσιν ἑὸν πόσιν, ὡς ἐπεῴκει,/ ὀφθαλμοὺς καθελοῦσα· τὸ γὰρ γέρας ἐστὶ ϑανόντων (Od. 24,289b–296, übers. von W. Schadewaldt), vgl. Di Nino 2010, 51; Mateo Decabo 2015, 320.

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von Hunger, Armut oder Schulden zum Verlassen der Heimat genötigt werde, wie einst es dem eigenen Vater geschehen sei, solle man die gefährliche Fahrt wagen.18 Einen gewissen Schutz biete die genaue Beachtung der Wetterzeichen und astrologischen Regeln, denn „[. . . ] das Meer verschlingt keine Männer, wenn nicht etwa mit Absicht der Erderschütterer Poseidon sie zu vernichten gedenkt oder Zeus, der Unsterblichen Herrscher [. . . ].“19 Hesiod, der sich in den Werken und Tagen, einem Stück paränetischer Weisheitsliteratur20 , mit mahnenden Worten an den Bruder Perses wendet, wirft hier die Autorität des erfolgreichen Aöden in die Waagschale, der sich auf göttliche Unterstützung berufen kann: Er selbst sei zwar nie auf dem „breiten Meer“ gefahren, habe aber eine kurze Überfahrt nach Euböa unternommen, wo er mit einem „Hymnos“ (657; 662) den Sieg in einem musischen Wettstreit davongetragen habe (650–657). Die Unwissenheit in nautischen Dingen (649; 660) kompensiert der Dichter nach eigener Aussage dadurch, dass er „die Maße des vielrauschenden Meeres“ (μέτρα πολυφλοίσβοιο ϑαλάσσης, 648) kenne, die man wohl zu Recht als die Einsicht in die „maßvolle Ordnung“ verstanden hat, die den Menschen die Fahrt übers offene Meer nur zu bestimmten Zeiten erlaube.21 Als Vermittler dieses höheren Wissens beschreibt Hesiod die Seefahrt mit dem Blick auf die conditio humana: Nicht möchte ich die Seefahrt loben, denn unlieb ist meinem Herzen die Eile, die uns ins unausweichliche Unheil davonreißt, und dennoch tun die Menschen auch dies im Unverstand ihres Sinnes. Reichtum gilt ja als Seele der armen sterblichen Menschen. Schrecklich ist’s, in den Wellen den Tod zu finden, bedenke in deinem Herzen, ich bitte dich, alles, was ich dir sage. Leg’ nicht alle Güter hinein in die bauchigen Schiffe, lass’ das meiste zurück, den kleineren Teil nur verfrachte! Schrecklich ist’s, in den Wellen des Meeres ein Leid zu erfahren, schrecklich, wenn du den Wagen im Übermaße belastest und dann die Achse zerbricht und dein Frachtgut wird dir beschädigt. Halte das rechte Maß, denn alles hat seine rechte Stunde.22

18 Erg. 646–648: εὖτ’ ἂν ἐπ’ ἐμπορίην τρέψας ἀεσίφρονα ϑυμὸν/βούληαι [δὲ] χρέα τε προφυγεῖν καὶ λιμὸν ἀτερπέα,/δείξω δή τοι μέτρα πολυφλοίσβοιο ϑαλάσσης, vgl. 633–638. Kein Schiff zur Nahrungssuche besteigen zu müssen ist nach Hesiod das Privileg der Gerechten (Erg. 225–237). – Nach dem allerdings schlechten Rat (κακὴ βουλή, 339) des homerischen Steuermanns Eurylochos (Od. 12,341–351) ist das Verhungern die schlimmste Art zu sterben, schlimmer als ein Schiffbruch, denn dann bräuchte man nur den Mund zu öffnen, um schnell zu ertrinken. Die anschließenden Leiden des Odysseus zeigen dann aber, dass dies nicht so einfach ist. 19 οὔτε κε νῆα/καυάξαις οὔτ’ ἄνδρας ἀποφθείσειε ϑάλασσα,/εἰ δὴ μὴ πρόφρων γε Ποσειδάων ἐνοσίχθων/ἢ Ζεὺς ἀθανάτων βασιλεὺς ἐθέλῃσιν ὀλέσσαι· (Erg. 665–668, übers. von A. von Schirnding). Die Verse passen auf das Schicksal des Odysseus, aber auch auf Agamemnon und die anderen Helden in den Nostoi, siehe Anm. 31 (siehe unten, S. 262). 20 Vgl. Ercolani/Rossi 2011, 88–94 mit Literatur. 21 Vgl. Erg. 641f.: τύνη δ’, ὦ Πέρση, ἔργων μεμνημένος εἶναι/ὡραίων πάντων, περὶ ναυτιλίης δὲ μάλιστα [. . .]; Theunissen 2000, 809; Versényi 1974, 53f. Vgl. auch Erg. 694, 720 zur Idee des rechten Maßes. 22 [. . .] οὔ μιν ἔγωγε/αἴνημ’, οὐ γὰρ ἐμῷ ϑυμῷ κεχαρισμένος ἐστίν·/ἁρπακτός· χαλεπῶς κε φύγοις κακόν· ἀλλά νυ καὶ τὰ/ἄνθρωποι ῥέζουσιν ἀιδρείῃσι νόοιο·/χρήματα γὰρ ψυχὴ πέλεται δειλοῖσι βροτοῖσιν./δεινὸν δ’ ἐστὶ ϑανεῖν μετὰ κύμασιν· ἀλλά σ’ ἄνωγα/φράζεσθαι τάδε πάντα μετὰ φρεσὶν ὡς ἀγορεύω./μηδ’ ἐν νηυσὶν ἅπαντα βίον κοίλῃσι τίθεσθαι,/ἀλλὰ πλέω λείπειν, τὰ δὲ μείονα φορτίζεσθαι./δεινὸν γὰρ πόντου μετὰ κύμασι πήματι κύρσαι·/δεινὸν δ’ εἴ κ’ ἐπ’ ἄμαξαν ὑπέρβιον ἄχθος ἀείρας/ἄξονα καυάξαις καὶ φορτία μαυρωθείη./μέτρα φυλάσσεσθαι· καιρὸς δ’ ἐπὶ πᾶσιν ἄριστος (Erg. 682–694, übers. nach A. von

Schirnding).

Schiffbruch mit Homer und Hesiod

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Die homerische Odyssee und die hesiodeischen Werke und Tage liefern die Ingredienzen für spätere poetische Behandlungen der Themen Seefahrt und Schiffbruch, sowohl was die Gefahren und den Nutzen der See, als auch was ihre Assoziation mit Fragen der Ethik, der Religion und schließlich auch der dichterischen Praxis betrifft: Todesgefahr, Wagemut und Angst, menschliche Gier und Torheit, nautisches Wissen und Können, Wetterzeichen, Winde und Stürme, aber auch das Eingreifen der Götter, wenn es um Recht und Gesetz (δίκη) geht. Der Dichter schließlich, der eine besondere Verbindung zu den Göttern besitzt, verkündet den „Sinn des Zeus“23 , der in dem Wissen um das rechte Maß (μέτρα) und den rechten Zeitpunkt (καιρός) menschlicher Handlungen besteht. Die autobiographische Kurzerzählung des Hesiod bringt das Thema der Musenkunst in einen zunächst lockeren Zusammenhang mit Seefahrt, Meteorologie und Astrologie.24 Nicht zufällig nennt der Dichter aber hier wohl auch das Beispiel der Wagenfahrt samt Achsbruch als terrestrisches Pendant zum Schiffbruch. Wagenfahrt und – per analogiam – Seefahrt erscheinen bei den griechischen Dichtern der Archaik als poetologische Metaphern, die die Arbeit des Dichtens mit anderen aristokratischen Tätigkeiten auf eine Ebene stellen.25 Selbst wenn also Hesiod hier die Schifffahrt nicht in erster Linie als eine solche Metapher verwendet haben sollte26 , so bewegt er sich doch in einer Gedankenwerkstatt mit Dichtern, die dies taten. Zugleich legt er dank seiner dichterischen Autorität die Grundlagen für eine poetologische Deutung. Gleiches gilt für die Idee des ‚rechten Maßes‘, zu der auch die ‚rechte Last‘ gehört (Erg. 688f., 692f.).27 Seefahrt und Schiffbruch sind also in der griechischen Dichtung mit vielfachen Deutungsund Gestaltungsmöglichkeiten ‚befrachtete‘ Bilder oder Narrative.28 So greift Kallimachos die ethische Komponente der Seefahrt-Passage in den Werken und Tagen auf, wenn er die attische Greisin Hekale im gleichnamigen Epyllion von dem Schiffsunglück erzählen lässt, bei dem diese

23 ∆ιὸς νόον: Theog. 51, 537, 1002; Erg. 105. Der Dichter spricht als Wissender: Erg. 106–107. 24 Die gedankliche Verbindung ist dem alten Orient nicht fremd, vgl. Nünlist 1998, 265, zu vedischen und ägyptischen Beispielen (das Schiff als Buch, die Zunge als Anker, mit letzterem vgl. Pindar, Pyth. 10,51), 265–276 zur poetologischen Schiffsmetapher bei Pindar, Bakchylides, Simonides, Alkman, Anakreon und Ibykos. Zum Fortwirken dieser diskursiven Verschränkung von Seefahrt, Sterndeutung, Wetterkunde, Landbau und Poetologie vgl. auch Haß in diesem Band (siehe unten, S. 273–292). 25 Seltener ist die nautische Metapher. See- und Wagenfahrt vermutlich in dieser Verbindung und Bedeutung: Alkman Fr. 1,93–95 PMG: τῶ] ι τε γὰρ σηραφόρωι/..] τῶς εδ . . . . . . .. /[ῶι] κυβερνάται δὲ χρὴ/κ [ἠ] ν νᾶϊ μάλιστ’ ἀκούην, eine Anspielung auf die odysseischen Sirenen. Zu Alkman und zu den Schifffahrtsmetaphern bei Pindar vgl. Nünlist 1998, 265–274; Asper 1997, 26 Anm. 24; 45 Anm. 99; mit poetologischer Bedeutung zum Beispiel auch Pindar, Pyth. 10,51–54 (‚Schiffbruch‘ droht dem Dichter, der ins Fabulieren kommt); Nem. 3,26–27; 4,69–72; 5,50–51. Zum Schiffbruch bei Alkman und anderen lyrischen Vorläufern der hellenistischen Nauagika siehe auch Mateo Decabo 2015, 321f. Anm. 10. 26 Nünlist 1998, 276. 27 Poetologische Deutung des ‚schwerbeladenen Wagens‘ in der Alten Komödie: Asper 1997, 139f., 173f. und besonders 174 Anm. 183; bei Simonides erscheint das Lied als Fracht eines Lastenschiffs, siehe hierzu Nünlist 1998, 269. Zum Thema ‚Messen‘ in der alexandrinischen Dichtung vgl. auch Meyer 2017. 28 Für die Schrecken der Meeresstürme interessiert sich auch die antike Dichtungstheorie, vgl. Ps.-Longin, De sublimitate, Kap. 10 zu Homer, Archilochos und Arat.

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den Mann und die Söhne, welche die meteorologischen Regeln nicht beachtet hatten, zugleich mit ihrer Existenzgrundlage verlor:29 [. . . ] der auch [. . . ] des Orneussohns [. . . ] auf bauchigem Schiff [. . . ] Pferde vom minzenreichen Eurotas zu bringen [. . . ] Woge und wilder Meeresschwall [. . . ] Kap Malea, wo [. . . ] unter Flügeln der Aithyia nämlich löste er die Schiffstaue; möge unter diesem Vorzeichen weder ich selbst noch, wer immer uns gut will, reisen [. . . ] für Handel eine schlimme Sache [. . . ] seit Menschen das Schiff haben [. . . ] da den Schiffern mitten [. . . ] ich [. . . ] die Könige [. . . ]30

Die erhaltenen Worte der Hekale sind voller epischer Assoziationen. Der Vogel Aithyia verweist auf Ino-Leukothea in der Odyssee, der Schiffbruch am berüchtigten Kap Malea auf die Nostoi und den verhängnisvollen Sturm, in den Odysseus ebendort auf dem Heimweg gerät (Od. 9,67– 84).31 Die Rolle der „Könige“, die am Ende des Fragments genannt werden, und die Hekale für ihr Unglück verantwortlich macht, erinnert zudem an die raffgierigen „Herren“ (βασιλῆες) in den Werken und Tagen.32 Hesiodisches Ethos prägt auch ein dialogisches Fragment aus den Aitien des Kallimachos. Es enthält die Rede eines Symposionsteilnehmers (des Dichters?), der wie Hesiod in den Werken und Tagen beteuert, er sei noch nie übers Meer gefahren. Sein Gegenüber preist ihn daraufhin als „dreimal glücklich“, denn er selbst sei wie der Vogel Aithyia in den Wogen zuhause.33 Die beiden Kallimachosfragmente zeigen – wiewohl sehr schlecht erhalten –, mit welcher literarischen Technik im 3. Jh. v. Chr. die nautische Topik und Metaphorik der poetischen Vorbilder neu belebt wird: Kallimachos stellt die bekannten Elemente in einen neuen Rahmen, der zugleich einen ‚Sitz im Leben‘ suggeriert. In der Hekale ist dies die Geschichte einer in Einfachheit lebenden alten Frau, die an die odysseische Eurykleia erinnert und den Ursprung eines attischen Kults erklärt.34 Im Aitien-Fragment bildet das gelehrte Symposion den textimmanenten Rahmen für einen Dialog, der das hesiodeische „ich weiß zwar nichts über die Seefahrt [. . . ]“ humorvoll variiert. Eine solche ‚Neu-Verortung‘ stellen auch die Epigramme auf Schiffbrüchige dar, indem sie als Grab- oder Weihinschriften das Formular einer Gattung übernehmen, die ihren ‚Sitz‘ im Leben breiter Schichten der Bevölkerung hat.35 Mit diesem Rahmen verbinden sich dann die homerischen und hesiodeischen Motive und ‚Daseinsmetaphern‘. 29 Fr. 224 Asper/47 Hollis. Hierzu und zur Hesiodrezeption bei Kallimachos siehe Skempis 2010, 56–59; Sistakou 2009. Aithyia und andere Meeresvögel als (Un-)Wetterzeichen: Arat, Phain. 909–920, vgl. auch Anm. 33 (siehe S. 262). 30 Übers. nach Asper 2004, 290f. Der Papyrus weist hier größere Lücken auf. Zur gnomischen Wendung vgl. auch Kallimachos, Ep. 18,1 Pf. 31 Zur Rückfahrt/Heimkehr (Nóstos) der Atriden und Agamemnons Scheitern am Kap Malea in den Nostoi und in der Odyssee vgl. Kullmann 1988, 195. Die unglücklichen Nosten der Trojakämpfer bilden auch den Hintergrund für die Behandlung der Schiffbruchthematik in der griechischen Tragödie; in hellenistischer Zeit dramatisiert sie Lykophron im Rahmen einer düsteren Prophezeiung (Alex. 365–1225). 32 Hec., Fr. 47,20 H.: . . . ] οι βασιλ [, vgl. Fr. 49 und 54 H. Hesiod, Erg. 235–249, führt den hochmütigen Königen den Schiffbruch als Strafe des Zeus vor Augen, vgl. 38f. (βασιλῆας/δωροφάγους). 33 Fr. 178 Pf./135 Asper, v. 27–34. Ganz ähnlich verwendet Arat, Phain. 296–299 das Bild der Aithyia; zur Aithyia in der Hekale und bei Poseidipp siehe Skempis 2010, 57f.; Baumbach 2015, 117; Prioux 2017, 52. 34 Skempis 2010, 306–348. 35 Zur Frage der möglichen Inschriftlichkeit der Poseidipp-Epigramme vgl. Seidensticker/Stähli/Wessels 2015, 14f.

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Der Tod auf dem Meer oder die Rettung aus Seenot finden sich schon in inschriftlichen Grab- und Weihepigrammen.36 Poseidipp betont in einer literarischen Variante einerseits die Dankbarkeit eines Schiffbrüchigen, dem die Grabesehren unerwartet doch noch zuteilwerden, andererseits das Unheroische des kleinen Grabmals bzw. des kleinen Grabinhabers:37 Ναυηγόν με ϑανόντα καὶ ἔκλαυσεν καὶ ἔθαψ.εν Λεώφαντος σπουδῆι, καὐτὸς ἐπειγόμενος ὡς ἂν ἐπὶ ξείνης καὶ ὁδοιπόρος· ἀλλ’ ἀποδοῦναι Λεωφάντ.ωι µεγάλην μικκὸς ἐγὼ χά.ριτα. 4 μικκὸς ἐγὼ ed. pr. (def. Livrea 2002, Thomas 2003, Zoroddu 2005, Di Nino 2010) : Μίκκος ἔχω Lapini 2002, 2007 : μικκὸς ἔχω Mateo Decabo 2015.

Mich Schiffbrüchigen, gestorben, beweinte und begrub Leophantos mit Eifer, obwohl er selbst in Eile38 war, wie einer in der Fremde und auf der Durchreise: aber großen Dank abzustatten dem Leophantos bin ich Kleiner in der Lage.39

Eine Pointe liegt darin, dass Leophantos, der fremde Bestatter, das unstete Leben eines Reisenden zu leben scheint, das Kallimachos im Aitien-Fragment 178 Pf. mit der Metapher des homerischen Seevogels Aithyia (siehe oben) umschreibt, der für den Sturz in die See, aber auch für die Eile und das Leben zwischen den Wellen des Meeres steht. So haben wir hier die paradoxe Situation, dass gerade der erfahrene Seereisende Leophantos fast keine Zeit für die Bestattung des Schiffbrüchigen gefunden hätte. Auf das Epigramm des Poseidipp scheint das folgende Nauagikon des Kallimachos mit einer weiter gehenden Psychologisierung zu antworten, indem es die Angst und Unruhe auch in das Innere des Bestattenden verlegt:40 “Τίς, ξένος ὦ ναυηγέ;” – “Λεόντιχος ἐνθάδε νεκρὸν εὗρεν ἐπ’ αἰγιαλοῦ, χῶσε δὲ τῷδε τάφῳ δακρύσας ἐπίκηρον ἑὸν βίον· οὐδὲ γὰρ αὐτὸς ἥσυχος, αἰθυίῃ δ’ ἶσα ϑαλασσοπορεῖ.”

„Wer bist du, fremder Schiffbrüchiger?“ – „Leontichos fand mich hier an der Küste als Leichnam und schüttete mir dieses Grab auf, wobei er sein eigenes gefährliches Leben beweinte. Auch er selbst lebt ja nicht ruhig, sondern fährt der Aithyia gleich über das Meer.“

Das Grabmal des anonymen Seemanns kann den Namen des Verunglückten nicht liefern, wohl aber den des Auftraggebers. So steht die Motivation des mitfühlenden Bestattenden Leonti36 Siehe etwa den Hexameter CEG 1,132 (vgl. hiermit Certamen Homeri et Hesiodi 132f. und das Alkibiades zugeschriebene Fragment in West 1972, 29); ferner CEG 1,162; CEG 2,664 sowie 807; Meyer 2005, 54f. 37 Pap. Mil. Vogl. VIII 309 col. XIV, l. 25–28 = 94 AB (New poems attributed to Posidippus: a text-in-progress, Version 13 © Center for Hellenic Studies, January 2016). 38 Zur notorischen Eile der Seeleute (v. 2: σπουδῆι, καὐτὸς ἐπειγόμενος [. . .]) vgl. Hesiod, Erg. 673f., 683–685. 39 Übers. nach Mateo Decabo. Μικκός (‚der Kleine‘) begegnet in mehreren Epigrammen aus der Zeit des Kallimachos als Eigenname sozial niedriggestellter Personen oder ‚kleiner Leute‘, allerdings bleibt unklar, woher Leophantos diesen Namen kennen sollte; zu den verschiedenen Lesarten siehe Mateo Decabo 2015, 339f. Nach Gutzwiller 1998, 29 (Μικκὸς ἐγώ) geht es dem Dichter auch um den Kontrast zum aristokratisch anmutenden Namen ‚Leophantos‘. Dies würde zum bekannten Motiv ‚Der Tod macht alle gleich‘ passen. 40 Ep. 58 Pf./50 Asper/Anth. Pal. 7,277; Gutzwiller 1998, 208f.

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chos im Zentrum des Gedichts, dessen emotionale Beteiligung durch das Homer variierende Gleichnis illustriert und an den Leser vermittelt wird.41 Belehrend nach Art des Hesiod scheint sich der Sprecher des kallimacheischen Grabepigramms für einen Händler zu geben, der (wie der Ehemann der Hekale in Fr. 47 H.) auf der Rückreise mit dem Schiff untergegangen ist: Νάξιος οὐκ ἐπὶ γῆς ἔθανεν Λύκος, ἀλλ’ ἐνὶ πόντῳ ναῦν ἅμα καὶ ψυχὴν εἶδεν ἀπολλυμένην, ἔμπορος Αἰγίνηθεν ὅτ’ ἔπλεε. χὠ μὲν ἐν ὑγρῇ νεκρός, ἐγὼ δ’ ἄλλως οὔνομα τύμβος ἔχων κηρύσσω πανάληθες ἔπος τόδε· “Φεῦγε ϑαλάσσῃ συμμίσγειν ᾿Ερίφων, ναυτίλε, δυομένων.”

Lykos von Naxos starb nicht zu Lande, sondern auf dem Meer sah er gleichzeitig sein Schiff und sein Leben zugrunde gehen, als er, ein Kaufmann, von Ägina zurücksegelte. So liegt dessen Leichnam im Nassen, ich aber, der Grabhügel, trage allein den Namen und künde von der Wahrheit dieses Wortes: „Meide den Aufenthalt auf dem Meer, Seemann, wenn die Böckchen untergehen!“42

Auch hier ist der Rahmen für die als Wahrheit verkündete Weisheit originell und mit Sinn für Effekte gewählt. Das Kenotaph kann nicht behaupten, dass es die Grabstätte des Lykos markiere, und verkündet deshalb eine allgemeinere Botschaft, die für den Verschollenen allerdings zu spät kommt. Anstelle der bei Hesiod als Zeichen für den Winterbeginn genannten Pleiaden führt Kallimachos hier das auch von Arat in diesem Kontext verwendete Sternbild der Eriphoi an, bei deren Untergang die Schifffahrt zu gefährlich werde.43 So steht auch hier nicht der Tod des Seemanns im Mittelpunkt. Das Individuum wird zum Beispiel, mit dem Kallimachos eine – von Arat aktualisierte – hesiodeische Wahrheit beweist.44 Poseidipp wiederum variiert das Motiv des Vogelzeichens, indem er es zum Gegenstand eines Epigramms macht, das sich zunächst auf das hesiodeische Thema der ‚nautischen Weisheiten‘ konzentriert, um dann den aus Ionien glücklich herübergekommenen Seefahrer zu begrüßen (Ep. 21 AB): Νηῒ κα.ϑ.ε.λκο.μένηι πά.ντα π.λέ.ο.〈ς〉 ἰνὶ φανήτω ἴρηξ, α.ἰ.ϑυ.ίη.ς. οὐ καθαρ.οπτέ.ρυγο.ς· δύν.ω.ν εἰς. βυθὸν ὄρ.νις ἀνάρσιος, ἀλλὰ πετέσθω ὑψ.ο. .. [. . . ..]..[. . . .]. [..] . φ.’ ὅ.λ.ω.ς· οἷος ἀπ.ὸ. δ.ρυ.ὸς. ὦ.ρ.τ.’ ᾿Ι.α.κῆ.ς. ὠκ.ύ.π.τ.ε.ρος ἴρηξ __ ἱ.ρ.ῆι, Τί.μ.ω.ν., σ.ῆ.〈ι〉 ν.η.ῒ καθελκομέν.η〈ι〉. 41 Mit v. 4 (αἰθυίῃ δ’ ἶσα) vgl. Od. 5,353 (αἰθυίῃ εἰκυῖα), siehe dazu oben Anm. 15, Anm. 29, Anm. 31 und Anm. 33 (S. 259, S. 262). Zum aristotelischen Konzept des emotionalen Effekts der Metapher siehe Meyer, „Tears and Emotions“ (im Druck). 42 Ep. 2 Pf./38 Asper/Anth. Pal. 7,272. Zum Gegensatz von Land und Meer siehe auch Poseidipps Nauagikon Anth. Pal. 7,267 (132 AB). 43 Vgl. Arat, Phain. 158f.: [. . .] ᾿Ερίφων, οἵτ’ εἰν ἁλὶ πορφυρούσῃ/πολλάκις ἐσκέψαντο κεδαιομένους ἀνθρώπους. 44 Derartige Wissenschaft parodierende ‚Beweise‘ sind eine Spezialität des Kallimachos, vgl. besonders das Epigramm(?)fragment 393 Pf. (468a Asper), Meyer 2005, 214f.

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1 πλέος ed. pr., min. : π.λε.ο.ν. P (def. Gronewald 2001) : πλέον.’ ἰνὶ Sider 2005 (def. Durbec 2007) : πλόον Lapini 2002 : πα.ντᾶ〈ι〉 π.α.ρ.ὰ. ϑ.ινὶ Luppe 2004d : ἀντιφανήτω Lapini 2007. 4 fort. ὑψ.ο.ῦ vel ὑψ.ο.τ.ά. [τω ed. min. ] α. .[ vel ] λ. .[ ed. min. ] ε.φ’ potius quam ] ι.φ’ ed. min. e. g. ὑψο.ῦ π. [ρὸς νεφέ] λ.α. [ς καὶ τ] α. [χὺ κἀσ] φα.λ.έ.ως Luppe 2004d.

Wenn ein Schiff ins Wasser gezogen wird, zeige sich ganz kraftvoll ein Falke; denn die Flügel der Aithyia 〈sind dafür〉 kein gutes Zeichen. Ein in die Tiefe tauchender Vogel ist ungünstig, vielmehr soll er fliegen [. . . ] gänzlich. So wie sich von einer ionischen Eiche der schnellfüßige Falke erhob, als, Timon, dein heiliges Schiff zu Wasser gelassen wurde.45

Das Epigramm, das im Papyrus die Sektion der innovativen ‚Vogelschaugedichte‘ einleitet, erklärt, warum der tauchende Vogel Aithyia beim Ekplous als Vorbote eines drohenden Untergangs gilt, der schnell und hoch fliegende Falke hingegen als Ankündigung einer glücklichen Seereise.46 Die folgenden drei Oionoskopika (22–24 AB) entwickeln das Thema weiter: Das erste Epigramm kontrastiert den für den Bauern günstigen Vogel Boukaios (ein hapax) mit dem thrakischen Kranich, der dem Seefahrer den Weg nach Ägypten weise, die nächsten beiden bringen Aithyia wieder ins Spiel, deren Erscheinen zwar nicht dem Seemann, wohl aber dem Fischer Glück verheiße.47 Poseidippos bietet Didaktisches in feierlich episierender Sprache, jedoch in epigrammatisch kurzer Rede, die sich an ein namentlich bekanntes Gegenüber, an einen Fischer sowie an ein ‚uns‘ richtet, das Seereisende nach Ägypten meint. Nicht nur die Übernahme epischer Motive, auch das Verschmelzen verschiedener Epigrammtypen und -topoi gehört zu den literarischen Techniken, mit denen hellenistische Dichter das System der poetischen Gattungen erneuern. Im folgenden Epigramm lässt Kallimachos ein ungewöhnliches Weihgeschenk über einen Beinahe-Schiffbruch sprechen, und kombiniert so ein anathematisches Epigramm mit Motiven des Nauagikons:48 Τὴν ἁλίην Εὔδημος, ἐφ’ ἧς ἅλα λιτὸν ἐπέσθων χειμῶνας μεγάλους ἐξέφυγεν δανέων, ϑῆκε ϑεοῖς Σαμόθρῃξι λέγων, ὅτι τήνδε κατ’ εὐχήν, ὦ λαοί, σωθεὶς ἐξ ἁλὸς ὧδε ϑέτο.

Den Salzbehälter, aus dem Eudemos nur schlichtes Salz zu seinem Brot aß und so aus dem schweren Unwetter seiner Schulden entkam, weihte er den Göttern von Samothrake und sprach dazu: „Diesen weihte er so, wie er es gelobt hatte, ihr Leute, gerettet aus dem Salz.“49

Das Epigramm spielt mit der doppelten Bedeutung des Wortes ἅλς (‚Salz‘ oder ‚Meer‘) und bricht dabei das homerische Thema der Seenot und göttlichen Hilfe herunter in die Welt der ‚kleinen Leute‘, der ‚kleinen Götter‘50 und der im wörtlichen Sinne kleinen Gaben.51 Ep. 47 Pf. ist 45 Übers. nach Baumbach 2015, 116. Zu den möglichen Quellen der Wetterzeichen (Theophrast, Hesiod, Erg. 828, Hesiod, Ornithomanteia?), die von Poseidipp in den Oionoskopika betitelten Epigrammen aufgegriffen werden, vgl. Skempis 2010, 57f.; Baumbach 2015, 115–123. 46 Zum etymologisierenden Wortspiel ἴρηξ (Falke)/ἱρῆι (heilig) siehe Sider 2005, 168f.; Gutzwiller 2005, 305–308. Unklar bleibt, warum gerade das Schiff des Timon „heilig“ ist; vgl. aber Apollonios, Arg. 3,915; 4,1268. 47 Baumbach 2015, 119–126; Sider 2005, 171–176. 48 Köhnken 2006 (1993), 232–324. 49 Ep. 47 Pf./28 Asper/Anth. Pal. 6,301. 50 Die oft als „Große Götter“ bezeichneten Kabiren, die in hellenistischer Zeit als Helfer und Retter der Seefahrer verehrt werden, erscheinen in der herodoteischen Beschreibung Ägyptens (3,37) als Zwerggötter; zum Spiel mit quantitativen Ausdrücken siehe auch Meyer, 2017, 34. 51 Vgl. Gow/Page II, 185f.; Köhnken 2006 (1993), 233.

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nicht das einzige Gedicht, in dem die Einfachheit der Lebensumstände und – eine Spezialität der Epigramme des Kallimachos – auch der Rede des Protagonisten betont wird. In der Anthologia Palatina steht das Eudemos-Epigramm zwischen zwei Epigrammen des Leonidas von Tarent, in denen die Armut des Dichters, insbesondere seine karge Behausung und die schlichte Kost, geschildert werden.52 Die Welt der ‚kleinen Leute‘ in der Art der odysseischen Figuren Eumaios und Eurykleia oder auch des als Bettler verkleideten Odysseus bildet den passenden Hintergrund für ethische und lebenspraktische Fragen, zu denen die Bekämpfung des Hungers gehört, ein Thema auch der hesiodeischen Werke.53 Die genannten homerischen Figuren sind arm an Mitteln, aber reich an Wissen. So ist es vielleicht kein Zufall, dass sich in den Epigrammen des Kallimachos gerade ‚kleine Leute‘ als gewitzt erweisen. Eudemos selbst überspielt mit dem etwas überraschenden, aber gut gewählten Vergleich ‚Schulden – Seesturm‘ die Schlichtheit der Weihung. Ausgangspunkt für die marine Metapher ist das Homonym ἅλς; man mag aber auch an den Rat des Hesiod denken, für den Armut und Schulden ein Grund für die Flucht übers Meer sein können, sind doch Seefahrt und Handel mit Gewinn und Reichtum verbunden, sofern es die Götter erlauben. Die Lösung, die Eudemos für das Armutsproblem findet, sich das ‚Meer‘ sparsam in Form von Salz aufs Brot zu streuen, ist auf jeden Fall ungefährlicher. Die Forschung diskutiert darüber, ob das Lob der Schlichtheit (λιτότης) in den genannten Epigrammen auch als metaphorische Aussage über einen bevorzugten poetischen Stil zu verstehen ist. Die Frage ist für Kallimachos nicht leicht zu beantworten. Das Adjektiv λιτός („schlicht“, „einfach“)54 beschreibt bei ihm das ungehobelte archaische Götterbildnis (Ait. IV, Fr. 100 Pf.), den wenig Wasser führenden, unbedeutenden Fluss (Sos., Fr. 384,31f.) sowie die karge Kost, von der Hekale der Krähe etwas abgibt (SH Fr. 288,43B–46). Im Apollonhymnos (H. 2,10f.) sind die Kultteilnehmer selbst λιτοί, bevor sie Apollon durch sein Erscheinen groß und edel werden lässt. Im Kontext der poetologischen Wassermetaphern liest man in demselben Hymnos (H. 2,106–112) vom Gesang, „groß wie das Meer“ (πόντος), das man hier mit Homer identifiziert hat.55 Betrachtet man Bilder und poetische persona des Kallimachos insgesamt, so zeigt sich ein gemeinsamer Nenner: Die Sympathie für das ‚Einfache‘ oder ‚Niedrige‘ erscheint stets als Teil einer Auseinandersetzung mit ‚höheren‘ und größeren Mächten, Göttern, Herrschern und den großen Dichtern der Vergangenheit. Die Skepsis der Seefahrt gegenüber, die Kallimachos in homerischen Bildern und hesiodeischen Sprechhaltungen zum Ausdruck bringt, ist daher keine generelle Verurteilung der Nautik, sondern nur insofern wörtlich zu nehmen, als diese ohne göttlichen Beistand stets die menschliche Existenz bedroht. Deutlich genug erscheinen bei Kallimachos und Poseidipp auch positive Konnotationen der Seefahrt sowie die ‚geopoetischen‘ Elemente, die mit dem ptolemäischen Seemachtstreben im Mittelmeer konform gehen. Daher sind in den Epigrammen nicht nur lokale Gottheiten, sondern auch die ptolemäischen Könige

52 Für die poetische Darstellung des einfachen Lebens ist zu Beginn des dritten Jhs. die kallimacheische Hekale prägend. Vor allem bei Leonidas von Tarent lassen sich Parallelen ausmachen (Anth. Pal. 6,300; 302, vgl. Anth. Pal. 7,472 und 736), vgl. hierzu Prioux 2017, 51; Nardone 2017, 64f. 53 Zum Beispiel Theog. 26 und 226f.: Eris gebiert Arbeit und Hunger; Erg. 230, 239, 243, 265, 363, 647. 54 Im Epigramm zum Beispiel Kallimachos, Ep. 47,1; Leonidas, Anth. Pal. 6,302,7. 55 Zum Beispiel Asper 1997, 120–125 mit Literatur.

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und Königinnen Beschützer der Seefahrer.56 So finden wir den originellsten dankbaren ‚Seefahrer‘ in einem Weihepigramm des Kallimachos, das wie Ep. 47 Pf. den Akzent auf die Rettung legt: Κόγχος ἐγώ, Ζεφυρῖτι, πάλαιτέρον, ἀλλὰ σὺ νῦν με, Κύπρι, Σεληναίης ἄνθεμα πρῶτον ἔχεις, ναυτίλος ὃς πελάγεσσιν ἐπέπλεον, εἰ μὲν ἀῆται, τείνας οἰκείων λαῖφος ἀπὸ προτόνων, εἰ δὲ γαληναίη, λιπαρὴ ϑεός, οὖλος ἐρέσσων ποσσὶν – ἴδ’ ὡς τὤργῳ τοὔνομα συμφέρεται –, ἔστ’ ἔπεσον παρὰ ϑῖνας ᾿Ιουλίδας, ὄφρα γένωμαι σοὶ τὸ περίσκεπτον παίγνιον, Α ᾿ ρσινόη, μηδέ μοι ἐν ϑαλάμῃσιν ἔθ’ ὡς πάρος – εἰμὶ γὰρ ἄπνους – τίκτηται νοτερῆς ὤεον ἁλκυόνος. Κλεινίου ἀλλὰ ϑυγατρὶ δίδου χάριν, οἶδε γὰρ ἐσθλά ῥέζειν καὶ Σμύρνης ἐστὶν ἀπ’ Αἰολίδος.

Ich war früher eine Muschel, o Kypris von Zephyrion, jetzt aber hast du mich als Erstlingsweihgabe von Selenaie bekommen. Ein Nautilus war ich, der auf den Meeren daherfuhr: Wenn Winde wehten, spannte ich mein Segel auf an meinen eigenen Vordertauen, wenn aber Meeresstille herrschte, die strahlende Gottheit, ruderte ich mit voller Kraft mit meinen Füßen – sieh’, wie gut mein Name zu meinen Fähigkeiten passt! –, bis ich auflief auf den Strand von Iulis, um dort dein vielbeachtetes Spielzeug zu werden, Arsinoë, und nicht, damit in meinem Gehäuse wie vorher noch – ich bin ja jetzt leblos – das Ei des nassen Halkyon ausgebrütet werde. Schenk also der Tochter des Kleinias deine Gunst! Sie versteht es nämlich Gutes zu tun und stammt dazu noch aus dem äolischen Smyrna.57

Die zoologisch korrekte Selbstbeschreibung des Nautilus („Seefahrermuschel“) verbindet Epigrammatisches – Todesumstände und die Geschichte einer Weihung – mit nautischen Motiven. Tod am Strand und Dedikation an Arsinoë/Aphrodite Zephyritis werden dabei positiv besetzt:58 Hervorgehoben wird zunächst die glückliche Seefahrt des Nautilus durchs Mittelmeer, für die die Göttin am Kap Zephyrion (v. 1) ja zuständig ist. Selbst der Tod am Strand von Keos, durch das Wortspiel εἰμὶ γὰρ ἄπνους („ich bin ja jetzt ohne Wind/ohne Atem“) in Vers 9 der Dramatik beraubt, bedeutet hier Gutes: Entrinnt die Muschel durch die Weihung doch dem gefährdeten Dasein des Seefahrers, auf das Kallimachos mit dem Motiv des „nassen“59 Seevogels verweist. Der „See-Eisvogel“ Alkyon (oder Halkyon) ist zudem mythologisch mit der Aiolostochter Alkyone verbunden, die ihren bei einem Schiffbruch ertrunkenen Gatten Keyx so eindrucksvoll beklagt hatte, dass die Götter beide in Vögel verwandelten. Derselbe aitiologische

56 Baumbach/Müller 2015; vgl. unten zu Poseidipp 115 AB (der Leuchtturm von Alexandria mit der Statue des Zeus Soter [des ‚Retters‘]). 57 Ep. 5 Pf./14 Asper/Athenaios, Deipn. 7,318B. 58 Der Nautilus landet in Iulis auf der Insel Keos, einer Basis der ptolemäischen Flotte, siehe dazu und zum ArsinoëHeiligtum auf Keos Meadows 2013. 59 Das „Nasse“ (v. 10: νοτερῆς [. . . ] ἁλκυόνος) als Umschreibung für das Meer findet sich auch in Kallimachos’ Nauagikon Ep. 2,3–4 Pf.: ἐν ὑγρῇ/νεκρός.

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Mythos erklärt ferner die angeblich ruhigen Tage zur Wintersonnenwende, an denen Zeus, um dem Vogel den Nestbau und die Aufzucht des Nachwuchses am Strand zu ermöglichen, die Winde über dem Meer verstummen lässt.60 Auch unter den Epigrammen des Poseidipp finden sich zwei Gedichte über Arsinoë/Aphrodite Zephyritis sowie, topographisch damit verbunden, die Versinschrift auf den von einer Zeusstatue bekrönten Pharos von Alexandria.61 Das kürzeste dieser Epigramme verspricht seinen Lesern, dass Arsinoë-Aphrodite, die Herrscherin über Land und Meer, die Gebete des Seefahrers auch mitten im Sturm erhören werde, sofern ihr gebührende Ehrungen zuteilwürden: Τοῦτο καὶ ἐν πόντωι καὶ ἐπὶ χθονὶ τῆς Φιλαδέλφου Κύπριδος ἱλάσκεσθ’ ἱερὸν Α ᾿ ρσινόης, ἣν ἀνακοιρανέουσαν ἐπὶ Ζεφυρίτιδος ἀκτῆς πρῶτος ὁ ναύαρχος ϑήκατο Καλλικράτης· ἡ δὲ καὶ εὐπλοίην δώσει καὶ χείματι μέσσωι τὸ πλατὺ λισσομένοις ἐκλιπανεῖ πέλαγος.

Sowohl auf hoher See als auch auf dem Land erweist diesem Heiligtum der Kypris Arsinoë Philadelphos Ehre, die als Erster der Flottenführer Kallikrates als Herrscherin auf dem Felsvorsprung von Zephyrion eingesetzt hat. Sie wird gute Fahrt gewähren und mitten im Sturm all jenen, die sie darum bitten, das Meer besänftigen.62

Das Epigramm des Poseidipp macht die Untertöne des kallimacheischen Epigramms hörbar: Die Seefahrt birgt zwar die bekannten Gefahren, doch sorgen die Könige und Königinnen der herrschenden Dynastie mit ihrer Gefolgschaft – mit Sostratos, dem Architekten des Pharos, sowie mit Kallikrates, dem Admiral63 – für eine gute Fahrt (εὐπλοίη). Die frühhellenistischen Epigrammdichter beleuchten noch zahlreiche weitere Facetten der Motive ‚Seefahrt‘ und ‚Schiffbruch‘, wie das Paradoxon der Ehrung durch ein leeres Grab64 und auch den Schwimmer, der wie Odysseus das rettende Ufer erreicht (oder auch nicht).65 Zusammen mit anderen Motiven begründen sie damit eine Tradition des ‚Schiffbrüchigenepigramms‘, die wir in der Serie der Anthologia Palatina fassen können.66 In den Epigrammen des Poseidipp – dem wir vermutlich den Gattungsnamen Nauagika verdanken – werden die 60 Die in einen ‚Klagevogel‘ verwandelte Alkyone begegnet schon in Il. 9,561–64, vgl. Rappold 1878, 27. Sie gilt, passend für Arsinoë-Aphrodite, die Adressatin der Weihung in Kallimachos’ Epigramm, als Sinnbild ehelicher Liebe. Das Ei des Halkyon (v. 10) wiederum passt als Fruchtbarkeitssymbol in die Situation der Dedikantin, eines heiratsfähigen Mädchens, der Strand zum Ort des Heiligtums, siehe Gutzwiller 1992 und 1998, 193f., auch zu den politischen Implikationen. 61 Das Heiligtum am Kap Zephyrion liegt auf dem halben Weg zwischen Pharos und kanopischer Nilmündung laut Ep. 116,1 AB, vgl. 119 AB; Sostratos und der Leuchtturm von Pharos: 115 AB, siehe dazu Bing 2009, 194–216. 62 Text und Übers. U. Müller in Seidensticker/Stähli/Wessels 2015, 401. Athenaios zitiert das Epigramm in Deipn. 7,318D (= Ep. 119 AB), nach dem Nautilusgedicht des Kallimachos. 63 Zum Nauarchen Kallikrates und seiner Stiftung siehe Hauben 2013. 64 Zu den Kenotaphen Poseidipp, Ep. 89, 91, 93 AB, vgl. Di Nino 2010, 99–104. Das Kenotaph Kallimachos, Ep. 17 Pf./ 45 Asper eröffnet mit einem an Euripides (Medea, 1) erinnernden Seufzer: „Ach, gäbe es doch nicht die schnellen Schiffe [. . . ]“. 65 Schwimmer: Poseidipp 90 und 92 AB; Poseidipp oder Asklepiades, Ep. 128 AB. Zu den Motiven der Nauagika insgesamt Di Nino 2010, 77–186 und Mateo Decabo 2015. 66 Anth. Pal. 7,263–279, 282–294, 494–506, Mateo Decabo 2015, 321f.; Campetella 1995 und 1997–1998.

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langen Distanzen, die von den Seefahrern der allgegenwärtigen Gefahr zum Trotz bewältigt werden, mit Hilfe epischer Reminiszenzen geopoetisch gefeiert.67 Kallimachos wählt eine andere Strategie, durch die er der Weisheit und eher kritischen Sicht auf die Seefahrt bei den großen poetischen Vorbildern treu zu bleiben scheint und doch auch den technischen Optimismus der eigenen, auf maritimen Handel und Eroberung ausgerichteten Zeit bedient. So schafft er durch Modifikationen der Gattungsmerkmale, Sprecherrollen und Kommunikationssituationen textimmanent einen neuen Rahmen, in den hinein die entsprechenden Gedanken geäußert werden. Die vermeintliche Ablehnung der Seefahrt – so meine These – unterstreicht die Bedeutung der Könige und Götter für das Wohlergehen der alexandrinischen Griechen. Zugleich positioniert sich aber auch der Dichter, der mit Hesiod, dem Sänger von „siegreichen Hymnen“ (Erg. 656), als ein zwischen Herrschergötter und Menschen gesetzter Vermittler von ‚Wahrheiten‘ unverzichtbar ist. In dieser Rolle bändigt auch er das Meer, anders gesagt: die epische Dichtung des größten Dichters, Homer.68

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Doris Meyer

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»Den Rand der Küste lesen« Die Metapher der Seefahrt und die Metonymie der Erde in Vergil, Georgica 2,35–46 Christian D. Haß (Heidelberg) 1. Hinführung: Schifffahrt und Pflügen in georg. 1 Dass das Motiv der Schiffsreise in den vergilischen Georgica von geringer Prominenz ist, ist aus mehreren Gründen einleuchtend: Weder der Gegenstand (Ackerbau), noch die ‚Gattung‘ 1 (Lehrdichtung) legen dessen Vorkommen auf der Themen- und Motivebene nahe.2 Daher ist es umso interessanter, dass sich besonders im ersten Georgica-Buch zahlreiche nautische Vergleiche und Metaphern finden, die – und das versuche ich im ersten Teil meines Beitrags zu zeigen – weniger für die Thematik, als für die Poetik und Metapoetik der Georgica konstitutiv sind.3 1 Zur Gattungsfrage didaktischer Dichtung vgl. Fowler 2000; Volk 2002: „We all know that genres are always already mixed in practice, but it is often convenient to use a sort of langue/parole distinction, in which individual texts will be mixed, but standing behind them will be Platonic forms of unmixed genres that structure the generic play within the texts [. . . ] [B]ut of course there is always in practice feedback from the actual texts to the hypothetical generic forms“ (Fowler 2000, 217); „There is no indication that any of the theories discussed [sc. of the ‚aristotelian‘ Tractatus Coislinianus and the ,platonic‘ Ars grammatica of Diomedes] had an impact on the practice of the authors who composed didactic poetry (an observation that probably holds true for literary theory and practice in general). [. . . ] It is thus time [. . . ] to understand the genre of didactic poetry on the basis of the actual texts that constitute it“ (Volk 2002, 33f.). Führt man Fowlers heuristischen und Volks induktiven Gattungsbegriff gleichsam in einem hermeneutischen Zirkel zusammen, dann lässt sich formulieren: Verschiedene konkrete Sprechmodi bzw. textuelle Praktiken handeln vorläufige ,Gattungsgrenzen‘ aus; diese determinieren zwar künftige textuelle Praktiken, bleiben aber selbst durch diese jederzeit verschiebbar. 2 Seit Homer und Hesiod als den Archegeten des epischen bzw. des didaktischen Sprechens ist das Motiv der Seereise primär mit den Irrfahrten des Odysseus verbunden, während das Motiv des Ackerbaus primär mit den Werken und Tagen assoziiert wurde (vgl. Rosen 1990). Murnaghan 2006, besonders 94–100, weist darauf hin, dass beide Motive jeweils bei Homer und bei Hesiod vorkommen. Ackerbau und Schifffahrt sind damit weniger als genrespezifisch festgelegte Themen bzw. Motive zu verstehen, sondern treffender als (meta)poetische Verfahren textimmanenter Genrekonstitution (vgl. Fowler 2000; Volk 2002 wie Anm. 1), die bereits seit dem frühesten fassbaren Stadium der Genreverhandlung zwischen epischem und didaktischem Sprechen die gattungstheoretische Reflexion als metapoetische Reflexion auf den jeweiligen Gegenstandsbezug artikulieren (vgl. Murnaghan 2006, 98, zur Denkfigur agrikultureller Praktiken bei Homer als Strategie „for asserting the truthfulness of poetry“; ibid., 103, zur hesiodischen Assoziation von Schifffahrt mit „dubious or deceptive speech“). 3 Zum Verhältnis zwischen im Text vorliegendem Thema, dessen ,poietischer‘ Genese, dessen metapoetischer Reflexion sowie dem philologischen Beobachterstandpunkt vgl. Schwindt 2009, 159f.: „Philologists have [. . . ] the advantage that they [. . . ] see last. They see all the seeing [. . . ] creatures and the semiosis [. . . ] that emanate[s] from them. Philologists are the conscientious thaumatographers of the thaumatopoiae of their texts. [. . . ] Innerpoetic observation and presentation of the processes of understanding points, as mise en abîme, forward to the observation and evaluation by third parties and back to the emergence of poetry by means of the disciplining of unformed language“. Zu einer Theoretisierung dieser Perspektive einer Philologie als „Beobachtung zweiter Ordnung“ (Luhmann 1995, 95f.), vgl. Hass 2015, 97–99; 128–131.

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Christian D. Haß

Gleich zu Beginn des ersten Buches, genauer: am Übergang vom an Maecenas und Caesar Octavian adressierten Proöm zur innerfiktionalen Unterweisung der Bauern, bittet der Sprecher Octavian um Beistand für das poetische Unterfangen (georg. 1,40–42):4 40

da facilem cursum atque audacibus adnue coeptis, ignarosque uiae mecum miseratus agrestis ingredere et uotis iam nunc adsuesce uocari.5

Auffällig ist hier besonders, dass mit cursus, uia und dem Imperativ ingredere drei verschiedene Zeitformen als Organisationsprinzipien des Textes eingeführt werden. Nach Damien Nelis lasse sich der cursus auf den Prozess der Produktion und Rezeption des Textes beziehen, der durch die Instanzen des ego und des Caesar innertextuell abgebildet sei; die via stehe für den Stoff der Georgica, d. h. für den innerfiktionalen Lernprozess der agricolae, die von der didaktischen persona unterwiesen werden. Durch ingredere schließlich werde eine dritte, politisch-historische Dynamik eingeführt, die mit der Apotheose Caesars ende.6 Ich halte diese trennscharfe Opposition von cursus und uia, gewissermaßen als narration und histoire, jedoch für problematisch:7 Der Sprecher schließt hier die Vermittlungsebene des eigenen Sprechens explizit mit der Ebene der agricolae kurz; mecum miseratus agrestis lässt sich als Akt der Selbstfiktionalisierung beschreiben,8 wodurch sich folgende komplizierte Vermittlungssituation ergibt: 1. Der vergilische Sprecher überführt die extradiegetische Bezugsrealität in die intradiegetische Welt der Bauern. Dieser fiktionale Akt reflektiert explizit darauf, dass sowohl die Stimme des Autors als auch der historisch verifizierbare Kontext (Maecenas und Caesar Octavian) nur mehr in textueller Vermittlung zugänglich sind. 2. Während der innerfiktionale Lernprozess der Bauern als uia explizit in der Zeitform der Linearität verfasst ist, ist die metapoetische Metapher der Dichtung als cursus in ihrer 4 Textgrundlage hier und im Folgenden: Mynors 1969. 5 Übersetzung hier und im Folgenden nach von Albrecht/Schönberger 2013: „[G]ib freie Fahrt, sei kühnem Beginnen geneigt [40] und erbarme dich mit mir des Landvolkes, das den Pfad nicht kennt, tritt dein Amt an [„beginne“, C. H.] und gewöhne dich jetzt schon an Gebet und Gelübde!“ 6 Vgl. Nelis 2010, 170–178. Zum vieldiskutierten Verhältnis von Dichtung und Politik in den Georgica vgl. auch die komplementären Lesarten von Nappa 2005, 1–22; Kronenberg 2009; Lowrie 2009, 1–6; 150–157, sowie Hass 2015, 118–122; Hass 2016, 97f.; 115f. 7 Zu Linearität und Zyklizität als Zeitformen in didaktischer Dichtung vgl. Fowler 2000, der die später spezifisch für die Georgica herauszuarbeitende Problematik der Inkommensurabilität zwischen der vermittelten zyklischen Zeitform des Bauernjahres und der linearen Zeitform von deren didaktischer Vermittlung in einen umfassenden narratologischen Zusammenhang einrückt: Ebenso wie didaktische Dichtung produktionsästhetisch stets sowohl diskursive als auch narrative Elemente aufweise (206), da die Linearisierung eines bestimmten Wissensbestands einer „natural tendency to emplot description to enforce a stronger suggestion of didactic, via our knowledge of didactic plots“ entspreche (207), artikuliere sich auch rezeptionsästhetisch eine „undoubted tension between the rhetorical drive within didactic that focusses on the end [. . . ] and the claims of a didactic poem [. . . ] to be reread“ (211). Auch Fowlers gattungstheoretischer Hinweis, durch ebendiese implizite Teleologie des „didactic plot“ sei „an epic element [. . . ] always already part of the didactic genre“ (217), lässt sich im Folgenden an den Georgica beobachten: In den metapoetischen Denkbildern von Ackerbau und Schifffahrt wird das Widerspiel zwischen ebendiesen kopräsenten gattungskonstituierenden Sprechmodi performativ ausgehandelt (vgl. Anm. 1 [siehe oben] und Anm. 24 [siehe unten, S. 278]). Zu „histoire“ und „narration“ vgl. Genette 1994, 15–20. 8 Vgl. Iser 1996; zum Folgenden ausführlicher Hass 2015, 118–122, mit weiteren Angaben.

»Den Rand der Küste lesen«

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Zeitform nicht festgelegt, da sie sich in ihrem sensus litteralis nicht eindeutig bestimmen lässt und sowohl als Wagenfahrt, als Verweis auf den Lauf der Gestirne als auch als Seefahrt gedeutet werden kann.9 Nach dieser kurzen Hinführung ist das eigentliche Thema dieses Beitrags erreicht: die Metaphorisierung des eigenen Sprechens als Seereise in den Georgica. Diese ist allerdings, wie oben beschrieben, in da facilem cursum noch in dreifacher Unentscheidbarkeit suspendiert: Zum einen greifen die narrativen Vermittlungsebenen ineinander, zum anderen fehlt die Möglichkeit, das Bild eindeutig als Wagen- oder Schifffahrt aufzulösen, und schließlich ist – unabhängig vom konkreten Reisevehikel – unklar, ob die Fahrt linear oder zyklisch verlaufen wird. Diese dreifache Unentscheidbarkeit wird im weiteren Textverlauf durch die abstrakt gehaltene Wendung ferro scindimus aequor um einen zusätzlichen Aspekt erweitert (georg. 1,50–52):10 50

ac prius ignotum ferro quam scindimus aequor, uentos et uarium caeli praediscere morem cura sit [. . .] 11

Zum einen werden durch die 1. Person Plural Sprecher, fiktionale Bauern und Rezipienten in der Ausübung einer Kulturpraxis enggeführt; zum anderen lässt sich diese abstrakte Kulturpraxis entweder als Zerschneiden des Feldes mit dem Pflug, als Zerschneiden der Meeresoberfläche mit dem Schiff oder auch als ritzendes Schreiben mit dem stilus auf einer glatten Oberfläche konkretisieren. Mit Ika Willis lässt sich das ignotum aequor also als die ,Kontaktfläche‘ beschreiben, wo sich die jeweiligen Kulturpraktiken von Dichter, Rezipient und fiktionalem Bauern einschreiben – und mit dem fiktionalen Bauern sind an dieser Stelle auch fiktionale Seereisende mitrepräsentiert.12 9 Vgl. OLD, s. v. cursus: „1 The action of running [. . . ] 2b a contest of running, race [. . . ] 3 Onward movement, motion [. . . ] 5 A journey, voyage, passage. b the journey of a heavenly body around its orbit [. . . ] 7 A line of advance, direction taken, course b (fig.) a line of action, method of proceeding, course“. Die allgemeine Bedeutung 1 legt weder das Vehikel der Bewegung noch deren Linearität oder Zyklizität eindeutig fest. Für eine (zyklisch verfasste) Deutung als Wagenrennen nach 2b sprechen besonders die Schlussvignetten in georg. 1,512–514 sowie georg. 2,541f., und auch eine Assoziation mit dem (ebenfalls zyklisch verfassten) Lauf der Gestirne nach 5b ist durch die Prominenz dieser Thematik im an Arats Φαινόμενα orientierten ersten Buch nahegelegt (vgl. besonders die Kosmologie georg. 1,231–258; Hass 2016). Dagegen wird in Zusammenhang mit audacibus adnue coeptis (georg. 1,40) eher eine Deutung als (linear verfasste) Reise (zu Land, zu Pferd oder zur See) nach 3, 5a bzw. 7a nahelegt bzw. als (ebenfalls linear verfasstes) methodisches Vorgehen der Didaxe nach 7b. 10 Vgl. zum Folgenden besonders Harrison 2007 für eine metapoetische Lektüre von ferro aequor scindere, die in der Engführung des ersten Pflügens und der ersten Schifffahrt eine immanente gattungstheoretische Reflexion vor der Folie der Argonautensage ausmacht, sowie für die Möglichkeit, ferro aequor scindere auch metatextuell als Schreibakt zu lesen; vgl. Willis 2011, 21–35, für die Möglichkeit, ferro aequor scindere als erste Differenzsetzung im differenzlosen Raum und damit als Urszene der beginnenden Semiotik in Buch 1 zu deuten. In Hass 2015, 100– 116, habe ich versucht, beide Perspektiven im Rahmen einer umfassenden metasemiotischen Lektüre des ersten Georgica-Buches zusammenzuführen. Castelletti 2015, 214, weist darauf hin, dass eine Assoziation von Pflügen und Schreiben bereits bei Kallimachos und Arat gebräuchlich war, wodurch diese Lesart intertextuell validiert wird. 11 Mynors liest, anders als Schönberger, in georg. 1,50 ac statt at, weshalb ich die Übersetzung modifiziere: „Aber [„Und“, C. H. mit Mynors] ehe wir mit dem Pflug [„mit dem Eisen“, C. H.] eine unbekannte Fläche durchschneiden, [50] gilt es, sorgsam die Winde und verschiedenen Wetterbedingungen vorherzuerkennen [. . . ]“. 12 Vgl. Willis 2011: „Ploughing is figured first of all as originary mark-making. The moment when the ploughshare begins to cut the furrow is the moment when flat space (aequor) is violently breached with iron and culture is inscribed upon nature, the moment when differentiation supervenes on the blank unknowability of natural space“

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Christian D. Haß

Vorläufig lässt sich festhalten: In der „Urszene“ der fiktionalen georgischen Welt, dem ersten Pflügen, ist eine „Urszene“ aus einem anderen Bereich, aus der ersten Befahrung des Meeres, mitrepräsentiert, die implizit in Form der Argonautensage auf die epische Welt verweist.13 Indem diese Urszene dezidiert als tätig vollzogene Praxis figuriert ist und ausdrücklich die Vermittlungsebenen von Dichter und Rezipient einerseits sowie von Bauern resp. Seefahrern andererseits engführt, tritt die vollzogene Praxis der Textproduktion und -rezeption zur innertextuell beschriebenen bäuerlichen resp. nautischen Praxis in Kontiguität. Diese Kontiguität von Text und Thema ist konstitutiv für die „Metatextualität“ der Georgica.14 Im Folgenden zeigt sich, dass die Gemeinsamkeit von Bauern und Seeleuten darin liegt, dass beide als Beobachter und Deuter himmlischer Sternzeichen dargestellt sind (georg. 1,204–207):15 205

praeterea tam sunt Arcturi sidera nobis Haedorumque dies seruandi et lucidus Anguis, quam quibus in patriam uentosa per aequora uectis Pontus et ostriferi fauces temptantur Abydi.16

Auch in dieser Textpassage steht die identifikatorische 1. Person Plural: sidera seruare stellt ebenso wie aequor scindere eine Kulturpraxis dar, in deren Ausübung Dichter und Rezipient, didaktischer Sprecher und agricolae, enggeführt werden: Sie alle sind sowohl agrikulturelle als auch hermeneutische Akteure bzw. sie agieren als (agri)kulturelle Akteure, die als paradigmatische Akteure menschlicher Weltbegegnung firmieren, indem sie Praktiken hermeneutischer Welterfassung und kulturpraktischer Weltbewältigung exemplifizieren.17 Dies wird später, nachdem

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(22); „The possibility of mark-making [. . . ] opens up the space of the road and the space of writing at the same time, as both are imposed on and diverge from nature and matter“ (27). Zur Passage vgl. auch Hass 2015, 101–104. Zum Begriff der „philologischen Urszene“ vgl. Schwindt 2016, besonders 24–29. Zur Ambiguität von aequor schon Servius ad loc.: aequor autem modo terram accipe, ab aequalitate dictam [. . . ] unde et maria aequora dicuntur. Zu Seefahrern und Bauern als hermeneutischen Akteuren vgl. Thomas ad loc.: „V[irgil] [. . . ] closely links farming and navigation [. . . ] in this detail: correct interpretation of, and obedience to, signa“ (Hervorhebung C. H.). Zur Assoziation mit der Argonautensage (Cat. c. 64,12) als Evokation des epischen Registers vgl. Harrison 2007. „Metatextualität“ wird mit Gertz/Krabbes/Noller/Opdenhoff 2015 als eine spezifische Form textueller Selbstreferenz verstanden, die sich insofern von „metasemiotischer“ oder „metapoietischer“ Selbstreferenz abhebt (siehe unten Anm. 20 und Anm. 24), als es sich spezifisch um das „Sprechen eines Metatextes über sich selbst als im Kern materiales Gebilde“ handelt (209, Hervorhebung C. H.); vgl. auch Noller 2015 zur Metatextualität der Buchstabenanalogien des Lukrez sowie Hass 2018b (im Druck) zu den Georgica. Weitere metatextuelle Passagen aus den Georgica sind etwa georg. 2,221: illa [terra sc. Capua] tibi laetis intexet uitibus ulmos (vgl. georg. 1,1–3: Quid faciat laetas segetes, quo sidere terram/uertere, Maecenas, ulmisque adiungere uitis/conueniat [. . .]); georg. 3,13–15: et uiridi in campo templum de marmore ponam/propter aquam, tardis ingens ubi flexibus errat/Mincius et tenera praetexit harundine ripas (vgl. ecl. 7,12f.: hic uiridis tenera praetexit harundine ripas/Mincius [. . .]); georg. 4,144f.: ille etiam seras in uersum distulit ulmos/eduramque pirum et spinos iam pruna ferentis (vgl. georg. 2,32–34: et saepe alterius ramos impune uidemus/uertere in alterius, mutatamque insita mala/ferre pirum et prunis lapidosa rubescere corna). Vgl. Thomas ad loc.; Perkell 1989, besonders 152–166, zur hellenistischen Zeichentheorie; Hermann 2005 zur realweltlichen Relevanz der Zeichendeutung für Seeleute und Bauern; Schiesaro 1997 zur epistemologischen Relevanz der Semiotik der Georgica; Nappa 2005 zu deren ideologischer Produktivität; Kronenberg 2009 zu deren epistemologie- und ideologiekritischem Potential; für eine metasemiotische Lektüre vgl. Willis 2011; Hass 2015. „Weiter müssen wir die Sterne des Arcturus, die Tage des Ziegengestirns und die leuchtende Schlange so sorgsam beachten [„beobachten“, C. H.], [205] wie Schiffer, die auf der Heimfahrt über die windreiche See die Fahrt ins Schwarze Meer und den Schlund des muschelreichen Abydus wagen.“ Diese Perspektive wurde in verschiedener Ausrichtung besonders von Perkell 1989, Schiesaro 1997, Batstone 1997, Nappa 2005 und Kronenberg 2009 vertreten; bei Kronenberg findet sich auch eine Zusammenfassung der

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der vergilische Sprecher das kosmische Zeichensystem in komplexer Weise zugleich dargestellt und performativ generiert hat,18 explizit – erneut in einer identifikatorischen 1. Person Plural (georg. 1,252–258):

255

hinc tempestates dubio praediscere caelo possumus, hinc messisque diem tempusque serendi, et quando infidum remis impellere marmor conueniat, quando armatas deducere classis, aut tempestiuam siluis euertere pinum; nec frustra signorum obitus speculamur et ortus temporibusque parem diuersis quattuor annum.19

Erwartungsgemäß werden auch dort innerhalb des identifikatorischen nec frustra speculamur die Seefahrer durch et quando infidum remis impellere marmor/conueniat mitrepräsentiert. An dieser Stelle lässt sich festhalten: Die Engführung von Bauern und Seeleuten in ihrer zeichendeutenden Tätigkeit ist Teil der „Metasemiotik“ resp. der „Metahermeneutik“ der Georgica.20 Auf diegetischer Ebene ist dieser Zusammenhang von Bauern, Seeleuten und Zeichendeutung selbsterklärend: Eine Beobachtung der Sternzeichen ist sowohl zur Navigation als auch zur Wetterprognostik relevant.21 Auf metasemiotischer Ebene hingegen unterscheiden sich die maritimen Zeichendeuter in einem wichtigen Aspekt von ihren erdverbundenen Kollegen, wie ein erneuter vergleichender Blick auf georg. 1,50–52, georg. 1,204–207 und georg. 1,252– 258 zeigt: Werden Ackerbau und Seefahrt hier jeweils allgemein in den Praktiken des aequor scindere und des sidera seruare zusammengedacht (georg. 1,50; georg. 1,204f.; georg. 1,257f.), so werden durch quam quibus in patriam uentosa per aequora uectis (georg. 1,206) die Seefahrer in

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Kontroverse um den vergilischen „Optimismus“ oder „Pessimismus“ (vgl. Kronenberg 2009, besonders 14–16; Zanker 2011). Der vorliegende Beitrag versucht, wie schon Batstone 1997, sich dieser Debatte zu enthalten, indem die (Meta)Semiotik der Georgica als Performanz und Reflexion sowohl von menschlicher Kulturtechnik als auch von deren Grenzen verstanden wird; von einer konkreten Semantisierung der beschriebenen Strukturmomente, etwa als Parodie (Kronenberg) oder als direkte politische Stellungnahme (Nappa) wird zugunsten einer Beschreibung der Bedeutungsherstellung, -verschiebung, -affirmation oder -subversion abgesehen (vgl. Hass 2015, 97–99; 125– 128; Hass 2016, 97–99; 115f.). Zur performativen Semantisierung der sidera/astra zu cert(issim)a signa, die sich in den für die georgische (Meta)Poetik konstitutiven Versen 1,231–258 vollzieht, vgl. Hass 2015, 108–117; Hass 2016 mit weiteren Angaben. „Daran können wir bei launischem Himmel das Wetter vorherbestimmen [„vorher erfahren“, C. H.], daran den Tag der Ernte und die Zeit der Aussaat und wann es ratsam ist, den trügerisch glitzernden Meeresspiegel mit dem Ruder zu peitschen, die ausgerüstete Flotte ins Meer zu ziehen [255] oder die schlagreife Fichte im Wald zu fällen, und nicht ohne Nutzen beobachten wir Auf- und Abgang der Sternbilder und den gleichmäßigen Jahreslauf mit seinen vier verschiedenen Zeiten [„den Jahreslauf, gleichmäßig durch seine vier verschiedenen Zeiten“, C.H.].“ Im Unterschied zu „Metatextualität“ und „Metapoietik“ (vgl. Anm. 14 [siehe oben, S. 276] und Anm. 24 [siehe unten, S. 278]) verstehe ich unter „Metasemiotik“ bzw. „Metahermeneutik“ diejenige Form textueller Selbstreferenz, durch die entweder darstellungsästhetisch auf die eigene Zeichenhaftigkeit, i. e. auf den eigenen Repräsentationscharakter reflektiert wird, oder durch die rezeptionsästhetisch die eigene künftige (Un)Interpretierbarkeit antizipiert wird. Vgl. Schwindt 2009 (wie Anm. 3); zu den Georgica Thomas 2001, 11: „[The] full meaning will always be what we construct, but its building blocks are identifiable and susceptible to philological hermeneutics“; vgl. auch Hass 2018b (im Druck). Weitere metasemiotische bzw. metahermeneutische Passagen aus den Georgica sind etwa georg. 1,231– 258 (vgl. Hass 2016); georg. 1,493–497 (vgl. Willis 2011, a. a. o.; Hass 2015, 122–125) oder georg. 2,238–247 (dort wird die Benennung der tellus [. . . ] quae perhibetur amara induktiv durch ihren sensus amarus plausibilisiert). Vgl. Hermann 2005.

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Christian D. Haß

einem spezifischen Aspekt explizit vom nobis der agrikulturellen Akteure unterschieden, und zwar hinsichtlich der Zeitform der jeweiligen Praktiken. Während die Dynamik der Seereise einer linear-teleologischen Zeitform folgt, wie sie paradigmatisch in den Homerischen Epen realisiert ist (georg. 1,206: in patriam uehi),22 gehorcht die Dynamik der Agrikultur einer zyklischrekursiven Zeitform, wie sie durch den meteorologischen Jahreslauf vorgegeben ist (georg. 1,258: temporibusque parem diuersis quattuor annum).23 An dieser Stelle lässt sich also festhalten, dass Schiffsreise und Agrikultur als metapoetische Metaphern für zwei verschiedene Zeitformen der Produktion und Rezeption von Dichtung gelesen werden können, und dass die linear-teleologische Zeitform mit der Gattung des Epos assoziiert wird. ferro scindere aequor kann also in metapoetischer Lektüre sowohl eine Urszene epischer Handlung bezeichnen als auch performativ eine Urszene agrikultureller Didaxe vollziehen; letzterer Aspekt ist konstitutiv für die „Metapoietik“ der Georgica.24 Diese Konkurrenz der Zeitformen und Sprechmodi in der Textur der Georgica wird in georg. 1, 302–306 explizit:

305

inuitat genialis hiems curasque resoluit, ceu pressae cum iam portum tetigere carinae, puppibus et laeti nautae imposuere coronas. sed tamen et quernas glandes tum stringere tempus et lauri bacas oleamque cruentaque myrta [. . .].25

22 Dies spricht m. E. auch in inhaltlicher Hinsicht gegen die Konjektur von Heyworth 2015, 217f., der aufgrund vermeintlicher logischer Inkohärenz zwischen der Richtung einer Rückkehr (in patriam) und dem Unvertrautheit nahelegenden temptantur für eine Ersetzung von in patriam durch a patria oder e patria plädiert. In den Kommentaren verweist lediglich Erren mit der geographisch bedingten Assoziation zur Argonautensage auf einen weiteren Intertext aus dem epischen Register, geht allerdings nicht auf die gattungs- und erzähltheoretisch relevante Dynamik des teleologisch gerichteten in patriam uehi ein. 23 Vgl. auch georg. 2,401f.: [. . .] redit agricolis labor actus in orbem/atque in se sua per uestigia uoluitur annus (vgl. zur Passage Fourcade 1982, 21; zur Zeitform der Zyklizität Fowler 2000 wie Anm. 7). 24 Im Unterschied zu „Metatextualität“ und „Metasemiotik“ (siehe Anm. 14 [siehe oben, S. 276] und Anm. 20 [siehe oben, S. 277]) verstehe ich unter „Metapoietik“ diejenige Form textueller Selbstreferenz, durch die Dichtung sich selbst in ihrer Performanz ausstellt bzw. als Vollzug einer Praxis figuriert. Der in Anschlag gebrachte kulturwissenschaftliche Performativitätsbegriff impliziert dabei sowohl den realitätsschaffenden Aspekt von Sprachhandlungen (Austin 2002), den Lieberg 1982 im Konzept des poeta creator metapoetisch gewendet hat, als auch ein kulturwissenschaftliches „starkes“ Performativitätskonzept (Krämer/Stahlhut 2001) und dessen konkret auf die Körperlichkeit der Rezipienten wirkende Eigenschaft zum performativen Unterlaufen konzeptueller Oppositionen, die diese Rezipienten zur Umsetzung textuell figurierter in konkret vollzogene Praktiken anregen kann (Baumann 2011, 374f.). Die graphische Feindifferenzierung des „Metapoietischen“ vom „Metapoetischen“, das i. A. synonym zum „Poetologischen“ als Überbegriff für verschiedene Formen dichterischer Selbstbezüglichkeit verwendet wird (vgl. Zaiser 2009, 32; Gertz/Krabbes/Noller/Opdenhoff 2015, 208f.), soll ebendiese Fokussierung verdeutlichen (vgl. auch Hass 2018b [im Druck]; für eine „metapoetische“ Horazlektüre vgl. den Beitrag von Johannes Breuer in diesem Band, siehe unten, S. 299–326). Weitere metapoietische Passagen aus den Georgica sind etwa das topische [. . .] hinc canere incipiam in georg. 1,5 (vgl. Lowrie 2009, 1–18) oder der etymologisierende Kommentar zum uersus-Begriff [. . .] quo sidere terram/uertere [. . .] in georg. 1,1f. (vgl. Nelis 2010, 173 sowie Katz 2016, 70, der auf die zusätzliche metatextuelle Pointe einer Imitation des aratischen ἄρρητον hinweist). Den genannten metapoetischen Reflexionen auf den uersus-Begriff ist georg. 3,525f. hinzuzufügen (quid labor aut benefacta iuuant? quid uomere terras/inuertisse grauis?). 25 „Der Winter lädt ein, sich etwas Gutes zu tun, und zerstreut die Sorgen, wie wenn lastschwere Schiffe endlich im Hafen einlaufen [„eingelaufen sind“, C. H.] und die Matrosen frohgemut das Heck bekränzen [„bekränzt haben“,

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Zunächst wird hier durch ceu die Situation des Bauern im Winter mit dem Erreichen des Hafens nach einer Schiffsreise verglichen; doch unterstreichen bereits die Präsensformen fruuntur, curant, inuitat und resoluit den allgemeinen und wiederkehrenden Charakter des bäuerlichen Winters und kontrastieren ihn scharf mit den Resultativa tetigere sowie imposuere der nautischen Ankunft. Die Rückkehr zur Welt des Bauern sodann weist mit sed tamen et in dreifach markierter Emphase darauf hin, dass diese Welt keine Teleologie und keine Ankunft kennt.26 An dieser Stelle lässt sich nun festhalten, dass es damit erzähltheoretisch problematisch ist, der Darstellung der bäuerlichen Welt einen narrativen Zielpunkt zu setzen, ohne dabei in deren mimetischer Darstellung von ihr abzuweichen: Odysseus ist irgendwann einmal heimgekehrt und auch Aeneas hat endlich einmal Rom gegründet; die Geschichte des Bauern und der Scholle hingegen ist nie zu Ende erzählt.27 Im weiteren Verlauf des ersten Buches tauchen die Seeleute noch dreimal auf, und zwar jeweils in ihrer metasemiotischen resp. metahermeneutischen Funktion, d. h. in unmittelbarem Zusammenhang mit den signa, an denen sie sich ebenso wie die Bauern zu orientieren haben, um nicht Schiffbruch zu erleiden. Diese Passagen seien im Folgenden kurz vorgestellt. In georg. 1,351–355 sind die Seeleute in der kollektiven 1. Person Plural implizit mitrepräsentiert,28 die erneut alle beteiligten extradiegetischen und diegetischen Instanzen engführt:

355

atque haec ut certis possemus discere signis, aestusque pluuiasque et agentis frigora uentos, ipse pater statuit quid menstrua luna moneret, quo signo caderent Austri, quid saepe uidentes agricolae propius stabulis armenta tenerent.29

Es wird hier das semiotische System, das die Textur der Georgica organisiert und die metapoetische Engführung von Bauern und Seeleuten legitimiert, in proto-strukturalistischer Manier als Resultat einer arbiträren göttlichen Erstsetzung ausgewiesen, die Zeichen und Bedeutung einander zuordnet: ipse pater statuit, quid menstrua luna moneret (. . . et quid non).30 In georg. 1,424–437 sodann setzt sich der Sprecher implizit selbst an die Stelle des göttlichen Zeichengebers, der agricolis pelagoque die An- oder Abwesenheit von pluuia und uenti kündet:

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C. H.]. Doch ist es dann auch Zeit, Eicheln vom Baum zu streifen, [305] dazu Lorbeeren, Oliven und blutrote Myrten [. . . ]“. Eine solche gattungs- und erzähltheoretische Gegenüberstellung der jeweiligen Zeitformen innerhalb des Vergleichs fehlt in den Kommentaren; lediglich Erren geht überhaupt auf das tertium des Vergleichs ein (ad 303: „verglichen ist die freudige Erleichterung“), glättet aber die scharfe Kontrastierung des nautischen mit dem bäuerlichen Ankunftstopos (ad 305: „Auch an kalten und kurzen Tagen kann man Eicheln, Oliven und andere derartige Baumfrüchte ernten“). Zu diesem strukturellen Grundproblem des „didactic plot“ vgl. Fowler 2000 (wie Anm. 7). Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass die Seeleute wenig später auch explizit genannt sind: georg. 1,360: iam sibi tum a curuis male temperat unda carinis; georg. 1,371f.: omnis nauita ponto/umida uela legit. „Und damit wir alles an sicheren Zeichen erkennen, Hitze, Regen und Kälte bringende Winde, setzte der Vater selbst fest, was die monatliche Wandlung des Mondes bedeutet, bei welchem Gestirn sich der Südwind legt, bei welcher wiederholten Erscheinung die Bauern ihr Vieh nah beim Stall halten sollen [355]“. Vgl. zur Passage Perkell 1989, 153–157; Schiesaro 1997, 75–78; Fowler 1996, 46f.; Willis 2011, 34f.; Hass 2015, 108–116 (mit weiteren Angaben).

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Christian D. Haß si uero solem ad rapidum lunasque sequentis ordine respicies, numquam te crastina fallet hora, neque insidiis noctis capiere serenae. luna reuertentis cum primum colligit ignis, si nigrum obscuro comprenderit aëra cornu, maximus agricolis pelagoque parabitur imber; at si uirgineum suffuderit ore ruborem, uentus erit: uento semper rubet aurea Phoebe. sin ortu quarto (namque is certissimus auctor) pura neque obtunsis per caelum cornibus ibit, totus et ille dies et qui nascentur ab illo exactum ad mensem pluuia uentisque carebunt, uotaque seruati soluent in litore nautae Glauco et Panopeae et Inoo Melicertae.31

Das rückwärts zu lesende Akrostichon PUblius VErgilius MAro in den Versen 429, 431 sowie 433 mitsamt der emphatischen Selbsteinschreibung als certissimus auctor in Vers 432 konkretisieren diesen Aspekt der Selbstermächtigung metatextuell und situieren das eigene Sprechen zudem nachdrücklich innerhalb des durch komplexe intertextuelle Verbindungen konstituierten Zeichensystems eines genuin literarischen Sprechens.32 Innerhalb dieses vom Sprecher selbst initiierten Zeichensystems werden die Seereisenden in einer bemerkenswerten antizipatorischfuturischen Zeitform am Ende als Gerettete stehen: seruati soluent vota (Vers 436). Die Seeleute, die durch ihre Ankunft gerettet worden sein werden, stehen womöglich dafür ein, dass am noch fernen Ende der Georgica in der abschließenden sphragis (georg. 4,563–566) mit der erneuten Selbsteinschreibung des Vergilius und der Apotheose des Caesar ein gewisses Telos erreicht worden sein wird, auch wenn die bäuerliche Zeitform der Zyklizität sich eigentlich dieser Darstellungsform verweigert – der Antizipation des narrativen Telos im Ankunftstopos auf thematischer Ebene entspricht auf metatextueller Ebene die Antizipation der hier noch im Akrostichon verschlüsselten abschließenden Selbsteinschreibung ins eigene Werk.33 31 „Achtest Du aber auf die reißende Sonne und die Folge der Mondphasen, wird dich die Morgenstunde nie trügen, [425] und nie wird die klare Nacht dich tückisch umgarnen. Sobald der Mond das wiederkehrende Licht sammelt und mit trüber Sichel düsteren Dunst umschließt, ballt sich für Bauern und Meer ein gewaltiger Regen zusammen; übergießt aber mädchenhafte Röte das Antlitz des Mondes, [430] kommt Wind auf; bei Wind errötet stets die goldene Phoebe. Zieht aber der Mond zur vierten Nacht (denn dies ist das sicherste Zeichen) [oder: „zieht aber der Mond beim vierten Aufgang (denn ER ist der zuverlässigste Zeichenurheber)“, C. H.] rein und mit unverstümmelten Hörnern am Himmel dahin, dann wird der ganze folgende Tag wie auch alle, die nach ihm kommen, bis zum Ende des Monats von Regen und Sturm verschont bleiben, [435] und die geretteten Seeleute werden am Strand das gelobte Opfer darbringen, dem Glaucus, der Panopaea und Melicertes, dem Sohn der Ino.“ 32 In der für die alexandrinisch-hellenistische Lehrdichtung typischen Technik des Akrostichons wirken metasemiotische und metatextuelle Elemente zusammen: Der Dichter schreibt sich als Zeichen in die Materialität seines Textes ein. Zum Akrostichon erstmals Brown 1963; ausführlich Haslam 1992; Feeney/Nelis 2005; Somerville 2010; Castelletti 2015, 211–214; Katz 2016, 71f. Zu Arat und Nikander als den maßgeblichen Intertexten vgl. Volk 2010, 205–208; Overduin 2015, 59–63. Zu einer metasemiotischen Lektüre der vergilischen sphragis vgl. Peirano 2013, 269–274; Peirano 2014, 227–231; Hass 2018b (im Druck). 33 Der von Richter und Erren ad loc. festgestellte epigrammatische Charakter von V. 437 weist ebenfalls in die Richtung einer hier gesetzten closure-Formel, die durch das Weiterlaufen des Textes performativ unterminiert wird. Eine ebensolche Oszillation zwischen Schließung und Weiterführung findet sich auch in der sphragis (georg. 4,559– 566), wo die „supratextual closure“ (Fowler 1989, 83f.) ebenfalls ambivalent bleibt: Diese Verse beschließen zwar

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In georg. 1,454–460 schließlich imaginiert sich der Sprecher selbst in der 1. Person als Seereisender, bezeichnenderweise ex negativo und erneut in Verbund mit der 2. Person des didaktischen Adressaten: 455

460

sin maculae incipiunt rutilo immiscerier igni, omnia tum pariter uento nimbisque uidebis feruere: non illa quisquam me nocte per altum ire neque a terra moneat conuellere funem. at si, cum referetque diem condetque relatum, lucidus orbis erit, frustra terrebere nimbis et claro siluas cernes Aquilone moueri.34

Entgegen dem imaginierten Ratschlag eines indefiniten quisquam besteht er hier darauf, wenigstens durch ein Schiffstau die Bodenhaftung zu bewahren und verweigert sich einer etwaigen Bewegung per altum. Diese Weigerung allerdings bleibt auf den klar definierten Zeitraum illa nocte beschränkt; außerdem legt die Präsenz des funis nahe, dass sich der Sprecher womöglich durchaus auf einem Schiff befindet, nur eben mit dem Land noch substantiell verbunden.35 Versteht man per altum ire metaphorisch als gattungstheoretische Allusion, die Fahrt über „the ocean of epos“ zu wagen,36 dann lässt sich die im funis gerade noch gegebene physische Kontiguität zum (Acker)Land als dem Gegenstand der Didaxe als metatextuelle Präfiguration der im folgenden Kapitel behandelten recusatio der Hochseeschifffahrt (georg. 2,35–46) lesen: Dass der Sprecher dort sich selbst und den exemplarischen Rezipienten Maecenas als Küstenschiffer figurieren wird, weist den Ort, von dem aus die eigene, didaktische Praxis vollzogen wird, in zweierlei Hinsicht als einen liminalen Ort aus: zum einen an der Schwelle zwischen didaktischem und epischem Register, zum anderen zwischen einem metonymisch und einem metaphorisch gedachten Bezug zum konkreten Gegenstand. Dass die Verweigerung eines per altum ire explizit auf den Zeitraum illa nocte beschränkt wird, antizipiert nach meiner Lesart die ähnliche durch das Namenssiegel sowie die Verbindung von zwei Werken zu einem einzigen œuvre emphatisch eine linear vorgestellte Dynamik der Textproduktion; aufgrund der markierten Dissoziation des Vergilius, der die Verse gesprochen hat, von dem Vergilius, der nun als vertextete Existenz a posteriori lesbar ist (vgl. Peirano 2013, 269– 274; Peirano 2014, 227–231; Hass 2018b [im Druck]), lässt sich das abschließende Selbstzitat auch als regressiver „backward glance“ (vgl. Gale 2003, 324–328) und damit als implizite Rezeptionsanweisung lesen, die zur Praxis einer rekursiven Re-Lektüre von den Eklogen an anregt. Produktions- und rezeptionsästhetische Perspektive treten in diesem die Georgica beschließenden metatextuellen Arrangement also hinsichtlich der Zeitform dezidiert auseinander. Das auch philologietheoretisch relevante und in jedem Fall rezeptionsästhetisch zentrale Moment des Neu-Beginnens von etwas bereits Vergangenem (vgl. Anm. 70 [siehe unten, S. 290]) ist auch schon für die Aitiologie der bougonie konstitutiv, die in narrativer mise-en-abîme das Moment von Verlust und Wiedergewinnung in mehrfacher Brechung inszeniert (vgl. Sibona 2002, besonders 359f., zum Zusammenhang von bougonie und sphragis; Hass 2018b [im Druck]). 34 „[U]nd mischen sich allmählich Flecken ins rötliche Feuer, dann siehst du gleich, wie alles auf einmal von Wind und Wolken braust [455]. In solcher Nacht soll keiner mich bereden, übers Meer zu fahren oder nur das Schiffstau vom festen Land zu lösen. Strahlt jedoch die Sonnenscheibe hell, wenn sie den Tag heraufführt und dann wieder birgt, musst du nicht grundlos vor Wolken erschrecken und du wirst sehen, wie die Wälder im aufklarenden Nordwind schwanken [460].“ 35 Richter und Thomas bemerken ad loc. in Zusammenschau mit V. 436f., dass die Welt der Schifffahrt jeweils für die Welt der Bauern einstehe; Erren verweist darauf, dass neben dem direkten Vorbild Arat, Phain. 763f., auch indirekt ein Bezug zu Hom. Od. 12,106 vorliegt (Kirkes Warnung vor der Charybdis). Eine gattungs- und erzähltheoretische Perspektivierung fehlt jeweils. 36 Harrison 2007.

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Christian D. Haß

Einschränkung durch non hic in georg. 2,45–46, die im zweiten Teil von georg. 4 schließlich (partiell) aufgehoben werden wird.37

* * * Abschließend lässt sich für die Funktion der Metaphorik der Seereise für georg. 1 also folgendes festhalten: 1. Pflügen und Seefahrt stellen im ersten Georgica-Buch zwei konkurrierende metapoetische Denkfiguren dar, die sich vor allem in ihrer jeweiligen Zeitform unterscheiden: Während das wiederholte Pflügen in seiner Rekursivität der zyklisch organisierten Welt des Bauern zugehört, steht die Seefahrt als eine zielgerichtete Bewegung metaphorisch für eine lineare und teleologische Organisationsform. 2. Die Zeitform der teleologischen Linearität wird in Rekurs auf die Homerischen Epen sowie die Argonautensage mit dem Sprechmodus des Epos assoziiert, während die Zeitform der rekursiven Zyklizität in der Praxis des wiederholten Pflügens als eine spezifisch georgische Zeitform dargestellt und durch die Beziehung zu Hesiod mit dem Sprechmodus des Didaktischen assoziiert wird.38 3. Die konkurrierenden Zeitformen werden zu Beginn noch als zwei Aspekte ein und derselben abstrakten Urszene des ferro aequor scindere figuriert; im weiteren Verlauf werden sie ausdifferenziert und in ein Spannungsverhältnis gesetzt, das auf der erzähltheoretischen Problematik fußt, dass einerseits teleologisches Erzählen der zyklischen Welt des Bauern (der histoire) unangemessen ist, andererseits aber auch der Text der Georgica (als narration) irgendwann an sein Ende kommen muss.39 4. Bezüglich der Darstellungsmodi der teleologischen Linearität einerseits und der rekursiven Zyklizität andererseits, bezüglich der poetologischen Denkfiguren von Schifffahrt und Agrikultur, situiert sich der Sprecher am Ende des ersten Buches in einem Raum, in dem die für die Vergilische Didaxe konstitutive physische Kontiguität zum (agri)kulturellen Gegenstand gerade noch gegeben scheint: wohl in einem Schiff, aber mit einem funis der terra substantiell verbunden.

2. Hauptteil: Recusatio der Schifffahrt in georg. 2,35–46 Das bislang skizzierte (meta)poetische Spannungsverhältnis zwischen den Denkfiguren der Seefahrt einerseits und der agrikulturellen Praxis andererseits scheint in der bekannten recusatio in georg. 2,35–46 zur Entscheidung zu drängen: 35

quare agite o proprios generatim discite cultus, agricolae, fructusque feros mollite colendo, neu segnes iaceant terrae. iuuat Ismara Baccho conserere atque olea magnum uestire Taburnum. tuque ades inceptumque una decurre laborem,

37 Farrell 1991, 208–209; 253–272; Baier 2007; Hass 2018b (im Druck). 38 Vgl. Fowler 2000; Volk 2002 (siehe Anm. 1). 39 Vgl. Fowler 2000 (siehe Anm. 7); Terminologie nach Genette 1994, 15–20.

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o decus, o famae merito pars maxima nostrae, Maecenas, pelagoque uolans da uela patenti. non ego cuncta meis amplecti uersibus opto, non, mihi si linguae centum sint oraque centum, ferrea uox. ades et primi lege litoris oram; in manibus terrae. non hic te carmine ficto atque per ambages et longa exorsa tenebo.40

An drei Fragen haben sich die Rezipienten dieser Passage immer wieder gestoßen:41 1. Was genau wird in dieser recusatio eigentlich verabschiedet: die Gattung des Epos für die Lehrdichtung, das Stilniveau des genus grande für die alexandrinisch-kallimacheische Kleinform oder ein fiktionales Dichten zu Gunsten eines mimetischen Dichtens? 2. Wie ist der Bruch in der Bildlichkeit zu erklären, zunächst aufs offene Meer fahren zu wollen, um danach ,zurückzurudern‘ und an der Küste entlang fahren zu wollen? 3. Läuft die emphatische recusatio nicht ins Humoristische oder in einen performativen Selbstwiderspruch, wenn die verabschiedeten Aspekte – epische Thematik, episches Register, fiktionale Stoffe, lange Digressionen – an verschiedenen Stellen dennoch Eingang in die Georgica finden?42 Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen über die Funktion der poetologischen Seefahrtsmetapher möchte ich die These aufstellen, dass hier weniger eine bestimmte Gattung 40 „Auf also! Lernt für jede Art die richtige Pflege, [35] ihr Bauern, veredelt die wilden Früchte durch Kultur [oder: „Lernt je nach Gattung die richtige Bearbeitung, ihr Bauern, macht die wilden Erträge durch Bearbeiten geschmeidiger“, C. H.], und lasst das Land nicht träge liegen! Es ist eine Lust, den Ismarus mit Wein zu bepflanzen und den großen Taburnusberg mit Ölbäumen zu bekleiden. Steh auch du mir zur Seite [„Sei auch du zugegen“, C. H.] und durchmiss mit mir die begonnene Bahn [„die begonnene Mühe“, C. H.], meine Zier, meines Ruhmen wahrlich größter Teil, [40] Maecenas, und setze, auf offenem Meer hinfliegend, die Segel! Ich will nicht alles mit meinen Versen umfassen, und hätte ich hundert Zungen, hundert Lippen [„Münder“, C. H.] und eine Stimme aus Erz. Hilf mir, nahe an der Küste zu steuern [„sei zugegen und lies mit mir den Rand der äußersten Küste“, C. H.]! Das Land [oder: „die Georgica“, C. H.] liegt in unseren Händen, und ich will dich hier nicht mit ersonnenem Lied, [45], mit Umschweifen und langer Vorrede aufhalten.“ 41 Eine Verabschiedung der epischen Gattung nimmt Richter ad 45 an; eine Verabschiedung des genus grande hin zur Kleinform liest Thomas ad loc.; für die Annahme einer – allerdings ironisch gebrochenen – Verabschiedung fiktionalen Sprechens vgl. Thomas ad 45f.; einen Bruch in der Bildlichkeit konstatieren Conington ad loc. sowie Thomas ad 41–5; 44–5; Mynors ad 41 versucht, die im Text gegebene Opposition zwischen Küstenschifffahrt und einer Fahrt auf offenem Meer durch Hinweise auf die realweltliche Küstennähe der meisten Mittelmeerrouten aufzuheben; einen performativen Selbstwiderspruch mit V. 46 konstatiert Erren ad 44–46, der auch ad 39–41 („[Maecenas] wird [. . . ] ins allegorische Schiff der Wegmetapher aufgenommen“) der hier vorgeschlagenen metapoietischen Lektüre am nächsten kommt. Vgl. zu dieser Passage besonders Farrell 1991, 245–248; Hinds 1998, 34–40; Gowers 2005, 170–176; Henkel 2014, 48–52; Berti/Hass/Krüger/Ott 2015, 646–649. 42 Vgl. Nappa 2005, 75f.: „Vergil’s address to Maecenas is designedly unclear [. . . ] [I]t is the interplay among [the seperate statements] that is difficult. [. . . ] Maecenas is asked to consider claims that are obviously contradictory and false. Trapped within the poet’s riddles, he is asked to take both bold and safe courses through the poet’s work. The only recourse is to decide for oneself what course is to be followed, while keeping in mind that the poet has opened up multiple avenues whereby his readers can approach the text“ (76). Die in dieser recusatio thematisch werdende Offenheit der Textkonstitution sowie die damit verbundene implizite Rezeptionsanweisung ist hier treffend dargestellt; allerdings gibt es m. E. auch einen Aspekt, der ungebrochen lesbar ist: die Verabschiedung eines metaphorischen sprachlichen Gegenstandsbezugs, der die substantielle Kontiguität von Text und Gegenstand preisgäbe (dazu siehe unten ausführlicher).

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oder ein bestimmtes Stilniveau verabschiedet wird als vielmehr eine spezifische (Meta)Poetik, ein modus dicendi, der den sprachlichen Gegenstandsbezug aufzugeben droht. Die Verabschiedung der Metapher der Seereise dient dann dem Postulieren einer bestimmten, spezifisch georgischen, weil ,geerdeten‘ (Meta)Poetik, die zugleich auch eine bestimmte Rezeptionshaltung voraussetzt.43 Auch in dieser Passage greifen die verschiedenen narrativen Vermittlungsebenen ineinander: Die ersten vier Verse sind an die innerfiktionalen agricolae gerichtet, die folgenden Verse an den extradiegetischen Rezipienten Maecenas. Die beschriebene Rezeptionshaltung ist im Falle der agricolae eine zugleich rezeptive und aktiv-tätige (vgl. Vers 35: discite cultus mit Vers 36: fructus feros mollite colendo); paradoxal gewendet ließe sich sagen, dass durch die Etymologisierung des cultus-Begriffs die Bauern hier zugleich als aktive Quelle und als passive Adressaten georgischen Wissens figuriert sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Gegenstand der georgischen Didaxe (cultus) wird also durch fructus mollite colendo nicht nur als Anwendung, sondern zugleich als Resultat einer aktiv vollzogenen Kulturpraxis (colere) ausgewiesen; die Rezeptionshaltung der agricolae ist damit nicht ausschließlich als eine passiv-rezeptive, sondern zugleich als ein aktiv-tätiges Handeln figuriert.44 Auch im Falle des Maecenas ist die Rezeptionshaltung nicht eindeutig zu bestimmen: Zunächst wird er in Vers 39 aufgefordert, gemeinsam mit dem Sprecher den inceptum laborem zu durchlaufen; im Begriff des labor berührt die extradiegetische Vermittlungsebene erneut die fiktionale Ebene der Bauern, sodass die Rezeptionshaltung hier ebenfalls eine aktive Komponente erhält.45 Die Ausformulierung der in decurrere impliziten nautischen Metaphorik durch pelagoque uolans da uela patenti in Vers 41 jedoch hebt den in decurrere laborem noch vorhandenen Berührungspunkt zwischen Maecenas und der Welt der Bauern auf – die physisch figurierte Kontiguität des didaktischen Sprechers zum Gegenstand seiner Didaxe, die eingangs in ferro scindimus aequor (georg. 1,50) emphatisch gesetzt wurde, und die in georg. 1,456f. in der Weigerung des a terra conuellere funem gerade noch erhalten geblieben war, droht aufgegeben zu werden. 43 Für die Figuration eines metonymischen, nicht metaphorischen Verhältnisses zwischen (Agri)Kultur als dem Gegenstand eines Textes und dem Text selbst als einem Sprechen über diesen Gegenstand – d. h. gewissermaßen für die Figuration einer Kontiguität zwischen Objektsprache und Metasprache – können Varros Res Rusticae als Vorläufertext gelten. In Hass 2018a, besonders 341–344, habe ich in einem Vergleich Varros mit dem heidegger’schen Anspruch eines Sprechens ,diesseits der Metaphysik‘ gezeigt, dass die Figuration eines solchen unmittelbaren Gegenstandsbezugs in sich paradoxal verfasst ist, da sie die Figuration eines nicht-figuralen Sprechens darstellt: Bemerkenswerterweise ist es Varro, der diesen Tatbestand in ironischer Brechung reflektiert, wohingegen Heidegger 1959 eben diesen Umstand rhetorisch verschleiert. 44 Dieser Befund passt zu den Lesarten, die Nappa 2005 und Kronenberg 2009 – wenn auch mit unterschiedlicher Stoßrichtung – verfolgen: Indem der Prozess aktiver Textrezeption zum einen immer wieder in metahermeneutischer Reflexion selbst thematisch wird und zum anderen durch die Tätigkeit (agri)kultureller Praktiken auch auf thematischer Ebene den Text bestimmt, verweist die implizite Rezeptionsanweisung in jedem Fall darauf, dass nicht nur eine hermeneutische Deutungsleistung zur Decodierung der didaktischen Botschaft gefordert ist, sondern dezidiert auch deren Umsetzung in konkrete Handlungen; vgl. Nappa 2005, 217, zur abschließenden sphragis: „Vergil’s signature here is also a way of saying farewell: class is over; go apply what you have learned“ (Hervorhebung C. H.). 45 Zur Poetik des labor vgl. Heckel 1998, der besonders in seiner Einleitung (11–23) treffend das „Metaphernfeld“ (20) militärischer Termini in den Georgica herausarbeitet, das im Kontext der vergilischen anthropologischen Verallgemeinerung des Begriffs der „(Agri)Kultur“ (vgl. Hass 2018a) darauf hindeute, „daß der Mensch gewaltsam in die Natur eingreifen müsse“ (15). Zur metapoetischen Erweiterung dieser Perspektive vgl. Hardie 2004; Nappa 2005; Kronenberg 2009; Hass 2018b (im Druck).

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Hier lässt sich festhalten: Ein aktiv-tätiger Mit-Vollzug der bäuerlichen labores ist auf dem offenen Meer ausgeschlossen; die Rezeptionshaltung des Maecenas wird zur bloß noch rezeptivbeobachtenden Tätigkeit. Es ist auffällig, dass diese passive Rezeption einer ,Dichtung des offenen Meeres‘ dezidiert im Modus der Oralität figuriert ist.46 Das Homerische „Many-Mouths Cliché“47 dient hier also nicht nur der Evokation der epischen Gattung als eines statischen Reservoirs an bestimmten Topoi, sondern das epische Sprechen wird als spezifische Darstellungs-Form vorgestellt, die eine orale Rezeptionssituation fingiert. Oralität wiederum bedingt eine Linearität des Rezeptionsvorgangs und folglich auch eine weitestgehende Beschränkung auf passive Rezeptivität, während die Rezeptionsform des Lesens in höherem Ausmaß aktive Rekursivität ermöglicht.48 Der Wendepunkt der recusativen Bewegung, der in Vers 44 nach der Trithemimeres recht abrupt einsetzt, verweist m. E. genau auf diesen Punkt: ferrea uox. | ades et primi lege litoris oram – der eisernen Stimme als dem proprium des epischen Sängers wird die Aufforderung entgegengestellt, den Rand der Küste zu lesen.49 Auch wenn litora legere auch in der Bedeutung „entlangsegeln“ belegt ist, halte ich die vorgeschlagene Lesart für nicht unplausibel – zumal die früheste Belegstelle für legere litora in der Bedeutung „entlangsegeln“ laut Erren ad loc. vergilisch ist (ecl. 8,7). Die Möglichkeit eines aktiven Rezipienten, der tätig an den zyklisch organisierten bäuerlichen labores teilhat, setzt die Möglichkeit rekursiver Lektüre statt hauptsächlich linearer Rezeption voraus – anders als lesend wäre zum Beispiel das oben genannte Akrostichon nicht rezipierbar. Es lässt sich also festhalten, dass der Rezeptionsmodus hier als das rekursive Lesen eines geschriebenen Textes figuriert ist,50 und dass der Gegenstand der figurierten Lektüre durch primi litoris oram (V. 44), also den Saum der äußersten Küste, in dreifacher Emphase als liminaler Raum zwischen ‚Schifffahrt‘ und ‚(Agri)Kultur‘ markiert wird; somit situiert sich der Sprecher hier zwischen den Sprechmodi epischen und didaktischen Sprechens, und zwar unter Betonung des Gegenstandsbezugs als des entscheidenden Kriteriums: An der äußersten Grenze zwischen einer Kontiguität mit 46 Zu Oralität und Litteralität vgl. Lowrie 2009. 47 Gowers 2005. 48 Über die Frage der realweltlichen Vermittlungssituation wird hier dezidiert keine Aussage getroffen. In den Georgica jedenfalls finden sich sowohl Strukturmomente, die eine lesende Rezeption implizieren (wie etwa das o. g. Akrostichon), als aber auch solche, die eine mündliche Rezeptionsform figurieren (wie etwa bereits das eingangs stehende hinc canere incipiam in georg. 1,5; vgl. Lowrie 2009, 1–18). Dieses Oszillieren der innertextuellen Figurationen zwischen mündlicher und schriftlicher Vermittlungssituation wird als momentum der vergilischen (Meta)Poetik verstanden, durch das sich das eigene Sprechen als „didactic poetry“ zwischen den generisch bestimmten Sprechmodi des – oral figurierten – epischen und des – litteral figurierten – didaktischen Registers artikuliert; vgl. Fowler 2000, 217; Volk 2002, 33f. (wie Anm. 1). 49 Zu den komplexen intertextuellen Bezügen in dieser Textpassage vgl. ausführlich Hinds 1998, 34–40; Gowers 2005, 170–174. 50 Erren beobachtet treffend, wie die in V. 39 eröffnete Allegorie des Dichterschiffs in den metatextuellen Wendungen V. 42f. sowie 45f. aufgehoben und „aus der figürlichen Bedeutung [. . . ] in die eigentliche Bedeutung zurückgenommen“ wird (ad 45); dass decurrere laborem und legere litoris oram nach „kryptischem Platztausch“ (ad 44) auf ein metaphorisches „Lesen“ verweisen, trifft den m. E. entscheidenden Punkt (ad 39). Allerdings schlage ich für diesen Befund im Folgenden eine weniger umständliche Beschreibung vor, die den Begriff der terrae metonymisch versteht (als Synekdoche „dichterischer Gegenstand für poetisches Werk“).

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dem Lehrstoff und einer distanzierten Beobachterposition ist ein Dichten möglich, das dem Gegenstand substantiell verbunden ist, und das dennoch über eine ausreichende Distanz verfügt, um der persona des Lehrers durch eine ,Außenbeschreibung‘ dieses Gegenstands gerecht zu werden.51 Eine ähnliche Lesart glaube ich für Vers 45 rechtfertigen zu können: in manibus terrae wird hier explizit einem Dichten carmine ficto entgegengestellt. Ging es im vorigen Vers noch um die Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Linearität und Rekursivität, tätigem und passivem Rezipienten, und nur implizit um den sprachlichen Gegenstandsbezug, so steht dieser hier nun explizit im Fokus. in manibus terrae scheint mir, wie ferro aequor scindere, ein weiterer Punkt zu sein, an dem die Vermittlungsebenen in Kontiguität treten: Die Erde haftet zum einen konkret an den Händen der innerfiktionalen agricolae, sie ist zum anderen Maecenas als dem nautischen Reisegefährten des Dichters metaphorisch ,zuhanden‘ und – um zum zentralen Punkt meiner Argumentation zu kommen: Nimmt man die Kontiguität von Gegenstand und Performanz der vergilischen Didaxe ernst, dann lässt sich in manibus terrae auch in Bezug auf Maecenas in konkreter, d. h. nicht metaphorischer, sondern metonymischer Bedeutung verstehen – als Paraphrase für in manibus τὰ Γεωργικά.52 An dieser Stelle lässt sich nun also festhalten: Der Gegenstandsbezug ist dann nicht mehr metaphorisch (Dichtung und Rezeption als Seefahrt), sondern metonymisch figuriert (Dichten und Rezipieren als ,Beackern‘ von terrae),53 oder – um mit den Berner Scholien (ad loc.) zu sprechen: in manibus enim terrae, non proelia.54 Folgt man der soeben vorgeschlagenen Lesart, so lässt sich die recusatio als eine Verhandlung des sprachlichen Gegenstandsbezugs im Spannungsfeld von metaphorischem und metonymischem Sprechen deuten – man könnte auch in poststrukturalistischer Terminologie von einer Problematisierung des Verhältnisses von Metasprache zu Objektsprache sprechen. Die topische Metaphorisierung epischer Dichtung als Schiffsreise liegt womöglich in eben dieser Problematik begründet: Was die Abenteuer des Odysseus, der Argonauten oder auch des Aeneas mit der sprachlichen Form von deren Darstellung verbindet, ist die prozessuale Ähnlichkeit von deren Irrfahrten zum Fluss der Narration. Diese Ähnlichkeit von Gegenstand und Erzählen über den 51 Siehe unten, S. 288, Anm. 62. 52 Dass hier ein metonymisches Verhältnis zwischen „Titel und Text“ (Schröder 1999) bestehe, ist in Anbetracht der schwierigen Erkennung von antiken Buchtiteln (ibid., 10–16) eine gewagte These. In Hass 2018a, besonders 333–340, habe ich allerdings gezeigt, dass die Annahme einer solchen Metonymie bei Varro, rust. I 2,26, nicht unplausibel ist (Text nach Flach 1996): Fundanius aspicit ad Scrofam. „Et tamen verum dicit“, inquit, „hic, ut hoc scripserit in agri cultura“ (Hervorhebung C. H.). 53 Auch ein solches etymologisierendes Wortspiel lässt sich bei Varro, rust. I 5,2, zeigen: Stolo{n} „Isti“, inquit, „libri non tam idonei iis, qui agrum colere volunt, quam qui scholas philosophorum“. Vgl. Nelsestuen 2015; zur Relevanz Varros für die vergilische „Metonymie der Erde“ vgl. Hass 2018a, besonders 305–311; 317–320; 341–346. 54 Vgl. Erren, ad 45: „Der Gräzismus ἐνὶ χερσίν [sc. nach Apoll. Rhod., 1,1113f.] holt den Gegenstand noch näher herbei als die lat. Wendungen ad manum oder sub manibus und gibt dem Ausdruck auch die Bedeutung von ,in Arbeit‘, was man sowohl auf den inceptus labor Vergils als auch auf die Arbeit der Landleute beziehen kann.“ Vgl. auch Servius, ad 44: „,lege‘ nauticus sermo, qui nunc et ad navigium et ad lectionem potest referri; nam hoc dicit: faveto principio vel humilitati carminis mei“ sowie ibid., ad 45: „in manibus terrae: in facili, in promptu est terrarum descriptio“ (Hervorhebung C. H.).

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Gegenstand, die in der teleologisch-linearen Zeitform beider bedingt ist, hat womöglich zur Metaphorisierung epischer Dichtung als Schiffsreise bewogen.55 In den Georgica hingegen ist das Verhältnis zwischen den beschriebenen agrikulturellen Kulturpraktiken und der Kulturpraxis von deren intellektueller Bearbeitung in der Produktion und Rezeption von Schriften über diese Kulturpraktiken eines der Kontiguität.56 Diese Annahme einer metonymischen Beziehung zwischen Text und Gegenstand, zwischen poetischer und bäuerlicher (Agri)Kulturpraxis, äußert sich gleich in georg. 1,1f.: [. . .] quo sidere terram/uertere [. . .] schließt den poetologischen uersus-Begriff etymologisierend mit der agrarischen Gedankenwelt kurz und führt das metapoietische Potential dieser Etymologisierung durch das Enjambement performativ vor.57 Ein ähnliches Verfahren ist für den landwirtschaftsdidaktischen Diskurs spätestens seit Varros Res Rusticae belegbar; auch dort scheinen das Beackern eines Feldes und dasjenige eines Lehrbuchs über Pflanzenpflege einen substantiellen Berührungspunkt aufzuweisen.58 Während also die „Metapher der Seefahrt“ auf die übertragene Ähnlichkeit von temporalen Dynamiken zwischen Texten und deren Gegenstand abhebt und im Epos ihre klassische Ausführung findet, steht die „Metonymie der Erde“ für eine substantielle Kontiguität in der Beziehung von Text und Gegenstand ein, die gewissermaßen die ,Wurzel‘ der Vergilischen Didaxe darstellt, den ,festen Boden‘, aus dem wiederholt kulturgeschichtliche, religionsphilosophische und poetologische Exkurse ,sprießen‘.59 Dass und wie solche „Exkurse“ im Verlauf der Georgica immer wieder ,geerdet‘ werden, damit sie nie ,die Bodenhaftung verlieren‘, das führen m. E. die Verse 35–46 performativ vor.60 Dies ist auch der Grund, weshalb ich die angebliche performative Selbstwidersprüchlichkeit der Bewegung aufs offene Meer mit anschließender Selbstzügelung nicht als Widerspruch, sondern als virtuose Vorführung des eigenen poetischen Verfahrens verstehe.

3. Ausblick: Die Abwesenheit der Schifffahrt in Georgica 3 und 4 Im weiteren Verlauf der Georgica ist die Metapher der Seereise als poetologische Denkfigur dann abwesend; das Verhältnis des Sprechers zur Frage nach dem adäquaten Gegenstandsbezug, die 55 Vgl. Fowler 2000, 215, zur Teleologie als der Zeitform epischen Sprechens. 56 Dieses als „Formthematismus“ (Attig 2015) beschreibbare Verhältnis zwischen dem behandelten Thema und dem Sprechen über dieses Thema stellt womöglich ein (meta)poetisches Konstitutivum der spätrepublikanischen und frühaugusteischen Literatur dar (vgl. Schwindt 2006 zu Cäsar und Cicero; Noller 2015 zur „atomaren Poetik“ des Lukrez; Hass 2018a zur „Rhetorik geerdeten Denkens“ bei Varro). 57 Hierzu sowie zu weiteren Passagen, die in ihrer metrischen Faktur metapoietisch auf den uersus-Begriff Bezug nehmen, siehe Anm. 24 [siehe oben, S. 278]. 58 Siehe oben, S. 286, Anm. 52f. 59 Zum Gattungsbegriff vgl. Volk 2002; Fowler 2000 (wie Anm. 1): Die didaktische Gattung wird in Kontiguität zum jeweiligen Gegenstand sukzessive metonymisch hergestellt; als Vorläufer für diese spezifische Art des Gegenstandsbezugs als Konstitutivum didaktischen Sprechens können neben Homer und Hesiod (vgl. Anm. 2 [siehe oben, S. 273]) auch Arat und Nikander gelten (vgl. Volk 2010, 200–204, hier 201 zur „continuity of communication“ zwischen den himmlischen Zeichen und den bäuerlichen und nautischen Praktiken als den Gegenständen der Φαινόμενα; vgl. Overduin 2015, 20 zur Gleichzeitigkeit von Gegenstandsentfaltung und poetischer Performanz in den Θηριακά). 60 Dass der Exkursbegriff in Bezug auf das ,organische Ganze‘ der Georgica problematisch ist, hat schon Burck 1929 gesehen.

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in georg. 2,35–46 zur Entscheidung drängte, scheint geklärt und muss daher im Folgenden nicht mehr weiter thematisiert werden (ganz anders im Übrigen als das Verhältnis zu Thematik bzw. Register des Epos, die im Proöm zu Buch 3 sowie in der Homer entlehnten Proteus-Episode in Buch 4 eine Rolle spielen).61 Dieser Befund macht es plausibel, dass es in der recusatio weniger um eine Abkehr von der epischen Gattung, epischen Themen oder epischem Stilregister geht, sondern darum, eine spezifische Art des sprachlichen Gegenstandsbezugs zu finden, einen spezifischen modus dicendi, der als „Metonymie der Erde“ substantiell an den Gegenstand der Georgica gebunden ist.62 Lediglich in georg. 4,116–119 wird die vorgestellte Lesart vor Probleme gestellt: 116

atque equidem, extremo ni iam sub fine laborum uela traham et terris festinem advertere proram, fortisan et pinguis hortos quae cura colendi ornaret canerem [. . .].63

Der Sprecher lehnt es ab, in extenso über den Gartenbau zu handeln, und zwar unter dem Verweis, dass sein Dichterschiff bereits kurz vor dem Anlanden sei. Der Sprecher figuriert sich hier erneut als Küstenschiffer, der zwar in unmittelbarer Nähe zum Gegenstand operiert und auch in Form der Kontiguität zu den bäuerlichen labores an diesem Gegenstand metonymisch teilhat, der aber zugleich auch den Gegenstand gewissermaßen aus beschreibender Außenperspektive beobachtet.64 Ebenso wie für georg. 2,44 (primi lege litoris oram) kann der Dichter aufgrund dieser relativen Distanz zum Gegenstand bei gleichzeitiger substantieller Kontiguität dessen paradigmatisches Potential überhaupt erkennen und in der persona des Lehrers didaktisch 61 Aufgrund der schier uferlosen Sekundärliteratur zu diesen Textpassagen vgl. hier lediglich die noch immer instruktivste Gesamtdarstellung des Verhältnisses der Georgica zum Epos bei Farrell 1991. Zur metapoetischen Signifikanz der Passagen vgl. e.g. Peirano 2014, 229; Giusti (im Druck); Hass 2018b (im Druck) (zum Proöm von georg. 3); Batstone 1997, 126–129; Schwindt 2012, 286–288; Baumbach 2013, 228 (zur Proteusfigur). 62 Damit ist der Gegenstand der Georgica für deren poetisches Programm substantiell, nicht nur akzidentiell – etwa als spröder Stoff, über den die poetische Virtuosität obsiegen soll (Klingner 1963; Thomas 1987), oder als Vehikel zur Vermittlung ,tieferer‘ Botschaften philosophischer (vgl. Effe 1977, besonders 85), ideologischer (Powell 2008) oder sozialhistorischer Art (Thibodeau 2011). Damit soll allerdings ebenso wenig einer Reduktion des poetischen Anspruchs der Georgica auf deren mimetische resp. intertextuelle Gegenstandsbehandlung das Wort geredet werden (Spurr 1986; Doodey 2007); die vergilische „Metonymie der Erde“ erlaubt es vielmehr gerade aufgrund der ,Erdverbundenheit‘ des Gegenstands – der „(Agri)Kultur“ (Hass 2015) –, eben diese im Anschluss an Varro als ideologische, philosophische und poetologische „Basismetonymie“ zu konfigurieren (vgl. Hass 2018a, 333–337). Innerhalb der Fragestellung „of how literally or symbolically [one interprets] the topic of farming“ (Kronenberg 2009, 22) situiert sich die von mir vorgeschlagene Perspektive also zwischen den Tendenzen eines „ideological“ und eines „literary approach“ (vgl. Volk 2008, 4f.). Hierzu treffend Batstone 1997, 125: „We do not need to choose between a poem about dirt and dung and a poem about metaphysics, because this poem addresses the great abstracts (knowledge, history, power, psychology, ethics, art, death) in the way our lives do: by ,contact‘ with things“. 63 „Reffte ich aber nicht schon, nahe am Ziel meiner Mühen, die Segel und wendete den Bug nicht schon eilig dem Land zu, sänge ich wohl noch, welche Sorge und Pflege [„welche Sorgfalt der Bearbeitung“, C. H.] üppige Gärten schmückt [. . . ]“. 64 Vgl. für die Emphase auf dem Nahverhältnis des Sprechers zum Gegenstand georg. 4,113f.: [. . .] cui talia curae;/ipse labore manum duro terat mit georg. 4,116f.: atque equidem, extremo ni iam sub fine laborum/uela traham [. . .]; zur Emphase auf dem Distanzverhältnis vgl. georg. 4,125–127: namque sub Oebaliae memini me turribus arcis,/[. . . ]/ Corycium uidisse senem [. . .]; zur Weiterführung der Seefahrtsmetapher (praetereo, georg. 4,148) vgl. Harrison 2007.

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vermitteln.65 Das Oszillieren der Sprecherposition zwischen Beschreibung und Mitvollzug der bäuerlichen labores kommt hier m. E. im Oszillieren zwischen der poetologischen „Metapher der Seefahrt“ und der poietologischen „Metonymie der Erde“ zum Ausdruck. In erzähltheoretischer Hinsicht stellt diese recusatio einer Beschreibung der Gartenpflege unter Verweis auf das nahende Ende des poetischen Vorhabens in Anbetracht der weit ausgreifenden mythologischen Aristaeus-Episode aber nun wirklich einen performativen Selbstwiderspruch dar. Womöglich soll hier auf die Herausforderung vorbereitet werden, der zyklischrekursiven Zeitordnung des Gegenstandes gerecht zu werden, obwohl deren textueller Darstellung notwendig ein Telos gesetzt werden muss: Im Ritual der bougonie, des Neu-Anfangs eines Bienenstaates, ist die poetologische Emphase auf der Rekursivität agrikultureller Praktiken und auf deren tätig-handelndem Charakter bewahrt;66 zugleich ist in der dezidierten closure der abschließenden sphragis der notwendige Schlusspunkt in deren textueller Darstellung emphatisch gesetzt.67 Allerdings ist die letzte Sprach-Handlung des Sprechers Vergilius diejenige, sich selbst erneut in den ersten Vers des ersten Werkes, der Eklogen, einzuschreiben (georg. 4,563–566):

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illo Vergilium me tempore dulcis alebat Parthenope studiis florentem ignobilis oti, carmina qui lusi pastorum audaxque iuuenta, Tityre, te patulae cecini sub tegmine fagi.68

Dieser abschließende werkimmanente „backward glance“ wiederum verweist zum einen gerade im Telos eines Werks, das sich die Darstellung der zyklischen Zeitform der bäuerlichen

65 In diesem Sinne könnte man auch den makarismos in georg. 2,458f. deuten: o fortunatos nimium, sua si bona norint/ agricolas! Hier scheint die fehlende (Selbst)Erkenntnisleistung des sua bona nouisse Hinderungsgrund für einen Zustand als nimium fortunatus zu sein. In der metapoetischen Passage georg. 2,493 (fortunatus et ille deos qui nouit agrestis) hingegen scheint eben diese Bedingung des deos agrestis nouisse dann erfüllt. Die liminale Position des Sprechers zwischen Nähe und Distanz zum eigenen Gegenstand scheint für die georgische (Meta)Poetik auch hier konstitutiv zu sein (vgl. auch Ripoll 2015 zu georg. 3 und 4). 66 Meines Erachtens ist eben diese gattungs- und erzähltheoretische Problemstellung mitverantwortlich dafür, dass eine eingehendere Beschreibung des Corycius senex in einer recusatio verabschiedet wird: Die Geschichte des Mannes, der als erster Bienen gehalten haben soll (vgl. georg. 4,139–41: ergo apibus fetis idem atque examine multo/primus abundare et spumantia cogere pressis/mella fauis [. . .]) wird dezidiert nicht erzählt, wohingegen die Geschichte des Mannes, der als erster verlorene Bienen wieder neu erhalten haben soll, in Form der AristaeusErzählung als wirkungsvolles Finale gesetzt ist. Die Bezeichnung des wiedergewonnenen Bienenschwarms als dictu mirabile monstrum (georg. 4,554), die die bougonische Technik mit den Pfropfungen verschiedener genera von Bäumen engführt (vgl. georg. 2,30: mirabile dictu), weist m. E. darauf hin, dass das finale admirandum der Georgica gerade nicht als Ursprungserzählung einer linearen Entwicklung figuriert ist, sondern als Moment des Immer-Wieder-Neu-Beginnens, das die Denkfiguren von Linearität und Zyklizität im Bild eines thaumaston zusammendenkt (vgl. Clément-Tarantino 2006, besonders Kap. 2–4; Deremetz 2009, besonders 122–125; Hardie 2009, besonders 48–52; zu den philologietheoretischen Implikationen vgl. Hamacher 2009, wie Anm. 70). 67 Zu „supratextual closure“ vgl. Fowler 1989, 82–88; zur textimmanenten Konstruktion eines werkübergreifenden vergilischen œuvres vgl. Theodorakopoulos 1997. 68 „Damals nährte mich, Vergil, die geliebte Stadt Parthenope [„die süße Parthenope“, C. H.], in der ich mein Leben mit ruhmlos-friedlicher Dichtung hinbrachte [„der ich blühte in den Beschäftigungen meiner ruhmlosen Mußezeit“, C. H.], der ich spielend Hirtenlieder dichtete und mit der Kühnheit der Jugend [565] dich, Tityrus, sang, unter dem Dach breitästriger Buche gelagert.“

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Welt zum Ziel gesetzt hat, auf dessen notwendige Unabgeschlossenheit.69 Zum anderen deutet die im abschließenden Selbstzitat implizierte Rezeptionsanweisung einer werkübergreifend rekursiven Relektüre aber auch eine Bewegung der Bedeutungsverschiebung an, indem der Zielpunkt des Zeichens Vergilius, das emphatisch auf den Autor zu verweisen scheint, sich in mehrfacher Hinsicht einem klaren interpretativen Zugriff entzieht:70 Zum einen verunmöglicht die Selbstmetaphorisierung des Sprechers als florales Produkt einer metonymisch bezeichneten Landschaft (georg. 4,564: Parthenope me florentem alebat) eine klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt der Textäußerung, da es scheinen könnte, als sei Vergilius gleichsam der terra Neapels entwachsen;71 zum anderen disseminiert Vergilius in dem Moment, in dem man dem Verweis in den Eklogentext folgt, in Richtung der verschiedenen „bukolischen nomina“, sodass die Frage, ob beispielsweise Tityrus nun Vergilius ist oder nicht, notorisch ungelöst bleiben muss;72 und schließlich wird dieses herausgearbeitete Moment einer möglichen radikalen Abwesenheit des Autors durch die Konnotation der Parthenope als einer todbringenden Sirene sowie durch den

69 Vgl. Gale 2003, 324–328. 70 Eine solche werkübergreifende Relektüre bereichert die Bedeutungskonstitution der Georgica (und der Eklogen) in mehrerlei Hinsicht: Die Dissemination des auktorialen Bedeutungszentrums der Georgica in Richtung des EklogenTexts bietet die Möglichkeit, die Georgica noch einmal anders – möglicherweise durchaus „subversiv“ zu lesen (vgl. exemplarisch Thomas 2001); die ‚Erdung‘ des elusiven Bedeutungskonzepts der Eklogen im Vergilius der Georgica lässt die dortigen Selbstzitate (vgl. Niehl 2003) in einem anderen, die (utopische) ‚Suche‘ nach dem Sprecher der Eklogen anregenden, Licht erscheinen (vgl. Kania 2012). Die Spannung zwischen Linearität und Zyklizität, die in der Denkfigur der Bougonie thematisch und metapoetisch eingelöst wird (vgl. Sibona 2002; Ripoll 2015) schlüge sich dann auch auf der Ebene konkreter Rezeptionspraktiken nieder: Ein solches „Immer-Wieder-Neu-Lesen“ als „Immer-Wieder-Anders-Lesen“, nach Hamacher 2009, besonders 36f. eine konstitutive Eigenschaft philologischen Lesens (vgl. auch Hass 2015, 128–131), entbehrt zwar des von mir bislang nachgezeichneten Spannungbogens des „didactic plot“ (Fowler 2000), wird aber im Sinne hermeneutischer Zirkularität epistemisch produktiv, indem es den Text vor interpretativer „Stillstellung“ bewahrt (Hass 2015, 104–108) und ihm in produktiverer Relektüre Bedeutungs- und konkretes Anwendungspotential hinzufügt. In der „Basismetonymie (agri)kultureller Praktiken“ (Hass 2018a) artikuliert sich die „implizite Rezeptionsanweisung“ der Georgica auch als deren „implizite Philologie“ (Schwindt 2009; Heckel 2014 zur Verwendung literaturkritischer Metaphern in georg. 2): Die Vergilischen (agri)kulturellen Praktiken implizieren insofern auch eine „[Agri]Kulturtechnik Philologie“ (vgl. Kélemen/Kulcsár Szabó/Tamás 2011), als (Agri)Kultur und Philologie sich jeweils innerhalb der Dialektik zwischen getreuer Orientierung am Gegenstand und dessen überformender Manipulation bewegen (Hass 2015, 125–131); dieser praxeologische Aspekt der Vergilischen (Agri)Kultur ist es, der die Kontiguität der verschiedenen, konzeptuell und material vollzogenen, Ordnungspraktiken herstellt, die in den Georgica als agrikulturelle, politische, epistemologische, (meta)hermeneutische, (meta)semiotische, (meta)textuelle und nicht zuletzt (meta)poietische und ,(meta)philologische‘ Ordnungspraktiken verhandelt werden. 71 Eine ebensolche Beobachtung der Grenzverwischung zwischen Subjekt und Objekt, Natur und (Agri)Kultur, hat Batstone 1997, 129–131 für georg. 1,1–5 gemacht (vgl. auch Hass 2015, 100–104); die Permeabilität dieser anthropologischen Grenze lässt sich also als ringkompositorische Rahmung der vier Georgica-Bücher beschreiben. 72 Vgl. Rumpf 1999; Peirano 2014, 228, zur disseminierenden Namenssemiotik in den Eklogen. Auch im sphragisText selbst ist diese Ambiguität, ob Vergilius innerhalb oder außerhalb des Eklogentextes situiert ist, grundgelegt: Zum einen lässt die metrische Verschleifung in Vers 565 – wenigstens bei imaginierter oraler Vermittlungssituation – offen, ob man carmina qui lusi pastorum versteht oder prädikativ carmina qui lusi pastor; zum anderen bleibt auch in Vers 566 letztlich offen, auf wen sich die Lokalisierung patulae sub tegmine fagi bezieht: auf Tityrus, auf Vergilius oder auf beide? Eine alternative Übersetzung der Verse 565f. mit Vergilius in der persona des singenden Hirten könnte also lauten: „[. . . ] der ich als Hirte spielerisch Lieder erdichtet habe und in der Kühnheit meiner Jugend unter dem Dach einer breiten Buche Dich, Tityrus, besungen habe“.

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epigrammatischen Gestus der Textpassage in die Nähe des Metaphernfelds vom „Tod des Autors“ gerückt.73 Die im oben genannten Akrostichon in codierter Form antizipierte und in der abschließenden sphragis emphatisch explizierte Setzung eines Telos für das didaktische Unterfangen löst also nur scheinbar die erzähl- und gattungstheoretische Problemstellung auf, wie das Thema der Georgica – das an sich keinen Anfang und kein Ende kennt – in eine lineare textuelle Form zu bringen sei: Das Telos des Textes – und das heißt im Falle der Georgica der eingeschriebene Autor Vergilius als dessen Ursprung und Zielpunkt zugleich, als Zentrum von dessen Bedeutungstotalität – entzieht sich durch die soeben beschriebenen Techniken hartnäckig jedem festen interpretatorischen Zugriff.74 Vor dem Hintergrund dieser geradezu proteischen Eigenschaft der Sprecherinstanz Vergilius kann man abschließend der klugen Beobachtung zustimmen, die unter anderen William Batstone, Jürgen Paul Schwindt und Manuel Baumbach zur poetologischen Funktion der ProteusFigur gemacht haben, und die ich abschließend paraphrasieren möchte: Die Dichter suchen in produktivem Ringen Zugriff auf das allumfassende proteische ,Wissen der Dichtung‘, das sie jedoch nur teilweise und nur für eine kurze Zeitspanne im Moment der Erzählung bändigen können. Die Rezipienten können dieses Wissen nicht festhalten und beschreiben, ohne diesem im interpretativen Zugriff Gewalt anzutun; eine endgültige Bändigung und eindeutige Auslegung dieses Wissens bleibt unmöglich – und dies erklärt womöglich die nicht abreißende Vielfalt verschiedener Deutungen der Georgica.75 Damit aber diese implizite Rezeptionsanweisung, die in der poetologischen Reflexionsfigur des Proteus den Rezipienten anempfohlen wird, nicht in bloßem Relativismus endet, darf die

73 Vgl. Peirano 2013, besonders 251–256; 270–275, für eine post-strukturalistische Lesart der vergilischen Signatur als „linguistic gesture [which] can never fully distangle itself from the paradoxes of representation to create the presence to which it aspires“ (275). In Peirano 2014, 227–231, dehnt sie ihre Überlegungen auch auf das prooemium in georg. 3,1–48 aus. Tatsächlich finden sich auch in dieser Passage, in der erstmalig das Problem von Tod und Nachruhm thematisch wird, zwei prononcierte Denkfiguren metatextueller Selbsteinschreibung: In Vers 14f. ([. . .] tardis ingens ubi flexibus errat/Mincius et tenera praetexit harundine ripas) wird der Ort für den imaginierten Tempel zu Ehren des Dichters und Octavians in einem wörtlichen Selbstzitat aus ecl. 7,12f. dezidiert als ein textueller Ort markiert; in Vers 24f. schließlich ([iuuat uidere] scaena ut uersis discedat frontibus utque/purpurea intexti tollant aulaea Britanni) werden explizit Figuren genannt, die zugleich innerhalb und außerhalb eines als textus markierten Raumes agieren. Vgl. hierzu auch Giusti (im Druck) sowie Hass 2018b (im Druck). 74 Nach Luhmann 2004, 53, zeichnen sich teleologische Denkformen dadurch aus, „dass es bestimmte Zwecke gibt, die Kausalprozesse anziehen, die also als Ursache selbst in den Prozess eingehen, obwohl es sich um zukünftige Zustände handelt“. Vergilius inszeniert sich hier also – ganz wie der „tote Autor“ bei Barthes 1984 – als vermeintlich bedeutungsstabilisierendes Zentrum des Textes, das jedoch niemals mit sich selbst identisch ist (vgl. auch Derrida 1967). 75 Vgl. Batstone 1997, 127f.: „Interpretive decisions to identify, align and evaluate the elements of the text in one way or another disambiguate the poem at the expense of denying other identifications and alignments. The poem addresses this dilemma: it ends with a story of interpretation which becomes part of the labyrinth of thought“; Schwindt 2012, 286–288, sowie Baumbach 2013, 228: „Ebenso wie die Figuren, die Proteus auf der innerfiktionalen Ebene begegnen, müssen Dichter im produktiven Ringen einen Zugriff auf ,sein‘ Wissen finden, dem gewählten Erzählthema eine Form geben und den Meergott für den Moment des Erzählens festhalten – endgültig beschreiben und bändigen kann man ihn nicht, sodass sich Proteus auch künftigen Rezipienten in immer neuen Metamorphosen zeigen und wechselnden (interpretativen) Zugriffen stellen wird“.

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soeben herausgearbeitete weitere, komplementäre Rezeptionsanweisung nicht ausgeblendet werden, die in den Denkbildern von Ackerbau und Seefahrt die Frage nach dem adäquaten Gegenstandsbezug verhandelt hat: Was die zahllosen Möglichkeiten, wie der proteische Text aspekthaft beleuchtet werden kann, gemäß der impliziten Rezeptionsanweisung in georg. 2,35– 46 alle gemeinsam haben sollten, ist ein metonymisches Nahverhältnis zum Gegenstand. Im konkreten Fall bedeutet das, dass Deutungen, die in den Georgica unabhängig bzw. jenseits vom ,vordergründigen‘ Gegenstand ein ,eigentliches Thema‘ metaphorisch oder allegorisch erdichten, vom Text falsifiziert werden, wohingegen jede Deutung, die den Gegenstand der Georgica als solchen ernst nimmt und das Nahverhältnis zu ihrem Zieltext nicht aufgibt, unabhängig von ihrer konkreten Ausrichtung als eine mögliche Facette des proteischen Bedeutungsspektrums der Georgica Gültigkeit beanspruchen kann: Deutungen der Georgica sollten nicht carmine ficto lediglich über den Gegenstand sprechen, sondern diesen Gegenstand, (agri)kulturelle Praktiken, selbst zur Sprache bringen und ihn – warum nicht? – auch für konkrete (agri)kulturelle Praktiken „diesseits“ des Textes76 ‚fruchtbar‘ zu machen. Jede mentale oder körperliche (Rezeptions)Praxis, die die Kontiguität zu diesem Gegenstand nicht aufgibt, ist m. E. durch τὰ Γεωργικά abgedeckt: Die paradigmatische Verfasstheit der „(agri)kulturellen Basismetonymie“77 erlaubt hierfür eine immense Bandbreite von ,Anwendungsfeldern‘ – sowohl für zeitgenössische, als auch für heutige Leser:78 Keiner der in der vorhergehenden Fußnote genannten Aspekte kann allerdings Alleingültigkeit beanspruchen, ebensowenig wie sich irgendeiner der genannten Aspekte bruchlos durchführen ließe; in diesem „performativen Potential“79 der Vergilischen Georgica besteht womöglich der ,fruchtbare Nährboden‘, den dieser Text auch heute noch für zahlreiche – teils diametral verschiedene – Rezeptionspraktiken bietet. in manibus nil nisi terrae: Aber auch ein trivialer Gegenstand wie die bloße Erde birgt – als (agri)kulturelle Basismetonymie zugerichtet – in proteischer Manier unendlich viele mögliche Anschauungs- und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten . . . 80

76 Vgl. Gumbrecht 2004 und öfter, wenn auch in dezidiertem Dissens (vgl. Hass 2018a, 343f. mit Anm. 74). 77 Dieses metapoetische Verfahren ist Varronischer Provenienz; vgl. Hass 2018a. 78 Vgl. Spurr 1986; Doodey 2007; Thibodeau 2011 (agrikulturelle Ordnungspraktiken); Hardie 1986; Heckel 1998; Thomas 2001; Nappa 2005 (politische Ordnungspraktiken); Perkell 1989; Gale 2000; Schiesaro 1997; Kronenberg 2009 (epistemische Ordnungspraktiken); Batstone 1997; Baumbach 2013 (interpretatorische Ordnungspraktiken); Otis 1964; Putnam 1979 (anthropologische Ordnungspraktiken); Perkell 1989; Lowrie 2009; Willis 2011; Kania 2012; Heckel 2014 (semiotische und [meta-]poetische Ordnungspraktiken) und viele mehr . . . 79 Siehe Anm. 24 [siehe oben, S. 278]. 80 Vgl. Hass 2015, besonders 97–99; 125–131, für einen Versuch, das ,philologische Schiff ‘ zwischen der Scylla eines radikalkonstruktivistischen anything goes und der Charybdis einer reaktionären Rückkehr zu essentialistischen Zugriffen post theory unversehrt am Text ,anlanden‘ zu lassen.

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»Den Rand der Küste lesen«

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Mare naufragum Motivik, Poetik und Funktion nautischer Szenen in Horazens lyrischen Gedichten * Johannes Breuer (Mainz) 1. Einleitung Der augusteische Dichter Quintus Horatius Flaccus (65–8 v. Chr.) beschäftigt sich in seinem Œuvre immer wieder konkret oder metaphorisch mit dem Meer und der Seefahrt. Insbesondere in seine Epoden und Oden hat Horaz eine Vielzahl nautischer Szenen ganz unterschiedlichen Zuschnittes integriert. Dieser Beitrag soll das Spektrum der von Horaz realisierten Möglichkeiten, Seereisen im Rahmen lyrischer Dichtung zu thematisieren, ausloten. Die Untersuchung wird sich drei Aspekten widmen: Zunächst soll untersucht werden, welche Situationen und Gesichtspunkte des Reisens zu Schiff angesprochen werden; es soll also eine Motivik der horazischen Seefahrt erarbeitet werden. Sodann ist nach der dabei zur Anwendung kommenden Poetik zu fragen: Von welchen Sprechern werden nautische Szenen entworfen? Welchen Umfang nehmen sie ein? Beschreiben sie gegenwärtiges oder zukünftiges Geschehen, bringen sie Vergangenes in Erinnerung oder rufen sie kollektiv verfügbares Wissen ab? In welchen Sprechhaltungen werden sie vorgetragen? Schließlich sind die Funktionen zu benennen, welche die Bezugnahmen auf die Schiffahrt erfüllen.1 Zur weiteren Konturierung der Ergebnisse bietet sich abschließend ein Vergleich mit der bekanntesten horazischen Reise zu Lande, dem in Satire 1,5 dargestellten Iter Brundisinum, an.

2. Seefahrtsszenen in den lyrischen Gedichten 2.1 Gefahren der Seefahrt Daß eine Seefahrt potenziell mit großer Gefahr verbunden ist, wird im Corpus der horazischen Lyrik in verschiedener Weise immer wieder deutlich gemacht. So wird zum Beispiel als einer der Vorteile des Landlebens, von denen der Geldverleiher Alfius in der 2. Epode schwärmt, von ihm angeführt, daß der Landmann gerade nicht „das wütende Meer fürchten“ müsse.2 Die Gefahren des Meeres, die das Leben eines Kaufmannes bedrohen, werden auch im Eröffnungsgedicht der Oden-Sammlung vom Sprecher gegenüber Maecenas thematisiert, und zwar von zwei Seiten: * Für die kritische Lektüre des Manuskriptes sowie wertvolle Hinweise danke ich Frau Dr. Rebekka Schirner und Herrn Dr. Jochen Walter (beide Mainz) sowie Herrn Dr. Mario Baumann (Gießen). 1 Da sich die Befunde der Kategorien Motivik, Poetik und Funktion nicht immer decken, wird zunächst das Material anhand der Motivik gegliedert präsentiert; Beobachtungen zur Poetik und Funktion werden dort jeweils ebenfalls vorgetragen, aber in weiteren Abschnitten dann summierend dargestellt. 2 Epod. 2,6: neque horret iratum mare (alle Horazzitate nach Shackleton Bailey 4 2001).

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Johannes Breuer gaudentem patrios findere sarculo agros Attalicis condicionibus numquam demoveas, ut trabe Cypria Myrtoum pavidus nauta secet mare; luctantem Icariis fluctibus Africum mercator metuens otium et oppidi laudat rura sui, mox reficit rates quassas, indocilis pauperiem pati.3

Einen Bauern könne man nicht einmal mit den größten finanziellen Anreizen dazu bewegen, als furchtsamer Seemann das myrtoische Meer zu befahren. Auffällig ist hierbei zum einen, daß als Gegensatz zum Landleben nicht etwa das Leben in der Großstadt, sondern eben die Seefahrt etabliert wird; zum anderen wird mit dem myrtoischen Meer ein Toponym verwendet, das sich aitiologisch mit einem Opfer der See verbinden läßt, nämlich mit Myrtilos, dem Wagenlenker des Oinomaos, der von Pelops nach dessen durch Manipulation errungenem Sieg im Wagenrennen in eben dieses Meer gestoßen wurde. Andererseits wird ein Kaufmann porträtiert, den es trotz seiner Angst vor den tobenden Stürmen immer wieder auf die See hinaus treibt, wobei durch die Wendung Icariis fluctibus abermals gerade auf ein Meer Bezug genommen wird, das seinen Namen durch den Tod eines berühmten (Flug-)Reisenden erhalten hat.4 Die Angst eines Seemanns vor dem Bosporus wird in carm. 2,13 vom Sprecher aufgegriffen, um innerhalb von Überlegungen über die condition humaine zu zeigen, daß Menschen Gefahren für ihr Leben nur unvollkommen antizipieren können.5 Sollte das Adjektiv Poenus richtig überliefert sein, hätte sich der Sprecher gerade einen Vertreter eines für seine Seefahrerkünste berühmten Volkes ausgesucht und so die Aussage noch intensiviert. In carm. 1,16 greift der Sprecher auf die Macht des Meeres zurück, um gegenüber einem Mädchen zu illustrieren, welche eigentlich äußerst furchteinflößenden Entitäten die Emotion „Zorn“ dennoch nicht stillen können;6 dabei gelingt es ihm durch die Verwendung des Adjektivs „schiffezerbrechend“, in nur zwei Wörtern eine beklemmende Szene im Geist sowohl seiner Adressatin als auch der Rezipienten entstehen zu lassen. Umgekehrt zeichnet sich laut den Worten des Sprechers in carm. 3,3 der Gerechte und Beharrliche unter anderem gerade dadurch aus, daß ihn auch der Südwind, der Gebieter der Adria7 , nicht verzagen läßt.8 3 Wen es beglückt, zu furchen daheim mit dem Karste/seine Gefilde – selbst mit des Attalos Gaben/nimmer bewegst du den je, daß er auf cyprischer Barke/fahre als bebender Schiffer hin durchs myrtoische Meer./Ringt mit des Ikaros Flut afrikanischer Sturm,/zagt der Kaufmann voll Furcht: Ruhe und seiner Heimatstadt/ländliche Flur preiset er hoch – bald doch baut er aufs neue das Schiff,/das geborsten; nimmer lernt er, Armut zu leiden (Übers.: B. Kytzler). 4 Vgl. hierzu auch Breuer 2008, 258f. – Eine weitere Reise über das Meer, die keine Schiffsreise ist, wird in der Europa-Ode (carm. 3,27,25–34) dargestellt. 5 Carm. 2,13,13–17: quid quisque vitet numquam homini satis/cautum est in horas. navita Bosphorum/†Poenus† perhorrescit neque ultra/caeca timet aliunde fata;//miles sagittas (Was er meiden soll, nimmer hat das ein Mensch genügend/vorhergesehen von Stunde zu Stunde. Vor dem Bosporos der Schiffer/aus Phönizien bebt, und nicht darüber hinaus/fürchtet er anderswoher das blinde Geschick;//unser Soldat scheut die Pfeile, Übers.: B. Kytzler). 6 Carm. 1,16,9f.: tristes ut irae; quas neque Noricus/deterret ensis nec mare naufragum (wie finsterer Zorn, den weder das norische/Schwert abschreckt noch das Meer, das Schiffe zerbricht, Übers.: B. Kytzler). 7 Zur Adria bei Horaz vgl. Braccesi 1996. 8 Carm. 3,3,1–5: iustum et tenacem propositi virum/[. . .] non vultus instantis tyranni/mente quatit solida neque Auster,// dux inquieti turbidus Hadriae (Den gerechten und beharrlich seinen Vorsatz haltenden Mann,/nicht kann ihn [. . . ]

Mare naufragum. Nautische Szenen in Horazens Lyrik

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Die Risiken, die ein Befahren des Meeres mit sich bringt, sind offenkundig allgemein so bekannt, daß sie auch Beteuerungsformeln zugrundegelegt werden können: Der Sprecher der 15. Epode, der sich selbst Flaccus nennt (vgl. V. 12), erinnert eine Frau namens Neaera an ihren (inzwischen gebrochenen) gemeinsamen Schwur, einander zu lieben, solange das Seeleuten feindliche Sternbild Orion das winterliche Meer (jedes Jahr aufs Neue) aufwühle.9 Schließlich wird die Natur der See in einer Personenrede auch als Maßstab für eine menschliche Charaktereigenschaft verwendet: In carm. 3,9, in dem zwei ehemals ineinander Verliebte sich miteinander unterhalten und im Laufe des Dialogs wieder zueinander finden, äußert die Sprecherin Lydia am Ende des Gedichtes den Wunsch, wieder mit dem Mann zusammenzuleben, obgleich dieser „zorniger als die Adria“10 sei. Das der Adria von ihr dabei verliehene semantisch weite Attribut improbus kann unter anderem sowohl „übermäßig“, „mit gewaltiger Kraft“ als auch „boshaft“ bedeuten; jedenfalls läßt es das Meer und damit auch die Schiffahrt in dieser Region als gefährlich erscheinen.11 2.2 Wünsche für die Reise Die allgemein bekannten Gefahren der Seefahrt machen es notwendig, für Reisende um sichere Fahrt zu bitten; unter anderem diese Bitten haben einen literarischen Ausdruck in der Form sogenannter „Propemptika“ (Geleitgedichte)12 gefunden. Ein Beispiel hierfür, das aber weit über den eigentlichen Anlaß hinausgreift, ist carm. 1,3: sic te diva potens Cypri, sic fratres Helenae, lucida sidera, ventorumque regat pater obstrictis aliis praeter Iapyga, 5

9

10 11 12 13

navis, quae tibi creditum debes Vergilium, finibus Atticis reddas incolumem precor et serves animae dimidium meae.13

der Blick des drohenden Tyrannen/in seinem festen Sinn erschüttern; auch nicht der Südsturm,//der wirbelreiche Gebieter der ruhelosen Adria, Übers.: B. Kytzler). Epod. 15,3–11: cum tu magnorum numen laesura deorum/in verba iurabas mea,/[. . .] dum pecori lupus et nautis infestus Orion/turbaret hibernum mare/[. . .] fore hunc amorem mutuum,/o dolitura mea multum virtute Neaera! (da du, bereit schon, zu verletzen die Hoheit großer Götter,/den Eid mir schwurest auf mein Wort,/[. . . ] solang dem Vieh der Wolf, solang den Schiffern feind Orion/aufwühlt zur Winterszeit das Meer,/[. . . ] werde diese unsere Liebe wechselseitig dauern, Übers.: B. Kytzler). Carm. 3,9,21–24: quamquam [. . .] tu levior cortice et improbo/iracundior Hadria,/tecum vivere amem, tecum obeam libens. Vgl. auch carm. 1,33, wo der Sprecher seine Freundin Myrtale „stürmischer als die Fluten der Adria“ nennt (14–16: Myrtale/libertina, fretis acrior Hadriae/curvantis Calabros sinus). Zum Genos des Propemptikons vgl. Robbins 2001. Seefahrtsbezüge des antiken Propemptikons behandelt Heydenreich 1970, 36–41. Vgl. zu Propemptika auch den Beitrag von Krasser in diesem Band (siehe oben, S. 155–169). So möge dich die göttliche Herrin von Cypern,/so die Brüder der Helena, das helle Gestirn,/und der Winde Vater lenken/– gefesselt seien sie alle außer dem West! –,//Schiff, das du den dir anvertrauten/schuldest, Vergil. Dem Gestade Attikas/bringe ihn unversehrt, so bete ich,/und behüte die Hälfte meiner Seele! (Übers.: B. Kytzler).

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In diesem Propemptikon für einen nach Attika reisenden Freund des Sprechers namens Vergil, der weithin mit dem augusteischen Dichter identifiziert wird,14 werden zunächst unter anderem Venus15 und die Dioskuren16 als mögliche Schutzmächte für das apostrophierte Schiff benannt, das den geliebten Freund transportiert. Sodann wird dem prôtos heuretês der Seefahrt, der weder mit den Argonauten noch mit Prometheus explizit in Verbindung gebracht wird, eine geradezu ungeheuerliche Unerschrockenheit attestiert, da das Meer doch zahlreiche Gefahren wie Seeungeheuer, Stürme und tückische Klippen berge.17 Anschließend folgt eine theologischmythologische Vertiefung: nequiquam deus abscidit prudens Oceano dissociabili〈s〉18 terras, si tamen impiae non tangenda rates transiliunt vada. 25

audax omnia perpeti gens humana ruit per vetitum nefas.19

Obwohl ein Gott absichtsvoll-klug die Länder durch den Ozean voneinander getrennt habe, würden doch frevelhafte Schiffe die Distanzen geradezu mit Leichtigkeit überbrücken. Dies sei aber nur ein Aspekt der Kühnheit des Menschengeschlechtes, dem sich die widernatürliche Erschließung des Luftraumes durch Daedalus und die Übertretung der Grenzen zum Hades durch Herakles zur Seite stellen ließen.20 Der Sprecher dieses Gedichtes bewertet die Institution der Seefahrt also klar negativ, so daß es etwas erstaunt, wenn der Lyriker und Essayist Durs Grünbein über diese Ode behauptet: „Wie selbstverständlich feiert Horaz [. . . ] die Schiffahrt als heimlichen Triumph über die Götter. Als wäre das Mittelmeer seiner Zeit nicht ein einziger Schiffsfriedhof gewesen, schreibt er mit der größten Unbefangenheit, den alten Neptun verhöhnend“.21 Doch 14 Vgl. zum Beispiel Nisbet/Hubbard 1970, 40. 15 Zu Venus als Schutzgöttin der Seefahrt vgl. auch den Beitrag von Descharmes in diesem Band (siehe oben, S. 191– 206). 16 Zu den Dioskuren als Schützern von Schiffen vgl. den Beitrag von Schmidt in diesem Band (siehe oben, S. 229–251). 17 Carm. 1,3,9–20: illi robur et aes triplex/circa pectus erat, qui fragilem truci/commisit pelago ratem/primus, nec timuit praecipitem Africum//decertantem Aquilonibus/nec tristis Hyadas nec rabiem Noti,/quo non arbiter Hadriae/ maior, tollere seu ponere vult freta.//quem mortis timuit gradum/qui siccis oculis monstra natantia,/qui vidit mare turbidum (v. l.: turgidum) et/infamis scopulos, Acroceraunia? (Jenem hat Eichenholz und Erz dreifach/ringsum die Brust gepanzert, der da das zerbrechliche dem wilden/Meere preisgab, das Boot,/als erster; er fürchtete nicht rasenden Afrikasturm//im Kampf gegen nördliche Winde,/nicht das düstere Siebengestirn noch die Wut des Süds:/ keiner ist als Meister des Adriatischen Meeres/mächtiger, ob er erregen oder besänftigen mag die Fluten.//Wie konnte das Nahen des Todes noch fürchten,/wer da gesehen das Meer im Wirbel und/die verrufenen Felsklippen Akrokeraunias?, Übers.: B. Kytzler). 18 dissociabilis Gualterius : dissociabili codd. 19 Vergebens, daß ein Gott hat geschieden/einsichtsvoll vom Ozean, dem ungastlichen,/die Lande, wenn dennoch ruchlose/Schiffe wagen den Sprung hin über nicht zu berührende Wasser.//Frech bereit, alles zu ertragen,/dringt der Menschen Geschlecht vorwärts in verbotenem Frevel (Übers.: B. Kytzler). 20 Carm. 1,3,27–36: audax Iapeti genus/ignem fraude mala gentibus intulit;//[. . .] expertus vacuum Daedalus aera/ pennis non homini datis;/perrupit Acheronta Herculeus labor (frech hat des Iapetos Geschlecht/das Feuer durch bösen Betrug den Völkern vermittelt.//[. . . ] Versucht hat Daidalos die leere Luft/mit Schwingen, die den Menschen doch verwehrt;/aufgebrochen hat den Acheron des Herakles Arbeit, Übers.: B. Kytzler). 21 Grünbein 2009, 13.

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auch eine Deutung der Ode als Ausdruck eines reinen Fortschrittspessimismus, wie sie etwa der Philosoph Hans Blumenberg vorgetragen hat,22 scheint insofern der Relativierung zu bedürfen, als das Gedicht partiell mit ähnlich gelagerten Klagen der augusteischen Elegiker vergleichbar ist, die über die durch eine Seereise bedingte Abwesenheit ihrer Geliebten lamentieren.23 Die Sorge um den abwesenden Freund dürfte beim Sprecher die Zivilisationskritik im allgemeinen und die Schilderung der Gefahren der Seefahrt im besonderen ins Hyperbolische und damit meines Erachtens fast ins absichtlich Komische gesteigert haben;24 ob der historische Horaz hier vernehmbar ist, muß ungewiß bleiben. Daß die Gefahren des Meeres jedoch auch von Nutzen sein können, wird in der 10. Epode deutlich: Sie stellt ein invertiertes Propemptikon dar, also ein Gedicht, in dem Unheil auf einen (unliebsamen) Reisenden herabgerufen wird. Wie schlimm es dem „stinkenden Mevius“, wohl einem Feind des Vergil, während seiner Schiffahrt ergehen soll, wird in einer Mischung aus Wunschsätzen und visionären Aussagesätzen ausgemalt:

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mala soluta navis exit alite ferens olentem Mevium. ut horridis utrumque verberes latus, Auster, memento fluctibus; niger rudentis Eurus inverso mari fractosque remos differat; insurgat Aquilo quantus altis montibus frangit trementis ilices; nec sidus atra nocte amicum appareat, qua tristis Orion cadit,25

Die Winde Auster, Eurus und Aquilo sollen dem Schiff schwer zusetzen, und kein Orientierung bietendes Gestirn soll sich zeigen! quietiore nec feratur aequore quam Graia victorum manus, 22 Blumenberg 1979, 13f. 23 Vgl. zum Beispiel Ov. am. 2,11,5–8: o utinam, ne quis remo freta longa moueret,/Argo funestas pressa bibisset aquas!/ ecce fugit notumque torum sociosque Penates/fallacesque uias ire Corinna parat (zitiert nach Kenney 1994) (O wäre doch die Argo untergegangen und hätte todbringendes Wasser aufgenommen, damit keiner das weite Meer mit dem Ruder bewegte! Denn sieh, Corinna flieht das vertraute Bett und die gemeinsamen Hausgötter, um sich auf trügerische Pfade zu begeben, Übers.: M. von Albrecht). 24 Mayer 2012, 79 referiert einige Einschätzungen dieses Gedichtes: „The tone of this ode however is harder to gauge. Wickham said, twice, that it is playful, but he did not illustrate wherein the ‚play‘ is to be found. West [. . . ] sees an element of fun, but regards the whole as severe, and rather inaccessible for the modern reader. Syndikus [. . . ] and Fitch [. . . ] agree with this assessment, discount the humour, and illustrate how easy it is for modern interpreters to dismiss the poem as a failure, largely because we do not share H.’s misgivings about man’s ambitious nature. Perhaps the present state of the planet’s ecology might induce some rethinking on that score.“ Schindel 1984, 332 vernimmt einen „heiteren Grundton“ und kommt ebd. zu der Bewertung: „Also nicht Ausdruck eines tiefen Kulturpessimismus ist das Gedicht, sondern ein gespielt vorwurfsvolles Lebewohl an den Dichterfreund“. Manuwald 2003 wiederum faßt die Ode in seinem Überblick zu den Themen „Goldene Zeit, Fortschrittsdenken und Grenzüberschreitung“ als Ausdruck der tatsächlichen Meinung des Dichters auf (ebd., 135–140). 25 Mit bösem Zeichen sticht das Schiff in See,/trägt fort den Stinker Mevius./Daß beide Seiten du ihm schlägst entzwei mit fürchterlichen/Fluten, Südsturm, denk daran!/Der dunkle Ost soll übers aufgewühlte Meer die Taue,/

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cum Pallas usto vertit iram ab Ilio in impiam Aiacis ratem. o quantus instat navitis sudor tuis tibique pallor luteus et illa non virilis eiulatio preces et aversum ad Iovem, Ionius udo cum remugiens sinus Noto carinam ruperit! opima quod si praeda curvo litore porrecta mergos iuveris, libidinosus immolabitur caper et agna Tempestatibus.26

Dann, so der Sprecher, werden die Seeleute in äußerste Bedrängnis kommen, während Mevius, vor Angst gelblich-blaß, Zuflucht in unmännlichem Jammern27 und flehentlichen Bitten an (den ihn nicht erhörenden) Jupiter suchen wird. Zusätzlich wird gar als mythischer Vergleichspunkt diejenige Szene eingebracht, in der Athene den sogenannten kleinen Aias Schiffbruch erleiden läßt als Bestrafung dafür, daß er nach der Eroberung Trojas ihre Priesterin Kassandra vergewaltigt hatte. Und so gelobt der Sprecher den personifizierten Unwettern ein Opfer für den Fall, daß der an den Strand des Ionischen Meeres gespülte Leichnam des verhaßten Mevius den Wasservögeln als fette Beute diene. Festzuhalten ist, daß in dieser Epode eine Schiffsreise als potenziell tödliche Unternehmung dargestellt wird, wobei eine Parallele zur Fahrt des lokrischen Aias gezogen wird, dessen Schiffbruch Athene absichtsvoll ins Werk gesetzt hatte.28 Eine komische Pointe liegt darin, daß gerade für den fatalen Ausgang der Reise ein Opfer gelobt wird. Teilweise hiermit vergleichbar erscheint auch eine Passage aus carm. 3,27, in welcher der Sprecher zu einer Frau namens Galatea spricht:29

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sed vides quanto trepidet tumultu pronus Orion. ego quid sit ater Hadriae novi sinus et quid albus peccet Iapyx.

in Stücken auch die Ruder streun!/Auf steh der Nordsturm, wie gewaltig er auf Bergeshöhn/bebende Steineichen bricht!/Kein freundlich Stern in dunkler Nacht erschein’,/wenn düster der Orion untergeht! (Übers.: B. Kytzler). Nicht zieh’ er hin auf sanftrer See/als jener Griechen Siegerschar,/da Pallas wandte vom verbrannten Ilion den Zorn/auf das verfluchte Schiff, das Ajax trug!/O wie gewaltiger Mühe Schweiß steht deinen Schiffern nun bevor/ und dir welch blasse Furcht/und jenes weibisch Wehgeschrei,/Gebete auch an Juppiter, der sich doch abgewandt,/ wenn Ioniens Flut, erdröhnend unterm feuchten/Süd, dir deinen Kiel zerbricht!/Wenn dann die fette Beute, am geschwungenen Strand/dahingestreckt, die Tauchervögel freut,/dann soll von mir ein geiler Bock geopfert sein/ und auch ein Lamm dem Stürmeheer (Übers.: B. Kytzler). Zur Deutung von Verhaltensweisen an Bord als spezifisch männlich oder weiblich sei auf. den Beitrag von Zwingmann im vorliegenden Band verwiesen (siehe oben, S. 42–44). Daß das Schiff in V. 14 als „verbrecherisch“ (impiam [. . .] ratem) bezeichnet wird, sollte interpretatorisch nicht zu sehr belastet werden, da wahrscheinlich eine Enallage statt impii Aiacis vorliegt. Doch siehst du, mit welcher Hast dahereilt/der sinkende Orion? Mir ist, was bedeutet dunkel dräuend/der Adria Bucht, wohl bekannt, und auch, was der weiße/Westwind verwirrt.//Der Feinde Weiber und Kinder sollen die blindwütigen/Stürme erfahren unterm steigenden Südwind und/des düsteren Meeres Dröhnen und das Erbeben/ der Ufer beim Anprall (Übers.: B. Kytzler).

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hostium uxores puerique caecos sentiant motus orientis Austri et aequoris nigri fremitum et trementis verbere costas.30

Zunächst erweist sich der Sprecher als Experte für die Gefahren des Meeres, indem er Galatea auf den Orion, ein für Seefahrten ungünstiges Gestirn, aufmerksam macht und betont, er wisse um die Bedeutung der schwarzen Adria-Bucht und um die Schäden, die der Wind Iapyx anrichte. In der dann folgenden Strophe aber ruft er Leid auf die Frauen und Kinder seiner Feinde herab: Sie sollen den Südwind spüren und das Brausen des dunklen Meeres! Je nach Textkonstitution wird die Verwünschung dann noch drastischer: Akzeptiert man Shackleton Baileys Konjektur costas, so sollen die Seitenwände des Schiffes unter dem Anprall der Wogen erzittern; folgt man dem überlieferten Text ripas, dann wünscht der Sprecher den Angehörigen seiner Feinde, letztlich am Ufer zu zerschellen! 2.3 Aufbruch Daß der Beginn oder die Fortsetzung einer Seereise als ein sorgenerregendes Wagnis wahrgenommen werden kann, wird in carm. 1,7 deutlich. Dieses wohl an Lucius Munatius Plancus adressierte31 Gedicht schließt mit einem Mythologem, in dem den Rezipienten Teukros von Salamis präsentiert wird, der, weil er seinen Halbbruder, den telamonischen Aias, nicht gerächt hatte, von seinem Vater verstoßen worden war und sich nun in einer Irrfahrt über das Meer eine neue Heimat suchen mußte. Hier liegt ein sogenannter offener Gedichtschluß vor; die Ode klingt mit dem aufmunternden Zuspruch des Teukros an seine Gefährten aus, nun mit Wein die Sorgen zu vertreiben, bevor man am nächsten Tag wieder das weite Meer befahren müsse.32 In einem auffälligen Kontrast hierzu steht, daß das Gedicht zwar mit einem Katalog preisenswerter Städte in Griechenland und Kleinasien begonnen hatte, daß der Sprecher diesem farbenfrohen Tableau lohnender Reiseziele aber dann gerade das heimische Tibur als überlegen vorgezogen und somit für sich implizit die Notwendigkeit einer Reise negiert hatte.33 Postuliert wird hingegen die Notwendigkeit einer Seereise in epod. 16: Der Sprecher, der sich selbst als vates, also als Typus eines neuen „Dichter-Sehers“ bezeichnet, ruft in seiner Verzweif-

30 costas Shackleton Bailey : ripas codd. 31 Vgl. Nisbet/Hubbard 1970, 90f. 32 Carm. 1,7,25–32: quo nos cumque feret melior Fortuna parente,/ibimus, o socii comitesque./[. . .] o fortes peioraque passi/mecum saepe viri, nunc vino pellite curas:/cras ingens iterabimus aequor (Wo immer uns hinführt das Schicksal, gnädiger als der Vater,/dorthin gehen wir, o ihr Genossen und Gefährten:/[. . . ] O ihr Tapferen, die ihr Schlimmeres erlitten/mit mir so oft, ihr Männer – jetzt mit Wein verscheucht die Sorgen;/morgen werden wir wieder befahren die unendliche Weite, Übers.: B. Kytzler). 33 Carm. 1,7,1–14: laudabunt alii claram Rhodon aut Mytilenen/aut Epheson bimarisve Corinthi/moenia [. . .] me nec tam patiens Lacedaemon/nec tam Larisae percussit campus opimae/quam domus Albuneae resonantis//et praeceps Anio ac Tiburni lucus et uda/mobilibus pomaria rivis (Preisen werden wohl andere das herrliche Rhodos oder Mytilene/oder Ephesos, vielleicht des zwei Meeren benachbarten Korinthos/Mauern [. . . ] Mich hat nicht so das gestählte Lakedaimon/noch so bewegt das Gefilde Larissas, des üppigen,/wie die Grotte der Albunea mit ihrem Widerhall//und die Kaskaden des Anio, des Tiburnus Hain und feucht/seine Gärten von strömenden Wassern, Übers.: B. Kytzler).

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lung über den Bürgerkrieg den „besseren Teil“ des Staates dazu auf, mit ihm gemeinsam die Heimat per Schiff zu verlassen: 15

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forte quid expediat communiter aut melior pars malis carere quaeritis laboribus. [. . .] ire pedes quocumque ferent, quocumque per undas Notus vocabit aut protervus Africus. [. . .] secunda ratem occupare quid moramur alite?34

Das Ziel dieser Reise ist, wie durch die Verwendung des verallgemeinernden Adverbs quocumque verdeutlicht wird, völlig ungewiß und hängt vom Willen der gefährlichen Winde Notus und Africus ab. Dennoch fordert der Sprecher seine Mitbürger auf, sich mit ihm gemeinsam auf den ungewissen und gefährlichen Ozean hinauszubegeben und auf diesem Wege zu den paradiesischen Inseln der Seligen zu gelangen, welche die Argonauten oder Medea genausowenig jemals erreicht hätten wie die Seefahrer Phöniziens oder die Schar des Odysseus.35 Der Vorschlag, zu Schiff zu den Inseln der Seligen, also in ein mythisches Gebiet, aufzubrechen, läßt sich als Ausdruck der Verzweiflung bzw. Resignation des Sprechers verstehen, innerhalb der realen Geographie und der realen Handlungsoptionen Abhilfe für die aktuelle Bürgerkriegsbarbarei zu finden. 2.4 Seenot 2.4.1 Gründe für Seenot Einige Passagen aus den Oden legen nahe, daß Menschen, die in Seenot geraten, eine gewisse Mitschuld aufgrund falscher Prioritätensetzung oder gar moralischen Fehlverhaltens trifft. In carm. 3,1 führt der Sprecher aus, daß ein genügsamer Mensch unter anderem das tobende Meer nicht zu fürchten brauche;36 dabei ist jedoch gemeint, daß er sich gar nicht (zum Beispiel als Kaufmann) auf ein Schiff begibt und daher auch nicht in Seenot geraten kann.

34 Vielleicht, was uns wohl hilft, wollt ihr gemeinsam alle oder doch der bessere Teil/erfahren, so schlimmen Leiden zu entgehen?/[. . . ] zu gehen, wohin auch immer die Füße tragen, wohin durch die Wogen/der Südwind rufen wird oder der heftige Afrikasturm./[. . . ] Günstig ja/das Vogelzeichen – was zögern wir, die Schiffe zu bemannen? (Übers.: B. Kytzler). 35 Epod. 16,39–60: vos quibus est virtus, muliebrem tollite luctum,/Etrusca praeter et volate litora./nos manet Oceanus circum vagus arva beata:/[. . .] non huc Argoo contendit remige pinus,/neque impudica Colchis intulit pedem;/non huc Sidonii torserunt cornua nautae/laboriosa nec cohors Ulixei (Ihr, die ihr Männlichkeit besitzt, laßt weibisch Weinen sein/und fliegt vorbei am Tuskerstrand!/Unser harrt der erdumgürtende Ozean: die Fluren, die seligen,/[. . . ] Nicht kam hierher das Schiff mit dem Ruder der Argo,/noch hat die unzüchtige Kolcherin ihren Fuß hierher gesetzt,/ nicht haben hierher gewendet ihre Masten von Sidon die Schiffer/noch die leidgeprüfte Schar des Odysseus, Übers.: B. Kytzler). 36 Carm. 3,1,25–28: desiderantem quod satis est neque/tumultuosum sollicitat mare/nec saevus Arcturi cadentis/impetus aut orientis Haedi (Wer nur erstrebt, was genug ist, den kann weder/stürmisch bedrängen das Meer/noch wild des sinkenden Arkturos/Ansturm oder des steigenden Haedus, Übers.: B. Kytzler).

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In carm. 3,2 hingegen wird das Wohlergehen auf See mit dem Wohlwollen bzw. dem Zorn von Göttern verbunden: Der Sprecher lehnt es ab, mit jemandem, der sich einen Frevel an Ceres hat zuschulden kommen lassen, im selben Haus zu wohnen oder mit ihm ein Boot zu besteigen;37 offensichtlich fürchtet er, daß der Frevler seine Tat auf See durch Schiffbruch büßen muß und er selbst in diese Strafaktion verwickelt werden könnte. In umgekehrter Form begegnet der Gedanke in carm. 1,31: Der Sprecher kontrastiert hier sein eigenes bescheidenes Leben als vates mit verschiedenen Lebensformen, die zu großem Reichtum führen. Dabei wird über den Kaufmann, der Wein aus goldenen Bechern schlürft, gesagt, er sei den Göttern lieb, da er dreimal und viermal im Jahr unversehrt den Atlantik befahre.38 Auch wenn man dies mit Nisbet und Hubbard als Sarkasmus versteht,39 so richtet sich die Kritik des Sprechers doch gegen den unverdienten Schutz des Kaufmanns; die sich in seinen Augen vollziehende Fürsorge der Götter wird dadurch nicht in Zweifel gezogen. 2.4.2 Akute Seenot Mit einer Situation akuter Seenot werden die Rezipienten in carm. 1,14 konfrontiert, in dem der Sprecher ein Schiff apostrophiert: o navis, referent in mare te novi fluctus. o quid agis? fortiter occupa portum. nonne vides ut nudum remigio latus 5

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et malus celeri saucius Africo antemnaeque gemant ac sine funibus vix durare carinae possint imperiosius aequor? non tibi sunt integra lintea, non di, quos iterum pressa voces malo. quamvis Pontica pinus, silvae filia nobilis, iactes et genus et nomen inutile, nil pictis timidus navita puppibus fidit. tu, nisi ventis debes ludibrium, cave.

37 Carm. 3,2,26–29: vetabo, qui Cereris sacrum/vulgarit arcanae, sub isdem/sit trabibus fragilemque mecum//solvat phaselon (hindern will ich, daß, wer der Ceres Heiligtum/entweiht, der geheimnisreichen, unter demselben/Dache wohne oder zusammen mit mir das zerbrechliche//Boot besteige, Übers.: B. Kytzler). 38 Carm. 1,31,10–15: dives et aureis/mercator exsiccet culillis/vina Syra reparata merce,//dis carus ipsis, quippe ter et quater/anno revisens aequor Atlanticum/impune. 39 Nisbet/Hubbard 1970, 355 zu V. 13. – Klar negativ bewertet der Sprecher das Gewinnstreben, das Menschen unter anderem zur Seefahrt zwingt, in carm. 3,24,35–44: quid leges sine moribus/vanae proficiunt, si [. . .] horrida callidi// vincunt aequora navitae,/magnum pauperies opprobrium iubet/quidvis et facere et pati/virtutisque viam deserit arduae? (Was sollen Gesetze, ohne Gesinnung/ja zwecklos, noch nützen, wenn [. . . ] schlau das schreckliche//Meer überwinden die Schiffer?/Als gewaltige Schande gilt Armut, sie zwingt/alles zu begehen und zu erleiden/und der Tugend Pfad zu verlassen, die so unzugänglich ist, Übers.: B. Kytzler).

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[. . .] interfusa nitentis vites aequora Cycladas.40

Unabhängig davon, ob man in diesem Gedicht, für das Alkaios’ frg. 326 Lobel-Page einen zentralen Praetext darstellt, eine Allegorie für das Staatsschiff sieht, das in neue Bürgerkriegsfluten gerate, fällt die detaillierte Beschreibung auf: Die Seite des Schiffes ist von Rudern entblößt, der Mast ist „verwundet“, die Rahen stöhnen, die Planken drohen auseinanderzufallen, da sie dem „allzu herrischen Meer“ kaum noch standhalten können. Auch die Segel sind beschädigt, die Götterbilder sind über Bord gegangen, und Hoffnung kann weder daraus geschöpft werden, daß das Schiff aus pontischer Fichte verfertigt ist, noch aus seiner kunstvollen Bemalung. Das Reiseziel erfahren die Rezipienten nicht: Zwar wird das Schiff aufgefordert, tapfer zu versuchen, einen Hafen zu erreichen; doch ansonsten wird nur der Rat erteilt, das Meer um die schimmernden Kykladen zu meiden. Es ist jedenfalls bemerkenswert, daß die detaillierteste Beschreibung eines Schiffes, die in Horazens Œuvre begegnet, sich gerade auf ein eventuell nur allegorisch zu verstehendes Schiff bezieht, jedoch zweifellos in eine Ästhetik der Zerstörung eingebunden ist. 2.4.3 Flehen um Hilfe Zuweilen finden sich Szenen in den Oden, in denen Menschen in kritischen Situationen auf See die Götter um Hilfe anflehen, so zum Beispiel zu Beginn von carm. 2,16: otium divos rogat in patenti prensus Aegaeo, simul atra nubes condidit lunam neque certa fulgent sidera nautis41

Diese Szene, die den Auftakt der Ausführungen des Sprechers an den Adressaten Grosphus über den Wert des otium darstellt, ist also recht konkret ausgestaltet: Die Rezipienten erfahren, daß sich der Seefahrer nachts auf der offenen Ägäis befindet und sein Gebet um ruhige Fahrt an die Götter richtet, sobald der Mond von Wolken verdeckt ist und die Sterne keine Orientierung mehr bieten. Direkt angesprochen wird eine mögliche Retterin aus Seenot in carm. 1,35: 5

[. . .] ambit sollicita prece [. . .] te dominam aequoris quicumque Bithyna lacessit Carpathium pelagus carina.42

40 O Schiff, zurück werden reißen ins Meer dich neue/Fluten – o was tust du? Entschlossen strebe an/den Hafen! Siehst du nicht, wie/entblößt ist von Riemen die Seite//und wie der Mast, heftig getroffen von Afrikas Sturm,/wie die Rahen ächzen und wie ohne Seile/kaum zu überdauern der Kiel/vermag die übergewaltige//Flut? Nicht sind dir heil mehr die Segel,/keine Götter mehr da, die wieder du riefest, getroffen vom Unheil./Freilich, du bist eine pontische Fichte,/Waldes Tochter von Rang,//rühmen magst du Herkunft und Namen, jetzt doch so nutzlos:/nicht mehr will der bangende Seemann dem bunt bebilderten Schiffsheck/trauen. Du, wenn du nicht den Winden/willst werden zum Spielball – sei auf der Hut!//[. . . ] zwischen den schimmernden/Kykladen meide das Meer! (Übers.: B. Kytzler). 41 Ruhe von den Göttern erfleht, wer in der offenen/Ägäis überrascht wird, wenn schwarz die Wolke/birgt den Mond und nicht mehr sicher strahlen/die Sterne den Schiffern (Übers.: B. Kytzler). 42 dich [. . . ] fleht an mit banger Bitte/[. . . ] dich, Herrin des Meeres,/wer da trotzt mit bithynischem/Kiel karpathischer See (Übers.: B. Kytzler).

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Diese Passage stammt aus einem Hymnus auf Fortuna und stellt einen Ausschnitt aus deren Aretalogie dar, einem Katalog ihrer Vorzüge und Fähigkeiten. Da sie die Herrin des Meeres sei, so der Sprecher, wende sich jeder besorgt an sie, der das karpathische Meer, also die Südägäis, mit einem Schiff aus bithynischem Holz herausfordere. Auch wenn diese Szene mit einer erstaunlichen Detailfreude entworfen ist, dürfte der Sprecher die Macht der Fortuna nicht als nur auf diese spezielle Konstellation beschränkt betrachten,43 sondern sie anhand eines kenntnisreich ausgewählten Einzelfalles44 exemplarisch preisen wollen. 2.4.4 Tatsächliche Rettung aus Seenot Wenn die Not auf See groß ist, greifen in einigen Fällen gnädige Mächte ein, um ein Schiff oder gar einen bereits Schiffbrüchigen zu retten. Die Klärung eines solchen Krisenmomentes durch die Dioskuren Kastor und Pollux beschreibt der Sprecher in carm. 1,12, in dem er eine ganze Reihe von preiswürdigen Menschen und Heroen apostrophiert oder nennt: 25

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dicam et Alciden puerosque Ledae, hunc equis, illum superare pugnis nobilem; quorum simul alba nautis stella refulsit, defluit saxis agitatus umor, concidunt venti fugiuntque nubes, et minax, †quia† sic voluere, ponto unda recumbit.45

Zunächst werden die als Söhne der Leda umschriebenen Dioskuren kurz in ihren irdischen Leistungen gerühmt, bevor ihr segensreiches Wirken als Gestirn beschrieben wird: Vier Gesichtspunkte, an denen sich eine gefährliche Lage zur See festmachen läßt, werden genannt und in ihrem Nachlassen beschrieben: Die gepeitschte Gischt beruhigt sich, die Winde legen sich, der Himmel hellt sich auf, und der Wellengang läßt nach. Der Sprecher legt also recht großen Wert darauf, das den Dioskuren zugeschriebene vorteilhafte Wirken detailliert vor Augen zu stellen, was gut zum Hymnencharakter der Ode paßt. Als Retter aus Seenot fungieren die Dioskuren auch in carm. 4,8, wo der Sprecher eine Reihe von Persönlichkeiten aufzählt, die nur aufgrund ihrer literarischen Verewigung Ruhm bei der Nachwelt genießen: 31

clarum Tyndaridae sidus ab infimis quassas eripiunt aequoribus ratis46

43 Nisbet/Hubbard 1970, 391 bemerken zu V. 7 ebenfalls: „the epithets give a decorative particularity to the general statement“. 44 Nisbet/Hubbard 1970, 391 weisen zu V. 7 darauf hin, daß Bithynien berühmt für seinen Schiffbau und das karpathische Meer berüchtigt für seine Gefährlichkeit gewesen sei. 45 Singen will ich auch den Alkiden und die Söhne der Leda,/der eine zu Pferde, der andre als Sieger im Faustkampf/ berühmt; ist erst einmal hell den Schiffern/ihr Gestirn erstrahlt,//zurück dann strömt von den Felsen das wogende Naß,/es schweigen die Stürme, es fliehen die Wolken,/ und – eben noch drohend –, da sie’s so gewollt, auf dem Meere/die Woge sinkt nieder. (Übers.: B. Kytzler). 46 Der Tyndareossöhne helles Gestirn aus tiefsten/Wassern entreißt leckgeschlagene Schiffe (Übers.: B. Kytzler).

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Hier wird nur an das bloße Faktum ihrer „Rettungstätigkeit“ erinnert; es werden im Gegensatz zur Schilderung in carm. 1,12 keine Abläufe beschrieben; der geographische Rahmen bleibt hier wie dort ungenannt. Ein ganz persönliches Verhältnis zu diesen beiden Göttern postuliert der Sprecher von carm. 3,29 für sich:

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non est meum, si mugiat Africis malus procellis, ad miseras preces decurrere et votis pacisci ne Cypriae Tyriaeque merces addant avaro divitias mari. tunc me biremis praesidio scaphae tutum per Aegaeos tumultus aura ferat 47 geminusque Pollux.48

Es sei nicht seine Art, so der Sprecher, zu flehen und zu bitten, wenn der Mast unter afrikanischen Winden ächze. Die gerade nicht ausgesprochenen Gebete lassen erkennen, daß man in solchen Situationen typischerweise darum flehte, daß die kostbare Ware, die man transportierte, nicht verloren gehe – entweder indem das Schiff insgesamt sinkt oder weil man sie über Bord wirft, um das Schiff manövrierbarer zu machen. Den Schluß des Gedichtes bildet die von ihm selbst imaginierte, ganz konträre Situation des Sprechers: Kastor und Pollux retten ihn in einem zweirudrigen Boot und geleiten ihn sicher durch die Widrigkeiten der Ägäis49 . Unabhängig davon, ob man – je nach überliefertem Textlaut – in diesem Bild einen Wunsch bzw. eine vorsichtige Annahme oder aber eine für die Zukunft als sicher erachtete Tatsache sieht, läßt sich festhalten, daß der Sprecher sich durch diese nautische Szene einen außergewöhnlichen Sonderstatus zuschreibt und sich als von den Göttern besonders begünstigt darstellt. Auch in carm. 3,4 schildert der Sprecher seine Existenz und seine Biographie als von Göttern beschützt, hier konkret: von den Musen: 21

vester, Camenae, vester in arduos tollor Sabinos, [. . .]

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vestris amicum fontibus et choris non me Philippis versa acies retro, devota non exstinxit arbor, nec Sicula Palinurus unda.

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utcumque mecum vos eritis, libens insanientem navita Bosphorum

47 ferat codd. deteriores : feret codd. 48 Nicht ist es meine Art, wenn stöhnt unter Afrikas/Stürmen der Mast, zu erbärmlichen Bitten/Zuflucht zu nehmen und mit Gelübden zu erhandeln,/daß nicht meine cyprischen und tyrischen Waren//mehren dem gierigen Meer seine Schätze;/dann wird mich vielmehr im Schutz des zweirudrigen Nachens/sicher durch der Ägäis Aufruhr/ein Windhauch führen und der Zwilling Pollux (Übers.: B. Kytzler). 49 Zur Ägäis bei Horaz vgl. Grollios 1996.

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temptabo et urentis harenas litoris Assyrii viator50

Wie Krasser gezeigt hat,51 sind solche Aussagen als Konkretisierungen der Denkfigur „Theophilie“ zu verstehen, also des Konzeptes einer besonderen Nähe zu einer Gottheit, die den Betreffenden privilegiert. Den besonderen Schutz, der dem Sprecher von Seiten der Musen zuteil werde, illustriert er einerseits anhand bereits vergangener gefährlicher Situationen, die er jedoch überlebt habe, darunter auch eine kritische Lage auf See am lukanischen Vorgebirge Palinurus.52 Diese Erlebnisse geben dem Sprecher andererseits auch Zuversicht für die Zukunft: Sofern er die Musen auf seiner Seite wisse, werde er sich mit Freuden unter anderem als Seemann auf den tobenden Bosporus53 wagen! In diesem Zusammenhang präsentiert Horaz also Szenen von Gefahren zur See nicht, um über eine bestimmte Art von Dichtung zu sprechen,54 sondern um in einem umfassenden Sinn seine (bzw. des Sprechers) Existenz und sein literarisches Schaffen als von den Musen behütet darzustellen. 2.5 Schiffbruch Das Bild eines Schiffbrüchigen in höchster Gefahr wird unter anderem in der 17. Epode gezeichnet: Zuvor hat der Sprecher versucht, die Hexe Canidia durch Widerruf verschiedener Vorwürfe zu versöhnen. Doch diese illustriert ihre „Taubheit“ gegenüber dem Entschuldigungsversuch durch den Hinweis, Klippen im winterlichen Meer seien nackten Seeleuten gegenüber, die um ihr Leben flehten, nicht tauber.55 In carm. 1,28 wird gar ein Opfer der See apostrophiert, der Pythagoreer Archytas: te maris et terrae numeroque carentis harenae mensorem cohibent, Archyta,

50 Euch, Musen, euch gehöre ich zu, ins steile/Sabinergebirge erhoben [. . . ] Euren Quellen bin ich Freund und euren Reigen –/so hat nicht mich zu Philippi die Schlachtreihe, gewendet nach rückwärts,/fluchbeladen nicht ausgelöscht jener Baum/noch vor Sizilien Palinurus mit seiner Woge.//Wann immer ihr mit mir sein werdet, gerne/will dann ich als Schiffer den tobenden Bosporos/bestehen und den sengenden Sand/der Steppe Syriens als Wanderer (Übers.: B. Kytzler). 51 Krasser 1995. 52 Worauf hier angespielt wird, ist unklar; Nisbet/Rudd 2004, 65f. ad loc. bemerken: „Here in 36 BC, in the war against Sextus Pompeius, Octavian lost many ships in a storm [. . . ]; we know that Maecenas was present [. . . ], and our passage may indicate that H was with him“. 53 Auch in carm. 2,20,13–16 wird der Bosporus, den der Sprecher dort nach seiner Verwandlung in einen Schwan besuchen will, als gefährlich dargestellt: iam Daedaleo notior Icaro/visam gementis litora Bosphori/[. . .] canorus/ ales (schon will ich, berühmter als der daidalische Ikaros,/besuchen die Gestade des tosenden Bosporos/[. . . ] als singender/Vogel, Übers.: B. Kytzler). 54 Vgl. hierzu aber die Ausführungen zu carm. 4,15 (siehe unten, S. 315f.). 55 Epod. 17,53–55: quid obseratis auribus fundis preces?/non saxa nudis surdiora navitis/Neptunus albo tundit hibernus salo. – In carm. 2,7 hingegen, in dem der Sprecher seinen heimgekehrten Freund Pompeius anspricht, ist von einer (metaphorischen) Welle die Rede, die den Adressaten – wie einen schon fast geretteten Schiffbrüchigen – zurück ins tosende Meer des Krieges getragen hat (15f.: te rursus in bellum resorbens/unda fretis tulit aestuosis). Nisbet/Hubbard 1978, 116 ad V. 17 halten es für möglich, daß Horaz hier darauf anspiele, daß der angesprochene Pompeius auf Seiten des Sextus Pompeius am Seekrieg teilgenommen habe. Zu dessen Darstellung in Horazens Lyrik vgl. Abschnitt 2.8.2.

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pulveris exigui prope litus parva Matinum munera [. . .] dant alios Furiae torvo spectacula Marti, exitio est avidum mare nautis. mixta senum ac iuvenum densentur funera. nullum saeva caput Proserpina fugit.56

Nachdem die vanitas seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse angeklungen ist, wird anhand mehrerer Gestalten des Mythos die Todesverfallenheit des Menschen exemplifiziert. Neben dem Krieg wird als weiterer Quell des Todes die „gierige See“ vom Sprecher namhaft gemacht,57 bevor der eingangs angesprochene Archytas selbst das Wort ergreift, sofern man der Textgestaltung Shackleton Baileys folgt; andere Editoren gehen von nur einem einzigen Sprecher innerhalb des Gedichtes aus: me quoque devexi rabidus comes Orionis Illyricis Notus obruit undis. at tu, nauta, vagae ne parce malignus harenae ossibus et capiti †inhumato† 25

particulam dare: sic, quodcumque minabitur Eurus fluctibus Hesperiis, Venusinae plectantur silvae te sospite, multaque merces unde potest tibi defluat aequo ab Iove Neptunoque sacri custode Tarenti.58

Archytas berichtet, in den illyrischen Wogen in einem Sturm umgekommen zu sein, und bittet vorbeifahrende Seeleute um seine Bestattung. Für den Fall, daß seine Bitte erfüllt werde, verspricht der Philosoph Segenswünsche für die weitere Fahrt und den Schutz Jupiters sowie Neptuns. Metaphorische Seenot spielt in carm. 1,5 eine zentrale Rolle: Hier bedauert der Sprecher einen jungen Mann, wobei er sich der verführerischen Pyrrha gegenüber abgeklärt gibt:59 56 Dich, der du Meer und Land und den zahllosen Sand/hast gemessen, dich umschließt, Archytas,/am Strand des Matinus geringen Staubes karge/Gabe [. . . ] Es bestimmen die Furien manchen zum Schauspiel dem grimmigen Mars,/Untergang bringt das gierige Meer für die Schiffer,/vermischt miteinander dicht sind der Alten und Jungen Gräber, kein einziges/Haupt, das die grause Proserpina miede! (Übers.: B. Kytzler). 57 Vergleichbar hiermit erscheint carm. 2,14,13–16 (eine Apostrophe des Sprechers an Postumus): frustra cruento Marte carebimus/fractisque rauci fluctibus Hadriae,/frustra per autumnos nocentem/corporibus metuemus Austrum (Vergeblich werden wir uns vom blutigen Kriegsgotte fernhalten/und von den sich brechenden Wogen der brausenden Adria,/vergeblich werden wir zur Herbstzeit, da er schädlich/dem Leibe, meiden den Südwind, Übers.: B. Kytzler). 58 Mich auch hat stürmisch der Gefährte des sinkenden Orion, bei Illyrien hat Notos mich begraben in den Wogen./ Doch du, Schiffer, verschmäh es nicht grausam, vom treibenden Sande/den Knochen und meinem Haupt ohne Grab/kleinen Anteil zu gewähren: So, was immer wird drohen Eurus/den Fluten Hesperiens, Venusias/Wälder nur möge es treffen – du selbst bleibst heil, und reicher Gewinn,/woher es nur geht, werde zuteil dir vom gnädigen/ Juppiter und von Neptun, dem Hüter des heiligen Tarentum. (Übers.: B. Kytzler). 59 Ach! Wie oft wird er deine Treue/und die umgestimmten Götter beweinen und raue/Meere voll düsterer Stürme/ bestaunen, der Unerfahrene,//[. . . ] Von mir an heiliger/Mauer die Votivtafel kündet, wie ich feucht noch/aufgehängt habe dem mächtigen/Meergott meine Gewänder (Übers.: B. Kytzler).

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[. . .] heu, quotiens fidem mutatosque deos flebit! ut aspera nigris aequora ventis emirabitur insolens, [. . .]

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[. . .] me tabula sacer votiva paries indicat uvida suspendisse potenti vestimenta maris deo.60

Der Jüngling werde auf dem „Meer der Liebe“ bald widrigen Umständen begegnen. Der Sprecher hingegen, so wird das Bild weitergeführt, habe bei derselben Dame schon Schiffbruch erlitten, habe sich aber retten können und habe dementsprechend das gebührende Dankopfer für den Meeresgott bzw. für Venus, wenn man Zielinskis Konjektur übernimmt, dargebracht, wie eine Votivtafel an der Tempelwand beweise. Hier fungieren also Meer und Schiffbruch als Bildspender innerhalb eines erotischen Gedichtes, und Horaz spielt nicht nur kurz auf diese Vergleichsmöglichkeit an, sondern hält die Metapher über drei Strophen hinweg aufrecht.61 2.6 (Erhoffte) Ankunft Das Motiv der tatsächlichen oder erhofften Ankunft eines Schiffes bzw. von Seereisenden wird von Horaz unterschiedlich ausgestaltet. Bereits erfolgt ist die Ankunft in carm. 1,32, wo der Sprecher in seinem an die Lyra gerichteten Hymnus erwähnt, daß jene von Alkaios gespielt worden sei, nachdem dieser sein Schiff vertäut habe.62 In carm. 3,7 apostrophiert der Sprecher eine Frau namens Asterie und fordert sie auf, nicht um ihren Geliebten namens Gyges zu weinen. Er versichert ihr, die Westwinde würden ihr Gyges bei Frühlingsanfang zurückbringen;63 und noch stärker nähert er sich einem allwissenden Erzähler an, als er nicht nur erläutert, daß die Südwinde Gyges nach Oricum (einem Hafen in Epirus) verschlagen hätten, sondern auch, daß der Ersehnte tränenreiche schlaflose Nächte ver-

60 deae Zielinski. 61 In den V. 9–12 tritt das Bild zwar etwas in den Hintergrund, wird aber durch die Formulierung nescius aurae/ fallacis (11f.) trotzdem präsent gehalten. 62 Carm. 1,32,4–8: barbite [. . .] Lesbio primum modulate civi,/qui ferox bello tamen inter arma,/sive iactatam religarat udo/litore navim. – Poetologisch höchst bedeutsam ist, daß der Sprecher in seinem in carm. 2,13 entworfenen Unterweltsbild gemeinsam mit Sappho Alkaios auftreten läßt, der dort unter anderem über die Mühen singt, die er zur See erlitten hat (22–30: vidimus [. . .] Aeoliis fidibus querentem//Sappho puellis de popularibus,/et te sonantem plenius aureo,/Alcaee, plectro dura navis,/dura fugae mala, dura belli!//utrumque sacro digna silentio/mirantur umbrae dicere); dies bringt ihm die Bewunderung der Unterweltsbewohner ein, wodurch den Rezipienten die Macht von Lyrik eindringlich vor Augen gestellt wird. 63 Carm. 3,7,1–5: quid fles, Asterie, quem tibi candidi/primo restituent vere Favonii/[. . .] Gygen? – Als Signal für den Frühlingsanfang wird der Beginn der Seefahrt auch in carm. 1,4,1f. genannt: solvitur acris hiems grata vice veris et Favoni,/trahuntque siccas machinae carinas (Hin schmilzt gestrenger Winter im willkommenen Wechsel des Frühlings und des Westwinds,/fort ziehen Rollen die trockenen Kiele, Übers.: B. Kytzler); ferner in carm. 4,12,1f.: iam veris comites, quae mare temperant,/impellunt animae lintea Thraciae (Schon des Frühlings Gefährten, die da das Meer sänftigen,/füllen die Segel, die Lüfte aus Thrakien, Übers.: B. Kytzler).

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bringe.64 In carm. 2,6 hingegen wünscht sich der Sprecher für sich selbst Tibur als Ankunfts- und Ruhepunkt nach den Mühen der Seefahrt, des Reisens und des Kriegsdienstes im allgemeinen.65 Eine politische Bedeutung bekommt das Ersehnen der Ankunft eines geliebten Menschen in carm. 4,5: Der Sprecher bittet Augustus um baldige Heimkehr nach Rom und stellt die Sehnsucht der Heimat nach ihm mit Hilfe eines breit ausgeführten Vergleichs emotional eindringlich dar: 10

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ut mater iuvenem, quem Notus invido flatu Carpathii trans maris aequora cunctantem spatio longius annuo dulci distinet a domo, votis ominibusque et precibus vocat, curvo nec faciem litore dimovet, sic desideriis icta fidelibus quaerit patria Caesarem.66

Die Vergleichsebene ist durch die Einfügung einiger Details ausführlich und anschaulich gestaltet: Der Jüngling befindet sich schon länger als ein Jahr jenseits der Ägäis – notgedrungen, da ihn der Südwind nicht aufbrechen läßt, obwohl ihm sein Zuhause lieb ist; die Sorge der Mutter tritt plastisch hervor, indem die Vielzahl der von ihr vollzogenen Handlungen genannt wird und der Sprecher betont, daß sie den Blick nicht vom Strand abwende. Eine knappe, aber für das römische Selbstverständnis äußerst wichtige Ankunftsszene findet sich im carmen saeculare:

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Roma si vestrum est opus Iliaeque litus Etruscum tenuere turmae, iussa pars mutare Lares et urbem sospite cursu, [. . .]

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di, probos mores docili iuventae, di, senectuti placidae quietem, Romulae genti date remque prolemque et decus omne.67

Den Beistand der Götter für Rom erflehen die Jungen und Mädchen, die das Lied zur Säkularfeier vortragen, unter Verweis darauf, daß68 es göttlichem Auftrag und Wohlwollen geschuldet sei, daß die Flüchtlinge aus Troja den etruskischen Strand wohlbehalten erreicht hätten. Während 64 Carm. 3,7,5–8: ille Notis actus ad Oricum/post insana Caprae sidera frigidas/noctes non sine multis/insomnis lacrimis agit. 65 Carm. 2,6,5–8: Tibur [. . .] sit modus lasso maris et viarum/militiaeque. 66 Gleich wie die Mutter den Jüngling, den der Südsturm mit widrigem/Wehen jenseits von Karpathos’ Meerflut/weilend, länger als Jahresfrist/fernhält vom lieben Heim,//mit Gelübden, Zeichen, Gebeten ruft/und vom geschweiften Gestade ihren Blick nimmer wendet,/so auch, angetrieben von Sehnsucht und Treue,/verlangt die Heimat nach Caesar (Übers.: B. Kytzler). 67 Ist Rom euer Werk und haben von Ilion/erreicht den etruskischen Strand die Scharen,/geheißen sie zu wechseln Laren und Stadt/auf sicherer Fahrt,//[. . . ] ihr Götter, schenkt Redlichkeit der Jugend, die zu lernen bereit,/ihr Götter, schenkt dem geruhigen Alter Stille,/dem Volk des Romulus gewähret Gedeihen und Nachwuchs/und jegliches Heil (Übers.: B. Kytzler). 68 si ist hier also zu verstehen im Sinne von „so wahr“.

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hier – der Intention des Gebetes entsprechend – das letztliche Glücken der Fahrt (sospite cursu) betont wird, wird in carm. 4,4 ein interessanter anderer Fokus gesetzt: Im Rahmen eines Preises auf die Neronen und ihre Verdienste für Rom läßt der Sprecher dort Hannibal eine Rede halten, in der dieser die Unbeugsamkeit des römischen Volkes als fatal für Karthago beklagt. Ein Beispiel für diese Unbeugsamkeit sieht er bereits in der Fahrt der Trojaner nach Italien, die trotz aller Unbill zur See gelang.69 2.7 Verschiedene Arten der Schiffahrt An einigen Stellen werden in den Oden verschiedene Arten der Seefahrt (implizit oder explizit) miteinander kontrastiert, so etwa am Beginn des die Oden-Sammlung abschließenden carm. 4,15: Phoebus volentem proelia me loqui victas et urbis increpuit lyra, ne parva Tyrrhenum per aequor vela darem. [. . .] 70

Hier berichtet der Sprecher, er habe Schlachten und besiegte Städte besingen, mithin ein historisches Epos verfertigen wollen. Da aber habe ihn Phoebus Apollon getadelt, er solle seine kleinen Segel nicht setzen, um auf das weite Meer hinauszufahren. Das lyrische Ich beschreibt also unter Verwendung typischer recusatio-Topik71 sein eigenes dichterisches Vermögen als ein nur kleines Schiff, das für die weniger risikoreiche Fahrt an der Küste,72 d. h. in seinem Fall für lyrische Dichtung, geeignet sei. Auf das große, gefährliche Meer, das die Gattung „Epos“ darstelle, habe es sich zwar hinausbegeben wollen, sei davon aber vom Dichtergott Apollon abgehalten worden.73 Daß auf der Bildebene das Meer durch die Setzung des Adjektivs Tyrrhenum konkretisiert und im Westen des Reiches lokalisiert wird, liefert meines Erachtens einen wichtigen Hinweis zum Verständnis der Ode, die wohl zur Rückkehr des Augustus nach der „Ordnung“ der westlichen Provinzen gedichtet wurde: In dieser „Friedenssituation“, in der auf Initiative des Senats die Ara Pacis gestiftet wurde, wäre es gar nicht mehr angemessen gewesen, in epischer Form Augustus’ Kriegstaten zu preisen. Vielmehr bot sich die lyrische Kleinform an, 69 Carm. 4,4,49–76: dixitque tandem perfidus Hannibal:/“[. . .] gens, quae cremato fortis ab Ilio/iactata Tuscis aequoribus sacra/natosque maturosque patres/pertulit Ausonias ad urbis [. . .]” (Und so sprach endlich der treulose Hannibal:/ „[. . . ] Das Volk, das tapfer aus dem verbrannten Ilion,/umhergeworfen im Tyrrhenermeer, seine Heiligtümer,/ Kinder und greise Väter/hintrug zu den ausonischen Städten [. . . ]“, Übers.: B. Kytzler). 70 Phoibos hat, da ich wollte Kämpfe besingen/und besiegte Städte, warnend gerührt die Leier:/ich sollte, da sie so klein, nicht hinaus aufs tyrrhenische Meer/die Segel setzen (Übers.: B. Kytzler). 71 Vgl. zur recusatio allgemein Wimmel 1960; ders. behandelt dieses Gedicht ebd., unter anderem 136 und 231. 72 Einen Vorschlag zur Deutung der sachlich vergleichbaren Formulierung primi lege litoris oram;/in manibus terrae in Verg. georg. 2,44f. unterbreitet Haß in diesem Band (siehe oben, S. 282–286). 73 Vgl. hiermit Prop. 3,3,22–24: Apollon mahnt den Sprecher, er solle den „Kahn seines Talents“ nicht zu schwer beladen, sondern nur am Küstenrand entlang fahren (non est ingenii cumba grauanda tui./alter remus aquas alter tibi radat harenas,/tutus eris: medio maxima turba mari est; zitiert nach Fedeli 2006). In 3,9,3f. klagt der Sprecher, Maecenas wolle ihn auf das epische Meer hinausschicken, obwohl sein Schiff keine großen Segel tragen könne (quid me scribendi tam uastum mittis in aequor?/non sunt apta meae grandia uela rati.). Bei Kallimachos wiederum, in dessen Nachfolge sich Properz am Anfang des dritten Buches stellt (3,1,1f.), war im Apollonhymnus (105–112) darauf angespielt worden, daß ein Epos mit einem (zum Teil schmutzigen) Meer vergleichbar und deshalb ästhetisch minderwertig sei.

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um dessen segensreiches Wirken für und in Rom bzw. Italien darzustellen. Der Dichter mußte also nicht mehr das tyrrhenische Meer überqueren, um poetischen Stoff zu erlangen, sondern fand in der heimischen Umgebung vorzüglichere Gegenstände für sein Schaffen vor: Augustus’ Wirken hatte, wie der Sprecher ausführt, nicht nur zu einem Ende der Bürgerkriege und somit zu innerem Frieden geführt,74 sondern auch fremde Völker beugten sich gehorsam den Geboten Roms.75 Festzuhalten bleibt, daß in dieser Ode der (implizite) Gegensatz zwischen Küsten- und Hochseeschiffahrt als Bildspender für eine poetologische Aussage dient. Die Wahl der richtigen Route spielt zu Beginn von carm. 2,10 eine zentrale Rolle: rectius vives, Licini, neque altum semper urgendo neque, dum procellas cautus horrescis, nimium premendo litus iniquum. 5

auream quisquis mediocritatem diligit, tutus caret [. . .] 76

Der Adressat Licinius wird vom Sprecher aufgefordert, weder immer aufs hohe Meer hinaus zu drängen noch bei Stürmen allzu nahe an der (aufgrund von Klippen und ähnlichem) tückischen Küste zu segeln. Daß dieser Ratschlag, Extreme zu vermeiden und sich mithin an die „goldene Mitte“ zu halten, wie in den V. 5f. expliziert wird, jedoch metaphorisch als ethische Maxime zu verstehen ist, wird schon durch die Anfangsworte der Ode, „Richtiger wirst du leben“, klargemacht. Interessanterweise wird am Ende des Gedichtes abermals auf die Seefahrt als Bildspenderin zurückgegriffen, um dazu zu mahnen, sich auch im Glück bescheiden zu verhalten: Bei allzu günstigem Wind werde Licinius klug die geblähten Segel reffen.77 Die Ode wird also von Seefahrtsmetaphorik gerahmt. Eine Kursänderung wird in carm. 1,34 thematisiert:78 parcus deorum cultor et infrequens insanientis dum sapientiae consultus erro, nunc retrorsum vela dare atque iterare cursus 5

cogor relectos.79 [. . .]

Der Sprecher kleidet seine Abkehr von der Philosophie, die als „unsinnige Weisheit“ bezeichnet wird, und von seiner spärlichen Verehrung der traditionellen Götter in ein nautisches Bild: Er sehe sich nun gezwungen, die Segel rückwärts zu setzen und die alten Routen wieder zu 74 Carm. 4,15,17–20. 75 Carm. 4,15,8f.21–24. – Daß durch Augustus’ Wirken auch das Meer befriedet, also von Seeräubern gesäubert und dadurch sicher gemacht worden sei, wird in carm. 4,5,19 (pacatum volitant per mare navitae) in einem an Augustus selbst adressierten Preislied vom Sprecher hervorgehoben. 76 Richtiger wirst du leben, Licinius, wenn weder du ins offene Meer/ständig steuerst noch, vor den Stürmen/ vorsichtig in Furcht, allzusehr dich drängst/an das tückische Ufer.//Wer den goldenen Weg in der Mitte/wählt, in Sicherheit meidet er [. . . ] (Übers.: B. Kytzler). 77 Carm. 2,10,22–24: sapienter idem/contrahes vento nimium secundo/turgida vela. 78 Karg nur die Götter ehrte ich und selten,/solang ich als des Weisheitswahnes/Anhänger irrte – nun rückwärts/die Segel spannen und abermals befahren die Bahnen//muß ich, die hinter mir ich ließ (Übers.: B. Kytzler). 79 relectos Heinsius : relictos codd.

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befahren. Hier wird also ein religiös-philosophisches Umdenken des Sprechers mithilfe einer Seefahrtsmetapher veranschaulicht. Auffällig ist, daß die verschiedene Arten der Seefahrt (Küsten- vs. Hochseeschiffahrt, Umkehr von der bisherigen Route, Reffen der Segel) stets im metaphorischen Sinne gebraucht werden, dabei jedoch unter anderem sowohl ethische als auch poetologische Prinzipien verdeutlichen. 2.8 Seeschlachten 2.8.1 Die Schlacht von Actium Die Seeschlacht von Actium (31 v. Chr.), in der Octavians Admiral Agrippa Antonius’ und Kleopatras Flotte besiegte und so den Bürgerkrieg entschied, wird mehrfach thematisiert: Die erste Epode beginnt mit der Aussage des Sprechers gegenüber Maecenas, jener werde sich auf Seiten Octavians in die Schlacht begeben,80 wobei die Zuordnung zum späteren Augustus schon im zweiten Wort des Gedichtes (Liburnis) durch die Nennung eines speziellen Schiffstyps, eines Liburnerschiffes, erfolgt.81 Obwohl die eigentliche nautische Szene nur zwei Verse (1f.) umfaßt, also genauso viele wie die Beschreibung der Geisteshaltung des Maecenas, gelingt es Horaz, ein konkretes Bild vor den Augen der Rezipienten entstehen zu lassen, indem er einerseits einen konkreten Schiffstyp benennt, andererseits aber auch die der Schlacht dienenden hohen Bollwerke (alta [. . .] propugnacula). Die aus dieser Situation herrührende Lebensgefahr veranlaßt den Sprecher, über die Freundschaft zu seinem Patron zu reflektieren. Die dramatische Chronologie der 9. Epode, die sich ebenfalls unter anderem mit Actium befaßt, ist nicht unumstritten; ich schließe mich der Ansicht Watsons an, daß das Gedicht Szenen entwirft, die teils vor, teils während und teils nach der Seeschlacht einzuordnen sind.82 Nachdem in den V. 7–10 der Seesieg über Sextus Pompeius83 als Hintergrund für die aktuellen Geschehnisse etabliert worden ist, präsentiert der Sprecher seinem Adressaten Maecenas drei unterschiedliche nautische Bilder: In 19f. wird konstatiert, daß Schiffe des Antonius im Hafen verborgen sind, statt sich an der Schlacht zu beteiligen;84 in 27f. wird Antonius’ Niederlage zu Land und zu Wasser äußerst kurz benannt, bevor seine aktuelle Flucht über das Meer in vier Versen wieder ausführlicher beschrieben wird, wobei drei Optionen bezüglich seines Ziels genannt werden: Kreta, die Syrten oder unbestimmte Flucht.85 Bemerkenswert ist, daß keinerlei Kampfhandlungen dargestellt werden; dies paßt jedoch gut in das Bild, das Horaz bzw. der Sprecher in carm. 1,6 gegenüber Agrippa von seinem lyrischen Schaffen (im Kontrast zur epischen Dichtung) entwirft.86 Daß in der 9. Epode aber auch der Sprecher und die Festgesellschaft 80 Epod. 1,1–4: ibis Liburnis inter alta navium,/amice, propugnacula,/paratus omne Caesaris periculum/subire, Maecenas, tuo (Ziehen wirst du auf liburnischer Barke zwischen die hohen Schiffs-/türme, Freund,/bereit, für Caesar jegliche Gefahr/auf dich zu nehmen, Maecenas, in eigener Bedrohung, Übers.: B. Kytzler). 81 Dabei handelt es sich um ein niedrig gebautes, schnelles Kriegsschiff, wie es auf Seiten Octavians verwendet wurde; vgl. zum Beispiel Watson 2003, 59 ad loc. 82 Watson 2003, 312. 83 Hierzu vgl. Abschnitt 2.8.2. 84 Epod. 9,19f.: hostiliumque navium portu latent/puppes sinistrorsum citae. 85 Epod. 9,27–32: terra marique victus hostis punico/lugubre mutavit sagum./aut ille centum nobilem Cretam urbibus,/ ventis iturus non suis,/exercitatas aut petit Syrtis Noto/aut fertur incerto mari. 86 Carm. 1,6,1–9: scriberis Vario fortis et hostium/victor Maeonii carminis alite,/qua rem cumque ferox navibus aut equis/miles te duce gesserit://nos, Agrippa, neque haec dicere nec gravem/Pelidae stomachum cedere nescii/nec cursus

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sich noch auf dem Meer befinden oder erst kurz vorher an Land gegangen sind, wird aus der Bitte an einen Sklaven deutlich: Dieser soll Caecuberwein auftragen, der gut gegen die Folgen von Seekrankheit sei;87 durch diese selbstironische Sprechhaltung wird verhindert, daß die Darstellung eine allzu große Feierlichkeit erreicht. Eine wichtige Rolle spielt die Schlacht von Actium schließlich auch in carm. 1,37. Der Sprecher fordert seine Gefährten zur Siegesfeier auf, nachdem Kleopatra, das verhängnisvolle Ungeheuer (21: fatale monstrum), besiegt und gestorben ist. Der entscheidende Umschwung, ihre Niederlage bei Actium, wird dabei in zwei eindrucksvollen Bildern in Erinnerung gebracht: Vers 13 (vix una sospes navis ab ignibus) stellt knapp, aber ausdrucksstark den Rezipienten die kümmerlichen Reste ihrer niedergebrannten Flotte und somit ihre Machtlosigkeit vor Augen; die Verse 14–20 berichten von ihrer Verfolgung durch Octavian, wobei jedoch die Situierung auf See gewissermaßen minimalistisch durch die Formulierung „mit Rudern“ (17: remis) abgehandelt wird, während Kleopatras Geisteszustand größere Aufmerksamkeit erfährt und ihre Verfolgung durch zwei Tiergleichnisse illustriert wird, die Octavian mit einem Falken bzw. Jäger, Kleopatra mit einer Taube bzw. einem Hasen vergleichen.88 Die eigentlichen Ereignisse der Schlacht werden also nicht erzählt; vielmehr werden entscheidende Aspekte aufgerufen. Das eigentliche Interesse des Sprechers ist die Diskreditierung der ägyptischen Herrscherin und der Preis Octavians. 2.8.2 Kämpfe zur See gegen Sextus Pompeius Auch der von Agrippa im Jahr 36 v. Chr. errungene Seesieg über Sextus Pompeius, einen Sohn des Gnaeus Pompeius Magnus, der sich im sogenannten Sizilischen Krieg gegen die Caesarianer stellte, spielt in Horazens Lyrik eine Rolle: In der neunten Epode wird er als Hintergrund für die Schlacht von Actium etabliert, indem der Sprecher seinen Adressaten Maecenas daran erinnert, wie der „neptunische Führer“ nach dem Brand seiner Schiffe geflohen sei, der doch zuvor Rom mit Hilfe von Sklaven Knechtschaft angedroht habe.89 Daß der Sprecher die Behauptung des Sextus Pompeius, Neptuns Sohn zu sein,90 durch die Bezeichnung Neptunius dux aufgreift, stellt offenkundig bitteren Sarkasmus dar. Auch hier findet sich keine Darstellung der eigentlichen Kampfhandlungen; nur eine Art Momentaufnahme nach der Schlacht wird kurz präsentiert.

87 88

89 90

duplicis per mare Ulixei/[. . .]//conamur, tenues grandia (Besungen wirst du werden von Varius, Held du und der Feinde/Bezwinger, auf maionischen Sanges Schwinge,/die Taten auch, die tapfer zu Schiff oder zu Pferde/der Krieger, von dir geleitet, vollführt.//Wir, Agrippa, dürfen weder dies zu schildern noch den unheilvollen/Groll des Peliden, der zu weichen nicht wußte,/noch die Fahrten des Listigen durch die Meere, des Odysseus,/[. . . ]// versuchen, zu gering vor so Großem, Übers.: B. Kytzler). Epod. 9,35f.: vel, quod fluentem nauseam coerceat,/metire nobis Caecubum. Watson 2003, 336 ad loc. spricht sich ebenfalls für die Deutung von nausea als „Seekrankheit“, nicht als „Übelkeit infolge übermäßigen Alkoholgenusses“ aus. Carm. 1,37,14–20: mentemque lymphatam Mareotico/redegit in veros timores/Caesar ab Italia volantem//remis adurgens, accipiter velut/mollis columbas aut leporem citus/venator in campis nivalis/Haemoniae (und ihren Sinn, berauscht vom Nilwein,/trieb in wahre Ängste/Caesar: da sie weit von Italien davonflog,//drängte er mit Rudern nach wie der Falke/zarten Tauben oder dem Hasen der rasche/Jäger auf den Gefilden des verschneiten/Haimos, Übers.: B. Kytzler). Epod. 9,7–10: ut nuper, actus cum freto Neptunius/dux fugit ustis navibus,/minatus urbi vincla quae detraxerat/ servis amicus perfidis? Vgl. hierzu Watson 2003, 319 ad loc.

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Ganz anders wird der Kampf gegen Sextus Pompeius in der vierten Epode aufgegriffen: Nachdem der Sprecher seinem Adressaten, einem angeberischen Ex-Sklaven, das Ausmaß seiner eigenen Aversion ihm gegenüber deutlich gemacht hat, referiert er ihm, was Leute auf der Straße voller Empörung über ihn sagten.91 Ein Vorwurf dabei lautet, daß der Kampf zur See gegen das pompeianische Sklavenheer nutzlos sei, wenn dieser Ex-Sklave den Rang eines Militärtribuns bekleide.92 Bei dieser Bezugnahme auf einen Seekrieg, die mittelbar der Kritik am unverdienten sozialen Aufstieg eines Gegners dient, steht mit dem Rammsporn der Schiffe ein Detail im Fokus, das die militärische Zerstörungskraft illustriert; daß diese aber sinnvoll eingesetzt wird, wird ja gerade im Gerede der Leute in Zweifel gezogen.93 2.8.3 Allgemeinere Bezugnahmen auf Seeschlachten im Rahmen der Bürgerkriege Klar negativ bewertet werden Bürgerkriegsseeschlachten in der siebten Epode: Der Sprecher wendet sich an seine Mitbürger, die er aufgrund ihrer Bereitwilligkeit zum Bürgerkrieg als Verbrecher (1: scelesti) apostrophiert. In einer rhetorischen Frage hält er ihnen vor, daß doch schon genug Latinerblut im Bürgerkrieg zu Lande und zu Wasser vergossen worden sei.94 Mit größter Empörung also geißelt er die kriegerische Auseinandersetzung, ohne Unterschiede zwischen den Parteien zu benennen. Bemerkenswert ist, daß Horaz durch die Verwendung der Metonymie Neptunus für „Meer“ zugleich einen recht deutlichen Hinweis auf den konkreten Krieg gibt, den er verurteilt: denjenigen gegen den Neptunius dux Sextus Pompeius.95 Umfassender sind die Klagen, die der Sprecher in carm. 2,1 vorträgt. Der Adressat dieses in seiner Datierung umstrittenen Gedichtes96 ist Asinius Pollio, der ein Geschichtswerk über den Bürgerkrieg verfaßte.97 Ihm gegenüber stellt der Sprecher die rhetorische Frage, welches Meer und welche Küste nicht vom Blutvergießen des Bürgerkrieges entstellt sei.98 2.8.4 Seesiege über Karthago Die Seesiege über die Karthager im ersten Punischen Krieg werden vom Sprecher in carm. 3,6 unter Verwendung eines drastischen Bildes thematisiert: Das Meer sei von Blut rot gefärbt worden,99 wobei das verwendete Adjektiv Punicus in bewußter Ambiguität sowohl „karthagisch“ 91 Epod. 4,9–20. 92 Epod. 4,17–20: quid attinet tot ora navium gravi/rostrata duci pondere/contra latrones atque servilem manum/hoc, hoc tribuno militum? 93 Damit vergleichbar erscheint in gewisser Weise, daß an zwei anderen Stellen vom Sprecher moralisierend darauf hingewiesen wird, daß die Sorge auch ein erzbeschlagenes, also durchaus wehrhaftes, Schiff besteige bzw. nicht verlasse (carm. 2,16,21f.: scandit aeratas vitiosa navis/Cura und 3,1,38–40: neque/decedit aerata triremi [. . .] atra Cura). 94 Epod. 7,3f.: parumne campis atque Neptuno super/fusum est Latini sanguinis [. . .]? 95 Obwohl Watson 2003, der die Datierungsprobleme des Gedichtes ausführlich diskutiert, sich für 39/38 v. Chr. als Abfassungszeit ausspricht (ebd., 271), sieht auch er in Neptuno einen Hinweis auf die Auseinandersetzung mit Sextus Pompeius (ebd., 273); er erläutert: „the reference to naval activities could suit any time from 42 BC onwards“ (ebd., 271). 96 Nisbet/Hubbard 1978, 9f. referieren die communis opinio, die Ode sei kurz nach Actium verfaßt worden, halten aber auch eine Abfassung um 34 v. Chr. für denkbar. 97 Carm. 2,1,1–14. 98 Carm. 2,1,34–36: quod mare Dauniae/non decoloravere caedes?/quae caret ora cruore nostro? 99 Carm. 3,6,34: infecit aequor sanguine Punico.

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als auch „purpurn“ bedeuten kann. Dieses Ereignis wird uneingeschränkt positiv bewertet; es fungiert jedoch als Kontrastfolie, vor der die aktuelle Generation getadelt wird: Die von den heutigen Eltern abstammende Jugend könnte eine solche Leistung nicht vollbringen.100 Die gerühmte historische Leistung fungiert also als anspornendes Exemplum für die in der Ode apostrophierten römischen Zeitgenossen (V. 1f.: Delicta maiorum immeritus lues,/Romane),101 deren aktuelle Schwäche gerade dadurch offenbart wurde, daß sie im Kampf gegen Antonius und Kleopatra beinahe unter anderem einer fremdländischen Flotte unterlegen gewesen wären.102 Die in carm. 3,6 diagnostizierte Krise wird jedoch im carmen saeculare nicht mehr als Problem empfunden: In diesem Kultlied konstatieren der Mädchen- und der Jungenchor, daß die Meder die Macht des Augustus sowie Roms zu Lande und zu Wasser fürchten;103 der in rituellem Kontext erfolgende Hinweis auf die neuerstarkte Macht der römischen Flotte dient klar der Verherrlichung des Augustus. 2.9 Carm. 1,15 als Sonderfall Abschließend soll noch eine ganz besondere Seefahrtsszene in den Blick genommen werden, die Horaz in seiner Ode 1,15 entworfen hat. Das aus neun Strophen bestehende Gedicht beginnt mit einer fünf Verse umfassenden, zahlreiche Antithesen aufweisenden Exposition: pastor cum traheret per freta navibus Idaeis Helenen perfidus hospitam, ingrato celeris obruit otio ventos ut caneret fera 5

Nereus104 fata: [. . .] 105

Den Rezipienten wird vom Sprecher vor Augen gestellt, wie Paris die gerade geraubte Helena über das Meer nach Troja bringen möchte, aber von einer Flaute aufgehalten wird. Diese hat der Meeresgreis Nereus herbeigeführt, um dem „Hirten vom Ida“ dessen düstere Zukunft zu verkünden. Die nun folgende, bis zum Ende des Gedichtes reichende direkte Rede des prophetisch begabten Meeresgottes schildert zweimal – jeweils in einem Block à vier Strophen – das drohende Unheil: Nach einer Gesamtschau, die das Heranrücken des griechischen Heereszuges und die Stoßrichtung gegen Paris persönlich sowie gegen das gesamte trojanische Reich zeigt, steigert sich das Pathos durch die Ausgestaltung einzelner Szenen noch weiter, wobei die Darstellung – wie in der ganzen restlichen Ode – zwischen Prophezeiung im Futur und Vision im

100 Carm. 3,6,33f.: non his iuventus orta parentibus/infecit etc. 101 Die Vergehen der Vorfahren wirst unschuldig du büßen,/Römer (Übers.: B. Kytzler). Dennoch weist es der Sprecher in carm. 2,12,1–4 gegenüber Maecenas zurück, solche kriegerischen Stoffe in seiner Lyrik zu behandeln: nolis longa ferae bella Numantiae/[. . .] nec Siculum mare/Poeno purpureum sanguine mollibus/aptari citharae modis (Du kannst nicht wollen, daß die langen Kriege gegen das wilde Numantia/[. . . ] und das sizilische Meer,/von Punierblut purpurrot, weichen/Kitharaklängen sich fügen, Übers.: B. Kytzler). 102 Carm. 3,6,13–15: paene occupatam seditionibus/delevit urbem Dacus et Aethiops,/hic classe formidatus. 103 Carm. saec. 53f.: iam mari terraque manus potentis [sc. Augusti]/Medus Albanasque timet securis. 104 Nereus codd. : Proteus Porphyrio. 105 Als der Hirte hin übers Meer entführte auf seinen Schiffen/vom Ida wortbrüchig seine Wirtin Helena,/zu unwillkommenem Halt hemmte da die raschen/Winde, auf daß er weissage grauses//Geschick, Gott Nereus (Übers.: B. Kytzler).

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Präsens oszilliert. Ihren ersten Höhepunkt erreicht die Prophezeiung, als sie verkündet, daß der troische Prinz schließlich seine Haarpracht mit Staub beschmutzen werde, eben dann, wenn er im Kampf falle. In den nächsten drei Strophen zählt Nereus dem Trojaner von Neuem verschiedene gefährliche Kontrahenten auf, wobei der Kampf gegen den hier mit seinem Patronymikon umschriebenen Diomedes die detaillierteste Ausgestaltung erfährt. Die letzte Strophe schließlich, in welcher Paris nicht mehr direkt angesprochen wird, kulminiert in der Zerstörung Trojas, die nach einem gewissen Aufschub stattfinden werde: Mit Anklängen an die römische Gerichtsund Geschäftssprache wird prophezeit, daß Achills Mannschaft in ihrem Groll die Vernichtung verzögern werde. Dies muß für Paris unverständlich bleiben, da Achill (ein Enkel des Nereus) seines Wissens ja nur gegenüber Troja zornig sein kann; vom späteren Zorn des Peliden kann der Trojaner noch nichts ahnen. Doch nach einer festgesetzten Zeit werde das Feuer der Griechen Ilion niederbrennen; die Prophezeiung hat nach dem Tod des Paris in Vers 20 nun mit der Zerstörung Trojas ihren zweiten Höhepunkt und gleichzeitig ihr Ende erreicht. Mit dem Substantiv domos, das wie ein Echo von domum im ersten Vers der Prophezeiung klingt, schließt die Rede des Nereus. Jenseits der erbittert geführten Diskussion, ob man in diesem Gedicht eine Allegorie auf die Zeitgeschichte sehen könne, etwa in der Weise, daß Paris für Antonius und Helena für Kleopatra stehe,106 soll hier vorgeschlagen werden, carm. 1,15 als einen (experimentellen?) Sonderfall in der Reihe horazischer nautischer Szenen zu lesen, wodurch einige poetische Gestaltungsentscheidungen als besonders wirkungsvolle Kontraste erkennbar werden: Während sonst gerade das von Stürmen gepeitschte Meer als gefährlich dargestellt wird, ist in carm. 1,15 das plötzlich auf hoher See herrschende otium unwillkommen.107 Während sonst die Prophezeiungen, Gebete oder Verwünschungen Ereignisse während der Fahrt über das Meer antizipieren, ist hier die Fahrt ihrerseits der szenische Rahmen, in dem die Vision bzw. Prophezeiung geäußert wird. Die Paris drohende Gefahr existiert noch gar nicht aktuell, sondern wird erst herrschen, wenn er wieder den doch vermeintlich sicheren Boden Trojas betreten hat.108 Die imaginierten Kampfszenen spielen alle an Land und im Trockenen, was zwar zunächst unauffällig erscheinen mag, jedoch angesichts der auf trojanischer Seite in den Kampf eingreifenden Flüsse Skamandros und Simoeis doch nicht völlig selbstverständlich ist; und in der fünften Strophe ist die Rede davon, wie der trojanische Prinz seine Haarpracht mit Staub beschmutzen wird. Schließlich wird Feuer Ilion niederbrennen, womit ein maximaler Gegenpol zum sonstigen Gefahrenherd „Meerwasser“ etabliert wird.109 Daß der dramatische Ort der Ode das Meer ist, wird erst an ihrem Ende noch einmal assoziativ in Erinnerung gerufen, indem die Mannschaft Achills gerade mit dem Substantiv classis bezeichnet wird, dessen Semantik auch die Bedeutung „Flotte“ einschließt. 106 Vgl. hierzu zum Beispiel Breuer 2008, 367–376. 107 In carm. 2,16,1f. hatte der auf der offenen Ägäis von schlechtem Wetter überraschte Seemann die Götter gerade um otium angefleht, siehe oben, S. 308. 108 Gärtner 2009, 25–27 macht darauf aufmerksam, daß bei Homer als Ausgangspunkt der Leiden des Trojanischen Krieges schon der Bau der trojanischen Schiffe benannt wird (Il. 5,62–64: ὃς καὶ ᾿Αλεξάνδρῳ τεκτήνατο νῆας ἐΐσας/ἀρχεκάκους, αἳ πᾶσι κακὸν Τρώεσσι γένοντο/οἷ τ’ αὐτῷ [zitiert nach Monro/Allen 1963]). 109 Zwar stellen auch an Bord ausbrechende Feuer eine große Gefahr für Seeleute dar; dieser Aspekt wird aber von Horaz in den lyrischen Gedichten nirgendwo thematisiert.

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Carm. 1,15 gehört also zwar eindeutig in die Reihe horazischer nautischer Szenen, doch auch in dieser Motivgruppe ist ihm ein gewisser Sonderstatus nicht abzusprechen.

3. Aspekte der Poetik nautischer Szenen Wie bei der Betrachtung der Motivik deutlich geworden ist, findet sich eine Vielzahl von Präsentationsmodi nautischer Szenen in Horazens Lyrik. Die meisten Seefahrtsszenen werden vom jeweiligen (unspezifischen) lyrischen Ich eines Gedichtes entworfen; doch es begegnen auch individualisierte Sprecher ersten und zweiten Grades: Der Sprecher der 15. Epode nennt sich Flaccus (V. 12); im Dialoggedicht carm. 3,9 thematisiert eine Frau namens Lydia das Meer (V. 22f.), und im carmen saeculare schildert ein Mädchen- und Knabenchor die Ankunft der Aeneaden am etruskischen Strand (V. 37–40). Aber auch Sprecher zweiten Grades, also Figuren, deren Reden vom Erzähler berichtet werden, nehmen Bezug auf die Seefahrt, so etwa der Geldverleiher Alfius (epod. 2,6), Leute auf der Straße (epod. 4,17–20), die Hexe Canidia (epod. 17,54f.), der griechische Kämpfer Teukros (carm. 1,7,32), gegebenenfalls der Pythagoreer Archytas (carm. 1,28,21–29),110 die Danaide Hypermestra (carm. 3,11)111 oder der Karthager Hannibal (carm. 4,4,53–56). Auch in carm. 1,15, das als Sonderfall einer nautischen Szene gewürdigt wurde, findet sich ab V. 5 mit Nereus ein Sprecher zweiten Grades. Die jeweils vorgetragenen Ansichten über einzelne Aspekte von Seereisen sind dabei unabhängig von den Sprechern weitestgehend konsistent, wobei jedoch – gemäß der jeweiligen Sprecherintention – Gesichtspunkte verstärkt bzw. außen vor gelassen werden können.112 Bezüglich der Adressaten, an die nautische Elemente enthaltende Gedichte gerichtet sind, ist bemerkenswert, daß in zwei Fällen (carmina 1,3 und 1,14) ein Schiff angesprochen wird, in carm. 1,28 mit Archytas gar ein Opfer der See. In einigen Fällen werden umfangreichere Szenen ausgestaltet, die das ganze Gedicht füllen, etwa in der 10. Epode (invertiertes Propemptikon für Mevius) sowie in carm. 1,14 (Schiff in Seenot); dies gilt auch für die Nereus-Ode 1,15, deren dramatischer Ort das Meer ist, innerhalb deren aber Nereus’ ausführliche, bis zum Gedichtende reichende Prophezeiung den Blick auf das trojanische Festland lenkt. In den meisten Fällen umfassen nautische Szenen jedoch nur einzelne Strophen oder Verse; zuweilen (zum Beispiel in carm. 2,10,1–4.22–24) wird ein Gedicht aber auch von Seefahrtsthematik gerahmt. Zu diesem eher knappen Umfang paßt, daß nur in wenigen Fällen konkrete Fahrtziele und -anlässe oder detaillierte Routen genannt sind. Verschiedene Arten der Darstellung nautischer Themen kommen zur Anwendung: Oftmals wird in gewisser Weise kollektiv verfügbares Wissen aufgerufen, ohne daß eine ganz konkrete Szene entsteht, etwa wenn die Gefährlichkeit der Seefahrt im allgemeinen thematisiert wird.

110 Zu diesem Problem siehe oben, S. 311f. 111 Dieses oben nicht behandelte Gedicht läßt der Sprecher mit einer Rede der treuen Frischvermählten ausklingen: Während sie ihren von ihr gegen das väterliche Gebot verschonten Ehemann zur Flucht antreibt, hält sie es für denkbar, daß ihr Vater sie auf einem Schiff zu den Numidern in die Verbannung schicken wird (45–48: me pater saevis oneret catenis/quod viro clemens misero peperci,/me vel extremos Numidarum in agros/classe releget). 112 So etwa im Fall der Ankunft der Aeneaden am etruskischen Strand: Im carmen saeculare betonen die Jungen und Mädchen das Glücken der Fahrt, um die Götter an ihre Verantwortung gegenüber Rom zu erinnern; Hannibal nennt hingegen in carm. 4,4 die Schwierigkeiten auf See, um die Resilienz der Römer schon anhand der „ProtoRömer“ aufzuzeigen und die karthagische Niederlage verständlich zu machen.

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Eindrückliche, drastische und dennoch eher unspezifische Bilder entstehen bei der Auseinandersetzung mit römischen Seekriegen, wenn das Meer als blutrot gefärbt bezeichnet wird, was jedoch Anlaß sowohl (im Falle der Punischen Kriege) zur Freude als auch (im Falle der Bürgerkriege) zur Anklage sein kann. Manchmal werden auch Situationen wie die Seenot eines Schiffes (carm. 1,14) oder die Beruhigung der See durch das Wirken der Dioskuren (carm. 1,12,27–32) als gegenwärtiges Geschehen beinahe mimetisch beschrieben. Im Falle der NereusOde (1,15,3f.) wird erzählt, wie sich die Lage auf See veränderte, bevor der Meeresgreis das Wort ergriff. Insbesondere im Falle von „echten“ oder invertierten Geleitgedichten werden jedoch die erhofften günstigen oder ungünstigen Umstände während der Fahrt in Form von Prophezeiungen, Visionen oder Wünschen artikuliert. Wie zu erwarten, zeigen sich die jeweiligen Sprecher-personae der Gedichte abhängig von der Funktion der nautischen Elemente (dazu Abschnitt 4) in unterschiedlichem Maße emotional involviert: In den Geleitgedichten sind starke positive oder negative Emotionen faßbar, ebenso wie in der 16. Epode, die einen Ausweg aus dem Bürgerkrieg sucht, ein deutlicher Appellcharakter faßbar ist. Auch in den Gedichten, die Kämpfe zur See thematisieren, ist Kummer bzw. Triumph des Sprechers deutlich vernehmbar. In anderen Gedichten hingegen werden zwar oft eindrückliche Schiffahrtsbilder entworfen, jedoch ohne besonderes emotionales Engagement des Sprechers; in carm. 1,5 wirkt der Sprecher, der dem gefährlichen Meer der Liebe letztlich entronnen ist, geradezu abgeklärt.

4. Funktionen von Seefahrtsszenen Die Funktionen, die Seefahrtsszenen in Horazens lyrischer Dichtung ausüben, sind äußerst vielfältig. Im Fall von Geleitgedichten sind sie zunächst dem Genre selbst geschuldet, geben dem Sprecher aber darüber hinaus Anlaß, um (ernsthaft oder ironisch) über die Kühnheit des Menschengeschlechtes, das erhoffte Leid seiner Feinde oder sein Verhältnis zu Freunden zu reflektieren. Darüber hinaus können nautische Elemente in Beteuerungsformeln Verwendung finden oder im Zuge eines Vergleichs Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen von Menschen illustrieren. Zuweilen werden durch sie, wie im Falle von Seeschlachten, schreckliche Ereignisse der jüngsten Vergangenheit symbolisiert, um apotropäisch auf die Gegenwart einzuwirken; ebenso können Seeschlachten aber auch zum Preis der Vorfahren (und damit zum Ansporn der Zeitgenossen) oder zur Enkomiastik auf Augustus verwendet werden. Auch Gottheiten oder Heroen können dadurch verherrlicht werden, daß im Rahmen von Aretalogien ihre Rettungstaten zur See genannt werden. Die Seefahrt dient jedoch auch mehrfach als Bildspenderin, so daß durch entsprechende Elemente im eigentlichen oder metaphorischen Sinne zum Beispiel ethische Maximen genauso illustriert werden können wie die Wechselfälle der Liebe oder eine religiöse Neuorientierung; auch poetologische Prinzipien und sogar der privilegierte Status als Freund der Götter werden durch Schiffahrtsbilder (jedoch in deutlich geringerem Maße als etwa bei Pindar oder Vergil113 ) verdeutlicht. 113 Zu Pindars poetologischen Schiffahrtsbildern vgl. zum Beispiel Lieberg 1969, 209–213, zu Vergil ebd. 229–234.

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5. Das Iter Brundisinum als Vergleichspunkt Noch etwas schärfere Konturen gewinnen Horazens lyrische nautische Szenen, wenn man die vorgetragenen Beobachtungen mit der bekanntesten Schilderung einer horazischen Reise zu Land abgleicht, dem in Satire 1,5 beschriebenen Iter Brundisinum. In diesem Gedicht nennt der Sprecher nicht nur Anfangs- und Endpunkt der Reise (Rom bzw. Brundisium), die er wohl im Jahr 37 v. Chr. im Rahmen einer diplomatischen Mission unternahm,114 sondern er zählt auch detailliert Zwischenstationen auf, deren lokales Flair zumeist kurz illustriert wird. Die Reisebegleiter, unter anderem Maecenas und die Dichter Varius und Vergil, sowie die unter ihnen stattfindende Interaktion werden beschrieben, ebenso die Stimmung und der Gesundheitszustand des Sprechers während der verschiedenen Etappen. Interessant ist auch eine Einlage, in der die Reisenden ein Wegstück auf Lastkähnen zurücklegen (11–23). Hier wird nicht nur ein Streit zwischen den Dienern der Reisegesellschaft und den Schiffern beschrieben, sondern auch die Verhältnisse an Bord, die Gesänge und sogar das Schnarchen der Schiffer finden Erwähnung: Es entsteht der Eindruck authentischen, eigenen Erlebens des Erzählers. Einige Differenzen gegenüber den betrachteten Epoden und Oden mögen natürlich den unterschiedlichen Gattungskonventionen geschuldet sein, und auch die Bedeutung des sogenannten Iter Siculum, einer Satire des Lucilius (2. Jh. v. Chr.), als eines wichtigen Praetextes darf nicht zu gering veranschlagt werden.115 Dennoch läßt sich festhalten, daß Horazens lyrische Seefahrtsszenen deutlich allgemeiner und detailärmer gehalten sind als diese Reisebeschreibung; und sie sind auch vom Umfang her nicht mit dem Iter Brundisinum vergleichbar.

6. Fazit Für Horaz scheinen das Meer und die Seefahrt verlockende poetische Themen gewesen zu sein. Insbesondere in seinen lyrischen Gedichten begegnet eine Vielzahl von Szenen, in welchen Akteure auf dem (konkreten oder metaphorischen) Meer Gefahren ausgesetzt sind oder entscheidenden Wendepunkten ihres Lebens entgegenreisen. Zwar wird man die Klage des Sprechers in Ode 1,3, daß Schiffahrt ein Ausdruck menschlicher impietas sei, insofern sie das Konzept des Oceanus dissociabilis116 mißachte, kaum unrelativiert als Meinungsäußerung des historischen Horaz auffassen dürfen. Dennoch lassen sich keine uneingeschränkt positiven Aussagen zur Seefahrt finden, die doch bei anderen Dichtern wie etwa Euripides oder Vergil auch als Ausdruck eines gottgewollten Zivilisationsfortschrittes begriffen werden kann.117 Eine Schilderung einer als angenehm empfundenen Seereise begegnet in der horazischen Lyrik

114 Vgl. hierzu Brown 1993, 139. 115 Vgl. die Anmerkung des spätantiken Horazkommentators Porphyrio (ad serm. 1,5 [Holder 1894, 255]): Lucilio ha[e]c satyra aemulatur Horatius iter suum a Roma Brundesium [sic!] usque describens, quod et ille in tertio libro fecit, primo a Roma Capuam usque et inde fretum Siciliense (Mit Lucilius wetteifert Horaz in dieser Satire, indem er seine Reise von Rom nach Brundisium beschreibt, was auch jener im dritten Buch getan hat, zunächst von Rom bis nach Capua und von dort zum sizilischen Meer). 116 Hier ist die etablierte Bezeichnung dieses Gedankens verwendet, auch wenn Shackleton Bailey in seiner diesem Aufsatz zugrundegelegten Horazausgabe in carm. 1,3,22 die Konjektur dissociabilis in den Text aufgenommen hat, so daß sich das Adjektiv in seiner Textgestaltung nicht auf Oceano, sondern auf terras bezieht. 117 Vgl. Heydenreich 1970, 48–55.

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nicht; fast immer erscheint das Meer als Gefahrenort und nicht etwa als idyllischer Raum. Hiermit stimmt gut zusammen, daß Begriffe aus dem semantischen Rahmen „Meer“, wenn sie kein geographisches Attribut haben, zumeist mit negativen oder Gefahren bezeichnenden Adjektiven verbunden werden, zum Beispiel aestuosum („brandend“),118 asperum („rauh“),119 avarum („habsüchtig“),120 avidum („gierig“),121 beluosum („voller Ungeheuer“),122 fervidum („tosend“),123 hibernum („winterlich“),124 horridum („schrecklich“),125 imperiosius („allzu herrisch“),126 incertum („ungewiß“),127 ingens („ungeheuer“),128 iratum („zornig“),129 naufragum („schiffezerbrechend“),130 nigrum („schwarz“),131 scatens beluis („wimmelnd von Untieren“),132 trux („grimmig“),133 tumultuosum („unruhig“),134 turbidum („stürmisch“) bzw. turgidum („geschwollen“),135 vagum („unbeständig“)136 oder ventosum („windig“).137 Auffällig erscheint, daß Horaz hierbei offensichtlich sehr bemüht um Variation des Ausdruckes ist, auch wenn ähnliche Gedanken geäußert werden; keines der oben genannten Adjektive begegnet zweimal in derselben Junktur zur Beschreibung des Meeres. Die Motivik der Schiffsreise ist facettenreich; sie umfaßt Geleitgedichte, Aufbruchsszenen, Situationen von drohender oder aktueller Seenot und tatsächlichem Schiffbruch genauso wie die erhoffte oder tatsächliche Ankunft von Reisenden, und sogar Seeschlachten aus der Zeit der Punischen Kriege wie der aktuellen Bürgerkriege werden aufgegriffen. Einen Sonderfall stellt hierbei die Ode 1,15 dar, deren dramatischer Ort zwar das Meer ist, in der jedoch durch die Prophezeiung einer Figur des Gedichtes der Blick auf den bevorstehenden Kampf um Troja gelenkt wird. Die detaillierteste Beschreibung eines Schiffes findet sich in Ode 1,14, wo das apostrophierte Schiff, das wahrscheinlich allegorisch aufzufassen ist, in einem Zustand schwerster Seenot und weit fortgeschrittener, mimetisch entfalteter Zerstörung präsentiert wird. Doch hat Horaz nichts verfaßt, was man Catulls carmen 4 zur Seite stellen könnte, das die überaus erfolgreiche „Biographie“ eines Bootes zum Thema hat.

118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137

Carm. 2,7,16 (fretis [. . .] aestuosis). Carm. 1,5,6f. (aspera [. . .] aequora). Carm. 3,29,61 (avaro [. . .] mari). Carm. 1,28,18 (avidum mare). Carm. 4,14,47f. (beluosus [. . .] Oceanus). Carm. 1,9,10 (aequore fervido). Epod. 15,8 (hibernum mare). Carm. 3,24,40f. (horrida [. . .] aequora). Carm. 1,14,8f. (imperiosius//aequor). Epod. 9,32 (incerto mari, aber ggf. Enallage). Carm. 1,7,32 (ingens [. . .] aequor). Epod. 2,6 (iratum mare). Carm. 1,16,10 (mare naufragum). Carm. 3,27,23 (aequoris nigri). Carm. 3,27,26f. (scatentem/beluis pontum). Carm. 1,3,10f. (truci [. . .] pelago). Carm. 3,1,26 (tumultuosum [. . .] mare). Beide Lesarten sind für carm. 1,3,19 (mare turbidum oder turgidum) überliefert. Epod. 16,41 (Oceanus [. . .] vagus). Carm. 3,4,45f. (mare [. . .] ventosum). Zu carm. 4,5,19 (pacatum [. . .] mare) vgl. Anm. 75 (siehe oben, S. 316).

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Insgesamt bleiben die Fahrtziele zumeist ungenannt oder liegen außerhalb der realen Geographie; mehrfach werden jedoch konkrete Meeresregionen benannt, in denen Gefahren begegnen. Ebenso bleiben die Umstände oder Anlässe der geschilderten Reisen oder imaginierten Szenen auf See meist recht allgemein, wie durch den Vergleich mit der Landreise im Iter Brundisinum (serm. 1,5) noch deutlicher wurde. Es werden sowohl Seefahrten, die zu individuellen Erlebnissen führen,138 als auch Seerouten, bezüglich derer sich bereits ein gewisses Reservoir an Erfahrungen und Wissen etabliert hat, thematisiert. Nautische Szenen werden sowohl von Sprechern ohne spezifische Züge als auch von individuellen Sprechern entworfen, ferner innerhalb von Reden mythischer oder historischer Figuren. In ihrem Umfang und in der emotionalen Involviertheit der Sprecher gibt es eine große Bandbreite; in der Mehrzahl der Fälle handelt es sich jedoch eher um kurze Szenen, die von den Sprechern ohne besonderes Pathos gestaltet werden. Seefahrtsthemen werden nicht nur aus dem Reservoir kollektiven Wissens schlaglichtartig aufgerufen, sondern auch bald als vergangene Ereignisse geschildert, bald in Form von Visionen oder Prophezeiungen den Rezipienten vor Augen gestellt, in einigen Fällen auch mimetisch nachvollzogen. Nautischen Elementen kommen zahlreiche Funktionen zu: Abgesehen von genre-immanenter Notwendigkeit wie im Falle von Propemptika verleihen sie Beteuerungen zusätzliches Gewicht, schildern anschaulich die Ausprägung menschlicher Eigenschaften oder symbolisieren Ereignisse der römischen Geschichte oder Gegenwart, um protreptisch oder apotropäisch zu wirken. Darüber hinaus liefern sie Stoff für Enkomiastik auf Götter, Heroen und Menschen. Schließlich dient die Seefahrt als Argument-, Bild- und Metaphernspenderin, um philosophischethische Überlegungen, Aspekte der condition humaine oder auch poetologische Grundsätze zu illustrieren.

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Poeta und gubernator Eumolp und die Poetik des Schiffbruchs bei Petron (Sat. 100–115) Ulrike Egelhaaf-Gaiser (Göttingen) Einleitung „Überall ist Schiffbruch“ (Petron. 115,16: ubique naufragium est) – das ist die Bilanz, die der Romanheld Encolp aus seiner Entdeckung der an Land gespülten Leiche des Schiffseigners Lichas zieht. Auf seine unerwartete Konfrontation mit dem Tod reagiert der schiffbrüchige Encolp geradezu schulmäßig mit einer bis zum Rand mit rhetorischen Topoi gespickten Deklamationsrede, in der er über die menschliche Vergänglichkeit lamentiert. Der auf dem Meer treibende Tote wird dabei zum Schlüssel einer moralphilosophischen Selbsterkenntnis: en homo, quemadmodum natat – „Da, sieh den Menschen: ein Spiel der Wellen!“ (Petron. 115,10). Ein Kenner des Romans wird sich freilich hüten, Encolps effektvoll platzierte Sentenzen allzu hoch zu bewerten: Hatte er doch im Zuge seiner bisherigen Lektüre bereits reichlich Gelegenheit, mit Encolps geradezu besessenem Bemühen nach einer Überhöhung seines Erlebens im Medium von Literatur und Mythos Bekanntschaft zu machen. Seit Gian Biagio Contes wirkmächtiger Monographie gehört der „mythomane Held“, über den sich der „versteckte Autor“ aus satirischer Distanz lustig mache,1 zum festen Inventar der Petronforschung. Die Ironie, die Conte überall sucht und prompt auch findet, scheint freilich den interpretatorischen Blick bisweilen zu verengen. Da Conte die Konstellation des überlegenen hidden authors und der verlachten Romanfigur allerorts zugrunde legt, werden andere, zumal poetologische Lesarten2 praktisch ausgeschlossen. Ich möchte mich daher im Folgenden an einer nochmaligen Auseinandersetzung mit dem Motiv des Schiffbruchs versuchen, die vielleicht Contes Ansatz um neue Perspektiven erweitern kann. Mein Ausgangspunkt ist die in der Forschung bereits mehrfach formulierte Beobachtung, dass Petrons Hauptakteure, so namentlich der Romanheld Encolp und sein jugendlicher Liebling Giton, im Zuge ihrer Eskapaden und Abenteuer regelmäßig ‚baden gehen‘:3 Haben sie doch in ihrer unverbesserlichen Naivität ein ausgeprägtes Talent dafür, sich in peinliche und prekäre, ja ausweglose Situationen hinein zu manövrieren,4 denen sie sich dann nur noch in 1 Conte 1996, passim und besonders 1–21 zum (naiven) mythomanen Helden und 21–36 zum (ironischen) hidden author. 2 Einen meiner Fragestellung methodisch nahestehenden, da ebenfalls poetologisch geprägten Ansatz verfolgen auch die Beiträge von Höhler (siehe oben, S. 131–149) und Haß (siehe oben, S. 273–292) in diesem Band. 3 Im ganz wörtlichen Sinne realisiert in Petron. 72,5–8, wo Encolp aus Schrecken vor dem wütend bellenden Pförtnershund in die piscina des Impluviums fällt. 4 So etwa bei ihrem versehentlichen Abstieg in einem Bordell (Petron. 6), bei der Untersuchung eines Amtsdieners in der Herberge (Petron. 97f.) oder bei Encolps schmerzhafter Rosskur in der Hütte der Oenothea (Petron. 134).

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einem turbulenten Ausbruch entziehen können.5 Soweit erhalten, münden daher praktisch alle größeren Romanepisoden im Chaos und nötigen die Helden zu einer überstürzten Flucht aus dem Geschehen.6 Der tatsächliche Schiffbruch unter der Macht der Naturgewalten wäre demnach nur eine ultimative Übersteigerung des Erzählprinzips turbulenter Episodenenden.7 Als ein poetologischer Kristallisationspunkt, der Krisen nicht nur magisch anzieht, sondern auch selbst aktiv erzeugt, dient der Dichter Eumolp. Als typische ‚Künstlerfigur‘ ist Eumolp natürlich von vornherein poetologisch verdächtig.8 Da sich im Fall Eumolps nun aber in fataler Weise eine geradezu krankhafte Neigung zur geschwollenen und episch ausufernden Dichtung mit einer nur mäßigen Begabung paart, erleidet der Dichter beim Vortrag seiner Produkte regelmäßig Schiffbruch.9 Unter solchen Vorzeichen muss ein Leser von vornherein hellhörig werden, wenn sich unsere beiden Helden just auf Eumolps Initiative10 vertrauensvoll an Bord eines Handelsschiffs begeben, ohne sich im Vorfeld näher über Route und Besitzer zu informieren: Schon unter den Vorzeichen des Liebes- und Abenteuerromans, in dem Seereise, Schiffbruch und der letzte Wunsch eines gemeinsamen Liebestodes auf hoher See zum Standardrepertoire gehören,11 wäre ein Seesturm praktisch unausweichlich. Diese Erwartung gilt nun aber umso mehr, als sich die Gefahr auf dem Meer durch Eumolps leidenschaftliche Passion für eine möglichst hochtrabende, vorzugsweise episch kolorierte Dichtkunst und durch sein notorisches Scheitern an derartigen Höhenflügen nochmals potenziert. Denn auch wenn das Motiv von Seereise und Schiffbruch literarisch breiten Niederschlag findet,12 bleibt doch stets der epische Seesturm – prototypisch in

5 Zum unverknüpften und chaotischen Charakter und zum unerwarteten, abrupten und ungelösten Ende zahlreicher Episoden Zeitlin 1971, 652–659; Tilg 2002; Panayotakis 1995, 31. 6 Diese Fluchtbewegungen hinterlassen im Romantext unweigerlich Spuren: Auf sprachlicher Ebene in Form des die Krisen explizit markierenden Wortfelds fugere/effugium/fuga (Tilg 2002, 118–122), auf erzählerischer Ebene in einer Fülle von ungelösten Erzählepisoden und überstürzten Abtritten des Helden und seiner Gefährten (Zeitlin 1971, 22f.). 7 So Zeitlin 1971, 655: „The sea storm, that universal image of turbulence, puts an end to the engagements on board of the ship.“ 8 Programmatisch formuliert bei Connors 1998, 144f.: „in various ways, the Satyricon’s professional poet Encolpius is a figure of metaliterary dimensions, reflecting Petronius’ own expertise in crafting the novel. Within the Satyricon, Eumolpus is a foil for Petronius as author, for he creates plots for Encolpius to participate in passively (as Quartilla, Trimalchio, and Circe also do). Just as Demodocus, the poet in the Odyssey, is a self-conscious representation of the role of the poet in Homeric society, so too Eumolpus embodies the production of literature in his age.“ Ähnlich Labate 1995, 167: „Eumolpo non è, nel Satyricon, un personaggio come gli altri, perché ha il privilegio di riunire in sé quelli che sono i tratti distintivi e le diverse matrici formative dell’opera petroniana. Un personaggio, dunque, con forti connotazioni metaletterarie, perché è capace di rispecchiare, nella propria forma, la forma stessa del testo.“ 9 Bereits bei seinem ersten Auftritt in der Romanhandlung von aufgebrachten Museumsbesuchern mit Steinwürfen vertrieben (Petron. 90,1), gesteht Eumolp seinem neuen Bekannten auf dessen Nachfrage ein, dass er ähnliche Erfahrungen schon mehrfach im Theater gemacht habe (Petron. 90,5); und tatsächlich vergehen nur wenige Stunden, bis Eumolp, der sich trotz besseren Wissens der öffentlichen Versrezitation einfach nicht enthalten kann, aus den städtischen Thermen verjagt wird (Petron. 92,6). 10 Dies ergibt sich aus Petron. 99,4–6. 11 Charit. 1,11; Longos 2,25–29; Xen. Eph. 3,2,12f.; Ach. Tat. 3,1–5; Heliod. 1,22; 5,27. Vgl. Fröhlke 1977, 50: „der Schiffbruch ist das Standardmotiv des griechischen Liebesromans.“ 12 Siehe die bei Courtney 2001, 174 aufgeführten Belege. Zur Topik des literarischen Seesturms eingehend Dunsch 2013.

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Homers Odyssee – die Messlatte, auf die sich alle elegischen, dramatischen oder novellistischen Sturmszenen beziehen.13 Es scheint daher nur folgerichtig, dass sich der Petronleser nach einer stattlichen Anzahl unernster, d. h. nur theatralisch vorgespielter Todesinszenierungen nun im Rahmen des Seesturms auch zum ersten und einzigen Mal mit dem tatsächlichen Tod einer Romanfigur – und zwar des Schiffsbesitzers persönlich – konfrontiert sieht. Doch kostet der Seesturm nicht nur Lichas das Leben und zerlegt dessen Handelsschiff bis in seine rudimentären Bestandteile; vielmehr droht er, wie ich hoffe zu zeigen, auch das literarische Schiff – sprich: die Romanerzählung – komplett zu Bruch zu bringen.14 Dass im Schiffbruch eine poetologische Deutungsebene mitangelegt ist,15 wird – abgesehen von der bekannten Tatsache, dass die Schifffahrt in der griechischen wie römischen Dichtung häufig als Metapher für das poetische Schaffen genutzt wird16 – vor allem durch das auffällige Wortfeld gestützt. Denn nachdem der Sturm dem Schiff all jene funktionalen Bestandteile entrissen hat, die es als Schiff erkennbar und manövrierbar machen (Mast, Taue, Steuer, Ruder), treibt am Schluss nur noch unbehauenes und formloses Rohmaterial im Meer umher.17 Die lateinischen Begriffe für „unbearbeitetes Holz“ (materia/materies) sind in einer Reihe von Texten poetologisch besetzt18 und legen daher wohl auch in unserem Fall eine entsprechende Spur. Nun droht das novellistische Schiff aber – dies meine These – nicht nur ‚selbsttätig‘ und geradezu ‚zwangsläufig‘ unter einer Überlast epischer (und tragischer) Gattungseinflüsse zu sinken. Vielmehr wird es vom Dichter Eumolp, wenn auch subtil und unterschwellig, in diese Richtung gelenkt. Und dies geschieht nicht erst in der Endszene, sondern von Beginn der Seereise an: Meiner Meinung nach entpuppt sich Eumolp schon früh als ein poetischer Steuermann, der allerdings die Romanhandlung dann letztlich doch nicht (oder jedenfalls nicht in vollem Umfang) kontrollieren kann. Um meine These zu untermauern, werde ich zunächst darlegen, wie Eumolp bereits in der Eröffnungsszene den späteren Seesturm geradezu performativ heraufbeschwört und zugleich

13 Siehe Hom. Od. 5,291–493; 12,403–450; zum epischen Unwetter Friedrich 1956; Burck 1978; zum elegischen Unwetter Kröner 1970, zum dramatischen Schindler 2000. Zum Reisemotiv im Roman und zu dessen epischem Vorbild summarisch Habermehl 2006, 324. Zum festen Konnex von Seereise und Epos vgl. den Beitrag von Höhler in diesem Band (siehe oben, S. 132–137 und S. 138–141). 14 Angelegt ist diese These bereits bei Connors 1998, 142, allerdings im exklusiven Bezug auf Eumolps Dichtung und nicht auf die Romanerzählung selbst: „While Lichas’ ship founders, so does the ship of poetry [. . . ]. The explicit and literal wreck of Lichas’ ship is matched by the implicit and metaphorical shipwreck of Eumolpus’ poem.“ Vgl. hierzu auch Kapitel 3 (siehe unten, S. 336–341). 15 Zur Topik der gefährlichen Seereise vgl. den Beitrag von Breuer in diesem Band (siehe oben, S. 299–301 und S. 306–313); zum seltener thematisierten Fall einer gelingenden Navigation vgl. ebenfalls im vorliegenden Band den Beitrag von Dunsch (siehe oben, S. 171–174). 16 Lieberg 1969. Zur Parallelität von Seereise und (epischer) Dichtung vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Krasser (siehe oben, S. 162–167) und Meyer (siehe oben, S. 257–269). 17 Petron. 114,13: peragit interim tempestas mandata fatorum omnesque reliquias navis expugnat. Non arbor erat relicta, non gubernacula, non funis aut remus, sed quasi rudis atque infecta materies ibat cum fluctibus. 18 Zur Wortverwendung im spezifischen Kontext des Schiffsbaus ThlL s. v. materia/materies, 451, 3–19; in literarischen Kontexten ebenda 461, 4–28. Ähnliches gilt für den unbetretenen und unberührten Wald, silva, siehe Hinds 1998, 10–14.

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eine assoziative Nähe zum vergilischen Steuermann Palinurus nahelegt (Kapitel 1). Nach der mehrfachen Verbalisierung eines möglichen Schiffbruchs motiviert er dann Encolp und Giton zu einem unheilvollen Verkleidungsversuch, ob dessen die Katastrophe unausweichlich wird (Kapitel 2). Nachdem schließlich der Sturm entfesselt ist, sucht Eumolp in einem spontanen furor poeticus an Stelle des über Bord gespülten Kapitäns zumindest virtuell die Navigation des Schiffs (und damit des Erzählverlaufs) zu übernehmen (Kapitel 3). Allerdings wird der Erfolg des von Eumolp versuchten Übergriffs durch die Intervention Encolps unvermutet vereitelt; letztlich scheitert der Dichter am Vorhaben eines ‚grandiosen Finales‘ im Seesturm. Durch die Auffindung des toten Lichas am Folgetag wird das Motiv des Steuermanns mittels motivischer Referenzen zum vergilischen Palinurus wiederbelebt (Kapitel 4); im Zuge einer improvisierten Bestattung gewinnt Eumolp schließlich die verlorene Kontrolle über die von ihm initiierte Reiseepisode zurück, indem er die Erzählung mit einem Grabepigramm beschließt (Kapitel 5).

1. Nisi naufragium ponimus: Fingierter und realer Schiffbruch Begeben wir uns also zunächst gemeinsam mit unseren Helden bei Nacht auf das Handelsschiff. Kaum hat sich das Trio an Bord zur Ruhe gelegt, da wird es durch zwei Stimmen aufgeschreckt, die Encolp als die des Schiffsbesitzers Lichas und seiner Frau Tryphaena identifiziert. Da sich Encolp und Giton in einer früheren, nicht erhaltenen Episode just mit diesem Ehepaar heftig angelegt haben, versetzt sie die Erkenntnis, auf wessen Schiff sie ahnungslos gelandet sind, in Panik. Die Konfliktsituation motiviert eine ausführliche Beratung, bei der Eumolp den Vorsitz führt und seine Gefährten auffordert, mögliche Auswege zu erörtern (Petron. 101,7f.):19 “fingite”, inquit, “nos antrum Cyclopis intrasse. quaerendum est aliquod effugium, nisi naufragium ponimus et omni nos periculo liberamus.” – “immo”, inquit Giton, “persuade gubernatori ut in aliquem portum navem deducat, non sine praemio scilicet, et affirma ei impatientem maris fratrem tuum in ultimis esse. poteris hanc simulationem et vultus confusione et lacrimis obumbrare, ut misericordia permotus gubernator indulgeat tibi.” negavit hoc Eumolpus fieri posse, “quia magna”, inquit, “navigia portubus se curvatis insinuant, nec tam cito fratrem defecisse veri simile erit.” „Nehmt an“, sagte er, „wir hätten wirklich die Höhle des Kyklopen betreten. So müssen wir einen Ausweg suchen, wenn wir nicht einen Schiffbruch auf die Bühne bringen und uns (so) aus aller Gefahr befreien.“ „Nein, nein“ rief Giton, „bring lieber den Steuermann dazu, einen Hafen anzulaufen, natürlich gegen Belohnung, und beteure ihm, dein Bruder komme, da er die See nicht vertrage, schon fast um. Du kannst ja den Schwindel durch eine erschrockene Miene und Tränen glaubhaft machen, so dass der Steuermann Mitleid fühlt und dir den Gefallen tut.“ Eumolp meinte, dies sei unmöglich. „Denn“, erklärte er, „große Schiffe können nur in ausgebauten Hafenbecken anlegen; auch ist es unwahrscheinlich, dass mein Bruder so rasch erkrankt ist.“

Bezeichnenderweise bringt Eumolp, noch bevor irgendein Lösungsvorschlag unterbreitet wurde, selbst einen Schiffbruch als möglichen Freischlag aus aller Gefahr ins Spiel. Und tatsächlich wird ja die Seereise in einer eben solchen Katastrophe münden. Die Grenzen zwischen einer rein

19 Alle Übersetzungen aus Petron in Anlehnung an Schönberger 1992.

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gedanklichen Vorstellung, zu welcher der Dichter seine Gefährten auffordert – siehe das fingite im Text –, und deren Verwirklichung in der Romanhandlung scheinen bereits hier verunklärt. Verstärkt wird der Eindruck der Unschärfe durch das semantische Feld des Verbs ponimus. Denn ponere dürfte in unserem Fall nicht nur auf eine pure Annahme, sondern eben auch in einer weiteren – wenn auch deutlich selteneren – Bedeutung auf eine theatralische Inszenierung verweisen.20 Damit kann einerseits gemeint sein, dass unsere Helden wie Schauspieler in die Rollen Schiffbrüchiger schlüpfen sollen. Abgedeckt ist damit andererseits aber auch, dass sich Eumolp erstmals als Regisseur der Handlung präsentiert:21 Zwar führt er den Schiffbruch nur ironisch als kaum ratsame und unplanbare Alternative an, um Encolp und Giton zur Suche nach nächstliegenderen und besseren, da aktiv steuerbaren Auswegen zu motivieren. Und doch nährt Eumolps Nachsatz den Verdacht, dass sich der pathosbegeisterte Dichter durchaus dafür erwärmen könnte, mit einem Schiffbruch das ‚ganz große Kino‘ epischer Dichtung in die Romanhandlung einzuführen. Dass Eumolp schließlich einen Schiffbruch überhaupt als „Ausweg“ bezeichnen kann, kann angesichts seines Charakters nicht verwundern: Nicht nur, dass er diesbezüglich über reiche Erfahrungen verfügt – wenn auch nur in übertragenem Sinne; als ein Kenner von Literatur weiß er zudem, dass die dortigen Hauptakteure auf hoher See zwar in Gefahr geraten, den Schiffbruch selbst aber stets überleben! Dass Eumolp im Zuge der Beratungsszene tatsächlich den weiteren Erzählverlauf zu steuern versucht, scheint mir auch in Gitons Reaktion angelegt. Denn wenn dieser Eumolp anfleht, doch lieber auf den Steuermann Einfluss zu nehmen und ihn mit allen Mitteln seiner Redekunst zur Einfahrt in einen sicheren Hafen zu überreden, dann rückt er den Dichter in ein enges Nahverhältnis zu der maßgeblichen Leitfigur des Schiffs.22 Eine solche Wechselbeziehung zwischen Steuermann und Dichter ist poetologisch höchst plausibel. Denn wie jede werkinterne Dichter- und Künstlerfigur Ansprüche auf die literarische Deutungshoheit anmeldet, so sind die Steuermänner in allen nautischen Fragen ausgewiesene Experten: Wissen sie doch allein die Zeichen von Himmel, Wetter und See richtig zu lesen und ihr Schiff sicher auf Kurs zu halten.23 Der Steuermann bleibt auch im weiteren Fortgang der Beratung bedeutsam: Als nämlich Encolp seine eigene Idee lanciert, er und Giton könnten sich ins Beiboot abseilen und ihr weiteres Schicksal dem Glück überlassen, kontert Eumolp sogleich mit einem Verweis auf den Steuer-

20 Zum semantischen Spektrum von ponere Habermehl 2006, 346f., allerdings in anderer (und meines Erachtens zu oberflächlicher) Bewertung des von Eumolp vorgebrachten Vorschlags: „Eumolpos eröffnet die Diskussion mit einem schlechten Scherz.“ 21 Vgl. Panayotakis 1995, 145f. in einer anderen, gattungsbezogener Akzentsetzung: „if it is taken in the sense of ‚staging a play‘, it reinforces the argument for a theatrical interpretation of the sea-trip-scene. Thus it becomes apparent that it is Eumolpus’ intension to stage a shipwreck, in other words to create a mimicum naufragium.“ So wenig ich die vielfältigen dramatischen und mimischen Einflüsse auf Petrons Schiffsreise bestreiten möchte, scheint mir umgekehrt doch die Einseitigkeit, mit der Panayotakis auf die theatralischen Gattungseinflüsse rekurriert, der generischen Vielstimmigkeit der Reiseszene (und insbesondere den unverkennbar epischen Einflüssen) nur bedingt gerecht zu werden. 22 Zur Figur des Steuermanns und dessen poetologischem Potenzial vgl. den Beitrag von Höhler in diesem Band (siehe oben, S. 138–141). 23 Zur hohen Expertise epischer Steuermänner Apoll. Rhod. 1,105–108 und 559–562 (Tiphys); Verg. Aen. 3,512–520 (Palinurus); Lucan. 5,540–576 (Amyclas). Wie Habermehl 2006, 348 hervorhebt, stilisiert Seneca daher den gubernator geradezu leitmotivisch zum exemplum, etwa benef. 6,15,6 und epist. 16,3.

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mann, der unmöglich zu täuschen sei, da er „die ganze Nacht über wacht und die Bewegung sogar der Sterne beobachtet.“24 Verschiedene bis in die Synonymik25 reichende Motivanklänge lassen, wie Patimo in einer detaillierten Untersuchung gezeigt hat,26 keinen Zweifel daran, dass Eumolp mit dem schlaflosen Steuermann keinen geringeren als den vergilischen Palinurus, sprich: den Steuermann schlechthin vor Augen hat. Auf den ersten Blick scheint der deutlich markierte Prätext lediglich Eumolps erklärte Vorlieben für epische Stoffe und Figuren zu bestätigen. Bei näherer Prüfung wird aber ersichtlich, wie Eumolp neben der Schlaflosigkeit auch das Täuschungsmanöver zu seinen Zwecken subtil variiert. Denn wie der vergilkundige Leser weiß, wird Palinurus ja trotz seiner Wachsamkeit von den Göttern perfide getäuscht und muss seine nautischen Kompetenzen mit dem Leben bezahlen. Sucht Eumolp also mit seiner Abwandlung Encolp und Giton gezielt zu manipulieren und von einer möglichen Flucht abzuhalten? Und fällt Palinurus’ tragisches Schicksal vielleicht sogar auf ihn zurück, wenn er sich implizit als alter ego des Steuermanns interpretiert? Wir werden im Kapitel 3 auf diese Frage nochmals zurückkommen.27 Vorerst müssen wir uns aber mit einem anderen Aspekt beschäftigen, der die poetologische Fährte nochmals verstärkt und den weiteren Handlungsverlauf andeutet: Ich meine das Motiv der Seekrankheit.

2. Exonerabat stomachum nausea gravem: Die Tücken der Seekrankheit Auf den ersten Blick scheint Gitons Idee, Eumolp könne mit der Behauptung, sein Reisegefährte sei seekrank,28 tatsächlich das sofortige Anlaufen eines Hafens erwirken, reichlich naiv. Wie denn auch Eumolp prompt einwendet, ist ein solcher Täuschungsversuch kaum überzeugend: Wird Reiseübelkeit doch erst auf hoher und durch allzu raue See ausgelöst, wenn das Schiff im Auf und Ab der Wogen nicht mehr Kurs halten kann und ins Schlingern gerät. Für uns sind in dem Wortwechsel zwischen Giton und Eumolp zwei Dinge relevant: Zum einen fällt der einschlägige Begriff für die Seekrankheit, nausea, an dieser Stelle – noch! – nicht;29 vielmehr soll dem Steuermann (und dem Leser) der geradezu sterbenselende Zustand eines seeempfindlichen Reisenden möglichst plastisch vor Augen treten.30 Die Seekrankheit selbst wird dagegen erst in dem Moment beim Namen genannt, in dem sie dann auch tatsächlich eintritt: Wort und Handlung stehen in einem direkten Zusammenhang. 24 Petron. 102,3: quis enim non euntes notabit? utique gubernator, qui pervigil nocte siderum quoque motus custodit. et utcumque imponi nihil dormienti posset, si per aliam partem navis fuga quaereretur; nunc per puppim, per ipsa gubernacula delabendum est. Zur Deutung der Himmelszeichen als poetologisch interpretierbarer Aufgabe der Seeleute siehe den Beitrag von Haß in diesem Band (siehe oben, S. 273–282). 25 So das in beiden Texten verwendete Verb delabi und die Beobachtung der Sterne in Verg. Aen. 5,852f.: clavumque adfixus et haerens/nusquam amittebat oculosque sub astra tenebat. 26 Patimo 2002, 48–51 unter Verweis auf Verg. Aen. 5,838–840 (Herabgleiten des Gottes Somnus); 5,842–846 (verführerischer Überredungsversuch); 5,844 und 855–857 (Schlaf unter göttlichem Zwang). Ebenso Habermehl 2006, 355. 27 Siehe unten, S. 336–341. 28 Petron. 101,8, vgl. dazu Kapitel 1 (siehe oben, S. 332–334). Zur Seekrankheit unter poetologischer Perspektive vgl. auch den Beitrag von Höhler im vorliegenden Band (siehe oben, S. 144–148). 29 Giton umschreibt den Zustand mit impatientem maris fratrem in ultimis esse (Petron. 101,8). 30 Zum semantischen Spektrum von nausea OLD s. v.: „sea-sickness – a feeling of sickness – a feeling of disgust, loathing“; in übertragenem Sinne bezeichnet der Begriff zweimal in der cena Trimalchionis (Petron. 64,7: catellam [. . .] nausea recusantem saginabat; Petron. 78,5: ibat res ad summam nauseam) den übelkeiterregenden Ekel.

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Werfen wir also zunächst einen Blick auf die entscheidende Szene: Nachdem alle möglichen Fluchtwege erörtert und verworfen wurden, setzt sich Eumolp mit der Anregung durch, Encolp und Giton als Strafgefangene zu maskieren. Als die Helden zur Ausführung schreiten, werden sie aber von einem Augenzeugen ertappt (Petron. 103,3–6): non est dilata fallacia, sed ad latus navigii furtim processimus, capitaque cum superciliis denudanda tonsori praebuimus. implevit Eumolpus frontes utriusque ingentibus litteris, et notum fugitivorum epigramma per totam faciem liberali manu duxit. unus forte ex vectoribus, qui acclinatus lateri navis exonerabat stomachum nausea gravem, notavit sibi ad lunam tonsorem intempestivo inhaerentem ministerio, execratusque omen, quod imitaretur naufragorum ultimum votum, in cubile reiectus est. nos dissimulata nauseantis devotione ad ordinem tristitiae redimus, silentioque compositi reliquas noctis horas male soporati consumpsimus. Wir begannen gleich mit der Tarnung, schlichen an eine Seite des Schiffes und ließen unseren Kopf nebst Augenbrauen vom Barbier (einem Diener Eumolps) glattrasieren. Eumolp malte uns beiden riesige Buchstaben auf die Stirn und zog uns schwungvoll das bekannte Zeichen für flüchtige Sklaven übers ganze Gesicht. Zufällig merkte einer der Passagiere, der über Bord hing und seinen seekranken Magen erleichterte, wie der Barbier bei Mondschein sein unzeitiges Handwerk trieb, verfluchte den Ritus, der an die letzten Gelübde Schiffbrüchiger erinnere, und wankte in seine Koje zurück. Wenn wir auch so taten, als überhörten wir die Verwünschung des Seekranken, so befiel uns doch wieder die alte Niedergeschlagenheit, und wir legten uns still nieder und verbrachten die restlichen Nachtstunden in unruhigem Schlaf.

Die Seekrankheit, die ja ursprünglich nur als trügerisches Gedankenspiel eingeführt wurde, gewinnt hier unversehens eine reale Kraft und unkontrollierbare Eigendynamik. Denn nun ist es just ein von Übelkeit geplagter Passagier, der das Geschehen beobachtet und als ein schlechtes Omen deutet. Eumolps Plan hatte Encolp und Giton eigentlich ja nur deshalb überzeugt, weil er verhieß, ihr persönliches Risiko und angstvolles Unbehagen auf ein Minimum zu reduzieren. Nun wird aber ihrem Vorhaben durch den unerwarteten Eingriff eines Dritten seine vermeintliche Sicherheit entzogen. Folgerichtig springt das körperliche Unwohlsein des anonymen Passagiers auf die Köpfe der Romanhelden über: Sie suchen zwar die Verwünschung zu überhören, sehen sich dadurch aber gedanklich mit ganz ähnlichen Turbulenzen wie der Seekranke konfrontiert. Dagegen kann sich der Leser in seinem ersten Anfangsverdacht eines tatsächlich aufziehenden Seesturms bestätigt sehen. Und neben dem anonymen Seekranken ist es auch diesmal wieder Eumolp, der als Initiator der unheilbringenden Kopfschur die Intensivierung der Sturmvorzeichen hauptsächlich zu verantworten hat. Wir können daher als erste Zwischenbilanz festhalten, dass die Helden – und allen voran Eumolp – zunächst in ihrer eingehenden Beratung einen Seesturm geradezu herbeigeredet haben. Und auf das Wort folgt nun die Tat, mit der sie unbedacht die Naturgewalten der hohen See aktivieren – auch wenn die endgültige Entfesselung des Sturms noch einige Zeit verzögert wird. Zweitens fällt auf, dass in unserer Szene die Vokabel nausea gleich zweimal verwendet wird. Im nervösen Magen des Seekranken und im unruhigen Schlaf der Romanhelden kündigen sich die ungleich bedrohlicheren Turbulenzen des Seesturms nunmehr ganz unverkennbar an. Und drittens nährt die Szene neue Zweifel, ob der ingeniöse Eumolp wirklich dazu in der Lage ist, das von ihm initiierte Geschehen zu kontrollieren.

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3. Sub diaeta magistri: Vom Ersatzsteuermann zum schiffbrüchigen Poeten Wenden wir uns nun dem eigentlichen Seesturm zu: Die Bühne zum ‚großen Showdown‘ auf dem Meer wird vom Erzähler Encolp in betont erhabenem Gestus durch die Einblendung eines Tragödienzitats vorbereitet: Das einleitende inhorruit mare – „die See wurde rau“ – stammt aus einer berühmten und mehrfach zitierten31 Sturmszene des Pacuvius, die ihrerseits in einem vergilischen Pendant einen wörtlichen Nachhall findet32 und den Leser auf eine wachsende Dramatik der Handlung vorbereitet. Spätestens mit dem Spiel der Wogen und Winde und dem totalen Orientierungsverlust des Steuermanns – zwei klassischen Eposmotiven33 – sollte jedem Leser der Ernst der Lage vor Augen stehen. Wie ein genauerer Abgleich mit Vergil verdeutlicht, wird zudem durch auffällig enge Reminiszenzen erneut ganz konkret auf die Figur des Palinurus verwiesen, anhand von dessen versagender Kunst dem Leser die existenzielle Gefahr vor Augen geführt wird.34 Nur wenige Zeilen nach der letztmaligen Erwähnung des jeglicher Sicht beraubten Steuermanns35 wird dann der Schiffsbesitzer Lichas mitten in seiner verzweifelten, gleichfalls dem Epos entlehnten Rede36 von einer Sturmböe erfasst und ins Meer hinabgerissen.37 Mit diesem dramatischen Überbordgang rückt nun unvermittelt der Schiffsbesitzer und Kapitän Lichas38 nicht nur in die Position des bisher anonymen Steuermanns ein,39 sondern erhält auch eine epische Färbung: Gehört doch der im Sturm vom Schiff gerissene Steuermann seit Homers Odyssee40 zum festen Erzählinventar und leitet mit seinem tragischen Tod stets die letzte Phase des Seesturms und den endgültigen Untergang des Schiffs ein. Ja, man wird in konsequenter Weiterführung von Patimos intertextuellen Befunden so weit gehen dürfen, Lichas’ Sturz ins Meer nun als eine gezielte Fortschreibung der Palinuruserzählung zu deuten; mit Lichas’ Ende wird demnach die Rolle der vergilischen Identifikationsfigur unversehens auf den Schiffskapitän übertragen. 31 So bei Cic. orat. 3,157; Non. p. 423,6; Iul. Vict. rhet. P. 251 Or. 32 Pacuv. inc. 45 (TRF Ribbeck): interea prope iam occidente sole inhorrescit mare,/tenebrae conduplicantur, noctisque ét nimbum obcaecát nigror,/flamma inter nubes coruscat, caelum tonitru contremit; Verg. Aen. 3,195: inhorruit unda. 33 Verg. Aen. 3,192–202; Lucan. 5,620–653. 34 Verg. Aen. 3,200–202: excutimur cursu et caecis erramus in undis./ipse diem noctemque negat discernere caelo/nec meminisse viae media Palinurus in unda; zur Stelle und ihrer Analogie bei Petron eingehend Patimo 2002, 56–58. 35 Petron. 114,3: tum spissae repente tenebrae lucem suppresserant, ut ne proram quidem totam gubernator videret. 36 Siehe Hom. Od. 5,299–312; Verg. Aen. 1,37–49; Lucan. 5,654–671. 37 Petron. 114,1–6. Zu einem solch tragischen Tod auf dem Meer ist Lichas, wie der kundige Leser längst erahnt haben muss, bereits durch seinen sprechenden Namen prädestiniert (so bereits notiert bei Barchiesi 1984, 173–175; Habermehl 2006, 338; Faller 2007, 72–74). Denn im Mythos war Lichas der Unglücksbote, der seinem Herrn Herakles unwissentlich das giftige Gewand der Deianeira überbracht hatte und deshalb von Herakles an einem Meeresriff zerschmettert wurde: Apollod. 2,7,7; Hyg. fab. 36. 38 In dieser Doppelfunktion führt Eumolp Lichas bei der nächtlichen Beratung unter Bord ein, siehe Petron. 101,4: Lichas Tarentinus, homo verecundissimus et non tantum huius navigii dominus, quod regit, sed fundorum etiam aliquot; vgl. 101,10: quod forsitan Lichas officii causa visere languentem desiderabit. Zur möglichen, wenn auch seltenen Personalunion von Schiffsbesitzer und Kapitän Casson 1971, 316 Anm. 70; Habermehl 2006, 338 im Verweis auf Lucan. 5,515 (rectorem dominumque ratis); Faller 2007, 65. 39 So bereits hypothetisch vorgeschlagen von Faller 2007, 73 Anm. 38. Der Steuermann wurde bereits mehrfach erwähnt, so Petron. 102,3; 108,8 und 12; 114,1–3; er blieb stets namenslos, wird aber als eine Respektsperson mit unstrittiger Autorität gezeichnet. 40 Hom. Od. 12,410–414; Verg. Aen. 1,115–117.

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Der Überbordgang des Lichas setzt zudem eine ungeahnte Dynamik in Gang. Diese führt zu einer rasanten Sequenz von ‚Bühnenabgängen‘ und Beinahe-Todesszenen,41 die aber, wie der vergilkundige Leser bereits ahnt, durchweg nicht mehr zu einem echten Tod führen (können). Denn Palinurus wurde bekanntermaßen als „einer für alle“ an Neptun geopfert.42 Nehmen wir also die Aeneis als großflächig eingesetzten Subtext der Seereise ernst, dann darf nach Lichas kein weiteres Mitglied der Besatzung mehr sterben! Zunächst wird nun also Lichas’ Ehefrau Tryphaena in ein Boot verfrachtet und damit „dem sichersten Tod entführt“.43 Ihre abrupte Entfernung aus der Handlung erinnert unweigerlich an den Abtritt eines Schauspielers. Weiter bestätigt wird der Eindruck eines Bühnenstücks, wenn sich nun auch Encolp und Giton theatralisch aneinanderfesseln und gemeinsam ins Meer stürzen wollen – ein dramen- und romantypisches Szenario,44 das dann freilich durch zur Rettung herbeieilende Fischer nicht zur Ausführung kommt. Daher können sich die Freunde nun ihrerseits um Eumolps Rettung bemühen. Zu ihrer großen Verwunderung finden sie den Dichter unter Deck mit der furiosen Schöpfung eines großen Machwerks beschäftigt (Petron. 115,1–5): audimus murmur insolitum et sub diaeta magistri quasi cupientis exire beluae gemitum. persecuti igitur sonum invenimus Eumolpum sedentem membranaeque ingenti versus ingerentem. mirati ergo quod illi vacaret in vicinia mortis poema facere, extrahimus clamantem, iubemusque bonam habere mentem. at ille interpellatus excanduit et: “sinite me”, inquit, “sententiam explere; laborat carmen in fine.” inicio ego phrenetico manum, iubeoque Gitona accedere et in terram trahere poetam mugientem. Wir hörten unter der Kajüte des Schiffsleiters ein sonderbares Murmeln, wie das Knurren eines Raubtiers, das einen Ausgang sucht. Also gehen wir der Stimme nach und finden Eumolp, der dasitzt und ein riesiges Pergament mit Versen beschreibt. Wir staunten, dass er so nah dem Tod zum Dichten Zeit fand, zerren ihn trotz seiner Proteste hervor und verlangen, er solle Vernunft annehmen. Er aber, bleich vor Zorn über die Störung, schrie: „Lasst mich die Sentenz vollenden! Das Gedicht müht sich ab am Ende.“ Ich packe den Tobenden und rufe Giton zu Hilfe, um den brüllenden Dichter an Land zu ziehen.

Unter poetologischen Aspekten ist zunächst einmal der Schauplatz bemerkenswert: Die „Kajüte des magister“ verstehe ich als eine zumindest als Gedankenspiel lancierte Metalepse in dem Sinne, dass Eumolp nun womöglich die Kontrolle über das nunmehr führerlos dahintreibende Schiff übernehmen und damit der Romanerzählung eine Wendung in seinem Sinne geben 41 Der Beinahe-Tod zumal der Hauptcharaktere ist ein allgegenwärtiges Leitmotiv im Satyricon, das in verschiedenen Settings wiederkehrt, so Petron. 9 (sexueller Übergriff des Ascyltos auf Giton als Persiflage der Lucretia-Geschichte); Petron. 19 (Encolps Todesnähe in der Orgie der Quartilla); Petron. 78 (Trimalchios inszenierter Tod); Petron. 80 (erotische Eifersuchtsszene zwischen Encolp und Ascyltos mit Anspielung auf den thebanischen Brudermord); Petron. 94,8 (Encolps geplanter Selbstmord durch Erhängen); Petron. 108,9–11 (gespielter Selbstmord bei der Prügelei auf Deck). 42 Verg. Aen. 5,813–815: tutus, quos optas, portas accedet Averni (scil. Aeneas)./unus erit tantum amissum quem gurgite quaeres;/unum pro multis dabitur caput. 43 Petron. 114,7: abduxere certissimae morti. 44 Zum dramatischen Einfluss Panayotakis 1995, 157f. und Slater 1990, 112: „Encolpius and Giton respond in the only way they know: they play the tragic lover’s death scene“; zu novellistischen Parallelen Fröhlke 1977, 56 und Schmeling/Setaioli 2011, 438 unter Verweis auf Ach. Tat. 3,5,4 und Heliod. 5,24; Xen. Eph. 3,2,12f.

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könnte.45 Angesichts seiner poetischen Kompetenzen wäre es ja nur folgerichtig, wenn der Dichter seinen Ambitionen als Schiffsleiter nicht am Steuerruder, sondern durch die Produktion von Versen gerecht zu werden suchte. Das reale Schiff scheint damit endgültig mit seinem literarischen Pendant zu verschmelzen. Falls dem so ist – wohin steuert dann der Dichter dieses Schiff? Mögliche Antworten sind abhängig von der Frage, wie Eumolps Handeln im Text bewertet wird und wie der Vergleich mit dem „knurrenden Raubtier, das einen Ausgang sucht“ zu verstehen ist. Der unerwartete Einbruch eines derart befremdlichen Moments, das im Erzählkontext keinerlei Motivation und Verankerung findet, und die gesuchte Entlehnung aus dem Tierreich lenken einen versierten Leser auf eine ganz bestimmte intertextuelle Spur: Hinter dem brüllenden Untier Eumolp enthüllt sich, wie in der Forschung schon längst erkannt ist,46 Horazens berühmte Beschreibung des wahnsinnigen Dichters (poeta vesanus) am Ende der Ars poetica (470–476):47 nec satis apparet cur uersus factitet, utrum minxerit in patrios cineres, an triste bidental mouerit incestus; certe furit, ac uelut ursus, obiectos caueae ualuit si frangere clatros, indoctum doctumque fugat recitator acerbus; quem uero arripuit, tenet occiditque legendo, non missura cutem nisi plena cruoris hirudo. Auch ist nicht aufgeklärt, was ihn dazu verdammt, ewig Verse zu schmieden. Hat er seines Vaters Asche besudelt, hat er ein fluchtragendes Blitzmal angetastet und büßt nun die Entweihung? Jedenfalls ist er gestört; und wie der Bär, dem es gelang, die Sperrgitter des Käfigs zu durchbrechen, so scheucht mit ungenießbarem Vortrag der Verseschmied alles Volk, gelehrtes und ungelehrtes, aus dem Wege. Wen er aber packen konnte, den stellt er und bringt ihn um durch sein Vorlesen: Der Blutegel lässt die Haut nicht los, ehe er mit Blut sich vollgesogen hat.

Eine besondere Qualität und Strahlkraft erhält das intertextuelle Vexierbild dadurch, dass der novellistische Text nicht nur punktuell und zitathaft auf das horazische Vorbild anspielt, sondern es einerseits in eine konkrete Handlung umsetzt und andererseits konsequent mit der bisherigen Figurenzeichnung des Dichters Eumolp zur Deckung bringt: Hatte der tobende Bär ursprünglich in der Ars nur auf der Bildebene zur gleichnishaften Veranschaulichung (velut ursus) des poetischen furor gedient, so mutiert nun Eumolp buchstäblich zum ekstatisch brüllenden (bzw. „muhenden“) Dichter, in dessen Person die Grenzen zwischen Mensch, Tier und gotterfülltem vates verschwimmen.48 45 Auf die auffällige Ortsangabe weist bereits Schmeling 1994, 163f. hin, allerdings mit anderen Schlussfolgerungen; er sieht zwar auch einen Konnex zwischen Lichas und Eumolp, betont aber vor allem den Gegensatz zwischen Lichas als einem Experten der Nautik und kompetenten Deuter des Wetters, der Tiden, Winde, der See und Seerouten, und dem Dichter Eumolp, der die Gefährdung des Schiffs nicht einmal bemerke, aber im Gegensatz zu Lichas den Sturm überlebe. Vgl. auch Anm. 55f. (siehe unten, S. 341). 46 Labate 1995, 157; Conte 1996, 58; Connors 1998, 144; Courtney 2001, 175; Schmeling/Setaioli 2011, 439. 47 Alle Horazübersetzungen in Anlehnung an Färber 1985. 48 Wenn Encolp seinen Gefährten Eumolp als poetam mugientem (Petron. 15,5) bezeichnet, dann ruft dies unweigerlich Assoziationen zur vergilischen Sibylle in Erinnerung, die in ihrer cumeischen Höhle unter Apolls Einwirkung

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Angesichts einer so tiefgreifenden Identifikation Eumolps mit dem poeta vesanus überrascht es kaum, dass die Charakteristika des letzteren weit über die Sturmszene hinaus für die novellistische Dichterfigur geltend gemacht werden können: In der Tat rufen sowohl die in der Ars erwähnte unerklärliche Manie des Verseschmieds als auch die Junktur des recitator acerbus, der sein gelehrtes wie ungelehrtes Publikum in die Flucht treibt und sich ihm wie ein Blutegel ansaugt, unweigerlich frühere Romanszenen und zumal die erste Begegnung zwischen Encolp und Eumolp in Erinnerung.49 So sehr nun eine solch intertextuell vertiefte Charakterisierung des Dichters Eumolp unmittelbar einleuchtet, so wenig scheint mir damit freilich das poetologische Potenzial dieser Horazreferenz bereits ausgeschöpft. Allzu wenig hat man meiner Meinung nach insbesondere danach gefragt, welches höhere Ziel einerseits der poeta vesanus und andererseits der Poet Eumolp in seinem unkontrollierten furor erreichen will. Es lohnt sich daher, einen Blick auf die dem Tiervergleich vorausgehende Partie der Ars poetica zu werfen, die eben diese Frage diskutiert (Hor. ars 455–469): vesanum tetigisse timent fugiuntque poetam, qui sapiunt; agitant pueri incautique sequuntur. hic dum sublimis versus ructatur et errat, si veluti merulis intentus decidit auceps in puteum foveamve, licet “succurrite” longum clamet “io cives!”, non sit, qui tollere curet. si curet quis opem ferre et demittere funem, “qui scis an prudens huc se deiecerit atque servari nolit?” dicam, Siculique poetae narrabo interitum. “deus inmortalis haberi dum cupit Empedocles, ardentem frigidus Aetnam insiluit. sit ius liceatque perire poetis; invitum qui servat, idem facit occidenti. nec semel hoc fecit nec, si retractus erit, iam fiet homo et ponet famosae mortis amorem.” Wer gescheit ist, weicht dem wahnsinnigen Dichter aus und rettet sich; höchstens hänseln die Buben ihn und sind so unvorsichtig, ihm nachzulaufen. Wenn er dann erhabenen Hauptes nachtwandelt und Verse herausrülpst, kann es geschehen, dass er, wie der Vogelfänger im Eifer der Amseljagd, in den Brunnen oder in eine Grube stürzt. Da mag er weithin hörbar schreien „helft, Leute, helft mir!“: Schwerlich wird Neigung sein, ihn herauszuziehen. Wollte wirklich jemand ihm beispringen und ein Seil hinunterlassen, werde ich zu ihm sagen: „Woher weißt du, ob der sich nicht absichtlich hineingestürzt hat und Rettung übelnimmt?“ Ich werde ihm vom Ende des Sizilischen Dichters erzählen: „Empedokles war es; der wollte in eine ähnlich rasende Ekstase gerät (Aen. 6,77–101); der epische Prätext ist sogar durch die wörtliche Wiederaufnahme des Verbs mugire ausdrücklich markiert, siehe Aen. 6,98–100: talibus ex adyto dictis Cumaea Sibylla/ horrendas canit ambages antroque remugit,/obscuris vera involvens. 49 Zu denken ist v. a. an die Vertreibung Eumolps aus der Pinakothek durch Steinwürfe von Flaneuren und an Encolps konsternierte Frage, was denn diese krankhafte Versproduktion solle (Petron. 90,1–6). Vgl. auch die Publikumsreaktionen in Petron. 92,5f.; 93,1–3; 109,8–110,1. Vgl. Labate 1995, 157: „nessuna formula può descrivere meglio dell’oraziano recitator acerbus l’accanita perseveranza con cui il nostro poeta si ostina a riproporre sempre nuove e sempre poco fortunate performances.“ Auch auf dem Weg nach Croton wird Horaz erneut aktuell, wenn nämlich Eumolp seine eigene, dubiose Theorie zur ‚wahren Dichtkunst großer Genies‘ entwickelt und damit unbewusst die Ars poetica persifliert.

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Ulrike Egelhaaf-Gaiser als göttliches Wesen gelten und sprang kaltblütig in die Gluten des Ätna. Man lasse den Dichtern das Recht und die Freiheit, sich umzubringen. Lebensmüden das Leben retten, ist Gewalttat gleich der Mordtat. Der hier tat das nicht zum ersten Mal, und zieht man ihn heraus, wird er doch nicht wie andere Menschen und lässt nicht von seiner Vorliebe für einen Lebensschluss, der von sich reden macht.“

Die horazische Lehrerfigur lanciert hier im Verweis auf den ebenso kuriosen wie gesuchten Tod des Empedokles die Idee, dass sich der poeta vesanus nicht etwa, wie zweifellos jeder normale Mensch denken würde, aus reinem Versehen, sondern absichtsvoll in eine derart ausweglose Situation gebracht hat, um auf diesem Weg – analog zu dem großen Lehrdichter – seine eigene literarische Apotheose zu erreichen. In einem solchen Fall wäre – so warnt der Sprecher nachdrücklich – jeglicher Rettungsversuch nicht nur sinnlos und vergeblich, sondern auch ausdrücklich unerwünscht!50 Für einen Petronleser stellt sich nun die Frage, was uns dieses ganz neue, vermittels des horazischen Prätexts unterbreitete Deutungsangebot über die Absichten des Dichters Eumolp, die Situationsbewertung seitens des Erzählers Encolp und, nicht zuletzt, über die Sicht des Romanerzählers verraten kann: Ist mit dem exire lediglich auf der Bildebene ein Ausbruch aus einem Tierkäfig bezeichnet – oder könnte damit auch auf einen Wunsch des Dichters nach einem außergewöhnlichen Lebensende angespielt sein, das in aller Munde bleibt? Wäre weiterhin eine solche Doppeldeutigkeit wohl eher Encolp oder der Instanz des Romanerzählers zuzuordnen? Unstrittig ist in jedem Fall, dass in der Szene gleich durch mehrere Textsignale eine extrem dichte Endstimmung erzeugt wird: Laut Encolp erfolgt Eumolps schöpferische Gedichtproduktion „in der unmittelbaren Nachbarschaft des Todes“ (in vicinia mortis); Eumolp ringt dagegen nach eigener Aussage mit aller Kraft darum, sein gigantisches Werk, das er auf einem riesigen Pergament verewigt hat, mit einem grandiosen Schlussakkord zu beenden (laborat carmen in fine). Meiner Meinung nach bleibt dabei durchaus absichtsvoll ungesagt, woran genau Eumolp arbeitet; alle Forschungsspekulationen, ob mit dem gewaltigen Stoff das später rezitierte Bürgerkriegsepos51 oder aber ein episches Sturmgedicht gemeint sei,52 scheinen mir insofern problematisch, als sie eine bewusst unkonkret belassene Leerstelle unbedingt zu vereindeutigen suchen. Wichtiger scheint mir, dass zumindest der Romanerzähler durch seinen deutlich lancierten Horazbezug die Möglichkeit nicht ausschließt, dass Eumolp analog zum poeta vesanus mitten in einem poetischen furor sterben will. Ein solch glorreicher Dichtertod würde dann auch alle vorher erwähnten Todes- und Scheintodszenen mit einem ultimativen Schlusspunkt vollenden und überbieten.53 50 Dass allerdings der horazische Sprecher die soeben unterstellte Todessehnsucht selbst nicht ganz ernst nimmt, legen die deutlichen Divergenzen und die dadurch bedingte Fallhöhe zwischen Empedokles’ (angeblich) kaltblütigem Feuertod im Ätna und dem banalen Unfall eines selbstvergessenen ‚Sternguckers‘ nahe. 51 Dies postulieren die meisten Forscher, so Cucchiarelli 1998, 137f.; Connors 1998, 141; Schmeling/Setaioli 2011, 439f. 52 Conte 1996, 57f.: „I suspect that his friend, the scholasticus and poet Eumolpus, had shut himself below deck while the storm raged to write a poem about the storm itself [. . . ]. Nothing in the text says outright that Eumolpus is busy producing a fine mannerist piece on the storm, but the sound of his verses is certainly lofty and booming.“ 53 Wundersame Dichtertode waren ein topisches Element hellenistischer Dichterbiographien (Fairweather 1974). Der kuriose Tod des Empedokles reiht sich hier in eine reiche Tradition ähnlich ungewöhnlicher Todesfälle ein:

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Schwieriger ist dagegen eine Aussage über die Perspektive des Dichters, da der Text sich hierzu geflissentlich ausschweigt: Hat Eumolp, wie Encolp voller Staunen behauptet, in seinem furor poeticus die drohende Lebensgefahr schlichtweg nicht wahrgenommen?54 Oder sucht der Dichter tatsächlich seinen Tod auf hoher See,55 und verkennt sein bekanntermaßen naiver Freund Encolp nur diese hochfliegenden Ambitionen? Letztlich lässt sich – und auch dies kann bereits der horazische Prätext lehren – über die Handlungsmotive eines wahnsinnigen Dichters nur spekulieren, da sein abnormes Verhalten jedem Beobachter (und Leser!) mit gesundem Menschenverstand rätselhaft bleibt. Ob Eumolp nun einen denkwürdigen Dichtertod erstrebt oder nicht – in jedem Fall bleibt ihm (analog zum horazischen poeta vesanus, der ja ebenfalls seinen Brunnensturz überlebt!) diese allerletzte ‚Ehre‘ versagt. Dabei scheitert Eumolp – und darin liegt zweifellos eine witzige Pointe der intertextuellen Aktualisierung – nicht am Format oder Stoff seines enormen carmen,56 sondern vielmehr just an der unerwünschten Intervention allzu hilfreicher Beobachter, vor der der horazische Sprecher seinen Leser so nachdrücklich gewarnt hatte: Pikanterweise ist es ausgerechnet der literaturfanatische Encolp, der mit Gitons Hilfe den Dichter auch gegen dessen vehementen Widerstand ans rettende Ufer zieht und damit nicht nur die Option auf einen glorreichen Dichtertod zunichte macht, sondern zugleich auch durch die komplette Verkennung des horazischen Vorbilds seinen Selbstanspruch als gebildeter scholasticus unterminiert. Insofern erleiden letztlich beide Romanhelden, Eumolp wie Encolp, literarischen Schiffbruch. siehe etwa Aischylos, der von einer Schildkröte erschlagen worden sein soll, die ein fliegender Adler fallen ließ; Homer, der aus Kummer über ein ungelöstes Rätsel gestorben sei; Sophokles, der aus Freude über seinen Sieg im Dichterwettstreit verstorben sei (Val. Max. 9,12 ext. 2–3 und 5). Zudem ergibt sich, wie Fröhlke 1977, 57 richtig anmerkt, ein bemerkenswerter intratextueller Konnex von der Sturmszene zu den in Eumolps Kunstdebatte in der Gemäldegalerie erwähnten Künstlerfiguren Demokrit, Eudoxos, Chrysipp und Lysipp (Petron. 88,3–5), die in der passionierten Ausübung ihrer Kunst sogar bereit sind, Hungers zu sterben. Eine solch auffällige Motivverknüpfung könnte die Annahme einer bewussten Imitation solch renommierter exempla der ‚alten Zeit‘ (einschließlich ihres Todes) seitens Eumolps stützen. 54 Dies postulieren sowohl Fröhlke 1977, 57 als auch Schmeling 1994, 163f. (ebenso Schmeling/Setaioli 2011, 440), die dabei aber nicht hinreichend scharf zwischen den verschiedenen Perspektiven der Erzähler und Figuren scheiden, sondern Encolps Sicht als objektive Darstellung lesen. Differenzierter dagegen Beck 1979, 247: „Eumolpus is in the throes of poetic composition and oblivious to all danger. That this is carrying dedication to his Muse to excess no one would deny. But the description of the scene is entirely coloured by Encolpius’ half amused and half exasperated feelings toward his friend.“ 55 Eine bewusste Todessehnsucht wird Eumolp von Fröhlke 1977, 57 ausdrücklich abgesprochen: „Bei Petron strebt Eumolp weder nach Rettung, noch nach einem Ruhm verleihenden Tod. Er wird während des Dichtens vom Seesturm überrascht, hat den Tod also nicht bewusst gewollt. Jedoch ist er so im Banne des Schaffensrausches, dass er sich weder um sein Leben, noch um andere Dinge sorgt, sondern nur um sein Gedicht, weshalb er gewaltsam an Land gezogen werden muss.“ Von einer Überraschung durch den Sturm ist im Text nicht die Rede; es scheint mir dagegen viel plausibler, mit Conte 1996, 57 davon auszugehen, dass der Seesturm quasi auf den Dichter überspringt und seinen poetischen furor überhaupt erst auslöst. 56 Pace Connors 1998, 143: „Eumolpus’ poetic composition is interrupted not only by the storm but by the intractability of the poem itself. Eumolpus uses the verb laborare to signify the difficulties of his poem; it can be used of a foundering ship as well.“ So sehr ich den poetologischen Ansatz von Connors prinzipiell teile, so wenig überzeugt mich ihre Gleichsetzung von laborare mit ‚untergehen/sinken‘: laborare bezeichnet ein ‚sich abmühen‘, durchaus auch ein ‚in Not/Bedrängnis/Gefahr sein‘ (ThlL s. v. laborare, 806, 48f.), aber es umschreibt damit ausnahmslos Stadien vor einem Untergang oder Schiffbruch. Und nirgends ist im Text davon die Rede, dass der Sturm oder die Widerständigkeit des gewählten poetischen Stoffs zu einem Abbruch der Dichtung führe.

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4. Fluctibus obruto non contingit sepultura: Bestattete Schiffseigner und Steuermänner Der ausgreifende Erzählbogen der Seereise ist mit dem Stranden der Helden jedoch noch nicht beendet. Denn der nächste Morgen hält für die drei Überlebenden des Sturms noch ein trauriges Nachspiel bereit: Während sie über ihren künftigen Weg beraten, beobachtet Encolp, wie ein Ertrunkener an den Strand gespült wird. Der Anblick des in den Wogen treibenden Toten veranlasst den Helden prompt zu einem spontanen Lamento über die unwägbaren Gefahren des Meers, die den Menschen als Spielball des Schicksals erwiesen. Sein Gefühlsausbruch erfährt nochmals eine dramatische Steigerung, als er in dem Toten unversehens den Schiffseigner Lichas erkennt: Nicht nur sieht Encolp nunmehr das Leben der Menschen buchstäblich allerorts von Tod und Schiffbruch bedroht; unter dem Eindruck unausweichlicher Vergänglichkeit eröffnet er eine nachgerade philosophische Erörterung über die Nichtigkeit materieller Güter und stellt letztlich sogar den Sinn aller konventionellen Bestattungsrituale in Frage (Petron. 115,16–19): “si bene calculum ponas, ubique naufragium est. ‘at enim fluctibus obruto non contingit sepultura!’ tanquam intersit, periturum corpus quae ratio consumat, ignis an fluctus an mora! quicquid feceris, omnia haec eodem ventura sunt. ‘ferae tamen corpus lacerabunt!’ tanquam melius ignis accipiat! immo hanc poenam gravissimam credimus, ubi servis irascimur. quae ergo dementia est, omnia facere, ne quid de nobis relinquat sepultura?” „Recht betrachtet ist überall Schiffbruch. ‚Aber dem Ertrunkenen wird keine Bestattung zuteil!‘ Als ob etwas daran läge, welche Macht den vergänglichen Leib zerstört, Feuer, Flut oder Zeit. Was du auch tust, das Ende ist immer gleich. ‚Doch wilde Tiere zerfleischen den Leib!‘ Als ob das Feuer sanfter mit ihm umginge! Im Gegenteil, wir halten den Feuertod für die schlimmste Strafe, wenn wir Sklaven zürnen. Welche Narrheit also, alles aufzubieten, damit ja nichts von uns unbestattet bleibt!“

Spätestens in diesem Schlussteil der Rede wird durch die diatribentypischen Einwände eines interlocutors deutlich, dass es mit Encolps spontaner Trauer nicht so weit her ist, wie der erste Anschein glauben lässt. Stattdessen nimmt der Held den tragischen Tod eines (ungeliebten und feindlichen!) Reisegefährten offenkundig nur allzu gerne zum Anlass, um sich in die Pose eines pathetischen Trauerredners zu werfen und das bereits zum Topos geronnene DeklamationsThema des „an die Küste gespülten Toten“57 nach allen Regeln seiner (vermeintlichen) Kunst zu entfalten.58 Was mich allerdings viel mehr interessiert als die Einflüsse der kaiserzeitlichen Deklamation, ist die in der Forschung vernachlässigte Frage, ob der melodramatische Epilog zum Seesturm das Leitmotiv des Steuermanns und ganz konkret das epische Vorbild des Palinurus denn noch immer präsent hält. Ältere Forschungsarbeiten haben den Vergilbezug nur bis zur letztmaligen Erwähnung des anonymen gubernator59 oder, maximal, bis zum Überbordgang des Lichas60

57 Conte 1996, 61 im Verweis auf Ps.-Quint. decl. 6. 58 Conte 1996, 61–64 verweist auf dieBanalität der Phrasen und die wilde Mischung von Topoi aus der Tradition der consolatio und der laudatio funebris. 59 Patimo 2002. 60 Faller 2007, 73 Anm. 38.

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verfolgt; sie lesen die Auffindung des Toten am Strand auf einer neuen Folie, nämlich als intertextuellen Reflex auf Ovids in der Tat sehr ähnlich beschriebene Entdeckung des im Seesturm ertrunkenen Ceyx durch seine Geliebte Alcyone.61 Ich möchte diesen Einfluss der ovidischen Metamorphosen keineswegs in Zweifel ziehen, aber dennoch dafür plädieren, dass neben dieser melodramatischen Liebeserzählung doch nach wie vor auch das Geschick des Palinurus für die Petronszene eine zentrale Rolle spielt. Für den von Bord gefallenen Palinurus ist nämlich, wie der vergilkundige Leser weiß, die nicht vollzogene Bestattung ein virulentes Problem, da ihm dadurch die Überfahrt über den Styx versagt bleibt: Eben deshalb bittet der Totenschatten des Steuermanns den in die Unterwelt herabgestiegenen Helden Aeneas mit flehentlichen Worten, ihm doch durch eine reguläre Bestattung oder die Vermittlung der Venus zumindest die Ruhe in den friedlichen Gefilden der Unterwelt zu ermöglichen.62 Encolps pseudo-philosophische Ausführungen über die völlige Belanglosigkeit des Schicksals, das dem menschlichen Körper nach dem Tod zuteil werde, und die Narrheit der Menschen, die sich völlig grundlos um ihre Bestattung Sorgen machten, werden somit durch die Autorität des epischen Prätexts konterkariert. Wie konsequent die novellistische Auffindung des ertrunkenen Lichas mit dem Schicksal des Palinurus enggeführt wird, macht nochmals eine beiläufige Bemerkung im Rahmen der Bestattungszeremonie deutlich (Petron. 115,20–116,1): et Licham quidem rogus inimicis collatus manibus adolebat. Eumolpus autem dum epigramma mortuo facit, oculos ad arcessendos sensus longius mittit. * * * hoc peracto libenter officio destinatum carpimus iter [. . .] Den Lichas nun verzehrte der von Feindeshand errichtete Scheiterhaufen. Eumolpus aber wandte seinen Blick in die Ferne, um Gedanken herbeizulocken und dem Toten die Grabinschrift zu dichten. * * * Nachdem wir ihm bereitwillig diesen Pflichtdienst erwiesen hatten, traten wir den beabsichtigten Weg an [. . . ]

Trotz des fragmentarischen Textzustands erweist sich die explizite Erinnerung an die Feindseligkeiten zwischen Lichas und den Reisegefährten als bemerkenswert komplex und vielschichtig: Oberflächlich suggeriert die Randbemerkung dem Leser, dass die drei Überlebenden aus purem Mitleid mit dem Verstorbenen ihre Streitigkeiten begraben haben und ihm nun doch die letzte Ehre erweisen, wie es menschlicher Brauch und Anstand gebieten.63 Einem skrupulösen Leser drängt sich freilich die Frage auf, ob nicht ausgerechnet eine Brandbestattung durch Feindeshand auch eine (un)bewusste64 Rache an dem soeben noch als „schrecklich und unversöhnlich“ charakterisierten Lichas65 implizieren kann: Immerhin wird ja eine solche Bestrafung laut Encolps eigenen Worten sonst nur von zornigen Herren an ihren Sklaven vollzogen! Im Fall einer

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Ov. met. 11,710–728. Zum Ovidbezug Collignon 1892, 265–266; Conte 1996, 61–62; Courtney 2001, 175f. Verg. Aen. 6,363–371. Ähnlich Slater 1990, 113 Anm. 56. Der naive Charakter Encolps lässt eine solch hinterlistige Absicht wenig wahrscheinlich erscheinen und legt eher einen seitens der Romanfigur gar nicht bemerkten Bumerangeffekt nahe, der viel besser zur Instanz des distanzierten und häufig überlegenen Romanerzählers (= Contes hidden author) passt. 65 Petron. 115,11: terribilem paulo ante et implacabilem Licham.

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solch intentionalen Doppeldeutigkeit bekäme auch die abschließende Junktur peracto libenter officio einen neuen, ambiguen Unterton.66 Vor allem aber weckt die Strandbestattung des Lichas von Feindeshand ein letztes Mal Erinnerungen an den Steuermann Palinurus. Denn der war ja bekanntlich gar nicht bei seinem Absturz ins Meer ums Leben gekommen, sondern hatte nach tagelangem Umhertreiben bereits das rettende Ufer erreicht – nur um dann dort von einem feindlichen Italerstamm erschlagen zu werden.67 Für dieses besonders bittere Schicksal erhält Palinurus in der Unterwelt von der Sibylle die tröstliche Verheißung, die Götter würden für ihn bei der benachbarten Bevölkerung feierliche Totenopfer, ein Tumulusgrab (samt Heroenkult) und eine ehrende Namensgebung der Region erwirken.68 Welcher Mehrwert ergibt sich nun aber aus der unter der Lichasgeschichte durchscheinenden Beisetzung des Palinurus – und an wen ist diese intertextuelle Botschaft adressiert? Da sich der Ich-Erzähler Encolp bis zu diesem Zeitpunkt der Relevanz der vergilischen Erzählung, die seine eigene Seereise systematisch unterwandert, nirgends bewusst geworden ist, dürften ihm auch jetzt die Parallelen zwischen der letzten Ehrung für Lichas und Palinurus verborgen bleiben. Für den Leser erzeugt dagegen das novellistisch aktualisierte Ende der Palinuruserzählung eine subtile Tragikomik. Denn durch die implizite Analogie zum schicksalhaften ‚Bauernopfer‘ und eindeutigen Sympathieträger Palinurus gewinnt der Tod des „schrecklichen Lichas“ unversehens eine tragische Dimension, die ihm sonst wohl versagt bliebe. Zugleich entbehrt es nicht der Komik, dass just Lichas’ Gegenspieler in gewisser Weise dessen Heroisierung betreiben, indem sie unbewusst die Bestattung des Palinurus durch Feindeshand imitieren und sogar den Ort von Lichas’ Grab eigens durch ein literarisches Epitaph markieren. Diese Wirkung wird freilich – und hier stimme ich mit Contes Modell durchaus überein – vom Ich-Erzähler Encolp kaum beabsichtigt sein; die Botschaft dürfte vielmehr vom Romanerzähler quasi ‚an der Romanfigur vorbei‘ an den Leser gerichtet sein. Gilt nun aber dieselbe literarische Unbedarftheit auch für Eumolp, wenn dieser seinerseits ein improvisiertes Grabepigramm zur Bestattung beisteuert? Und wie passt diese poetische Miniatur zur furiosen Produktion einer möglichst grandiosen Dichtung auf hoher See? Sucht Eumolp immer noch unvermerkt das Geschehen zu steuern, oder hat er diese Ambitionen mit seiner unerwünschten Rettung aufgegeben? Mit diesen Fragen wollen wir uns in einem letzten Teilschritt auseinandersetzen.

66 So bereits Gkamou 2016, 16; auch diese unterschwellige Ironie geht allerdings meines Erachtens weniger auf das Konto des Icherzählers Encolp als auf das des Romanerzählers. Dagegen schließt Courtney 2001, 177 aus der Formulierung Encolps, dass all seine vergossenen Tränen für Lichas letztlich belanglos und schnell wieder vergessen seien. 67 Verg. Aen. 6,337–362. Auf die Strandung des Paliunurus, dessen Körper damit gerade nicht – wie sonst bei den meisten Schiffbrüchigen – im Meer verschollen bleibt und deshalb doch noch korrekt bestattet werden kann, weisen bereits Aeneas’ letzte Worte im fünften Buch hin (Aen. 5,870f.: o nimium caelo et pelago confuse sereno,/ nudus in ignota, Palinure, iacebis harena). 68 Verg. Aen. 6,377–382: sed cape dicta memor, duri solacia casus./nam tua finitimi, longe lateque per urbes/prodigiis acti caelestibus, ossa piabunt/et statuent tumulum et tumulo sollemnia mittent,/aeternumque locus Palinuri nomen habebit.

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5. Eumolpus epigramma mortuo facit: Ein poetischer Seesturm mit pointiertem Ende Der betont meditative Gestus, mit dem Eumolp seinen Blick auf der Suche nach Inspiration in die Ferne schweifen lässt, macht deutlich, dass Eumolp den Tod des Lichas zuerst und vor allem als ideale Gelegenheit zu einer erneuten Inszenierung seiner poetischen Kunst begreift: Wie der scholasticus Encolp beim Anblick des Toten prompt in die Rolle eines schulmäßigen Deklamationsredners schlüpft, so sieht sich der professionelle Dichter Eumolp zur Abfassung einer ingeniösen Grabinschrift berufen.69 Wenn nun Eumolp so demonstrativ eine typische Denkerpose einnimmt, stellt sich dem Leser unweigerlich die Frage, ob der Dichter die Bedeutsamkeit seines Improvisationsgedichts nicht heillos übertreibt: Macht sich Eumolp hier nicht ein weiteres Mal lächerlich, wenn er zwar zunächst auf hoher See mit seinem übergroßen, unvollendeten carmen unter Aufbietung aller Kräfte gerungen hat, dann aber am sicheren Meeresstrand tatsächlich nur ein Epigramm für den Alltagsgebrauch hervorbringt?70 Es darf mit guten Gründen bezweifelt werden, dass sich der Dichter Eumolp selbst der Unstimmigkeiten zwischen seinem hohen poetischen Anspruch und der tatsächlich allenfalls mittelmäßigen Qualität seiner Dichtung bewusst ist – so wenig wie er seine offenkundige Seelenverwandtschaft zum horazischen poeta vesanus (einschließlich von dessen finaler Verkleinerung zum Blutegel) realisiert.71 Daher wird man auch die Fallhöhe zwischen furioser Sturmdichtung und miniaturhaftem Grabgedicht kaum Eumolp als einer sich ihrer Konstruiertheit bewussten Romanfigur, sondern dem novellistischen Erzähler zuschreiben. Ungeachtet seines (vermeintlichen) Künstlerstatus erlangt Eumolp demnach auf die literarische Formung seines Charakters letztlich keinen metaleptischen Zugriff. Nichtsdestotrotz vermag er nach wie vor durchaus die Romanhandlung (mit)zusteuern: Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass just Eumolp, der ja überhaupt erst die Idee zu einer gemeinsamen Seereise geboren und seitdem den gesamten Reiseverlauf in seinem Wohl und Wehe immer wieder

69 Conte 1996, 65f. 70 Ein Leser, dem die vorausgehende Seesturmszene ja gerade eben das Ende der horazischen Ars so eindrücklich ins Gedächtnis gerufen hat, könnte sich vielleicht sogar implizit an ein komplementäres Bild am Anfang desselben Lehrbriefs erinnert sehen. Denn dort macht der Sprecher die Gefahr einer Unstimmigkeit zwischen künstlerischem Wollen und Können im Vergleich mit einem Töpfer deutlich, der zwar eine gewaltige Amphora formen will, dann aber nur ein bescheidenes Krüglein hervorbringt (Hor. ars 21–22: amphora coepit/institui: currente rota cur urceus exit?). Eine ganz ähnliche Pointe setzt der horazische Sprecher bezeichnenderweise auch am programmatischen Ende seines Lehrvortrags ein: Nachdem sich der poeta vesanus zunächst zu einem tobenden Bären ausgewachsen hat, bricht dieses imposante Tierbild unvermittelt in sich zusammen. Vom rasenden Raubtier bleibt letztlich nur ein lästiger Blutegel übrig (Hor. ars. 472–476). Einen engen Zusammenhang zwischen den horazischen Bildern am Werkanfang und -ende postuliert bereits Oliensis 2009, 470–473. 71 Dass Eumolp sich in der Tat nicht nur vor fremdem Publikum als großer Dichter inszeniert (Petron. 83,8), sondern sich tatsächlich als ein solcher einstuft, macht insbesondere sein pseudo-wissenschaftlicher Vortrag deutlich, in dem er die Freunde auf dem Weg nach Croton über die Qualitäten wahrer Dichtkunst belehrt (Petron. 118). Denn dort nimmt er in explizitem Verweis auf die horazischen Römeroden (Hor. carm. 3,1,1: odi profanum volgus et arceo) den „Drang“ (impetus) und die „göttliche Offenbarung einer begeisterten Seele“ (furentis animi vaticinatio) für sein (vermeintlich) grandioses Bürgerkriegsepos uneingeschränkt in Anspruch.

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subtil beeinflusst hat, nun auch mit seinem Epigramm auf den toten Lichas einen kleinen, aber pointierten Schlusspunkt setzt.72 Es wäre sogar zu überlegen, ob der poetische Schriftzug nicht nur auf der Handlungsebene Lichas’ Grab markiert, sondern letztlich auch die gesamte Episode symbolisch besiegelt. In einem solchen Fall würde der Schluss der Erzähleinheit implizit in die Nähe einer auktorialen Sphragis gerückt.73 Passen würde ein solcher Sphragis-Charakter nicht nur zur Gattung ‚Epigramm‘, sondern auch zu der haptischen Materialität, die bei solchen Aufund Inschriften stets mitschwingt. Dem gewaltigen Pergament, das Eumolp inmitten des Sturms mit seinen Versen gefüllt hat, wird demnach durchaus programmatisch eine Gedenkinschrift gegenübergestellt, die ihrerseits auf bleibende Dauer angelegt ist. Unsere Analyse führt somit zu der durchaus überraschenden Erkenntnis, dass ausgerechnet die Seereise, bei der heftige Turbulenzen und lebensbedrohliche Stürme bereits durch die lange literarische Tradition fest vorprogrammiert sind, keineswegs (wie sonst großflächig in den Satyrica) im unkontrollierten Chaos mündet, sondern vielmehr zu einem echten und sogar epigrammatisch akzentuierten Ende geführt wird. Man könnte darüber spekulieren, ob diese ungewöhnliche Geschlossenheit der Episode vielleicht auch, wenn nicht vor allem durch den singulären Sonderfall des tatsächlichen Todes einer Romanfigur (mit)verursacht ist. Bemerkenswert ist in jedem Fall die dadurch bedingte Aufwertung des Dichters Eumolp: Obwohl ihm das Steuer der Handlung inmitten des Sturms vorübergehend entglitten zu sein schien, wird ihm nun das Vorrecht zuerkannt, die Episode in einer typischen Dichterpose zu beenden. Zwar bleibt ihm damit das eigentlich gewünschte grandiose Finale verwehrt; aber auch ein epigrammatisches Leichtgewicht kann durchaus einen poetologischen Selbstwert gewinnen.

Fazit Welche Folgerungen ergeben sich nun aus unserer selektiven Szenenanalyse hinsichtlich des eingangs postulierten poetologischen Potenzials der Seereise, des Schiffbruchs und der Dichterfigur Eumolp? Auf der Figurenebene wäre als erste Neuerkenntnis das trickreiche Verwirrspiel um den Steuermann zu nennen, das von langer Hand aufgebaut wird: So bestärken Eumolps Argumente und Aktionen den Leser immer wieder in der Vermutung, dass sich der Dichter als eine zum

72 Pace Schmeling 1991, 368, der ein so schlichtes Grabepigramm als Ende der Seereise schlichtweg für ausgeschlossen hält; denn nach seiner Meinung wurden die einzelnen Episoden der Satyrica vorzugsweise mit einer witzigen Bemerkung oder überraschenden Pointe beschlossen, so wie sie sich an den beiden novellistischen Einlagen nachweisen lässt. Ganz abgesehen davon, wie sich ein alternativer und dezidiert witziger Erzählschluss mit Encolps Rückverweis hoc peracto libenter officio (Petron. 116,1) verbinden ließe, erfüllt meines Erachtens ein Grabepigramm in hohem Maße Schmelings eigenes Postulat eines pointierten Endes. 73 Dazu würde die These von Holzberg 2009, 220 gut passen, der seinerseits für die Schlussverse der horazischen Ars poetica einen ebensolchen Sphragis-Charakter postuliert hat. Bemerkenswert ist weiterhin der Verweis von Oliensis 2009, 478 auf die mehrfache Erwähnung von Grabstätten am Ende der Ars: „the finale of the Ars is littered with grave sites – the ‚well or pit‘ (Ars 459), the ‚flames of Etna‘ (465), the ‚father’s ashes‘ (471). But in the end it is not the poet who plunges to his death. It is rather the reader who succumbs to the embrace of the bear, the kiss of the leech. The shocking final image suggests that the leech [. . . ] may indeed win a kind of immortality from the blood of his readers.“ Allerdings glaube ich nicht an die Ernsthaftigkeit der von Oliensis postulierten Schockwirkung auf den Leser: So monströs ist ein harmloser Blutegel definitiv nicht.

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Steuermann analoge Deutungsinstanz versteht und auf die Seereise entsprechend Einfluss zu nehmen sucht. Umso überraschender kommt dann die Enthüllung, dass sich auf dem Höhepunkt des Sturms hinter dem anonymen Steuermann nicht Eumolp, sondern Lichas als alter Palinurus enttarnt. Da zudem laut Vergil Palinurus als „einer für alle“ geopfert wird,74 kann es auch bei Petron keinen zweiten Sturmtoten geben. Eumolps Ambitionen auf diese Rolle wird somit abrupt der Boden entzogen. Sein Scheitern als epischer Steuermann ist demnach einerseits als Gegenbild zur Palinurusgeschichte und andererseits als Analogie zum horazischen poeta vesanus zu lesen und, nicht zuletzt, durch das poetologische Potenzial von ‚Seereise und Schiffbruch‘ zusätzlich aufgeladen. Dabei bleibt Eumolp gleichermaßen die Vollendung seines enormen carmen und ein heroischer Abgang mit einem grandiosen Dichtertod auf stürmischer See versagt. Mit seiner ungewollten Errettung fällt der passionierte Poet auf die Rolle einer betont untragischen und alltagsverhafteten Romanfigur zurück. Es ist demnach nur folgerichtig, dass Eumolp seinen unstrittig hohen Unterhaltungswert, wie bereits Labate betont, ganz maßgeblich aus der regelmäßigen Demontage seiner Versrezitationen und der tatsächlichen Mittelmäßigkeit seiner Kunst bezieht. Indem Eumolp sich nun aber nicht nur exklusiv in den großen Gattungen, sondern auch in allen möglichen Formen der Kleindichtung versucht,75 spiegelt seine Dichtung nicht nur das große stilistische Spektrum, sondern auch die thematische und (trans)generische Vielfalt der Satyrica wider.76 Eumolps poetischer Schiffbruch auf hoher See heißt also mitnichten, dass ihm damit jegliche literarische Kompetenz abzusprechen ist. Bereits Beck hat auf den frappierenden Qualitätsunterschied zwischen dem Dichter und dem novellistischen Erzähler Eumolp verwiesen:77 Während der Poet regelmäßig von einem sichtlich enervierten, ja erbosten Publikum vertrieben wird, weiß er seine beiden novellistischen Einlagen (den Epheben von Pergamon und die Matrona von Ephesos78 ) nicht nur mit einer überraschenden Wende zu versehen und einer witzigen Schlusspointe zu krönen,79 sondern auch und ausgesprochen erfolgreich die Aufmerksamkeit seiner Hörerschaft durch eine spannende und stringente Erzählung aufrechtzuerhalten und den Leser für sich zu vereinnahmen. Zudem beweist Eumolp, im Gegensatz zu dem weltfremden poeta vesanus des Horaz, ein ausgesprochenes Talent zur Konfliktlösung im praktischen Leben:80 Zumal während der Schiffsreise präsentiert sich Eumolp als findiger Ratgeber, als eloquenter Verteidiger und als tatkräftiger Helfer für seine beiden von der Situation sichtlich überforderten Gefährten.81 Basierend auf diesen Beobachtungen scheint es daher nicht abwegig, dass Eumolp nicht nur als werkinterner Geschichtenerzähler und effizienter Akteur brilliert, sondern zudem (zu-

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Verg. Aen. 5,813–815. Petron. 83,10; 93,2; 96,7 (Invektive); 109,9 (Elegie). Labate 1995, 171–175. Beck 1979, besonders 245f. und 253; ebenso Labate 1995, 166. Petron. 85–87; 111f. Petron. 87,10; 112,8. So bereits Labate 1995, 175. Petron. 101,7–103,2; 107,1–15; 108,3.

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mindest episodenweise) zum Konstrukteur der Romanhandlung (und damit zum alter ego des Autors) avanciert.82 Mag er dabei auch als furioser Dichter Schiffbruch erleiden – als virtueller Steuermann der Abenteuer- und Reiseerzählung weiß Eumolp letztlich alle Gefahren, Stürme und Klippen auf hoher See zu meistern. Insofern sollte Contes Annahme einer allgegenwärtigen auktorialen Ironie gegenüber den durchweg naiven Romancharakteren doch relativiert und um weitere Facetten angereichert werden. Zudem lädt die Episode der Seereise – und dieser zweite Aspekt wurde in der bisherigen Petronforschung vollständig übersehen – in vielerlei Weise zur Reflexion über die Struktur und vor allem über mögliche und gelungene Enden einer Erzählung ein. Eine allgemeine Endstimmung wird ja bereits auf der Erzählebene des Romans durch den von Anfang an drohenden Seesturm samt Schiffbruch, dann durch den abrupten Abtritt des Lichas (und damit den einzigen Tod einer Romanfigur im Satyricon) und der Tryphaena sowie den theatralisch inszenierten ‚Liebestod‘ des Giton und Encolp hervorgerufen. Vor allem avanciert aber Eumolp im Zuge der Seereise immer stärker zu einer meta-literarischen Kristallisationsfigur, deren Handeln (und Dichten!) ganz zentral um den Aspekt des Endes kreist. Denn es ist letztlich Eumolp, der die Erzählhandlung wissent- und willentlich auf einen grandiosen Höhe- und vermeintlichen Endpunkt zusteuert und im Ringen um ein fulminantes (poetisches wie persönliches) Ende auf hoher See dann grandios Schiffbruch erleidet. Er ist es dann aber auch, der als gestrandeter Dichter und geerdeter Romanheld die stürmische Seereise doch noch erfolgreich und zu gegebenem Zeitpunkt zu einem markanten (und sogar epigraphisch markierten!) Schlusspunkt führt.83 Die bereits einleitend formulierte Erwartung einer besonderen poetologischen Dichte des Erzählmotivs ‚Seereise und Schiffbruch‘ und die Neuerkenntnis einer allgemeinen Endstimmung werden nun ihrerseits durch die Vergil- und Horazreferenzen zusätzlich verstärkt: Zum einen lanciert die vergilische Palinurusgeschichte eine Spiegelfigur, die aufgrund ihrer Navigationskunst über ein großes poetologisches Potenzial verfügt und mit den Themen ‚Tod‘, ‚Bestattung‘ und ‚Heroisierung‘ besetzt ist. Zum anderen bietet der horazische poeta vesanus mit Empedokles ein vorzügliches Beispiel für den wundersamen Tod eines furiosen Dichters, der dann als wilder Bär verbildlicht wird, um schließlich in der miniaturhaften Gestalt eines Blutegels den poetischen Lehrbrief zu besiegeln. Gerade dieser leichtgewichtige und ebenso überraschende wie witzige und pointierte Schluss eines seinerseits in hohem Maße poetologischen Lehrgedichts bestätigt damit eine goldene Regel, die auch der Erzähler Eumolp bei seiner Steuerung der Handlung im Auge zu haben scheint: Zuerst und vor allem kommt es auf ein gelungenes Ende an.

82 Siehe oben Anm. 8. Besonders deutlich tritt diese Kompetenz der Stofferfindung im unmittelbaren Anschluss an die Seereise hervor, als Eumolp in freier Improvisation das typische Plot eines mimus entwirft, den dann die Reisegefährten in Croton ‚lebensecht‘ umsetzen sollen (Petron. 117). 83 Hierzu passt Schmelings Beobachtung, dass sowohl der Ephebe von Pergamon als auch die Matrona von Ephesos mit einer witzigen und überraschenden Schlusspointe enden (Schmeling 1991, 360–364).

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Die Schiffsreise in Flavischer Zeit Literarische Repräsentationen von ›Raum‹, ›Zeit‹, ›Wissen‹/›Tradition‹ und ›Herrschaft‹ Nina Mindt (Berlin/Wuppertal) 1. Einleitung/Thema/Fragestellung: ‚Das Schiff ‘ in Flavischer Zeit ‚Das Schiff ‘ und ‚die Schiffsreise‘ spiegeln zentrale Momente der Literatur der Flavischen Zeit wider, innerhalb des literarisch-poetologischen Diskurses, aber auch aus gesamtkultureller und ideologisch-politischer Perspektive. ‚Schiff ‘ und ‚Schiffsreise‘ erweisen sich für die Autoren als ideales Motiv, mit dem sich zugleich andere Thematiken abhandeln lassen.1 Der Beitrag konzentriert sich vor allem auf Plinius d. Ä. und Valerius Flaccus, mit einem Nebenblick auf Statius und seine Thebais.2 Plinius d. Ä. und Valerius Flaccus sind Autoren – der eine von Prosa, der andere von Poesie –, anhand derer sich paradigmatisch die Zentralität der Schiff-Thematik aufzeigen lässt. Die Epigramme Martials zu nautischen Themen, etwa Mart. Spect. 24 (27 SB) und 28 (34 SB) sowie Mart. 7,19 und 10,104, können hier nicht behandelt werden, passen aber durchaus ins Bild.3 Gerade in der Zusammenschau entsprechender Passagen aus der Flavischen Literatur wird die programmatische Bedeutung des Schiffs und der Schiffsreise in ihrer Poetik und in ihrer Symbolik deutlich. Bei der Analyse der Texte werden die nautischen Kategorien ‚Raum‘, ‚Zeit‘, ‚Wissen‘ bzw. ‚Tradition‘ und ‚Herrschaft‘ bzw. ‚Macht‘ miteinander in Beziehung gesetzt, wobei ‚Raum‘ bzw. die Überwindung des Raums durch die Seefahrt in Verbindung mit der Zeit sicherlich die Oberkategorie bildet. Der topographical turn oder spatial turn, den die Kultur- und somit auch Literaturwissenschaften vollzogen haben, lässt sich besonders reizvoll an Texten erproben, die selbst Raumkonstruktionen, Medien und Raumordnungen der Kommunikation und des Verkehrs, ja das Reisen ganz explizit thematisieren. Wenn etwa Hartmut Böhme in seinem Beitrag „Raum – Bewegung – Topographie“ betont, dass Raum „niemals einfach da“4 sei, sondern erst entstehe, wenn er durch Bewegung erschlossen und erfahren werde, dann erweisen sich Texte wie die des 1 Zum Schiff und dessen Faszination in der Literatur insgesamt sei verwiesen auf Blumenberg 1979, Müller 2000 und Feldbusch 2003; das antike Thema von Lob und Tadel der Seefahrt verfolgt Heydenreich 1970 (v. a. in der romanischen Literatur); Berno 2015 zeigt die Breite des Meer-Motivs in der lateinischen Literatur auf und bietet dabei auch einen Überblick über die Forschungsliteratur. Hervorzuheben sind die kurzen, aber treffenden Ausführungen von Barchiesi 1994. Auf spezielle Literatur zu den einzelnen Aspekten und Autoren wird im Laufe des Beitrags an entsprechender Stelle hingewiesen. 2 Zu Statius’ Silvae vgl. den Beitrag von Helmut Krasser im vorliegenden Band (siehe oben, S. 155–169). 3 Zur Schiffsthematik in der griechischen Epigrammatik vgl. den Beitrag von Doris Meyer im vorliegenden Band (siehe oben, S. 257–269). 4 Böhme 2005, XVII.

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Plinius d. Ä. und des Valerius Flaccus als ideale Objekte, da sie Seereise als Entdeckungsreise behandeln und in ihnen die (Wieder-)Entdeckung von Raum, Tradition und Wissen verhandelt wird, ebenso wie Landnahme im eigentlichen und übertragenen Sinn, die Macht steigert und in den Bereich der Geopolitik fällt.5 Räume und die damit zusammenhängenden Kategorien werden hier durch die Bewegungsform der Seefahrt erschlossen, erfahren und gebildet, und durch die Literatur darüber wieder-erschlossen und wieder-gebildet.

2. Plinius d. Ä. Das Thema des technischen Fortschritts und Wissensfortschritts ist zentral in der Naturalis Historia des Plinius d. Ä.6 In diesen Komplex gehört auch das Reisen zu See, welches theoretisch einen bisher nie gewesenen Erfahrungs- und Wissensaustausch ermöglichte. Durch die Öffnung der Meere und wachsende Erfahrung und Spezialisierung war mehr Wissen zugänglich. Öffnung und Zugänglichkeit sind auch wichtige Kategorien bei Valerius Flaccus (siehe Abschnitt 3). Das dadurch vermehrte Wissen bedeutet auch mehr weiteres, schnelleres, sichereres und spezialisierteres Reisen. Wir haben es also mit einer gegenseitigen Steigerung zu tun. Plinius selbst knüpft die Kategorien ‚Raum‘, ‚Zeit‘, ‚Wissen‘ und ‚Macht‘ eng aneinander. Seine Ausführungen zu Schiffreisen sind daher paradigmatisch für die Flavische Zeit.7 Die Seereise bei Plinius ist im Kontext dessen zu lesen, dass kaiserzeitliche Wissenstexte einerseits die zeitgenössische Weltsicht spiegeln und bei der Wissensvermittlung und Darstellung der Themen von moralischen und kulturellen Wertungen der Zeit bestimmt sind,8 andererseits auf die Konstruktion von universalen, auf Totalität gerichteten Erfahrungsräumen aus sind.9 Das gilt für Wissenstexte, aber auch für Literatur insgesamt, welche sich mit der Tradition des Themas und literarischer Bildung der Rezipienten auseinander setzen muss. Imperiale Identität spielt dabei eine wichtige Rolle. Der imperiale Horizont und der ‚triumphale‘ Charakter der Naturalis Historia sind in allen neueren Arbeiten deutlich herausgestellt worden, ebenso die Wechselwirkung zwischen Wissensordnung und Weltordnung.10 Im Medium der literarischen Wissensarchive werden die kulturellen Ressourcen des Imperiums gespeichert. In gewisser Weise ist die ‚Enzyklopädie‘ das ideale Instrument imperialer Repräsentation und virtueller Weltbeherrschung. Die Spiegelung des kaiserzeitlichen Rom und der Welt wird in NH 36,101 deutlich, wenn Plinius bei der Beschreibung Roms und seiner Bauwerke betont, die Stadt werde durch diese Beschreibung quasi eine zweite Welt an einem einzigen Ort: si mundus alius quidam in uno loco narretur.11 Das narretur verweist darauf, dass diese Welt erst durch den Text des 5 Vgl. Böhme 2005, XX, zu dieser Dimension von Topographie im Allgemeinen. 6 Zum Komplex ‚Wissen‘ bei Plinius d. Ä. siehe Conte 1994, Murphy 2004, Baumunk 2005, Krasser 2005, Fögen 2009, Naas 2011, Rutledge 2012. 7 Dazu, dass Plinius’ Naturalis Historia merklich in der Flavischen Zeit mit ihrer Ideologie verhaftet sind, siehe etwa Gibson/Morello 2011 (und darin v. a. Naas 2011) sowie Laehn 2013. 8 Vgl. Murphy 2004. 9 Siehe Krasser 2005. 10 Siehe insbesondere Murphy 2004, Naas 2011 sowie Laehn 2013. 11 Plin. NH 36,101: verum et ad urbis nostrae miracula transire conveniat DCCCque annorum dociles scrutari vires et sic quoque terrarum orbem victum ostendere. quod accidisse totiens paene, quot referentur miracula, apparebit; universitate vero acervata et in quendam unum cumulum coiecta non alia magnitudo exurget quam si mundus alius quidam in uno loco narretur (Es mag nun sinnvoll sein, auch zu den Wundern unserer Stadt überzugehen,

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Plinius entsteht. Ebenso selbstreferentiell ist Plinius auch in der praefatio zum ersten Buch (Plin. NH 1 praef. 14): praeterea iter est non trita auctoribus via nec qua peregrinari animus expetat. nemo apud nos qui idem temptaverit. Außerdem ist der Weg keine von den Autoren oft begangene Straße und der Geist strebt nicht danach, auf ihr umherzureisen. Niemand bei uns (Römern) hat eben diesen (Weg) versucht.12

Plinius beschreibt sein schriftstellerisches Unternehmen als iter, als ‚Weg‘ im abstrakten Sinn, oder eben ‚Reise‘. Er begebe sich – so die praefatio-Topik mit Neuerungsanspruch – in schriftstellerisches, in literarisches Neuland. In der praefatio benutzt Plinius zwar nicht die Metapher der Seereise (die vielfach belegte via non trita-Metapher des kallimacheisch unbegangenen Pfades13 verweist vielmehr eindeutig auf den Landweg), aber neben temptare (‚wagen‘) und peregrinari (‚in der Fremde umherreisen‘/‚im Ausland sein‘) steht eben iter – Reise –, nicht einfach nur via14 . In anderem Zusammenhang verwendet Plinius ganz ähnliche Worte (eben temptare und peregrinari), und dort spielt dann ein Schiff eine Rolle (Plin. NH 16,59,135): non ferunt amomi nardique deliciae, ne in Arabia quidem, ex India et nave perergrinari. temptavit enim Seleucus rex. Die köstlichen Gewürzpflanzen Amomum und Narde vertragen es nicht, nicht einmal nach Arabien, aus Indien und mit dem Schiff befördert zu werden. Der König Seleukos15 nämlich unternahm den Versuch.

An dieser Stelle, freilich in ganz anderem Zusammenhang, steht explizit nave peregrinari. Nimmt man nun, in zugegebenermaßen nicht ganz zulässiger Weise, die beiden Passagen zusammen, so unternimmt Plinius eine Schiffsreise auf der Welt des Wissens – und dieses Bild trifft durchaus zu. Plinius war dabei kein Naturforscher und Weltendecker, sondern er unternahm seine Entdeckungsreisen durch das Erschließen von Bücherwissen. So steht die Seereise paradigmatisch, ja emblematisch für den Zusammenhang von ‚Wissen‘ und ‚Raum‘ und deren literarischer Darstellung. Keiner der Autoren von Wissenstexten oder Epen, die ich nennen werde (Plinius, Valerius Flaccus, auch Statius oder Apollonios von Rhodos) sind die Routen, die sie beschrieben,

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ihre im Verlauf von 800 Jahren erwiesene Lernfähigkeit zu untersuchen und so auch den Sieg über die Welt zu zeigen. Es wird scheinen, dass er sich fast sooft ereignet hat, wie über Wunder berichtet wird. Wenn die gesamte Anhäufung unserer Gebäude zusammengepackt und auf einen einzigen hügelartigen Ort gestellt würde, würde wohl keine andere Menge aufsteigen, als wenn eine Art andere/zweite Welt in einer einzigen Stelle beschrieben würde) [Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, von der Verfasserin]. Die meisten Übersetzungen geben die Weg- bzw. Reise-Metaphorik viel zu abgeschwächt wieder, indem idem (auf iter bezogen) zu „Thema“, im Englischen „topic“ wird. Die Tusculum-Übersetzung (König/Winkler) lautet etwa: „Außerdem ist der eingeschlagene Weg keine von den Autoren oft begangene Straße und der Geist strebt nicht danach, sich auf ihr zu ergehen. Bei uns Römern ist keiner, der sich auf diesem Gebiet versucht hätte.“ Kall. Aitia fr. 1,27–28, wo er von „unbeschrittenen Wegen“ spricht; siehe etwa auch Lucr. 4,1f.: avia Pieridum peragro loca nullius ante/trita solo (unwegsames Gelände der Pieriden durchschreite ich, welches zuvor von niemandem betreten wurde). Siehe etwa Verg. Georg. 3,8: temptanda via est. Seleukos ist wahrscheinlich Seleukos I. Nikator (358/354–281 v. Chr.), der am Asienfeldzug Alexanders des Großen teilnahm. Zur Rolle Alexanders für die Verbindung Schiff – imperium siehe unten.

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selbst abgefahren, sie waren vielmehr „Armchair Traveller“16 . Plinius der Flottenadmiral sei hier einmal ausgeklammert. In der ersten Person schildert Plinius als Autor der Naturalis Historia keine eigenen Erlebnisse zu Schiffe in realen geographischen Räumen. Doch das Reisen zur See ist vielfach Thema in seinem Werk. Aus den vielen Stellen, in denen das Substantiv navigatio, das Verb navigare und Komposita (etwa praenavigare) und das Adjektiv navigabilis vorkommen, möchte ich einerseits die für unsere Fragestellung aussagekräftigsten auswählen, zugleich aber die Vielfalt der thematischen Kontexte deutlich machen, in denen die Seereise (wie bei Valerius Flaccus) zugleich auch andere Dinge mitverhandelt. Das individuelle Reisen – vor allem das individuelle Reisen als Freizeitvergnügen, Tourismus oder Sightseeing – ist bei Plinius d. Ä. überhaupt keine Kategorie. Das Reisen um des Reisen willen als Luxus oder Beschäftigung der upper class während des otium gibt es in der Antike im modernen Sinne in diesem Maße nicht, denn trotz aller Fortschritte war die Seereise wegen möglicher Seeunfälle durch Sturm und Unwetter oder wegen der Piraterie noch immer riskant. Einzig unter medizinischen Gesichtspunkten ist der (lange) Weg (longinquitas navigandi) selbst das Ziel, die Anwendung und der Nutzen (usus) sind das Wichtige. In Buch 31 nämlich, welches zum Abschnitt Medizin und Pharmakologie gehört und welches Heilmittel aus dem Wasser vorstellt, kommt Plinius auf den medizinischen Nutzen des Meerwassers und der Seereise zu sprechen (Plin. NH 31,33,62f.): [. . .] praeterea est alius usus multiplex, principalis vero navigandi phthisi adfectis, ut diximus, aut sanguine egesto, sicut proxime Annaeum Gallionem fecisse post consulatum meminimus. neque enim Aegyptus propter se petitur, sed propter longinquitatem navigandi. quin et vomitiones ipsae instabili volutatione commotae plurimis morbis capitis, oculorum, pectoris medentur omnibusque, propter quae helleborum bibitur. [. . .] Außerdem gibt es noch vielfältige andere Anwendung; so ist eine Seereise für schwindelsüchtige Personen, wie wir gesagt haben [siehe NH 24,28; 28,54], oder bei Blutauswurf besonders gut, wie wir uns erinnern, dass kürzlich Annaeus Gallio nach seinem Konsulat (diese Behandlung) unternommen hat. Man reist nämlich nicht nach Ägypten um des Landes selbst willen, sondern um eine lange Seereise zu machen. Ja sogar das durch die ungleichmäßige Bewegung (des Schiffes) hervorgerufene Erbrechen heilt sehr viele Krankheiten des Kopfes, der Augen, der Brust und alle Übel, gegen die man Nieswurz trinkt.

Sogar eine eigentlich negative Begleiterscheinung der Schiffsreise, das Erbrechen wegen Übelkeit aufgrund des Wellengangs,17 erhält aus medizinischer Perspektive eine positive Wertung. Außer in medizinischen Kontexten behandelt Plinius die Seereise natürlich in den Büchern zur Geographie. Die Seereise kommt dort als militärische Expedition, als Geschäftsreise im Seehandel, als politische Dienstreise und als Forschungsreise vor. Besonders ergiebig sind sicherlich Plinius’ lange Ausführungen zur navigatio nach Indien im geographischen sechsten Buch der Naturalis Historia (ab NH 6,96). Zuerst berichtet Plinius von einer bekannten histori-

16 Klooster 2013 zu Apollonios von Rhodos; vgl. bereits Green 1988 und Meyer 2008. 17 Vgl. den Beitrag von Kirstein et al. in diesem Band, die aufzeigen, dass die römischen Schiffe aufgrund ihrer Bauweise im Wasser starke Bewegungen vollzogen (siehe oben, S. 21–30).

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schen Reise nach Indien, der Reise von Alexander dem Großen, der im Zusammenhang mit seinem Persienzug eben bis dorthin gekommen war. In der Naturalis Historia ist Alexander durchaus eine positive Figur, in der sich zwei unterschiedliche Motivationen für das Reisen, nämlich militärische Unternehmung und Forschungsreise, konfliktfrei verbinden und die somit durchaus als positives Beispiel verwendet werden kann. Bei Plinius vereinen sich die Rollen als Befehlshaber und Entdecker, was durchaus einem realhistorischen Ideal entspricht, welches sich auch in Valerius Flaccus’ Argonautica finden lässt (siehe unten). Alexander als seereisender dux und Entdecker, vor allem aber als Eroberer, wird freilich nicht erst in Flavischer Zeit als exemplum verwendet. In Elegie 3,4 des Properz etwa ist eine propagandistische Funktion des Alexandervergleichs für Augustus unterlegt (Prop. 3,4,1–3.7): arma deus Caesar dites meditatur ad Indos, et freta gemmiferi findere classe maris. magna, Quiris, merces: parat ultima terra triumphos; [. . .] ite agite, expertae bello, date lintea, prorae, Der göttliche Caesar plant einen Feldzug zu den reichen Indern und sinnt darauf, mit seiner Flotte die Fluten des perlenreichen Meeres zu durchpflügen. Groß ist der Lohn, ihr Männer: Das Land am Ende der Welt verschafft Triumphe. [. . . ] Auf, wohlan, setzt dem kriegserprobten Bug die Segel!

Auch Horaz’ Texte weisen eine starke Symbolik der Seefahrt auf;18 nautische Themen scheinen ab Augustus stark präsent zu sein, auch außerhalb der Literatur, etwa in der Architektur: Man denke zum Beispiel an die Verzierung des Caesartempels mit Schiffsschnäbeln. Auf die Seefahrt als imperiales Symbol im Allgemeinen kann ich an dieser Stelle nur verweisen und betonen, dass ich keine völlige Innovation im Umgang mit dem Thema ‚Schiff ‘ und ‚Macht‘ in der Flavischen Zeit postuliere, sondern eine Ballung sehe. Es scheint mir jedoch kein Zufall zu sein, dass Sueton das Schiff als politische Allegorie gerade im Zusammenhang mit Vespasian verwendet (Suet. Vesp. 8,1): per totum imperii tempus nihil habuit antiquius quam prope afflictam nutantemque rem publicam stabilire. Während der gesamten Regierungszeit hatte er nichts Angelegentlicheres zu tun, als den beschädigten und schwankenden Staat zu sichern.

Die Seesturm-Metaphorik und der Herrscher als Seefahrer werden in Valerius Flaccus’ Argonautica noch genauer zu behandeln sein.19 Das Weltherrschaftsverständnis Roms, wie es seit Augustus propagiert wurde, schreibt sich jedenfalls auch in Plinius’ Naturgeschichte ein. Ein gewichtiger Teil des verfügbaren Wissens ist

18 Vgl. den Beitrag von Breuer in diesem Band (siehe oben, S. 299–326). 19 Siehe Bravi 2010 zur Bedeutung von Weltherrschaft und Sieghaftigkeit zur See im Bildprogramm des templum Pacis zur Selbstdarstellung der Flavischen Kaiser.

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als Ergebnis der imperialen Expansion zu verstehen. Plinius behandelt Geographie als Eroberungsgeschichte und als Beschreibung eines Herrschaftsraumes. Die Seefahrt gehört also einerseits in den Bereich der Machtpolitik. Aber nicht nur Generäle wie Alexander werden durch die Kriegsexpedition auch zu einer Art Naturforscher (eben indem sie geographisches Wissen vergrößern), sondern auch die gemeinen Soldaten werden von Plinius als solche dargestellt: Im botanischen Buch 13, in dem unter anderem Wasserpflanzen abgehandelt werden, schreibt er von Beobachtungen, die Soldaten auf der Indienexpedition Alexanders gemacht hätten (Plin. NH 13,51,140): qui navigavere in Indos Alexandri milites frondem marinarum arborum tradidere in aqua viridem fuisse, exemptam sole protinus in salem arescentem, [. . .] Die Soldaten Alexanders, die nach Indien fuhren, haben berichtet, dass das Laub der Seebäume im Wasser grün gewesen sei und dass es, habe man es herausgenommen, an der Sonne sogleich zu Salz getrocknet sei; [. . . ]

Auch insofern haben historische militärische Seefahrten Auswirkungen auf die Gegenwart, als dass deren Teilnehmer geographisches oder botanisches Wissen von der ganzen Welt mitbringen und dieses Wissen überliefern (tradiderunt). Bevor Plinius auf Einzelheiten der berühmten Seereise Alexanders und die genaue Route zu sprechen kommt, setzt er sich mit seinen Quellen auseinander.20 Er nennt Onesikritos, einen griechischen Geschichtsschreiber aus dem vierten Jh. v. Chr., der eine nur in Fragmenten überlieferte Biographie Alexanders des Großen verfasst hatte, und die Beschreibungen des mauretanischen Königs Juba II. aus dem 1. Jh. v. Chr., der eine Schrift de expeditione Arabica verfasst hat und die Hauptquelle des Plinius ist. Zudem nennt Plinius Nearchos, einen Admiral Alexanders des Großen auf dessen Persienfeldzug, auf dem er vor allem durch seine Seeexpedition bekannt wurde. Dabei sollte er den bis dahin wenig bekannten Seeweg vom Indus bis zum Euphrat erkunden. Nearchos verfasste einen Periplus über seine Indienfahrt, der uns durch Arrians Indiké überliefert ist. Ein Quellen- und Traditionsstrang des Plinius ist also natürlich auch die Periplus-Literatur. Aus den angeführten Quellen, deren mangelnde Präzision bei Namen und Verortungen Plinius hier ankreidet (nec [. . .] nec, [. . .] non satis), wählt er in den folgenden Abschnitten (Plin. NH 6,97–100)21 das Bemerkenswerte aus (tamen digna memoratu, NH 6,97). Neben Konkretem 20 Plin. NH 6,96: sed priusquam generatim haec persequamur, indicari convenit quae prodidit Onesicritus classe Alexandri circumvectus in mediterranea Persidis ex India, enarrata proxime a Iuba, deinde eam navigationem, quae his annis comperta servatur hodie. Onesicriti et Nearchi navigatio nec nomina 〈omnia〉 habet mansionum nec spatia, [. . .] (Aber bevor ich dies im Einzelnen verfolge, ist es angebracht anzugeben, was Onesikritus überliefert hat, der mit Alexanders Flotte von Indien aus ins Binnenland von Persis vordrang, dann was neulich von Juba erzählt worden ist, schließlich die Seereise, die von diesen Jahren bekannt geworden ist und bis heute bewahrt wird. Die Seereise[-Schilderung] des Onesikritos und des Nearchos haben weder alle Namen der Landungsplätze noch die Entfernungen [. . . ]). 21 Plin. NH 6,97–100: [97] haec tamen digna memoratu produntur ab 〈i〉is; oppidum a Nearcho conditum in navigatione et flumen Arbium navium capax; contra insula, distans LXX stadiis, Alexandria condita a Leonnato iussu Alexandri in finibus gentis, Argeruus portu salubri, flumen Tonberum navigabile, circa quod Pa〈s〉irae; deinde Ic〈h〉thyophagi tam longo tractu, ut XXX dierum spatio praenavigaverint; insula quae Solis appellatur et eadem Nympharum Cubile, rubens, in qua nullum non animal absumitur incertis causis; [98] Ori gens, flumen Carmaniae Hyctanis, portuosum

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wie geographischen Namen und deren räumlich-zeitlichem Verhältnis zueinander oder genauen Entfernungen sind das durchaus auch memorabilia, Wunderhaftes, wie ungeklärte Todesursachen (NH 6,97: incertis causis) auf seltsamen Inseln und Wasserschlangen von zwanzig Ellen Länge (NH 6,98: hydri marini vicenum cubitorum adnatantes). Diese Elemente, die das Gefährliche der Seereise durchscheinen lassen (NH 6,98: terruere – „sie setzten in Schrecken“) und eher an Abenteuerromane erinnern, mögen als unpassend für einen Wissenstext erscheinen. Doch Plinius baut durchaus bewusst solche Passagen ein, um den Rezipienten durch die Annäherung an die Mirabilien-Literatur bei der Stange zu halten.22 Die Paradoxographie ist ja traditioneller Teil der antiken Naturgeschichte. Nach einem kurzen Satz, der das Ende des Berichtes über die historische Route markiert (Plin. NH 6,100: sic Alexandri classis navigavit – „so also ist die Flotte Alexanders gefahren“), verweist Plinius auf Routenänderungen in späterer Zeit (postea), die die Reise vermeintlich sicherer gemacht hätten (certissimum videbatur). Dies ist die Überleitung hin zu einem eigenen Absatz (Plin. NH 6,10123 ) zu dem Thema ‚bessere und sicherere Routen der Folgezeit‘ (secuta aetas), der Plinius dann in die Gegenwart führt. Die temporale Kategorie kommt zur räumlichen hinzu, und wie die realen Seewege perfektioniert wurden, so auch deren Darstellung: Fortschritt des Wissens in Realität und Literatur gehen Hand in Hand. In späterer Zeit, so Plinius hier, habe man in zwei Schritten noch schnellere Route gefunden,24 und die ganze Route von Ägypten aus

et auro fertile. ab eo primum septentriones apparuisse adnotavere, arcturum neque omnibus cerni noctibus nec totis umquam. Achaemenidas usque illo tenuisse. aeris et ferri metalla et arrenici a〈c〉 mini exerceri. inde promunturium Carmaniae est, ex quo in adversa〈m〉 ora〈m〉 ad gentem Arabiae Macas traiectus distat L p.; insulae tres, quarum Orac〈t 〉a tantum habitatur aquosa, a continente XXV p., insulae quattuor iam in sinu ante Persida – circa has hydri marini vicenum cubitorum adnatantes terruere classem –, [99] insula Athotadrus, item Gauratae, in quibus Gyani gens; flumen Hyperis in medio sinu Persico, onerariarum navium capax, flumen Sitioganus, quo Pasargadas septimo die navigatur, flumen navigabile Phristimus, insula sine nomine, flumen Granis modicarum navium – per Susianen fluit, dextra eius accolunt Dexi montani, qui bitumen perficiunt –, flumen Zarotis, ostio difficili nisi peritis, insulae duae parvae; inde vadosa navigatio, palustri similis, per euripos tamen quosdam peragitur; [100] ostium Euphratis, lacus quem faciunt Eulaeus et Tigris iuxta Characen, inde Tigri Susa. festos dies ibi agentem Alexandrum invenerunt septimo mense post quam digressus ab iis fuerat Patalis, tertio navigationis. sic Alexandri classis navigavit; postea ab Syagro Arabiae promunturio Patalen favonio, quem hip〈p〉alum ibi vocant, peti certissimum videbatur, |XIII| XXXII p. aestimatione. Die für diesen Zusammenhang wichtigsten Inhalte dieser Passage sind im Fließtext paraphrasiert. 22 Zum Nebeneinander von ‚wissenschaftlichem‘ Wissen und memorabilia siehe Carey 2000 und Naas 2011. Vgl. zur mirabilia-Kultur auch den Beitrag von Krasser in diesem Band (siehe oben, S. 155–169). 23 Plin. NH. 6,101: secuta aetas propiorem cursum tutioremque iudicavit, si ab eodem promunturio Sigerum portum Indiae peteret, diuque ita navigatum est, donec conpendia invenit mercator lucroque India admota est: quippe omnibus annis navigatur, sagittariorum cohortibus inpositis; etenim piratae maxime infestabant. nec pigebit totum cursum ab Aegypto exponere, nunc primum certa notitia patescente: digna res, nullo anno minus HS |D| imperii nostri exhauriente India et merces remittente, quae apud nos centiplicato veneant (Die spätere Zeit hat es als noch nähere und sicherere Route beurteilt, wenn man von demselben Vorgebirge zum indischen Hafen Zigeros steuert, und lange ist man so gefahren, bis ein Kaufmann Abkürzungen fand und durch seine Gewinnsucht Indien noch näher heranbewegt hat: Daher fährt man das ganze Jahr hindurch, wobei Kohorten von Bogenschützen aufgestellt werden. Piraten nämlich gefährden [die Fahrt] sehr. Es wird nicht verdrießen, die gesamte Route von Ägypten aus anzugeben, von der uns jetzt erst sicheres Wissen offensteht: Die Sache verdient es, weil Indien in keinem Jahr weniger als 5 000 000 Sesterzen unseres Reiches entzieht und Waren dafür gibt, welche bei uns für das Hundertfache verkauft werden). 24 Zur Schnelligkeit der antiken Schiffe siehe De Saint-Denis 1941. Zur Mobilität in der antiken Mittelmeerwelt siehe Olshausen/Sauer 2014.

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könne erst jetzt genau angegeben werden (nunc primum certa notitia patescente): Öffnung der Meere (und Räume insgesamt) und Öffnung von Wissen hängen zusammen, denn patescere oder patere begegnet uns häufig in Passagen, welche Konsequenzen der Seefahrt behandeln.25 Eine zusätzliche Komponente kommt hinzu, die beide Plinius-Stellen weiterhin verbindet: Von der historischen kriegerischen See-Expedition des Alexander hat Plinius zum Handel in der Gegenwart übergeleitet und kommt somit neben weltwirtschaftlichen auch zu moralischen Kategorien, welche den römischen Diskurs zur Seefahrt bestimmen. Ein mercator (oder als generalisierender Singular durchaus auch als ‚der mercator‘ zu übersetzen) habe mit Blick auf Profit (lucrum) einen schnelleren Weg gefunden.26 Dadurch wird die räumliche Distanz quasi verkürzt: India admota est – „Indien ist [uns] näher gebracht worden“. Hier wird sichtbar, wie mobil Topographie werden kann: Entfernungen sind relativ, und Rom ist das Zentrum, auf das die Welt zubewegt wird. Plinius lässt in zwei Absätzen die genaue Route folgen (Plin. NH 6,102–103), mit Angaben von Entfernungen in Raum und Zeit und verschiedenen Hydreumata, also befestigten Wasserstationen an verschiedenen Karawanenwegen, die die Handelswege durch archäologische Funde bis heute gut nachvollziehbar machen.27 Danach berichtet er weiterhin von der ganz praktischen Seite her von der gegenwärtigen Seefahrt auf dem indischen Ozean mitsamt seinen Seitenmeeren (Plin. NH 6,104–106): Zu welcher Jahreszeit man absegele, welche Häfen man anlaufen solle – wo ist der Handel ergiebiger, wo ist es zu gefährlich wegen der Seeräuber? – und zu welcher Jahreszeit man zurücksegele. Im Sommer segele man hin, im Dezember desselben Jahres zurück: ita evenit, ut eodem anno remeent (Plin. NH 6,106: „so kommt es, dass man im selben Jahr zurücksegelt“) verkündet Plinius vermeintlich stolz. Vielleicht steht aber auch ein moralisches Fragezeichen hinter dem schnellen Handelsverkehr.28 Im Zusammenhang mit dem arabischen Weihrauch etwa zeigt Plinius, dass das eigentlich religiös verwendete Naturprodukt seiner ursprünglichen Funktion beraubt wird und nach einem langwierigen Handelsweg in Rom als Luxusprodukt endet. Plinius’ Luxuskritik liegt auf der Linie der Flavischen, an Augustus anknüpfenden Herrschaftsideologie.29 Eine ambivalente Wertung nimmt Plinius auch in einer Passage vor, in der er die Pflanze linum (Lein oder Flachs) bespricht (Plin. NH 19,1,2–6). Lein war eine wichtige und nützliche Pflanze, weil sie wertvolle Textilfasern liefert, die unter anderem als Material für die Segel verwendet wurden und ein schnelles Segeln ermöglichten. In diesem Zusammenhang weist Plinius auf Seereisen in Rekordzeit hin. Das Nützliche liegt freilich darin, dass es Dienstreisen 25 Zu patere in der Bedeutung von ‚offen sein‘ siehe TLL X, 1,659,10ff. Für patere in diesem Sinn siehe zum Beispiel auch Val. Fl. 1,545 und 4,713 (siehe unten). Zu pandere, patere, aperire und der Bedeutung des Öffnens bei Valerius Flaccus siehe Slaney 2013, 428. Plinius schreibt etwa, wenn er Kampanien behandelt (Plin. NH 3,41): tot lacus, tot amnium fontiumque ubertas totam eam perfundens, tot maria, portus, gremiumque terrarum commercio patens undique et tamquam iuvandos ad mortales ipsa avide in maria procurrens! (So viele Meere, Häfen und das Innere der Länder, das auf allen Seiten dem Handel offensteht und gewissermaßen zum Nutzen der Menschen selbst weit in die Meere vorspringt!) 26 Siehe Luther 2004 zum Seekontakt zwischen Rom und Indien sowie Seland 2011 zu antiken Handelsrouten mit Indien. 27 Vgl. Seland 2011. 28 Zur Tradition des römischen Moralismus bei Plinius siehe Citroni Marchetti 1991. 29 Vgl. Murphy 2004, 96–105.

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sind, die für die Verwaltung des großen Römischen Reiches notwendig waren. Von Staunen und Bewunderung (miraculum) geht Plinius dann in eine Verwünschung des vom Menschen verarbeiteten Leins als Material des Segels und somit als Metonymie für Seefahrt über, die Todesgefahr schaffe (Plin. NH 19,1,5–6): [. . .] sed fractum tunsumque et in mollitiem lanae coactum iniuria, ac summa audacia perve〈h〉i 〈ma〉re! [6] nulla exsecratio sufficit contra inventorem (dictum suo loco nobis), cui satis non fuit hominem in terra mori, nisi periret et insepultus. [. . .] [. . . ] nein, erst nachdem es gebrochen, zerquetscht und gewaltsam bis zur Weichheit von Wolle bearbeitet ist, dient es dazu, das Meer mit höchster Kühnheit zu befahren! Keine Verwünschung gegen den Erfinder – ich habe ihn an der betreffenden Stelle genannt – reicht aus; denn es genügte ihm nicht, dass der Mensch auf dem Lande sterbe, wenn er nicht auch ohne Grab umkommen konnte. [. . . ]

An der betreffenden Stelle (Plin. NH 7,209) stellt Plinius Ikaros als Erfinder der Segel und Dädalos als Erfinder von Mast und Ruder dar. Die Anmaßung des Menschen über die Natur wird von Plinius hier klar verurteilt. Weite Distanzen durch immer mehr Technik, in diesem Falle Segel, künstlich zu verkürzen (Plinius verwendet wieder admovere), sei kühn und gefährlich. Mit den Begriffen iniuria und audacia (Plin. NH 19,1,5) befinden wir uns im Zentrum der moralischen Negativbewertung der Seefahrt in der antiken Literatur, die Hybris- und Dekadenzzuschreibungen, häufig auch Luxuskritik vornimmt. Es ist eine deutliche Spannung auszumachen zwischen realer Praxis mit Nutzen und Vorteil der Seefahrt und deren moralischer Verurteilung, und beides fließt bei Plinius ein. Doch Plinius geht nicht so weit wie Seneca, der in seinen Naturales Quaestiones die Meere, den Handel und den daraus resultierenden Krieg aus philosophischer Sicht verteufelt (Sen. NQ 5,18,12):30 nulla terra tam longe remota est quae non emittere aliquod suum malum possit. [. . .] magna pars erat pacis humanae maria praecludi. Kein Land ist so weit entfernt, dass es nicht irgendeins seiner Übel exportieren kann. [. . . ] Die Meere zu verschließen wäre ein großer Beitrag zu menschlichem Frieden.

Plinius hingegen propagiert etwa fünfzehn Jahre später die pax Romana und den Austausch der Völker untereinander: Plin. NH 27,3 alias praeterea aliunde ultro citroque humanae saluti in toto orbe portari, inmensa Romanae pacis maiestate non homines modo diversis inter se terris gentibusque, verum etiam montes et excedentia in nubes iuga partusque eorum et herbas quoque invicem ostentante! aeternum, quaeso, deorum sit munus istud! adeo Romanos velut alteram lucem dedisse rebus humanis videntur. Und andere (Kräuter) kommen außerdem von anderswo her, von da und von dort, zum Wohle/zur Gesundheit des Menschengeschlechts auf der ganzen Erde, unter der unermesslichen Herrlichkeit des römischen Friedens, die nicht nur die Menschen untereinander 30 Einen Vergleich von Senecas Naturales Questiones und Plinius’ Naturalis Historia nimmt Doody 2013 vor. Zu Senecas Naturales Questiones ist der Beitrag von Hine 2006 für die Fragestellung von Rom, Globalität und Imperialität interessant.

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Nina Mindt verschiedener Länder und Völker bekanntgemacht, sondern auch die Berge und die in die Wolken ragenden Gipfel und ihre Erzeugnisse und Pflanzen im Austausch gezeigt hat. Möchte doch dieses Geschenk der Götter, ich bitte darum, ewig sein! So sehr hat es den Anschein, dass sie die Römer der Menschheit gleichsam als zweites Licht geschenkt haben. Plin. NH 14,1,2 quis enim non communicato orbe terrarum maiestate Romani imperii profecisse vitam putet commercio rerum ac societate festae pacis omniaque, etiam quae ante occulta fuerant, in promiscuo usu facta? Wer nämlich dächte nicht, dass durch die Vereinigung der ganzen Erde unter der Hoheit des Römischen Reiches auch das Leben aus dem Handelsverkehr und aus einem gemeinsamen glücklichen Frieden Vorteile erhalten habe und alles, auch das, was früher verborgen war, zum allgemeinen Nutzen freigegeben sei?

Die erst zitierte Passage aus Buch 27 steht im Kontext der Medizin und des medizinischen Fortschritts, also schon deswegen klar auf der Nutzenseite. In der Einleitungspassage zum botanischen Buch 14, der zweiten Passage, wundert sich Plinius, wie viel Wissen – trotz der wunderbaren allgemeinen Umstände – verloren gegangen sei und von ihm erst wieder verbreitet werden müsse. Als positive Grundvoraussetzung nennt er eben die maiestas imperii Romani (die Hoheit des Römischen Reiches). Plinius knüpft, wie gezeigt, die Kategorien ‚Raum‘, ‚Zeit‘ (und deren Ausdehnung bzw. Verkürzung), ‚Wissen‘ und ‚Macht‘ eng aneinander, und zwar unter deutlichen imperialen Vorzeichen der aktuellen römischen Weltherrschaft. Unter ganz ähnlichen Prämissen verhandelt auch Valerius Flaccus die Schiffsreise. Natürlich besitzen Wissenstext (Plinius) und Dichtung (Flavisches Epos) nicht nur unterschiedliche Produktions-, sondern auch andere Rezeptionsmodi, doch mir scheint, dass man durchaus von einer (gattungs-)übergreifenden Programmatik der Schiffsreise in Flavischer Zeit sprechen kann. Zwar beschreiben Wissenstexte und erzählende Texte Reise-Routen auf andere Weise und mit unterschiedlichen Intentionen; reale und fiktionale Erlebnishorizonte sind zu trennen. Aber die Grenzen beider Gattungen sind in Wirklichkeit nicht immer scharf zu ziehen – auf einige Überschneidungen werde ich später noch hinweisen.

3. Valerius Flaccus: Die Argonautica im Flavischen Diskurs über die Seefahrt Nicht nur auf der ‚realen Ebene‘ ist die Schiffsreise ein wichtiges Thema (Plinius’ Naturalis Historia hat ja die Natur und somit die Realität zum Thema, wie er selbst erklärt: rerum natura, hoc est vita, narratur, NH 1 praef. 13), sondern auch in der fiktionalen Literatur: Das einzig erhaltene lateinische Epos, das eine Schiffsreise zum Hauptthema macht, sind die Argonautica des Valerius Flaccus, die zu Beginn die historische Bedeutung der Argo betonen und einen Bezug zur Öffnung der Welt durch die Seefahrt in der Gegenwart aufmachen.31 Die Argonautensage kann man unter anderem als einen Urtext der Forschungsreise und Expedition lesen, der sich stets aktualisieren lässt, indem er Parallelen zwischen der mythischen und gegenwärtigen Zeit 31 Zu Valerius’ Argonautica und der Schiffs- bzw. Reisethematik siehe Kleywegt 1986, Davis 1990, Taylor 1994, Hershkowitz 1998, Zissos 2006, Stover 2012, Slaney 2013. Zum Verhaftetsein in der Flavischen Zeit siehe Malamud/McGuire 1993, Taylor 1994, Slaney 2009, Buckley 2010, Stover 2012, Manuwald 2013, Bernstein 2014 sowie Mitous 2014.

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anbietet. Auf der anderen Seite handelt es sich um eine Expedition in eine Grenzzone, die zwar geographische Orientierungsanker wirft, aber natürlich auch literarisch-mythologisch überfrachtet ist. Man kann die Fahrt der Argo gewissermaßen zum Genre der Überlebensliteratur, der „survival literature“32 , zählen. Sicherlich ist die Fahrt mit dem Schiff Teil des traditionellen epischen Repertoires, doch besitzen die Darstellungen dieser Reise in den Argonautica durchaus programmatischen Wert und einen aktuellen Zeitbezug – und besaßen dies auch in den vorausgegangenen nautischen Epen.33 Dass die Seereise in Flavischer Zeit gerne an eine solche Symbolik anknüpft, scheint nicht zufällig. Die folgenden Passagen zur Schiffsreise aus Valerius’ Argonautica sollen nicht dazu herangezogen werden, um allgemein die bekannte Metaphorik des Schiffes als Symbol für die Dichtung und Tradition oder als Symbol für den Staat nur zu wiederholen;34 vielmehr sollen sie die Funktionalisierung dieser Metaphern ganz konkret für den imperialen Diskurs in Flavischer Zeit aufzeigen. Die Fahrt der Argo markiert einen wichtigen Moment in der Menschheitsgeschichte: Sie bringt Länder und Menschen zusammen, die vorher durch den Ozean getrennt waren. Gleich im Proöm (Vers 3) sind die Kyanischen Felsen am Eingang des Bosporus zum Pontus genannt, Valerius hat also ein Ereignis gewählt, das die Öffnung einer bis dahin unzugänglichen Region markiert (Val. Fl. 1,1–4): prima deum magnis canimus freta pervia natis fatidicamque ratem, Scythici quae Phasidis oras ausa sequi mediosque inter iuga concita cursus rumpere flammifero tandem consedit Olympo. Die zum ersten Mal von großen Nachkommen von Göttern durchquerten Fluten besinge ich und das weissagende Schiff, welches gewagt hat, den Küsten des skythischen Phasis zu folgen und mitten zwischen den zusammenschlagenden Bergjochen hindurchzubrechen, und das schließlich auf dem flammentragenden Olymp festgemacht hat.

Diese Episode wird im vierten Buch dann ausführlich geschildert. In den Versen 4,711–13 wird die Bedeutung dieser Öffnung betont, und zwar mit deutlichen intratextuellen Anklängen an den Beginn des Epos: tum freta, quae longis fuerant impervia saeclis, ad subitam stupuere ratem, Pontique iacentis omne solum regesque patent gentesque repostae. Da staunten die Meere, welche für lange Jahrhunderte unwegsam gewesen waren, über das unerwartete Schiff, die gesamte Fläche des weiten Pontus und Könige und weit entfernte Völker sind geöffnet.

Martha Davis hat darauf hingewiesen, dass der Beginn von Valerius’ Argonautica im Unterschied zur griechischen Vorlage des Apollonios von Rhodos eher das Schiff denn seine Besatzung hervorhebt (Apollonios, Arg. 1,1–4):35 32 Vgl. Slaney 2009, 437f. 33 Vgl. Mac Góráin 2015. 34 Zu dieser Metaphorik, vor allem Seefahrt und Werk betreffend, in der antiken, insbesondere der lateinischen Literatur, siehe bereits den Überblick bei Lieberg 1979. 35 Vgl. Davis 1990.

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Nina Mindt Α ᾿ ρχόμενος σέο, Φοῖβε, παλαιγενέων κλέα φωτῶν μνήσομαι, οἳ Πόντοιο κατὰ στόμα καὶ διὰ πέτρας Κυανέας βασιλῆος ἐφημοσύνῃ Πελίαο χρύσειον μετὰ κῶας ἐύζυγον ἤλασαν Α ᾿ ργώ.

Beginnend mit dir, Phoibos, will ich an die Ruhmestaten jener alten Heroen erinnern, die die gutgefügte Argo durch die Meerenge des Pontos und zwischen den Kyanischen Felsen hindurchruderten, um auf Weisung des Königs Pelias das Goldene Vlies zu erringen.

Bei Valerius ist die Argo als Schiff direkt als das Hauptthema genannt (canimus [. . .] ratem) – nicht deren Besatzung, die Argonauten, und als Schiff kann sie auch ein Symbol für das Dichten und für dessen Resultat, das Werk selbst sein. Ganz Ähnliches gilt für Statius und seine Thebais, in der das Reisen und die Reisemetaphorik ebenfalls zentral sind. Am Ende der Thebais steht die Metapher der Seefahrt für die Thebais selbst (Stat. Theb. 12,809): mea iam longo meruit ratis aequore portum („Mein Schiff auf dem weiten Meer hat nun seinen Hafen erreicht“). Statius spielt auf die Argonautica des Valerius an; die Thebais erscheint in gewissem Sinn als seine poetische Argo, wenn er sein Epos als ratis bezeichnet wie Valerius sein Thema im zweiten Vers der Argonautica (siehe auch die berühmte Stelle Val. Fl. 1,236: ratis omnia vincet). Und Stat. Silv. 4,4,88f. (iam Sidonios emensa labores/Thebais optato collegit carbasa porti – „meine Thebais hat die sidonischen Kämpfe beendet und ihre Segel im ersehnten Hafen eingezogen“) spielt auf carbasa aus Val. Fl. 1,8 an. Statius und Valerius konkretisieren also die Metapher des Schiffes = Dichtung auf ihre eigenen Werke. Die Epik der Flavischen Zeit ist in gewissem Sinne „nautisch“, schon fast „argo-haft“36 (vgl. auch Mart. 7,1937 ). Auch Valerius behandelt durch die Seereise weitere Thematiken, etwa ‚Tradition‘: Er geht nach der Themenangabe und der Widmung, die noch gesondert zu betrachten sein wird, über zum Bau der Argo (Val. Fl. 1,120–129) und zu deren programmatischer Dekoration (Val. Fl. 1,130– 148). Tim Stover (2010) hat gezeigt, wie die gängige Metapher des Schiffes als Dichtkunst im Kontext der Argonautica besonders effektiv ist: Die Schiffsdekoration ist ein selbstreferentieller Kommentar über die narrativen Bauprinzipien, und der Schiffsbau ist ein selbstreferentieller Kommentar über die Stellung innerhalb der poetischen Tradition – das Abholzen des Hains, um das Holz für die Argo zu gewinnen, steht für den Umgang mit der vorherigen literarischen Tradition.38 Die Route der Argo ist in der Literatur bereits viele Male gefahren worden, auch von den Rezipienten.39 Valerius Flaccus muss den Reiz von literarischen Schiffsreisen und vom „virtuellen Tourismus“ in nautischer Epik aufrechterhalten. Fast paradoxerweise erzählt Valerius somit

36 Zu argonautischen Elementen in Statius’ Thebais siehe Stover 2009. Zur Reise-Geographie in der Thebais siehe Parkes 2013. 37 In diesem Epigramm nutzt Martial das derzeit beliebte Argonautenthema, um seine eigene Poetik, die der Kleingattung Epigramm, darzulegen. Dazu siehe Zissos, 2004. 38 Neben Stover 2010 siehe auch Krasne 2014 zu Valerius Flaccus’ Umgang mit Tradition(en). 39 Vgl. Slaney 2009, 427: „this well-traversed route is a tour packaged up for literary consumption, for the virtual tourism available to consumers who wish to thrill to the conquest of wilderness without crossing a single threshold.“

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einerseits von der ersten Reise, der ersten Entdeckungsreise, die aber andererseits schon oftmals unternommen worden war,40 auch für den Rezipienten dieser virtuellen Reise. Valerius schildert sicherlich Landschaften und Ereignisse, die in den Bereich der mythischen Fiktionalität und literarischen Tradition gehören.41 Es sind zwar literarische Landschaften, literarische Gefahren und Abenteuer, die während dieser Reise erzählt werden, keine eigenen Erlebnisse. Ferne Orte wurden zunehmend zugänglich und bewegten Menschen, Götter und die Imagination gleichermaßen. Doch Valerius’ Argonautica erschöpfen sich nicht in der mythologisch-fiktionalen Dimension. Literarische, fiktionale Texte konnten den ideologischen Implikationen des zeitgenössischen Diskurses auch dadurch nicht entgehen, dass sie sich selbst in eine literarische Tradition und eine mythische Vergangenheit einordnen. Der traditionelle römische Dichtungsdiskurs über die Erfindung der Seefahrt vertritt nun eindeutig eine negative Wertung. Die Argo wird häufig als emblematisches Produkt des technischen Missbrauchs der Natur gesehen und die Erfindung der Seefahrt häufig mit moralischem Verfall und dem Ende des Goldenen Zeitalters in Verbindung gebracht, etwa bei Cat. 64,42 Tib. 1,3,35–50, Ov. Met. 1,89–96 oder Verg. Ecl. 4,31f., wo das Segeln mit der prisca fraus des Prometheus assoziiert wird. In der Kaiserzeit klagen Horaz, Seneca und Lukan über die Verletzung des Meeres, das doch als natürliche Trennung von Land und Leuten gedacht sei (Hor. carm. 1,3,21–24; Sen. Med. 301–379, speziell 335–339; Luc. 3,193–196). Exemplarisch sind die Verse des Horaz aus carmen 1,343 , die nicht zufällig ein Echo auch in der Medea des Seneca (Sen. Med. 301–308; 329–334; 335–339)44 gefunden haben. Auch Valerius spielt auf die negative Bewertung an, doch durch die unterschiedlichen Perspektiven, die verschiedene Figuren des Epos vertreten, ist die Frage, wie das Gedicht oder gar Valerius selbst ideologisch zur Erfindung der Seefahrt stehe, kaum zu beantworten. Als Extreme des Meinungsspektrums treten Jupiter (und Juno und Minerva) als Befürworter auf, Boreas und Neptun hingegen als Gegner. Ambivalenz ist programmatisch gewollt: Valerius präsentiert in

40 Siehe Malamud/McGuire 1993, 196 und 205. 41 Zum Umgang von Valerius und Statius mit Ovids Landschaften siehe Keith 2014. Doch auch im Umgang mit Landschaften aus Ovids Metamorphosen handelt es sich nicht lediglich um ein intertextuellen Spiel, sondern die Referenzen auf Ovid weisen inhaltliche Funktionalität auf, indem sie politische und soziale Diskussionen des zeitgenössischen kaiserzeitlichen Rom aufnehmen, vgl. Keith 2014, 372: „Both Statius and Valerius Flaccus dynamically renegotiate the mythological landscapes of Ovids Metamorphoses in order to illuminate the martial and marital themes of their own epics, renovating Ovidian techniques of landscape description in their articulation of the political and social complexities of contemporary Roman imperial order.“ 42 Fabre-Serris 2008, 167–214, konzentriert sich vor allem auf Catulls Version der Argonautenfahrt, untersucht aber auch die Argonautica des Valerius Flaccus und geht der mythologischen Potenzialität der Argonautensage nach. 43 Hor. carm. 1,3,21–4: nequiquam deus abscidit prudens oceano dissociabili terras, si tamen inipiae non tangenda rates transiliunt vada. 44 Bei ihrer Untersuchung zu Valerius Flaccus’ Argonautica bezieht Slaney 2013, 435f. auch Senecas Medea (vv. 301– 302, 361–364, 375–379) ein.

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mythischem Rahmen beide ethisch-moralischen Grundpositionen, die des Primitivismus und die des Progressivismus. Jupiter stellt seine Pläne der Weltgeschichte und der Rolle der Argo dabei auf einer Götterversammlung dar (Val. Fl. 1,542–546/556–560):

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accelerat sed summa dies Asiamque labantem linquimus et poscunt iam me sua tempora Grai. inde meae quercus tripodesque animaeque parentum hanc pelago misere manum. via facta per undas perque hiemes, Bellona, tibi. [. . .] [. . .]

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[. . .] pateant montes silvaeque lacusque cunctaque claustra maris, spes et metus omnibus esto. arbiter ipse locos terrenaque summa movendo experiar, quaenam populis longissima cunctis regna velim linquamque datas ubi certus habenas. Aber der letzte Tag eilt heran und wir verlassen das wankende Asien, und schon fordern die Griechen von mir ihre eigenen Zeiten. Daher haben meine Eichen und Dreifüße und die Geister der Eltern diese Schar aufs Meer entsandt. Ein Weg ist durch die Wogen gebahnt und durch Stürme, Bellona, für dich. [. . . ] Offen stehen sollen die Berge und Wälder und Seen und alle Schranken des Meeres; Hoffnung und Furcht soll allen sein! Ich selbst will, indem ich Orte und Erdoberfläche bewege, als Schiedsrichter prüfen, welche Herrschaft über sämtliche Volker ich denn als längste möchte und wo ich die von mir gegebenen Zügel entschlossen hinterlasse.

Die Reise der Argo werde die See öffnen (via facta per undas/perque hiemes, vv. 1,545f.; pateant montes silvaeque lacusque/cunctaque claustra maris, vv. 1,556f.), genauer gesagt, der Gottheit Bellona werde dann das Meer offenstehen (v. 1,546: Bellona, tibi) und so Krieg und Machtverschiebungen ermöglichen. Jason weiß, dass er und seine Männer mit der Überfahrt über das offene Meer die Meeresgötter erregen könnten, und opfert ihnen vor der Abfahrt – in der Tat wird die Überfahrt von Boreas als Transgression und nefas charakterisiert (Val. Fl. 1,598), als Provokation (minas, Val. Fl. 1,606) und verrücktes Unternehmen (insanamque ratem, Val. Fl. 1,605). Jason erklärt, er wolle die Götter nicht provozieren, sondern seine Meeresüberquerung sei angeordnet (Val. Fl. 1,188b– 204). Die Verse 196–199 machen deutlich, dass er sich selbst der transgressiven und provokativen Handlung bewusst ist (Val. Fl. 1,196–199): da veniam! scio me cunctis e gentibus unum inlicitas temptare vias hiememque mereri: sed non sponte feror [. . .]. Verzeih! Ich weiß selbst, dass ich als einziger aus allen Völkern unerlaubte, unzulässige Wege versuche und einen Sturm verdiene. Aber ich werde gegen meinen Willen fortgetragen.

Sowohl die Meeresgötter wie auch Jason bedienen sich dabei Anspielungen auf die Provokation der Giganten – und in der Tat wird das Ergebnis zunächst auch ein Seesturm sein.45 Gegen 45 Zissos 2006 und Stover 2012, 79–112 zum Thema ‚Seesturm‘ in Valerius’ Argonautica; zu den Anspielungen auf die Giganten in diesem Kontext siehe Zissos 2006, 86; Stover 2012, 96.

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Ende des Buches wird die Formulierung inlicitas temptare vias mit inlicitas temerare [. . .] undas (Val. Fl. 1,627) variiert. Vor Beginn der Reise hatte Jason in positiverem Licht seinen Kameraden mitgeteilt (in seiner Situation als Anführer: mitteilen müssen), dass die Reise ein höheres göttliches Ziel habe und von Jupiter angeordnet worden sei, um Kommunikations- und Handelsaustausch zwischen weit entfernten Völkern zu ermöglichen: Val. Fl. 1,168–169 o quantum terrae, quantum cognoscere caeli permissum est, pelagus quantos aperimus in usus! O wie viel Land, wie viel Himmel kennenzulernen ist erlaubt, zu wie großem Nutzen öffnen wir das Meer!46 Val. Fl. 1,246–247 [. . .] ipse suo voluit commercia mundo Iuppiter [. . . ] Jupiter selbst wollte den Handelsaustausch auf der Welt.

Die Figur des Jason kombiniert hier Eigenschaften eines dux und eines Entdeckers, durchaus dem realhistorischen Ideal entsprechend.47 Bei Plinius ist dieses Ideal durch Alexander den Großen präfiguriert, hier durch Jason. Jupiter plant aber nicht, dass die Menschen lediglich friedlichen Waren- und Kulturaustausch betreiben, sondern um die Hegemonie in der Welt kämpfen. Dieses Konzept der Machtverschiebung vom Osten ist ein Aspekt, der bei Apollonios’ Version fehlt. Er kommt einerseits durch die Historiographie bzw. Geographie hinein (siehe die Vorstellung des Aufstiegs und Niedergangs großer Weltreiche in Hist. 1,7), andererseits durch Vergils Aeneis.48 Epische und wissenschaftliche Diskurse überschneiden sich. Im geographischen Buch 6 seiner Naturkunde nennt Plinius mehr als 1500 Toponyme. Anders als in den Büchern 3–5 beschreibt er hier nicht Regionen, die der Antike relativ vertraut waren, sondern eher unbekannte, und bietet daher oftmals den einzigen Beleg. In diesem Zusammenhang betont Plinius, dass die Bedeutung von Orten infolge von politischen Änderungen zu- oder abnimmt (Plin. NH 6,105): quae omnia gentium portuumve aut oppidorum nomina apud neminem priorum reperiuntur, quo apparet mutari locorum status. Alle diese Namen von Völkern, Häfen oder Städten finden sich bei keinem der früheren (Schriftsteller), woraus klar wird, dass sich der Status von Gegenden ändert.

Der Wechsel von Macht und zu- oder abnehmende Bedeutung innerhalb der Weltordnung durch die Öffnung der Weltmeere wird, wie gesehen, auch von Valerius verhandelt, und bei ihm 46 Es sei auf die intertextuelle Kette Lukan – Valerius – Statius verwiesen, in der die Konnotationen dieser Aussage variieren, der aber an dieser Stelle nicht detailliert nachgegangen werden kann. Dazu siehe Stover 2012, 48f.; Stover 2014, 296f. 47 Vgl. Galli 2007, 127: „comandante esploratore“. 48 Ganniban 2014 vergleicht Jupiters Prophezeiung bei Vergil und Valerius Flaccus. Zu Prophezeiungen in Valerius Flaccus’ Argonautica siehe eingehend Manuwald 2009.

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wird der temporale Bogen gleich am Anfang des Epos bis zur Gegenwart gespannt. Valerius weist auf die Zukunft Roms und verbindet Jason und seine Reise mit der imperialen Zukunft, wenn bereits zu Beginn der Argonautica Vespasian angesprochen wird (Val. Fl. 1,7–9): [. . .] tuque o pelagi cui maior aperti fama, Caledonius postquam tua carbasa vexit Oceanus Phrygios prius indignatus Iulos. [. . . ] und du, o, dem der Ruhm des offenen Meeres größer ist, nachdem der Caledonische Ozean, der sich (vorher) über die phrygischen Iulier empört hat, deine Segel getragen hat.

Valerius Flaccus stellt Vespasian sogleich bei dessen erster Erwähnung als nautischen imperator in Abgrenzung zur julisch-claudischen Dynastie dar, wenn er dessen Britannien-Mission hervorhebt. Wenige Verse später ruft Valerius Flaccus Vespasian als Unterstützer seiner Dichtung an und als zukünftigen Leitstern für die Seeschifffahrt (Val. Fl. 1,16–21):

20

cum iam, genitor, lucebis ab omni parte poli neque erit Tyriae Cynosura carinae certior aut Grais Helice servanda magistris. seu tu signa dabis seu te duce Graecia mittet et Sidon Nilusque rates: nunc nostra serenus orsa iuves, haec ut Latias vox impleat urbes. Wenn du schon, Erzeuger, von jedem Teil des Poles (als Gestirn) leuchten wirst und nicht Cynosura (der Kleine Bär) für tyrische Kiele sicherer sein wird oder Helice (der Große Bär) von griechischen Steuermännern zu beobachten. Du wirst Zeichen geben, sei es, dass unter deiner Führung Griechenland, sei es, dass Sidon und Nil Schiffe aussenden wird. Jetzt mögest du freundlich unsere Vorhaben unterstützen, auf dass diese Stimme die latinischen Städte erfülle!

Auch hier wird deutlich, wie Dichtung und Thema der Dichtung, die Seefahrt, verschmelzen.49 Die Fahrt der Argo wird mit der Gegenwart verknüpft und mit der zeitgenössischen Seefahrt. Valerius benutzt dabei eine Gegenüberstellung von Griechenland und Phönizien bzw. Ägypten, eine traditionelle Gegenüberstellung, wie sie auch in Wissenstexten zu finden ist. Sicherlich stehen griechische, sidonische und ägyptische Schiffe für die Luxusgüter, die sie nach Rom bringen,50 und für Routen, die durch die Fahrt der Argo erschlossen und in der Gegenwart genutzt werden. Vespasian garantiert also auch erfolgreiche Handels-Schifffahrt. Die ‚Flavischen Argonautica‘ wurden in einer Kultur schneller imperialistischer Expansion geschrieben und rezipiert, in einer Kultur, die militärische und ökonomische Fragestellungen von Übersee-Herrschaft verhandelt. Genau dies tut Valerius anhand dieser mythischen Geschichte der ersten Überseefahrt, indem er die verschiedenen Auffassungen auf mehreren Ebenen diskutieren lässt: 1. von verschiedenen Erzählinstanzen (intra- und extradiegetisch: Erzähler-persona, Jason in verschiedenen Funktionen in verschiedenen Situationen, die Götter mit kontroversen Meinungen), 49 Solchen „Verschmelzungen“ geht auch Haß in seinem Beitrag zu Vergils Georgica in diesem Band nach (siehe oben, S. 273–292). 50 Zur luxuria-Konnotation vgl. Slaney 2014, 440.

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2. durch die Erzählung selbst (Beispiel: Seesturm als Reaktion auf die Fahrt), 3. durch Intertextualität (Beispiel: Beginn der Argonautica und Senecas Chormahnung audax nimium qui freta primus/rate tam fragili perfidia rupit [Sen. Med. 301–2]). Es lässt sich zudem eine Überschneidung des wissenschaftlichen und des epischen Diskurses feststellen, die auch für die Frage der Wertung von Seefahrt nicht uninteressant ist.51 Valerius lässt durchaus philosophische52 und historio-geographische Theorie einfließen, und er nutzt vielleicht die wissenschaftliche Autorität zeitgenössischer Theorien der Naturgeschichte, um das Argument ‚Seefahrt ist widernatürlich, weil die verschiedenen Länder von Natur aus durch das Meer getrennt sind‘ abzuschwächen. Es lässt sich dabei eine Austauschbewegung feststellen: Valerius re-mythologisiert den ‚wissenschaftlichen‘ Ansatz teilweise auch wieder, indem er eine Vorgeschichte konstruiert, die die traditionelle Negativwertung und Verurteilung der Argo gewissermaßen umgeht. Man kann eine mögliche Verteidigung der Seefahrt herauslesen, wenn man annimmt, damit werde impliziert, dass Seefahrt begonnen wurde, um getrennte Landmassen wieder zu verbinden. Wie Plinius beschreibt nämlich auch Valerius, dass Gibraltar von Afrika abgetrennt worden sein, als das Meer das Mittelmeer bildete (Val. Fl. 1,587–590):

590

neque enim tunc Aeolus illis rector erat, Libya cum rumperet advena Calpen Oceanus, cum flens Siculos Oenotria fines perderet et mediis intrarent montibus undae Denn damals war Aeolus nicht ihr König, als der eindringende Ozean Calpe von Libyen trennte, als das weinende Oenotria seine sizilischen Gebiete verlor und Wellen zwischen die Berge traten.

Was Valerius im ersten Buch ‚wissenschaftlicher‘ darstellt, ist in 2,616–620 ‚mythologischer‘ ausgedrückt, aber dennoch auf geologisch-geographische Fakten eingehend53 :

620

has etiam terras consertaque gentibus arva sic pelago pulsante, reor, Neptunia quondam cuspis et adversi longus labor abscidit aevi ut Siculum Libycumque latus, stupuitque fragore Ianus et occiduis regnator montibus Atlans. Auch diese Länder, diese Felder, den Völkern verknüpft, indem das Meer anschlägt, haben einst, glaube ich, Neptuns Dreizack und die lange Arbeit der feindlichen Zeit so abgetrennt wie die Küste Siziliens und Libyens, und es staunte Janus über den Lärm, und Atlas, der Herrscher über die westlichen Berge.

Valerius bietet eine Art geologische Vorgeschichte („geological prehistory“54 ) und könnte in der Anlage der geologischen Digression auf Plinius zurückgegriffen haben.55 Dass die Straße von Gibraltar und die Trennung Italien-Sizilien so entstanden ist, legt Plinius im zweiten Buch und sechsten Buch dar: 51 52 53 54 55

Dazu siehe Zissos 2006. Siehe Ferenczi 2014. Auf die Nähe zu Plin. NH 5,141 verweist Poortvleit 1991, ad loc. Manuwald 2014, 471. Siehe Zissos 2006, 91.

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Nina Mindt Plin. NH 6,1–2 non fuerat satis oceano [. . .]. inripuisse fractis montibus Calpeque Africa avolsa [. . .]. Der Ozean gab sich nicht damit zufrieden, [. . . ] nach Durchbrechung der Gebirge und Losreißen Kalpes von Afrika eingedrungen zu sein [. . . ]. Plin. NH 2,204 namque et hoc modo insulas rerum natura fecit: avellit Siciliam Italiae, Cyrpum Syriae, Euboeam Boeotiae, Euboeae Atalanten et Macrian, Besbicum Bithyniae, Leucosian Sirenum promunturio. Denn auch auf folgende Weise hat die Natur Inseln gebildet: Sie riss Sizilien von Italien, Zypern von Syrien, Euboia von Boiotien, Atalante und Makria von Euboia, Besbikos von Bithynien und Leukosia vom Vorgebirge der Sirenen los.

Beide sprechen vom Auseinanderdriften ursprünglich zusammenhängender Erdteile durch Naturgewalt. Valerius folgt Plinius auch in der Personifikation und darin, die Gewalt zu betonen (rumpere). Diese Vorstellung ist in der lateinischen Literatur freilich durchaus verbreitet, und der epische Strang (Ennius Ann. 9,302; Verg. Aen. 3,414–419; Luc. 9,415–416) spielt sicherlich ebenso mit. Woher Valerius diese wissenschaftlich zutreffende Vorstellung auch nahm: In der Argonautica jedenfalls ist die Implikation, dass die Seefahrt begonnen wurde, um getrennte Landmassen wieder zu verbinden, ein Argument von nicht zu unterschätzender Bedeutung.56 Darin ist vielleicht eine Spur von Plinius’ Konzeption einer intrinsischen Solidarität zwischen Natur und Kultur zu sehen.57 Es gibt also Ähnlichkeiten, ja sogar Überschneidungen beider Textgattungen, von Wissensund Erzählliteratur: Da sind die historiographischen und geologisch-geographischen Einschläge und die (wenn auch unterschiedliche) Verarbeitung von Periplus-Literatur, aber auch der gelehrte Umgang mit den Quellen, welcher explizit reflektiert wird. Die Seereise und deren Akteure werden zudem unter ganz ähnlichen Kategorien besprochen. Bei den verschiedenen Autoren lassen sich dabei unterschiedliche Wertungen in einzelnen Kategorien der Seefahrt erkennen: Bei Plinius wird die Verkürzung der Distanz und der zu Luxus degenerierende Handel negativ bewertet, bei Valerius der Krieg. Der Zusammenhang von Macht, Krieg und Meer ist allerdings bei beiden präsent und wird in Vers 54 des ersten Buches der Argonautica verdichtet (Val. Fl. 1,54): imperio et belli rebus [. . .] marique. Die Fahrt zur See ist ein Thema, über das im Flavischen Rom anscheinend viel diskutiert wurde, und diese Diskussionen finden polyphonisch in die Werke der Zeit Einzug. Der aktuelle imperiale Diskurs ist deutlich spürbar. Die Seereise ist ein aktuelles Thema, an dem sich Chancen und Gefahren, positive und negative Tendenzen des imperialen Flavischen Rom ablesen lassen: in der Realität, in der Literatur und als Symbol für das eigene Schreiben.

56 Vgl. Zissos 2006, 89–91; Stover 2012, 91: „This feature of Valerius’ narrative provides a strong moral justification for the voyage, largely by implicitly rejecting the primitivist view of seafaring as violation of the ‚original‘ state of nature.“ 57 So Conte 1994, 109.

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Bildbetrachtung unter dem Segel der Rhetorik Eine Kreuzfahrt in den Eikones Philostrats des Älteren Cordula Bachmann (Erfurt) Das Reisen zu Schiff war in der gesamten Antike, vor allem in der römischen Kaiserzeit, eine Erfahrung, welche den meisten Menschen vertraut war.1 Es stellte eine verhältnismäßig schnelle, sichere und wenig störanfällige Art der Fortbewegung dar in einer Zeit, in der Straßen holprig, Herbergen selten und minderwertig und Straßenräuber allerorten zu gewärtigen waren.2 Darum wurde das Schiff von den unterschiedlichsten Personengruppen für die verschiedenartigsten Zwecke genutzt: von Händlern zur Beförderung ihrer Waren, von Forschungsreisenden zum Erreichen ferner Ziele, von Heerführern zum Transport von Truppen, von Politikern und Gesandten für ihre diplomatischen Missionen,3 von Pilgern auf ihren Wegen zu überregional relevanten Heiligtümern4 usw., allerdings auch von Seeräubern und Sklavenhändlern für ihre finsteren Zwecke, so dass das Reisen zu Schiff mitnichten gefahrlos war. Wen wundert’s daher, dass das lebensweltlich so bedeutsame Phänomen der Schifffahrt auch in den Eikones (lat. Imagines, abgekürzt Im.) auftaucht, den „Bildern“ Philostrats des Älteren. Schließlich behauptet der Autor Philostrat im Proömium, der Einleitung zu seinem Buch über Malerei, dass der Malkunst kein Gegenstand der menschlichen Erfahrungswelt fremd sei: „Die Malerei arbeitet mit Farben. [. . . ] Aus diesem einen Material aber macht sie mehr als eine andere Kunst aus vielen Materialien: Denn sie lässt den Schatten sichtbar werden und ist vertraut mit dem Unterschied zwischen dem Blick eines Wütenden, eines Leidenden und eines Frohgestimmten. [. . . ] Und die Bildkunst kennt die helle, die graue und die schwarze Augenfarbe, das blonde, feuerfarbene und sonnengelbe Haar sowie die Farbe von Kleidung und Waffen, und sie kann Innenräume ebenso gut darstellen wie Außenansichten von Häusern sowie Wälder, Berge, Quellen und die Luft, die alles umgibt.“5

1 Höckmann 1985, 23–24. 2 Dass es sich bei der in der antiken Literatur oft anzutreffenden Klage über die Gefahren der Seefahrt offenbar häufig entweder um einen literarischen Topos handelt oder das Urteil der Autoren durch Seekrankheit beeinträchtigt worden sein dürfte, zeigen Kirstein/Ritz/Cubasch im vorliegenden Band (siehe oben, S. 15–34). 3 Zu den aus politischen Gründen unternommenen Reisen des Cicero vgl. die Beiträge von Benferhat und Hellwing in diesem Band (siehe oben, S. 67–78 und S. 81–95). 4 Dass seine Reisen den Rhetor Aristides zu den Heiligtümern der von ihm verehrten Göttern führten, erhellt aus dem Tagungsbeitrag von Börstinghaus in diesem Band (siehe oben, S. 209–225). 5 Philostr. Im. Proömium § 2: ζωγραφία δὲ ξυμβέβληται μὲν ἐκ χρωμάτων, [. . .] ἀλλὰ καὶ πλείω σοφίζεται απὸ τούτου [τοῦ] ἐνὸς ὄντος ἢ ἀπὸ τῶν πολλῶν 〈ἡ〉 ἑτέρα τέχνη. σκιάν τε γὰρ ἀποφαίνει καὶ βλέμμα γινώσκει ἄλλο μὲν τοῦ μεμηνότος, ἄλλο δὲ τοῦ ἀλγοῦντος ἢ χαίροντος. [. . .] χαροπὸν δὲ ὄμμα καὶ γλαυκὸν καὶ μέλαν γραφικὴ οἶδε, καὶ ξανθὴν κόμην οἶδε καὶ πυρσὴν καὶ ἡλιῶσαν καὶ ἐσθῆτος χρῶμα καὶ ὅπλων ϑαλάμους τε καὶ οἰκίας καὶ ἄλση καὶ ὄρη καὶ πηγὰς καὶ τὸν αἰθέρα, ἐν ᾧ ταῦτα.

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Ja, gerade die Universalität der Malkunst sei es, die ihn, Philostrat, dazu veranlasst habe, ein immerhin zweibändiges Werk diesem Thema zu widmen.6 Der Höhepunkt von Philostrats literarischem Schaffen ist im frühen 3. Jh. n. Chr. anzusetzen. Selbst griechischsprachig und auch auf Griechisch publizierend, scheint Philostrat nach dem Zeugnis der Suda, einem Lexikon paganer Autoren, und auch eigenen Aussagen zufolge in den höchsten Kreisen der römischen Gesellschaft verkehrt zu haben. So war er offenbar der Hofintellektuelle des Kaisers Septimius Severus (146–211 n. Chr., Kaiser ab 193 n. Chr.) und gehörte dem berühmten Philosophenzirkel von dessen Gattin an, der Kaiserin Julia Domna († 217 n. Chr.).7 Die Eikones nun, die ca. 225 n. Chr. geschrieben und veröffentlicht wurden, befassen sich mit dem Thema der Malkunst. Sie bestehen aus 65 fast gänzlich unverbunden aufeinander folgenden Bildinterpretationen, die in eine romanhafte Rahmenhandlung eingebettet sind. Der Schauplatz dieser Rahmenhandlung ist die Gemäldegalerie einer vornehmen Villa, gelegen am Golf von Neapel, dem Erholungsgebiet der zeitgenössischen römischen High Society. Villa und Galerie – so die Fiktion – gehören einem wohlhabenden Freund Philostrats, bei dem er Logiergast ist. Obgleich Philostrat dort eigentlich nur Urlaub machen will, erklärt er sich auf Bitten einer Schar wissbegieriger Studenten und vor allem auf Drängen des etwa 10jährigen Sohns seines Gastfreundes schließlich bereit, einige der Gemälde aus dessen Kunstsammlung zu beschreiben, zu erklären und zu interpretieren. Im Proömium der Eikones wird dieser fiktive Rahmen der 65 Bildinterpretationen vorgestellt, die dann den Hauptteil des Werks ausmachen.8 Wie viele Autoren der sogenannten Zweiten Sophistik war Philostrat neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit vor allem als Rhetor und Rhetorikprofessor tätig. Diese Tatsache hat die richtige Einordnung seines Werkes in der Altertumsforschung der Neuzeit zum Teil sehr erschwert: Denn die rhetorisch durchgeformte Textgestaltung brachte vor allem Wissenschaftler des 19. Jhs. dazu, Philostrat als Schwindler entlarven zu wollen, der in den Eikones zahlreiche aus der literarischen Überlieferung bekannte Mythen und Legenden „nachgeschrieben“ habe, anstatt „echte“ Gemälde zu beschreiben, wie er doch im Proömium des Werkes zu suggerieren scheine.9 Auch heute dominiert die Frage nach der Rhetorizität die wissenschaftliche Diskussion über die Eikones. Denn immer noch steht fast ausschließlich die rhetorische Qualität der Eikones im Vordergrund der Rezeption: So wird in neueren Publikationen meist vorausgesetzt, dass Philostrat seine Texte als vollgültigen Ersatz betrachtet habe für die Gemälde, auf die sich die

6 Im Folgenden stützt sich der griechische Text der Eikones auf die Wiener Ausgabe von 1893 (im Folgenden: Vindobonenses 1893), die Übersetzung ist die der Verfasserin. 7 Zur historischen Person des Autors siehe grundlegend De Lannoy 1997, passim sowie Primavesi/Giuliani 2012, 27–36 und Bachmann 2015, 10–14. 8 Für eine Untersuchung und Deutung des Proömiums siehe Primavesi/Giuliani 2012, passim sowie Bachmann 2015, 29–37. 9 Beispielhaft sei hier das Streitschriftduell zwischen Karl Friederichs (Friederichs 1860 und 1864) und Heinrich Brunn (Brunn 1861 und 1871) angeführt. Einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der Eikones vermittelt Bachmann 2015, 43–49.

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Eikones demnach nur vordergründig bezögen: Das Lesen von Bildbeschreibungen, so etwa lässt sich die These zuspitzen, sei letztlich dem Betrachten von Bildern gleichwertig, wenn nicht gar überlegen – Philostrats rhetorischem Expertentum sei Dank.10 Logisch folgt daraus, dass Philostrats Eikones die Kulturtechnik der verstehenden Bildbetrachtung überhaupt überflüssig machen. Der Rhetoriker hätte nach dieser Vorstellung den Maler eingeholt, wenn nicht gar überholt. Im Unterschied dazu wird in diesem Artikel die These aufgestellt, dass die Eikones Beispiele vorbildhafter Interpretationskunst enthalten, und zwar bezogen auf fiktionale, d. h. zwar ausgedachte, aber durchaus mögliche Gemälde. Es geht in den Eikones also nicht um das Ersetzen von Bildern durch Texte oder das Übersetzen von Bildern in das Medium der Sprache.11 Die Eikones bieten dem interessierten Leser vielmehr einen reichen Vorrat an vorbildlichen Gemäldeinterpretationen, wobei die Themen der fiktionalen Gemälde ausgesprochen viele verschiedene und verschiedenartige Bereiche der zeitgenössischen, d. h. kaiserzeitlichen Lebenswelt berühren, zu der natürlich auch die Erfahrung gehört, „auf segelbeflügelten Schiffen das Meer zu befahren“. Schiffe und historische oder mythologische Schiffsreisende tauchen nun in den Eikones auf zahlreichen Bildern auf. Untersucht werden soll hier das siebzehnte Bild aus dem zweiten Buch der Eikones, das den griechischen Titel Nêsoi, zu Deutsch Inseln trägt. Zu sehen sind darauf neun Inseln im Meer, auf denen sich ganz unterschiedliche Dinge abspielen. Die Nêsoi sind die mit Abstand längste Bildbetrachtung der Eikones. Wie man sich den Aufbau des den Nêsoi zugrunde gelegten Bildes genau vorzustellen hat, ist allerdings nicht ganz klar.12 Es gibt mindestens drei mögliche Szenarien: Entweder nimmt man ein riesiges Gemälde an, auf dem die neun Inseln im Stile der kontinuierenden Darstellungsweise verteilt sind,13 oder einen Bilderfries, etwa vergleichbar dem sogenannten Odysseefries vom Esquilin,14 oder einen Zyklus von Einzelbildern. Jedenfalls scheint der Bildbetrachter die neun Inseln nicht alle gleichzeitig und auf einen Blick erfassen zu können. Dennoch ist es offenbar für das Gelingen der Interpretation unabdingbar, dass die Nêsoi als Ensemble rezipiert werden, da ihre Qualität nur als Einheit zu würdigen ist. Der Bildbetrachter muss sich folglich an dem Gemäldezyklus oder Fries entlangbewegen. Es ist eine Progression erforderlich, um Insel für Insel, Bildabschnitt für Bildabschnitt in Augenschein nehmen zu können. Dieses Vorwärtsgehen setzt Philostrat nun, dem maritimen Ambiente der Nêsoi entsprechend, ausdrücklich mit der

10 Hier sei exemplarisch Elsner 1995, 28–38 angeführt; vgl. außerdem Giuliani 2007. Baumann 2011 sieht in den Eikones zwar keinen Wettbewerb zwischen den Künsten, untersucht aber fünf vor allem rhetorische Qualitäten des Werks, die er unter dem Oberbegriff der Virtuosität zusammenfasst. 11 Anders Baumann 2011, 81, demzufolge „das Medium Text das Medium Bild [. . . ] evoziert“. 12 Vgl. Baumann 2011, 79. 13 Bei der sogenannten kontinuierenden Darstellungsweise erwecken nebeneinander stehende, zeitlich versetzte Bilder den Eindruck von Handlungsfortschritt, einem modernen Comic nicht ganz unähnlich. 14 Allerdings scheinen sich die Eikones nicht etwa auf als qualitativ minderwertig empfundene Wandgemälde zu beziehen, sondern auf die hochgeschätzten Tafelbilder, zur Bewertung dieser Bildarten vgl. Plin. NH XXXV 118.

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physischen Erfahrung einer Schiffsreise gleich.15 So fordert er seinen kleinen Begleiter, den bereits erwähnten Sohn seines Freundes, zu Beginn der Bildbetrachtung dazu auf, sich vorzustellen, sie bestiegen zusammen ein Schiff, um zwischen den Inseln zu kreuzen und jede von ihnen in Ruhe betrachten und besprechen zu können. Text 1: Philostr. Im. II 17 § 1 βούλει, ὦ παῖ, καθάπερ ἀπὸ νεὼς διαλεγώμεθα περὶ τουτωνὶ τῶν νήσων, οἷον περιπλέοντες αὐτὰς τοῦ ἦρος, ὅτε Ζέφυρος ἱλαρὰν ἐργάζεται ϑάλατταν προσπνέων τῆς ἑαυτοῦ αὔρας; ἀλλ’ ὅπως ἑκὼν λελήσῃ τῆς γῆς, καὶ ϑάλαττά σοι ταυτὶ δόξει μήτ’ ἐξηρμένη καὶ ἀναχαιτίζουσα μήθ’ ὑπτία καὶ γαληνή, πλωτὴ δέ τις καὶ οἷον ἔμπνους.

Bist du einverstanden, Junge, wenn wir uns über diese Inseln hier wie von einem Schiff aus unterhalten, als ob wir sie umsegeln, im Frühling, wenn Zephyrus das Meer heiter macht, indem er etwas von seinem Hauch hineinbläst? Aber damit du gar nicht mehr ans Festland denkst, soll dir dies hier auch als Meer erscheinen, allerdings weder als aufgewühltes und wildes, noch als flaches und ruhiges, sondern als befahrbares und gewissermaßen echtes.

Die interpretatorische Leistung, die der Knabe als Bildbetrachter zunächst zu erbringen hat, betrifft also weder nautische noch sprachlich-stilistische Fragen. Denn während der Seemann sich nur dafür interessiert, ob die See stürmisch (ἐξηρμένη καὶ ἀναχαιτίζουσα) oder ruhig (ὑπτία καὶ γαληνή) ist, und der Literat, ob ein prosaischer Ausdruck (ἐξηρμένη/ὑπτία) oder die poetische Variante (ἀναχαιτίζουσα/γαληνή) zu wählen ist, zählt für das Gelingen der Bildinterpretation einzig die Illusionskraft der bildlichen Darstellung (πλωτὴ καὶ ἔμπνους zu ergänzen ϑάλαττα). Der Imagination einer echten Schifffahrt setzen nun die medialen Bedingungen eines Gemäldes allerdings starke Widerstände entgegen. Denn eine bildliche Darstellung ist unbewegt, geräusch- und geruchslos und kann von sich aus keinen echten Handlungsablauf generieren. Der Bildinterpret muss sich daher der Frage stellen, wie es einer bildlichen Darstellung gelingen kann, über das Erzeugen einer allgemeinen maritimen Stimmung hinaus auf den Betrachter in einer Weise einzuwirken, dass in ihm das Bedürfnis geweckt wird, von Bildabschnitt zu Bildabschnitt fortzuschreiten und so die Erfahrung von Seefahrt praktisch nachzuahmen, d. h. an der Suggestion des Schifffahrens aktiv mitzuwirken. Diese Frage erhält umso größere Brisanz, als in der Antike das Reisen zu Schiff als eine der schnellsten Fortbewegungsarten galt16 und, zumindest in der antiken Reiseliteratur, das Reisen zu Fuß, zu Pferd oder mit dem Wagen, was die Geschwindigkeit anging, mühelos in den Schatten stellte.17 Vergleichsweise schnell wechselte auch das Panorama, das sich dem Seefahrer bot. Denn antike Schifffahrt vermied nach Möglichkeit die offene See, wo der Blick aufs Meer tagelang 15 Da das, was wir über den Autor Philostrat wissen, mit der im Proömium der Eikones kreierten persona des IchErzählers weitgehend übereinzustimmen scheint, wird im Folgenden kein Unterschied gemacht zwischen Autor und Sprecher. 16 Bei der Junktur von Schiffsreise und Schnelligkeit handelt es sich offenbar um einen antiken literarischen Topos: Schiffsreisende haben es eilig. Solche Hast wurde durchaus negativ beurteilt, dazu vgl. den an Belegstellen reichen Beitrag von Mindt in diesem Band (siehe oben, S. 359–368). Ob es der Wahrheit entsprach, dass das Reisen zu Schiff schneller war als das Reisen zu Lande, muss hier dahingestellt bleiben. 17 Zum langsamen Vorankommen auf dem Landweg vgl. Geus 2013, 139–140.

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der gleiche geblieben wäre. Schiffe fuhren in der Regel an der Küste entlang oder kreuzten zwischen Inseln hin und her.18 Für den antiken Schiffsreisenden, zumal wenn er als Tourist oder Handlungsreisender und nicht als Mitglied der Schiffsmannschaft unterwegs war, ergab sich also ständig ein neuer Ausblick auf Ufergegenden des Festlandes oder der Inseln – womit nicht gesagt sein soll, dass der antike Schifffahrer keine Zwischenstopps einlegte und nicht auch mal an Land verweilte. Aber schließlich bestieg er wieder das Schiff und fuhr weiter, bis er sein Ziel erreicht hatte. Eine Reise zu Schiff war daher ein von den Empfindungen der Schnelligkeit, der Progression und der visuellen Diversität geprägtes Erlebnis, denen der statische Charakter des Mediums Bild zunächst einmal diametral entgegengesetzt ist. Philostrat muss also bei der exemplarisch konzipierten Bildbetrachtung eines Gemäldes von der Art der Nêsoi verhindern, dass sich die Studenten in den Anblick einer der beschriebenen Inseln, also eines Abschnitts des Bilderfrieses oder -zyklus, so vertiefen, dass sie nicht mehr weitergehen und damit die Illusion der Schifffahrt durchbrechen. Dabei geht es nicht um ein hektisches Vorwärtsdrängen – eher um ein sanftes Führen des Blicks, wie es Zeichen eines guten Museumsguides ist, als welcher Philostrat sich durchaus versteht.19 Diese Anforderung an den Meister-Interpreten unterscheidet die Nêsoi von allen anderen Gemälden der Eikones: Auf den anderen Bildern fordert die Logik der Handlung oft geradezu ein Verweilen des Bildbetrachters vor dem Einzelbild,20 die Betrachtung der Nêsoi jedoch kann nur „im Fluss“ sinnvoll vollzogen werden. Geht es Philostrat sonst vor allem darum, aus den bildimmanenten Signalen der einzelnen Gemälde dem Betrachter bzw. Leser Bewegung und Handlungsfortschritt innerhalb des Bildgeschehens erfahrbar zu machen, so muss er bei den Nêsoi Bewegung und Progression im Betrachter selbst erzeugen. Dies wiederum gelingt ihm durch die Suggestion einer „Schifffahrt übers Meer“, die, wie gesagt, vom antiken Bildbetrachter ganz selbstverständlich mit zielgerichteter, zügiger Fortbewegung in Verbindung gebracht wurde.21 Dadurch stellt sich in den Nêsoi ein dialektisches Verhältnis zwischen Bildgegenstand und Bildbetrachtung ein: Das Inselbild ist nur zu verstehen, wenn der Bildbetrachter die ihm wohlvertraute Empfindung des Reisens zu Schiff in sich wachruft, während andererseits die Suggestion einer Schifffahrt nur dann gelingen kann, wenn eine entsprechend schlüssige Deutung des Gemäldes vorgelegt wird. Im ersten Teil des Artikels werden nun exemplarisch einige philostrateische Interpretationen individueller Inseln untersucht. Als Bildinterpret wird Philostrat neunmal vor die Aufgabe gestellt, die genrebildlich gestalteten Szenen auf den Inseln dem Betrachter als Vorgänge erfahrbar zu machen, gewissermaßen als in sich geschlossene Ereignisse jeweils mit Anfang und Ende. Denn nur dann, wenn der von Philostrat „gecoachte“ Bildbetrachter das Gefühl hat, beim Betrachten eines Bildabschnitts zu einem Abschluss gelangt, mit der Betrachtung einer Insel also 18 Schulz 2005, 14–15. 19 Philostr. Im. Pr. § 3: ὁ λόγος δὲ [. . .] εἴδη ζωγραφίας ἀπαγγέλλομεν ὁμιλίας αὐτὰ τοῖς νέοις ξυντιθέντες, ἀφ’ ὧν ἑρμηνεύσουσίν τε καὶ τοῦ δοκίμου ἐπιμελήσονται. – „Ich will [. . . ] über Arten der Malerei berichten, indem ich diese als Lehrvorträge für die jungen Leute zusammenstelle, damit sie mit deren Hilfe 〈Bilder〉 deuten und sich dabei an Bewährtes halten können“. 20 Vgl. Bachmann 2017. 21 Dabei ist es Zeichen philostrateischer Spielfreude, dass das rhetorische Bildmaterial aus dem gleichen Gegenstandsbereich stammt wie das Objekt, auf den das Gemälde verweist.

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„fertig“ zu sein, kann sichergestellt werden, dass er zur nächsten Insel „weitersegelt“. Dabei bleibt die das Kernstück der Eikones bildende Fiktion bestehen, dass Philostrat zu Bildbetrachtern spricht, die die besprochenen Gemälde unmittelbar vor Augen haben.22 Im Folgenden seien nun drei für Philostrats Vorgehen besonders aussagekräftige und eindrückliche Beispiele genannt. (1) Die dritte Insel, die Philostrat und sein kindlicher Zuhörer anfahren, ist zweigeteilt, seit eine Sturmflut sie einst auseinanderriss: Text 2: Philostr. Im. II 17 § 4 αἱ δεχόμεναι23 τοῦτον νῆσοι δύο μία μὲν ἄμφω ποτὲ ἦσαν, ῥαγεῖσα δὲ ὑπὸ τοῦ πελάγους μέση ποταμοῦ εὖρος ἑαυτῆς ἀπηνέχθη.

Die zwei Inseln, die [Poseidon] aufnehmen, waren zwar beide einmal eine einzige, wurden aber vom Meer in der Mitte auseinandergerissen und von sich selbst um eine Flussbreite abgetrennt.

Philostrat beschreibt anschließend im Detail die geologischen Spuren, die dieses Naturereignis auf der Insel hinterlassen hat, und schließt einen Geographie-Exkurs an: Text 3: Philostr. Im. II 17 § 4 τοῦτο καὶ ἡ Εὐρώπη ποτὲ παρὰ τὰ Τέμπη τὰ Θετταλικὰ ἔπαθε· σεισμοὶ γὰρ κἀκείνην ἀναπτύξαντες τὴν ἁρμονίαν τῶν ὀρῶν ἐναπεσημήναντο τοῖς τμήμασι, καὶ πετρῶν τε οἶκοι φανεροὶ ἔτι παραπλήσιοι ταῖς ἐξηρμοσμέναις σφῶν πέτραις, ὕλη ϑ’, ὁπόσην σχισθέντων τῶν ὀρῶν ἐπισπέσθαι εἰκός, οὔπω ἄδηλος λείπονται γὰρ δὴ ἔτι αἱ εὐναὶ τῶν δένδρων.

Dies ist auch Europa einst widerfahren, entlang dem thessalischen Tempe(-tal). Erdbeben nämlich, die auch jenes auffalteten, markierten die Zusammengehörigkeit der Berge durch die Einschnitte, und die Abbruchstellen von Felsblöcken sind noch immer sichtbar, die den dort herausgesprengten Felsblöcken entsprechen, und noch kann man erkennen, dass hier Wald gestanden hat, der wahrscheinlich mit herunterstürzte, als die Berge gespalten wurden; es sind nämlich wirklich noch die Wurzelhöhlen der Bäume übrig.

Mit dem Exkurs (Text 3) erreicht Philostrat zweierlei: (i) Erstens konstruiert er durch das griechische Wort ποτέ, „einstmals“, einen zeitlichen Abstand zwischen den Ereignissen auf zwei Gemälden der Galerie: Die ätiologische Geschichte über die Entstehung des Tempetals war nämlich Gegenstand eines Gemäldes, das Philostrat und der Knabe kurz zuvor betrachtet und interpretiert haben. Es ist das vierzehnte Bild des zweiten Bandes der Eikones, die Nêsoi das siebzehnte Bild. Philostrat deutet damit die auf den Galerierundgang bezogene Chronologie der Bildbetrachtungsvorgänge in eine historische Chronologie der auf den Bildern dargestellten Ereignisse um. Nun sind Verweise von einem Bild aufs andere in den Eikones äußerst selten: Obwohl die Eikones als Museumsrundgang konzipiert sind, spricht Philostrat kaum davon, einem Bild oder Motiv bereits begegnet zu sein oder gleich ein Bild oder Motiv ansehen zu wollen. Darum ist der Rückverweis auf das Tempetal-Bild bedeutsam und darf als programmatisch für die Nêsoi betrachtet werden: Der chronologische Faktor soll in die Abfolge der Bildabschnitte 22 Es wird darum in diesem Beitrag nicht zwischen Bildbetrachtern und Lesern unterschieden. 23 δεχόμεναι τοῦτον (τούτων F) FP : δ’ ἐχόμεναι τούτων Vind.

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der Nêsoi integriert werden. (ii) Eine zweite Funktion des Exkurses über die Schaffung des Tempetals ist die Rolle des Abstandhalters zwischen dem Einleitungsteil und dem Schlussteil der Inselbetrachtung – der Schlussteil lautet folgendermaßen: Text 4: Philostr. Im. II 17 § 4 ζεῦγμα δὲ ὑπὲρ τοῦ πορθμοῦ βέβληται, ὡς μίαν ὑπ’ αὐτοῦ φαίνεσθαι.

Eine Brücke aber ist über den Meeresarm geschlagen, so dass 〈die Insel〉 dadurch wie eine einzige wirkt.

Der Schluss nimmt im Stile einer Ringkomposition das Thema der Einleitung (Text 2) mit umgekehrten Vorzeichen wieder auf: Wurde in der Einleitung die Teilung der Insel in zwei Hälften thematisiert, so vermittelt nun die Beschreibung der Überwindung dieser Teilung durch die Brücke den Eindruck einer wieder gewonnenen Einheit, d. h. der Betrachter empfindet, folgt er Philostrats Deutung, dass das „Inselschicksal“ zu einem Abschluss gekommen ist und er zum nächsten Bildabschnitt, zur nächsten Insel „weitersegeln“ kann. (2) Das zweite Beispiel bezieht sich auf eine Insel, deren Interpretation als ein Meisterwerk philostrateischer Deutungskunst gelten kann. Dargestellt ist eine vulkanische Insel. In ihrem Inneren glimmt Feuer, das sich zusammen mit Lavaströmen aus den Erdspalten ins Meer ergießt – ein grandioses Naturschauspiel also, dazu angetan, den Betrachter in seinen Bann zu schlagen. Eindrucksvoll, wie der Anblick zweifelsohne ist, muss der Betrachter schließlich dennoch zum „Weitersegeln“ animiert werden, soll er die Nêsoi richtig genießen. Philostrat lässt zu diesem Zweck auf die physikalische Erklärung eine mythologische folgen: Text 5: Philostr. Im. II 17 § 5 ἡ γραφὴ δὲ τὰ τῶν ποιητῶν ἐπαινοῦσα καὶ μῦθον τῇ νήσῳ ἐπιγράφει, γίγαντα μὲν βεβλῆσθαί ποτε ἐνταῦθα, δυσθανατοῦντι δ’ αὐτῷ τὴν νῆσον ἐπενεχθῆναι δεσμοῦ ἕνεκεν, εἴκειν δὲ μήπω αὐτόν, ἀλλ’ ἀναμάχεσθαι ὑπὸ τῇ γῇ ὄντα καὶ τὸ πῦρ τοῦτο σὺν ἀπειλῇ ἐκπνεῖν.

Das Gemälde aber erweist den Werken der Dichter Reverenz und malt der Insel auch einen Mythos dazu: dass ein Gigant einst hier niedergeworfen wurde, dass ihm nun, weil er nicht totzukriegen war, die Insel aufgelegt wurde, um ihn zu fesseln, dass er aber noch nicht aufgibt, sondern den Kampf immer wieder aufleben lässt, obwohl er unter der Erde liegt, und dass er dieses Feuer mit einer Drohung ausstößt.

Grund für die Eruptionen – so Philostrat – ist also der Zorn eines besiegten Giganten, der durch die Last der Insel, die auf ihm liegt, gefangen gehalten wird, gegen diese von den Göttern verhängte „Sicherheitsverwahrung“ aber unablässig aufbegehrt. Da nun das Aufbäumen gegen den Willen der Götter aussichtslos ist, woran Philostrats mythologisch versierte Leser nicht gezweifelt haben dürften, ist kein Ende des Kampfes zu erwarten: Einerseits ist der Gigant „nicht totzukriegen“, denn er ist δυσθανατῶν, andererseits kann er Zeus niemals besiegen. Eine Pattsituation ist erreicht, und als Autorität werden die Werke der Dichter evoziert (τὰ τῶν ποιητῶν). Mit dieser Interpretation des Bildes gelingt es Philostrat, die Unbewegtheit des Mediums Bild, das keinen Handlungsfortschritt erlaubt, als Teil des Bildgeschehens zu deuten. Für den Bildbetrachter wiederum bedeutet das, dass er auf der Giganten-Insel nichts mehr verpassen wird. Er kann also zur nächsten Insel „weitersegeln“.

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(3) Im Falle der Dionysos-Insel nun, deren Beschreibung sich über drei Paragraphen erstreckt, greift Philostrat zu einem anderen interpretatorischen Kunstgriff, um die Inselbeschreibung zu einem Abschluss zu führen: Text 6: Philostr. Im. II 17 § 7 κατηρεφὴς δὲ κιττῷ τε καὶ σμίλακι καὶ ἀμπέλοις ἥδε ἡ νῆσος οὖσα ∆ιονύσῳ μὲν ἀνεῖσθαί φησι, τὸν ∆ιόνυσον δ’ ἀπεῖναι νῦν καὶ ἐν ἠπείρῳ που βακχεύειν ἐπιτρέψαντα τῷ Σειληνῷ τὰ ἐνταῦθα ἀπόρρητα· τὰ δὲ ἀπόρρητα κύμβαλά τε ταῦτα ὕπτια καὶ κρατῆρες ἀνεστραμμένοι χρυσοῖ καὶ αὐλοὶ ϑερμοὶ ἔτι καὶ τὰ τύμπανα ἀψοφητὶ κείμενα.

Da diese Insel mit Efeu, Eibe und Weinreben überwachsen ist, heißt es, dass sie dem Dionysos geweiht ist, dass Dionysos aber jetzt abwesend ist und irgendwo auf dem Festland feiert, nachdem er die unnennbaren Gegenstände hier Silen anvertraut hat: Die unnennbaren Gegenstände aber sind diese auf den Rücken gedrehten Zimbeln, die umgestürzten goldenen Mischkrüge, die noch warmen Flöten und die lautlos daliegenden Kesseltrommeln.

Dionysos ist also nirgendwo zu sehen. Auch die heiligen Musikinstrumente werden nicht gespielt – die Frage ist nur: Sind sie soeben gespielt worden, ist das Fest also vorbei, oder liegen sie bereit, um gleich gespielt zu werden? Soll der Bildbetrachter also „weiterfahren“ oder auf den Beginn des dionysischen Fests wartend vor dem Bild verweilen? Philostrat deutet die Szene auf die erste Weise: Die Instrumente des Dionysos-Kultes schweigen, weil sie nicht mehr gebraucht werden – und diese Deutung stützt sich auf die mediale Eigenschaft des Bildmediums, das keinen Handlungsfortschritt erlaubt. Wieder wird die mediale Beschränktheit des Bildes kunstvoll als Teil der Bildaussage gedeutet, was Philostrat unter anderem dazu dient, den Bildbetrachter zum „Weitersegeln“ zu ermutigen. Im zweiten Teil des Artikels soll die Gestaltung der Übergänge zwischen den Inseln unter die Lupe genommen werden, obwohl sie, wie es zunächst scheint, von Philostrat geradezu stiefmütterlich behandelt werden: Die Empfindungen und Erfahrungen des reinen Fahrens werden nicht beschrieben.24 Doch gerade die Überfahrten, die Tatsache also, dass zwischen den Inseln Meer liegt, machen die Nêsoi überhaupt erst zu „Inseln“ und nicht nur zu einer Aneinanderreihung schöner oder interessanter Schauplätze an der Küste auf dem Festland. Philostrat gelingt es, immer wieder das Meer zum Thema zu machen, ohne eintönig zu sein oder seine Eleven mit langen Schifffahrtsbeschreibungen zu langweilen. Dazu werden wieder drei für Philostrats Vorgehen repräsentative Beispiele vorgestellt. (1) Die erste Insel, die Philostrat und sein junger Begleiter anfahren, fällt offenbar ringsherum als Steilküste ins Meer ab: Text 7: Philostr. Im. II 17 § 2 ἡ μὲν δὴ πρώτη σφῶν ἐρυμνή τέ ἐστι καὶ ἀπότομος καὶ τειχήρης τὴν φύσιν ἀκρωνυχίαν ἐξαίρουσα πανόπτῃ Ποσειδῶνι, κατάρρους τε καὶ ὑγρὰ καὶ τὰς μελίττας βόσκουσα ὀρείοις ἄνθεσιν, ὧν δρέπεσθαι καὶ τὰς Νηρηίδας εἰκός, ὅταν τῇ ϑαλάττῃ ἐπιπαίζωσι.

24 Vgl. Baumann 2011, 77 und 86.

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Die erste 〈der Inseln〉 ist befestigt und steil abfallend und mit einer natürlichen Mauer versehen, indem sie einen Bergzug aufsteigen lässt für den alles sehenden Poseidon, sie ist reich an Bächen, feucht und nährt die Bienen mit Bergblumen, von denen wahrscheinlich auch die Nereiden pflücken, wenn sie auf dem Meer spielen.

Geradezu liebevoll beschreibt Philostrat die Bäche der Insel und die Bergblumen (ὀρείοις ἄνϑεσιν). Wie aber soll er den Betrachter schließlich aus dieser bukolischen Idylle losreißen, seine

Aufmerksamkeit aufs Meer lenken und zur Weiterfahrt einladen? – Einmal mehr macht sich Philostrat dabei eine spezifische Eigenschaft des Mediums Bild zunutze: Da ein Gemälde zweidimensional ist und keine echte räumliche Tiefe besitzt, kann das Meer die hoch aufragende Insel vollständig umgeben, wenn die Horizontlinie oberhalb der Bergspitze liegt. So kann Philostrat in einem kühnen interpretatorischen Handstreich den Bogen von der Höhe der felsigen Steilküste zur Tiefe des unten liegenden Meeres schlagen: Die Blumen auf der Kuppe oben werden ohne weiteres25 von den Meeresgöttinnen unten, den Nereustöchtern gepflückt, und zwar während sich diese unten im Meer aufhalten.26 Der Bildbetrachter folgt der von seinem „Museumsguide“ Philostrat vorgegebenen Blickrichtung und befindet sich unversehens wieder beim Thema Meer, damit auch auf dem imaginierten Schiff, und auf dem Weg zur nächsten Insel. Der Übergang von Insel zu Insel ist also nicht so abrupt, wie es auf den ersten oberflächlichen Blick scheinen mag: Wird auch die Fahrt als solche nicht beschrieben, so gelingt es dem Sophisten doch durch einen eleganten Verweis auf das umgebende Meer, sanft an die Weiterfahrt zu erinnern. (2) Die zweite Insel wird von Bauern und Fischern bewohnt, die miteinander Tauschhandel treiben. Die Äcker scheinen reichen Ertrag abzuwerfen, und so haben die Bauern zum Dank dem Gott Poseidon eine Statue errichtet: Text 8: Philostr. Im. II 17 § 3 Ποσειδῶ δὲ τουτονὶ γεωργὸν ἐπ’ ἀρότρου καὶ ζεύγους ἵδρυνται λογιούμενοι αὐτῷ τὰ ἐκ τῆς γῆς, ὡς δὲ μὴ σφόδρα ἠπειρώτης ὁ Ποσειδῶν φαίνοιτο, πρῷρα ἐμβέβληται τῷ ἀρότρῳ καὶ τὴν γῆν ῥήγνυσιν οἷον πλέων.

Diese Poseidon(-statue) hier aber haben sie als einen Bauern mit Pflug und Joch gestaltet, weil sie ihm den Ertrag der Erde zurechnen werden; damit Poseidon aber nicht zu sehr nach Festland aussieht, ist ein Schiffsschnabel in den Pflug eingehängt, und er bricht die Erde auf, als ob er segelte.

Dass Poseidons Herrschaftsbereich auf das Gebiet der Landwirtschaft ausgedehnt wird, kommt schon in der Odyssee vor, wird allerdings bereits dort als antiquarische Kuriosität aus vorhomerischer Zeit gehandelt.27 Die Einwohner der Insel, die durch die von ihnen geübte Praxis des Naturalientauschs als archaische Gemeinschaft gezeichnet sind, wissen aber dennoch auch um Poseidons Beziehung zum Meer und versuchen, dieser Rechnung zu tragen, indem sie den

25 Die immer wieder eingefügten Kautelen – hier etwa εἰκός, „wahrscheinlich“ – sollen wohl den Leser daran erinnern, dass es sich um eine Bildbetrachtung handelt, bei der jede Aussage zur Handlung nur eine Vermutung darstellen kann. 26 An der Unmöglichkeit, vom Meer aus Bergblumen zu pflücken, stören sich bereits Jacobs/Welcker 1825, 489. 27 Hom. Od. XI 119–137.

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Pflug, der der Poseidonstatue beigegeben ist, mit einem Schiffsschnabel versehen. Philostrat lässt es aber bei diesem Hinweis auf die Bedeutung des Meeresgottes für die Schifffahrt nicht bewenden, sondern vergleicht Poseidons Haltung beim Pflügen mit dem Vorgang des Segelns auf dem Meer.28 Dabei setzt Philostrat darauf, dass sich die bildimmanente Bewegung, die er damit suggeriert, auf den Leser überträgt. (3) Zeigt sich in den ersten beiden Beispielen ein Bemühen darum, am Ende der Inselbeschreibungen jeweils zum Thema „Meer“ bzw. „Fahren“ zurückzukehren, um die Fiktion der Schifffahrt nach dem Verweilen beim Anblick der Vorgänge auf den Inseln wiederaufzunehmen, so geht Philostrat im Falle der fünften, der sog. Dracheninsel, etwas anders vor: Text 9: Philostr. Im. II 17 § 6 τὸν δὲ περίπλουν κολωνὸν τοῦτον οἰκεῖ δράκων πλούτου τινὸς οἶμαι φύλαξ, ὃς ὑπὸ τῇ γῇ κεῖται. τοῦτο γὰρ λέγεται τὸ ϑηρίον εὔνουν τε εἶναι τῷ χρυσῷ, καὶ ὅ τι ἴδῃ χρυσοῦν, ἀγαπᾶν καὶ ϑάλπειν· [. . .] ἐνταῦθα δὲ χρυσοῦς αὐτὸς ὁ δράκων τὴν γὰρ κεφαλὴν τῆς χειᾶς ὑπερβάλλει δεδιὼς οἶμαι ὑπὲρ τοῦ κάτω πλούτου.

Diesen Hügel, um den man herumsegeln kann, bewohnt ein Drache als Wächter eines vergrabenen Schatzes, wie ich glaube. Es heißt nämlich, dass dieses Tier dem Golde zugetan ist, und dass es das, was es Goldenes sieht, liebt und mit Wärme betrachtet. [. . . ] Hier aber ist der Drache selber golden; denn seinen Kopf streckt er über das Loch, weil er, glaube ich, um den Schatz in der Tiefe fürchtet.

Mit diesem Satz endet die Inselbeschreibung. Wie man sieht, kehrt Philostrat hier also am Ende ausnahmsweise einmal nicht zum Thema „Meer“ oder „Seefahrt“ zurück. Vielmehr schließt sich die nächste Inselbeschreibung, nämlich die bereits erwähnte Dionysos-Insel (vgl. Text 6), direkt und unmittelbar an diese hier an. Wie ist hier also der Übergang von der Drachen-Insel zur Dionysos-Insel gestaltet? Woher weiß man überhaupt, dass mit Text 6 eine neue Insel beginnt? Könnten sich der abwesende Dionysos und der Drache nicht eine Insel teilen?29 – Hier greift Philostrat zu einem rhetorischen Kunstgriff: Um die geringe Größe der Drachen-Insel und die Kürze des Aufenthalts zu betonen, nennt er sie gleich zu Beginn einen περίπλους κολωνός, „einen Hügel, um den man herumsegeln kann“. Die Segelnden bewegen sich bei der Betrachtung der Insel also gedanklich gar nicht erst vom Meer weg und müssen darum auch nicht wieder dorthin zurückgeführt werden. Zum Schluss sei der Versuch unternommen, die Nêsoi Philostrats in einen größeren kulturgeschichtlichen Rahmen einzuordnen. Wie einleitend gesagt, war die Schifffahrt eine lebensweltliche Erfahrung Philostrats und seiner Zeitgenossen.30 Das Reisen zu Schiff war aber als Kulturtechnik natürlich viel älter als das 3. Jh. n. Chr. und den Griechen zumal durch einen ihrer ältesten Texte wohlbekannt, die berühmten Irrfahrten des Odysseus. Tatsächlich ist nicht zu leugnen, dass die fiktionale Schifffahrt Philostrats – den unbestreitbaren Unterschieden in der

28 Zur Gleichsetzung der Tätigkeiten des Pflügens und Fahrens zur See als Metaphern für Dichtung in Vergils Georgica vgl. den Beitrag von Haß in diesem Band (siehe oben, S. 273–282). 29 Dies glauben Jacobs/Welcker 1825, 492. 30 Das Thema des Fahrens zu Schiff in den Schriften von Autoren der Zweiten Sophistik behandeln in diesem Band auch die Beiträge von Fron (siehe oben, S. 117–128) und Börstinghaus (siehe oben, S. 209–225).

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genauen Gestaltung zum Trotz – der zehnjährigen Irrfahrt des Odysseus keineswegs unähnlich ist. Nicht zufällig spielt Philostrat etwa in § 11 auf den Seegott Proteus an, der auch in der Odyssee eine Rolle spielt, und verweist er in § 14, am Ende der Bildbetrachtung, auf die Sirenen, die zu den bekanntesten Abenteuern des Odysseus gehören. Ebenso wenig ist es Zufall, dass das folgende Gemälde, Im. II 18, dem Kyklopen gewidmet ist, dessen Überlistung in der Odyssee eine zentrale Stellung einnimmt – allerdings handelt es sich hier nicht um den blutrünstigen Kyklopen der Odyssee, sondern den liebestollen Kyklopen des Theokrit. Vor allem aber im Hinblick auf den Aspekt, der in diesem Artikel untersucht wurde, scheinen die Irrfahrten des Odysseus Vorbild für die Nêsoi gewesen zu sein: Denn wie Odysseus muss Philostrat vermeiden, an einer der Stationen hängenzubleiben, wenn er wie jener seiner Bestimmung folgen will. Bei Odysseus ist dies die Rückkehr zu Penelope, für Philostrat liegt seine Bestimmung im Dienst an der Malerei, was im Falle der Nêsoi bedeutet, das vielszenige Gemälde im Ganzen zu würdigen: So sind es in der Odyssee zum Beispiel die sanften Lotophagen, die schöne Zauberin Kirke oder die attraktive Prinzessin Nausikaa, die fast das vorzeitige Ende seiner Reise herbeiführen, aber auch gefährliche Gestalten wie Polyphem oder die Laistrygonen stellen eine Bedrohung dar. Entsprechend muss Philostrat den Betrachter bzw. Leser von den schönen Inselansichten, die durch ihre Idylle zum Verweilen einladen, ebenso losreißen wie von den schaurig-aufregenden, die durch Spannung fesseln. Odysseus und Philostrat verlieren aber beide ihr Ziel nicht aus den Augen – Ithaka bzw. das Ende des Bilderzyklus. Beide erreichen schließlich nur deshalb ihr Ziel, weil es ihnen gelingt, sich selbst und ihre Gefährten stets zum Weiterfahren anzuhalten. Bei dieser anspruchsvollen Aufgabe stellt sich Philostrat, wie hoffentlich gezeigt werden konnte, nicht weniger geschickt an als der listenreichste aller griechischen Helden, Odysseus. Die Nêsoi/Inseln Philostrats machen das Phänomen der Inselkreuzfahrt als stark bewegtes und bewegendes Erlebnis erfahrbar – paradoxerweise über das statische Medium des unbewegten und unhörbaren Bildes, das noch dazu keine echte räumliche Tiefe kennt. Dies gelingt, da der Autor das (unbewegte) Bild im sprachlich-rhetorischen Modus der Bildbetrachtung zu Leben und Bewegung zu erwecken weiß. Dabei nimmt die Fahrt als solche, wie wir gesehen haben, nur einen kleinen Teil des Berichts ein, die Empfindung des Fahrens wird vielmehr in erster Linie durch die Abfolge der angefahrenen Inseln und das sich auf ihnen abspielende Treiben vermittelt. Liest man nun moderne Berichte über Kreuzfahrten, etwa über Mittelmeerkreuzfahrten, zu welchen man auch Philostrats Inseln rechnen könnte, so fällt auf, dass sich in dieser Hinsicht wenig geändert hat: Noch heute stehen die Landausflüge und die angefahrenen Sehenswürdigkeiten im Mittelpunkt der Schilderung solcher touristischen Schiffsfahrten. Die Summe der an Land gemachten Erfahrungen und die Anzahl der auf der Fahrt genossenen Sehenswürdigkeiten wird als Gradmesser für die Qualität der gesamten Reise betrachtet. Und doch ist es undenkbar, die Reise bei einer besonders schönen Sehenswürdigkeit abzubrechen: Gerade das Wissen darum, dass kein Landausflug ewig währt, dass noch im schönsten Hafen nach einiger Zeit das Signal zum Wiedereinsteigen und Weiterfahren gegeben wird, erhöht den spezifischen Reiz einer Vergnügungskreuzfahrt. In seinen Inseln zeigt Philostrat sich also nicht nur mit den Techniken der Malkunst bestens vertraut und präsentiert sich als Meister der rhetorischen Interpretationskunst. Vielmehr reflektieren die Nêsoi bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Erfahrung einer ausdrücklich touristischen Exkursion auf einer Art Vergnügungsdampfer,

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Cordula Bachmann

die – bei aller Verschiedenheit der Stationen – einem heutigen Kreuzfahrterlebnis durchaus vergleichbar ist.

Literatur Textausgaben — Jacobs, Friedrich (1825), PHILOSTRATORUM IMAGINES ET CALLISTRATI STATUAE. Textum ad fidem veterum librorum recensuit et commentarium adiecit Fridericus Iacobs. Observationes, archaeologici praesertim argumenti, addidit Fridericus Theophilus Welcker, Lipsiae. — Vindobonenses (1893): Philostrati maioris imagines [. . . ] recensuerunt seminariorum Vindobonensium sodales, Lipsiae.

Sekundärliteratur — Bachmann, Cordula (2015), Wenn man die Welt als Gemälde betrachtet. Studien zu den Eikones Philostrats des Älteren, Heidelberg. — Bachmann, Cordula (2017), „Zeichen der Zeit in Philostrats Eikones“, in: Jacobus Bracker/Tim Jegodzinski (Hg.), Bilder: Zeitzeichen und Zeitphänomene (Visual Past 4.1, open-access online journal). — Baumann, Mario (2011), Bilder schreiben. Virtuose Ekphrasis in Philostrats Eikones, Berlin/New York. — Brunn, Heinrich (1861), „Die Philostratischen Gemälde gegen K. Friederichs vertheidigt von Heinrich Brunn“, in: Jahrbücher für classische Philologie Suppl. IV, 179–306. — Brunn, Heinrich (1871), „Zweite Vertheidigung der Philostratischen Gemälde“, in: Jahrbücher für classische Philologie 17, 1–105. — De Lannoy, Ludo (1997), „Le problème des Philostrates“, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt 34.3, 2363–2449. — Elsner, Jaś (1995), Art and the Roman Viewer, Cambridge. — Friederichs, Karl (1860), Die Philostratischen Bilder. Ein Beitrag zur Charakteristik der alten Kunst von Dr. K. Friederichs, Erlangen. — Friederichs, Karl (1864), „Nachträgliches zu den Philostratischen Bildern“, in: Jahrbücher für classische Philologie Suppl. V, 133–181. — Geus, Klaus (2013), „Tourismus in römischer Zeit“, in: Dirk Schmitz/Maike Sieler (Hg.), Überall zu Hause und doch fremd. Römer unterwegs, Petersberg, 138–151. — Giuliani, Luca (2007), „Die unmöglichen Bilder des Philostrat. Ein antiker Beitrag zur ParagoneDebatte?“, in: H. Böhme (Hg.), Übersetzung und Transformation, Berlin, 401–424. — Höckmann, Olaf (1985), Antike Seefahrt, München. — Primavesi, Oliver/Giuliani, Luca (2012), „Bild und Rede. Zum Proömium der Eikones des zweiten Philostrat“, in: Poetica 44, 25–79. — Schulz, Raimund (2005), Die Antike und das Meer, Darmstadt.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Cordula Bachmann: Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Antike Kultur der Universität Erfurt. E-mail: [email protected] Mario Baumann (Herausgeber): Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Altertumswissenschaften (Griechische Philologie) der Justus-Liebig-Universität Gießen. E-mail: [email protected] Yasmina Benferhat: Privatdozentin für Klassische Philologie an der Université de Lorraine. E-mail: [email protected] Jens Börstinghaus: Akademischer Rat a. Z. am Institut für Neues Testament der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. E-mail: [email protected] Johannes Breuer: Akademischer Oberrat am Institut für Altertumswissenschaften/Klassische Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. E-mail: [email protected] Alwin Cubasch: Humboldt Research Track Stipendiat am Lehrstuhl für Kulturtechniken und Wissensgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. E-mail: [email protected] Bernadette Descharmes: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaft der Technischen Universität Braunschweig. E-mail: [email protected] Boris Dunsch: Privatdozent und Akademischer Oberrat am Seminar für Klassische Philologie der PhilippsUniversität Marburg. E-mail: [email protected]

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Ulrike Egelhaaf-Gaiser: Professorin für Klassische Philologie/Latinistik an der Georg-August-Universität Göttingen. E-mail: [email protected] Susanne Froehlich (Herausgeberin): Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Sprecherin des Arbeitsbereichs Alte Geschichte am Historischen Institut der Universität Greifswald. E-mail: [email protected] Christian Fron: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik der RuprechtKarls-Universität Heidelberg. E-mail: [email protected] Christian D. Haß: Assistent am Lehrstuhl für Lateinische Literaturwissenschaft (Seminar für Klassische Philologie) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. E-mail: [email protected] Marcus Hellwing: Doktorand am Seminar für Klassische Altertumswissenschaften (Lehrstuhl für Alte Geschichte) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. E-mail: [email protected] Isabell Höhler: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Klassische Philologie/Latinistik der GeorgAugust-Universität Göttingen. E-mail: [email protected] Thomas N. Kirstein: Fachbereich Technikgeschichte (Fakultät I) der Technischen Universität Berlin/Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK). E-mail: [email protected] Helmut Krasser: Professor für Lateinische Philologie am Institut für Altertumswissenschaften der Justus-LiebigUniversität Gießen. E-mail: [email protected] Doris Meyer: Ingénieur de recherche in der Unité mixte de recherche (UMR) 7044: Archéologie et histoire ancienne: Méditerranée – Europe (Archimède), CNRS/Université de Strasbourg. E-mail: [email protected]

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Nina Mindt: Privatdozentin für Klassische Philologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, z. Zt. Vertretungsprofessorin an der Bergischen Universität Wuppertal. E-mail: [email protected]/[email protected] Peter Pilhofer: Professor für Neues Testament an der ehemaligen Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. E-mail: [email protected] Sebastian Ritz: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Land- und Seeverkehr (Fachgebiet Entwurf und Betrieb Maritimer Systeme) der Technischen Universität Berlin. E-mail: [email protected] Karl Matthias Schmidt: Professor für Bibelwissenschaft mit dem Schwerpunkt Neutestamentliche Exegese am Institut für Katholische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. E-mail: [email protected] Nicola Zwingmann: Freiberufliche Althistorikerin, Tübingen. E-mail: [email protected]

Register Im folgenden finden sich ein Sach- und ein Stellenregister. Das Sachregister führt auch Orte und Namen auf. Römische Kaiser und lateinische Autoren sind unter der im Deutschen gängigen Namensform angegeben (zum Beispiel Hadrian, Ovid). Alle anderen Personen, die lateinische duo oder tria nomina führen, finden sich unter ihrem gentilicium (also zum Beispiel L. Cornelius Sulla unter Cornelius) – gegebenenfalls mit einem Querverweis beim cognomen (also Sulla). Beide Register verzeichnen nur die Stichwörter bzw. Stellenangaben, die von den Verfassern der jeweiligen Beiträge angegeben wurden.

Sachregister Achaia 101, 105 Achill 321 acta Caesaris 84 Actium 82, 317–319 actuaria 75f., 82 actuariola 75, 89, 91 Adramytteion 111 Adria 16, 72, 76, 81, 97, 106f., 247, 300f., 304f., 312 Ägäis 119f., 127, 217f., 221, 223, 235f., 308–310, 314, 321 Ägina 193 Ägypten 70, 155, 158f., 161, 193, 200f., 203, 212–215, 265, 354, 357, 366 Ägyptische Götter 215f., siehe auch Isis und Sarapis Aelius Aristides siehe Aristides aemulatio 179, 182f. Aeneas 139, 142, 145f., 148, 162, 176, 279, 286 Äolus 156, 161f., 191 Äquinoktium 69 Ätiologie 158f. agalmation 198 Agrikultur siehe Kultur Agrippa siehe (Marcus) Vipsanius Agrippa Aias 304f. Aithyia siehe Vogelzeichen Akrostichon 280, 285, 291 Alexander d. Gr. 353, 355–358, 365 Alexandria 155f., 159, 212f. Pharos 202 Alexandria Troas 99, 101, 105 Alkaios 308, 313

Amme 37, 58 Amor 204f. Amphion 164 Amphore 22f. Dressel 1b 23 Anderwelt 184 Andriake 111 Angeln 50, 53f., siehe auch Verpflegung Angst 17, 21, 31–34, 38, 40, 42–44, 51, 67–69, 71f., 76–78, siehe auch Tod/Todesangst Antiochia 97, 102, 105, 107, 250 Antoninus Pius 202, 205 (Marcus) Antonius 75, 82, 84–86, 89f., 92–94, 317, 320f. aphractus/-um 73–75 Aphrodite 183, 191–198, 200–203, 206 Aphrodite Euploia 183, 192f. Aphrodite Zephyritis siehe Arsinoë Kypris 196, 200 Apocolocyntosis 244 Apollon 176, 221–223, 266, 315 Apollon Delphinios 183 Apollon Smintheus 100 Apollonios Rhodios 353f., 361, 365 Apollonios von Tyana 121–124, 126 Apotheose, literarische 340 Appian 83, 89 Arabia 105 Arat 275, 280, 287 Araus 82 arbiter orbis 175–177 Archytas 311f., 322 Aretalogie 174, 177, 179, 309, 323

390 Argonautensage 275f., 278, 282, 360, 362f. Argo 360–364, 366f. Argonauten 286, 302, 306, 362 Argonautika 258 Aristarch 111 Aristides 17, 20, 117, 119f., 124f., 209–225 Ariston von Chios 32 Aristoteles 91 Arrian 356 Arsinoë 200f., 206, 267f. Arsinoë Euploia 200 Artemis Ephesia 230 Asia (Provinz) 105, 111, 210 Asia Minor 70, 209 Asinius Pollio 168, 319 Asklepios/Äskulap 209f., 213, 215–225, 243 Asklepiaden 215 Asklepieion 219 Asklepios Soter 219 Assos 99–101 Astarte 192f., 195 Astrolabium 20 Astrologie 260f. Astura 67 Athen 68, 73f., 84, 87, 94, 106–108, 230 Athena 304 Pallas 303f. Atticus siehe (Titus) Pomponius Atticus Attika 301f. Augenzeuge 40, 42, 53, 55, 58 Augustus siehe Octavian aurea mediocritas 316 Aurelische Straße 131f., 137 auster 90f. Autobiographie 46, 55 Autor, versteckter (hidden author) 329, 343 Azarion 47–50, 53f., 56 Balbus siehe (Lucius) Cornelius Balbus Barium 106 Barnabas 230, 250 Barthes, Roland 291 Beinahe-Schiffbruch siehe Schiffbruch Beinahe-Tod siehe Tod Beroia 101 Bestattung 332, 342–344, 348 Bild Bildbetrachtung 373, 375–377, 381, 383 Bildgeschehen 377, 379

Register Bildinterpretation 374, 376 Tafelbilder 375 Bildung 157f. Bildungsreise 158f. Bithynien 219 Blumenberg, Hans 303 Börstinghaus, Jens 101, 109, 111 Boot 19, 217, 222 Rettungsboot 33f. Bosporus 300, 310f., 361 bougonie 281, 289f. Brundisium 71f., 76, 78, 89f., 93, 106, 137, 143, 146, 299, 324, 326 Brutus siehe (Marcus) Iunius Brutus Bürgerkrieg 67, 76, 306, 308, 316f., 319, 323, 325 Buthrotum siehe Butrint Butrint 72 Cadiz siehe Gades Caere 145 caeruleus 173f., 178, 180 Caesar 72, 75, 82–84, 86f., 89, 92–95, 167f., 205f., 287 Caesarianer 92, 94, 318 Caesarmörder 84f., 93, 95 Iden des März (Ermordung) 82–86, 89, 91, 93f. (Lucius) Caesar 76 Caesarea Maritima 102, 105, 107, 109f., 229, 231 Caligula 202 camara 180 Campanien siehe Kampanien Canidia 311, 322 Canopus 158f. Capua 73 Caracalla 219 Cassius Dio 83, 219 Cassius Longinus 84f., 88, 91, 93 Catilina siehe (Lucius) Sergius Catilina Cato siehe (Marcus) Porcius Cato Catull 363 Ceyx 343 Charybdis 73, 146–148, 162, 240 Chios 101 Chiron 163 Christentum 41, 44, 49–52 Cicero siehe (Marcus) Tullius Cicero (Caius) Cilnius Maecenas siehe (Caius) Maecenas

Sachregister Circaeum 67 Claudius 106f. (Caius) Claudius Marcellus 70 closure 280, 289 comites 182–184 Commodus 209 condition humaine 300, 326 corbita 74, 76, 89 (Lucius) Cornelius Balbus 84 (Publius) Cornelius Dolabella 84–86, 88 (Lucius) Cornelius Sulla 204f. corus 237 Cosa 142, 145 (Quintus) Cosconius 16 Cumae 76f. cura annonae 203 Curio siehe (Caius) Scribonius Curio cyaneus 178 Cyclopen 146 Damaskus 114 Darstellung siehe Repräsentation Daseinsmetapher siehe Metapher Deklamation 329, 342, 345 Delos 192f., 197, 217f., 221–223 Derrida, Jacques 291 Dichterrolle siehe self-fashioning Dichtertod 340f., 347f. Didaktische Dichtung siehe Gattung Diener siehe Sklave Dienerin siehe Sklavin Dike 233f., 243f. Dion von Prusa 122, 126–128 Dionysos 215, 380, 382 Dioskuren 156, 183, 229–232, 234f., 238, 240f., 244f., 247, 251, 302, 309, 323 Dolabella siehe (Publius) Cornelius Dolabella Domitian 155f., 203 Doris 156 Dyrrhachium 106f. Echo (Gaius) Egnatius Maxsumus Ehe Ehebruch Ehefrau des Kaisers des Provinzstatthalters Ekphrasis

141f. 204 43f., 58f. 38, 45f., 57 39, 57f. 38–44, 57–59 171

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Emmaus 248 Empedokles 339f., 348 Encolpius 234, 329f., 332–346, 348 Endstimmung 340, 348 Enkomiastik 323, 326 Entdeckungsreise 352–355, 360, 363 Enzyklopädie 352 Ephesos 70, 105, 107 Epigramm siehe Gattung Epiklese 174–176, 179, 182 Epirus 92 Epitaph 344 Epos siehe Gattung Eppia 43f. Erdbeben 224 Erfahrung 2–7, 10 Erinnerungsort 141, 143 Erlebnis 1–4 Erotik 38, 44, 46, 56, 59, siehe auch Sexualität Ertrunkener 342f. Eryx 195 Erzähler unreliable narrator 241 etesiae 70, 74f. Ethik 316f., 323, 326 Etymologie 159 Euchai 174, 176, 179f. Eumolpus 330–341, 343–348 Euploia siehe Aphrodite, Arsinoë und Isis Euploia-Gebet siehe Gebet εὐρακύλων 237, 239 eur(o)aquilo siehe εὐρακύλων Europa 378 Eutychides 82 Exil 67, 71, 77, 134, 136 Exildichtung 134–136 Expedition 360 militärische 354, 358 experientiality 2f. Fabri, Felix Faustina Fiktion Flavius Josephus Fludernik, Monika Flußbad Forschungsreise Fortuna Fracht

44 205 374f., 378, 382 siehe Josephus 2f. 219f. siehe Entdeckungsreise 305, 309 260f.

Register

392 Freude Freundschaft Freund freundlich Frevel Furcht furor, poetischer

76 158, 162 161–163 169 302, 307 siehe Angst 332, 338–341

Gades 106, 114, 195 Gallia Cisalpina 84 Gallischer Feldzug 83 Gattung Autobiographie siehe Autobiographie Didaktische Dichtung 183–187, 273f., 278, 281f., 284–287 Epigramm 258, 262–266, 268, 351, 362 Epos 258f., 273, 276, 278, 281–283, 285–288, 315, 360 Grabepigramm 332, 344, 346 Historiographie 365, 367f. Hymnus 171f., 174–187 Paian siehe Paian Propemptikon siehe Propemptikon Prosahymnus 211, 214f. Reisegattungen 143 Reisesatire siehe Reisesatire Roman 42, 45, 54, 58 survival literature 361 Weisheitsliteratur 260 Gebet 160f., 164, 172, 174, 178, 182f., 196–198, 211 Euploia-Gebet 182f., 199 Gefahr 68, 108f., 210f., 213f., 217, 220, 222, 225 Geisteshaltung 75 Gemäldegalerie 374 Geographie 354, 356f., 361f., 365, 367f. Geologie 367f. Geopoetik 266, 269 Geten 132, 135f., 141, 143f. Getreideschiff 155 Gewinnstreben 307 Glaucus 156 Gnomon 20 Gold(-schmuck) 50 Golf von Neapel siehe Neapel Grabepigramm siehe Gattung Graviscae 142, 145f. Griechenland 68, 70, 73f., 76–78, 81–87, 89–92, 94 Grünbein, Durs 302

Haaropfer 248 Hadrian 202f. Hafen 212, 221–223, 235–237, 240, 251, 332–334 Hafenbecken 332 Hafeneinfahrten 237 Halkyon siehe Vogelzeichen Handelsschiff 15, 18f., 21f., 25, 34, 73–75, 330–332 Handelsweg 358 Handlungsfortschritt 375, 377, 379f. Hannibal 315, 322 Heidegger, Martin 284 Heldin 41f. Helvia 39f., 42, 57, 59f. Herakles 215 Hermes 230 Hermione 193 Heros Heroenkult 344 Heroisierung 344, 348 Herostratos 198 Herzog, Rudolf 217, 219–223 Hesiod 273, 282, 287 Hieron II. von Syrakus 197 (Aulus) Hirtius 84f., 93f. Historia Augusta 185 Historiographie siehe Gattung Homer 273, 278, 282, 285, 287f. Horaz 299f., 302f., 308, 310f., 313, 317–326, 355, 363 (Quintus) Hortensius 75 Humor 47f., 51, 54–56, 59f. Hydrodynamik 25, 34 Hydronte 76, 78 Hydrostatik 23, 25, 34 Hymnus siehe Gattung Hyperbolik 156, 163 Hypochonder 210 ὑποζώματα 239, siehe auch linea Iden des März Igilium Ilion Illusion imitatio Indien Ino Ino Leukothea

siehe Caesar 138, 141–146 siehe Troja 376f. 135f. 353–358 164 183, 259, 262

Sachregister Insel 221, 375–383 Inseln der Seligen 306 Intertextualität 336, 338f., 341, 343f. Ionien 219 Ionisches Meer 166f. Iser, Wolfgang 274 Isis 155, 158f., 161, 183, 191–193, 195, 197–203, 206, 215, 230, 236 Isis Euploia 192f. navigium Isidis 202 Isthmos 138–140 Italien 70–73, 75, 77, 82, 85–90, 92–94, 229, 231, 235f. Ithaka 98, 114 Iulia Domna 374 (Caius) Iulius Caesar siehe Caesar (Marcus) Iunius Brutus 74, 84–88, 91–93, 95 Iuno 191 Iuppiter 304, 312, 363–365 Iuvenal 239 Iuventius Thalna 77, 88 Jahreszeit Jerusalem Josephus Juba II. Judentum Jupiter Kajüte Kallikrates von Samos Kallimachos Kaloi Limenes καµάρα

Kampanien Kap Andreas Kap Bon Kap Circaeum Kap Greco Kap Kolias Kap Lekton Kap Leukopetra Kap Malea Kap Zephyrion Kapitän Kapitänsmetapher Karthago Kastor Kauda

78 99, 101f., 105 16, 19 356 48 siehe Iuppiter 337 200f. 275, 353 111, 238–242 siehe camara 77 194 195 siehe Circaeum 194 194 99f. siehe Leukopetra 262 200, 267–269 siehe Skipper siehe Metapher 315, 319 230, 234, 251 111, 239

393

Kenchreai 193, 202 Kentersicherheit 15 Kephallenia 114 Kilikien 70, 73f., 76, 81, 91, 102, 111 Kimmerier 162 Kind 46, 48f., 53f., 57f. Kinetose 31 Kition 195 Klauda siehe Kauda Klazomenai 213, 217 Kleopatra 201, 317f., 320f. Knidos 111 Koch, Dietrich-Alex 101 Könige 262, 266–269 Komik siehe Humor Kompetenz, kulturelle siehe Kultur Kontiguität siehe Metonymie Korfu 82, 88 Korinth 106–108, 138f., 193, 202 Kos 101 Krankheit 209f., 215f., 218, 223–225 Seekrankheit siehe Seekrankheit Kreta 20, 84, 110f., 113, 142, 197, 229f., 235–239, 246f. Kreuzfahrt 373, 383f. Kriegsschiff 74f. Künstlerfigur 330, 333, 341 Küstenschiffahrt siehe Schiffahrt Kulthandlung 161 Kultur 276, 282–285, 287f., 290, 292 Agrikultur 273, 276, 278, 282, 284–290, 292 Kompetenz, kulturelle 157, 159 Kulturpraxis 275f., 284, 287, 290, 292 Kulturtechnik 277, 290 κυάνεος siehe cyaneus bzw. caeruleus Kydnos 104 Kypris siehe Aphrodite Kyrene 84 Lasaia Leeküste Legat/Legatenstelle Lehrdichtung Leonidas von Tarent Lesbos Leukas Leukates Leukopetra Libertas

237 20, 33 84, 86, 89, 92 siehe Gattung 266 100 82, 193 142 90 204

394 libs 237 Liburnerschiff 317 Lichas 198, 329, 331f., 336–338, 342–348 linea 173–175, 181, siehe auch ὑποζώµατα Lucius Caesar siehe (Lucius) Caesar Luhmann, Niklas 273, 291 Lukian 32, 42f., 51, 55f., 58–60, 123, 125, 231, 251 Lukrez 16, 276, 287 Lukrezrezeption 179 Luxus 354, 358f., 366, 368 Lykien 111 Lystra 230 (La) Madrague de Giens 15, 22–25, 27–30, 34 (Caius) Maecenas 274, 276, 281, 283–286, 299, 311, 315, 317f., 320, 324 magister (navis) siehe Skipper Makedonien 84, 89, 101, 105 Malerei 373f., 377, 383 Malta 114, 229–231, 233–235, 238, 240, 243f., 246f., 249f. Manövrierfähigkeit 34 Marcellus siehe (Caius) Claudius Marcellus Marcius Philippus 84 mare clausum 68f., 78 mare mediterranum siehe Mittelmeer mare – terra – caelum 179 Mark Aurel 202, 209 Mars 158 Martial 351, 362 materia 331 Matrone 41, 44, 58f. Meer 171–175, 177–182, 184, 210–212, 221, 258–260, 262–269 Adria siehe Adria Ägäis siehe Ägäis Das „böse“ Meer 184 Ionisches siehe Ionisches Meer mare clausum siehe mare clausum mare mediterranum siehe Mittelmeer Mittelmeer siehe Mittelmeer murmur maris 182 Myrtoisches siehe Myrtoisches Meer Öffnung der Meere 352, 358, 365 „Rücken des Meeres“ 180 θάλασσα siehe θάλασσα Tyrrhenisches siehe Tyrrhenisches Meer Meles 220 Melite siehe Malta

Register (Lucius) Memmius Galeria 204 Menander Rhetor 118–121 Messina 73, 76 Metahermeneutik/-semiotik siehe Poetologie Metalepse 337, 345 meta-literarisch 330, 348 Metapher 273–275, 278, 281–292, 313, 317, 326 Daseinsmetapher 257, 262 Kapitänsmetapher 179f. Poetologische Metapher 157, 165, 258, 261, 266 Reise-/Wegmetaphorik 148 Schiffbruchsmetapher 140f., 147, 211, 330–333, 341, 346–348 Seefahrtsmetaphorik 134, 140, 210 Metapoetik/Metapoietik siehe Poetologie Metasprache – Objektsprache 284, 286 Metatextualität siehe Poetologie Meteorologie 68, 70, 73, 261f. Metonymie/Kontiguität 273, 276, 281–290, 292 Mevius 303f., 322 Milet 101, 193 mirabilia 357 mise en abîme siehe Poetologie Mittelmeer 70, 72, 81 Mon(n)ica 41f., 60 Mons Argentarius 138–140 Motion Sickness Index (MSI) 28–30 Munatius Plancus 83, 92 Musen 310f. Myra 111, 230, 235f., 238 Myrtoisches Meer 300 Mysien 209 Mythomanie 329 Mytilene 101 Ναυαγικά/Nauagika

267–269 „Naufragisierung“ Naukratis

258f., 261, 263–265,

184 198 ναῦται siehe Seemänner Nautica 185 Nautik 261f., 264, 266f., 269, 333f., 338 Navigation 15, 19–21, 34, 331f., 348 navigium Isidis siehe Isis Neapel 76 Golf von Neapel 374 Neapolis (Kavala) 101, 105 Nearchos 356

Sachregister Nemesianus 180, 185–187 Neptun 156, 191, 196f., 302, 311f., 318f., 337 Nereiden 156, 381 Nereus 320–323 Nikander 280, 287 Nil 212f. Norden, Eduard 209 Nostoi 139, 146, 260, 262 notus 237 Oceanus/oceanus siehe Ozean Octavian 83f., 89, 94f., 168, 205f., 274, 280, 291, 311, 314–318, 320, 323 Odysseus 97, 162, 259f., 262, 266, 268, 273, 279, 286, 306, 318, 382f. Odysseefries vom Esquilin 375 Ödipus 247 Öffnung der Meere siehe Meer Oionoskopika 265 Okeanos siehe Ozean Okkasionalität 157 Olympische Spiele 87 oneraria 74–76, 89 Onesikritos 356 (Caius) Oppius 83, 88 Oralität – Litteralität 285 Orion 301, 303–305, 312 Ovid 243 Ozean 72, 302, 306, 324f. Oceanus (᾽Ωκεανός) 171–179, 181–187 Oceanus dissociabilis 302, 324 Paestum 88 Paian 221 Palaemon 156, 164 Palinurus 332–334, 336f., 342–344, 347f. Pallas siehe Athena Pamphylien 105, 111 Pansa siehe (Caius) Vibius Pansa Pantikapaion 193 Paphos 105, 194, 198 (Lucius) Papirius Paetus 76 παρουσία 106, 114 Passagiere 15, 17f., 20–23, 28–30, 33f., 41, 43–45, 48f., 51–53, 56f., 59 Passagierin 44, 46, 51f. Passagierkabinen 21, 51 Patara 101

395

Patras 76, 82, 88f., 91, 114 Patronage 163 Patronagedichtung 157, 169 Patronagesystem 157 Patronageverhältnis 158 Paulus 16, 20, 98–102, 104–111, 113f., 229–236, 238–240, 242–251 Peregrinos 42f., 51, 59f. Performativität 132, 134, 149, 159f., 162, 164, 169 Performanz 184 Pergament 337, 340, 346 Pergamon 209, 217, 219f. Asklepieion von Pergamon 219 Perge 105 Periplus 356, 368 Peristasenkatalog 108f. Petron 37, 44f., 59 Pflicht 67 Phantastik 55f. Pharos von Alexandria siehe Alexandria Philippi 99, 101f., 105, 310f. Philoktet 243 Philostrat 117, 121f., 126, 209f., 373–383 Phönikien 193 Phönix 163 Phönix (Hafen) 111, 236f., 240 Phokaia 213, 217, 221f. Pilgerreise 41, 44, 49f. Pilia 76f. Piraten 81, 90 Plinius d. Ä. 351–360, 365, 367f. Plinius d. J. 16 ploiaphesia 202 Plutarch 83–86, 92, 241f., 249 poeta vesanus 338–341, 345, 347f. Poetologie 3, 6, 8f., 131f., 137f., 143, 148, 313, 316f., 323, 326, 329–334, 337–341, 344–348, siehe auch Metapher Metahermeneutik/-semiotik 275–280, 284 Metapoetik/Metapoietik 181, 184, 273–279, 282–284, 287–290, 292 Metatextualität 275–278, 280f., 285, 291 mise en abîme 273, 281 Polycharmos von Naukratis 198 Polydeukes 230, 234, 251 pompe 197 Pompeianum 76f., 88

396 (Gnaeus) Pompeius Magnus 67, 72, 74, 81, 205, 318 (Sextus) Pompeius 311, 317–319 Pompeji 67, 76, 87, 91, 193, 197, 202 Haus des Lesbianus 197 (Titus) Pomponius Atticus 17, 69, 71–73, 77, 81–83, 86–88, 90–95 Pontica 186 ponto 16, 22 Pontos 81, 361f. (Marcus) Porcius Cato 17 Portus Veneris 195 Poseidon 193, 195, 197, 378, 381f. Pozzuoli siehe Puteoli πραιτώριον 110 Priapos 52, 55 prodromi 88, 90 Proömium 183–187, 210–212, 214 Propemptikon 135, 137, 172, 196, 301–303, 322, 326 Properz 15, 17, 21, 355 Prosahymnus siehe Gattung Prostitution 45, 49f., 52, 58 Proteus 156, 288, 291, 383 Protokoll 74 prôtos heuretês 302 Ptolemäer 266f. Ptolemaios Philadelphos 200f. Ptolemaïs 102 Punta del Nao 195 Puteoli 76f., 84, 87f., 92, 95, 114, 155f., 229f., 235, 238, 240, 251 Pyrgi 145 recusatio 281–283, 286, 288f., 315 Regium siehe Rhegion Reisegattungen siehe Gattung Reisekomfort 15 Reisekrankheit 28 Reisemetaphorik siehe Metapher Reisesatire 137, 143 Reiseverkehr 15 Repräsentation 2f., 10, 224 Darstellungsweise, kontinuierende 375 Republikaner 92, 94f. Retter siehe Soter (Σωτήρ) Rettungsboot siehe Boot

Register Rezeption 3f., 8f., 274, 278, 285–287, 290, 292, siehe auch Lukrezrezeption Rezeptionsästhetik 4 Rezeptionsanweisung 281, 283f., 290–292 Rezeptionshaltung 284f. Rhegion 88–90, 93, 114, 230, 240 Rhetorik 156f., 209f., 215, 224f., 373–375, 377, 382f. Rhodos 68, 73, 101 Rom 67, 71, 74, 97, 102, 106f., 109–111, 114, 209, 216f., 222f., 232, 240, 243, 249, 251, 352, 355, 358f., 363, 366, 368 Romidee (Roma aeterna) 133 Roman siehe Gattung sacrum Phariae 202 Salmone 111 Samos 101 Samothrake 101, 105 Sarapis 210, 212–216, 225 Zeus Sarapis 212, 215 Schiff siehe passim actuaria siehe actuaria aphractus/-um siehe aphractus/-um camara siehe camara corbita siehe corbita Getreideschiff siehe Getreideschiff Handelsschiff siehe Handelsschiff Kriegsschiff siehe Kriegsschiff literarisches/novellistisches 331 oneraria siehe oneraria ponto siehe ponto Schiffahrt siehe passim Küstenschiffahrt 181, 186 Schiffbau 15, 18f., 23, 28, 34 Schiffbruch 15, 40–43, 57, 71, 131, 140f., 147, 191, 198f., 206, 211, 217, 222, 257–262, 267f., 329–333, 341f., 346–348 Beinahe-Schiffbruch 265 Schiffbruchsmetapher siehe Metapher Schiffbrüchiger 219, 329, 333, 335f., 344 Schiffsbewegung 15, 21, 25–30, 32, 213f. Schiffseigner 236, 329–332, 336, 342 Schiffsleiter siehe Skipper Schiffsrumpf 19, 22, 29 Schiffsstabilität 19, 24 Schlangenbiss 243f. Schnelligkeit 357, 373, 376f.

Sachregister (Caius) Scribonius Curio 67, 76 Scylla 73, 146, 148, 162, 240 See Genezareth 98 Seefahrt siehe passim Seefahrtsmetaphorik siehe Metapher Seegang 15, 19, 23, 25–28, 30–32, 34 Seehandel 354 Seekrankheit 15, 28–34, 131f., 138, 145–148, 213, 318, 334f. Seemänner 41, 43f., 48, 52, 59, 73, 221 ναῦται 221, 239 Seemannschaft 19–21 Seenot 210–217, 219, 221–225, 257, 259, 263, 265 Rettung 210f., 213, 218f., 221, 224f., 257, 263 Seeräuberkriege 81 Seereise siehe passim Seeschlachten 317, 319, 323, 325 Seesturm 145, 330–332, 335f., 341–343, 345, 348, siehe auch Sturm Segel 17–19, 23, 34, 90 Bramsegel 156 Segeleigenschaften 19, 21 Selbstinszenierung siehe self-fashioning Seleukia Pieria 105 self-fashioning, poetisches 157, 159–165, 167, 169, 265–269 Selinus 220 Senat 82–87, 89, 91–94 Seneca 16, 33, 40f., 57–60, 244, 359, 363, 367 Septimius Severus 202, 374 Serapis siehe Sarapis (Lucius) Sergius Catilina 82 Sexualität 38, 44, 46, 52f., 59, siehe auch Erotik Sibylle 338f., 344 (Vibius) Sicca 77, 88f. Sidon 111 Silen 380 Sirenen 383 Sizilien 76, 90, 114, 195, 240, 311, 318, 320, 324 Skipper 332, 336–338 Sklave 18, 45f., 48, 57f. Sklavin 38, 45f., 48–50, 54f., 57f. Skylla siehe Scylla Smintheus (Σµινθεύς) siehe Apollon Smyrna 212, 217, 220, 222, 224 Soldaten 48f., 57 Sopite-Syndrom 31f., 213

397

Soter (Σωτήρ) 210, 212f., 221, 223–225 Asklepios Soter 219 Thalassische Soter-Gottheiten 182f. Spanien 102, 106, 114 Sparta 159 sphragis 280f., 284, 289–291, 346 Stadttor 132–134 Statius 230, 351, 353, 362f., 365 Statthalterfrau siehe Ehe Steuer/Steuerruder 331, 338, 346 Steuermann 140, 144, 147, 236, 242, 245, 249, 331–334, 336, 342–344, 346–348 Strabon 90 Studium 68 Sturm 17–21, 30, 33f., 144f., 217, 221–223, siehe auch Seesturm Sturmgedicht 340 Suggestion 374, 376f., 382 Suhl, Alfred 97, 106, 110 Sulla siehe (Lucius) Cornelius Sulla (Servius) Sulpicius Alcimus 192 survival literature siehe Gattung Sybota-Inseln 82 Synesios von Kyrene 17, 20, 38, 42, 44, 46–59 Syrakus 76, 88–90, 94, 114, 230, 240 Syrien 70, 193f. Syrte 239, 247 Tafelbilder Takelage Talna Tarsos Tas Silg Technik Tempetal Tenedos Terenz Testa Teukros Teuthranien θάλασσα

Thales Thalna Theokrit Theophilie Therapnaei Thessaloniki Tiro Titus

siehe Bild 19 siehe Iuventius Thalna 102, 104f. 195 156, 158 378f. 100 16 siehe (Caius) Trebatius Testa 305, 322 219 97f. 185 siehe Iuventius Thalna 383 311 159 101, 106, 111 69, 72f. 194

Register

398 Tod 42, 216, 219, 224, siehe auch Dichtertod Beinahe-Tod 259, 337 Todesangst 32–34, 40, 51, 211 Todesarten 259f., 263, 267 topographical/spatial turn 351 Tor siehe Stadttor Torloniarelief 46f., 52, 199 Totenopfer 344 Tourismus 354, 362, 383 Trajan 202 (Caius) Trebatius Testa 77, 83, 91f., 94 Triumph 167–169 Troas 100 Troizen 193 Troja 303f., 314f., 320f., 325 Trojaner 315, 321 Trojanischer Krieg 321 Tryphaena 44f., 58, 198 Trypho 68 (Marcus) Tullius Cicero 17, 67–78, 81–94, 287 (Marcus) Tullius Cicero iunior 87 Tumulusgrab 344 Tusculanum 88 Tyros 101 Tyrrhenisches Meer 72f. Überwintern/Überwinterung Umbro/Umbrodelta unreliable narrator Unwetter

229, 234–241 138, 144–146 siehe Erzähler 223, 331

(Publius) Valerius 90–92 Valerius Flaccus 351–355, 358, 360–368 Varro 284, 286–288, 292 Velia 77, 88, 91f., 94 Venus 179, 183, 191–197, 200, 203–206 Venus-Hymnus 186 Venus Marina 195f. Vergil 273, 280f., 283, 286, 289–291, 301–303, 323f. Verpflegung 45, 50, 53f., 56, 58 Verres 90 Verschwörung siehe (Lucius) Sergius Catilina

Verzweiflung Vespasian Vestorius (Caius) Vibius Pansa Vibo villegiatura (Marcus) Vipsanius Agrippa Vogelzeichen Aithyia Halkyon Volubilis

71, 75 355, 366 77 84f., 93f. 88 171f. 317f. 264 259, 262f., 265 267f. 197

Warnecke, Heinz 110f., 114 Wegmetaphorik siehe Metapher Weisheitsliteratur siehe Gattung Wetter 68f. von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich 210, 212f., 215 Winde 67, 69–71, 77 auster siehe auster corus siehe corus etesiae siehe etesiae εὐρακύλων siehe εὐρακύλων eur(o)aquilo siehe εὐρακύλων libs siehe libs notus siehe notus Sturm siehe Sturm zephyrus siehe zephyrus Wissen 351–353, 355–358, 360 Wunder 158f. Zeitformen Linearität Rekursivität Zyklizität zephyrus Zeus Zeus Sarapis Zivilisationskritik Zosimos Zyklopen Zypern

274f., 278–282, 287, 289 274f., 282, 285f., 289f. 282, 285f., 289 274f., 278, 280, 282, 289f. 376 183, 209–216, 225, 230, 379 212, 215 303 215 siehe Cyclopen 101f., 105, 111, 193–196, 198

Stellenregister

399

Stellenregister Achilleus Tatios III 1–5 2,3f. 2,8 5,1 5,4 V 16,8

330 51 42 42 337 53

Aelian de Natura Animalium XII 45

182

Alkman fr. 1,93–95

261

Ammianus Marcellinus XIV 11,26

176

Anthologia Graeca V 17 VI 164 231 300 301 302 302,7 VII 263–279 267 272 277 282–294 290 472 494–506 736 IX 269 601 X 65

Anthologia Latina I 388a R. I2 718 R. 720 R. 723 R. Apollonios Rhodios I 1–4 105–108 367–370 559–562 1113f. II 932–935 III 915 IV 1268

176 171–187 186 187

361f. 333 239 333 286 259 265 265

196

(Ps.-)Apollonios von Tyana Epist. 3

123f.

248 197 266 265 266 266

Appian Bella Civilia 3,10 3,25f. 3,35–38 5,91

83 86 89 239

268 264 264 263 268 243 266 268 266

Apuleius Metamorphoses IV 31,3–5 XI 5,1 XI 5,5 XI 16,4–6 XI 16,7f. XI 25,4

243 199 203

Arat 158f. 296–299 763f. 909–920

205f. 201 202 202 202 201f.

264 262 281 262

Register

400 Archilochos fr. 115 IEG Aristides Or. I Or. XIX 6 Or. XX 3 Or. XXIII 16 Or. XXVI 100–102 Or. XXXVI 104 Or. XL Or. XLI Or. XLII 3 10 12f. Or. XLIII 1 2 2f. 3 28 Or. XLIV 9 18 Or. XLV 1–13 8f. 13 33f. Or. XLVII–LII Or. XLVII 2 Or. XLVIII 7 12 12–14 13 13f. 14 20f. 52f. 60–62 64

258 209 224 224 209 117, 209, 216 117 215 213 215 215 215, 224 209 120, 216f. 209 210–215 211 17, 211, 214 210f. 211 212f. 119 120 120 120, 210, 212–215 214 214 120, 212 212 209f., 215f., 222–225 120 216f. 223 43, 217, 221f. 213, 217, 221 127, 222 217, 222 213, 221 220 220 125 125

64–68 65f. 65–68 68 76 81f. Or. IL 45–50 Or. L 14 14–20 25–31 27 31 31f. 33–36 34 35 36 36f. 37 53 54 70 Or. LI 29 29–34 Or. LII 3 Aristoteles Poetica 1448b10–13 Athenaios V 204a 206–209 207e VII 318b 318d XV 675 Augustin de Civitate Dei 9,4,29–71 Confessiones 6,1,1

121 17 216 20, 217 127 119 215 215 217 209 209 209 209 222 119 119, 217, 221 221 221 221f. 222 120, 223 209 209 209 119 119 217 217

257

239 21 197 267 268 198

43 41

Stellenregister Ausonius Mosella 55 Avienus Ora Maritima 315–317 Phaenomena 164–168 Carmina Epigraphica Graeca I 132 162 II 664 807

180

195 177

263 263 263 263

Cassius Dio 45,18

83

Catull 4 36,12–17 64 64,12

325 194 363 276

Certamen Homeri et Hesiodi 132f.

263

Chariton I 11 VIII 4,10

330 196

Cicero Arati Phaenomena 296 Epistulae ad Atticum 2,7,4 2,9,3 3,8,2 4,16,1 4,18,2 4,19,1 5,9,1 5,11,4 5,12,1 5,13,1 5,21,1

179 67 67 71 70f. 67 69 82 73 70, 74 72, 74 72

401 5,21,3 6,7,2 6,8,4 6,9,4 7,2,1 7,3,5 8,11 B,1 8,16,1 10,10,5 10,12,4 10,13,2 10,17,1 12,28,3 14,11,2 14,13,4 14,16,1 14,16,3 14,17,1 14,17,2 14,18,4 14,20,1 14,20,5 15,6,2f. 15,14,4 15,15,1 15,15,2 15,17,3 15,18,1 15,19,1 15,21 15,21,3 15,25 16,1,1 16,4,4 16,4,6 16,6,1 16,6,4 16,7,1 16,7,5 16,11,6 16,13,4 16,14 de Divinatione 2,34 Epistulae ad Familiares 1,9,21 2,5,1 2,6,4

72 70 74 70 71 67 75 72 75 17, 75, 179 75 69, 75 69 84 87 76 87 76 76 76 76 77 93 86 86 84 87 87 88 88 76 70 74, 77 74 92 77, 88, 90 91 90 87, 91 95 76 94 72 67 67 67

Register

402 2,14 2,15,5 3,9,4 7,9 7,20 7,21 10,1,1 11,31,1 12,25,1–5 13,60,2 14,4,5 14,5,1 14,7,2 15,11,2 16,1,2 16,8,1 16,9,1 16,9,4 16,11,1 16,12,6 de Natura Deorum 2,40 2,100 3,24 de Oratore 3,161 Philippicae 1,1 1,5 1,5f. 1,7f. 1,8 1,9 1,29f. de Provinciis Consularibus 31 Epistulae ad Quintum fratrem 1,1,5 2,1,3 2,4,7 2,15,4 de Republica 2,4,9 Timaeus 4 Tusculanae Disputationes 2,23 5,116

68 70 68 77 91 91 92 88 67 68 73 71 76 70 70 69, 179 71 73 69, 72 72 178f. 81 72 182 82, 85 84 86 90 93 91 84 81 67 69 68 72 89 173 180 182

in Verrem 2,1,90 2,4,46

90 195

CIL IV 9867 VI 8707 IX 60

197 192 1

Clemens von Alexandria Paedagogus 3,22,1

49

Corippus in Laudem Iustini Augusti Minoris praef. 47f.

184

Diodor IV 43,2

234

Diogenes Laertios I 86

233

Diogenes von Apollonia DK 64 A 18

178

Dion von Prusa Or. 3 36 63 Or. 7 2 6 8f. Or. 12 5 Or. 13 10f. 11 Or. 31 24 Or. 72 1–4

122 125 119, 126 126 123, 127f. 123 123, 127 126 128 126

Ennius Annales I 54 IX 302

178 368

Epiktet Dissertationes II 18,28–29

234

Stellenregister Euripides Electra 990–993 1239–1242 1347–55 1355 Hippolytus 522 Medea 1

232 245 232 233 193 268

Eustathios Commentarii ad Homeri Iliadem et Odysseam I 1,8–10 184 Gellius II 30,11 VII 2,5 XIX 1

180 176 43

Germanicus Aratea 1–4

177

Heliodor I 22 V 24 27

330 337 330

Herodot I7 III 37

365 265

Hesiod Opera et Dies 38f. 45 105 106f. 225–237 230 235f. 235–249 239 243 265 363

262 259 261 261 260 266 259 262 266 266 266 266

403 618–694 633–638 641f. 646–648 647 649 650–657 656 657 660 662 665–668 673f. 682–694 683–685 688f. 692f. 694 720 828 Theogonia 26 51 226f. 537 1002

Hieronymus Epistulae 60,16,2 Homer Ilias I 718–728 V 62–64 IX 432–619 IX 561–564 XIV 246 XXI 195–197 XXI 306f. XXI 313 XXI 326f. Odyssea IV 581 V 289b–296 V 291–463 V 291–493 V 299–312 V 337

259 260 260 260 266 260 260 269 260 260 260 260 263 260 263 261 261 260 260 265 266 261 266 261 261

131

243 321 163 268 175 175 222 222 222 213 259 259 331 259, 336 259

Register

404 V 353 V 394–398 V 408–423 V 465–474 IX 67–84 XI 119–137 XII 106 XII 339 XII 341–351 XII 403–450 XII 410–414 XII 418 (Ps.-)Homer Hymni Homerici 33,7–11

259, 264 259 259 259 262 381 281 260 260 259, 331 336 259

243

Horaz Ars Poetica 21f. 345 455–469 339f. 470–476 338 472–476 345 Carmen Saeculare 37–40 322 37–48 314f. 53f. 320 Carmina I1 299f. I3 162, 166, 172, 301–303, 322, 324 I 3,1–6 195f. I 3,9–20 302 I 3,10f. 325 I 3,10–12 179 I 3,19 325 I 3,21–24 363 I 3,22 324 I 3,27–36 302 I 4,1f. 313 I5 312, 323 I 5,6f. 325 I6 317 I 6,1–9 317 I7 305 I 7,1–14 305 I 7,25–32 305 I 7,32 322, 325 I 9,10 325

I 12 I 12,25–32 I 12,27–32 I 14 I 14,8f. I 15 I 15,3f. I 15,5ff. I 16 I 16,9f. I 16,10 I 28 I 28,18 I 28,21–29 I 31 I 31,10–15 I 32 I 32,4–8 I 33 I 34 I 35 I 35,7 I 37 I 37,13 I 37,14–20 I 37,17 II 1 II 1,1–14 II 1,34–36 II 6 II 6,5–8 II 7 II 7,16 II 10 II 10,1–4 II 10,22–24 II 12,1–4 II 13 II 13,13–17 II 14,13–16 II 16 II 16,1f. II 16,21f. II 20,13–16 III 1 III 1,1 III 1,1–4 III 1,25–28

309f. 245 323 307f., 322f., 325 325 320–323, 325 323 322 300 300 325 311, 322 325 322 307 307 313 313 301 316f. 308f. 309 318 318 318 318 319 319 319 314 314 311 325 316 322 316, 322 320 300, 313 300 312 308 321 319 311 306 345 161 306

Stellenregister III 1,26 III 1,38–40 III 2 III 2,26–29 III 3 III 3,1–5 III 4 III 4,45f. III 6 III 6,1f. III 6,13–15 III 6,33f. III 6,34 III 7 III 7,1–5 III 7,5–8 III 9 III 9,21–24 III 9,22f. III 11 III 11,45–48 III 24,35–44 III 24,40f. III 26,5 III 26,9 III 27 III 27,23 III 27,25–34 III 27,26f. III 29 III 29,61 IV 4 IV 4,49–76 IV 4,53–56 IV 5 IV 5,19 IV 8 IV 11,15 IV 12,1f. IV 14,47f. IV 15 IV 15,8f. IV 15,17–20 IV 15,21–24. Epodi 1 1,1–4

325 319 307 307 300 300 310 325 319f. 320 320 320 319 313 313 314 301, 322 301 322 322 322 307 325 196 196 172, 304f. 325 300 325 310 325 315, 322 315 322 314 316, 325 309 196 313 325 311, 315f. 316 316 316 162, 317 317

405 2 2,6 4 4,9–20 4,17–20 7 7,1 7,3f. 9 9,7–10 9,19f. 9,27f. 9,27–32 9,32 9,35f. 10 15 15,3–11 15,8 15,12 16 16,39–60 16,41 17 17,53–55 17,54f. Saturae (Sermones) I5 I 5,9 I 5,11–23 I 5,30f. I 5,50–70

IDelos 2132 IG

IX 12 ,4 1475 XII 14

299 299, 322, 325 319 319 319, 322 319 319 319 317f. 317f. 317 317 317 325 318 303f., 322 301, 322 301 325 322 305f., 323 306 325 311 311 322 299, 324, 326 182 324 146 144

192

193 201

IKyme 41

201

ILS 4421

192

Register

406 Isidor von Sevilla Etymologiae XIII 15,1 XIII 20

178 175

Iuvenal 2,25 6,82 6,92–94 6,92–102 6,94–102 6,101f. 6,527–529 6,575f. 12,28 12,33–53 12,53–56 12,55 12,56 12,68f. 12,81 13,163

173 43 43 39 43f. 52 50 43f. 199 239 239 239 239 239 248 53f.

IvP (= AvP VIII) III 145 145,2–9 145,5f. 145,5–10 145,6 145,7f. 145,8 145,9 145,9f. 145,9–17 145,14–16 145,15 145,15–18 Josephus Antiquitates Iudaicae XIII 171–173 XVIII 11–18 Bellum Iudaicum II 154–165 Vita 3 15

217–223 219 221–223 221 223 222 222 223 222 218 219 219 218

245 245 245 16, 19 57

Kallimachos Aetia fr. 1,27f. fr. 100 fr. 178 Epigrammata 2 5 17 18,1 47 47,1 58 393 Hecale fr. 47 Hollis fr. 49 Hollis fr. 54 Hollis fr. 288,43B–46 SH Hymnus in Apollinem 10f. 17–24 105–112 106–112 Hymnus in Delum 316–323 Sosibii Victoria fr. 384,31f.

353 266 262f. 264 197, 267f. 268 262 265, 267 266 263f. 264 261f., 264 262 262 266 266 161 315 266 197 266

Livius XXIX 24,7 27,5

197 196

Ps.-Longin de Sublimitate 10

261

Longos II 25–29

330

Lukan I 415f. II 454f.

179 180

Stellenregister III IV V

IX X

193–196

363

81

177

436–455 515 540–576 620–653 654–671

181 336 333 336 336

415f.

368

258–261

179

Lukian Alexander 49 Amores Demonax 24 Dialogi Deorum 3 Gallus 12 14 Icaromenippus 5 de Mercede Conductis 1 1f. de Morte Peregrini 20 35f. 37 43 Navigium 4–6 5 7 9 Rhetorum praeceptor 15 Toxaris 19 24 46

56 55 125 201 125 125 126 234, 248, 251 231 43 43 42 42f., 123 155 230 236 234, 236, 242 123 32 125 125

407

Lukrez I 2 21 IV 1f. V 77 92 93 107 109 143 446 1006

179 179 179 179 180 173 173 16

Lykophron Alexandra 365–1225

262

Martial Epigrammata VI 34,2 VII 19 X 104 Spectacula 24 28 Menander Rhetor II 398,26–399,10 III 395–399

179 179 353

181 351, 362 351 351 351 118–121 156

Nemesian Cynegetica 58–63 240–250 272–278

186 180 180

Novum Testamentum Lk 2,1 2,2 3,7 3,9 4,38 4,40 6,38 6,43

247 247 244 237 250 250 237 237

Register

408 8,15 9,33 10,19 11,24 12,11f. 13,13 14,34 21,5 21,12 21,14f. 21,16 21,18 21,19 22,19 24,13–35 24,30 24,30f. 24,35 Apg 4,8–12 4,19f. 5,29 5,29–32 5,32 6,6 7,56 8,17 8,19 9,12 9,17 9,30 9,33–35 10,25f. 13,2 13,3 13,4 13,4–12 13,13 14,11–15 14,15 14,25f. 14,26 16,9f. 17,16 17,22 17,23 18,1–3 18,9

237 237 244 240 251 250 237 237 233 251 233 233, 248 233 248 248 248 248 248 251 251 236 251 236 250 236 250 250 250 250 105 250 243 250 250 105, 250 102 105 243 230 105 240 105 230 236 230 107 247

18,18 18,18f. 19,6 19,13 19,26 19,26f. 20–21 20,4 20,13f. 21,33–22,21 21,39 23,35 25,10 25,11 25,12 25,21 25,25 26,1–23 26,17 26,19 26,32 27 27–28 27,1 27,1f. 27,1–28,16 27,2 27,3 27,6 27,6f. 27,7 27,8 27,9 27,9–12 27,10 27,11 27,11f. 27,12 27,13 27,14 27,14f. 27,15 27,15–21 27,16f. 27,17 27,17f. 27,18 27,18–20

248 107 250 240 234 230 99–102, 105 101f., 105, 111 99 251 102 110 233, 237 233 233 233 233 251 249 240 233 43 109, 229, 231, 233, 235, 245 233 57 109 111 111, 246 230 235 239 111, 237 235, 247 111 236, 246f. 236 236 236–238, 240, 243 111, 237, 240 237 16, 20 239 57 239 238f. 21 238, 246 239

Stellenregister 27,19 111, 238 27,20 113, 238, 249 27,21f. 236, 246–249 27,22–24 249 27,22–25 242 27,23 243 27,23f. 243 27,24 233, 243, 246, 249 27,25 246f. 27,26 243, 246, 249 27,27 21, 239, 247 27,28 21 27,29 239 27,30 239 27,30–44 246 27,31 57, 249 27,33 246f. 27,34 233, 248f. 27,35 248f. 27,36 248f. 27,37 57, 247–249 27,38 246 27,39 238, 249 27,39–28,1 20 27,40 239f. 27,42 233, 250 27,43 249 27,44 249 28,1 21, 243, 249 28,2 238, 249 28,2f. 238 28,3 243f. 28,4 233f., 243f., 249 28,6 243f. 28,7 238, 243 28,8 233, 250 28,9 243 28,10 238 28,11 229–232, 234f., 238, 241, 243f., 251 28,11–13 235 28,12f. 240 28,13 240 28,14 244 28,14b 114 28,15 243f. 28,17–31 109 28,19 233

409 28,27f. 28,28 Röm 1,10f. 15,22–29 2Kor 11,22–29 11,25 Gal 1,17 2,11–21 Phil 4,15 Jak 5,14

Orentius Commonitorium II 165–184 Ovid Amores II 11 II 11,5–8 Ars Amatoria I 1–8 I 213f. Metamorphoses I 69 I 89–96 I 256f. II 238 VII 528 XI 202 XI 710–728 XV 651–664 XV 658 XV 677 XV 713–728 XV 729–736 XV 744 Remedia Amoris 495f. Tristia I 2,49 I 2,49f. I3 I 3,55f.

243 249 102 102 108f. 233 105 105 105 250

131

162 303 166 168 177 363 179 177 173 175 343 243 243 243 243 243 243 180 174 181 134, 136 134

Register

410 I 3,55–62 I 19 Pacuvius inc. 45 (TRF Ribbeck)

134 172 336

Pausanias I 1,5 II 2,3 4,6 34,11

193, 202 202 193

Petron 6 9 15,5 19 64,7 72,5–8 78 78,5 80 83,8 83,10 85–87 87,10 88,3–5 90,1 90,1–6 90,5 92,2 92,5f. 92,6 93,1–3 94,8 96,7 97f. 99,4–6 99,6 100–115 100,7 101,4 101,5 101,7f. 101,7–103,2 101,8 101,10

329 337 338 337 334 329 337 334 337 345 347 347 347 341 330 339 330 347 339 330 339 337 347 329 330 234 329–348 45 336 45 332f. 347 334 336

194

102,3 103,3–6 103,5 104,5 104,5–105,4 105,1 105,4 105,6f. 106,2 107,1–15 107,13f. 107,15 108,1 108,3 108,5 108,8 108,9–11 108,10 108,12 108,13 109,2 109,8–110,1 109,8–110,5 109,9 110,1 110,5 111f. 112,8 113,3 113,5 113,7 113,11 114,1–3 114,1–6 114,3 114,5 114,7 114,13 115,1–5 115,10 115,11 115,16 115,16–19 115,20–116,1 116,1 117 118 134

334, 336 248, 335 248 248 248 248 248 45 45 347 248 248 248 347 45 45, 336 337 45 336 198 45 339 248 347 45, 58 45 347 347 45 248 45 45 336 336 336 198 45, 337 331 337f. 329 343 329 342 343f. 346 348 345 329

Stellenregister Philostrat Imagines prooem. 2 II 17,1 II 17,2 II 17,3 II 17,4 II 17,5 II 17,6 II 17,7 Vita Apollonii I 35,2 I 40 III 23f. III 58 IV 1 IV 11–16 IV 13 IV 32 IV 34 IV 39 V 18 V 20 V 21 V 24 VI 3 VII 12 VII 15 Vitae Sophistarum I 10 I 24,1 I 25 I 25,2 II 5,3 II 9,1 II 9,2 II 9,3 II 10,2 II 10,4 II 21 II 27,5 II 30 II 31 Pindar Nemea 3,26f. 4,69–72 5,50f.

373f. 376 380f. 381f. 378f. 379 382 380 122 126 127 124 119 122 57, 122 127 122 126 122 127 124 122 122f. 121 126 121 121 120 121, 126 123 209 209 210 126 121, 126 121 121 123 124

261 261 261

411 Pythia 10,51 10,51–54

261 261

Platon Leges XII 945c Respublica X 616c

239

Plinius d. Ä. Naturalis Historia I praef. 13 I praef. 14 II 128 II 204 III 41 V 141 VI 1f. VI 96 VI 97–100 VI 101 VI 102f. VI 105 VI 106 VII 209 IX 26 IX 79f. X 89 XIII 51,140 XIV 1,2 XVI 59,135 XIX 1 XXII 45 XXIV 28 XXVII 3 XXVIII 54 XXXI 33,62f. XXXII 1 XXXVI 101 XXXVII 120 Plinius d. J. Epistulae VI 4 IX 33,10 X 17a,1 X 120,1f.

239

360 353 147 368 358 367 368 354, 356 356f. 357 358 365 358 359 56 197 178 356 360 353 358f. 178 354 359f. 354 354 197 352f. 178

50 56 16 50

Register

412 P. Lit. Goodspeed 2 II 14 Plutarch Cato Major 9,9 Cicero 43,1–3 43,4,3 43,4,4f. 47,5 Moralia 169 A–B 426 C 1103 C 1103 C–D Theseus 18

200

17 86 85 85 67 242 242 245 242 197 239

Polycharmos von Naukratis FGrHist 640 F 1

198

Properz I 8 8,5–8 11 17,13f.

264f. 265 200f. 268 268f. 268 268 268 263 267–269 268 200 200, 268 200 259, 268 264

44 21 52 17

1,1f. 3,22–24 4 4,1–3 4,7 7,29 9,3f.

Quintilian Institutio Oratoria VIII 6,44 IX 4,61 X 1,46 RIC III IV

Pollux I 89f.

Poseidipp 21 22–24 39 89 90 91 92 93 94 115 116 5–7 119 3 128 132

III

315 315 355 355 355 15, 34 315

183 137 184

Antoninus Pius 517c

205

Septimius Severus 577 Septimius Severus 645 Septimius Severus 865

202 202 202

RRC 313/2 313/2–4 391/3 463/3 Rutilius Namatianus I 19–34 35f. 35–44 37–42 39 41 42 43f. 165 179 216 223–226 249–276 277–292 313–324 313–348 314

204 204 204 205

133 133 132–137, 144 133 137 135 131 133 133 133 133 145 145 142, 145 138–141 132, 138–148 139

Stellenregister

II

323 323f. 325 325–336 328 331 333 334 337–348 340 341 343 344 475–490 490f. 490–510 533–540 13f.

145 147 142 141–144 142 142 143 143 144–148 145 145 146f. 147 145 145 145 145 182

Scriptores Historiae Augustae Carus et Carinus et Numerianus XI 2

185f.

Sedulius Carmen paschale 2,63–66a

176

Seneca d. Ä. Controversiae 9,2,1 Suasoriae 6,17 Seneca Epistulae 16,5 53,2–4 ad Helviam 9,7 19,1 19,4–7 19,5 Hercules Furens 205 Medea 301–379 321f.

39 67

176 33, 146 41 41 40f. 16 176 363, 367 147

413 Naturales Quaestiones V 18,12 VII 13,2

SHA

359 173

siehe Scriptores Historiae Augustae

Silius Italicus XI 484f.

182

Sophokles Antigone 331–337

259

Statius Achilleis I 61 I 78 Silvae I1 II 3 III 1 III 2 III 2,1–49 III 2,4 III 2,25–34 III 2,39–41 III 2,42–49 III 2,50–60 III 2,61–100 III 2,64–72 III 2,78–80 III 2,85f. III 2,92 III 2,96–99 III 2,99f. III 2,101–126 III 2,110 III 2,111 III 2,112–116 III 2,121–126 III 2,127f. III 2,127–143 III 2,131f. III 2,134f. III 2,135 III 2,136–138 III 2,137 III 2,138 III 2,142–143

166 175 175 156 156 156 137, 155–169, 172 158 160 155 164 162 158, 160 158 163 160 162 162 163 161 158 159 159 159 158 167 158 168 159 159 159 159 159 165

Register

414 III 2,143 IV 3 IV 4 IV 4,51–55 IV 4,87–92 IV 4,88f. IV 4,94–100 Thebais IV 700 VIII 269f. IX 405f. XII 808f. XII 809

163 156 165 165 166 362 166 158, 162–167, 169 177 230 177 167 362

Strabon I 2,21 X 4,3 XIV 6,3 XVI 2,24 XVII 3,20 Sueton de Poetis 11,82–87 Vespasianus 8,1 Supplementum Hellenisticum (SH) Kallimachos SVF I 396 Synesios Epistulae 5 5,1f. 5,19–34 5,35f. 5,41–43 5,45 5,65f. 5,111–113 5,118–120 5,120 5,120f. 5,142–150 5,170–176 5,177–182

90 236 194 20 239

16 355 siehe

32

46–56 48 48 48 52 48 48 48 17 42 20 50 48 49

5,184 5,227–235 5,242–245 5,245f. 5,254–257 5,259–263 5,260f. 5,301–303 Tacitus Annales 1,40,4 1,41,1 1,43,3 2,43,4 2,55,6 2,58,2 3,33 3,33,1 3,33,2 3,33,3f. 3,34,5 4,20,6 Germania 1,1 Historiae 2,2 2,4 3,47,3

48 56 50 48 48 50 48 53

57 57 57 41 39, 41 39, 41 41 39 39 39 39 39 176 194f. 194 180

Theokrit 7,96–127 22,8–22 27,3f.

193 245 193

Tibull I 3,35–50 IV 1,147

363 176

Valerius Flaccus Argonautica I 1–4 I 7–9 I8 I 16–21 I 54 I 120–129 I 130–148 I 168f.

361 366 362 366 368 362 362 365

Stellenregister I 188–204 I 196–199 I 236 I 246f. I 265–267 I 542–546 I 545 I 545–560 I 556–560 I 587–590 I 598 I 605 I 606 I 627 II 616–620 IV 711–713 Varro Res Rusticae I 2,26 I 5,2 Vergil Aeneis I 37–49 I 69 I 115–117 I 124 I 132–139 I 155 III 78f. III 85 III 116 III 192–202 III 195 III 200–202 III 274f. III 276 III 376 III 414–419 III 509–511 III 512–520 III 567 V 760f. V 772 V 779–815 V 813–815 V 817 V 838–840

364 364 362 365 177 364 358, 364 364 364 367 364 364 364 365 367 361

286 286

336 174 336 182 191 175 142 142 197 336 336 336 142 142 142 368 148 333 146 195 195 191 337, 347 175 334

415 V 842–846 V 844 V 852f. V 855–857 V 870–871 VI 9 VI 77–101 VI 98–100 VI 313 VI 337–362 VI 363–371 VI 377–382 X 212 Eclogae 1,38f. 4,31f. 7,12f. 8,6–8 8,7 Georgica I I 1f. I 1–3 I 1–5 I5 I 21–23 I 40 I 40–42 I 50–52 I 204–207 I 231–258 I 252–258 I 302–306 I 351–355 I 360 I 371f. I 424–437 I 429 I 431 I 432 I 433 I 436 I 437 I 454–460 I 493–497 II 30 II 32–34 II 35–46

334 334 334 334 344 176 339 339 182, 184 344 343 344 182 133 363 276, 291 168 285 273–282 278, 287 276 290 278, 285 178 184 184, 274f. 275, 277 276f. 275, 277 277 278f. 279 279 279 279f. 280 280 280 280 280 280 281f. 277 289 276 281–288, 292

Register

416 II 44f. II 45f. II 103–108 II 221 II 238–247 II 401f. II 458f. II 493 III III 1–48 III 8 III 13–15 III 14f. III 24f. III 525f. IV IV 113f. IV 116f. IV 116–119 IV 125–127 IV 139–141

315 282 181 276 277 278 289 289 288f. 291 353 276 291 291 278 282, 288f. 288 288 288f. 288 289

IV 144f. IV 148 IV 382 IV 554 IV 559–566 IV 563–566

276 288 177, 182 289 280 280, 289–291

Vetus Testamentum Jon 1,4–16 1,7–16

242 233

Vitruv I 7,1

195

Xenophanes von Kolophon DK 21 A 46 DK 21 B 30

177 177

Xenophon von Ephesos III 2,12f.

330, 337