Wasser: Das Meer und die Brunnen, die Flüsse und der Regen 9783495817179, 9783495487174

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Wasser: Das Meer und die Brunnen, die Flüsse und der Regen
 9783495817179, 9783495487174

Table of contents :
Inhalt
Philosophieren über Wasser?
Meer
Brunnen, Quellen, Wasserspiegel
Die Brunnen
Die Quellen
Wasser-Spiegel
Flüsse
Das Fließen
Die Flüsse und Ströme
Regen, Wolken, Nebel
Zum Schluß
Literaturnachweis

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Ute Guzzoni

Wasser Das Meer und die Brunnen, die Flüsse und der Regen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817179

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B

Ute Guzzoni Wasser

VERLAG KARL ALBER

A

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»Es geht mir nicht um eine systematische Erfassung dessen, was am Wasser ›philosophisch relevant‹ sein könnte. Ich meine es vielmehr wörtlich, wenn ich sage, dass ich im Schreiben Gegenden durchstreifen, er-fahren möchte, Gegenden oder Bereiche, die etwas mit Wasser zu tun haben, vielleicht durch Wasser bestimmt sind. Dabei geht es darum, aufmerksam und neugierig zu bleiben, Begegnungen geschehen zu lassen, mit dem Meer, mit Seen und Flüssen, mit Regen, Wolken und Nebel, mit den Farben und Gestalten des Wassers, mit aufquellenden und mit fließenden Bewegungen, mit Mythen und Dichtungen, auch mit Rede- und Gedankenflüssen. Gelingt es unserem Denken, die sicheren Grenzen, die eindeutigen und bleibenden Bestimmungen und Fixierungen der Gegenständlichkeit hinter sich zu lassen, so kann es wagen, sich denkend auf das Wasser einzulassen, – auf seine Fruchtbarkeit, sein Belebendes und Reinigendes wie auf seine Gewalt und Zerstörungskraft, auf seine Bewegung und Bewegtheit, die fließende Veränderung, den Wechsel von Kommen und Gehen, die sich stets wandelnde Wechselwirkung und Kommunikation mit jeweils Anderem.« (Die Autorin über ihr Buch)

Die Autorin: Ute Guzzoni, geb. 1934, lehrte als Professorin an der Universität Freiburg i. Br. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt im Verlag Karl Alber: Hegels Denken als Vollendung der Metaphysik (2005), Unter anderem: die Dinge (2008), Gegensätze, Gegenspiele (2009), Der andere Heidegger (2009), erstaunlich und fremd (2012), Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze (2014), Nichts (2014). 2015 erschien auch der von ihr mitherausgegebene Band Zwischen zwei Wellen. 300 Haiku zu Flüssen und Nebel und Meer.

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Ute Guzzoni

Wasser Das Meer und die Brunnen, die Flüsse und der Regen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Dies ist eine leicht veränderte Neuausgabe des im Jahr 2005 im Parerga Verlag erschienenen Buches gleichen Titels.

Die Photographien auf den Seiten 34, 70, 72, 106, 110, 157, 197, 199, 200, 201, 202: Uwe Bennholdt-Thomsen Alle übrigen Photographien: Ute Guzzoni

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48717-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81717-9

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Inhalt

Philosophieren über Wasser? . . . . . . . . . . . . . .

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Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Brunnen, Quellen, Wasserspiegel Die Brunnen . . . . . . . . . Die Quellen . . . . . . . . . Wasser-Spiegel . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . .

57

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Flüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Das Fließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Die Flüsse und Ströme . . . . . . . . . . . . . . . 148 Regen, Wolken, Nebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Zum Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Literaturnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

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Philosophieren über Wasser?

»Wenn ich das Wasser schöpfe, ist der Mond in meiner Hand.« (Zen Kōan) Ein neues Buch aufzuschlagen, das ist ein wenig so, als begänne man, eine neue Sprache zu lernen oder ein neues Land, eine neue Gegend zu erkunden. Da liegt etwas ausgebreitet vor uns, das fast auf unser Dazukommen zu warten scheint oder sich vielleicht auch, je nach dem, unzugänglich und spröde zeigt. Jedenfalls scheint es da zu sein, gegeben, es scheint ein Leben für sich zu führen, in das wir uns hineinbegeben, auf das wir uns einlassen wollen. Ein neues Buch schreiben zu wollen, ist etwas anderes; das vor einem liegende Land ist noch leer, vielleicht noch gar kein Land, es ist erst zu finden, zu bezeichnen, zu besiedeln. Am Anfang ist noch alles möglich: die Richtung, in die man gehen, die Stärke und Bestimmtheit der Linien, die man einzeichnen, die Farben und Stimmungen, die man malen und evozieren will. Zwar ist so gut wie überall schon jemand gegangen, zu so gut wie allem hat schon irgendjemand etwas gesagt und geschrieben. Insofern finden wir niemals völlige Leere vor. Die Worte, die wir gebrauchen, die Gedanken, die wir nur scheinbar »uns machen«, sind immer schon mit vorgeprägt durch das Sprechen und Denken anderer, deren Sprache wir sprechen. Gleichwohl haben wir die Wahl. Wohin wollen wir aufbrechen? Auf welche Sachverhalte wollen wir unseren Blick konzentrieren, welche Konstellationen wollen wir entstehen 7 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

und zu Wort kommen lassen? Welche Landschaft soll sich durch unsere Schritte entfalten? Und welcher Art können diese Schritte sein? Bedächtig Fuß vor Fuß setzend, so daß sich folgerichtig eines aus dem anderen ergibt? Oder eher springend, fliegend, tanzend? »Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich«, singt Zarathustra. (Also sprach Zarathustra, 44) Ich beginne also mit einem neuen Buch. Da meine Sache die Philosophie ist, scheint der Bereich, in den die Thematik gehört, und bis zu einem gewissen Grad auch die Art des Schreibens vorgegeben zu sein. Aber »was ist das – die Philosophie?« (so der Titel einer kleinen Schrift von Martin Heidegger). Was heißt es zu philosophieren? Heute noch und heute wieder zu philosophieren? Mir scheint, daß wir – nachmetaphysisch, d. h. im Kontext der unterschiedlichsten Denkansätze des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts – in eine Situation geraten sind, in der wir uns bei allen philosophischen Gedanken, Überlegungen und Untersuchungen immer auch die Frage vorlegen müssen, was wir denn da tun – und tun wollen –, wenn wir Philosophie treiben. Doch das ist keine Frage, die wir im vorhinein, vor Beginn der eigentlichen »Arbeit«, abhandeln könnten. Vielmehr gehört sie in das Philosophieren selbst mit hinein, und so wird sie auch die folgende Gedankenwanderung begleiten. Die Sache, auf die ich mich hier näher einlassen will, ist das Wasser. Mit der Frage nach dem Wasser durchstreife ich die Landschaften des Denkens. Ich beziehe mich auf gewisse konkrete Bilder, die in mannigfachen Aspekten und Bezügen das Wasser betreffen oder mit dem Wasser zu tun haben. Streckenweise kommen dabei auch andere Fragestellungen in den Blick, die die Frage nach dem Wasser scheinbar überlagern oder in den Hintergrund drängen und die mir doch gerade im Zusammenhang mit der Erfahrung des Wassers wichtig geworden sind: die Verhältnisse von Weite und 8 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Grenze etwa, von Gegenden und Orten, Ruhe und Bewegung, Stille und Lautwerden, von Festem und Fließendem, Sicherheit und Offenheit. Es geht mir nicht um eine systematische Erfassung dessen, was am Wasser »philosophisch relevant« sein könnte. Ich meine es vielmehr wörtlich, wenn ich sage, daß ich im Schreiben Gegenden durchstreifen, erfahren möchte, Gegenden oder Bereiche, die etwas mit Wasser zu tun haben, vielleicht durch Wasser bestimmt sind. Daß das Denken selbst etwas von einem Reisen, einem Aufbrechen ins Offene an sich hat, ist schon oftmals bemerkt worden. In der gegenwärtigen philosophischen Situation legt sich diese Kennzeichnung mit neuem Recht nahe. Es geht dem Philosophieren heute weniger denn je darum, zu einem bestimmten Ziel zu gelangen – zu einem fundamentum inconcussum, einem System, einer Kategorientafel, einem Absoluten, einer Letztfundierung worin auch immer. Der Weg gewinnt so seine eigene Bedeutung, er ist nicht mehr Weg zu oder nach …, sondern erfüllt sich im Gehen. Das Gehen selbst erhält einen nomadisierenden, offenen Charakter. Das Abenteuer, das im Sich-einlassen auf neue Gedankengänge – so auch im Beginnen eines neuen Buches – liegt, entspricht dem Abenteuer einer Reise; wie diese ist es ein Ausziehen in einen offenen Raum. Der Raum, innerhalb dessen das philosophierende Sichtbar-machen geschieht, ist ein Raum der Offenheit und des Erstaunens, in dem sich die unsichtbare Weise, wie etwas ist und sich verhält, sehen läßt. Als Beispiele und Bilder des Sichtbarmachens ziehe ich im Folgenden literarische, vor allem dichterische Bezüge heran, aber auch eigene Impressionen, insbesondere von Reisen, Erfahrungen in fernen Gegenden. Das mag zwar manchmal eine gewisse Fremdheit und Erstaunlichkeit mit sich bringen, die sich vom Alltag absetzen; es gibt den Bildern jedoch zugleich Gewicht und Selb-

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ständigkeit und führt den Blick zwanglos von der bloßen Vorhandenheit eines Gegebenen auf das Wie seines Begegnens. Ein neues Buch – eine Art »Aufbruch zu neuen Ufern«. Dabei geht es darum, aufmerksam und neugierig zu bleiben, Begegnungen geschehen zu lassen, mit dem Meer, mit Seen und Flüssen, mit Regen, Wolken und Nebel, mit den Farben und Gestalten des Wassers, mit aufquellenden und mit fließenden Bewegungen, mit Mythen und Dichtungen, auch mit Rede- und Gedankenflüssen. »Und immer ins Ungebundne gehet eine Sehnsucht«, heißt es in einem Gedicht von Hölderlin (Reif sind, in Feuer getaucht …). Und in einem anderen: »So weit das Herz mir reichet, wird es gehen.« (Kolomb) Wie weit reicht es, wenn es sich gewissen Wasser-Erfahrungen überlassen will? Welche Bilder legen sich ihm da nahe? * Wasser. Wasser-Bilder. Bilder vom Wasser, Wasser als Bild. Wasser auf Bildern, Bilder im Wasser. Spiegelungen. Re-flexionen. Wasser – Moment und Element des Lebens wie des Irdisch-seins überhaupt. Wasser und Tod. Wasser in unterschiedlichen Gestalten, Zuständen, Erscheinungsformen. Wir sehen den Fluß im Nebel und schmecken die Frische des Quellwassers; wir hören das Plätschern, Rauschen, Strömen; wir riechen den Duft des Regens an einem warmen Sommerabend und fühlen ihn auf unserer Haut. Wir tauchen in den See, gleiten über Schnee und Eis, stehen staunend vor Gletschern, fahren über das Meer. Wasser ist zum einen einfachhin Flüssigkeit – gebraucht zum Trinken, zur Reinigung und zur Nahrungszubereitung; es ist sodann Gewässer – Quelle, Bach, Teich, See, Fluß, Meer; es ist Wasser vom Himmel – Regen und Wolken, Tau, 10 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Nebel, Schnee und Eis. Wasser kann im Gebrauchszusammenhang, als geographisches, als meteorologisches oder auch als künstlerisches Phänomen begegnen. Je nach der Situation, in der man sich befindet, wird einem vielleicht die Dusche oder das Brunnenwasser, das Meer oder der Regenschauer einfallen, wenn vom Wasser die Rede ist. In all seinen verschiedenen Bewandtnis- und Lebenszusammenhängen, etwa als Trunk für den Dürstenden, als Medium der Schiffahrt, als Regen, der auf die Felder fällt oder der sich in Pfützen sammelt, ist es in menschlichen Erfahrungen, Geschichten und Bildern auf mannigfache Weise präsent. Wohl auch wegen dieser Vielfältigkeit kann es auch für unterschiedliche Schriftsteller und Dichter eine je unterschiedliche, ganz persönliche Bedeutung haben. Bachelard schreibt in L’eau et les rêves, daß ihm die Flüsse, die Quellen und Bäche mehr zu sagen hätten als das Meer (11). Andere – Nietzsche gehört wohl dazu – sehen dagegen das Meer vor sich, wenn sie an Wasser denken. Bei Benn tauchen, schon der Landschaft seiner brandenburgischen Herkunft wegen, direkt oder indirekt in vielen seiner Gedichte die Seen auf (ungeachtet der Rolle, die daneben das Mittelmeerische bei ihm spielt). Sowohl Goethe wie Hölderlin haben immer wieder Flüsse und Ströme besungen. Das Wasser war für die Alten ein Element, also einer der ursprünglichen Grundstoffe, aus denen alles, was ist, besteht. Das Elementhafte bedeutet nicht nur, daß aus diesen Stoffen, aus dem Urmateriellen alles irdisch Seiende geworden ist und besteht, sondern auch, daß die Elemente als diese Ersten nichts im eigentlichen Sinne Substantielles sind, keine »Dinge«. Alle vier sind sie, mögen sie nun lediglich als Bestandteile des Irdischen oder an ihnen selbst begegnen, unbegrenzt, sie erstrecken sich bis dahin, wo ihnen von außen eine Grenze gesetzt wird. Nur das Element Erde ist fest, obwohl auch sie, wie die anderen drei, nichts in umgrenzter Ge11 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

stalt Vorliegendes ist. Insbesondere die Luft und das Wasser breiten sich, raumerfüllend, ungehemmt bis ins Endlose aus. Begrenzt sind sie höchstens durch ihre Menge; das Wasser ist jeweils in einer bestimmten Quantität da, sei es als Regenoder Tautropfen, gehalten in einem Gefäß, einem Brunnen, einer Rohrleitung, oder sei es auch ausgebreitet in der Weite eines Weltmeers. In der Philosophie hat das Wasser nach den Zeiten des Thales und einiger seiner Nachfolger kaum mehr eine nennenswerte Rolle gespielt. Das hat mit dem Vorrang zu tun, den das Feste in unserer Tradition gewonnen hat und der sich u. a. in der Auszeichnung des selbständig Vorliegenden, der Substanz, ausdrückt. Den abendländischen Philosophen ging es schon früh vornehmlich um die festen und begrenzten Dinge, sowohl die natürlichen wie die vom Menschen gemachten. Von diesen konnten Einessein und Differenziertheit, Allgemeinheit und Besonderheit ausgesagt werden, auf sie konnte man im Denken und Sprechen zurückkommen, über sie konnten, wenn sie auf das sie gemeinsam bestimmende Sein hin thematisiert, also in ihrer Allgemeinheit erfaßt wurden, sichere Aussagen gemacht werden. Sie legten sich als die Gegenstände des wahren Erkennens nahe. Wo in der Philosophie überhaupt die reale, empirische Welt reflektiert wurde, da waren es in erster Linie die umgrenzten Dinge, mit denen die Menschen es zu tun haben, – kaum einmal die Erde, auf der sie wohnen, oder der sie überwölbende Himmel. Nicht das Meer, das das Land begrenzt, nicht die Flüsse, die es durchziehen. Die Berge und die Ebenen, das Land und das Meer und die Winde, der Tag und die Nacht, – all das trat in den Hintergrund einer selbstverständlichen Umgebung und bloßer Voraussetzungen für die eigentliche und wesentliche Konstellation: die Konfrontation von Denken einerseits und bestimmten, umgrenzten Gegenständen sowie allgemeinen Wesenheiten andererseits. 12 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Es gehört wesentlich zum Wasser, daß es sich an ihm selbst nicht ergreifen läßt. Wir berühren es zwar, es macht uns naß, wir schöpfen es sogar in die hohle Hand, aber gleichwohl halten wir es nicht. Als die spezifische »Stofflichkeit« des Wassers kann gerade seine Formlosigkeit erscheinen, die eben das vermissen läßt, was wir sonst mit Stoff oder Materie assoziieren, eine massive Widerständigkeit, Bestimmbarkeit und Gestaltbarkeit. So entzieht es sich durch seine konkrete Unfaßlichkeit dem metaphysischen Zugriff. Mit Thales, dem ersten abendländischen Philosophen und seinem Gedanken, daß alles letztlich aus dem Wasser herkomme, hat die Philosophie einen letzten, Abschied nehmenden Blick auf das Wasser geworfen. Fortan will sie bestimmen, umgrenzen, definieren; sie will sichern, einen Halt geben und finden. Da ist das Wasser ein ungeeignetes Thema. Allerdings beginnt das philosophierende Nachdenken des Abendlandes interessanterweise gerade zu der Zeit, da die Meere ihre Unüberwindbarkeit verlieren, da der Geist und die Schiffe des Menschen die terra ferma, das Festland, verlassen und nach fremden Küsten als neuen Besiedlungs- und Absatzgebieten ausziehen, sowohl in der Antike wie dann erneut und in anderem Ausmaß zu Beginn der Neuzeit, – womit eine Ursächlichkeit nicht behauptet, allerdings auch nicht geleugnet werden soll. Wenn das Wasser auch kaum selbst bedacht wurde, so wurde das Ausziehen über das Meer doch zu einem hervorragenden Bild für die geistige Eroberung der Welt. (Der andere große Bereich, in dem das Wasser – hier als Fluß und als Fließen überhaupt – immer wieder als Bild herangezogen wurde, ist die Frage nach der Zeit.) Ich denke, daß unser Denken heute nicht mehr versuchen sollte, seinen Gegenstand zu bewältigen, ihn auf seinen Begriff zu bringen und seinen Gegenstand zu de-finieren. Gelingt es ihm, die sicheren Grenzen, die eindeutigen und bleibenden Bestimmungen und Fixierungen der Gegen13 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ständlichkeit hinter sich zu lassen, so kann es wagen, sich denkend auf das Wasser einzulassen, – auf seine Fruchtbarkeit, sein Belebendes und Reinigendes wie auf seine Gewalt und Zerstörungskraft, auf seine Bewegung und Bewegtheit, die fließende Veränderung, den Wechsel von Kommen und Gehen, die sich stets wandelnde Wechselwirkung und Kommunikation mit jeweils Anderem. Weil das Wasser für das abendländische Denken jedoch ein so fremdes Thema ist, will ich auf einigen Seiten vorab – man könnte das auch überschlagen – einiges zu meinem eigenen Verständnis der Philosophie sagen und mit einigen Beispielen andeuten, welche Fragen und Gedanken einem Philosophieren über das Wasser dementsprechend kommen könnten. * Bilder, Klänge, Gerüche. Riechen, hören, sehen. Auch tasten und schmecken. Und dann andererseits: denken, vorstellen, erinnern … Die Philosophie hat sich seit alters auf der zweiten Seite dieser Gegenüberstellung gesehen. Und doch, – malen wir uns nicht auch etwas aus, wenn wir es denken, spüren wir nicht einer Sache nach, wenn wir sie uns vorzustellen suchen, horchen wir nicht in uns hinein, wenn wir uns erinnern wollen? Ich sehe keinen Grund, weiterhin an der überkommenen schroffen Scheidung zwischen Sinnen und Sinn, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Verstandestätigkeit festzuhalten. Wenn sich die Philosophie nicht mehr auf allgemeine, unwandelbare Prinzipien und Grundvoraussetzungen richtet – weil diese, ineins mit ihrer angestammten Heimat, dem Bereich der Metaphysik, fragwürdig geworden sind –, dann ist auch nicht mehr einsichtig, weshalb ihr Medium allein die abstrakte, d. h. unsinnliche Begrifflichkeit sein sollte. 14 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

In Kants kleinem Abriß einer Geschichte der Philosophie lesen wir: »Unter allen Völkern haben also die Griechen erst angefangen zu philosophiren. Denn sie haben zuerst versucht, nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse zu cultiviren, sondern in abstracto; statt daß die andern Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich zu machen suchten. So giebt es noch heutiges Tages Völker, wie die Chinesen und einige Indianer, die zwar von den Dingen, welche bloß aus der Vernunft hergenommen sind, als von Gott, der Unsterblichkeit der Seele u. dgl. m. handeln, aber doch die Natur dieser Gegenstände nicht nach Begriffen und Regeln in abstracto zu erforschen suchen.« (Immanuel Kant’s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, Einleitung IV. Kurzer Abriß einer Geschichte der Philosophie, Kants Werke, Bd. IX, S. 27) Zwar können wir Kant ohne weiteres darin zustimmen, daß andere Völker, wie »die Chinesen und einige Indianer«, sich das zu Denkende »durch Bilder verständlich zu machen suchten«. Aber für ihn bedeutet diese Feststellung eine selbstverständliche Geringerbewertung ihres Verstehens, weil es »nicht nach Begriffen und Regeln in abstracto« verfährt. Und hier widerspreche ich entschieden. Die Begrifflichkeit des Denkens muß keineswegs das vornehmliche Maß für seine Beurteilung sein; der begriffliche Denkansatz muß nicht etwa deswegen für alle Zeit verbindlich bleiben, weil das abstrahierende Denken Erstaunliches geleistet und z. B. Wissenschaft und Technik auf ihren Weg und zu höchster Entwicklung gebracht hat. Wir sollten lernen, zumindest auch auf eine gegenüber der Metaphysik andere Art zu denken, – z. B. eben »durch Bilder«. Entgegen seiner Intention können wir Kants Äußerung entnehmen, daß wir dabei nicht ganz auf uns allein gestellt sind, sondern uns auf die Denkund Sprechweise anderer Kulturen und Zeiten besinnen und ihre Denkerfahrungen in unseren Weg einbeziehen können. 15 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Ebenso können wir uns lernend auf den sprachlichen Umgang mit Bildern einlassen, den wir in der Kunst, insbesondere in der Dichtung antreffen. Nach dem gängigen Verständnis unterscheidet sich die philosophische von der dichterischen Aussage dadurch, daß sich jene in Begriffen, diese in Bildern äußert. Darum sieht es so aus, als würde ein anderes, nicht mehr primär rational-begriffliches, sondern bildhaftes Denken die Philosophie verlassen und sich auf die Seite der Dichtung schlagen. Doch hält dieser Anschein nicht an einer bloß überkommenen Differenzierung fest, ohne sie zu begründen? Die bisherige, scheinbar selbstverständliche Unterscheidung zwischen begrifflichem Philosophieren und in Bildern sprechendem Dichten könnte inzwischen zweifelhaft geworden sein. Es wäre allererst zu fragen, ob die philosophierenden Begriffe, wenn sie – auf für das bisherige Denken unerhörte Weise – Jeweiliges und Sinnliches wiedergeben wollen, nicht zu so etwas wie bildhaften Begriffen werden könnten – und müßten. Ob bildhafte Begriffe nicht zumindest eine Weise sein könnten, in der das Philosophieren sich heute auf seine endlichen, auch auf seine sinnlich gegebenen Gegenstände einlassen kann, wenn es als endliches in einer endlichen Welt bestehen will. Daß das Denken dabei in eine ungewohnte Nähe zum Dichten gerät, brauchte kein Einwand zu sein, es könnte vielmehr von jenem lernen, z. B. indem es in eigener Weise auf dessen Bilder achtet und diese zuweilen, auslegend und auf seine Art, weitermalt. Die Entwicklung der abendländischen Philosophie nach Kant ist teilweise bereits Wege gegangen, die de facto nicht mehr eindeutig der griechischen Entscheidung folgten und sich nicht mehr auf die Begriffe, auf das Denken »in abstracto« verlassen haben. An erster Stelle ist da Nietzsche zu nennen, etwa mit seinem Also sprach Zarathustra. Im zwanzigsten Jahrhundert gibt es vielfache, ausdrückliche und unausdrückliche Rekurse auf ein anderes Denken und Sprechen, das 16 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

oftmals in einem engeren oder weiteren Sinne ein bildhaftes Denken genannt werden kann. Nur beispielhaft erinnere ich an Benjamin und Bloch, Barthes und Serres, Heidegger, Flusser und Sloterdijk. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die traditionelle Philosophie im Medium der Begriffe bewegte, scheint brüchig geworden zu sein. Es geht nicht mehr um die Allgemeinheit einer reinen Begrifflichkeit, um einen Bereich, der als solcher irgendwo »jenseits«, nämlich »über« oder »hinter« den mannigfaltigen und vergänglichen Fakten und Geschehnissen des Lebens und der alltäglichen Welt gelegen wäre. Wenn die Philosophie danach fragt, was und wie das, was ist, ist, so darf sie dabei das endliche, übergängliche, zufällige Seiende nicht mehr auslassen. Eine solche, selber endliche Besinnung kann nicht mehr durch eine reine und abstrakte Begrifflichkeit, deren Auszeichnung es ist, das Spezifische und Vielfältige unter allgemeine Merkmalseinheiten zu subsumieren, geleistet werden. Wollen wir auch das jeweils Besondere, zumal das Sinnliche als solches, und d. h. als etwas, das nicht nur gedacht, sondern ebensosehr mit den Sinnen wahrgenommen, gefühlt und intuitiv erfaßt wird, philosophisch bedenken, ohne daß es dabei seiner Jeweiligkeit und Sinnlichkeit beraubt würde, so muß es in der Tat – wenn wir an der Bezeichnung »Begriff« festhalten wollen – auch so etwas wie augenblickshafte und fließende Begriffe geben, sinnliche Begriffe, fühlende Begriffe, Begriffe, die Farben enthalten und hervorrufen und die Bilder malen. Solche gedachten Bilder sagen und erzählen die bunte Mannigfaltigkeit der Dinge und der Geschehnisse dieser Welt. Zu sagen, was und wie das, was ist, ist – und wie es wird und vergeht, sich verändert, sich auf Anderes bezieht, mit diesem zusammenspielt und jenem widerstreitet –, zu sagen, was und wie es ist, das heißt nicht einfach, seine Vielfalt gleichsam photographisch wiederzugeben. Es heißt vielmehr, den grund17 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

sätzlichen Bahnen nachzuspüren, denen gemäß es in der Welt ist: wie es im Raum und in der Zeit, wie es mit Anderem zusammen und von ihm getrennt, wie es für sich und für uns ist usw. Wie etwas ist, seine Seinsweise, zeigt sich – das scheint fast tautologisch zu sein – darin, wie es sich tatsächlich mit ihm verhält, wie es uns begegnet, wie wir es antreffen. Wie es sich tatsächlich mit ihm verhält, was es »in Wahrheit« ist, das war für die abendländische Denktradition notwendig etwas Zeitloses, Unsinnliches, »Jenseitiges«. Heute aber kann, daß die Wahrheit irgendwie »mehr« oder anderes sei als das, was einfachhin sichtbar, sinnlich wahrnehmbar und greifbar ist, jedenfalls nicht mehr besagen, daß sie »höher«, vorrangiger, eigentlicher wäre: sie ist höchstens das Unsichtbare, Unsagbare, Unfaßliche im Sichtbaren, Sagbaren, Faßbaren selbst. Das Bild ist so etwas wie der Vorschein des Unsichtbaren und Unsagbaren in einer Sichtbarkeit, die die Sichtbarkeit eben jenes Unsichtbaren ist. Das Unsichtbare ist dann nichts für sich Bestehendes, keine an sich seiende Entität jenseits aller Wahrnehmbarkeit und Erfahrbarkeit: es ist nichts anders als die Weise, wie das, was wahrgenommen und erfahren wird, ist. Die schön gefügten Tempelruinen und die rot blühenden Blumen um die Säulenbasen scheinen vollkommen Sichtbares zu sein. Und doch eignet dem, was da ist, zugleich eine Vergänglichkeit – die Vergänglichkeit verwitternder Säulentrommeln oder verwehender Blütenblätter. Sichtbarkeit ist immer auch begrenzte Sichtbarkeit. Sie ist zwar Hiesigkeit, Dieshaftigkeit, Jetzigkeit, – und impliziert doch zugleich mehr als das. Sie bedeutet Anwesenheit, aber – unausdrücklich mit-erfahren – Anwesenheit gegen Abwesenheit, Dasein, aber gegen Noch-nicht- und Nicht-mehr-sein, Hiersein, aber gegen Dort- und Anderswosein; das »gegen« ist dabei jeweils zugleich ein »mit«. Das Sichtbarsein ist kaum eindeutig gegen sein Unsichtbarsein abzugrenzen. 18 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Dieses Unsichtbarsein kann ein ganz unmittelbares, sozusagen sinnliches sein. Das, wohin das Licht nicht dringt, das Innere des Sichtbaren ist unsichtbar. Diese Unsichtbarkeit ist, wenn man es sich einen Augenblick näher überlegt, ein merkwürdiger Sachverhalt. Ist das Innere eines Vulkansteins oder eines lebendigen Körpers, etwa meines Armes, sind die Tiefe des Meeres oder der Erde weniger etwas Wirkliches, Sinnliches, Konkretes als die jeweiligen Oberflächen? Inneres welcher Art auch immer können wir unterschiedlich wahrnehmen und bestimmen, und keineswegs nur, indem wir es »ans Tageslicht holen«. Wir fühlen die Schwere eines Steines, empfinden die Schmerzen in unserem Körper, hören und messen Geräusche und Bewegungen aus dem Erdinnern usw. Und vor allem wissen wir um die Plastizität des räumlich Begegnenden; mit seiner Oberfläche »sehen« und vernehmen wir zugleich das ganze Ding mit seinem Inneren und seiner uns abgekehrten, also nicht sichtbaren Seite. Der schwarze Stein als dieses ganze Ding, das er ist, ist sichtbar, nicht nur seine mir zugekehrte Oberfläche oder »Aufsicht«. Grauer oder rötlicher bis roter Granit – z. B. die Felsformationen in der Mohave-Wüste oder im Norden Sardiniens, in der Bretagne oder in Nova Scotia – ändert seine Farbe mit der Änderung des Einfalls des Lichts. Insbesondere am Abend leuchtet der Stein in warmen bis glühenden Tönen auf, – und strahlt das Licht später noch wider, wenn die Sonne schon untergegangen ist. Die runden Granitblöcke bekommen dann vorübergehend sogar ein reines Weiß, das erst allmählich in ein fahles helles Grau übergeht, um später im Licht des Mondes wieder wie von innen her aufzuleuchten. Der an sich schon rote Stein nimmt bei Sonnenuntergang eine warme rostrote Färbung an, er strahlt zurück und scheint dem hinter den Bergen oder im Meer versinkenden Licht zu antworten. Was hier zu sehen ist, ist nicht, daß das Licht den Steinen ihre Sichtbarkeit verleiht – obgleich dies natürlich physikalisch19 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

optisch der Fall bleibt –, sondern daß die Felsen selbst sich im Licht neu und anders zeigen, daß sie ein eigenes Leben und eine eigene Ansicht gewinnen. Die ans Land anlaufenden Wellen und die Muscheln und Steine am Strand scheinen je für sich einzeln Sichtbares zu sein. Die vielen Einzelnen bestehen zum einen jeweilig getrennt voneinander, sie befinden sich je an ihrem Ort und zu ihrer Zeit, sind räumlich und zeitlich Begrenztes. Aber zugleich bieten sie eine gemeinsame Sichtbarkeit dar, konstellativ und situationsgebunden, zu der u. a. eine wesenhafte Veränderlichkeit und Vergänglichkeit gehört – der zurückfließenden Wellen, der sich zerreibenden, ihre Größe und Form verändernden Muscheln und Steine. Oftmals nehmen wir zunächst Zusammenhänge, Ensembles, Konstellationen wahr, bevor sich die Aufmerksamkeit und das Interesse auf Einzelnes, sich Abhebendes richten. Doch auch dann noch begegnet uns das Jeweilige in einer Bewandtnisganzheit, in die es mit Mannigfachem, mehr oder weniger ausdrücklich Vernommenem zusammengehört. Beachten wir dagegen, wie wir es philosophisch und vor allem wissenschaftlich seit langem gewohnt sind, die vielen einzelnen Steine oder die vielen einzelnen Muscheln lediglich nach ihrer jeweiligen Art und nach deren Differenz von anderen Arten, d. h. identifizieren wir sie, nach dem Vorschlag von Platon, auf Grund des gemeinsamen Aussehens als Exemplare dieser ihrer selben Art, dann lassen wir damit die Erfahrung dessen beiseite, was die je besonderen Einzelnen als solche sind, in welchen jeweiligen Bezügen sie zueinander stehen, was sie vielleicht versprechen oder verschweigen, wie sie begannen und wie sie enden; notwendig und unwiederbringlich verlieren wir ihre Besonderheit aus den Augen. *

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Stille und Offenheit, Tiefe, Weite und Ferne des Meeres sind sichtbar und unsichtbar zugleich. Sie sind keine Allgemeinheiten, die lediglich dem erkennenden Begriff zugänglich wären. Sie haben sinnliche Qualität, und dies nicht allein darum, weil sie sichtbare Bestimmungen des Meeres sind. Könnte man nicht fast umgekehrt sagen, daß sich von selbst der Hinweis auf das Meer nahelegt, wenn man ermessen will, was bzw. wie die Tiefe und die Weite selbst sind? »Tiefe an ihr selbst«, »Weite als solche« sind kaum besser zu erfassen, als indem man sich zum Beispiel an die Erfahrung des Meeres erinnert. Was vermöchte diesem Beispiel oder Bild gegenüber der die unterschiedlichen tiefen Dinge in ein Eines, in eine Idee zusammenfassende Begriff? Es läßt sich keine begriffliche Summe etwa aus allen fernen Gegenständen oder aus allen Ferne bezeichnenden Distanzen ziehen, die sagen könnte, wie so etwas wesenhaft geschieht: Ferne. Doch wenn wir am Rande des Meeres stehen und ein Schiff verschwindet allmählich in der Ferne hinter dem Horizont – haben wir dann nicht eine Erfahrung von Ferne als solcher? Und das Wasser selbst? In gewissem Sinne befindet es sich an der Grenze zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Das liegt teilweise an seiner Durchsichtigkeit und seiner Farblosigkeit. Zwar möchte man zunächst, wenn man auf eine bestimmte Wasserfläche, z. B. auf das Meer oder auf einen Waldsee blickt, der Behauptung einer Farblosigkeit des Wassers entschieden widersprechen. Das Meer ist blau oder braun, grau oder türkis, es ist glitzernd-gleißend silbern oder öligglatt schwarz und dunkel, nie aber ist es ohne Farbe oder Farbigkeit, so schwierig diese im Einzelfall auch sprachlich wiederzugeben sein mag. Wir wissen zwar – sowohl aus der Erfahrung wie durch die Erkenntnisse der Wissenschaft –, daß die Farben des Meeres oder der Seen nicht ihnen selbst zugehören, daß sie je nach dem durch Spiegelungen, durch die Bodenbeschaffenheit oder darin befindliche Lebe21 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

wesen u. ä. entstehen. Gleichwohl nehmen wir die gesehenen Farben z. B. des Meeres zu einer bestimmten Tages- oder Jahreszeit als seine Farben wahr. Der Crater Lake in Oregon, einer der tiefsten Seen der Erde, ist berühmt wegen seiner unglaublichen Bläue; noch vertieft erscheint das Blau, wenn, wie meistens, die ihn umgebenden Kraterhänge, denen er mit seinen Spiegelungen antwortet, leuchtend verschneit sind. Wie immer diese Färbung »erklärt« wird, sie bleibt für unsere Wahrnehmung eine Eigenart dieses und gerade dieses Wassers. Andererseits weist die mögliche Vielfalt und der Wechsel der Färbung des Wassers auf eine eigene Unbestimmtheit hin. Wir wissen die Farblosigkeit, die Unsichtbarkeit, die Unumgrenztheit des Wassers immer schon mit, auch wenn wir es als violett, grau, schwarz, smaragden ausgebreitet vor uns sehen. Trotz und bei aller sinnlichen Präsenz entzieht es sich dem Erfassen, seine Sichtbarkeit zergeht zugleich vor unseren Augen. Regen und Nebel verbergen die Landschaft und sind doch nichts Eigenes, was sich zwischen diese und unseren Blick stellen würde. Ein Wassertropfen hat seine eigene Konsistenz und ist doch nicht greifbar oder fixierbar. Durch seine Unbegrenztheit oder Ungestaltetheit und seine Unbestimmtheit unterläuft das Wasser, wie gesagt, die genannte abendländische Grundbestimmung des Seienden, daß es nämlich maßgeblich eine zugrundeliegende, bleibende Substanz habe, an der sich Eigenschaften, Zustände usw. befinden, die sie näher bestimmen. Obwohl es doch sinnlich da ist, – ob als Naturgewalt, in Ozeanen und Strömen, als Regen, Schnee und Hagel, oder einfach als das naturgegebene Trinkbare schlechthin, das »köstliche Naß« – ist das Wasser eigentlich kein Dieses, läßt es sich nicht fassen. Insofern das Wasser gewöhnlich flüssig, also nicht fest, und das heißt auch, ohne feste Grenzen ist, sich verströmend, ausufernd, eben fließend, widerspricht es der Konzeption der Substanz. 22 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Es ist nicht für sich bestehend, nicht begrenzt; die den Substanzen zukommenden und sie näher bestimmenden Kategorien – Qualität und Quantität, Verhältnishaftigkeit, ImRaum- und In-der-Zeit-sein u. a. – lassen sich zwar auf das Wasser anwenden, aber sie scheinen hier eine andere Bedeutung und Evidenz zu haben als sonst: Das Wasser ist, weil es kein Umgrenztes und in diesem Sinne Bestimmtes ist, nicht eigentlich etwas Zugrunde-liegendes für Bestimmungen. So sind auch seine Bewegung und Beweglichkeit von anderer Art als die festumrissener Körper. Gerade weil das Wasser selbst unbegrenzt ist, scheinen ihm andererseits mannigfache Bezüge zu Festem und Begrenzendem wesentlich zu sein. Insbesondere zu Dingen, die es halten oder einfassen, ihm und seiner Bewegung also eine äußere – reale oder begriffliche – Grenze bieten, in denen, auf denen oder an denen es ist, – Gefäße, Brücken, Brunnen, Gräben, Ufer. Auch wenn wir uns der unermeßlichen Weite des Meeres ausgesetzt sehen, so ist da doch immer auch etwas erdhaft Festes, von ihm umgeben, unter ihm, – Inseln, Kontinente, Meeresboden; und die mannigfachen Dinge in und auf ihm, die Muscheln, die Fische, der Sand, oder auch die Boote und Schiffe.

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Meer

Das Meer, die See, der Ozean, – das große Wasser. Dünen, Strandgras, Sandbänke, Kiefernwälder. Muscheln und Seesterne. Felsen, Brandung, in Schleifen mündende Flüsse, voller mitgeschwemmter Baumskelette. Möwen, silbrige Fischschwärme, Delphine, kleine Schildkröten auf ihrem ersten Weg aus den Dünen in ihr Element. Containerhäfen, Fischerdörfer. Boote, Tankschiffe, Schaluppen, Schleppkähne, Kaiks. Glatte Fläche, Sonnen-, Mond- und Wolkenspiegelungen, bewegtes Türkisgrün, weiße zurückgewehte Gischt, wilde, sich überschlagende Wellen, schwarzes Grau, gleißendes Weiß. In immer anderen Richtungen und Stimmungen versucht man, die unendlichen Weisen, wie Meer ist, nachzumalen. Und doch gibt es wohl kaum einen Gegenstand, der sich so sehr einer angemessenen – sprachlichen wie denkenden – Erfassung entzieht wie das Meer. Die Erfahrung der Unermeßlichkeit und Größe, die es uns aufdrängt, läßt eher verstummen. Ich verzichte hier also auf den Versuch, es direkt zur Sprache zu bringen, und wähle stattdessen gewisse Perspektiven, wie es sich zeigt: ich konzentriere mich auf die Stille und Tiefe, die Weite und Ferne des Meeres. Diese Bestimmungen können als Bilder des Meeres gelesen werden, wie uns umgekehrt das Meer manches über Stille, Tiefe, Weite und Ferne sagt. Unter anderem werde ich mich von einigen Äußerungen von Nietzsche leiten lassen. Nietzsche, dessen Zarathustra über die Erde wandert, um die Erfahrung des höchsten Glücks und des höchsten Menschen zu suchen, hat in die Erzählung dieser Wanderun25 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

gen viele Wasser-Bilder eingefügt. Meist ist da mit dem Wasser das Bewegte und Werdende, das Unstabile, Fließende gemeint. Angesichts der alten Entgegensetzung der Denkansätze von Parmenides und von Heraklit, die der eine das Sein, der andere das Werden und die Bewegung als vorrangig begriffen, steht Nietzsche auf der Seite Heraklits und damit des elementareren, irdischeren Versuchs, der auf das Wasser und auf das Feuer rekurriert. Jedoch steht für Zarathustra das Wasser nicht nur für das ewig Werdende, sondern, zumal als Meer, auch für das Unbegrenzte als solches, – für Stille, Tiefe, Ferne, Weite. * »Frei steht großen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht.« (Zarathustra, 59) »Gleiche wieder dem Baume, den du liebst, dem breitästigen: still und aufhorchend hängt er über dem Meere.« (61) Zuweilen ist das Meer still und sanft und glatt. Seine Oberfläche ist fast unbewegt. Mit leichtem Kräuseln umspült es die Felsen. Es ist klar, blauklar, in seiner Tiefe huschen die Fische hin und her, verstecken sich die Kraken, schwingt das Seegras. Die Sonne glitzert über die Wasserfläche; eine Milde, ein Lächeln liegt über allem. Stille. An die Felsen, über dem Meer, klammert sich ein Baum, vom Wind gezeichnet und doch breitästig sich ihm entgegenhaltend: »still und aufhorchend hängt er über dem Meere.« Er kann still sein, weil das Meer selbst still ist. Er kann aufhorchen, weil das Sprechen, auf das er hört, ein Flüstern und Zuflüstern ist. Wenn es unter und um ihn brüllt und tost, muß er sich den Gewalten entgegenstemmen; dann wird er eins mit seinem Kampf, – viel zu sehr, als daß er noch lauschen und still sein könnte. Ist das Meer aber ruhig und glatt, 26 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

so vermag der Felsenort, an den er sich mit seinen Wurzeln festhält, zu den Sitzen zu gehören, »um die der Geruch stiller Meere weht«. Nietzsche spricht vom Meer zuweilen im Plural: stille Meere, ferne Meere, tiefe Meere, auch einmal vergessene Meere. Damit will er keine Aussage über verschiedene, vielleicht alle Meere machen. Vielmehr bringt diese Mehrzahl eine gewisse Unbestimmtheit ins Spiel; sie verstärkt den Eindruck der Weite und grenzenlosen Ausdehnung. »Seht, welche Fülle ist um uns! Und aus dem Überflusse heraus ist es schön hinaus zu blicken auf ferne Meere.« (105) Stille Meere –. Das evoziert Meer überhaupt, vielleicht sogar Stille überhaupt. Dieses »überhaupt« und der unbestimmte Plural widersprechen nicht der Einmaligkeit und Augenblickshaftigkeit des breitästigen Baumes, der still und aufhorchend über dem Meere hängt. Wie ein weiter Raum umfangen die stillen Meere und der Geruch stiller Meere das Augenblickliche der Konstellation von Baum und Meer, diese bekommt einen beispielhaften oder besser: einen sammelnden und einräumenden Charakter. Die stillen und fernen Meere gewinnen einen gegenwärtigen Raum in dieser Szene des Baumes, der still ist und aufhorcht. Seiner Weise zu sein will Zarathustra gleichen, – er macht sie zu einem Gleichnis für die »großen Seelen«, zu denen ein stilles Sicheinlassen auf die Stille der stillen Meere gehört. Eine Stille, in der etwas geschehen oder nicht geschehen kann, aus der heraus sich Laute und Geräusche, aber auch Sichtbares, Bewegtes, Dinge ergeben oder in der sie sich auch zurückhalten können. Eine merkwürdig gestillt-bewegte Gestimmtheit wird durch diese Wendung »stille Meere« ausgelöst. Eichendorffs Verse aus dem Gedicht Mondnacht: »Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus. / Flog durch die stillen Lande / Als flöge sie nach Haus« machen mit dem, der sich ihnen überläßt, etwas Ähnliches. Diese Stille zieht das Auf27 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

merken der Seele auf sich, zieht es an und in sich hinein, so daß vernehmlich wird, was im Stillen verborgen war. Zugleich hat sie einen eigenen und eigenartigen Charakter der Weite und des Sich-öffnens. Oftmals – wenn auch keineswegs immer, die Stille kann auch einfach nur als sie selbst da sein – verweist ihre Erfahrung zugleich auf die Gegenerfahrung des Bewegten, Verlautenden, das dann den Charakter des Ruhelosen und Geräuschvollen annehmen kann. Die Stille kann sowohl durch Lautes oder auch nur durch Laute gebrochen werden, wie sie aus und nach dem Lärm und der Unruhe entstehen, vielleicht den Charakter eines neu gefundenen oder sogar erkämpften Friedens haben kann. Ein wie auch immer in der Stille Auftauchendes kann die Stille brechen. Unmittelbar geschieht dies dann, wenn der Laut oder die Bewegung die Stille zerstört. Z. B. auch, wenn es die Gelassenheit der Seele stört (die im Grimmschen Wörterbuch als eine der Grundbedeutungen von Stille angeführt wird). Wir können dann auch sagen, daß dieses bestimmte die Stille Störende, etwa auf Grund seiner schrillen und lauten Farben, nicht »ins Bild paßt« und eben darum die stille Sammlung stört. Aber das in und aus der Stille Auftauchende kann sie auch erst in besonderer Weise hörbar und erfahrbar machen. Die Stille wird dann durch den Laut – oder etwas Sichtbares, eine Bewegung – nicht zerstört, sondern gerade vertieft, sie wird in gewissem Sinne selbst hörbar und sichtbar gemacht. Im Laut verlautet dann die Stille selbst. Ein Haiku von Shiki lautet: Ein Vogel sang noch. Die Berge wurden stiller beim Sommerfarnkraut.

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An einem Abend auf dem Atlantik nahe Gibraltar war das Wasser ungewöhnlich still. Es scheint in solchen Augenblikken eine andere, fast ölige Konsistenz zu bekommen, seine träge, glatte Schwärze, matt und glänzend zugleich, hat etwas seltsam Erregendes an sich, das einem den Atem nimmt. Meer gewordene Stille, Ruhe, die gleichwohl ihre eigene, verborgene Bewegtheit hat. Eine in ihrer gelassenen Ruhe rätselhafte Spannung. Aus der dann, als wären sie aus der schwarzen Stille selbst entstanden, Delphine auftauchten. Zunächst sah man nur hier und da längliche schwarze Dreiecke die See kräuseln, Spitzen der Rückenflossen, dann schnellten sie sich im Bogen über die Oberfläche, einer dem anderen folgend, miteinander spielend. Unmittelbar vor dem Schiff kreuzte ein Schwarm unsere Bahn, dann sah man eine Weile nichts mehr von ihnen, dann wieder da und dort, näher und ferner. Als zwei von ihnen sehr nah ans Schiff kamen, war es fast erstaunlich, daß sie wie Fische aussahen: ihr spielendes Erscheinen aus der Stille heraus schien jenseits aller möglichen Klassifizierungen. Das Brechen der Stille muß nicht bedeuten, daß sie gestört oder gar zerstört wird. Sie kann vielmehr gerade akzentuiert und vertieft werden. Auch ein Sichtbares, sogar ein Greifbares, auch Delphine können die Stille brechen – und damit vertiefen. Stille ist nicht einfach nichts, nicht einfach nur das Ausbleiben von Hörbarem und eventuell Sichtbarem oder auch Bewegtem. Gewöhnlich macht sie erfahrbar, daß da etwas ist, das sich nicht hören läßt, das an sich hält, unhörbar und unsichtbar bleibt. Gerade dies, daß da nichts – oder etwas nicht – gehört wird, ist es dann, was wir in der Stille hören. Besonders deutlich wird das oftmals beim Stillwerden oder -bleiben der Sprache, bei dem Schweigen, das sich zwischen Menschen ergibt. Die Stille eines Schweigens kann bekanntlich sehr beredt sein, nicht nur durch die Erwartung, nicht nur in der Vorwegnahme dessen, was aus ihr tatsächlich vernehmbar 35 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

werden mag. (Wahrscheinlich verhört man sich auch ebenso leicht, wenn der Gegenübersitzende schweigt, wie wenn man seine ausgesprochenen Worte aufnimmt und sich in ihnen oder über sie täuscht.) Das Schweigen selbst kann etwas sagen. Allerdings nur für den, der darauf zu hören vermag. Es gibt eine schöne Stelle im Zarathustra: »Als die Tiere diese Worte gesprochen hatten, schwiegen sie und warteten, daß Zarathustra Etwas zu ihnen sagen werde: aber Zarathustra hörte nicht, daß sie schwiegen.« (273) Das Schweigen der Tiere ist nicht nur darum etwas, worauf Zarathustra hören sollte, weil sie eine Erwiderung auf das erwarten, was sie ihm mahnend gesagt hatten. Sondern auch, weil sie es als einen Raum der gemeinsamen Stille zwischen ihm und ihnen sich ausbreiten lassen, einen Raum, aus dem Neues sich ergeben könnte. Der Bezug der Stille zum Hörbaren, die Weise, wie die Stille ein Hörbares in sich birgt und aus sich zu entlassen vermag, kann den Charakter einer »erwartungsvollen Stille« – auch einer »ängstlichen Stille« – haben. Das besagt nicht nur, daß das Sich-einlassen auf die Stille ein Horchen auf die Stille sein kann, das der Stille in der Weise entspricht, daß es sich auf ein Lautwerden in ihr sammelt. Auch die Stille selbst kann ein solches Erwarten in sich tragen, sie selbst kann sehnsuchtsvoll sein wie die »stillen sehnsüchtigen Meere«. Daß die Stille gebrochen wird, heißt dann, daß sie selbst sich in einen Laut sammelt. Ähnlich wie ein einsames Licht die Dunkelheit einer Nacht noch dunkler, die Dunkelheit selbst erfahrbarer machen kann. Das Unsichtbare selbst wird dann in einem Sichtbaren als Unsichtbares sichtbar, das Unhörbare, die Stille, macht sich selbst in einem Verlauten hörbar, vielleicht weil sie ein eigenes Verlangen nach dem Verlauten in sich trägt? Zunächst denken wir an Lautlosigkeit, wenn wir das Wort »Stille« hören; doch reicht die Erfahrung von Stille 36 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

weiter. Insbesondere die Meeresstille – aber auch etwa die Windstille, die mit ihr einhergeht, – ist nicht primär auf das Fehlen von Lauten bezogen, sondern auf die Unbewegtheit und ihre besondere Formlosigkeit, die Glätte. Die »stillen Wasser«, von denen der Volksmund sagt, daß sie tief seien, sind nicht zu durchschauen. Bei der Stille ist jeweils eine Bewegungslosigkeit im Spiel, vielleicht ein Ansichhalten von Bewegung. Im Grimmschen Wörterbuch ist die zunächst angeführte Bedeutung von »Stille« die »Bewegungslosigkeit, Unbewegtheit, Ruhe«. Und von der Stille als Bewegungslosigkeit heißt es, daß sie »fast nur von Wasser und Wind« ausgesagt werde. Die stillen Meere sind solche, die in sich selbst ruhen, im unaufhaltsamen Wellengang an die Felsufer schlagen oder auf dem Sandstrand auflaufen, nicht aufgestört durch Stürme, ihre Oberfläche kaum geteilt durch Schiffe, die sie durchqueren. Rauschen auch stille Meere? Allerdings wäre dann nichts Aufgeregtes, Lautes in diesem Rauschen, es wäre eher ein atmosphärisches und ursprüngliches Sich-bewegen als ein spezifisch hervorgerufenes Geräusch. »Meere – Eros der Ferne – / rauschen, es rauscht die Nacht.« (Benn, Liebe) Auch das Rauschen der Nacht zerstört nicht, sondern verstärkt noch deren Stille. Die Sprache der stillen Meere, deren Geruch um die Sitze des Einsamen und der Zweisamen weht, ist kaum überhörbar. Es sind die tiefen und die fernen Meere, die da sprechen. Die Tiefe, das Unauslotbare, und die Ferne, das Unermeßliche und Uneinholbare, gehören wesenhaft zum Meer, ob es nun glatt in heiterer Ruhe daliegt, oder ob es »zornig widerspricht« (286) und stürmt. Aber wenn es still ist, gewinnen die Tiefe und die Weite oder Ferne ein eigenes Gewicht. Die Geheimnishaftigkeit der Tiefe und die Geheimnishaftigkeit der Ferne sprechen in dieser Stille ihre eigene verschwiegene Sprache. Die Meeresstille scheint Geheimnisse zu bergen, 37 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

weil sie auf rätselhafte Art an sich hält, ohne etwas von dem preiszugeben, was sie in sich birgt, in ihrer Tiefe und in ihren Fernen. Das Geheimnis läßt, indem es etwas verbirgt, immer auch etwas sehen, und umgekehrt. Im geheimnisvollen Raum der stillen Meere spielen Unsichtbares und Sichtbares ineinander. Hölderlins Der Archipelagus endet mit den Zeilen: … und wenn die reißende Zeit mir Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Not und das Irrsal Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert, Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken. * »Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere.« (155) Die tiefen Meere –. Als ich über den Atlantik fuhr, wurde mir deutlich, wie unvorstellbar es im Grunde ist, daß es unter der glatten oder bewegten schwarzen Oberfläche, dem »Meeresspiegel«, vier-, fünftausend Meter in die Tiefe geht. Daß da unten, in weiter Ferne, eine Region mit »Bergen« und »Tälern«, mit buntem, vielfältigem Leben existiert. Das Verstandeswissen ändert kaum etwas daran, daß man, wenn man an das Meer denkt, vor allem eine horizontale Fläche vor sich sieht, nicht die vertikale Erstreckung in die Tiefe. Der Kapitän sagte, daß ihn die Meerestiefe nicht interessiere, höchstens in der Nähe der Küste, an seichten Stellen, wo der Frachter auflaufen könnte. Vielleicht scheut man sich ja, die Tiefe gewissermaßen beim Wort zu nehmen, sie als Tiefe anzuerkennen. Vielleicht sagt Zarathustra darum, gerade als er von seiner Liebe zu den tiefen Meeren spricht: »Und dies

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heißt mir Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Höhe!« (155) Natürlich »wissen« wir von den Tiefen des Meeres, es wird von ihnen, ihren Schrecken und ihren eigenen Welten erzählt und berichtet. »Der Mensch begehre nimmer zu schaun, was sie gnädig bedecken mit Nacht und Graun«, mahnt Schillers Taucher, wobei in dessen Grauen allerdings noch ganz andere Ängste mit eingegangen sein mögen als die des Meeres. Im Märchen haust der Wilde Wassermann mit seinen Töchtern wie in tiefen Seen so auch am Grunde des Meeres, und dahin müssen die Seejungfrauen zurück, die für eine selig-unselige Zeitspanne einen Sterblichen lieben und mit ihm auf die Erde und ans Tageslicht kommen. Was ist das – die Tiefe? In einer »kühlen, nachdenklichen Nacht« (391) sprach – oder sang – Zarathustra das Nachtwandler-Lied, in dem immer wieder das Wort »tief« anklingt. Dieser Rundgesang war so etwas wie ein verstärkendes Echo auf eine »tiefe klare Frage«, die zuvor »rund und reinlich« aus dem Munde des häßlichsten Menschen gesprungen war: »Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: war DAS – das Leben? Um Zarathustra’s willen, wohlan! Noch Ein Mal!« (392) Das ist nicht das, was wir gemeinhin unter einer Frage verstehen, die doch gewöhnlich etwas wissen will. Diese tiefe klare Frage will nichts wissen; sie ist vielmehr eine Aufforderung zur Übereinstimmung, zum Miteinstimmen in die Bejahung des Lebens um des Lebens willen, sowie zum Lobpreis Zarathustras als des Lehrers des Lebens. Das trunkne Lied, das darauf erklingt, teils angestimmt von dem Klang einer Glocke »aus der Tiefe«, teils von Zarathustra selbst, erhebt sich wie eine überströmende Erwiderung. Als Zarathustra jene Frage hört, treibt es seinen Geist weit fort, weg von den Gefährten – und vielleicht auch von sich selbst –, zurückweichend und vorausfliehend, ins Zuvor und ins Danach: »wie geschrieben steht, 39 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

›zwischen zwei Meeren, / – zwischen Vergangenem und Zukünftigem als schwere Wolke wandelnd.‹« Und er singt, genauer: es singt aus ihm das Lied der Tiefe, »der tiefen, tiefen Mitternacht«: »Singt mir nun selber das Lied, des Name ist ›Noch ein Mal‹, des Sinn ist ›in alle Ewigkeit!‹, singt, ihr höheren Menschen, Zarathustra’s Rundgesang! O Mensch! Gib acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? ›Ich schlief, ich schlief –, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – Die Welt ist tief, Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh –, Lust – tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit –, – will tiefe, tiefe Ewigkeit!‹« (399 f.) Zarathustras Lied der tiefen Mitternacht besingt rauschhaft die tiefe Welt, das tiefe Unglück und das tiefe Weh, das tiefe Glück und die tiefe Lust, schließlich, all jenes in ihren Ring mit einholend, die tiefe, tiefe Ewigkeit. Diese vielfache Tiefe, die keine Beschreibung auszuloten und auszudeuten vermag, ist so etwas wie die übersteigernde Aufhebung jeder Erstrekkung, insbesondere der Linearität der sich erstreckenden Zeit vom »es war« zum »es wird sein.« »Wehe mir! Wo ist die Zeit hin? Sank ich nicht in tiefe Brunnen?« (394) Die tiefen Brunnen sind der vertikale Widerspruch zur horizontalen Linie des Nacheinander der Zeiten. Ebenso wird die räumliche Ausmessung des Nebeneinander in Frage gestellt bzw. hinfällig: »Flogt ihr schon hoch genug? Ihr tanztet: aber ein Bein ist doch kein Flügel.« (395) Die tiefe Mitternacht ist die 40 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Raumtiefe der Zeit, der Ort, an dem alle zeitlichen wie räumlichen Richtungen zusammenfallen, Widerspruch zum Tag und doch seine Gebärerin wie sein Tod. Diese Tiefe der Nacht ist die Tiefe der Welt selbst, die tiefer ist, »als der Tag gedacht«; sie führt, indem sie sie ewig übertrifft, alle Taghelle und alle alltägliche Ermeßbarkeit ad absurdum. Die Welt selbst sammelt sich in die Nacht. In dieser nehmen die »Unerkanntesten, Stärksten, die Mitternachts-Seelen« ihren Aufenthalt, jene »Reinsten«, »die tiefer und heller sind als jeder Tag« (396). Die zunächst ungewöhnliche Zusammenstellung von Tiefe und Helle gibt dem Ineinander und Zugleich von Tag und Nacht, von Raum und Zeit, Vorher und Nachher, Glück und Unglück, Weh und Lust einen einfachen Ausdruck. Wie Vergangenheit und Zukunft so werden Lust und Leid in eins geschlungen. Der Tag und die Welt fügen sich ein in eine andere, tiefere Dimension mit einem tieferen, wahreren Unglück und einem tieferen, wahreren Glück. Allein so reichen sie in das Herz, den inneren Kreis, den Ring der Dinge, in die trunkene Mitternacht und in die Ewigkeit wollende Lust, die die Konzentration aller scheinbar auseinanderreißenden Gegensätze ist und von der Zarathustra sagt: »des Ringes Wille ringt in ihr.« (399) Die Tiefe kommt häufig vor in diesem Buch von Nietzsche. Meistens, wie wohl ohnehin auch in der Alltagssprache, in dem, was man eine »übertragene« Bedeutung nennt; auch im Nachtwandler-Lied ist es keinmal eine im engeren Sinne räumliche Tiefe, die da besungen wird. Doch wie so oft sonst: was heißt da »übertragen«, von woher und wohin sollte das Tiefsein denn übertragen, hinübergesetzt, übersetzt werden? Inwiefern sollte die eine Bedeutung von »tief« eigentlicher und ursprünglicher sein als die andere, »übertragene«? Es ist eine merkwürdige Sache mit der Tiefe und gar nicht leicht zu umschreiben, was genau damit gemeint ist. Im Lateinischen bezeichnet das selbe Wort das Hoch- und 41 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

das Tiefsein. Wie wir von einem tiefen See sprechen, so auch von tiefem Schmerz, tiefer Enttäuschung, tiefen Gedanken, tiefster Seele. Gemeint ist jeweils eine Dimension, die über das Extensionale hinaus auch das Intensionale bzw. die Intensität benennt. Insofern führt die Tiefe in das Innere hinein, in das Innere nämlich der Sache, von deren Tiefe die Rede ist, – das Wasser, das Leid, die Nacht, die Blicke. Tiefe Wasser und auch tiefe Wälder sind auf andere Weise tief als tiefe Blicke, aber jeweils ist eine unausmeßbare, dunkle Intensität zumindest mitgemeint. Diese Intensität, Qualität oder Dimensionalität ist eine analoge, ob wir von einem tiefen Tal, vom tiefen Wald, von den tiefen Blicken oder dem tiefen Schmerz sprechen. Häufig assoziiert man mit der Tiefe das Dunkle und umgekehrt. Wo etwas am tiefsten ist, da läßt sich kein Licht mehr ausmachen, da ist es nur noch dunkel, tiefdunkel, – sei es im tiefen Brunnen oder im tiefen Ozean, in der tiefen Nacht oder in den tiefen Fragen. Dieses Dunkel bedeutet Unsichtbarkeit nicht im Sinne von bloßer Abwesenheit oder Verdecktheit von Licht, sondern im Sinne einer Lichtlosigkeit, die manchmal fast ein Umgeschlagensein des Lichtes selbst in Finsternis zu sein scheint. Oder zuweilen auch umgekehrt? Hat nicht der Crater Lake sein blaues Leuchten aus sich, aus seiner Tiefe heraus? Sein »dunkles Licht« (Hölderlin) verdankt sich der klaren Tiefe und der tiefen Klarheit. Es spiegelt nicht nur die verschneiten Ränder des Kraters, sondern scheint sie aus sich, aus seinem dunklen Blau heraus zurückzuzeigen. Im tiefen Wald wie in den tiefen Blicken wie in der tiefen Mitternacht kann man sich verlieren. Jeweils übersteigt oder unterläuft die Tiefe das Maß und damit jede mögliche Richtschnur und jeden Halt. Und doch ist die Tiefe nicht leer, das tiefe Dunkel birgt seine eigenen Gestalten, läßt vielleicht sogar seine eigenen Lichter sehen. Wie das Geheimnis der 42 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Stille darin liegt, daß sie das Lautwerden in sich bewahrt, so gibt es auch ein Geheimnis der Tiefe – der tiefen Wasser wie der tiefen Träume –, eine geheimnisvolle, rätselhafte Tiefe, die etwas zu bergen scheint und verspricht, was sie gleichwohl nicht preisgibt. Darum ist Gottes Wort »tieffer denn sein abgrund« (Sirach 24, 39; zitiert nach Grimm Bd. 21, 482). Angeblich kann man des Tags die Sterne nur in einem sehr tiefen Brunnen erblicken. Und der tiefschwarze Samt hat sein eigenes Leuchten. »Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere.« (Zarathustra, 155) Indem die Sonne mit ihrer Liebe das Leben und »alle tiefen Meere« umfaßt, umspielt und beleuchtet sie nicht nur die umgrenzten Dinge und Oberflächen, sondern dringt ein und vor bis zu dem, wohin sie eigentlich nicht zu reichen scheint. »Dunkel ist das Leben, ist der Tod.« (Li-tai-pe/ Gustav Mahler, Das Lied von der Erde) Das tiefe, dunkle Wasser der tiefen Meere – und der tiefen Brunnen – entgrenzt die Erfahrung, öffnet sie für das, was über alles Bestimmte und Feste und fest Umrissene hinaus ist bzw. dieses immer schon unterläuft. * Besonders eng ist für Zarathustra mit dem Meer die Ferne verbunden, auch wenn sie dabei unausgesprochen bleiben kann. Häufig betrachtet er es dann aus der Perspektive des Seefahrers. »Dem Segel gleich, zitternd vor dem Ungestüm des Geistes, geht meine Weisheit über das Meer – meine wilde Weisheit!« (131) Es ist das unentdeckte Meer, das Meer, das ferne, fremde Länder verbirgt und dann endlich doch zeigt, das Meer voller Zukunft. Die Ferne ist hier unmittelbar mit der fernen Zukunft verbunden. Zwischen dem Jenseits des Meeres und dem Ausfahrenden ist unermeßliche Ungewißheit, die zugleich unermeßliche Verheißung ist, Ewigkeit, 43 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ewige Wiederkunft. Sich aufs Meer zu begeben und sich dem Wind und den Wellen anzuvertrauen, heißt, sich mit dem Leben dem Leben entgegenzustellen, zu wagen und zu suchen. Darum scheint das Meer dem in die Ferne Fahrenden stürmisch und zornig zu widersprechen, grausam zu sein und voller Gefahren. »Das Meer stürmt: Alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten Seemanns-Herzen! / Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinder-Land ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre große Sehnsucht! –« (263 f.) Wenn Zarathustra vom Meer spricht, steht er fast immer am Ufer oder befindet sich jedenfalls vor ihm, – auch wenn er ein Schiff besteigt und aus der Perspektive des Seefahrers spricht. Das Meer ist für ihn nicht so sehr das Element, die Wasserfläche als solche, von der das Schiff oder eine Insel in alle Richtungen hin umgeben wären; vielmehr hat es gewöhnlich den Charakter des Nach-vorne-Liegenden, zum Aufbruch und zum Entdecken Herausfordernden. »Dahin will ich …«, dorthinaus stürmt die Sehnsucht. Selbst da, wo ihm die Küste schwand und das Grenzenlose sich gleichsam aufdrängt, bleibt sein Frohlocken noch ein Brünstigsein nach …, ein Sehnen in die Zukunft: »Wenn jene suchende Lust in mir ist, die nach Unentdecktem die Segel treibt, wenn eine Seefahrer-Lust in meiner Lust ist: / Wenn je mein Frohlocken rief: ›die Küste schwand, – nun fiel mir die letzte Kette ab – / – das Grenzenlose braust um mich, weit hinaus glänzt mir Raum und Zeit, wohlan! wohlauf! altes Herz!‹ – / O wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft?« (286) Der Gedanke der ewigen Wiederkunft ist auf seltsame Weise verbunden mit dem Pathos der suchenden Lust des Entdeckenwollens, weil diese in die Ferne will und die Ferne immer wieder neu in unendliche Zukunft verschwindet. 44 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Das Meer erstreckt sich in die vor Zarathustra liegende Zeit bzw. ist diese Zeit selbst; es ist ihm nicht an ihm selbst bedeutsam, sondern als das, was zur Zeit und zum Raum der Kinder, also der Kommenden, der Nach-kommen geleiten wird und was es darum allererst zu befahren und zu erobern gilt. »Dem Segel gleich, zitternd vor dem Ungestüm des Geistes, geht meine Weisheit über das Meer – meine wilde Weisheit!« Das unentdeckte Meer verbirgt zunächst die fernen, fremden Länder und die glückseligen Inseln, um sie dann, bei guten Winden, irgendwann einmal sichtbar und von Zukunftsorten zu Ankunftsorten werden zu lassen. Die Wissens-Sehnsucht ist ein Aufschließenwollen der noch verborgenen Welt und der unsichtbaren Zukunft. Dieser Sinn eines – oftmals vergeblichen – Auslangens nach dem Verborgenen und Unsichtbaren spricht auch aus dem Bild der Fischzüge und des Netzeauswerfens. »Ach, ich warf wohl mein Netz in ihre Meere und wollte gute Fische fangen; aber immer zog ich eines alten Gottes Kopf herauf. / So gab dem Hungrigen das Meer einen Stein.« (161) Trotz und sogar wegen der Möglichkeit der Vergeblichkeit ist die Ferne in seltsamer Weise mit dem Glück assoziiert. Das Glück scheint etwas zu sein, das – fast wesenhaft – noch aussteht, das, noch verhüllt, in der offenen Zukunft wartet und so verheißener Gegenstand einer erst zu erfüllenden Sehnsucht und eines entweder ungeduldigen, hinausstürmenden oder auch eines geduldigen und aufmerksamen Suchens ist. Zwischen der Glückserfüllung und dem Sehnsüchtigen liegt das unendliche, weite, beinahe unbegrenzte Meer, das zumeist rauhe, gefahrvolle See ist, aber durchaus auch ganz anders erfahren werden kann: »und da das Meer: das wälzt sich zu mir heran, zottelig, schmeichlerisch, das getreue alte hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe. / Wohlauf!« (232) Doch die Glück versprechende, Fernweh weckende Ferne 45 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

der Meere oder jenseits des Meeres ist auch eine Fremde. Insofern ist sie nicht nur das noch Unentdeckte, sondern als solches auch ein Raum des wesensmäßig Anderen, Andersartigen. Der Andersartigkeit des, wie man sagt, noch im Schoß der Zukunft Verborgenen eignet ein Moment des Verlockenden, Verheißenden. Die Meere, die das Ferne bergen und verbergen und insofern selbst ferne Meere sind, sind nicht nur fern, sondern sie sind auch fremd, sie sind ein ungewohntes und im Grunde unverstehbares Element. Das Bewegte und Bewegliche, sich stets Verändernde, das keinen festen Widerstand bietet und, wie es anrollt, sich auch immer wieder entzieht, erscheint gegenüber dem gewohnten Leben auf dem Festland als das ganz Andere; in seiner Andersheit stellt es auf sowohl bedrohliche wie anziehend-verlockende Weise in Frage. Die Geheimnisse der Ferne verheißen das Fremde, an dem sich das Eigene sowohl erproben wie verändern kann. Zumeist jedoch gelingt es uns nicht, das Fremde als Anderes stehen zu lassen, um uns von seiner Andersheit und ihren erstaunlichen Möglichkeiten etwas zeigen und erzählen zu lassen. Wir verstehen es sogleich als eine Herausforderung zum In-Besitz-nehmen und Begreifen, zum Assimilieren und Integrieren. Nur selten vermögen wir die fernen Küsten am Horizont in ihrer Horizonthaftigkeit und aus ihrer eigenen Fülle heraus liegen zu lassen. Nur selten gelingt eine Stimmung wie diese: »O meine Seele, ich verstehe das Lächeln deiner Schwermut: dein Über-Reichtum selber streckt nun sehnende Hände aus! / Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und sucht und wartet; die Sehnsucht der Über-Fülle blickt aus deinem lächelnden Augen-Himmel! … Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne Schwermut, so wirst du singen müssen, o meine Seele! – Siehe, ich lächle selber, der ich dir solches vorhersage: / – singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden, 46 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

daß sie deiner Sehnsucht zuhorchen, / – bis über stille sehnsüchtige Meere der Nachen schwebt, das güldene Wunder, um dessen Gold alle guten schlimmen wunderlichen Dinge hüpfen: –« (275 f.) Auch hier ein Suchen und Sehnen, aber eher ein Suchen und Sehnen, das – bei aller Schwermut – zugleich jener Gefaßtheit oder Heiterkeit ähnelt, die in Hölderlins früher angeführten Versen aus Kolomb anklingt: »Soweit das Herz mir reichet, gehet es wohl.« Diese Sehnsucht sucht dann nicht mehr etwas jenseits des Meeres, sondern sie teilt sich dem Meer selbst mit, – über »stille sehnsüchtige Meere« schwebt der Nachen dahin, ein güldenes Wunder, das in sich selbst, im Bereich des Herzens ruht. Doch, wie gesagt, diese Stimmung oder Haltung gelingt nur selten. Zumeist ist es mehr ein Wollen als ein Warten, mehr ein Ausgreifen und Auslangen als ein »Sich-wiegen-lassen«. Das ist dann das Pathos der ersten Strophe jenes Gedichtes von Nietzsche, das man mit Nach neuen Meeren überschrieben hat: »Dorthin – will ich; und ich traue / mir fortan und meinem Griff. / Offen liegt das Meer, ins Blaue / treibt mein Genueser Schiff.« Die Ausrichtung Zarathustras auf die dem Meer zu verdankenden Entdeckungen, auf dessen Fruchtbarkeit verheißende Ferne zeigt, wie sehr Nietzsche in der Tradition der Neuzeit steht, obwohl er doch zugleich über sie hinausdrängt. Allem Pathos von Wagnis und Versucherischem zum Trotz geht es um Beherrschung und Aneignung. Zwar gibt sich die Ungeduld des »nach vorne« nicht zufrieden mit dem Sein als ständiger Anwesenheit und Vorhandenheit oder Gegebenheit; insofern drängt sie gewissermaßen aus dem Wissensverständnis der Tradition hinaus, dem es um die Sicherheit bleibender Gewißheiten und dementsprechend um ein abgesichertes, begründetes Wissen zu tun war. »Wie ein Schrei und ein Jauchzen will ich über weite Meere hinfahren.« (86) Aber das Ziel ist dann doch nicht die Fahrt selbst, 47 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

das Pathos des Aufbruchs erfüllt sich nicht in sich selbst. Vielmehr geht es um ein Finden, ein Entdecken und Aufdekken, um das Finden der »glückseligen Inseln«. »Wenn jene suchende Lust in mir ist, die nach Unentdecktem die Segel treibt«, sagt Zarathustra, und er denkt dabei, auch wenn er »nach der Ewigkeit brünstig« ist und nach dem »Ring der Wiederkunft«, an die jenseits der »brausenden Meere« wartenden Länder: »Dorthin will unser Steuer, wo unser KinderLand ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre große Sehnsucht! –« Das ferne Unentdeckte ist für dieses Fernweh das zu Entdeckende, der Sinn des Meeres scheint sich im jenseitigen Land zu erfüllen, – einem Land allerdings nicht unter dem Vorzeichen des Altbewährten und Gesicherten, sondern als Ziel eines Entdeckens, das über sich selbst hinaussucht. Das Fremde soll den Bereich des Eigenen erweitern und vertiefen, es soll angeeignet und je nach dem kolonialisiert und missioniert werden. (Auch Sloterdijks »Nautik des Denkens« überläßt sich nicht der Ferne als solcher, sondern es geht ihr um »eine andere Küste«; ihr Bezug zu den Weltmeeren ist – im Sinne der neuzeitlichen Aneignungsmetaphysik – der Bezug einer Selbstvergewisserung; vgl. Sphären II, 8.) Selbst da, wo die ersehnte Fremde als Verwirklichungsraum für Träume und Utopien betrachtet wird, findet noch eine, wenn auch subtilere Einvernahme statt. Jeweils ist es letztlich kein Aufbruch ins Offene, in die Ferne als solche. Ein solcher Aufbruch müßte die Alternative »Land oder Meer« hinter sich gelassen haben, er sähe weder das Meer nur als den Weg zu den glückseligen Inseln, zum Kinder-Land, noch auch das Land nur einerseits als zu Überwindendes und zu Verlassendes, andererseits als zu Entdeckendes und zu Eroberndes. Denn das Ferne ist eben nicht nur das ferne Noch-zuErreichende. Und nicht einmal nur das Fernliegende, in weiter Ferne Befindliche. Sicher, ferne Meere sind zunächst ein48 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

mal Meere, die in der Ferne liegen, weit entfernt sind. Anders als die Stille, die Tiefe und die Weite, auch als das Offene, scheint die Bestimmung »Ferne« nichts über das Meer als solches sagen zu wollen, vielmehr nur seine räumliche Distanz zu uns auszudrücken: von dem Meer, an dessen Strand wir stehen, würden wir kaum sagen, es sei fern. »Fern« heißt zunächst lediglich weit weg, in großem Abstand zu uns befindlich. Zwar kann man selbst fern sein, z. B. fern der Heimat. Gleichwohl ist man dann nicht eigentlich in der Ferne, eher in der Fremde. Die Ferne definiert sich geradezu dadurch, daß sie nicht hier ist, wo wir sind, nicht in unserer Nähe. Ein Anwesendes scheint darum nie in der Ferne sein zu können. Und doch scheint mir das Meer auch als solches ein Moment der Ferne an sich zu haben. »Die Antennen fühlen die Antennen, / und die leere Ferne trug …«, dichtet Rilke (Sonette an Orpheus, 1. Teil, XII) Die leere Ferne ist Ferne ohne Ins-Jenseits-wollen und ohne Zurückwollen. Sie schwingt in sich selbst, in der rätselhaften Bewegung ihres Nicht-hier-, Nicht-in-der-Nähe-seins, das gleichwohl für das Hier bestimmend sein kann. Allein schon das Wort und das Bild »Ferne« eröffnen einen Raum, oder besser: sie geleiten den Blick und das Empfinden in eine Offenheit hinein, die wesenhaft unbestimmt ist, jedoch an dieser Unbestimmtheit selbst ihre eigene Bestimmtheit hat. Hören wir »Ferne«, so erreicht uns etwas wie ein ferner Klang, der – mit einer Sinnesüberschreitung gesagt – den Salzgeschmack des Meeres an sich haben kann. So kann uns auch am Meeresstrand – und mehr noch bei der Fahrt über das Meer – ein Gefühl von Meeresferne überkommen, in dem zwar auch Weite liegt, das sich aber nicht in jener erschöpft. Ferne, ferne Meere, Ferne der Meere, Meere als Ferne –. Da mag einem der Horizont einfallen. Der Horizont des Meeres kann beinahe als ein Sinnfälligwerden der Ferne 49 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

selbst erscheinen. Er ist fern, im wörtlichen Sinne un-nahbar, und doch umfaßt und bestimmt er das Hier und jedes Dort. Auch wenn das Wasser unmerklich in den Himmel übergeht, wenn gar kein Horizont auszumachen ist, auch dann sind seine Weite und Ferne und Offenheit die Weite und Ferne und Offenheit des Meeres selbst. * Das weite Meer –. Mehr noch als Stille, Tiefe und Ferne scheint die Weite dem Meer als solchem zuzugehören. So wenig wir, selbst bei klarstem Wasser, in die Tiefe des Meeres sehen können und so wenig sich uns gewöhnlich das Tiefsein des Meeres aufdrängt, so sehr geht der Blick über das Meer in die Weite. Selbst die höchsten Wellen, das »zornig widersprechende Wasser« heben sie nicht auf. Das, was das Meer umgibt, die Felsen, der ansteigende Strand, die sandigen Küsten sind nicht eigentlich gesetzte Grenzen seiner Weite, sie erscheinen oftmals eher als die Weise, wie es selbst sich begrenzt, indem es das Land aus sich aufsteigen läßt. Unendlich und grenzenlos scheint es sich, trotz aller Ufer, Küsten und Strände, in die weite Fläche zu erstrecken. Diese Flächigkeit kommt keinem Element so sehr zu wie dem Wasser; die Luft umgibt alle Dinge raumhaft, das Feuer kann auflodern und in sich zusammenfallen, die Erde kann sich zu Gipfeln erheben und zu Tälern senken. Das Wasser der Ozeane breitet sich in die Weite aus. Zwar hat das Wasser überhaupt neben der Tendenz in die Weite auch ein Streben nach unten und in die Tiefe, – als fallender und versickernder Regen, als herabstürzendes Wasser, am eindrücklichsten vielleicht im Wasserfall; Hyperions Schicksalslied nennt das »endlos ins Ungewisse hinab« des von Klippe zu Klippe geworfenen Wassers, – ein Bild für das an kein Ende kommende menschliche Sehnen und Wollen. Gleichwohl verbinden wir 50 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

mit dem Meer, selbst wenn es in »haushohen« Wellenbergen und tiefen Wellentälern tobt, vor allem die horizontale Weite. Im Grunde allerdings besteht – abgesehen ohnehin von der eigenen Tiefe des Meeres einerseits und dem all seine Bewegungen einbegreifenden Kreislauf des Wassers als solchen andererseits – kein ausschließender Gegensatz zwischen den in die Weite gehenden Meeren und den nach unten strömenden oder fallenden Wassern. Letztlich kann man sagen, daß die Tiefe sich in dem Sinne in die Weite aufhebt, daß die Bewegung in die Tiefe zugleich und am Ende in die Weite führt. Zarathustra ruft aus: »Und mag mein Strom der Liebe in Unwegsames stürzen! Wie sollte ein Strom nicht endlich den Weg zum Meere finden. / Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenugsamer; aber mein Strom der Liebe reißt ihn mit sich hinab – zum Meere!« (102) Auch die Bewegung in die Tiefe kommt schließlich in der horizontalen Weite der Meere zur Ruhe. Auch das scheinbar endlos ins Ungewisse hinabtosende Wasser mündet endlich ins Meer, in die Weite des endlosen Da. Stromgedichte und -hymnen besingen die Spanne zwischen der in die Tiefe wollenden Bewegung der jugendlichen Ströme und ihrer sich am Ende in die Weite des Meeres aufgebenden oder schenkenden Mündungen. Weite ist ein Gefühltes. Wir fühlen sie, wenn wir uns auf die unermeßliche Größe von Flächen einlassen, die den Blick mit sich zu nehmen scheinen, bis zum Horizont und darüber hinaus. Allerdings, – das erfahren wir nicht nur am oder auf dem Meer, sondern auch auf dem festen Land, z. B. in den Weiten Asiens. Auf dem nordamerikanischen Kontinent fährt man Stunden und Stunden auf fast geraden Straßen, das Land – Weiden oder Felder oder Steppen oder Wüsten – scheint sich endlos fortzusetzen, nur hin und wieder unterbrochen von Viehherden, kleinen Wasserstellen oder 51 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Bohranlagen. Die hitzeflimmernde Luft in der Wüste läßt den Blick unendlich weit dringen. Die in die Ferne sich staffelnden Bergketten geben, in immer anderem Blau, das Gefühl von ferner, lockender Weite. Raubvögel, die in großer Höhe dahinfliegen oder ihre Kreise ziehen, zeichnen die ungeheure Dimension des Raumes in ihrem Flug auf und messen die Weite des Himmels aus. Einfache Konturen, einzelne Grenzpfähle gewissermaßen, zeichnen sich in die Weite ein und lassen sie eben dadurch noch sichtbarer werden, ein einsamer Baum oder ein paar Kühe in der Landschaft. Auf dem Meer ein Schiff. Weite bedeutet zugleich Offenheit. Wie die Weite nennt Offenheit etwas, was nicht so sehr objektiv gegeben ist, vielmehr im Begegnen wahrgenommen wird. Wenn die Schauenden selbst sich öffnen und sich weit machen für etwas, werden sie in einem seltsamen Sinne leer; was vorher bestand, wird hinfällig oder unwesentlich, sie lassen sich ganz auf das Begegnende ein, verschwenden sich vielleicht daran. Das weite Herz bietet einen offenen, unverstellten Raum für das, was aus ihm oder in ihn hinein begegnen mag. Das Auge blickt, wenn es in die Weite geht, nicht einfach in die Ferne, es weitet seine Blickbahn gewissermaßen aus, verteilt sich im Raum, oder besser in die Fläche als ganze. Weder der Tiefe noch der Ferne eignet diese Art offener Ganzheit. Die Begegnung mit der Weite wird erfahrbar als ein Sich-ausdehnen, gewissermaßen ein Von-sich-selbst-weg-gehen und -sehen. Was Eichendorff das Ausbreiten der Flügel der Seele nennt, entspricht einer Begegnung mit der Weite. So sagt man, daß einem »das Herz weit wird«. Der Blick, der der Weite zu folgen, sie auszuloten versucht, streicht über die Fläche und geht dabei zugleich in den Raum hinein: er geht nach vorn oder in die Runde. Die Weite des Himmels gehört in eigentümlicher Weise zur Weite des Meeres und darüber hinaus zur Weite der Erde über52 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

haupt, der weite Himmel und die weite Erde entsprechen sich, zuweilen spiegeln sie sich. Die Weite des Raumes aus Himmel, Erde und Meer ist grenzenlos und doch ein Ganzes, Umfangendes. Ein weites Feld, der weite Raum, der weite Himmel, die weite Welt, – sie scheinen unendlich und endlich zugleich zu sein, weisen vom Wahrnehmenden weg in die Offenheit hinaus und nennen doch zugleich etwas, in dem er sich letztlich auch selbst befindet, wovon er gehalten ist. Bei der Offenheit kann ein Moment sichtbar werden, das bei der Weite weniger deutlich in Erscheinung tritt, aber auch vorhanden ist, nämlich das Moment des Erwartens und des Aufbrechens. Dieses Erwarten meint kein einseitig gespanntes Aussein auf etwas Bestimmtes, vielmehr die Freiheit des Begegnenlassenkönnens von was auch immer, – wie die heiter gelassene Neugierde des noch jungen Tages, die geschehen läßt, was kommen mag, und die auch das Nichteintreffende in seinem Nichtgeschehen zu belassen vermag. Ein solches Kommenlassen aus der Leere bedeutet zugleich ein Sich-hineinbegeben in sie, ein aktives Stillewerden und Leerwerden, das ein Platzmachen einschließt. Der Aufbruch, der Umzug ins Offene mag fast unmerklich und gänzlich unspektakulär vor sich gehen, aber er muß jedenfalls geschehen, die Offenheit ist nichts, was einfach da wäre oder nur so hereinbräche. Das Offensein braucht ein Sich-öffnen. Wir sind noch nicht in der Offenheit, darum müssen wir uns immer erst dahin aufmachen, – so wie wir nicht immer schon auf dem offenen Meer sind, uns vielmehr erst schwimmend oder auf einem schwankenden Kahne hinauswagen. Die Weite des Meeres mag jedoch zuweilen, im Gegensatz zu der Gerichtetheit des Erwartens und Aufbrechens, auch ein Moment des Sich-verlierens, wenn nicht gar des Sich-aufgebens an sich tragen. Während sowohl die Tiefe wie die Ferne in bestimmte Richtungen weisen, ist die Weite an ihr selbst – wie die Stille – richtungslos. Auf einem Schiff 53 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

inmitten des Ozeans kann man sich sehr verloren vorkommen. Wir sind es gewohnt, unseren Blick auf Einzelnes zu richten, dieses Einzelne vor einem Hintergrund, in Beziehungen zu Anderem zu sehen. Die Weite des Ozeans kann dagegen so etwas wie das Unheimliche reiner Dimensionalität an sich haben, weil die Akzente des Einzelnen ausbleiben. Da hilft dann möglicherweise nicht einmal mehr die eigene Einzelheit zur Orientierung. Man kann sich in der Weite, ja schon angesichts der Weite verlieren. Der Gegensatz hierzu wäre die Enge und Beengung, schließlich die beklemmende Angst, wo Hindernisse und Schranken die Weite negieren, sie verstellen und zustellen. Stille, Tiefe, Ferne, Weite, – diese Worte stehen nicht einfach so da, sie machen etwas mit uns. Sie rufen uns ins Träumen, ins Phantasieren. Sie evozieren das Bild des Meeres. Wenn man zu ermessen sucht, was das ist, Stille – und ähnlich ist es bei Tiefe und Weite, am wenigsten vielleicht bei Ferne –, dann kann sich unmittelbar die Erinnerung an das Meer aufdrängen, an die Meeresstille. Oder an die Weite des Ozeans. Tiefe als solche und Weite als solche können in besonderer Weise evident werden, wenn wir an die Tiefe und die Weite des Meeres denken. Angesichts des Meeres spüren oder empfinden wir Stille, Weite, Tiefe, Ferne unmittelbar und intensiv. Der Blick aufs Meer eröffnet eine Sicht auf das, was und wie Tiefe und Weite sind, – eher, als wenn wir die vielen tiefen und weiten Dinge unter ihren gemeinsamen Begriff bringen. Stille und Tiefe, Ferne und Weite sind Weisen, wie das Meer ist, wie es »lebt«, wie es uns anspricht. Wir sagen: das Meer ist still. Und das heißt nicht bloß, daß die Stille dem Meer als eine Eigenschaft zukäme. Sie hat ihre sinnliche Qualität nicht als »Bestimmung« des Meeres. Aber am Meer läßt sich in besonderer Weise erfassen und sinnlich evident machen, was Tiefe und Weite und Stille sind. Auch wenn es 54 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

keinen aufweisbaren rationalen Grund für die Auszeichnung gerade dieses Bildes gibt. Es gibt ja auch keinen rationalen Grund z. B. dafür, daß es immer wieder die Rose ist, die als Beispiel für ein Schönes – oder auch für ein Rotes – herangezogen wird. Entsprechend unbegründbar ist es, wenn ein bestimmter Gegenstand, eine bestimmte dingliche Konstellation, eine bestimmte Stimmung geeignet erscheinen, in einem Gedicht, etwa einem japanischen Haiku, oder in einem Gemälde »zum Gegenstand gemacht« zu werden, um so eine spezifische Seinsweise sichtbar werden zu lassen. Van Gogh schreibt zuweilen, daß eine bestimmte Landschaft oder eine bestimmte menschliche Tätigkeit, auch wenn er selbst dazu nicht imstande sei, in Zukunft gemalt werden müsse. Gleich als bedürfe die Welt bestimmter Ins-Werk-Setzungen, um erst so wirklich sie selbst, in gewissem Sinne »vollständig« zu sein. »Mit diesen Webstühlen werde ich noch viel Not haben, aber sie sind so wunderbar schöne Vorwürfe, all das alte Eichenholz gegen eine gräuliche Wand, und ich glaube bestimmt, es ist gut, daß sie einmal gemalt werden.« (van Gogh, Briefe an den Bruder Theo, II, 26) Und vielleicht bedarf es ja tatsächlich der Rosen, um der Schönheit eine ausgezeichnete sinnliche Gestalt zu geben, – und der Meere, um zu »ermessen«, was das ist – Tiefe, Weite, Ferne, Stille, Offenheit. Tiefe, Weite und Ferne sind selbst nicht sichtbar, so meinen wir; höchstens können sich in unserem Blickfeld etwas Bestimmtes oder eine Gestalt zeigen, denen jene Bestimmungen als Eigenschaften zukommen. Wie wir nach überkommener philosophischer Überzeugung auch »Farbe«, oder selbst »Rot«, nicht selbst sehen, sondern lediglich etwas Farbiges, also ein Ding, das farbig bzw. rot ist. Aber sind Tiefe und Weite tatsächlich nicht sinnlich spürbar und erfahrbar? Ist die Tiefe wirklich im sokratischen Sinne nicht sinnlich wahrnehmbar, was dann zugleich hieße: allein im Geiste er55 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

kennbar, denkbar? Oder führt die Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmung auf das in räumlichen Abmessungen und räumlicher Gestalt Sichtbare in die Irre? Man spricht von einem inneren Sehen, einem Sehen mit dem inneren Auge. Daß die Griechen so vielfältig Worte des Sehens – wie idea, eidos, skepsasthai, theoria u. a. – zur Kennzeichnung des Denkens und des Denkgegenstandes verwendet haben, weist daraufhin, daß ursprünglich auch für sie keine strikte Trennung von sinnlichem Sehen und Denken bestand. Wenn die Kontemplation, die Schau, die Intuition sich in ihre jeweilige Sache versenken, so wird bei diesem »Anblick« im Grunde gerade nicht von der sinnlich sichtbaren Gestalt abstrahiert, sondern in deren Ansicht selbst eingetreten. Ein Erblicken, das sich auf das zu Erblickende einläßt, mit ihm mitgeht, wird als Vermögen des Gemüts oder des Herzens bezeichnet. Das japanische Zeichen für »Denken« enthält das Bild des Herzens; Heidegger stellt dem »berechnenden Denken« ein »herzhaftes Denken« gegenüber. Die Tiefe der Welt, die Tiefe der Mitternacht, ganz zu schweigen von der Tiefe des tiefen Wehs und der tiefen Lust, – sie sind nichts rein Denkbares, Denkbares nämlich im Gegensatz zum und in der ausdrücklichen Abhebung gegen das sinnlich Wahrnehmbare. Auch die Weite und die Ferne sind kein umgrenztes Dieses, sie haben keine sichtbare Gestalt, keine eindeutigen Formen, wie sie auch keine eigene Farbigkeit haben. Und doch sehen wir das wirkliche Meer in seiner Sinnlichkeit und Sichtbarkeit vor uns, wenn wir es tief und weit und still nennen, wir sehen es als tiefes, fernes und offenes, wir sehen seine Tiefe, Ferne und Weite. Es ist unser Blick, der in die Ferne und aufs offene Meer schweift. Wie es unser Ohr ist, das die Stille »vernimmt«. Wir sehen in die Tiefe, Weite und Ferne, und so sehen wir Tiefe, Weite und Ferne selbst. 56 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Brunnen, Quellen, Wasserspiegel

Die Brunnen Ferne, Weite, Tiefe und Stille des Meeres, – und nun Quellen und Brunnen. Kein Wogen und Sich-erstrecken mehr, nicht die endlosen Horizonte, die unermeßliche Fläche. Vielmehr ein Plätschern und Sprudeln, verschwiegene Wasserspiegel, ein spielendes Anfangen, ungebundene Beweglichkeit und zugleich Ruhen im Begrenzten, Besonderen. Tiefe auch hier, aber wie anders ist sie als die Tiefe des Meeres. Wasser aus dem Schoß der Erde in der Brunnentiefe aufsteigend oder in sie hineinrinnend, Regenwasser, das aus vielen Rinnsalen zusammenfließt, um schließlich wieder zu versiegen, feuchter Quellgrund, der sich zu einem Entspringen sammelt. Alle Sinne erspüren die Quellen und Brunnen, wie ihr Wasser glitzert und spiegelt, wie sie murmeln und rauschen, wie ihre Feuchtigkeit frischen oder fauligen Geruch verströmt, wie das Naß köstlich schmeckt und ihre Kühle die heiße Haut oder den trockenen Gaumen erfrischt. Besonders häufig kommt, wenn von Brunnen die Rede ist, das Hören und Lauschen ins Spiel, – »Das Brünnlein rinnt und rauscht, wohl unterm Hollerstrauch«; oder Eichendorff: »Und die Brunnen verschlafen rauschen / In der prächtigen Sommernacht.« (Sehnsucht) Das Wasser rauscht, – und ist doch im Brunnen in eigentümlicher Weise verschwiegen und gestillt, es ist ein verschlafenes Rauschen, das die Sommernacht selbst zum Tönen bringt. Die dunkle Tiefe und die spiegelnde

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Klarheit der Quellen und der Brunnen haben eine unmittelbar sinnliche Qualität. Ein Sinnliches der Brunnen liegt auch in ihrem konkreten Gebautsein. Zu der Formlosigkeit, dem Verströmenden und Sichausbreitenden des Wassers gehört immer, wie ich schon anfangs betonte, zugleich auch ein sinnlich-konkretes Komplement, ein Festes, Dinge oder Dingliches im weiteren Sinne, – als Rand, Umfassendes, Unterlage, und auch als Umfaßtes, Getragenes oder wie auch sonst. Denken wir ans Meer, sind solches »Feste« die Inseln, die Küsten und Strände, wie auch die Fische, die Muscheln und Kraken und die Seevögel, sogar die Schiffe. Wasserläufe haben ihre Brücken und befestigten Ufer, auch Staudämme und Wehre, ebenso die vielen kleineren und größeren Tiere, die an und in ihnen leben. Die Wasserleitungen bringen Wasser von Ort zu Ort, Gefäße vieler Arten fassen es für den Gebrauch. Und die gebauten Brunnen sammeln das Wasser und bewahren es, geben ihm seinen Ort und geben es zugleich frei für die, die aus ihm schöpfen. Dieses Schöpfen selbst fügt dem Brunnen oftmals noch eine eigene sinnliche Qualität hinzu, die sinnlich-körperliche Erfahrung von Mühe und Schweiß. Ob der Kübel an der Winde hinuntergelassen und heraufgezogen wird, ob der volle Eimer mit eigener Kraft an die Oberfläche gebracht wird, ob mehr oder weniger mühsam die Pumpe bewegt wird, – wie auch immer, das Wasser muß aus dem Brunnen geholt werden; das ist eine andere Tätigkeit als das bloße Aufdrehen des Wasserhahns. Und selbst das Bücken zum Brunnenrand, wenn das Wasser mit der hohlen Hand geschöpft wird, um den unmittelbaren Durst zu stillen, kann noch – wie schon die reine Wahrnehmung der Nässe mit der Haut – als sinnliche Erfahrung empfunden werden. * 58 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Hölderlins Empedokles klagt: O bei den heilgen Brunnen, Wo Wasser aus Adern der Erde Sich sammeln und am heißen Tag Die Dürstenden erquicken! in mir, In mir, ihr Quellen des Lebens, strömtet Aus Tiefen der Welt ihr einst Zusammen und es kamen Die Dürstenden zu mir – wie ist’s denn nun? (Der Tod des Empedokles, 2. Fassung) Ich nehme diese Frage in einer kurzen Überlegung auf: Wie ist es heute mit den Brunnen? Handelt es sich bei ihnen nicht um etwas, was es in seiner überlieferten Bedeutung – bei uns wenigstens – gar nicht mehr gibt? Warum noch über Brunnen nachdenken, wenn sie im Grunde geschichtlich überholt sind? Die Brunnen hatten – und haben natürlich heute noch in vielen Gegenden der Erde – ihren Sinn aus ihrem alltäglichen unmittelbaren Gebrauchtwerden; in erster Linie dienten sie dem Wasserschöpfen, auch der Tränke des Viehs. Unzählige Liebesgeschichten und Volkslieder kennen die Brunnen als Ort der Begegnung. Aber das scheint für uns heute Vergangenheit zu sein. Abgesehen von architektonischen bzw. ästhetischen Umfeldern sowie von ihrer rein technischen Bedeutung als Reservoir z. B. bei der städtischen Wasserversorgung haben Brunnen heute ihren alltäglichen Sinn verloren: das Wasser kommt aus der Leitung. Die Brunnen und Brünnlein rauschen nicht mehr. Wo wir ihnen noch begegnen, in Parks oder auf Plätzen, da haben sie ihre eigentliche Funktion eingebüßt, sind zum bloßen Ornament geworden. Allerdings sind die Brunnen noch in einer Fülle von An59 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

klängen aus der Überlieferung präsent. Vielleicht werden die Volkslieder, in denen die Brunnen ihren Platz hatten – »Jetzt gang i ans Brünnele«, »Wenn alle Brünnlein fließen« –, allmählich vergessen; aber es gibt viele Stellen in der bleibenden Literatur und in dem in Geschichten, Sprüchen und Anekdoten aufbewahrten Wissen, an denen die Brunnen einen Ort behalten. Ich meine zudem, daß es so etwas wie eine philosophische Notwendigkeit gibt, gewisse vergangene, ausgestorbene oder vom Aussterben bedrohte Dinge im Gedächtnis zu bewahren. Gewöhnlich sprechen wir zwar nur in bezug auf lebende Wesen von Sterben und Aussterben. Aber gibt es nicht doch auch Entsprechungen zwischen der zu schützenden Natur und ihren Arten einerseits und gewissen zu schützenden oder zu rettenden, sogar wiederzuerweckenden Dingen? Vielleicht sollten Brunnen so wenig aussterben wie Adler oder Biber oder Kornraden. Das ist keine Frage der »Romantik«, sondern einer – im wörtlichen Sinne verstanden – welt-konservativen, also die überkommene Welt bewahrenden Verantwortung. Eine Welt ohne Störche wäre ärmer, eine Welt ohne Brunnen auch. Jedoch besteht zugleich ein wesentlicher Unterschied zwischen den zu schützenden Naturdingen und den zu rettenden vom Menschen gemachten Dingen, insofern diese durchweg zum Gebrauch im weiten Sinne angefertigt sind. Dinge, die ihren Gebrauchswert verloren haben, haben gewissermaßen ihr Wesen verloren. Sie, z. B. also die Brunnen, erhalten zu wollen, heißt nicht einfach, neue Brunnen zu bauen, um sie wieder einem – wie auch immer zu denkenden – Gebrauch zuzuführen, so, wie Tiere und Pflanzen wieder eingeführt, ihre Aufzucht und erneute Verbreitung unterstützt werden. Es geht nicht vorrangig darum, in den Gärten und auf den Plätzen Brunnen zu installieren, an denen die Vögel trinken, von denen aus die Blumen bewässert werden und an denen man sich am Abend gesellig treffen kann. 60 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Wenn der Versuch gemacht wird, gewisse Dinge des früheren alltäglichen Gebrauchs im Andenken zu »retten«, so geschieht dies, weil ihre »Aura« nicht verlorengehen soll. Wir leben in einer Epoche, in der das Alte, Überkommene wie in einem Sog in sein Ende und in ein Vergessen gezogen wird, wo eine Vielfalt von Neuem heraufkommt, das sich nicht allein in neuen Dingen erschöpft, sondern das dem zuvor in neuen Sinnzusammenhängen und Bewandtnisganzheiten, in neuen Lebens- und Kommunikationsformen, in einem neuen, andersgearteten In-der-Welt-sein besteht. Ich denke, es gibt Dinge und Verhaltens- und Sichtweisen, die wir um jeden Preis bei diesem Umzug in eine neue Welt mitzunehmen haben, z. B. indem wir die Zeugnisse von ihnen im Gedächtnis behalten. Mit zwei etwas längeren Zitaten schließe ich diese Überlegung ab: »›Es macht die Wüste schön‹, sagte der kleine Prinz, ›daß sie irgendwo einen Brunnen birgt.‹ / Ich war überrascht, dieses geheimnisvolle Leuchten des Sandes plötzlich zu verstehen.« »Der Brunnen, den wir erreicht hatten, glich nicht den Brunnen der Sahara. Die Brunnen der Sahara sind einfache, in den Sand gegrabene Löcher. Dieser da glich einem Dorfbrunnen. Aber es war keinerlei Dorf da, und ich glaubte zu träumen. / ›Das ist merkwürdig‹, sagte ich zum kleinen Prinzen, ›alles ist bereit: die Winde, der Kübel und das Seil …‹ / Er lachte, berührte das Seil, ließ die Rolle spielen. Und die Rolle knarrte wie ein altes Windrad, wenn der Wind lange geschlafen hat. / ›Du hörst‹, sagte der kleine Prinz, ›wir wecken diesen Brunnen auf, und er singt …‹« »Langsam hob ich den Kübel bis zum Brunnenrand. Ich stellte ihn dort schön aufrecht. In meinen Ohren war noch immer der Gesang der Zugwinde, und im Wasser, das noch zitterte, sah ich die Sonne zittern. / ›Ich habe Durst nach diesem Wasser‹, sagte der kleine Prinz, ›gib mir zu trinken …‹ / Und ich verstand, was er gesucht hatte. / Ich hob den Kübel an seine 61 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Lippen. Er trank mit geschlossenen Augen. Das war süß wie ein Fest. Dieses Wasser war etwas ganz anderes als ein Trunk. Es war entsprungen aus dem Marsch unter den Sternen, aus dem Gesang der Rolle, aus der Mühe meiner Arme. Es war gut fürs Herz, wie ein Geschenk.« (Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, 104–108) Und das zweite Zitat: »Wandle zurück, in die Fußstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen großen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf … Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Kulturen sichtbar werden.« (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 292, Vorwärts) * Das Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, gehörte früher – und gehört anderswo noch heute – wesentlich zum alltäglichen Leben. Wasser zu holen, war Teil des alltäglichen Tagesablaufs wie das Zubereiten der Mahlzeiten. Die Brunnen waren ein sichtbarer Lebensmittelpunkt. Sie dienten in erster Linie zum Sammeln des Wassers, damit es für den Gebrauch von Mensch und Vieh geschöpft werden kann, zuweilen auch zur Bewässerung von Feldern und Gemüsegärten. Die lebenswichtige Bedeutung des Wassers und auch die Vielseitigkeit und der Umfang der Bedürfnisse nach ihm drängt sich uns in unseren Breiten – so überlebenswichtig auch ihre Anlage und Erhaltung in anderen Landstrichen, gerade heute, unzweifelhaft ist – nur noch zuweilen auf, wenn es einmal knapp wird, in Dürrezeiten etwa, bei bedrohlich fallendem Grundwasserspiegel. Zwar gibt es auch heute noch 62 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

die wie früher zur alltäglichen Wasserversorgung dienenden »Brunnen«; aber das sind nicht mehr die rauschenden oder murmelnden Brunnen an den Straßen und auf den Plätzen, sondern riesige unterirdische Anlagen, die »Tiefbrunnen«, die für die Versorgung mit Trink- und sonstigem Wasser sorgen. Sie sind nicht das, woran wir denken, wenn wir von tiefen und geheimnisvollen oder verschlafenen Brunnen und Brünnlein sprechen. Die Brunnen fassen entweder eine Quelle ein oder nehmen sie auf, sie sammeln das Regenwasser vom Himmel oder sie reichen in das Grundwasser hinab, gehen in die Tiefe. Auf Sardinien habe ich einmal auf einem alten Bauernhof übernachtet, wo gerade nach Wasser gebohrt wurde. In der Tiefe waren sie auf eine erste, noch nicht ausreichende Wasserader gestoßen: die Herden, der Wein, das Land mit den Korkeichen und den vereinzelten Feldern, alles schien darauf zu warten, daß die Erde aus sich heraus Wasser gegen die zunehmende Trockenheit hergeben würde. Wie das Verlangen nach Regen an endlos erscheinenden Hitzetagen macht das Suchen nach Wasser in der Erde eine Dimension des Nichtverfügbaren, beinahe Mythischen erfahrbar, die im Alltäglichen gewöhnlich verborgen bleibt. In allem, was uns in den Brunnen begegnet, scheint irgendwie ein Rätselhaftes, Geheimnisvolles, Verborgen-Geborgenes mitzuschwingen. Darum geschieht in den Märchen Wunderbares oft an Brunnen. Ich erinnere an den »Froschkönig« als ein Beispiel unter vielen: »In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, so oft sie ihr ins Gesicht schien. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Königskind hinaus in den Wald und setzte sich an 63 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

den Rand des kühlen Brunnens: und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk. Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königstochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu ins Wasser hineinrollte. Die Königstochter folgte ihr mit den Augen nach, aber die Kugel verschwand, und der Brunnen war tief, so tief, daß man keinen Grund sah.« Ich brauche nicht weiter zu zitieren. Bekanntlich war es ein »garstiger Frosch«, der der Königstochter den Ball aus der Brunnentiefe holte und der sich am Ende, nach dem – aufgrund ihres Versprechens und des väterlichen Befehls – widerwillig gegebenen Kuß, als »ein Königssohn mit schönen und freundlichen Augen« entpuppte. Im Deutschen unterscheiden wir gewöhnlich – wenn wir einmal von bloßen Wasserlöchern absehen – zwischen den natürlich aus dem Erdboden hervortretenden Quellen und den angelegten Brunnen und Zisternen, die sowohl Quellwasser fassen und Regenwasser sammeln wie vom Grundwasser oder durch künstliche Wasserzufuhr gespeist werden. (In anderen Sprachen gibt es oft eine ganze Reihe von Unterscheidungen, z. B. ital.: sorgente – fonte – fontana – pozzo – cisterna, engl.: source – spring – well – fountain). »Brunnen« sowohl wie »Quelle« wird im übrigen sowohl für die Brunnen- und Quellorte oder -anlagen wie für das (insbesondere) heilkräftige Wasser gebraucht, das aus ihnen geschöpft wird. Der Übergang zwischen beiden Bezeichnungen ist oftmals fließend – auch im wörtlichen Sinne. Bei Ovid heißt es einmal: »Lieblich rauschte zur Rechten ein Quell; es floß in ein weites / Becken, von grasigem Rand umgürtet, das leuchtende Wasser.« (3,161 f.) Und bei Hölderlin: »Brunnen steigen empor und über die Hügel in reinen / Bahnen gelenkt, ereilt der Quell das glänzende Becken.« (Der Archipelagus) 64 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Die vornehmlichste Bedeutung der Brunnen ist, daß sie das Wasser sammeln und bergen. Darin ist der Brunnen dem Krug verwandt: er nimmt, bewahrt und gibt. Anders allerdings als der Krug wird ihm sein Wasser zumeist nicht »eingeschenkt«; er sammelt das aus der Erde entspringende wie das vom Himmel regnende Wasser und hält es für das Schöpfen bereit: »Dieweil der Gottheit Ström’ aus mir sich solln ergießen; / Muß ich ein Brunnquell seyn: sonst würden sie verfließen.« (Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann) Brunnen halten und geben Wasser. Selbst und gerade wenn sie ausgetrocknet sind, sprechen sie von diesem Geben. Ich habe manche alten Brunnen in Griechenland gesehen, wo das Geben dadurch sichtbare Gestalt gewinnt, daß das Wasser über eine Öffnung in der Form eine Schale bildender Hände ausfließt. In Rilkes Römische Fontäne ist das gebende Aufbewahren und aufbewahrende Geben als ein in sich gefaßtes Halten und Sich-in-sich-Erfüllen gedichtet: »und aus dem oberen Wasser leis sich neigend / zum Wasser, welches unten wartend stand, // dem leise redenden entgegenschweigend / … nur manchmal träumerisch und tropfenweis // sich niederlassend an den Moosbehängen / zum letzten Spiegel, der sein Becken leis / von unten lächeln macht mit Übergängen.« Neigend, wartend, entgegenschweigend, sich niederlassend, von unten lächeln machend, – ein mehrfältiges Ineinander von Geben und Nehmen. Wie der Krug ist der Brunnen vom Menschen gemacht. Doch gehört er, anders als jener, zu den Dingen, die in gewissem Sinne, obgleich von der Hand des Menschen verfertigt, zu einem Teil der bestehenden Natur selbst geworden sind. In die in diesem Sinne ständigen Dinge, die also ihren Stand und ihr Bestehen an einem festen Ort auf der Erde haben, reicht die Erde selbst hinein, die gebauten Dinge gehören ihr unmittelbar zu. Je anders gilt das für Straßen und Wege, anders 65 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

für die Brücken, anders bei Häusern und wieder anders eben bei den Brunnen. Brunnen werden so wenig in die Hand genommen wie Gebäude; sie sind nicht im engeren Sinne Zuhandenes. Sind sie auch vom Menschen gebaut, in die Erde gegraben oder auf ihr errichtet, so verbinden sie doch wohl ihr Wasser, das oftmals aus der Erde kommt, wie das Material, aus dem sie gebaut sind, unmittelbar mit der Erde, nehmen sie gleichsam in die Natur zurück. Die gebauten Dinge haben gegenüber dem sonstigen vom Menschen Ausgedachten und Gemachten einen gewissen Überschuß an Irdischsein, weil ihre Materialität nicht nur von der Erde genommen ist, sondern sie zugleich räumlich mit der Erde verbindet. Andererseits aber haben sie, wie alles vom Menschen Gemachte überhaupt, ein Moment des dem Willen und Geist des Menschen Zugehörigen an sich; alles Hergestellte bleibt darum zwar zum einen auf Grund seiner Materialität ein Teil der Erde, ist zum anderen aber auch im weiteren Sinne ein »Geistverwandtes«, weil der Geist ihm seine »ausgedachte« Bedeutung gegeben hat. (Dieses Zugleich von Irdischsein und Geistigsein gilt in umgekehrter Richtung auch für die im engeren Sinne »geistigen« Menschenwerke – die Dichtungen etwa, die Philosophien und die Wissenschaften, oder auch die Ordnungen und Institutionen, – und sei das irdische »Material« hier auch nur die Sprache, in der sie niedergelegt und festgehalten werden.) Der Bezug der Brunnen zur Erde ist, wie schon gesagt, selbst wiederum ein doppelter: zum einen sind sie in die Erde oder auf ihr gebaut und im weiteren Sinne sind sie auch aus »Irdischem« gemacht, zumeist aus Steinen oder Ziegeln, heute oft aus Beton; zum anderen haben sie ihren Sinn im Aufnehmen und Behalten des Wassers, das aus der Erde kommt oder auf die Erde fällt. Die Brunnen fassen sein Entspringen aus der Erde selbst in eine irdene Gestalt, in eine Art »Gefäß«, das hält und gibt. 66 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

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Seit der Renaissance wurden die eingefaßten Brunnen mit sakralen Brunnenfiguren, wie Madonnen und Heiligen, oder auch mit mythischen Wasser-Gestalten (etwa Nymphen oder Sirenen) geschmückt. Die enge Zusammengehörigkeit von Wasser und Erde hat etwas Heiliges. Das Brunnenwasser ist Gabe der Erde, Erdgeburt. Sein Hervorquellen ist so etwas wie ein Entbergen des Verborgenen selbst in seiner Verborgenheit; dieses Entbergen hält in seinem Geben immer schon an sich, es behält und bewahrt das Gegebene. Das Dunkle, Bergende, Verborgene der Erde wird durch die Brunnen zu einem Gebenden und Schenkenden. Auch in dem folgenden Haiku geht es – nur zart angedeutet – um die Scheu des Haltens, Gebens und Nehmens: In Windenranken Verstrickt der Brunneneimer – Drum gib mir Wasser. Oder in einer anderen Übersetzung: Eine blühende Winde hat sich um meinen Brunneneimer gerankt. Ich schöpfe das Wasser beim Nachbarn. (Chiyo-ni) Das Wasser des Brunnens ist unzugänglich geworden, – unzugänglich zumindest, wenn die Windenblüten nicht gestört, ihre Ranken nicht zerstört werden sollen. Doch wird das kaum gesagt. Vielleicht fordert die Rätselhaftigkeit der Brunnentiefe in besonderer Weise dazu heraus, das Ungesagte, und sei es noch so unscheinbar, als ein solches stehen oder je nach dem auch gewähren zu lassen. Im Umgang mit dem Brunnenwasser bedarf es der Behutsamkeit und Geduld, –

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hier des Gangs zum Nachbarn, der das Wasser geben kann, das der Brunnen verweigert. Die tiefen und dunklen Brunnen bewahren und sammeln. Als sammelnde und versammelnde haben sie gleichsam ein eigenes Leben, dem man sich schöpfend oder ausruhend anvertraut. Auf Sardinien sind die bedeutendsten der uralten heiligen Stätten Brunnenheiligtümer, in denen die Göttin der Erde, die lebenschenkende Urmutter verehrt wurde. Die Brunnen reichen in die Tiefe der Erde. Sie lassen das Wasser aus der Tiefe hervorkommen, an die Oberfläche, ans Licht. Die sardischen Brunnenheiligtümer sind gewöhnlich unter der Erde; eine oft kunstvoll gestaltete Treppe führt zum Wasser hinab; oben, an der Erdoberfläche, gibt es zudem eine kleine runde Öffnung, durch die das Licht auf die Wasseroberfläche in der Tiefe fällt. Der eigentliche Brunnenraum des pozzo sacro in Santa Cristina hat die Form einer antiken Salbölflasche oder einer Lekythe, genauer gesehen wohl einer Gebärmutter; auch heute noch sickert das Wasser zwischen den Mauersteinen hindurch in das unterirdische eigentliche Brunnenrund, wie trocken die Umgebung oben auch sein mag. An zwei Tagen im Jahr, zur Frühlings- und Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche, steigt die Sonne die Treppe hinab zum Brunnenwasser … * Weil der Brunnen das Wasser aufbewahrt, kamen die Menschen an ihm zusammen, sammelten sie sich um ihn, oft im Schatten einer Linde, – auch in der zitierten Fassung der Geschichte vom Froschkönig (aus einem Märchenbuch meiner Kindheit) lag der Brunnen unter einer Linde. Goethe malt in Hermann und Dorothea einen geselligen Brunnenort: »Von dem würdigen Dunkel erhabener Linden umschattet, / Die Jahrhunderte schon an dieser Stelle gewurzelt, / War, mit 74 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Rasen bedeckt, ein weiter, grünender Anger / Vor dem Dorfe, den Bauern und nahen Städtern ein Lustort. / Flach gegraben befand sich unter den Bäumen ein Brunnen. / Stieg man die Stufen hinab, so zeigten sich steinerne Bänke, / Rings um die Quelle gesetzt, die immer lebendig hervorquoll, / Reinlich, mit niedriger Mauer gefaßt, zu schöpfen bequemlich.« (Hermann und Dorothea, Polyhymnia) Das bewahrende Sammeln des Wassers im Brunnen und das Sich-versammeln der Menschen um den Brunnen machten ihn zu einem gebenden Mittelpunkt, dem man sich nicht nur näherte, um Wasser zu schöpfen, sondern auch um dort auszuruhen und sich mit Anderen zu treffen. Man ging täglich dorthin zum Wasserholen als zu einem geselligen Treffpunkt, wo insbesondere die Mädchen und Frauen miteinander schwatzten und ihre Neuigkeiten austauschten – ähnlich wie die Männer im Wirtshaus. Ein Roman von Knut Hamsun heißt Die Weiber am Brunnen. Der Titel soll das Gewebe des gesellschaftlichen Wissens, Kennens und Anerkennens und der Geschichten nennen, die das geheime Leben einer kleinen Stadt ausmachen und die im Schwatz der Weiber am Brunnen zum Ausdruck kommen, obgleich im ganzen Roman kein solcher Schwatz eigens geschildert wird. Viele Liebesgeschichten kennen die Brunnen als den Ort des geheimen oder gesellschaftlich anerkannten Zusammenkommens. (»Abends bei dem Röhrenkasten / sammelte sich Paar um Paar, / weil der Quelle lieblich Glasten / und ihr Laut der tiefgefaßten / Neigung süßes Omen war.« So dichtet der junge Rilke (1895, Brunnen) In Hermann und Dorothea begegnen sich die beiden jungen Leute am Brunnen; hier verbinden sich ihre künftigen Wege miteinander:

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Also sprach sie und war die breiten Stufen hinunter Mit dem Begleiter gelangt; und auf das Mäuerchen setzten Beide sich nieder des Quells. Sie beugte sich über, zu schöpfen: Und er faßte den anderen Krug und beugte sich über. Und sie sahen gespiegelt ihr Bild in der Bläue des Himmels Schwanken und nickten sich zu und grüßten sich freundlich im Spiegel. Laß mich trinken, sagte darauf der heitere Jüngling; Und sie reicht’ ihm den Krug. Dann ruhten sie beide, vertraulich Auf die Gefäße gelehnt; (Hermann und Dorothea, Erato) Diese Brunnen-Episode endet übrigens so: »Laßt uns, fuhr sie nun fort, zurücke kehren! Die Mädchen / Werden immer getadelt, die lange beim Brunnen verweilen; / Und doch ist es am rinnenden Quell so lieblich zu schwätzen. / Also standen sie auf und schauten beide noch einmal / In den Brunnen zurück, und süßes Verlangen ergriff sie.« Im Alten wie im Neuen Testament kommen immer wieder Brunnen als Treffpunkte vor; ich erinnere nur an die Begegnung Jesu mit der Frau aus Samaria. Häufig finden sich die Brunnen an Wegen und Wegkreuzungen; umgekehrt können allerdings auch von bestehenden Brunnen als den Lebensmittelpunkten aus Wege und Straßen in verschiedene Richtungen hinausgegangen sein. Die Brunnenvergiftung war eben darum so verhängnisvoll, gefürchtet und tabuisiert, weil sie an den unmittelbaren und sozialen Lebensnerv einer Gemeinschaft zu rühren vermochte. Schon die mehr oder weniger unbeabsichtigte Verunreinigung kann schlimme Folgen haben. Noch einmal Hermann und Dorothea: »Es ha76 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ben die unvorsichtigen Menschen / Alles Wasser getrübt im Dorfe, mit Pferden und Ochsen / Gleich durchwatend den Quell, der Wasser bringt den Bewohnern. / Und so haben sie auch mit Waschen und Reinigen alle / Tröge des Dorfes beschmutzt und alle Brunnen besudelt.« (Erato) * »Wehe mir! Wo ist die Zeit hin? Sank ich nicht in tiefe Brunnen?« So fragt Zarathustra. Und an einer anderen Stelle heißt es: »Wie ein tiefer Brunnen ist ein Einsiedler. Leicht ist es, einen Stein hineinzuwerfen; sank er aber bis zum Grunde, sagt, wer will ihn wieder hinausbringen?« (84) Oder noch einmal Nietzsche, in Menschliches, Allzumenschliches: »Bei tiefen Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange, bis Etwas, das in sie fällt, ihren Grund erreicht.« (Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 328) Das Geheimnisvolle der Brunnen liegt in ihrer Tiefe und Dunkelheit. Lassen wir uns auf ihre Tiefe ein – die Tiefe des Meeres, unauslotbar und voller Rätsel, die Tiefe der Erde, aus der das Quellwasser hervorkommt, und die Tiefe der Brunnen, in denen es sich sammelt und bereithält –, dann wagen wir den Übergang vom Hellen ins Dunkle, Verborgene, vom Sichtbaren ins Unsichtbare. Der »Vorschein« des Wasserspiegels weist zurück in die Tiefe der Herkunft aus der Erde, die eben auch Himmelferne, Lichtferne, Dunkelheit ist. Ein Haiku von Buson lautet: Zum alten Brunnen Ins Dunkel fallen Kamelienblüten. Heidegger vermutet von der Dunkelheit überhaupt, daß sie »vielleicht bei allem Denken jederzeit im Spiel« ist. In bezug auf das »Dunkel der Brunnentiefe« sagt er: »Das Dunkle aber 77 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ist das Geheimnis des Lichten. Das Dunkle behält das Lichte bei sich.« Und auch: »Sterbliches Denken muß in das Dunkel der Brunnentiefe sich hinablassen, um bei Tag den Stern zu sehen. Schwerer bleibt es, die Lauterkeit des Dunklen zu wahren als eine Helle beizuschaffen, die nur als solche scheinen will. Was nur scheinen will, leuchtet nicht.« (Grundsätze des Denkens, GA 79, 93) Vor dem Hintergrund dieser Sätze wird verständlich, was Heidegger hinsichtlich der Geschichte von der thrakischen Magd anmerkt, die den Philosophen Thales ausgelacht habe, weil er, nach den himmlischen Dingen blickend, den Boden vor seinen Füßen nicht sah und in einen Graben fiel: »Philosophie ist jenes Denken, womit man wesensmäßig nichts anfangen kann und worüber die Dienstmägde notwendig lachen. / Diese Begriffsbestimmung der Philosophie ist kein bloßer Spaß, sondern sie ist zum Nachdenken. Wir tun gut daran, uns gelegentlich zu erinnern, daß wir bei unseren Gängen vielleicht einmal in einen Brunnen fallen, wobei wir lange auf keinen Grund kommen.« (Die Frage nach dem Ding, GA 41, 3) »Philosophie ist jenes Denken, womit man wesensmäßig nichts anfangen kann.« Thales hat gleichwohl mit dem philosophischen Denken selbst angefangen. Er hat es, nach dieser Geschichte wenigstens, getan, indem er seine Augen auf den Himmel, und d. h. auf das Unsichtbare gerichtet hat, z. B. auf das an ihm selbst unsichtbare Eine des Wassers, das in allem, was überhaupt ist, in irgendeiner Weise am Werk ist. Er hat, so will es diese Legende, nicht auf seinen Weg geachtet, nicht auf die Steine, die sich ihm entgegenlegten, nicht auf die Untiefen oder Tiefen, die es zu vermeiden gegolten hätte. Sein Weg führte durch eine Weglosigkeit – aporia heißt wörtlich Weglosigkeit –, und so fiel er in der realen sichtbaren Welt in einen Brunnen, vermutlich gerade da, als es ihm gelang, sich im Bereich seiner wesenhaften Sache aufzuhalten. Heidegger scheint – wie schon Platon im Theai78 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

tetos – der Auffassung zu sein, daß der Philosoph die Gefahr des Fallens auf sich nehmen muß, wenn er die Inständigkeit seines Blicks nicht aufgeben will. Das Fallen fällt in eine Grundlosigkeit, vielleicht auch in einen Schwindel der Richtungs- und Haltlosigkeit. Thales ist aber wohl nur gestolpert. Jedenfalls scheint er sich so schnell wieder gefangen zu haben oder so schnell wieder aufgestanden zu sein, daß sein Blick kaum von den grundhaften Prinzipien, nach denen er Ausschau hielt, abgezogen wurde. Heidegger meint nun nicht nur, daß das Denken die Gefahr, unversehens in einen Brunnen zu fallen, sehen muß; er geht sogar noch weiter: unser Denken, das Denken der Sterblichen muß sich ausdrücklich in den Brunnen begeben, muß die Grund- und Richtungslosigkeit also wissentlich und willentlich auf sich nehmen. Es muß einen Raum der Dunkelheit um sich gewinnen, innerhalb dessen allein es in der Lage sein wird, das Helle und Leuchtende zu sehen. Was heißt es, bei Tag einen Stern zu sehen? Wenn Heidegger von einem Stern spricht, so denkt man unwillkürlich an seine häufig zitierten Worte aus Aus der Erfahrung des Denkens: »Auf einen Stern zugehen … // Denken ist die Einschränkung auf einen / Gedanken, der einst wie ein Stern am Himmel / der Welt stehen bleibt.« (GA 13, 76) Die Einschränkung auf einen Gedanken, das ist vielleicht etwas Ähnliches wie das Blicken aus dem dunklen Brunnen in die ferne Höhe des Himmels, wobei die den Blick einschränkenden Brunnenwände das Licht abblenden, so daß der Stern auch am Tage sichtbar wird. Ich erinnere an Nietzsches Satz: »Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Kulturen sichtbar werden.« Gewöhnlich gehen wir davon aus, daß das Licht die Dunkelheit verdrängt und besiegt, daß es sich gewisser79 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

maßen an die Stelle der Dunkelheit setzt. Auf die Sichtbarkeit des Belichteten und Leuchtenden oder Scheinenden bezogen, heißt das, daß das Sichtbare sich an die Stelle des Unsichtbaren setzt. Aber: »Was nur scheinen will, leuchtet nicht.« Das Sichtbare und Helle hat als solches einen eigenen und wesensmäßigen Bezug zur Dunkelheit, es ist gewissermaßen in diesem zu Hause, gerade wenn und weil es selbst nicht dunkel sein, sondern scheinen, aber eben nicht nur scheinen will. Wenn Heidegger recht damit hätte, daß das Dunkle das Geheimnis des Lichten, die Unsichtbarkeit das Geheimnis des Sichtbaren ist, dann käme es im Denken darauf an, beim Ausblicken nach dem Hellen dieses Geheimnis zu wahren, und d. h. die Dunkelheit nicht aufzugeben, sie vielmehr als den Raum zu begreifen und zu behandeln, aus dem heraus oder vor dem das Lichte überhaupt nur in dem, was und wie es ist, gesichtet werden kann. Im Zusammenhang seines Satzes über das »Dunkel der Brunnentiefe« erinnert Heidegger an eine Zeile aus dem Tao-te-king von Laotse: »Wer seine Helle kennt, sich in sein Dunkel hüllt.« In dem Zen-Buch Bi-yän-lu, Niederschrift von der smaragdenen Felswand, das um 1300 in China entstand, lesen wir, daß der Zen-Meister Ba-ling auf die Frage »Was ist es um den Weg?« an den großen Meister Yün-men die Antwort schrieb: »Ein Mensch mit hellen Augen fällt ins Brunnenloch.« (254) Dieser Satz ist keine Warnung vor hellen Augen und klarem Sehen und auch kein Plädoyer gegen unverständliches Dunkel. Eher spricht er ebenfalls für den Fall ins Brunnenloch. Auch hier stoßen wir auf die Verknüpfung von Dunkel und Helle. Der Brunnen ist ein Ort bergenden Dunkels, weil er rätselhaft ist. Sein Rätsel ist zugleich ein Geheimnis, es wird nicht rational aufgelöst, sondern, wie man sagt, gewahrt. Der Brunnen reicht in die Tiefe, indem er das lebenspendende Wasser aus der Tiefe heraufkommen läßt und darbietet. Wer mit hellen, wachen Augen in den Brun80 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

nen fällt, gerät in das Geheimnis des Lebens selbst. Yün-men hat darum gebeten, daß nach seinem Tod bei der Totenfeier nur die drei Sprüche Ba-lings vorgetragen würden, deren erster diese Antwort auf die Frage nach dem Weg gibt: »Ein Mensch mit hellen Augen fällt ins Brunnenloch.« (Auch die beiden anderen Kernworte, die Ba-ling mit jenem Satz übersandte, haben etwas mit dem Wasser zu tun. Das zweite lautete: »Alle Ästchen der Korallen strecken dir den Mond entgegen«, womit darauf angespielt wird, daß bei Ebbe die noch nassen Korallen das Mondlicht widerspiegeln. Und das dritte: »Auf silberne Schale häuft sie Schnee.«) »Ein Mensch mit hellen Augen fällt ins Brunnenloch.« Dieser Spruch gehört zu den Worten, von denen es im selben Zusammenhang heißt, daß sie »in das Geheimnis der Tiefe führen«. (255) Es ist ein Spruch, der etwas sagt, nämlich gibt, indem er es ungesagt läßt, nämlich bewahrt, ein Brunnenwort sozusagen. Heidegger meint an einer anderen Stelle, wiederum in bezug auf das philosophische Denken – wobei er erneut auf das Verhältnis von Hellem und Dunklem anspielt: »Gleichwohl verändert das Denken die Welt. Es verändert sie in die jedesmal dunklere Brunnentiefe eines Rätsels, die als dunklere das Versprechen auf eine höhere Helle ist.« (Logos, Vorträge und Aufsätze, 229) Im alten Brunnen Am Grunde noch ein Schimmer Gestirn und Mondnacht. (Hyakken)

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Die Quellen Quellen treten unversehens irgendwo hervor. Ich denke an besonntes, feuchtes Moos, wenn ich an Quellen denke, an hohe Wälder. Oder an alte Steinmauern, aus denen an irgendeiner Stelle etwas Wasser heraustropft. An steinigen Boden, der plötzlich dunklere Stellen hat, wo ein kleines Rinnsal sich bildet. In gewissem Sinne treten Quellen immer unscheinbar hervor. Aber gerade dieses Unscheinbare ist so erstaunlich: das Wunder des Entspringens und des Hervorquellens selbst, unversehens irgendwo, wenn eine Wasseransammlung unter der Erdoberfläche groß genug geworden ist, um sich zu einem Hervortreten aus dem Boden und zum Fließen zu sammeln. Auch die Quellen bergen ein »Geheimnis des Tiefe«. Aber es ist anderer Art als das der Brunnen. Das Besondere der Quellen ist das genannte »unversehens« ihres Hervorkommens. Schon das Wort hervorkommen erinnert an das aus dem Verborgenen heraustretende Wasser, wie, vielleicht noch deutlicher, auch das Wort ursprünglich. Herkunft, Ursprung, Anfang, – das sind rätselhafte Worte, Worte, die das Rätsel der Geburt, des Hervorkommens, des Entstehens nennen. Anfang und Ende, Geburt und Tod sind Urbegriffe des endlichen und menschlichen Seins; sie bringen die Endlichkeit als solche, eben ihre »Enden«, zur Sprache und bezeichnen so gleichsam die Schwellen, die das Seiende vom Nichtseienden, vom Nichts trennen, – oder mit ihm verbinden. Das Ende »am Ende« bedeutet sowohl Abbruch wie (krönenden) Abschluß; es kann der Punkt sein, wo etwas, eine Bewegung, aufhört, wo der Faden abreißt oder abgerissen wird, oder aber der Punkt, auf den zu und um dessentwillen es sich bewegt hat, bei dem es sich dementsprechend erfüllt, wo es sein Ziel erreicht, wie der Strom im Meer. Eine analoge Dopplung können wir auch, obgleich weniger ausgeprägt, 82 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

»am anderen Ende«, beim Ursprung und Anfang sehen. Er kann bloßes Anheben und In-Gang-kommen sein, aber auch bestimmendes Beginnen, das das Folgende auf seinen Weg bringt. »Ein Rätsel ist Reinentsprungenes«, dichtet Hölderlin in der Rhein-Hymne. Und es scheint, daß diese Rätselhaftigkeit sich dort aus dem Entspringen selbst bzw. aus der Situation des Entsprungenseins ergibt: »das meiste nämlich Vermag die Geburt, Und der Lichtstrahl, der Dem Neugebornen begegnet.« Hölderlins Entsprungener selbst, der »tief unter den silbernen Gipfeln« tobende und rasende junge Rhein gehört dann schon nicht mehr der Quelle zu. »Reinentsprungenes« verweist zurück auf das Entspringen als solches, auf den Ursprung selbst. Das Ursprüngliche ist Anfangendes aus einer Herkunft, die wesentlich nicht anders in Erscheinung tritt als eben in dem Ent-stehenden, Erscheinenden selbst. Das Reinentsprungene entstammt der Tiefe, dem Schoß der Erde, den Tiefen der Welt, so daß, wie wir hörten, Hölderlins Empedokles klagen kann: »in mir, / In mir, ihr Quellen des Lebens, strömtet / Aus Tiefen der Welt ihr einst / Zusammen«, so nämlich, wie »Wasser aus Adern der Erde / Sich sammeln und / am heißen Tag / Die Dürstenden erquicken.« Die Adern der Erde, die Tiefen der Welt sind der dunkle, verborgene Schoß, aus dem das Quellwasser hervorquillt, ohne daß damit direkt auf einen zuvor zurückgelegten Weg des Herkommens verwiesen würde bzw. ohne daß diese Tiefe selbst ein eigenes Gewicht hätte. Die Erdtiefe als solche ist unsichtbar, die Erde läßt den Blick nicht in sie eindringen. Die Quelle bedeutet zwar jeweils ein gewisses Sich-Öffnen der Erde in der und als die Quelle, aber gleichwohl verwehren die Öffnungen sich dem Blick, gerade indem das Wasser aus ihnen hervorquillt. Die Tiefe ist das Unsichtbare, das Nichts, aus dem das Entspringende ins Sein, jedenfalls in sein Sein ent-springt. Verena 83 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Kast meint vermutlich ähnliches, wenn sie schreibt: »Die Quellen sind Orte, wo das Diesseits und das Jenseits miteinander in Verbindung stehen, wo sich der Über-Fluß des ErdInneren sammelt und auf die Erde ergießt. Mit der Quelle verbinden wir Bilder des Überströmens, des Immer-wiederHervorquellens; die Quelle ist geradezu ein Schoß der Erde, der immer wieder gibt.« (Paare, 114) Im Angesicht des hervorquellenden Wassers ist in diesem »hervor« der nichthafte Grund zwar mitgewußt, aber gerade nicht als gründender Grund, d. h. nicht in seinem entspringen lassenden »Tun«, sondern als reines Woher, als »etwas«, das sich ganz ins Erscheinen, ins Entspringen gibt, das das Entspringende er-gibt. Wenn Heidegger verschiedentlich ein reines »es gibt« zu denken versucht, ein »es gibt«, das zwar ein Geben meint, aber ein solches, dem kein bestimmbares gebendes Es voraufliegt, so ist dieses »es gibt« vermutlich ebenfalls im Sinne des – rätselhaften – reinen Entspringens, des Hervorquellens zu denken. Inwiefern rätselhaft? Nicht nur eine verwunschene und verwünschte Quelle oder eine Quelle, der Zauberhaftes oder Verzauberndes entquillt, wie es uns in Märchen und Legenden erzählt wird, kann rätselhaft und geheimnisvoll genannt werden. Die Quelle als solche, das Hervorquellen selbst, ist rätselhaft und geheimnisvoll; sie birgt ein Geheimnis, und sie stellt ein Rätsel, das Rätsel ihrer Herkunft. Es ist unlösbar und lösbar zugleich. Unlösbar, weil es keinen Sinn macht, in seinen Ursprung »selbst« zurückzugehen, es gewissermaßen dahin zurückzuverfolgen; ein solches Zurück gibt es nicht, das im Erdboden vorhandene Wasser, auch das Grundwasser, ist noch keine Quelle. Vor der Quelle ist keine Quelle, so wie es kein Anfangen vor dem Anfang gibt. Gleichwohl löst sich das Rätsel zugleich selbst auf: Die Quelle quillt. Sie sagt sich selbst aus, indem es sie gibt, indem sie sich er-gibt. Ihre Herkunft hat den rätselhaften Charakter, an ihr selbst »nichts« 84 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

zu sein als eben das Ergebende und Gebende des rätselhaft in der Welt Ankommenden. Als Rätsel des Reinentsprungenen oder Reinentspringenden ist die Quelle – der Felsenquell wie die unscheinbare Quelle in der Waldestiefe – Bild für ein Sichtbarwerden von Unsichtbarem. An ihr zeigt sich augenscheinlich eine Ankunft des Seienden aus Nichts. Nennt man das Unsichtbare Nichts und umgekehrt das Nichts ein Unsichtbares, oder besser die Unsichtbarkeit als solche, so ist hier mit diesem Unsichtbaren nicht ein bestimmtes Etwas, das an ihm selbst unsichtbar wäre, gemeint, kein unsinnliches Sein, kein rein Denkbares im Platonischen Sinne. Der dunkle Erdengrund, die »Tiefen der Welt«, aus denen das Wasser hervorquillt, stellen als reines Woher keine eigene Inhaltlichkeit mehr dar. Vom Hervorquellen her und auf dieses zu gesehen, können wir sie unsichtbar nennen, darum nämlich, weil sie als das Un- des Sichtbaren gefaßt werden können. Das Sichtbare des Quellwassers, das in einer unaufhörlichen Bewegung des Ankommens und Hervorkommens ist, ist das Nicht-Nichtsichtbare. Hier wird ein Grundzug des Sichtbaren im wörtlichen Sinne augenscheinlich, der vielleicht dem Seienden überhaupt zukommt, dann nämlich, wenn wir es nicht mehr als bloßes Objekt von Subjekten und nicht mehr »qua Seiendes« verstehen wollen: daß es nämlich nicht einfach nur als faktisch Daseiendes, als Vorhandenes angetroffen wird, daß es sich vielmehr selbst unserem Blick darbietet, im wörtlichen Sinne Sicht-bares ist, also Sicht, Ansicht Tragendes. Wir erblicken es, würde Heidegger sagen, weil wir von ihm schon angeblickt werden, weil es sich – uns – zuträgt, uns angeht. Das Wasser der Quelle sprudelt hervor, und das heißt auch, auf uns zu. Das Quellwasser quillt aus der Tiefe der Erde; zugleich jedoch ist auch der umgekehrte Weg immer schon gebahnt, gewissermaßen der Geburtskanal bereits durchlaufen, wenn sich das Wasser unse85 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

rem Blick darbietet. Der Weg, den das Quellwasser selbst nimmt, kommt aus der Tiefe des Unsichtbaren her-vor in das Licht der Sichtbarkeit. * Am Abhang des Mount Shasta, eines der heiligen Berge der Erde, voll geheimer Kraft und – wie »Eingeweihte« meinen – voll unterirdischen Lebens, am Abhang dieses dem Fujiyama nicht nur durch den Anblick verwandten Berges liegen die Panther-Wiesen. Ein mal schmälerer, mal breiterer flacher Bach schlängelt sich durch sie hin, murmelnd und plätschernd, viele kleine bunte Blumen, Gräser und Moose haben sich um ihn versammelt. Am oberen Rand, wo die Wiesen durch Kiefernwald begrenzt sind, tritt er als Quelle hervor. Es ist diese Quelle, die dem Ort seine mythische Besonderheit innerhalb des Ganzen des ohnehin mythischen ShastaBereichs gibt. Noch heute – oder heute wieder? – versammeln sich zu bestimmten Zeiten die Häuptlinge verschiedener Stämme dort zu rituellen Feiern. Wirkliche und vermeintliche »Wissende« kommen hier zusammen, um die Energie des Berges und der Quelle zu spüren. Ein schmaler Pfad begleitet den Bach bergauf bis zu einer Stelle, wo das Wasser, aus dem Erdboden hervortretend, ein kleines Rund gebildet hat, einen winzigen See, vielleicht fünf Handbreit groß. In dieses Rund steigt die Quelle auf, im Wasser zitterndes Wasser, eine merkwürdig flirrende Bewegung, kaum zu beschreiben. Ich habe das auch sonst schon zuweilen gesehen – besonders deutlich vor vielen Jahren im Acheron, kurz bevor er aus den Bergen heraustritt, um in die sumpfige Ebene überzugehen –, daß Quellen in einem Wasser selbst hervortreten. Gewöhnlich war das in fließendem Gewässer, in Flüssen, die schon einen längeren Weg hinter sich hatten und sich zugleich noch aus immer weiteren, hin86 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

zutretenden Quellen speisten. Hier jedoch ist es nur das bereits hervorgetretene Quellwasser selbst – es scheint sich zunächst ein wenig zu sammeln, bevor es als Bach in die Wiesen eintritt –, in dem sachte erzitternd und ab und an kleine Blasen werfend das Quellen und Entspringen geschieht. Ein sehr geheimnisvolles, in sich verborgenes Geschehen. * Die Quelle ist wie der Brunnquell oder der Brunnen ein Ort für das lebendige Hervorquellen aus der Unsichtbarkeit des Nichtseins ins Sichtbare des Seins. Merkwürdigerweise jedoch scheint der Bezug der Quelle – und auch des Brunnens – zu dem in ihr entspringenden und sich sammelnden Wasser ein zwiefältiger zu sein, jedenfalls ist diese Dopplung in der Mythologie und Dichtung mannigfaltig belegt: Vermutlich weil sie Schwelle zwischen Nichtsein und Sein ist, ist die Quelle in vielen Kulturen einerseits als Ort des Lebens selbst und des Lebengebens sowie des Guten, der Gnade, der Liebe, der Weisheit wie andererseits auch als Quelle des Todes und als Dimension des Unheimlichen und Dämonischen begriffen worden. In dieser Doppeldeutigkeit kreuzen sich gewissermaßen die Gegensätze von Dunkel und Licht einerseits und von Geborgen- sowie Verborgensein und von Hervorgehen und Sichtbarwerden andererseits. Das Dunkle kann sowohl als bergend Bewahrendes und dann Hervorgehenlassendes wie auch umgekehrt als bedrohliche Finsternis, als Unheimliches und dämonisch Verschlingendes erlebt werden. Entsprechend kann das Helle sowohl als Aufgegangenes, Geschenktes wie auch als Ausgesetztes und Entblößtes erscheinen. Sowohl das Gute wie das Unheil können als ein Hervorquellen verstanden werden. Das Wasser des Lebens, von dem bei der Begegnung Jesu 87 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

mit der Samariterin am Brunnen die Rede ist, die Quellen des Lebenswassers aus der Apokalypse des Johannes, der Brunnen der Gnade, der Quell der Weisheit, der Wahrheit, der Liebe, – all das zeugt für den »positiven« und lebenspendenden Charakter, der der Quelle immer wieder zugesprochen wurde. Zwei schöne Beispiele hierfür: Zum einen im Frauenlob von Heinrich von Meißen (1843): »Ich bin es, der Brunnen süßen Wassers, Freudenquell des Lebens und der Welt. Ich bin’s … Ich bin das Gebrüll des alten Löwen, der seine Jungen aus den Fluten des Todes ins Lebens ruft.« (In unbekümmertem Bildermix geht es weiter: »Ich bin das Feuer …«) Und zum anderen aus Wagners Tannhäuser, wo Tannhäuser im Sängerwettstreit mit Wolfram um den schönsten Lobpreis der Liebe singt: In vollen Zügen trink’ ich Wonnen, in die kein Zagen je sich mischt: denn unversiegbar ist der Bronnen, wie mein Verlangen nie erlischt. So, daß mein Sehnen ewig brenne, lab an dem Quell ich ewig mich: und wisse, Wolfram, so erkenne der Liebe wahrstes Wesen ich! … Dir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen! Gesungen laut sei jetzt dein Preis von mir! Dein süßer Reiz ist Quelle alles Schönen. In der alten von Ariost in Verse gefaßten Geschichte vom »Rasenden Roland«, Orlando Furioso, begegnen wir einer Quelle, die dem, der daraus trinkt, eine leidenschaftliche Liebe eingibt; auch wenn es hier verderbliche Konsequenzen haben wird, ist das doch zunächst einmal eine Quelle der Lebensfreude und -steigerung. In einem Volkslied wird das 88 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Brünnlein im Schneegebirge besungen, das ewige Jugend verleiht. In der Argolis kann man in einem heutigen Nonnenkloster einen Brunnen sehen, zu dem Hera jeden Frühling wiederkehrte, um ihre Jungfräulichkeit wiederzugewinnen. Oder es könnte auch an das Taufwasser erinnert werden, das ebenfalls eine Art Wiedergeburt, nämlich innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen, bedeutet. Nicht erst, weil sie hervorquellen und entspringen lassen, haben die Brunnen, vor allem aber die Quellen einen weiblichen Charakter. Die Erdgöttin ist Fruchtbarkeitsgöttin; sie ist fruchtbar nicht nur, indem sie gebiert und das Gebären schenkt, sondern ebenso oder zuvor noch, insofern sie überhaupt geschlechtlich ist und in einer antagonistischen Beziehung zur männlichen Sonne bzw. zum ebenfalls in Heiligtümern verehrten Stiergott steht. »Fruchtbarkeit« ist hier – so denke ich – weit zu nehmen; sie bezeichnet nicht nur das Hervorbringen von »Früchten« welcher Art auch immer, sondern sie meint überhaupt den geschlechtlich-zwiespältigen Grundmodus von irdisch-sterblichem Leben im endlichen Entstehen und Bestehen und Vergehen. Die Erdmutter birgt in sich und ist selbst das Wasser, das Leben nicht nur hervorbringt, sondern selbst als Lebenskraft und Lebenssaft wirkt. In vielen Sprachen ist das Wort »Brunnen« – wie die »Quelle« – weiblich. Es ist auffällig, daß es in vielen Kulturen zwei Geschlechter des Wassers gibt. Männlich sind oftmals – wenn auch keineswegs immer, es gibt betont »weibliche« Flüsse, wie etwa die Wolga – die Flüsse und Ströme, also das fließende und strömende, flutende, stets sich verändernde Wasser, während die Seen und auch die Quellen, die stehenden und jedenfalls mehr oder weniger ortsgebundenen Wasser zumeist als weiblich gesehen werden. (Im Deutschen läßt sich keine durchgängige entsprechende Verteilung des Geschlechts feststellen, die beiden größten deutschen Flüsse sind die Elbe und der Rhein. Es gibt sogar neben der Quelle 89 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

auch den Quell, aber wir finden hinsichtlich des grammatikalischen Geschlechts ja auch andere Abweichungen des Deutschen gegenüber anderen Sprachen, besonders auffällig bei Sonne und Mond. Im Hinblick auf das Meer gibt uns das Deutsche die Dreifalt von das Meer, der Ozean und die See). Das Hervorbrechen der Quelle aus dem Gestein – in der Mythologie oftmals entsprechend durch das Aufstoßen und Hineinstoßen eines Stabes, einer Lanze, des Dreizacks von Poseidon oder auch durch einen Pferdehuf hervorgerufen bzw. er-zeugt – wird als Entsprechung zum Geborenwerden eines Lebewesens gesehen, zuweilen auch als aus den Muttertränen einer Göttin oder dem Blut einer Heldin entstanden. (Vgl. hierzu die Untersuchung von Martin Ninck Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten, der ich diese Tatsachen entnehme; 11 ff.) Dem weiblichen Wesen der Brunnen und Quellen entsprechend wohnen in ihnen die Nixen und Nymphen – in Rom hieß der Brunnen nymphaeum –, göttliche Verkörperungen des aus der Erde hervorkommenden Wassers. Aber die Quelle kann eben auch als todbringend oder dämonisch erfahren werden, zuweilen als Tor zu einem der menschlichen Ratio verborgenen und insofern dunklen Wissen um Zukunft und Vergangenheit. In der Erzählung Undine von Friedrich de la Motte-Fouqué läßt die Wasserjungfrau, die durch ihre Liebe zu einem Sterblichen eine Seele erhalten hat und somit menschlich geworden ist, nach ihrer Hochzeit mit dem Ritter den Brunnen in seinem Schloßhof mit einer schweren Platte verschließen, damit der Wassergeist nicht herauskommen und für den Verrat an ihrer Herkunft aus dem feuchten Element Rache nehmen kann. Als der Ritter sich einer Anderen wegen von ihr abwendet, ist sie dazu verdammt, wieder ins Wasser zurückzukehren. Doch ihre Nebenbuhlerin öffnet den Brunnen, und so muß Undine nun aus der ursprünglich von ihr selbst gegen die Gefahr aus 90 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

der Tiefe verschlossenen Brunnenöffnung ihrerseits aufsteigen und dem geliebten Mann den Tod bringen. Die alten Griechen haben verschiedene Verbindungen zwischen den Quellen und dem Reich des Todes, dem Hades, gesehen. So verstand man z. B. bestimmte dunkle Quellen als Eingang zur Unterwelt, wo dann auch berühmte Totenorakel ihren Sitz hatten. Das Nekromanteion in Epirus liegt heute in einer fruchtbaren, touristisch und landwirtschaftlich erschlossenen Flußniederung. Vor Jahrzehnten, als ich zum ersten Mal dort war, war es noch eine sumpfige, von Mücken heimgesuchte Gegend. Aber auch jetzt noch scheinen – die Macht der Namen und des in ihnen aufbewahrten Wissens ist eben stark – Kokytos und Acheron, wenn man auf das träg dem Meer zufließende Wasser schaut, nicht einfach irgendwelche Flüsse zu sein wie andere auch. Und in dem Totenheiligtum selbst, das sich heute – wie die meisten allzu sorgsam ausgegrabenen Stätten – der Erfahrung des Schauders und des Heiligen eher entzieht, gelingt es einem dann vielleicht doch zuweilen, in der Quellhöhle des Totenorakels eine Spur des Unsichtbaren aufzunehmen. Nicht nur durch Schatten- oder Traumbilder der Toten, sondern auch unmittelbar aus der heiligen Quelle konnte das jenseitige Wissen geschöpft werden: das bekannteste Beispiel ist wohl das Quellenheiligtum der Pythia in Delphi, wo der chthonische Apollon einen begeisternden Trunk oder berauschende Dämpfe hervorquellen ließ. Jeweils gehört das jenseitige bzw. mit dem Jenseitigen und Unsichtbaren in Verbindung stehende und Verbindung schaffende Wissen sowohl dem Bereich des Todes wie auch dem des Lebens an, oder vielleicht besser: es steht vor oder über der Trennung beider. Sowohl für die Mächte des Verderbens und der Finsternis wie für die des Heils und der klaren Helle, für die Kräfte des Todes wie des Lebens ist die Quelle ein ausgezeichneter Ort, und das heißt dann auch, daß sie jeweils Ort für die Dimen91 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

sion eines unverstanden in das menschliche Leben hineinragenden Anderen ist, eines Jenseitigen, Unsichtbaren, Unsinnlichen. Dieses Unsinnliche ist nichts Übersinnliches, sofern mit dieser Bezeichnung die meta-physische Trennung eines Nichtsinnlichen, Jenseitigen von einem Irdischen, Sinnlichen fortgeschrieben wird. Es ist aber auch nicht einfach ein bloß Nicht-Sinnliches, Nicht-Sichtbares, d. h. außerhalb des Bereichs von Sinnlichem und Sichtbarem Angesiedeltes. Die Zusammensetzung mit der Vorsilbe Un- drückt zuweilen – und so eben auch bei dem hier gemeinten Unsinnlichen – eine gewisse Eigenständigkeit des scheinbar bloß Negierten aus. Im Gegensatz etwa zum Geschmacklosen oder Geruchlosen, bei dem einfach nur die Möglichkeit, es zu schmecken oder zu riechen negiert wird, ohne daß das etwas über die betreffenden Dinge selbst aussagen würde, kann beim Unsichtbaren, ähnlich wie etwa auch beim Unsagbaren und vor allem beim Undenkbaren mehr ins Spiel kommen; der Entzug oder die Verweigerung konstituieren hier etwas Neues. Das Undenkbare z. B. kann dann nicht einfach nur nicht gedacht werden, das Gedachtwerden wird von ihm nicht lediglich ferngehalten, sondern es ist selbst etwas, dem es positiv zukommt, undenkbar zu sein, sich dem Denken zu entziehen. Das Unsichtbare ist nicht nur und nicht eigentlich das hier oder jetzt gerade nicht Sichtbare, sondern es ist etwas, an das das Sehen grundsätzlich nicht heranreicht, weil es sich selbst dem Sehen verweigert. Entsprechend ist das Unsinnliche, von dem hier die Rede ist, etwas, das in einen Bereich gehört, der »über allen Sinnen« ist. Wo das zugleich klare wie dunkle Wasser aus den Tiefen der Erde hervortritt, manifestiert sich im sinnlich Faßbaren auch ein Anderes, Nichtsinnliches, Unsichtbares, in der Erfahrung des Volkes oftmals in den Quellengeistern, den Nymphen z. B., festgemacht. Vor allem Weissagung und 92 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Dichtung kennen diesen Bereich des »Anderen«, Fremdartigen, das in den Quellen zu Hause ist. »Mit dem Begeisterungstrunk muß es zusammenhängen, wenn die Legende die meisten der großen Dichter zu Söhnen von Nymphen macht, und wenn sie von so vielen zu berichten weiß, sie hätten in feuchten Nymphengrotten ihre Werke geschaffen.« »So soll Homer in einer Grotte bei Smyrna … und Euripides in einer solchen auf Salamis … gedichtet haben.« (Ninck, Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten, 93 und ebd. Anm. 4) Die Nymphen »haben prophetische Kräfte und können Menschen inspirieren, die dadurch nympholeptoi, d. h. von ihnen besessen werden«. (Rose, Griechische Mythologie, 171) Doch wohnt das Fremde und Unsinnliche im Dieshaften, Sichtbaren, es quillt aus diesem hervor. In der Quelle berühren sich Helle und Dunkel, offenes Tageslicht und geheimnisvolle Tiefe, Hiesiges und Dortiges, Alltägliches und Heiliges, Gutes und Verderbliches. Ninck weist darauf hin, daß in der griechischen Mythologie – wie auch in anderen Kulturen – häufig die gespiegelten Bilder im Wasser, die Schatten und die Seelen bzw. die Geister zusammengedacht werden, – »können doch eidolon und skia direkt synonymisch mit Seele gebraucht werden, wie denn viele Völker für die drei Begriffe Seele, Bild und Schatten überhaupt nur einen Ausdruck haben.« (58) (Im Griechischen wird das Spiegelbild im Wasser sowohl als skia, Schatten, wie als eikon, Bild, bezeichnet.) Allen dreien, Bildern, Schatten und Geistern, eignet auf gleichwohl unterschiedliche Weise eine irreale Realität oder reale Irrealität, eine sichtbare Unsichtbarkeit oder unsichtbare Sichtbarkeit. Und alle drei sind Erscheinungsweisen, an denen und durch die Weissagungen kundgetan werden. Ähnlich sind die Schattenbilder der Seelen von Gestorbenen, auf die z. B. Odysseus bei seinem Abstieg in den Hades trifft, Seele, Bild und Schatten in einem. 93 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Interessant ist, auch in bezug auf zuvor zum Hervorquellen aus der Erdtiefe Gesagtes, wie Ninck die Tatsache verdeutlicht, daß in früheren Zeiten Spiegelbild (gemeint ist hier immer das Spiegelbild im Wasser) und Schatten der Seele gleichgesetzt werden konnten. Ich zitiere ausführlich, u. a. weil hier Momente der Spiegelung im Wasser zur Sprache kommen, um die es im folgenden Kapitel zu tun ist: »Gemeinsam ist dem Bild und dem Schatten ferner, daß sie das Abbild stets in der Tiefe wiedergeben. Der Schatten ist gebunden an die Erde. … Ganz ebenso das Bild, das vom Wasser zurückgeworfen wird. Ist es doch Eigenschaft des Wassers, daß darin das Bild immer in der Tiefe erscheint. Bild und Schatten stehen also in Verbindung mit der Erdtiefe, weisen dorthin, wohin der Mensch nach dem Tode kommen wird. … man wird im Tode ganz Eidolon, gibt darum gerne dem Toten Spiegel ins Grab mit; den Spiegel eines Sterbenden aber verhängt man, damit darin nicht das Totenbild erscheine und noch länger unter den Lebenden weile, wohin es nicht gehört.« (63) Und: »Bild und Schatten entbehren … völlig der Schwere und mit ihnen auch wieder die Totenseele.« »Mit der Leichtigkeit ist schon gegeben die ruhelose Beweglichkeit. Wie das Spiegelbild auf gespenstische Weise plötzlich im Wasser auftaucht und sich im Spiel der Wellen regt und bewegt, wie der Schatten mühelos steile Höhen erklettert …, so schwirren die Seelen im Hades und schweifen die Träume im Dunkelraum des Schläfers umher … Da in dieser Weise das flüchtige Bild und die Seele weder an Raum noch an Zeit gebunden scheinen, so haben beide die Fähigkeit, ganz beliebig zu erscheinen. Bild, Traumbild, Wachvision und Totengespenst können alle mit gleichem Ausdruck als ›Erscheinungen‹, phantasiai, phantasmata … bezeichnet werden.« (66 ff.)

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Wasser-Spiegel Die vielleicht geheimnisvollste Eigenart des Wassers ist, daß es spiegelt. Zusammenhängend damit bzw. die Voraussetzung dafür ist, daß der Wasserspiegel, wenn er nicht gestört wird, glatt ist, sich als ebene Fläche ausbreitet. Wenn ich in Montaretto, 300 m über dem Meer, an windstillen Tagen über die Wasserfläche des ligurischen Mittelmeers schaue, spiegeln unterschiedliche Färbungen zwischen grau, blau und türkis, hell und dunkel die Wolken. Auch die warmen und kalten Strahlenbahnen, die die tiefstehende Sonne und der Mond über das Meer werfen, sind eine Art Spiegelung. Am Atlantik sah ich einmal frühmorgens die zarte Spiegelung der Venus auf dem Meer. »Vom flammenroten Wiederscheine brennt des Meeres Spiegel und das Firmament.« (Schiller, Aeneis, 440) Himmelsspiegelungen im Meer sind zumeist merkwürdig gestaltlos, es sind eher Licht- und Farbflächen, ohne scharfe Umrisse. Für die Bedeutung, die das Spiegeln des Wassers in der menschlichen Imagination gewonnen hat, ist die Spiegelung im Meer von geringerer Bedeutung als die in begrenzten Wasserflächen, in Brunnen, Teichen und Seen, in Bächen, manchmal in Flüssen. Auch hier ist es der Himmel, der sich in ihnen spiegelt; aber dazu kommt in besonderer Weise das, was sich an ihren Rändern befindet, Bäume, Häuser, Menschen. Zwar spiegeln sich auch im Meer Felsen und Inseln, Schiffe und Boote, aber sie fallen, wenn man an den MeeresSpiegel im Ganzen denkt, der der große Spiegel des Himmels ist, kaum ins Gewicht. Das Phänomen des Spiegelns bzw. Gespiegeltwerdens übt auf die menschliche Einbildungskraft und das Reflexionsvermögen eine starke Anziehungskraft aus. Es gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich selbst in Augenschein zu nehmen, zumal das eigene Gesicht und das eigene Sehen, 95 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

die ihm sonst natürlicherweise entzogen bleiben. Wegen dieser ausgezeichneten Möglichkeit des Sich-selbstsehens erscheint der Mensch als das vorrangig Gespiegelte. Hier geht es jetzt natürlich nicht allgemein um das Phänomen der Spiegelung – in Spiegeln aus Glas, Kristall oder poliertem Erz –, sondern allein um die spiegelnde Wasserfläche. Und gerade, was sie anbetrifft, ist es ein merkwürdiges und geheimnisvolles Phänomen – auch wenn es in der Optik befriedigend erklärt wird –, daß die Spiegelfläche die Gegenstände und uns selbst zu zeigen vermag, als kämen sie uns aus dem Wasser selbst entgegen. »Ist es doch Eigenschaft des Wassers, daß darin das Bild immer in der Tiefe erscheint«, hörten wir gerade. Was uns da entgegenblickt, scheint ein selbständiges Sein zu haben und ist doch in seltsamer Weise nichts. Im Spiegel scheint sich so etwas wie ein Zauber zu befinden, so daß er, wie z. B. Schneewittchens »Spieglein an der Wand«, in vielen alten Geschichten seinen Platz gefunden hat. Auffallend ist auch, daß wir immer wieder Spiegeln oder Spiegelfassungen als Grabbeilagen begegnen. Und ein altes serbisches Lied beschwört den Weissagungszauber des Wasserspiegels: »neige dich hinab aufs brunnenwasser, daß dein antlitz du im spiegel schauest, siehest dorten, wann du sterben wirst« (zitiert nach Grimm, Bd. 16, 2227). In frühen Zeiten gab die glatte Wasserfläche zunächst einmal die einzige natürliche Möglichkeit, sich zu spiegeln. Während wir heute überall auf Spiegelflächen stoßen, waren es damals natürlicherweise nur die Pfützen, Seen und Flüsse, die den Menschen sich selbst zum sichtbaren Gegenüber werden ließen. Auch Narziß’ Schicksal setzt ja dieses Außergewöhnliche der erstmaligen Erfahrung des Gespiegeltwerdens des Selbst voraus. Was ich oben schon für die Quelle sagte, gilt mehr noch für jeden Wasser-Spiegel: sehen wir ihn an oder genauer in 96 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ihn hinein, so sieht er bzw. eben das Spiegelbild uns an; wir werden von dem Erblickten angeblickt. Auf geheimnisvolle Weise sind das Spiegelphänomen und die Eigenart unseres Sehens miteinander verknüpft, wie es ja auch enge sprachliche Verbindungen zwischen beiden gibt (z. B. »reflektieren« oder »spekulieren«). Wir können sogar das Sehen selbst als ein Spiegeln des Gesehenen begreifen. Nikolaus von Cues (De docta ignorantia I, 41) sagt, »daß der Schöpfer auf diese Weise wie im Spiegel und Gleichnis für die Geschöpfe [quasi in speculo et in aenigmate] dem erkennenden Blick zugänglich wird«. Der unsichtbare Gott wird gespiegelt, er wird als Unsichtbarer in der Sichtbarkeit der irdischen Dinge wie in einer Geheimschrift – Spiegel und Rätsel stehen hier nebeneinander – sichtbar. (Wenn ich mich bei der Betrachtung des Wasser-Spiegels auf Zeugnisse aus Dichtung und Literatur stütze, so beziehe ich mich damit auf die Spiegelung des Spiegelns der Wasserflächen in Gedichten u. ä.) Die natürliche Zusammengehörigkeit von Spiegel und Sehen findet, so scheint mir, ihre Entsprechung da, wo das Wasser und das Sehen bzw. das Auge in engem Zusammenhang gesehen werden. »ein ocean der tiefe ist das auge«, sagt Nikolaus Lenau (zitiert nach Grimm, Bd. 21, 488) Immer wieder treffen wir auf eine Verbindung gerade von Brunnen und Sehen oder Auge, z. B. auch darin, daß es im Hebräischen ein selbes Wort für Auge und für Brunnen gibt. Zarathustra sagt mit Blick auf das »Gesindel« der »Unreinen«: »Sie warfen ihr Auge hinab in den Brunnen: nun glänzt mir ihr widriges Lächeln herauf aus dem Brunnen. / Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Lüsternheit; und als sie ihre schmutzigen Träume Lust nannten, vergifteten sie auch noch die Worte.« (120) In Stefan Andres’ Geschichte vom Knaben im Brunnen, die ich gleich noch ausführlicher heranziehen werde, heißt es: »Der runde Spiegel des Wassers sah wie ein Auge aus, das mich starr und zornig anblickte.« (32) Bache97 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

lard nennt den See einmal »ein großes ruhiges Auge«. Und er fährt fort: »Der See nimmt das ganze Licht und macht eine Welt daraus. Von ihm wird die Welt je schon betrachtet, wird die Welt vorgestellt. … Beim See versteht man die alte physiologische Theorie von der aktiven Sicht [vision active]. Für die aktive Sicht scheint es, daß das Auge Licht hervorbringt, daß es selbst seine Bilder erhellt.« (L’eau et les rêves, 41) Und ein paar Seiten weiter: »Das wahrhafte Auge der Erde ist das Wasser.« (45) Wozu Bachelard Paul Claudel zitiert: »Das Wasser ist so der Blick der Erde, seine Vorrichtung, die Zeit anzuschauen.« Es ist ein schöner Gedanke, die Seen, Teiche und Brunnen als ebenso viele Augen anzusehen, mit denen die Erde zu ihrem Anderen, zum Himmel aufblickt (auch wenn das Gesehene für Claudel nicht der Himmel, sondern die Zeit ist, die vielleicht aber ihrerseits Ausdruck des Himmels ist, – oder umgekehrt?). Die Brunnen schauen zum Himmel auf, indem sie ihn, der auf sie hinabschaut, widerspiegeln. * Am bekanntesten ist zweifellos das Gespiegeltwerden durch eine Wasserfläche in der Erzählung von Narziß, der, ähnlich wie Ödipus und Odysseus, eine immer wieder in Anspruch genommene Bezugsfigur der abendländischen Geistesgeschichte ist. Ich beschränke mich hier auf die ursprüngliche Erzählung von Ovid, gebe jedoch zunächst noch zwei schöne, nachdenkliche Bemerkungen wieder, die ich allerdings beide nicht genau wörtlich zitieren kann. Die erste findet sich bei Oscar Wilde und lautet ungefähr so: »Als Narziß gestorben war, fragten die Nymphen den See, ob er wirklich so schön gewesen. Und der See antwortete: ›Ich weiß es nicht, ich habe immer nur mein Bild in seinen Pupillen angeschaut.‹« Und

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die zweite bei René Char: »Narziß hätte nicht schauen, er hätte trinken sollen.« Bei Ovid heißt es von Narziß: Doch wie den Durst er zu stillen begehrt, erwächst ihm ein andrer Durst: beim Trinken erblickt er herrliche Schönheit; ergriffen Liebt er ein körperlos Schemen: was Wasser ist, hält er für Körper. Reglos staunt er sich an, mit unbeweglichem Antlitz, Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist. Liegend am Boden erschaut er das Doppelgestirn seiner Augen, Sieht seine Haare – sie hätten Apollo geziert oder Bacchus –, Sieht die Wangen der Jugend, den Hals, der wie Elfenbein schimmert, Seinen so zierlichen Mund und die Farbe von Schnee und von Rosen. Alles bewundert er jetzt, weshalb ihn die andern bewundern: Sich begehrt er, der Tor, der Liebende ist der Geliebte, Und der Ersehnte der Sehnende, Zunder zugleich und Entflammter. Oh, wie küßt’ er so oft – vergeblich! – die trügende Quelle, Tauchte die Arme so oft in das Wasser, den Hals zu umschlingen, Den er erschaut, und kann sich doch selbst im Gewässer nicht fassen. Was er ersieht, nicht weiß er’s; er sieht’s, und es setzt ihn in Flammen, 99 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Und seine Augen betrügt und entzündet der nämliche Irrtum. Gläubiger Knabe, du haschest vergeblich nach flüchtigen Bildern! Nirgends ist, was du ersehnst; was du liebst, du wirst es vernichten, Wenn du dich wendest; du siehst nur ein nichtiges Spiegelgebilde; Eigenes Wesen gebricht ihm: mit dir erscheint es und dauert, Mit dir geht es hinweg – wofern du zu gehen vermöchtest! Weder der Hunger noch Ruhebedürfnis vermag von der Stelle Ihn zu vertreiben: er schaut, im beschatteten Grase gelagert, Hin nach der Lügengestalt mit niemals gesättigtem Blicke Ganz durch die eigenen Augen vernichtet. Dann ruft er, ein wenig Aufgerichtet, die Arme zu den rings stehenden Bäumen Breitend: »Hat je ein Mensch so grausam geliebt, o ihr Wälder?« (Metamorphosen 3, 415–442) Unter anderem geht es in dieser Geschichte um die Sichtbarkeit. Narziß, der stets jede liebende Annäherung – von Frauen und von Jünglingen, vor allem aber die Liebe der Nymphe Echo – verschmäht hatte, sah einmal, als er aus einer Quelle trank, seine eigene Gestalt im Wasser und wurde von der »herrlichen Schönheit« dieses Körpers zu Bewunderung und Liebe verführt. Sein Körper wurde ihm ein unabhängig Sichtbares, seine eigene Sichtbarkeit bot sich ihm im Bild selbst dar, der Sehende wurde zum – von ihm selbst 100 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Gesehenen. Das Wasser wurde zum Vermittelnden einer Sicht, die sonst, »eigentlich«, dem Menschen entzogen ist, obgleich sie für die Anderen eine selbstverständliche Wirklichkeit ist. Wir können uns selbst sowohl hören wie riechen, tasten und schmecken, aber die Außensicht auf uns selbst als ganze ist uns natürlicherweise verwehrt. Andererseits ist, sich im Spiegel, hier im Wasserspiegel, zu sehen, doch auch nichts »Unnatürliches«. Gleichwohl hat dieses Sehen einen merkwürdigen Charakter, weil es etwas Anderes, ein Gegenüber sieht, das doch zugleich kein Gegenüber, vielmehr der Sehende selbst ist. Bei Narziß war es die Erfüllung eines zunächst unverständlichen Seherspruches bei seiner Geburt (in welcher Geburt selbst schon zweifach der Bezug zum Wasser gegeben war, insofern er der Sohn eines Flußgottes und einer Nymphe war), daß er nämlich nur zu hohem Alter gelangen würde, wenn er sich fremd bliebe. Sein sehender Selbstbezug aber, mit dem er scheinbar aus sich heraustrat, um sich von außen, wie einen Fremden, Anderen anzuschauen, hob die ursprüngliche Fremdheit des Menschen zu sich selbst auf, der Seherspruch erfüllte sich; so siechte er dahin und starb. Adam und Eva sahen, als sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, in ihrem je Anderen, wie sie selbst aussahen, und sie schämten sich. Narziß schämte sich nicht, als er sich selbst zu Gesicht bekam, – es gab ja keinen wirklich Anderen. Aber auch für ihn bedeutete dieses Sehen das Los der Sterblichkeit. Er starb an sich selbst. Das Sehen ist eine Art von Sich-zu-eigen-machen, eine gewisse Inbesitznahme. Aber diese Inbesitznahme braucht, wenn sie die Andersheit ihres Gegenüber nicht tilgen, sondern wahren will, zugleich eine gewisse Distanz, die Distanz eben der Andersheit als solcher, des Fremdseins, das zugleich eine Fremdheit zu sich selbst impliziert, die Narziß verloren hat. Offenbar verweist das Sichtbare, wenn eine Beziehung zu ihm aufgenommen werden soll, zugleich auf ein Unsicht101 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

barbleibendes, es tritt nicht vollständig in die Offenheit des Gesehenwerdens, sondern bedarf einer gewahrten Verborgenheit. Narziß verfehlt sie, indem er sich sieht. Der Quell, der das Bild des über ihn Geneigten wie ein eigenes Wesen widerspiegelt, gibt jedoch nur ein »körperlos Schemen«, ein »nichtiges Spiegelgebilde«, ist nur Wasser, »trügende Quelle«, »Lügengestalt«. Die im Wasser gespiegelten Gestalten sind nur Bilder, also Schein, vergänglich und flüchtig, zudem abhängig von der Anwesenheit des sich Spiegelnden. »Was du liebst, du wirst es vernichten, / Wenn du dich wendest.« Mit dem Schmerz des unerfüllbaren Selbst-Begehrens, das der Jüngling angesichts seines Spiegelbilds empfindet, erfüllt sich zugleich der Fluch, den einer der verschmähten Liebenden gegen ihn ausgesprochen hatte: »Möge er selbst so [d. h. mit einer solchen verzehrenden Leidenschaft wie ich] lieben und nie das Geliebte besitzen!« (3, 405) Das Eigentümliche der Spiegelung im Wasser liegt darin, daß das Bild, das es zurückwirft, re-flektiert, keine Körperlichkeit und Tiefe, keine irgendwie faßbare Wirklichkeit hat, daß aber seine, des Wassers, eigene Körperlichkeit oder Raumhaftigkeit der selbst nicht faßbare Hintergrund oder auch Träger des Bildes ist. Narziß versucht, sein Ebenbild zu umarmen und zu küssen, aber sein Verlangen taucht in ein fremdes Element, das ihn auf unbegreifliche Weise – »nur ein winziges Wasser« (450) – von jenem Anderen, der er selbst ist, trennt. Er sieht diesen Anderen, hat ihn vor sich, – und er kann ihn zugleich nicht fassen, nicht im wörtlichen Sinne wahr-nehmen. Insofern ist das ihm scheinbar unmittelbar Sichtbare doch zugleich ebenso und schmerzlich unsichtbar, weil ungreifbar. *

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Die glatte Wasseroberfläche spiegelt das, was in sie hineinblickt, als ein schwebend verfließendes Bild. Aber das Bild kann getrübt werden. Die Spiegelbilder bedürfen der Glätte und so in gewissem Sinne der Unberührtheit der Wasseroberfläche. Die Beweglichkeit, eine Grundeigenschaft des Wassers, stellt sich seiner Spiegelungsfähigkeit entgegen. (Nebenbei sei bemerkt, daß es umgekehrt auch das Wasser selbst ist, nämlich als Wasserdampf bzw. Luftfeuchtigkeit, was die Spiegelungsfähigkeit von anderem, etwa des Kristallspiegels, behindert.) Wird die Ruhe und damit die Glätte der Wasseroberfläche gestört, so verschwindet das Bild. Dieses Verschwinden erscheint oftmals als eine Täuschung oder auch eine Enttäuschung, jeweils ist es dann Teil einer Geschichte. Drei sehr unterschiedliche Geschichten einer Trübung des Wassers und damit des Spiegelbilds möchte ich wiedergeben, die jeweils für sich sprechen. Zunächst das Gedicht Tränenregen von Wilhelm Müller, das Franz Schubert in seiner »Schönen Müllerin« vertont hat: Wir saßen so traulich beisammen Im kühlen Erlendach, Wir schauten so traulich zusammen Hinab in den rieselnden Bach. Der Mond war auch gekommen, Die Sternlein hinterdrein, Und schauten so traulich zusammen In den silbernen Spiegel hinein. Ich sah nach keinem Monde, Nach keinem Sternenschein, Ich schaute nach ihrem Bilde, Nach ihren Augen allein.

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Und sahe sie nicken und blicken Herauf aus dem seligen Bach, Die Blümlein am Ufer, die blauen, Sie nickten und blickten ihr nach. Und in den Bach versunken Der ganze Himmel schien, Und wollte mich mit hinunter In seine Tiefe ziehn. Und über den Wolken und Sternen Da rieselte munter der Bach Und rief mit Singen und Klingen: Geselle, Geselle, mir nach! Da gingen die Augen mir über, Da ward es im Spiegel so kraus; Sie sprach: es kommt ein Regen, Ade, ich geh nach Haus. Der Dichter sieht sein Gesicht und das seines Mädchens im Wasser gleichsam aus dem Himmel selbst hervorblicken. »Und in den Bach versunken der ganze Himmel schien, und wollte mich mit hinunter in seine Tiefe ziehn.« Oben und Unten sind verkehrt, über den Wolken und Sternen, über der Bläue des Himmels fließt noch der Bach dahin und scheint das Miteinander dessen, was sich in ihm spiegelt, mit sich fortziehen zu wollen. Alle Realität wird bloße Erscheinung, all das, was sicher und wirklich schien, wird unwirklich und unsicher. Das ergreift den Dichter so, daß er zu weinen beginnt, daß seine Tränen ins Wasser fallen. Die Tränen kräuseln und trüben das Spiegelbild. Die Irrealität wird ihrerseits irreal. Damit aber dem Realitätssinn nicht zugäng-

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lich. »Sie sprach: es kommt ein Regen, ade, ich geh nach Haus.« Und ein zweites Beispiel: Stefan Andres erzählt in seinem Roman Der Knabe im Brunnen, wie der Ich-Erzähler als kleines Kind im Brunnen sein Spiegel-Bild entdeckt und, ebenso wie Narziß, nicht versteht, daß da »in Wirklichkeit« gar kein Knabe im Brunnen ist, er vielmehr nur sich selbst betrachtet: »So schob ich einen der herumliegenden Steine herbei, stellte mich drauf, blickte in die Tiefe – und erschrak zuerst wie vielleicht noch niemals bis zu dieser Stunde. Der Schrecken war aber gemischt mit Wonne, die immer stärker wurde und zuletzt über den Schrecken siegte. Drunten sah ich einen kleinen Jungen heraufblicken. … Unter ihm war der Himmel, so wie bei mir der Himmel über mir war, – das sah ich ganz deutlich. Und ich beugte mich weiter über den Brunnenrand hinaus. Nun bemerkte ich, daß der Knabe im Brunnen dasselbe tat. Ich empfand das als ein Zeichen, daß auch er mich besser sehen wollte. Wenn ich jetzt zu ihm in den Brunnen stürzte, so fragte ich mich, ob ich dann wohl bis in den Himmel drunten hinabsinken würde? Der Knabe drunten war zwar nicht bis in den Himmel hinuntergefallen, aber wenn er es wollte, könnte er sich sofort in das endlose Blau sinken lassen. Er stand ja auf dem Kopf wie die Fliegen, wenn sie an der Stubendecke saßen. Das mußte lustig sein! Und so zu sinken – immer tiefer – bis in den Himmel hinab! Aber vielleicht blieb ich zuerst einmal bei dem Knaben im Brunnen und half ihm beim Gänsehüten. Die Wiesen liegen da drunten wohl auch um den Brunnen herum, nur daß alles auf dem Kopf steht!« Er versucht dann, mit dem anderen Jungen zu kommunizieren, und fühlt sich von ihm verhöhnt, weil er ihn stets nur nachahmt. »Da warf ich blitzschnell den Stein, den ich noch immer in der Hand hielt, in die Tiefe. Ich wollte ihn treffen, aber es gab einen dunklen, klatschenden Laut, und 111 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

der Junge und der Himmel dahinter und auch der Brunnenrand, über den er sich bückte, waren verschwunden … Ich spähte schnell nach allen Richtungen, ob jemand meinen Steinwurf beobachtet hätte, dann näherte ich mich wieder dem Brunnenrand. Aber als ich schnell hinabschaute, sah ich nichts als ein leises Zittern. Der runde Spiegel des Wassers sah wie ein Auge aus, das mich starr und zornig anblickte. Ich zog meinen Kopf sofort zurück und ging davon.« (30 ff.) Der spielende Knabe erfaßt so wenig wie Narziß, daß das Bild dort unten sein eigenes ist, daß er von dem scheinhaften Anderen des Spiegels keine ihm zugedachte Reaktion zu erwarten hat. Die Irrealität erscheint als real. Das Getrübtwerden des Wasserspiegels bedeutet dann so etwas wie die Zurechtrückung der vorherigen Realität: was zurückblickt, ist das Auge des Wasserspiegels, nicht der vermeintliche Spielgefährte. So bleibt nichts, als sich zurückzuziehen und davonzugehen. Und schließlich führe ich noch Peter Härtlings Gedicht Nürtingen, Neckarbrücke an: Nur das Spiegelbild im Neckar: die Haut der Häuser, die Wasserhaut der Häuser, die ein Taucher ahnungslos verletzt zurückgekehrt vom Grund, treibt er die Schwäne ins alte Wirtshaus und nimmt den Zeigern an der Turmuhr ihren Halt. 112 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Härtling selbst schreibt dazu: »Ein Blick schafft die Ansicht. Natürlich ist es mein Blick, der des Autors. Jedoch bin ich ebenso der Taucher, der das Bild stört, der aufsteigt aus dem Fluß der Kindheit, aus der Vergangenheit. / Trennt das Wasser, der Fluß Lethe, nicht das Leben vom Tod? Schenkt das Wasser, schöpft und trinkt man es, nicht Vergessen?« (Das wandernde Wasser, 36) Die Irrealität ist jetzt nicht allein durch die Scheinhaftigkeit des Spiegelbilds gegeben. Die spiegelnde Tiefe des Wassers erscheint zugleich als die Tiefe der Zeit. Der Taucher taucht in die und aus der Vergangenheit. Die Häuser spiegeln sich im Wasser. Aber was man sieht, das sind nicht die Häuser, es ist lediglich ihre Außenseite. Doch auch die ist nicht die wirkliche, vielmehr nur die verletzliche Wasserhaut, die durch eine einfache Bewegung, wie die des Tauchers, gestört werden kann. Gestört, nicht einfach zerstört; unwillkürlich bringt der Blickende seine eigene Vergänglichkeit in den Fluß, eine Ordnung wie im Traum, die der taghellen Wirklichkeit fremd ist und doch deren Elemente zu ihrem Spiel benutzt. »Und nimmt den Zeigern an der Turmuhr ihren Halt.« Die buchstäblich, körperlich-sinnlich angeschaute Zeit wird im Wasser in Bewegung gebracht, sie verliert ihre runde Ordnung, zerfließt. Der Spiegel ist getrübt. * Hermann und Dorothea sahen »gespiegelt ihr Bild in der Bläue des Himmels schwanken und nickten sich zu und grüßten sich freundlich im Spiegel«, als sie am Brunnen unter der Linde zusammentrafen. In dem Tränenregen-Gedicht erschien der Himmel im vorbeifließenden Wasser des »seligen Baches« gespiegelt, womit Oben und Unten verkehrt wurden. Und auch der Knabe im Brunnen spielte vor dem »Him113 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

mel drunten«. Ohnehin zeigt sich immer wieder, daß das Wasser eine besondere Beziehung zum Himmel hat, – u. a. schon dadurch, daß es dem Himmel und der Erde zugleich zugehört bzw. entstammt. Besonders deutlich aber kommt diese Beziehung in seiner Spiegelungsfähigkeit zum Ausdruck. Es ist nicht nur unser eigenes Bild oder das Bild der uns und das Wasser umgebenden Dinge, das uns vom Wasser widergespiegelt wird bzw. das im Wasser betrachtet werden kann. Vielmehr zeigt sich auch, und nicht zufällig, der Himmel im Wasser: »Der ganze Himmel schien in den Bach versunken.« Oftmals erscheint er als Hintergrund des jeweilig sich Spiegelnden. In Goethes Der Fischer verbinden sich beide Spiegelungen, die des Himmels bzw. von Sonne und Mond und die des menschlichen Gesichts: Labt sich die liebe Sonne nicht, Der Mond sich nicht im Meer? Kehrt wellenatmend ihr Gesicht Nicht doppelt schöner her? Lockt dich der tiefe Himmel nicht, Das feuchtverklärte Blau? Lockt dich dein eigen Angesicht Nicht her in ew’gen Tau? Eine Aufzeichnung von Peter Handke lautet: »Nach langem Blick in den Himmel zeigt sich auf der Erde viel Raum; aber am tiefsten und ruhigsten in den Himmel schaue ich doch mit einem Blick auf die Erde: in einen Teich. Die Stirn dann an einen Baum gelehnt, und das Herz beginnt zu schlagen«. (Die Geschichte des Bleistifts, 313) Die Wasseroberfläche des Teiches bildet so etwas wie eine Berührungsfläche zwischen Himmel und Erde. Sie gehört sowohl zum Himmel wie zur Erde, wie das Wasser ja durchgängig an beiden Bereichen teilhat. Es kommt vom Himmel auf die Erde und kehrt von 114 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ihr, teilweise durch sie hindurch, zum Himmel zurück, um wiederum auf die Erde hinabzuregnen. So ist jener Teich eine beide verbindende Phase auf dem immerwährenden Weg des Wassers über/durch Himmel und Erde. Die Erde andererseits hat die wassergesättigte Atmosphäre zu ihrer Lebensvoraussetzung, und zugleich sammelt es sich auf ihr als seinem Untergrund, in Meeren, Strömen, Bächen und Seen; das Wasser ist darum auch und in besonderer Weise Teil der Erde. Es erscheint als ein Vermittelndes, weil Verbindendes von Unsichtbarem und Sichtbarem: es ist nicht einfach nur ein Drittes neben Himmel und Erde, sondern es ist selbst sowohl himmlisch wie irdisch. »Am tiefsten und ruhigsten in den Himmel schaue ich doch mit einem Blick auf die Erde: in einen Teich.« Vielleicht ist ja, geschichtlich gesehen, die Kluft zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sinnlichkeit und Unsinnlichkeit gerade da aufgerissen worden, wo die zwiefältige Einheit von Erde und Himmel aus dem Blick geriet und damit auch das Irdische in das Materielle und die Materie und das Himmlische in das Immaterielle, etwa als Form und Gestalt und Wesen, als eidos, uminterpretiert wurde. So bekommt dann das Sichtbare seinen vorrangigen Charakter der Kompaktheit, es wird assoziiert mit Begrenztheit, Dinglichkeit im Sinne von Substantialität und substantieller Ausgedehntheit, während das Himmlische als das Geistige, dann das Subjekthafte und Denkende, als res cogitans zum die Materialität Durchdringenden und Erfüllenden wird. Das Spiegelbild ist ein Produkt der Kommunikation zwischen Oben und Unten, zwischen Himmel und Erde. Es könnte so scheinen, als sei der Himmel nur eines unter unendlich vielen möglichen Objekten der Widerspiegelung durch das Wasser. Aber ist der Himmel nicht vielmehr das Gespiegelte par excellence oder »von Natur«? Bachelard nannte den See »ein großes ruhiges Auge«. Das Erste und 115 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Vornehmliche, wohin das Wasser blickt, ist der Himmel. Und die Menschen, die sich in ihm spiegeln, spiegeln sich vor dem Hintergrund des Himmels, werden gewissermaßen vor den Himmel gehalten. In den Spiegelungen des Himmels im Wasser sehen wir, so könnte man vielleicht sagen, so etwas wie ein Ansichhalten, eine Konzentration oder Selbstzusammennahme in eine in sich bewegte Ruhe, in der Himmel und Erde das Spiel von Realität und Irrealität, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Sein und Nichtsein zwischen sich geschehen lassen. In zwei kleinen Passagen aus Sartres Reflexionen aus bzw. über Venedig taucht, wo von der Spiegelung der Stadt und ihres Besuchers im Wasser die Rede ist, ebenfalls der Himmel auf. Zum einen: »Und doch ist diese Stadt narzißtisch, sie hat ein dunkles Gefallen an sich selbst: das Wasser. Sie schaut sich in kleinen Portionen von Nacktheit an, rosa, zittert sie ein wenig in dunklem Abend und, rosa, in Himmel; sie schlängelt sich, sie hat verschämtes Gefallen an sich.« (Sartre, Venedig. Irreflexivität, Narzißmus, Tiefe, 133) Rosa zittert die Stadt in Himmel: in schwermütigem Selbstgefallen spiegeln sich ihre alten Palazzi, ihr Bild leicht gebrochen durch kaum wahrnehmbare Wellen. Und: »Eine Brücke, ich beuge mich hinüber; langsam, heimtückisch wie jene Chinesen in den Kriminalromanen, die man nie kommen hört, taucht eine Gondel unter der Brücke auf, und mit einemmal kommt es mir vor, als würde sie entzweigeschnitten und als wäre das Wasser wirklich Glas geworden. Ich sehe mich über die Brücke gebeugt, ich sehe den Himmel. Ein Loch aus glasigem Himmel im Wasser. Es ist ein Spiegelschrank, der auf dem Rücken dahingleitet, davongetragen von einer Umzugsgondel.« (136 f.) Das ist eine raffinierte, selbst re-flektierende, sich in sich selber spiegelnde Beobachtung. Das Spiegelbild von Brücke, über das Geländer gebeugtem Betrachter und Himmel wird 116 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

unversehens gebrochen durch das Dazwischengleiten einer Gondel. Doch taucht es unmittelbar wieder auf, fast surrealistisch verändert. Der Himmel erscheint auf der Fläche eines Spiegelschranks, der auf dem Boot liegt, so daß es scheint, als lasse dieses, ein Loch, durch das spiegelnde Wasser hindurch den Himmel selbst erblicken. Für den kurzen Augenblick des Dahinziehens der Gondel entsteht eine Unsicherheit von Oben und Unten, Realem und Irrealem, Wirklichkeit und Schein. Dieses Spiegelbild spiegelt, genährt und stimuliert durch die Erfahrung des Phänomens »Venedig« selbst, in der Flüchtigkeit des Gespiegelten wesenhafte Wesenlosigkeit und wirkliche Unwirklichkeit. Als Kontrapunkt gewissermaßen zu der übersensiblen Beobachtung von Sartre möchte ich noch ein paar Mondspiegelungs-Erfahrungen anführen, einige wenige aus einer großen Zahl. Zunächst erinnere ich daran, daß die Spiegelung des Mondes auf dem Wasser eines der zehn buddhistischen Bilder für die Leere ist. Ein Zen-Kōân lautet: »Wenn ich das Wasser schöpfe, ist der Mond in meiner Hand.« Und in verschiedenen Haiku wird die stille und gestillte Spiegelung des Himmels im Wasser gedichtet. So etwa, wie früher schon zitiert: Im alten Brunnen Am Grunde noch ein Schimmer Gestirn und Mondnacht. (Hyakken) Auch bei Jean Paul, im Hesperus, begegnet uns die Spiegelung des Mondes im Wasser: »ich kann oft noch bei Mondschein an die Bäche hinausgehen und eine Blume aufsuchen, die vor dem fließenden Spiegel zittert und um welche ein Mond oben und einer unten schimmert.« (991)

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Und schließlich ein Vierzeiler des Sufi-Dichters Dschalaluddin Rumi aus dem 13. Jahrhundert: O Freund, von deinem Herzen zu meinem führt ein Weg; Mein Herz hat es gefunden, das Wissen um den Weg. Mein Herz, es ist wie Wasser, das einen Spiegel trägt – Zu diesem Wasserspiegel sucht sich der Mond den Weg. (E 320a5) Im Spiegeln des Spiegels schwingt hier eine Gegenwendigkeit: Er spiegelt das Gespiegelte, und dieses spiegelt sich im Spiegel bzw. auf der Spiegelfläche. Beide, das wie ein Wasserspiegel spiegelnde Herz und der Mond, spielen sich gegenseitig ihrem Gegenüber zu. So führt ein Weg vom Herzen des Geliebten zu dem des Liebenden, ein Weg, der zugleich vom Liebenden erst zu wissen und zu finden ist bzw. gefunden worden sein muß. Oder in umgekehrter Richtung gesprochen: Der vom liebenden Herzen gefundene Weg ist für das Licht des Mondes doch auch erst zu suchen, so daß er sich in ihm spiegeln kann. Spiegelnd gehen beide von sich aus und werden beide vom Anderen erreicht, – sie lieben und werden geliebt. Oh, diese Stille: Im See am Grund des Wassers Die Haufenwolken! (Issa) Zum Spiegeln gehört immer eine gewisse Stille – auch dann, wenn sie nicht die Intensität und erfüllte Leere der ostasiatischen Erfahrung hat –, weil nur das stille, nicht getrübte Wasser das Bild des Hineinblickenden – des Himmels, der Menschen, der Gegenstände – wiedergeben kann. Eben dar118 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

um kann das Spiegeln dann doch auch nur als eine immer prekäre Ausnahmeerscheinung des Wassers erscheinen, die sogar seinem ureigensten Charakter widerspräche. Denn das Wasser ist bewegt und fließt. Das Fließen und Strömen, zumal das wild bewegte, reißende und rauschende und wirbelnde Strömen, erlaubt kein Spiegeln. Panta rhei – alles fließt, soll Heraklit gesagt haben. Zwar fließt das Wasser nicht immer, es kann sich im See und Teich, im Brunnen, in der Pfütze in einer stillen Oberfläche sammeln. Doch liegt darin zugleich ein Schein, wie das stille Spiegeln selbst ein Erzeugen von Schein ist. Der stillste See ist selbst noch ansichhaltende Bewegung. Auch sein Wasser tritt hervor und verdunstet und versickert, gehört in den vertikalen Kreislauf des Wassers. Und auch sein Wasser fließt in der geneigten Horizontale ab, wenn man ihm nur den Weg öffnet. Es wird Zeit, daß ich mich dem Fließen des Wassers und dann den Flüssen selbst zuwende.

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Flüsse

Das Fließen Die Philosophie läßt sich nicht mehr in Sätze fassen, ich meine in Grund- und Leitsätze, wie sie in früheren Zeiten formuliert wurden. Um nur an einige der bekannteren zu erinnern: »To gar auto noein esti te kai einai« – »das Selbe ist zu denken und hat zu sein« (Parmenides); »to on legetai pollachos« – »›seiend‹ wird in vielfältigem Sinne gedacht/gesprochen« (Aristoteles); »cogito ergo sum« – »ich denke, also bin ich« (Descartes); »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« (Kant); »die Identität ist die Identität der Identität und der Nichtidentität«, oder, ebenfalls von Hegel: »das Wahre ist das Ganze.« Dabei handelt es sich nicht um bloße Merksätze, um nachträgliche geniale Zusammenfassungen, sondern ein solcher Satz enthält in nuce einen Grundgedanken, der das ganze Denkgebäude, oder besser: die ganze Denkarbeit des jeweiligen Philosophen in einem ihrer wesentlichen Momente repräsentiert. Fast könnte man sagen, daß man, wenn man jeweils nur diesen einen Satz hätte, das Übrige ergänzen könnte. Zwar können wir auch noch z. B. bei Adorno markante Sätze finden wie: »Es gibt kein Richtiges im Falschen« oder »Wahrheit ist werdende Konstellation.« Oder bei Wittgenstein: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Bei Heidegger könnte man auf Sätze verweisen wie »Die Sprache spricht und nicht der Mensch« oder »Die Sprache ist das Haus des Seins.« Aber mir scheint, daß diese 121 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

im weiteren Sinne zeitgenössischen Aussagen doch einen anderen Charakter haben als jene Sentenzen und Grundaussagen, die im strengen Sinne Grund-Sätze, nämlich begründende Sätze sind. Diese späteren Sätze dienen außerhalb ihres Kontextes höchstens als Merkworte. Nicht, daß Philosophen heute die Autorität oder das Selbstbewußtsein zum Aufstellen oder Äußern allgemeiner Grund-Sätze verloren hätten. Aber diese passen nicht mehr so recht in die philosophische Landschaft, bzw. sie gehören nicht mehr in die gewandelte Art heutigen Philosophierens. (In gewissem Sinne hatte schon Hegel auf Grund der Plastizität seines Gedankengebäudes dieses Problem, daß das Nacheinander der Entfaltung der Sache nicht mehr gerecht werden kann. Aber Hegel konnte und wollte den Begriff nicht aufgeben, der ja das tragende Element seines Gebäudes war, insofern dieses in der sich selbst begreifenden Selbstentfaltung des absoluten Geistes bestand. Er fand dafür die überaus komplizierte, die überkommene Logik aus den Angeln hebende – d. h. den Widerspruch nicht nur zulassende, sondern konstitutiv in die Architektur mit aufnehmende – Konstruktion einer sich selbst erst hervorbringenden, in sich gegenwendigen Bewegung, also eines sich durch Gegenläufigkeit in ein Zugleich aufhebenden Nacheinander.) Der Grund für den genannten Sachverhalt – wenn ich denn recht haben sollte mit meiner Beobachtung – liegt in dem, was ich früher als das Schwinden der Vormacht des Begriffs durch das Fragwürdigwerden der einen und unveränderlichen Vernunft bezeichnet habe. Es geht nicht mehr so sehr um Begriffszusammenhänge, die es herauszustellen und ein für allemal festzuhalten gälte. Ein Wort – und so gewissermaßen auch ein Satz – mag zwar als Begriff, als ein eine bestimmte Konstellation zusammenfassendes Zeichen auftreten, aber dieses Auftreten verleiht ihm keine Ständigkeit. Es hat seinen Sinn nur an dieser Stelle des Gedankenganges, 122 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

seinen Ort an diesem Punkt einer sich der reflektierenden Betrachtung darbietenden Gegend, aber nach einer weiteren Wendung des Weges kann sich die Sicht verändern, die Valenz des zu benennenden Sachverhalts mag eine andere werden, z. B. weil sich neue Kombinationen und Verhältnisse zwischen ihm und anderem aufgetan haben. Es bleibt im Fluß. Eine sich Schritt für Schritt kontinuierlich aufbauende Argumentationskette wird diesem Selbstverständnis des Denkens nicht mehr gerecht; es fußt auf der betont jeweiligen, d. h. sich stetig verändernden Ansicht eines nur vorübergehenden Ganzen, in dem der Blick hin- und herwandert. Nicht das logische Nacheinander, sondern eher ein spielerisches Miteinander der Gedanken, das seinen Ausdruck angemessener in einem breiten Tableau als in einer linearen Darstellung finden kann. Ein spielerisches Miteinander der Gedanken kann sich z. B. in Vorstellungsbildern ausdrücken, etwa eben auch in Bildern vom Wasser. So könnte etwa die Erinnerung an einen Regen nach langer Trockenheit als Bild für das an sich unsichtbare Zwischen von Himmel und Erde auftauchen. Dieses Zwischen – das Zwischen überhaupt – ist nicht in einem eindeutig zu definierenden Begriff zu fassen, der alles einzelne angeblich unter ihn Fallende einheitlich subsumieren würde. Gleichwohl gibt es Möglichkeiten, von ihm – dieser Leere, die doch ein konkreter Geschehensraum ist, – zu sprechen und ihm so eine eigentümliche Sichtbarkeit zu geben: bestimmte Weisen, wie dieses Zwischen ist, wie sich seine Eigenart in unterschiedlichen Hinsichten plastisch zeigt, können in Bildern aufgezeichnet werden, – z. B. in jener Erinnerung an einen Regen, dem Bild vielleicht für ein Sich-verschenken des Himmels an die Erde, in dem beide sowohl zueinanderwie auseinandergehalten sind. Möglicherweise wird man gegen die Rede von einem 123 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

»spielerischen Miteinander der Gedanken«, das sich sprachlich-bildhaft entfaltet, einwenden, daß die Sprache als solche zum einen zu der hier implizierten Gleichzeitigkeit gar nicht fähig wäre, und daß sie zum anderen Besonderheit und Diesheit nicht wirklich wiedergeben könnte, weil ihre Worte stets etwas Allgemeines bezeichnen würden – wenn man einmal von den Eigennamen absieht. Beide Einwände aber gelten nur oder höchstens dann, wenn wir die Sprache als etwas für sich Isoliertes ansetzen, was sie jedoch in der Sprechwirklichkeit nie ist. Zur gesprochenen Sprache gehören immer auch sowohl die Gesten, die Betonungen, die Lautstärke, die Intonationen usw., wie die Situation und die Umstände, in der und unter denen jeweils gesprochen wird. Mit all dem kann das Sprechen Gesamtbilder zeichnen, konkrete Jeweiligkeiten evozieren, Zusammenhänge andeuten, Unausdrückliches, Ungesagtes mitschwingen lassen, im scheinbaren Sagen doch verschweigen usw. So bringt sie sehr Unterschiedliches nebeneinander und miteinander zum Ausdruck. Man könnte sogar sagen, daß sie auf diese Weise die Zeit aus dem Gefängnis des bloßen Nacheinander herauszulösen vermag. Am Modell des fest gefügten, quasi-substantiellen Sach- oder Begriffszusammenhangs läßt sich die Sprache in ihrem lebendigen Geschehen – die Sprache als »die zarteste, aber auch die anfälligste, alles verhaltende Schwingung im schwebenden Bau des Ereignisses«, wie Heidegger sagt (Der Satz der Identität, 30) – nicht begreifen. Eher ist sie eben einer schwebenden Schwingung oder aber auch dem flüssigen Element, dem Wasser, zu vergleichen, das sich anpaßt, das eindringt und auflöst, mal rieselt, mal plätschert, mal ruhig dahinströmt, mal fast versickert, mal über die Ufer tritt und alles überschwemmt. Von einem Fließen der Gedanken und der Rede sprechen wir zwar in erster Linie dann, wenn beide ungehindert und ohne Stocken vor sich gehen. Aber diese Ausdrucksweise 124 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

kann doch auch allgemeiner darauf hinweisen, daß das Denken und Sprechen, wenn sie sich ihrer eigenen Natur entsprechend bewegen und entfalten, keine Konstruktion aus Begriffen bzw. Worten darstellen, daß sie nicht aus »Bausteinen« künstlich zusammengefügt, auf- oder aneinandergeschichtet werden, sondern daß sie sich wie das Fließen des Wassers aus sich selbst ergeben, aus sich selbst hervorkommend und in sich selbst weiterstrebend. Das logische und kategoriale Gliedern des Denkens ist wie das grammatikalische und lexikalische Zergliedern der Sprache immer erst etwas Nachträgliches. Diese Feststellung schmälert nicht deren Sinn und Wert. Aber sie fordert dazu auf, den Gedanken und den Äußerungen auch ihr Fließendes zu belassen, ihr An- und Abschwellendes, Hervorquellendes und Plätscherndes, ihr mal breit Dahin-strömendes, mal fast Versiegendes. Wasser fließt, es ist und bleibt in Bewegung. Das scheint eine ganz einfache Sache zu sein, – aber was heißt es wirklich? Nicht jede Bewegung des Wassers ist ein Fließen; vom Meer sagen wir eigentlich nicht, daß es fließt (fließen etwa die Wellen an den Strand?), auch nicht vom Regen (höchstens über eine Oberfläche). Umgekehrt begegnet uns auch das Fließen keineswegs nur in Bächen, Flüssen und Strömen. Auch die Tränen fließen. Lava fließt, es gibt, wie gerade besprochen, den Redefluß und den Gedankenfluß, durch unsere Adern fließt das Blut, – zuweilen fließt es sogar »in Strömen«. Andy Goldsworthy hat mit seinen Landart-Aktionen immer wieder »Flußformen« gebildet, aus Wasser, Erde, Eis, Blättern und anderem. In seinem Buch »Zeit« schreibt er: »Ich beschreibe diese Form als Fluß, weil ich sie nicht als Schlange sehe. Es ist auch kein Fluß, aber indem ich es so nenne, hoffe ich, die mit einem Fluß assoziierte Bewegung hervorzurufen. Ein Fluß setzt kein Wasser voraus. Das Fließen ist wichtig, nicht das Wasser – ein Fluß aus Luft, Tieren,

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Vögeln, Insekten, Menschen, Jahreszeiten, Witterungen, Steinen, Erde, Farbe …« (8 ff.) Was auch immer fließt, – es fließt davon, vorbei, es verfließt. In vielen Zusammenhängen ist das Fließen fast gleichbedeutend mit dem Vorbeigehen und Vergehen. »Fließe, fließe, lieber Fluß! / Nimmer werd’ ich froh, / So verrauschte Scherz und Kuß, / und die Treue so.« (Goethe, An den Mond) Dementsprechend ist es eigentlich selbstverständlich, daß das Fließen in so enger Verbindung mit der Zeit gesehen wird, für deren Wahrnehmung ebenfalls das Vergehen eine entscheidende Rolle spielt. In allem Fließen gibt es so etwas wie Richtungen, aber diese brauchen nicht eindeutig zu sein, sie können ständig wechseln. Trotz dieses Wechsels hat es eine gewisse Kontinuität, im Sinne eines Zusammenhalts des Fließenden. Doch ist das kein fester Zusammenhalt, das Fließende umfängt, breitet sich aus, löst auf. Man spricht von »fließenden Grenzen«. Zugleich scheint das Fließende oftmals an etwas entlang oder über einen Untergrund zu fließen. Dem Wasser überhaupt, besonders aber seiner Eigenschaft des Fließens, scheinen einerseits gegensätzliche Charakteristika zuzukommen. Vielleicht ist jedoch andererseits gerade dies eine der Besonderheiten des Wassers, daß es nicht in strengen Gegensätzen faßbar ist, daß es sich zwar unterschiedlich verhält, aber ohne die Differenzen scharf gegeneinanderzusetzen, die es vielmehr unterläuft und verbindet. Das Fließen ist mächtig und schwach, es bestimmt und wird bestimmt, es ist aktiv und passiv. Der Fluß sucht sich seinen Weg durch die Berge und durchs flache Land: dabei umfließt und vermeidet er sowohl Hindernisse wie er Felsen durchschneidet. Seine Wasser lassen sich treiben bzw. werden fortgetrieben, wie sie selbst treiben. »Daß das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt«, heißt es in der Legende von der 126 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration von Brecht. Oder, um es mit den Worten des Laotse selbst zu sagen: »Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt nichts ihm gleich.« (Tao te king, Nr. 78) In reißenden Strömen und Überschwemmungen zeigt das Wasser seine Macht in Raum und Zeit, wie auch, mit dem Sprichwort gesagt, der stete Tropfen den Stein höhlt. Aber es steigt und sinkt zugleich in die schmalsten Risse, umspült und umspielt, löst und reinigt. Das Wasser ist sowohl hart und kraftvoll wie weich und sanft. Das fließende Wasser, ein Bild für das Nichtstarre und das Nichtsubstanzielle schlechthin, ist selbst gestaltlos und doch in besonderer Weise gestaltend. Es ist das Sich-bewegende und Sich-anschmiegende und Sich-anpassende, aber auch das Fortreißende und Wegschwemmende. Das fließende Wasser trägt mit sich fort, was von ihm überspült wird. So wäscht es auch Verunreinigungen weg und schleift Unebenheiten ab. Ströme fressen sich ein in Gebirge und graben sich so in die Zeit selbst ein, sie legen Gesteinsschichten früher und frühester Perioden der Erdgeschichte bloß. Auf den Grund des Colorado im Grand Canyon zu blicken, heißt, die Geschichte der Erde bis in die Zeit vor einer Milliarde Jahren zurück vor sich zu sehen; Zeit, Erdzeit wird räumlich anschaubar. Die Arbeit der großen Ströme ist ein Wegnehmen und ein Neuschaffen. Das Fließen trägt seinen Untergrund ab und läßt ihn an anderer Stelle wieder liegen. Darin zeigt sich ein erstaunliches Nebeneinander von Beweglichkeit und Beständigkeit, in anderer Hinsicht von Anpassungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft einerseits und von Eigensinn und Selbstbestimmung andererseits. Während es sich bzw. seine Bewegung ständig verändert, schafft es sowohl durch Sedi-

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mentieren wie durch Erodieren scheinbar dauerhafte Strukturen, die es doch zugleich immer wieder auflöst. Eine gewisse »nichtgegensätzliche Gegensätzlichkeit« bringt auch der Titel von Theodor Schwenks Buch Das sensible Chaos zum Ausdruck. (Mir scheint allerdings, daß in seinen Überlegungen das Moment des Lebens und des Lebenschenkenden allzu einseitig betont wird. Denn das Wasser kann ja durchaus auch verderbenbringende Kräfte entfalten. Die Flüsse bringen sowohl Fruchtbarkeit wie sie sie auch zerstören.) »Wo das Wasser auftritt, kann Leben im Stofflichen wirksam sein; wo es fehlt, hört diese Möglichkeit auf. Das Wasser west als Element des Lebendigen und ringt dem Tode, wo immer es kann, das Leben ab. Es ist der große Heiler alles Kranken, wo dieses sich im Verluste eines Gleichgewichtes äußert. Das Wasser strebt immer nach Gleichgewicht, aber zu lebensvollem Gleichgewicht, nie zu dem ruhenden, in dem das Leben erlöschen müßte. Es ist überall Vermittler der Gegensätze, die sich verschärfen, wo es fehlt. So führt es Widerstrebendes oder Getrenntes zusammen und schafft dauernd Neues daraus. Erstarrte Form löst es auf und gibt sie dem Leben zurück. –« (96) * Versuchen wir ein Stück weit dem Zusammenhang zwischen dem Fließen des Wassers und der Zeit nachzufragen, ihn auch zu hinterfragen. Dabei müssen wir über die im Fließen anschaulich werdende Vergänglichkeit – wir erinnern uns an den Betrachter in »Tränenregen« und seinen Blick in das spiegelnde Fließen des Baches – hinausgehen. Auch andere Eigenarten des Fließens, wie die gerade genannte nichtgegensätzliche Gegensätzlichkeit, zeigen Affinitäten zur Zeit. So sprechen wir etwa auch der Zeit zerstörerische sowohl wie aufbauende Kräfte zu, wohl wissend, daß es nicht die Zeit 128 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

selbst – was immer das sein mag –, sondern das In-der-Zeitsein und Durch-die-Zeit-hindurch-weilen ist, was negativ wie positiv auf das Zeitliche einwirkt. Die Zeit – der »Zahn der Zeit« – nagt an den Dingen, aber die Zeit heilt auch die entstandenen Wunden. Heidegger hat in seiner Vorlesung über Hölderlins Hymne Der Ister auch über den Bezug von Fluß und Zeit nachgedacht. Dem Hölderlin-Gedicht Stimme des Volkes entnimmt er zwei Eigenheiten der Ströme: »Der eine nennt den Bezug der Ströme zum Kommenden und der Ahnung Nahen. Der andere nennt das Weggehen der Ströme in das Gewesene. Sie sind beides zumal aus einem verborgenen einheitlichen Bezug zum Gewesenen und zum Künftigen – also zum Zeithaften. … Das Strömen der Ströme verläuft nicht einfach ›in der Zeit‹, als sei diese nur ein den Strömen gleichgültiger und äußerlicher Rahmen des Ablaufes. Die Ströme ahnen und schwinden in die Zeit hinein, so zwar, daß sie selbst dieses Zeithafte und die Zeit selbst sind.« (Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, 12) Und an anderer Stelle heißt es: »Die Abfolge der ›Augenblicke‹, d. h. hier der einzelnen Punkte des ›Jetzt‹, nennt man ja schon von altersher ein ›Fließen‹. Nicht zufällig sprechen wir vom ›Strom der Zeit‹.« (46) Zu unserer abendländischen Wahrnehmung von Zeit gehört es in erster Linie, daß sie sich in die Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entfaltet. Die Vergänglichkeit des Zeitlichen sowie die zerstörenden und heilenden Eigenschaften der Zeit können als Folgen aus ihrem Fließen vom »es war« über das »es ist« zum »es wird sein« angesehen werden. Dieses Verfließen der Zeit spricht auch aus den Äußerungen zum Fließen der Flüsse, die wir in der Sammlung der von Heraklit überlieferten Fragmente finden:

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»Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu.« (Heraklit, frg.12) »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.« (frg. 49a, nach Kirk/Raven vermutlich nicht herakliteisch) »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen … und auch nicht ein sterbliches Wesen zweimal im selben Zustand berühren – es zerfließt und … sammelt sich … es kommt zusammen und verfließt … es kommt her und geht fort.« (frg. 91) Und Platon schreibt im Kratylos: »Heraklit sagt irgendwo, daß sich alles bewegt und nichts bleibt, und, indem er das Seiende mit dem Fließen eines Flusses vergleicht, sagt er, daß man nicht zweimal in denselben Fluß steigen kann.« (402a) Schauen wir genauer hin, so spricht Heraklit nicht eigentlich über die Flüsse, sondern über das Verhältnis der Menschen zum Fließen, wir können auch sagen: zur verfließenden Zeit. Auch in dem dritten zitierten Satz, wo vom Zerfließen, Sich-sammeln und vom Herankommen und Fortgehen, also offenbar unmittelbarer von der Bewegung des Flusses selbst die Rede ist, geht es eigentlich um den Zeitfluß, für den sich das Strömen des Wassers als Bild nahelegt. Der Mensch, der sich im Fluß der Zeit erfährt, ist gewissermaßen in das Fließen selbst gestiegen, er betrachtet es weder aus dem Blickwinkel des Flusses noch vom sicheren und beständig ruhenden Ufer aus, sondern er stellt sich dem Fließen selbst, indem er in es hineinsteigt, – ohne mit ihm mitzufließen, ohne zu schwimmen. Wer in einen Fluß steigt und ihm standhält, d. h. sich 130 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

nicht von ihm mitnehmen läßt, dem »strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu«, das Wasser fließt an ihm vorbei, jedoch ohne ihn im Trockenen stehen zu lassen; das Wasser verfließt, fließt weg, aber dabei bleibt der in den Fluß Gestiegene im Wasser stehen. Er steht immer im selben Fluß, aber dessen Wasser ist jeden Augenblick anderes. Es geht diesem Menschen also mit dem Wasser wie mit der Zeit: er bleibt in der Zeit, aber es ist nie dieselbe, jeder Augenblick ist je schon gewesener und ist höchstens so zu halten, daß er der Zeit selbst entnommen, als dieser aufgeschrieben oder erinnert wird, – so wie das fließende Wasser nur festgehalten werden kann, wenn es dem Fluß entnommen, etwa in ein Gefäß geschöpft wird. Heraklit hat jedoch nicht nur diese Analogie zwischen Fluß und Zeit im Auge, wenn er sagt: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.« Nicht nur ist, streng genommen, das fließende Wasser von einem Augenblick zum anderen schon nicht mehr das gleiche Wasser, das den in den Fluß Gestiegenen umfließt, sondern Heraklit fügt nun hinzu, daß auch wir – nicht nur nicht die selben bleiben, was noch anginge, sondern daß wir zugleich, indem wir sind, auch nicht sind. Das macht nur Sinn, wenn mit dem Im-Fluß-sein auch unser eigenstes Inder-Zeit-sein gemeint ist: wir sind, indem wir jetzt in diesem Fluß sind, schon nicht mehr in diesem Fluß, damit aber auch schon nicht mehr die in diesem Fluß Seienden; unser ImFluß-sein ist, indem es ist, schon vergangen, wir sind nicht mehr, nämlich nicht mehr als die in jenem bestimmten Augenblick in diesen Fluß Gestiegenen, die Zeit hat uns verändert: wir sind älter geworden, sind nicht mehr die, die wir waren. Alles fließt und verfließt, es gibt keine Selbigkeit, an die wir heranreichen, deren wir uns vergewissern könnten. »Man kann nicht ein sterbliches Wesen zweimal im selben 131 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Zustand berühren.« Nicht nur der Fluß, nicht nur die Zeit überhaupt, vielmehr alles Zeitliche und d. h. auch Vergängliche, Vergehende, alle sterblichen Wesen sind im dauernden Fluß. Ständig verändern sich ihre Zustände, eben weil sie in der Zeit sind. Was für unser eigenes Steigen in den Fluß gilt, das gilt für alles endliche Seiende. Indem es so oder so da ist, ist es auch schon nicht mehr in der gleichen Weise da, es ist und ist nicht, hält der Zeit stand und ist doch als solches Standhaltende je und je immer schon ein anderes, es bleibt »im Fluß«. Wie das Wasser zerfließen auch wir und alles Seiende, und wir und alle Seienden mit uns sammeln uns wieder und kommen her und gehen fort. »Am Grunde der Moldau wandern die Steine / Es liegen drei Kaiser begraben in Prag. / Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.« (Brecht, Das Lied von der Moldau) Man kann hier noch ein weiteres Fragment von Heraklit anführen, das allerdings nicht die Flüsse, sondern das Meer nennt: »Meer: reinstes und scheußlichstes Wasser: Fischen trinkbar und lebenerhaltend, Menschen untrinkbar und tödlich« (frg. 61). Auch hier ist ein Wandel und Wechsel genannt: das Wasser, das anscheinend selbe Wasser ist zugleich trinkbar wie nicht trinkbar, den Einen erhält es das Leben, für die Anderen bringt es den Tod. Das Wasser des Meeres ist dasselbe und nicht dasselbe. Das bedeutet keine absolute Relativität, kein Verfließen dessen, was das Meerwasser als es selbst ist. Es kommt nur darauf an, im Blick zu halten, mit wem oder womit das Wasser es jeweils zu tun hat, in welchem Verhältnis, welchem Logos es jeweils steht. * »Es zerfließt und sammelt sich, und es kommt her und geht fort.« Wiederum wird deutlich, wie sehr dieses Bild vom flie132 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ßenden Wasser der substanziellen Beständigkeit des metaphysisch verstandenen Seienden widerspricht. Gleichwohl und vielleicht gerade darum liegt in Heraklits Aussagen über die Selbigkeit des Wassers doch auch schon ein Vorblick auf die metaphysische Vorrangstellung des Bleibenden und Gesicherten. Der Ton seiner Sätze ist, so scheint mir, eher ein resignativer und mahnender als ein affirmativer, wie ich ihn dagegen aus dem Brechtschen »Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag« heraushöre, das fast etwas Jubelndes, jedenfalls etwas Tröstliches anklingen läßt. Bei Heraklit kündigt sich schon, wenn auch noch von ferne, Aristoteles’ Satz an: »Man kann nicht das Selbe von dem Selben in der selben Hinsicht zugleich aussagen und leugnen.« (Met. Γ4) Wenn auch erweitert um das Heilende und das Zerstörerische, das Leben- und das Todbringende, so stand uns die Zeit in dem, was ich bisher gesagt habe, vor allem in ihrem Verfließen, ihrer Vergänglichkeit, dem ständigen Übergang von Vergangenheit in Gegenwart und von Gegenwart in Zukunft vor Augen. Aber zeitlich ist auch die Dauer, der längere oder kürzere »verweilende Augenblick«, das Bleiben. Verfließen und Verweilen nennen ganz unterschiedliche Zeitzusammenhänge. Wie das Fließen der Ströme und Flüsse kein stetig und eindeutig vorwärts gerichtetes ist, so betrifft auch sein Bezug zur Zeit nicht eindeutig und ausschließlich die linear gesehene, verfließende Zeit, wie es zunächst den Anschein haben könnte. Das Fließen, das als Bild für die vergehende Zeit zu gelten pflegt, kann auch mit anderen als linearen zeitlichen Vorstellungen verbunden werden, etwa mit dem Immer-wiederkehren, wie wir es gleichfalls bei Heraklit angedeutet und vor allem bei Nietzsche in der ewigen Wiederkehr des Gleichen ausgearbeitet sehen. Es kann z. B. buchstäblich, wie bei dem das Erdenrund umfließenden Urstrom Okeanos, ein In-sich- und Zu-sich-zurückkehren sein. Könn133 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ten die Strudel und Gegenströmungen und Stromschnellen nicht auch einen diskontinuierlichen Zeitverlauf anschaulich machen, mit Augenblicken des Verweilens, der Reflexion in sich, mit Abstürzen und Sprüngen, mit voranstürzenden wie auch mit gemächlichen, ja ruhenden Abschnitten? Panta rhei, – so wird es als Aussage des Heraklit überliefert, unzählige Philosophen haben sich auf die eine oder andere Weise darauf bezogen. Aber dieses ständige Fließen und die in ihm liegende Veränderung, der Fortriß der Zeit selbst, die als Fluß imaginiert wird, impliziert auf Grund eben dieser Ständigkeit zugleich auch den Gegengedanken des Bleibens und der Wiederholung des Immergleichen. Bei Heraklit finden wir in seinen Bezugnahmen auf das Fluß-Bild interessanterweise diese – bei ihm allerdings nicht näher explizierte – Doppeltendenz der Veränderung und der Nichtveränderung, auch wenn die Grundtendenz seiner Aussagen eindeutig die Nicht-Selbigkeit, die Veränderung betont. Nietzsche stellt Heraklit den entschiedenen Satz entgegen: »Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluss fliesst immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluss, als die Gleichen.« (Nachgelassene Fragmente Juli 1882 – Winter 1883/84, 209) Ein ähnlicher Gedanke des Bleibens und Wiederkehrens des vorbeifließenden Wassers drückt sich in dem Refrain eines Gedichts von Wolf Biermann aus, das Die Elbe bei Dresden überschrieben ist: Das sang uns der Fluß, das war unser Lied: Es fließt alles – alles fließt Mein Lieb, mein Lieb, jetzt bin ich allein Jetzt redet der dumme Fluß mir ein: Es bleibt alles, wie es ist

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Auch hier sowohl der Ausgang vom ewigen Fließen wie zugleich der Hinweis darauf, daß dieses Weiterfließen in sich zugleich ein Bleiben, eine Gleichheit bedeutet, – bedeuten muß oder jedenfalls bedeuten kann. Das Wasser sucht sich seinen eigenen Weg. Wo es nicht kanalisiert wird, folgt es den Gesetzen des Strömens und Flutens und den Gegebenheiten seines Untergrundes, der Erde. Seine Bewegungen erscheinen darum sowohl als eindeutig gerichtet wie zuweilen auch, je nach der Situation und den Verhältnissen, als richtungslos, d. h. ohne eigene Richtung. Der Fluß speist sich aus Quellen und Wolken, sammelt seine Zuflüsse von den Seiten sowie aus dem Boden und aus der Höhe und verändert auch, je nach dem, was und wieviel sich ihm da zugesellt, seine Richtung und Geschwindigkeit. Zuletzt fließt das Wasser zwar in der Richtung des Meeres, aber es macht auch Umwege, mäandert, bildet Strudel und Wirbel, fließt zuweilen in seinem Flußbett selbst zurück. Einmal, am Mississippi, als es im Norden stark geregnet hatte, sah ich, wie der breite, braune Strom Äste und ganze Bäume mitgerissen hatte, auch Planken von zerschellten Booten. Aber in der Nähe des Ufers, diesseits eines schmalen langen Erdwalls, kehrte die Strömung in einem Strudel um, das Treibgut schwamm träge gegen den Strom zurück, bis es in einem erneuten Wirbel wieder in die Fließrichtung geworfen wurde. In seiner Erörterung von Hölderlins Ister-Hymne nimmt Heidegger dessen Bild eines – allerdings scheinbaren – Rückwärtsfließens auf, um es noch zu verstärken: »Der Ister scheint fast rückwärts zu gehen. Es scheint, als ginge er überhaupt nicht vorwärts und von der Quelle weg. Aber der Ister geht nicht nur rückwärts. Inwiefern entsteht überhaupt der Schein, daß er fast rückwärts geht? Weil er zögernd fließt: dieses Zögern kann nur daraus kommen, daß dem ursprünglichen Entspringen eine geheime Gegenströmung entgegendrängt. So entsteht der Anblick, daß die obere Donau 135 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

unter den ›Felsen‹ und dem Fichtenwald zuweilen steht und in Wirbeln rückwärts drängt. Der Dichter ahnt in diesem Zögern die geheimnisvolle Verborgenheit des Ineinander der Bezüge zum Fremden und zum Eigenen.« (178) Das Zögern und seine »geheime Gegenströmung« haben ihren eigenen Zeitcharakter. Nicht nur das Vorwärtsdrängen, sondern auch die Zurückhaltung, das Ansichhalten, die Erwartung und das Warten sind Weisen, sich zur Zeit, oder besser: in der Zeit zu verhalten; sich in der Zeit aufzuhalten wie in einer zuweilen heimatlichen, zuweilen fremden Gegend oder Landschaft, die in den verschiedensten Richtungen durchwandert werden kann, wo man sowohl verweilt, wie voran-, sogar zurückgeht, beflügelt oder gezügelt von Ahnung und Hoffnung und Neugierde oder Erinnerung und Heimweh. In der folgenden Passage aus einem Buch über die Zapoteken in Mexiko wird der Unterschied zwischen den ZeitVerständnissen der westlichen und der indianischen Kulturen mit Hilfe der Bilder von Fluß und Meer verdeutlicht. Zunächst erinnert die Autorin an den uns vertrauten, abendländisch erfahrenen Zeitfluß, der wie das Strömen der Flüsse vorgestellt wird; dann stellt sie ihm, durch einen Vergleich mit dem pazifischen Ozean, ein anderes Zeitverständnis entgegen. Diese andersartige Wahrnehmung von Zeit könnte – sozusagen rückwirkend – auch unser Grundverständnis des Fließens der Ströme als einseitig erweisen. Zwar bleibt es dabei, daß die Flüsse gewöhnlich in ständiger Fortbewegung weiter und bergab und schließlich den Meeren zu fließen. Aber es könnte eben auch sein, daß das nicht verabsolutiert werden darf; mit einem anderen Verhältnis zur Zeit – und zum Raum – könnte sich auch das Verhältnis zum Fließen, sogar zum Verfließen ändern. »Für uns Angelsachsen [die Autorin ist Amerikanerin] ist die Zeit horizontal und in Bewegung. Es ist ein Strom, der 136 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

sich aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft bewegt, und das menschliche Spiel besteht darin, mit der Zeit so weit wie möglich in die Zukunft zu gelangen. Es ist eine Einbahn-Strömung, die uns unvermeidbar dem Tod entgegenführt. Alle, die sich auf dem Fluß der Zeit einschiffen, schauen in die selbe Richtung: in Richtung der Zukunft und des Todes. … Unsere Sprache ist voll von Wendungen, die unser intensives Bewußtsein von der Zeit als einem sich schnell fortbewegenden Strom offenbaren, dessen Ziel die Auslöschung ist. … Für die Indianer ist die Zeit vertikal, und sie bewegt sich nicht ›irgendwohin‹. Sie bewegt sich nicht mehr fort als der weite Pazifik, der seine Wellen, Gezeiten, Strömungen hat, der aber innerhalb seines gegebenen Raumes bleibt. Die Zeit kann sich nicht fortbewegen, weil sie auch Raum ist … Für den Zapoteken ist die Vergangenheit nichts hinter ihm, sondern sie ist um ihn herum, weil er in einem Ozean lebt, nicht in einem Strom.« (Helen Augur, Zapotec, Kapitel Indianische Zeit, 235 f., Übersetzung von mir) Ist die Zeit ein Raum, so hat sie wesentlich einen Charakter der Gleichzeitigkeit und des Miteinander. Hierzu zitiere ich noch einen anderen fremden Text, aus einer anderen Kultur und zudem aus einer anderen Zeit. Dôgen schrieb im 13. Jahrhundert in Japan (Shobogenzo, 18, 104 f.): »Es ist mit dem Leben, wie wenn man in einem Boot ist. Auch wenn wir Segel, Ruder und Riemen beherrschen, hat das Boot dennoch seine eigene, unabhängige Existenz … Andererseits kann das Boot ohne uns auch nicht richtig fahren: Mann und Boot bilden eine vollständige, harmonische Einheit und sind ganz voneinander abhängig. Wenn Mann und Boot zusammenwirken und miteinander ganze, vollständige Aktivität bilden, dann gehören zur gleichen Zeit und zum gleichen Raum auch der ganze Himmel, alles Wasser und alle Ufer.« Zwar scheint hier im Dahingleiten des Bootes zunächst eine Vorwärts137 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

bewegung impliziert. Doch das Boot fährt nicht von einem fixen Ausgangspunkt zu einem vorbestimmten Ziel. Vielmehr weilt es, – zeitlich und räumlich zwischen Himmel und Erde, es weilt auf dem Wasser, es weilt nahe oder fern den Küsten. Seine Weile, d. h. seine Zeit, und seine Weite, d. h. sein Raum, sind die Welt, es selbst ist die Welt. Lasse ich das Boot – das ich so sehr selbst bin, wie es die Welt ist – es selbst, also Boot sein, so lasse ich mich wiegen »wie auf schwankem Kahne der See.« (Hölderlin, Reif sind, in Feuer getaucht …) * Wenn ich mich einem Fließen anheimgebe – sei es einem gerichteten Dahinfließen oder einem spielerischen Dahin- und Dorthin-fließen –, verzichte ich auf Sicherheit und Halt. Die »Sicherheit«, schreibt Nietzsche einmal, »betet man jetzt als die oberste Gottheit an.« (Morgenröthe, 3. Buch, Nr. 173) Er selbst unternahm es demgegenüber, wie er sagt, in die Tiefe zu steigen, in den Grund zu bohren, »ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, – immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben.« (a. a. O., Vorrede, Nr. 2) Und doch ist auch Nietzsches Bedürfnis nach Angraben und Untergraben, nach gründlichem Infragestellen letztlich immer noch geleitet von dem Wunsch, neue Werte aufzustellen, einen neuen, jetzt jedoch vom Menschen selbst gesetzten Halt zu finden. Trotz seiner Gegnerstellung gegenüber der Metaphysik und ihrem Ständigkeits- und Sicherheitsdenken hat er in der folgenden Reflexion ein Erschrecken vor der im Fließen des Flusses sich manifestierenden Beweglichkeit und Veränderung zum Ausdruck gebracht. Am Anfang könnte 138 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

man meinen, es handle sich um eine ironische Bemerkung; aber wenn man weiter liest, sieht man, wie ernst es gemeint ist: »Ich sehe etwas Furchtbares voraus. Chaos am nächsten, alles Fluss. 1. Nichts, was an sich Wert hat; nichts, was befiehlt ›du sollst‹. 2. Es ist nicht auszuhalten: wir müssen das Schaffen dem Anblick dieser Vernichtung entgegenstellen. 3. Diesen wandelnden Zielen müssen wir ein Ziel entgegenstellen, – es schaffen. … 5. Den Übermenschen schaffen, nachdem wir die ganze Natur auf uns hin gedacht, denkbar gemacht haben. …« (Nachgelassene Fragmente Juli 1882 – Winter 1883/84, 139) Entgegenstellen, schaffen, machen. Jeweils ist das Ausdruck des Versuchs, etwas Bleibendes im Fluß der Dinge und Begebenheiten und Einschätzungen aufzurichten und festzuhalten. Das Angraben und Untergraben führt zu einem neuen Trockenlegen des unsicheren Bodens; unwillkürlich fällt einem bei dieser Betonung des Schaffens Fausts Verstetigung des Augenblicks im trockenlegenden Landgewinn ein, was ja auch ein Versuch der Sicherung und Versicherung, des Standgewinnens im dauernden Wechsel sein sollte. Nietzsches Betonung der Notwendigkeit des Schaffens, das dem ewigen Fließen etwas Dauerhaftes entgegenstellt, erinnert in der Tendenz an seinen schon zitierten, Heraklit kontrastierenden Satz: »Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluss fliesst immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluss, als die Glei139 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

chen.« Aber es sind ganz unterschiedliche Bilder, die Nietzsche hier jeweils gebraucht, wenn er vom Fluß spricht. Einmal wird dem chaotischen Im-Fluß-sein von allem in dreimaliger Wiederholung wie ein Damm oder Deich das Schaffen entgegengehalten. Das andere Mal wird die Konzeption des Flusses selbst umgedacht. Statt des ewigen Fortströmens ins Unendliche die Umkehr und Rückkehr in sich selbst und damit die Bestätigung des eigenen Standes in seinem Sichselbst-gleich-bleiben. »Alles Fluß«, – das steht in jenem Aphorismus für Chaos, für Unordnung, für Unsicherheit und Unverläßlichkeit im Fortgang, für das Schwinden aller sicheren Werte. Andererseits kann aber das Fließen und das Sich-voran- und -weiterbewegen auch als gleichförmige Bewegung, als in ewige Fesseln schmiedende Zeit verstanden werden. Von beidem, von dem »alles Fluß« wie von dem ewigen Flusse will Nietzsche den Menschen erlösen. (Nietzsche pflegt tatsächlich in erstaunlichem Maße mit seinen eigenen Bildern zu spielen und sie in ganz unterschiedlichen, teilweise entgegengesetzten Kontexten heranzuziehen. Zum Teil wohl auch darum, weil er die Phänomene selbst in Bewegung hält, weil er ihnen gestattet, ihm je nach dem Zusammenhang Unterschiedliches zu sagen.) Warum die Tendenz zur Beständigung, zur Vergewisserung und Versicherung? Die kritische Reflexion auf das Fließen und seine konstitutive Unsicherheit ergibt sich letztlich aus jener Anbetung der Sicherheit, von der Nietzsche selbst in der »Morgenröthe« sprach und die so charakteristisch für unsere Zeit, für die Zeit der Moderne ist. Die neuzeitliche Philosophiegeschichte ist von Anfang an eng mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Gewißheit verbunden. Als der Grundbegriff der cartesischen Philosophie und des mit ihr beginnenden neuzeitlichen Denkens kann der Begriff certitudo, Sicherheit, angesehen werden. Descartes’ Satz cogito ergo sum soll eine Antwort geben auf das Bedürfnis eines 140 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

fundamentum inconcussum veritatis, eines unerschütterlichen Grundes für die Wahrheit. Die mit ihm einsetzende Theorie über die Möglichkeit wahrer und gewisser Erkenntnis, die sogenannte Erkenntnistheorie, ist eine Theorie der Vergewisserung und der Versicherung, letztlich der Selbstversicherung des Denkens durch das Denken. So geht es auch Kants Kritik der reinen Vernunft um die Möglichkeit sicheren Wissens. Er schreibt in der Vorrede zur ersten Auflage von der »Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne.« Der Gerichtshof, die Kritik der reinen Vernunft, gibt der Vernunft die Sicherheit der »Abstellung aller Irrungen« durch die Prüfung ihres Fundamentes. (Kritik der reinen Vernunft, A XI f.) Und solche Sicherheit garantiert dann implizit auch die »reine Wissenschaft« des absoluten Wissens, die Hegel zur Darstellung bringt. Die Sicherheit, die in diesen philosophischen Ansätzen intendiert wurde, war die Sicherheit des Wissens, also die Sicherheit, daß eine Übereinstimmung bestehe zwischen ihm und seinem Gewußten, eine Sicherheit, die letztlich nur in der absoluten, wenn auch in sich bewegten Identität von Wissen und Gewußtem, von Gewißheit und Wahrheit, wie Hegel sie gedacht hat, zu erreichen war. Aber wenn wir darauf reflektieren, was es denn mit diesem Bedürfnis nach einer absoluten Sicherheit und Gewißheit auf sich hat, so wird schnell ersichtlich, daß es viel weiter reicht als nur zur Erkenntnissicherung, daß vielmehr ein Grund und damit eine Begründung für das ganze eigene Dasein, wie darüber hinaus für überhaupt alles, was ist, gesucht wird. »Das ist noch im Fluß«, sagen wir und meinen damit, daß noch keine 141 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Entscheidung gefallen, damit auch noch keine sichere und gesicherte Richtlinie des Beurteilens und Verhaltens aufstellbar ist, daß wir selbst uns noch unsicher fühlen, uns noch nicht sicher sind. Oder auch nicht mehr sicher. Die Selbstsicherheit des wissenschaftlich und technisch stetig fortschreitenden Denkens und eines entsprechenden, vernunftgeleiteten Handelns ist heute gründlich ins Wanken geraten. In immer mehr Bereichen des alltäglichen Denkens und Handelns haben wir einsehen müssen, daß wir nicht nur im tieferen sokratischen Sinne nichts wissen, sondern daß sich auch unsere alltäglichen Gewißheiten und Sicherheiten immer häufiger als bloß scheinbare herausstellen. Die ungeheure Ausweitung des Versicherungswesens ist nur ein Indiz für die aktuelle Relevanz und Realität eines allgemeinen Sicherheitsbedürfnisses, das jedoch mit der Suche nach der certitudo im Denken zusammenhängt. Eine grundsätzliche Verunsicherung liegt z. B. in der Bedrohung der eigenen Lebensgestaltung durch den Verlust des Arbeitsplatzes, überhaupt in der Ungewißheit hinsichtlich der Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, die man finden oder nicht finden, behalten oder nicht behalten wird. Auch die unsichere Zukunft unseres Sozialsystems bedeutet eine Infragestellung und Verunsicherung der Lebensplanung. Und mit den Terroranschlägen des 11. September, den sich seither abzeichnenden zukünftigen Bedrohungspotentialen sowie mit den seit dem ersten Golfkrieg geführten Kriegen haben die Unsicherheit und das Ohnmachtgefühl des Einzelnen eine neue Qualität erreicht. Die vielfachen Bedrohungen der Umwelt, von den Nuklearwaffen bis zu den »Errungenschaften« der Biotechnologie, bedeuten Unsicherheit nicht nur in dem Sinne, daß sie jeweils eine mehr oder weniger reale, mehr oder weniger wahrscheinlich eintretende Gefahr für das menschliche Leben bedeuten, sondern auch dadurch, daß wir im Grunde 142 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

nicht mehr wissen, was es mit ihnen auf sich hat, wie wir sie beurteilen können oder sollen. Ich erinnere mich daran, wie hilflos wir uns vor Jahren fühlten, als im Namen der Vernunft für die nukleare Nachrüstung Deutschlands argumentiert wurde. Oder wenn heute, auf einem ganz anderen Feld, ebenfalls mit vernünftigen Gründen und im Namen der Menschlichkeit, für den Ausbau der Gentechnologie argumentiert wird, – wie können wir uns gegenüber diesen Argumentationen verhalten? Wir besitzen in solchen Diskursen oder Debatten kein sicheres und gewisses Kriterium oder Fundament mehr, von dem aus wir für die eigene Sicht der Dinge eine intersubjektiv gewisse Wahrheit reklamieren könnten. Und wir wissen, daß uns auch der radikalste Zweifelweg im Sinne Descartes’ nicht zu einem solchen Fundament führen würde. Das Sicherungsbedürfnis geht weit über das hinaus, was eine Philosophie leisten kann. Allerdings sollten wir, die Philosophen, uns zu dieser Unsicherheit stellen oder verhalten, eben weil sie etwas mit dem Sicherheitsbedürfnis zu tun hat, das schon Descartes zu seinem cogito-Satz führte und verführte. Ich denke, daß das neuzeitliche Sicherheits- und Gewißheitsbedürfnis eine logische Folge und praktische Auswirkung des die metaphysische Haltung des Menschen seit Platon bestimmenden Anspruchs des rationem reddere ist, des Beistellens des Grundes für alles, was als wahrhaft seiend erkannt werden soll. Sein hieß dementsprechend Beständigsein, beständig nämlich im Sinne des bleibend durch einen Grund Begründeten und Gesicherten. Ob das Grundgebende und damit Wahrheit und Beständigkeit Sichernde an sich selbst seiende Seinsbestimmungen, der Schöpfergott oder das sich seiner selbst und seiner Welt versichernde Ich sind, ändert zwar viel an der zugrundeliegenden Weltsicht, aber wenig an dem Erfordernis garantierter Wahrheit und sicher gegründeter und begründeter Existenz des nichtmenschlichen Seienden und des Menschen. 143 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Die neuzeitliche Wendung zur menschlichen Selbstvergewisserung brachte eine stetig zunehmende Tendenz zur Selbsterhaltung und Selbstbestätigung und Selbststeigerung. Sowohl die neuzeitliche Technik wie die neuzeitliche Wissenschaft können als Antworten auf diese Tendenz verstanden werden. Die Realität wird im Wissen wie im Produzieren als eigene, d. h. gewußte, d. h. beherrschbare hergestellt und in Besitz genommen. Der Kapitalismus kann – gerade als globalisierter – in diesem Sinne als eine äußerste Form der materiell und ideell produzierenden Selbststeigerung, Gewinnsteigerung und Machtsteigerung interpretiert werden, – als eine Selbstversicherung und Selbstvergewisserung im größtmöglichen Ausmaß. Auch wenn ich keine geschichtliche, etwa dialektische Notwendigkeit des Umschlags konstruieren will – und schon gar nicht eine Entwicklung im Sinne der Heideggerschen und auch Adornoschen Berufung auf Hölderlins Satz »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« –, will ich doch darauf hinweisen, daß die äußerste Steigerung des Sicherheit schaffen wollenden Wissens und Handelns schließlich zur äußersten Unsicherheit zu führen scheint. Vielleicht wissen wir zu viel, um noch Sicheres wissen zu können, vielleicht können wir zu viel, um noch etwas mit Sicherheit tun zu können. Vielleicht haben wir zuviel Sicherheit schaffen wollen, um mit dem »Restrisiko« noch fertig werden zu können. Worauf es meiner Überzeugung nach ankäme, wäre, das Sicherheitsbedürfnis, die Kategorie der Sicherheit selbst fragwürdig werden zu lassen. Was übrigens auch hieße, jene Rede von einem in Kauf zu nehmenden Restrisiko, das gleichsam ein zugelassenes Loch oder ein Riß in unserem Sicherheitsbedürfnis wäre, fallen zu lassen. Wenn es tatsächlich so scheint, als führe der »westlich« geprägte Weg des Beherrschens und des sicherstellenden Bewältigens, der ständige Versuch, das, was uns begegnet, zu »schaffen«, in 144 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

lebenspraktische Aporien und also irgendwie ins Heillose, so legt sich die Frage nahe, ob nicht doch ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit, ein anderes Sich-verhalten in der Wirklichkeit denkbar wäre. Mir schiene es sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig, das Prinzip der Sicherheit, d. h. der Bewerkstelligung von Festigkeit und Stetigkeit und Gewißheit grundsätzlich in Frage zu stellen. Derrida sagte zwar (anläßlich der Entgegennahme des Adorno-Preises 2001 in Frankfurt, als Stellungnahme zu den Ereignissen des 11. September): »Es wäre vollständig unverantwortlich zu sagen, man sollte auf die Sicherheit verzichten.« Aber die Emphase, die sich in diesem Satz und mehr noch in den folgenden Worten »Ich glaube an die Notwendigkeit der Polizei, an die Notwendigkeit der Armee« ausdrückt, macht m. E. deutlich, daß er hier bewußt überzogen hat. Mir scheint jedenfalls die umgekehrte Formulierung angezeigter: Es wäre vollständig unverantwortlich, nicht endlich auf das über alles gestellte Bedürfnis nach Sicherheit in jeder Beziehung zu verzichten. Damit ist nicht das Pathos des vivere pericolosamente, nicht ein verwegenes Sich-aufs-Spiel-setzen gemeint. Sondern eine Rückkehr zum Fragen, zum Hinhören, zur fließenden, sich einlassenden Bewegung, damit auch zum einfühlenden Ausprobieren von Wegen, die vielleicht auch nirgendwo hinführen. Diese Alternativen bestimmen sich allerdings bis zu einem gewissen Grad noch von ihrem Gegenteil her, sie erkennen das Grund-Denken noch an, indem sie es bewußt aufs Spiel setzen. Darüber hinaus käme es darum darauf an, den tiefgreifenden Glauben an den Grund als solchen nicht nur bestimmt zu negieren, sondern diesen bewußt – wenn man so sagen kann – zu vergessen. (Ich denke, wir könnten, was die Unsicherheit angeht, manches von anderen Kulturen lernen, – was wir uns allerdings von vorneherein verbauen, wenn wir ihre Weisen, sich aus der Welt zu ver-

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stehen, immer schon ebenfalls nur als Antworten auf Unsicherheit und Angst – etwa vor »Geistern« – verstehen.) Was Heidegger mit »Gelassenheit« oder mit »besinnlichem«, »herzhaftem« Denken im Blick hat, scheint mir, wenn man es ernst nimmt, in die Richtung eines Verlassens des Sicherheitsdenkens zu gehen. Das Gefühl einer unerträglichen Unsicherheit ergibt sich erst aus der Perspektive desjenigen, der von vorneherein und immer schon Bewältigung, Aneignung, ein Fertig-werden mit dem, was ihm als Fremdes begegnet, intendiert. Etwas pointiert gesagt: nur wo der sichere Grund und Boden unter den Füßen, die Grundlegung und die Begründung das erste und äußerste Ziel sind, nur da kann der Boden als unsicher und schwankend erfahren werden. Wo aber die Beweglichkeit des Fließens und Verfließens als die natürliche Seinsform erschiene, da wäre sein Nomadisches und Fragmentarisches kein Mangel mehr. Das fließende Wasser kann grundsätzlich kein Fundament abgeben, es vermag keine Sicherheit und keinen Halt zu verschaffen. »Alles Fluß«. Das Fließen ist selbst, so könnte man sagen, eine Bewegung der Gelassenheit, der Grund-losigkeit und des Sich-voran- und -weiterbewegens. Wie wir gesehen haben, ist die Bewegung des gegensatzlos-gegensätzlichen Wassers in dem Sinne richtungslos, daß es verschiedene, ihm sozusagen von außen nahegelegte Richtungen annehmen kann, bestimmt vom Mond oder von einem Gefälle des Bodens oder wie auch immer. Der Blick auf das Wasser führt uns zugleich auf die Erde zurück, nämlich in den Raum zwischen Erde und Himmel, durch den es sich stetig hindurchbewegt. Früher einmal habe ich zwei Stellen von Benn angeführt: »Sich abfinden und gelegentlich auf Wasser sehen« und »In der Dichtung, zum Beispiel, muß man allein sein, in die Weite sehen, womöglich über Wasser« (vgl. Wege im Denken, 13). Aufs Wasser sehen, nicht nur in der Dichtung, und sich von daher durch 146 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

den eigenen Tag bewegen. Wie ein Bach murmeln oder wie ein Regen rauschen, – statt z. B. »im Brustton der Überzeugung« zu sprechen. Sich dem Fließen anheimgeben, statt festzustellen. Unsere Erde besteht zu über zwei Dritteln aus Wasser. Warum uns nicht eher an ihm orientieren als am Festen und nur scheinbar sicher Gegründeten? Eine Wandlung der grundsätzlichen Einstellung zum menschlichen Sein in der Welt kann sich nur in langen Zeiträumen vollziehen, in kleinen Schritten, die jeweils im Augenblick kaum merklich sind. Gewöhnlich können wir erst im nachhinein feststellen, daß philosophische Grundeinsichten entscheidende Auswirkungen sowohl auf das Wissen ihrer wie der folgenden Zeit wie auch auf das allgemeine Selbstverständnis der Menschen gehabt haben. Um einige große Beispiele zu nennen: Platon, Aristoteles, Descartes, Kant, Hegel, Marx, Nietzsche haben unzweifelhaft das Weltund Selbstverständnis bis in unsere Tage hinein geprägt. Aber bei keinem von ihnen hätte man eine Einwirkung auf das wissenschaftliche oder das Alltagswissen unmittelbar aufzeigen können. Sie haben – bis auf die beiden zuletzt Genannten – nicht einmal weltverändernd wirken wollen. Aber sie haben es getan, – und nicht dadurch, daß sie auf zu ihrer Zeit Aktuelles und tagespolitisch Anliegendes eingegangen wären; die Philosophie kann nicht automatisch zu gleichgültig welchem auftauchenden Grundproblem etwas zu sagen haben, auch wenn man das zuweilen von ihr erwartet. Was jene Philosophen – implizit oder explizit – getan haben, das war, neue Modelle des In-der-Weltseins zu entwickeln, das Welt- und Selbstverständnis des Menschen jeweils von anderen Fragestellungen und Kriterien her in den Blick zu fassen.

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Die Flüsse und Ströme Der Strom fließt breit dahin, mächtig, sogar majestätisch, manchmal in einem weiten Bogen, der sich zum Horizont spannt; während sich der Fluß wie eine Schlange, durch die Landschaft winden, seine Richtungen wechseln kann. Zum Strom wird er dadurch, daß er sich ein ausgedehntes Bett schafft, in dem er gerade und ruhig dahinfließen kann. (Streng genommen schlängelt der Fluß nicht eigentlich sich durch die Auen, sondern das geschieht ihm. Obgleich die Schlangenwindungen scheinbar ein beliebiges Hin und Her bedeuten, verdankt sich sein Mäandern weitgehend der jeweiligen Weise, wie er seine Ufer berührt, wie sie ihn berühren.) Der weite Weg, den die Flüsse und die Ströme von ihren zögernden oder sprudelnden Anfängen in unscheinbaren Quellen bis zur trägen, kaum überblickbaren Mündung im Meer zurücklegen, kann viel Erstaunliches erzählen. Die Flüsse und Ströme erscheinen in der Geschichte der Länder, die sie durchfließen, als machtvoll Schaffende und als Stifter. Oftmals wurden sie als Wohltäter und Herrscher oder als Gottheiten verehrt. Mythen, Geschichten, Riten, Lieder haben sich an ihnen festgemacht. Wir wissen, daß in Ägypten die tätige Auseinandersetzung der Anwohner mit den regelmäßigen Überschwemmungen zur Entwicklung der Mathematik und Geometrie geführt haben, ohne die auch die heutigen Naturwissenschaften nicht denkbar wären. Ein ganz anderes Beispiel ist der Ganges, dem in der indischen Kultur eine so große Bedeutung zukommt; von ihr zeugt z. B. die alle zwölf Jahre stattfindende Massenwallfahrt zum Zusammenfluß von Ganges und Yamuna, »zu der Millionen von Hindus kommen, um im heiligen Wasser untertauchen und sich reinigen zu können.« (Beatrix Pfleiderer, Vom guten Wasser. Eine kulturvergleichende Betrachtung, in: Kulturgeschichte des Wassers, 269; Pfleiderer weist darauf hin, daß 148 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

auf Sanskrit das Wort für »Pilgern« »Reise zu den Flüssen«, genauer zur Furt bedeutet.) Mesopotamien, eine der ältesten Kulturen, die wir kennen, das Zweistromland oder wörtlich Zwischen-den-Strömen-Land, hat diesen Namen eben auf Grund der entscheidenden Bedeutung, die Euphrat und Tigris seit je für dieses Land gehabt haben. Man kann auch an die unzähligen Lieder denken, die etwa an der Wolga, am Mississippi oder am Rhein gesungen wurden und werden und die dafür zeugen, wie tief sich die Flüsse in das Gedächtnis und in den Alltag der Völker eingegraben haben. Auch wenn, wie mehrfach betont, das Wasser der Philosophie thematisch uninteressant erschien, ist sein Fließen und Strömen doch in der philosophischen Literatur in vielen sprachlichen Wendungen gegenwärtig. Seit je ist es in seinem Fließen und Verfließen ein naheliegendes Beispiel für das stetige, wenn auch stetig wechselnde, Sich-verändern von allem, für die Endlichkeit aller Geschehnisse auf der Erde. Die Flüsse und Ströme stehen für Beweglichkeit, Unbeständigkeit und Wechsel, für den Fortriß der Zeit. Viele Dichter feiern die Flüsse in Gedichten und Hymnen, zeichnen sie u. a. als Sinnbilder für den Lebenslauf und Lebensverlauf des Menschen auf. In bezug auf Hölderlin sagt Heidegger in der Vorlesung »Der Ister«: »Bereits eine flüchtige Kenntnis seines ganzen dichterischen Werkes kann uns darüber belehren, daß Hölderlin mit einer gewissen Vorliebe in seiner Dichtung Ströme und Flüsse und überhaupt die Wasser nennt« (11), wobei er betont, daß das nicht besage, daß die Flüsse in Hölderlins Stromhymnen als bloße Metaphern oder als Bilder »für einen in irgendeinem Hintergrund wartenden hintergründigen Sinn« stehen würden (30). »Wir wissen, die Flüsse sind nicht einfach ›Bilder‹ für etwas, sondern sind selbst gemeint und mit ihnen die heimatliche Erde.« (Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, 195) Heidegger selbst geht es bei seinen Erläuterun149 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

gen der großen Stromdichtungen Hölderlins vor allem um eine Besinnung auf das Dichten der Dichter und auf deren geschichtliche Bedeutung. Er sagt: »Wir müssen daher die heutige Vorstellung von Natur, sofern wir überhaupt noch eine solche haben, beiseite lassen, wenn da von Strom und Gewässer die Rede ist. Erde und Heimat sind geschichtlich gemeint. Der Strom ist geschichtlich. … Der Rheinstrom ist ein Schicksal, und Schicksal wird nur in der Geschichte dieses Stromes.« (196) Früher waren die Flüsse und insbesondere die großen Ströme, durch die es keine Furten gibt, in ganz anderem Sinne geographische Grenzen als heute, wo es praktisch keine Schwierigkeit mehr darstellt, auch die breitesten Wasserflächen zu überbrücken, wie es etwa in naher Zukunft für die Meeresstraße zwischen Apulien und Sizilien geplant ist. Als Landes- und Gebietsgrenzen hatten die Flüsse Geschichts- und Schicksalscharakter, – wie der Rhein für das Verhältnis von Deutschland und Frankreich oder in der Nachkriegszeit die sogenannte Oder-Neiße-Grenze für das Verhältnis von Deutschland und dem politischen Osten. Der verbindende, Grenzen überwindende Charakter der Brücken, für die der Schlagbaum im Grunde eine contradictio in adiecto ist, wird hier besonders deutlich. Die Flüsse durchziehen das Land wie Adern, wie Blutbahnen; beide, die Flüsse wie das Blut, durchfließen, sich verästelnd, ein ihnen zugehöriges, von ihnen am Leben gehaltenes Gebiet. Die Verlaufsform beider scheint sich zu entsprechen, sie bieten ein ähnliches Bild; gleichwohl sind Anfang und Ende bzw. die Richtungen, in denen sie fließen, einander entgegengesetzt: Das Blut fließt vom Zentrum, dem Herzen, in alle Richtungen des Körpers, und seine Bahnen verzweigen sich dabei immer mehr bis in die feinsten Kapillargefäße. Das Wasser fließt in gewissem Sinne ebenfalls von einem Zentrum aus, indem es in Quellen und Brun150 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

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nen aus der Erde hervortritt; aber es beginnt gerade in und mit feinsten, dünnsten Rinnsalen, um dann mit anderen zusammenzufließen und in immer größerer Breite und Weite den alle Wasserläufe aufnehmenden Weltmeeren zuzuströmen. Die Entsprechungen zwischen Blut und Wasser betreffen nicht nur ihr Erscheinungsbild, sondern insbesondere auch ihre Funktionen; beide sind Verkehrswege, und beide bringen und bewahren dem, was sie durchfließen, seine Fruchtbarkeit. Der Kirchenvater Ambrosius (2. Hälfte des 4. Jahrh.) schreibt in seinem Hexaemeron im Zusammenhang einer Auslegung der Schöpfungsgeschichte: »Gut nun ist das Meer, vor allem weil es das Festland mit der nötigen Feuchtigkeit versorgt, indem es ihm wie mittels eines Adernetzes unversehens den wahrlich nicht unnützen Lebenssaft zuleitet. Gut ist das Meer: der gastliche Schoß der Flüsse, die Quelle des Regens, die Ablagerung des Alluvialbodens, die Einfuhrstraße für den Handel, die Verbindungsbrücke zwischen den entlegenen Völkern, … das reizende Ziel für Vergnügungsfahrten [gratia in voluptatibus]« (zit. nach Heimo Reinitzer, Wasser des Todes und Wasser des Lebens. Über den geistigen Sinn des Wassers im Mittelalter, in: Kulturgeschichte des Wassers, 101 f.) Die Wasser- wie die Blutbahnen bringen, indem sie ihr Gebiet durchströmen, lebenserhaltende wie auch schädliche Stoffe von einem Ort zum anderen, sie gewährleisten – selbst wenn das für die Flüsse und Ströme heute nicht mehr so ausschließlich gilt wie vielenorts in früheren Zeiten – den Transport und Austausch der Waren von und zu den Zentren und wichtigen Knotenpunkten des Zirkulationssystems (wie man auch von »Kapitalströmen« spricht). Indem die Flüsse, die Wasser der Flüsse durch die Gegend fließen, trägt ihre Bewegung das, was ihnen anvertraut wird, mit sich fort, sind

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sie so Fortbewegungsmittel für das, was auf und in ihnen schwimmt. Daß das Wasser fortträgt, bringt es zugleich mit sich, daß man in die Flüsse hineinwirft, was man verschwinden lassen will, was weggeschwemmt werden soll. Jacopo Sannazaro erzählt in »Arcadia« von dem Rat eines Magiers an einen unglücklich Liebenden, der von seiner Leidenschaft geheilt werden will, »seinen Kopf, ohne ihn umzuwenden, in den vorbeifließenden Fluß zu tauchen. Sofort wird dieser mit seinen Wassern Deine (unglückliche) Liebe in das weite Meer führen und dort den Delphinen und den (schwimmenden) Walen überlassen.« (Horst Bredekamp, Wasserangst und Wasserfreude in Renaissance und Manierismus, in: Kulturgeschichte des Wassers, 155) Als Kind sah ich im Mai/Juni 45 in Hamburg viel Unrat in der Alster herumschwimmen – Gegenstände, die zuvor »Großes« bedeutet hatten, jetzt aber in gewissem Sinne verräterisch geworden waren, z. B. langsam sich auflösende Exemplare von Hitlers Mein Kampf oder Orden und Auszeichnungen aus dem Krieg und der Nazizeit. Ich hatte das unheimliche Gefühl, daß ich lieber nicht genauer hinsehen sollte, weil sich da vielleicht noch Grausigeres, Unsäglicheres verbergen könnte. So oft ist das wegschwemmende Wasser der Ort für Geheimnisse und Verbrechen; in wie vielen Kriminalromanen und -filmen werden nicht die Leichen Ermordeter in die Flüsse und Seen geworfen, um dann meistens doch wieder aufgrund unberechenbarer Strömungen irgendwo aufzutauchen! * Wie das Wasser überhaupt, so sind uns gerade auch die Flüsse oftmals in besonderer Weise nahe und vertraut, jedenfalls nehmen wir sie nicht einfach nur als eine geographische Ge158 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

gebenheit wahr. Sie sprechen zu uns, in ihrer je eigenen Sprache. Die Gedichte, in denen sie besungen werden, die Mythen und Legenden, in denen sie ihren Platz haben, die Personifizierungen, die sie erfahren, bezeugen es. In der Biographie vieler Menschen spielen sie ihre wechselnden bedeutsamen Rollen. Die Flüsse sind auch in besonderer Weise Orte von Stimmungen, in Abhängigkeit vom Wetter und den Tageszeiten oder ganz persönlich, auf Grund von jeweiligen Erfahrungen und Begegnungen. Ein Fluß im Morgennebel ist etwas ganz anderes als im Abenddunst, mit seinen Eisschollen im Winter ist er eine andere »Persönlichkeit« als mit Schwänen, Enten und Möwen im Sommer. Der selbe Fluß hat im Frühling ein anderes Gesicht als im Herbst. Er ist ein anderer für die Trauernde, die ihm ihre Klagen anvertraut, oder für jemand, der in spielerischer Heiterkeit kleine Steine über seine Oberfläche springen läßt. Immer wieder finden wir andere Stimmungen von uns selbst in ihm gespiegelt, hat er anderes, Überraschendes oder lang Vertrautes zu erzählen. Ich möchte mich hier an einige meiner persönlichen Begegnungsweisen mit Flüssen erinnern, sie einfach aufzählen. Vielleicht eröffnet das einen Raum, in dem jeder eigene, unterschiedliche Erinnerungen wiederzufinden vermag, in dem ganz verschiedenartige Fluß-Bilder sich ansiedeln können. Ich wohne heute in einer Stadt ohne nennenswerten Fluß. Manchmal überkommt mich da eine unvermittelte Sehnsucht nach »Fluß«, so daß ich einfach an den Rhein fahren »muß«. Er ist nicht besonders schön da, zumal der französische Kanal ihm die Schiffe und viel Wasser genommen hat, und es liegt auch nicht an gerade diesem Fluß – weil ich den Rhein etwa besonders lieben würde –, daß ich ihn aufsuche. Wahrscheinlich ist es dies: an seinem Fließen zu stehen, seinem In-die-Ferne-gehen nachzusehen, den grauen Wirbeln, der bewegten Glätte. Nicht um die Ferne geht es, 159 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

sondern nur überhaupt um das Weiterfließen, Vorbeifließen. Wie man Zugvögeln nachsieht. Und natürlich riecht es dort nach Wasser, große Bäume, z. B. Silberpappeln, spiegeln sich in ihm, Schwäne und Wildenten fliegen über ihn hinweg, er führt je nach dem Niedrig- oder Hochwasser. Im Laufe meines Lebens habe ich in sehr vielen fremden Städten eine Fahrt auf ihren Flüssen gemacht. Nicht, weil das einer bestimmten Auffassung, einem bestimmten Vorsatz entsprochen hätte. Es hat sich einfach immer wieder ergeben, immer wieder überkam mich die Lust dazu, wenn ich an der Anlegestelle eines Dampfers stand oder nur den Lauf eines Flusses auf einem Stadtplan verfolgte. Erst im nachhinein fügen sich diese Wasserfahrten zu einer irgendwie zusammengehörigen Reihe von Bildern. Mit so unterschiedlichen Sichten und Stimmungen, Häuserfronten und Gärten, Kirchtürmen, Häfen und immer wieder anderen Brücken. Ein Ausflugsdampfer auf der Moldau in Prag, in Hamburg die Alsterdampfer und die Hafenrundfahrt auf der Elbe – das sind noch Kindheitserinnerungen. Später dann die Moskwa in Moskau, der Mississippi in Memphis, der Sumida in Tokyo, der Huangpujiang in Shanghai, die Hafenbucht von Victoria auf Vancouver Island, der Halifax Harbour, die Guanabarabucht in Rio de Janeiro, der Rhein in Köln, die Kanäle in Venedig, der Bosporus in Istanbul, der Savannah River … Über unzählige Brücken bin ich gegangen oder gefahren, z. B. auf dem nordamerikanischen Kontinent, wo im Osten und Süden weite Konstruktionen sich in hohen Bögen über Flüsse im Marschland hinziehen, Zug- und Drehbrükken zuweilen. Oder wo im Norden zuweilen sowohl reißende braune Ströme wie weit-verzweigte, flache Flußsysteme von einfachen Stahl- oder Holzbauten überbrückt werden, die aus der Spielzeugschachtel zu kommen scheinen. Viele breite Flüsse im weiten Land. Und im Westen viele schmale, die,

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sich windend, ins Meer münden, mit riesigen mit-geschwemmten Baumskeletten, im Sand oder zwischen Felsen. An so vielen Ufern habe ich gestanden, von großen und kleinen Flüssen, mächtigen und fast trockenen, versiegten, bebauten und einsamen, solchen, die bewaldet waren, durch bunte Wiesen oder auch durch graues Geröll führten. In Griechenland habe ich zuweilen in ausgetrockneten Flußtälern übernachtet. Ich habe die Mücken und die Glühwürmchen abends am Rhein spielen gesehen und dem Kuckuck und den Fröschen zugehört. In manchen Flüssen bin ich geschwommen, immer etwas beklommen, wegen des muddigen Untergrunds und dem unbekannten Leben im Wasser. Von vielen Fähren habe ich mich übersetzen lassen, am liebsten von denen, die an einem dicken Seil nur von der Strömung getrieben werden. Wie oft haben wir früher in Basel unterhalb des Münsters den Rhein mit der Fähre überquert. Der Columbia River, noch bevor er Portland erreicht, ist wohl der Strom, von dem ich den gewaltigsten Eindruck von Größe und Mächtigkeit hatte. Und die Sülz bei Georgshausen im Bergischen Land kommt mir in den Sinn, wenn ich meine Erinnerung nach einem kleinen Fluß befrage, – Libellen und die winzigen violetten Blüten eines Nachschattengewächses. Fünfundsechzig Jahre etwa ist das her. * Der Fluß oder Strom fließt durch eine Gegend, er hat Ufer. Die dem fließenden Wasser eigentümliche Doppeldeutigkeit von Beständigkeit und Fortfließen oder Beweglichkeit zeigt sich auch in dem Gegensatz zwischen dem Fluß selbst und dem, was er nicht ist und was ihm seine Grenzen setzt, ihn einfaßt, was aber zugleich weitgehend durch ihn bestimmt, z. B. bewässert und befruchtet oder auch überschwemmt wird, – die Gegend um den Fluß, die »Flußlandschaft« (wo161 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

mit ich an den Titel eines Bildes von Klee erinnere). Je nach der Perspektive, die wir selbst im Verhältnis von Fluß und Uferlandschaft einnehmen, ob wir es von jenem oder von dieser aus betrachten, stellt sich das Verhältnis anders dar, sind auch Bewegung und Beständigkeit unterschiedlich verteilt. Schauen wir vom Fluß aus und sprechen gewissermaßen in seinem Namen, befinden wir uns z. B. auf einem Floß oder Schiff oder überlassen uns ihm gar schwimmend, dann kann es so scheinen, als würden die Ufer an uns vorbeiziehen, als wechselten ihre Anblicke und würden schließlich hinter uns zurückbleiben. Aber natürlich ist es doch der Fluß, der an den beständigen Ufern vorbeifließt, der in dauerndem Fluß ist, während seine Umgebung bleibt. Die Uferwiesen scheinen dem Fließen gleichsam nachzusehen oder nachzurufen, scheinen den Fluß aufhalten zu wollen. »… wie Bezauberte fliehn / Die Wälder ihm nach und zusammensinkend die Berge.« (Hölderlin, Der Rhein) Der jugendliche, ungestüme Fluß, der sich seinen Weg durch die Alpen bahnt, läßt sich von den Ufern nicht zähmen. Er spottet ihrer, die zurückbleiben müssen. Das zeichnet auch Mahomets Gesang (Goethe) auf: Drunten werden in dem Tal Unter seinem Fußtritt Blumen, Und die Wiese Lebt von seinem Hauch. Doch ihn hält kein Schattental, Keine Blumen, Die ihm seine Knie’ umschlingen, Ihm mit Liebesaugen schmeicheln; Nach der Ebne dringt sein Lauf Schlangewandelnd.

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In beiden Dichtungen (bei Hölderlin und bei Goethe) triumphiert der Fluß über seine Umgebung, über die Wälder und die Blumenwiesen, die ihn zu halten versuchen wie die Eltern den Heranwachsenden. Deutlich an die »Familienbande« erinnernd wird dieses Haltenwollen bei Hölderlin auch als ein Behütenwollen gedacht. Der Zusammenhang des zitierten Hölderlin-Satzes lautet so (Der Rhein, fünfte Strophe): Drum ist ein Jauchzen sein Wort. Nicht liebt er, wie andere Kinder, In Wickelbanden zu weinen; Denn wo die Ufer zuerst An die Seit ihm schleichen, die krummen, Und durstig umwindend ihn, Den Unbedachten, zu ziehn Und wohl zu behüten begehren Im eigenen Zahne, lachend zerreißt er die Schlangen und stürzt Mit der Beut und wenn in der Eil’ Ein Größerer ihn nicht zähmt, Ihn wachsen lässt, wie der Blitz, muß er Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn Die Wälder ihm nach und zusammensinkend die Berge. Das Ständige und Beständige der Ufer ist das Sichere und Gesicherte, das zu verlassen Gefahr bringt. Der gewundene, sich schlängelnde Lauf des Flusses bedeutet zwar eine gewisse Verzögerung, durch die Windungen wird er verlangsamt, und so scheinen die Ufer den Dahinfließenden aufzuhalten. Aber sein Drang, der sich nicht halten läßt, nagt an den Windungen und schwemmt sie mit sich fort, »lachend zerreißt er die Schlangen und stürzt mit der Beut« weiter. Der Fluß ist der Fortströmende, und die Ufer sind die Zurückgelassenen. Steht man am Ufer, so fließt das Wasser vorbei, es läßt 163 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

sich nicht aufhalten, immer neue Wassermassen treiben flußabwärts, alles ist im Fluß, was man sieht, ist immer wieder anderes, – »es kommt her und geht fort«. Dabei scheint mir, daß man dem Fließenden mehr nachschaut, als man ihm entgegensieht, die Weggehbewegung vermittelt sich deutlicher als die Herkommbewegung. Zeigt sich hier ein wesenhaftes Ungleichgewicht in unserer Wahrnehmung der nichthaften Momente der Zeit, genauer der beiden Grundmomente der Übergänglichkeit, des Entstehens und des Vergehens? Vielleicht kann diesem Ungleichgewicht solange nicht genügend nachgedacht werden, wie die Zeit als ein ablaufendes Kontinuum begriffen wird. Jedenfalls scheint uns das Faktum des Endens und des Aufhörens, also des zukünftigen Nochnichtseins anderes und mehr zu betreffen als das des Angefangenhabens, des vormaligen Nochnichtseins, – der Tod ist uns anders nah als die Geburt. (Allerdings ist es sowohl in der Mythologie wie auch in der philosophischen Ontologie eher umgekehrt: Die Kosmogonie spielt in den Erzählungen der Völker eine noch größere Rolle als die Weltuntergangsvorstellungen. Und die philosophische Frage nach dem Grund als der Herkunft wird zuweilen mit größerem Nachdruck gestellt als die nach dem teleologischen Sinn dessen, was ist.) Die Ungleichheit in der Wahrnehmung von Anfangen und Enden könnte u. a. auch damit zusammenhängen, daß wir – auch wenn wir einmal von der existenziellen Auseinandersetzung mit unserem eigenen Ende und der Problematik von Abschied und Verlust absehen – das Aufhören dessen, was uns umgibt, jeweils noch vor uns haben, daß es also noch zur Auseinandersetzung herausfordert, wir können vielleicht nicht an ihm selbst, vielleicht aber an der Weise, wie es uns antrifft und trifft, etwas ändern, z. B. indem wir uns auf sein Kommen vorbereiten. Auf den vorbeiströmenden Fluß bezogen, können wir seinem zukünftigen Lauf nach- oder vor164 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

austräumen, wir können ihm, der fortströmt, auch manches mitgeben, von Hölzchen und Papierschiffchen bis zur Flaschenpost und zu unseren Hoffnungen und Sehnsüchten, aber auch Plänen und Vorkehrungen. Was bei uns ankommt, haben wir nicht mehr in der Hand; an uns könnte es höchstens sein, Mitgetragenes und Mitgeschwemmtes herauszufischen, Schiffe und Botschaften zu empfangen bzw. zum Landen zu bewegen. * Die mehrfachen Beziehungen zwischen dem Fluß und seinen Ufern prägen auch das Wohnen. Das menschliche Wohnen siedelt sich wegen der Verkehrsmöglichkeiten, die er bietet, und weil er die Gegend um sich herum fruchtbar und eben bewohnbar macht, am Fluß an. Er ist Bezugsgröße für Städte und Dörfer, sie haben an ihm teil, indem sie an seinen Ufern gebaut werden. Vom Fluß her gesehen kann man sagen, daß er die Landschaft, durch die er fließt, auch dadurch zu einer menschlichen macht, daß er die Behausungen der Menschen um sich versammelt. »Und im rollenden Triumphe / Gibt er Ländern Namen, Städte / Werden unter seinem Fuß«, heißt es in Mahomets Gesang. Und Der Rhein beschreibt die Situation so: Und schön ists, wie er drauf, Nachdem er die Berge verlassen, Stillwandelnd sich im deutschen Lande Begnüget und das Sehnen stillt Im guten Geschäfte, wenn er das Land baut Der Vater Rhein und liebe Kinder nährt In Städten, die er gegründet.

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Heidegger sagt zu dieser Strophe von Hölderlin: »Der Strom schafft jetzt dem Land geprägten Raum und begrenzten Ort der Besiedelung, des Verkehrs, dem Volk bebaubares Land und Erhaltung seines unmittelbaren Daseins. Der Strom ist nicht ein Gewässer, das an dem Ort der Menschen nur vorbeifließt, sondern sein Strömen, als landbildendes, schafft erst die Möglichkeit der Gründung der Wohnungen der Menschen.« (Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 264) Auch aus Hölderlins Isterhymne erfahren wir, nach Heidegger, »daß die Ströme ein ausgezeichneter Ort sind, an dem der Mensch, und nicht nur er, seine Wohnstatt findet.« (Hölderlins Hymne »Der Ister«, 12) Für die am Fluß wohnenden Städter ist er ein wesentliches Moment ihrer Umwelt, ein wesentlicher Teil der Stadt selbst. Dabei macht es einen Unterschied, ob sie am Fluß liegt, wie Hamburg an der Elbe oder Köln am Rhein, wo es zwar jeweils auch eine andere bewohnte Flußseite gibt, die aber die Differenz zum jenseitigen »Stadtkern« nur schwer zu überwinden vermag. Oder ob sie von ihm durchströmt und vielleicht geteilt wird, wie wohl die Moskwa in Moskau oder die Seine in Paris ihre Städte teilen und zugleich die Stadtteile verbinden. Oder ob die Stadt sogar, wie das in einmaliger Weise in Manhattan – allerdings einem Stadt-Teil – der Fall ist, von zwei Strömen eingefaßt, umströmt wird. Häufig wird sich die erste allmählich zu der zweiten Möglichkeit entwickeln, wie es z. B. in Rom der Fall war oder wie es heute vermutlich gerade in Shanghai geschieht. Zum Preis von Petersburg an der Newa dichtet Puschkin in der dritten Strophe von Eine Petersburger Erzählung: Wo einst der Stiefsohn der Natur, Der Finne, sein betrübtes Leben Erstritt durch Netz und Angelschnur 166 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

An öden Ufern – heute streben An dem in Stein gefaßten Strand Empor in goldnem Kupferbrand Kirchtürme, schimmernde Paläste, Und Schiffe schneiden durch die Flut Aus aller Welt, voll reichem Gut, Begrüßt als gern willkommne Gäste; Die Newa hüllte sich in Stein; Die Wasser überspannen Brücken, Und dunkelgrüne Gärten schmücken Der Insel malerische Reihn. Die Flüsse fordern zur tätigen Auseinandersetzung mit ihnen auf, wie etwa zum Deichbau oder zur Anlage von Bewässerungssystemen usw. Und erschienen sie zuvor vielmals als Grenzen und Barrieren, so fordern sie, sobald sich Siedlungen und dann Städte an ihren Ufern entwickeln, zum Bau von Brücken auf, die das Trennende zum Verbindenden werden lassen. Es sind die Häfen und, zumeist ein wenig landeinwärts, die großen Hafenstädte, wo sich die Bedeutung der Flüsse für Handel und Verkehr gewissermaßen konzentriert. Ägypten, auch Mesopotamien oder China waren Flußkulturen. Besonders augenfällig wird in den Häfen die Verbindung von Seßhaftigkeit bzw. Wohnen einerseits und Wandern, d. h. Ausfahren, Erobern, Handeltreiben andererseits. Allerdings lassen sich gerade auch an den Flüssen fast paradigmatisch die negativen, zerstörerischen Folgen des Umgangs der Menschen mit der Natur ablesen, nicht nur, was die Verschmutzung und Vergiftung des Wassers anbelangt. Vielerorts wurden die großen und kleinen Flüsse begradigt, kanalisiert, reguliert, also diszipliniert und in vorbestimmte Bahnen gezwungen, – eine Schädigung der umgebenden Landschaft sowie des Grundwassers. Mit großer Mühe versucht man heute – am Rhein im kleineren, an Mis167 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

sissippi und Missouri z. B. in größerem Maßstab –, die Veränderungen zurückzuführen und dem Wasser selbst wieder die Entscheidung über seinen Lauf zu überlassen. Puschkin erzählt im weiteren Verfolg seiner Erzählung auf drastische Weise, wie der Strom, weil durch die Bebauung und Eindeichung das natürliche Verhältnis von Flußmündung und Meer gestört war, über seine befestigten Ufer trat: Zum Donner schwoll des Windes Winseln, Und kochend wie in Kesselglut, Warf einem Tiere gleich, in Wut, Sich auf die Stadt der Strom. Die Menschen ergriffen jäh die Flucht, … … Die Wellen brachen Wie Diebe durch die Fenster; Nachen Zerschlagen Scheiben, windumprallt; Fischstände gleiten durch den Spalt; Trümmer von Hütten, Balken, Dächer, Waren der Kaufleute und Schächer, Der Armut karges Gut und Hab, Särge aus aufgewühltem Grab, Und fortgeschwemmte Brücken schnellen Wild durch die Straßen! Held und Wicht Spürt Gottes Zorn und sein Gericht. Nahrung und Heim wird Raub der Wellen. Der Strom, der sich gewöhnlich in seinem angestammten Bett durch das Land der Menschen bewegt, durch es hindurch und doch von ihm durch seine Ufer abgegrenzt und getrennt, wirft sich auf die Stadt, die Grenzen verschwimmen im wörtlichen Sinne, alles wird der Gewalt des Wassers unterworfen. Zu dem bekannten »Lied von der Moldau« aus Brechts »Schweyk im Zweiten Weltkrieg« gibt es zehn überlieferte frühere Fassungen. Noch deutlicher als in der endgültigen 168 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Fassung geht es in den meisten darum, wie eng die Moldau und das Treiben der Menschen, die an ihren Ufern wohnen, zusammengehören. Eine lautet so: 1 Am Ufer der Moldau steht die Stadt Prag. Ihre hohen und ihre niedrigen Häuser spiegeln sich im Wasser der Moldau. 2 Nach einer Sage, welche die armen Leute der Stadt wissen, ist das Wasser der Moldau nichts als die Tränen, die das Volk geweint und gelacht hat. 3 Die Stadt Prag besteht schon 1000 Jahre. Das Bett der Moldau war niemals leer. 4 Aber es heißt, wenn in Prag einmal zu viel geweint werden wird, wird die Moldau über ihre Ufer treten. 5 Wenn die Wasser über die Stadt kommen, werden sie allen Unrat hinwegschwemmen. 6 Die Schlächter und ihre Knechte, die falschen Gerichte, die Wechsler und Händler. 7 Sie schreiten einher wie blutige Hähne. Sie machen Pläne für 1000 Jahre. Ihr Tag kommt jedoch. 8 Am Grunde der Moldau wandern die Steine. Schon drei Kaiser liegen begraben in Prag. Alles ändert sich. Das Große bleibt nicht groß, das Kleine nicht klein. (vgl. über Das Moldaulied, Bd. 15 der Großen kommentierten Ausgabe, 368 f.) Fluß und Anwohner, die Moldau und die Stadt Prag bestimmen und beeinflussen wechselseitig ihr Schicksal. Gleichwohl sind die Menschen das Bestimmende, ihre Tränen – Tränen der Trauer und der Freude – nähren den Fluß. Und schließlich sind es dann diese Wasser, die die Steine wandern lassen und die, zerstörend und rächend, über die Stadt kommen und das Böse und Verfaulte wegschwemmen. Das freundliche SichSpiegeln der Häuser im Wasser wird gestört. 169 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

(In einer Strophe aus einer anderen Fassung wird der Gegensätze übergreifende bzw. ausgleichende Zusammenhang zwischen Stadt und Fluß im bzw. als Spiegeln angedeutet: Am Ufer der Moldau steht die Stadt Prag. Sie ist alt. Sie ist jung. Sie ist arm. Sie ist reich. Ihre hohen und ihre niedrigen Häuser Das Wasser der Moldau, es spiegelt sie gleich.) Ein Moment des zerstörenden Umgangs der Menschen mit dem Fluß ist deren verkehrstechnische Verbauung. Streng genommen liegen viele größere Städte gar nicht mehr am Fluß. So haben auch die Fähren und die am Fluß entlangführenden Wege und Straßen nicht mehr die Bedeutung, die sie früher hatten, – die Treidel- und Leinpfade haben ohnehin längst ihren Sinn verloren. Hölderlin dichtet in Andenken von der Garonne und nennt die »Gärten von Bourdeaux / Dort, wo am scharfen Ufer / Hingehet der Steg … darüber aber / Hinschauet ein edel Paar / Von Eichen und Silberpappeln.« In den heutigen Metropolen gibt es nur noch selten wirkliche Uferwege und -stege. Wo sie doch vorhanden, nämlich neu angelegt sind, dienen sie meist mehr dem Flanieren, als daß sie die Passanten wirklich an den Fluß brächten. Schon die großen Auffahrten zu den Brücken machen die ufernahen Straßen oftmals zu bloßen Nebenwegen. Umso bedeutsamer sind dann die Brücken, die den Übergangsverkehr von der einen zur anderen Seite bündeln und zuweilen den Charakter der durch sie verbundenen Stadtteile architektonisch mit prägen. *

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Ich denke, man kann in der Tat nicht über die Ströme und Flüsse sprechen, ohne auch an die eben erwähnten Brücken zu denken. Von den einfachsten Stegen aus Baumstämmen über die schön gefügten alten Steinbrücken, die wir heute noch in abgelegeneren ländlichen Gegenden antreffen, bis zu den kühnsten Stahlkonstruktionen unserer Tage. Unzählige und bis heute überaus verschiedenartige Brückenbauten ließen und lassen die zunächst trennenden und ausgrenzenden Wasserläufe zu belebenden Mittelpunkten der Stadt werden. Brücken sind oftmals so etwas wie Akzente der Flüsse, dank ihrer offenbaren diese, wie und was sie sind. Zugleich aber sind sie deren Widerspiel oder Gegenpart. Sie sind ein Festes, das dem Fließen widersteht, – und doch nicht eigentlich im Sinne eines Gegensatzes, sondern eher als eine Hilfe, ein Geländer über das Fließen hinweg, das dieses aber nicht aufhält, sich ihm nicht in den Weg stellt. Das unaufhörliche Fließen, Dahin- und Fortfließen – Bild für den Fortriß der Zeit –, wird von der es überquerenden Brücke aus sichtbar, man schaut auf das Fluten hinunter. (Viadukte, die z. B. – wie etwa Autobahnbrücken – ein Tal überqueren, sind eigentlich nur in abgeleitetem Sinne Brücken zu nennen.) Die Brücke steht quer zum Fluß, sie über-windet ihn, eben indem sie ihn über-brückt. Einen bestimmten Zeitraum, z. B. ein Schweigen, oder eine schwierige Phase in irgendeinem Ablauf, eine vorübergehende Arbeitslosigkeit etwa, zu überbrücken, heißt, darüber hinüberzugeleiten, ohne daß das Überbrückte dadurch verschwände, sich also auf das zu Überbrückende zwar einzulassen, ohne es selbst aber zu berühren. Die beiden Seiten werden verbunden, ohne daß die Differenz zwischen ihnen beseitigt würde. Die Brücke befindet sich an ihrem Ort, doch ist sie, obgleich selbst ein Ständiges, nicht dafür gedacht, daß man auf ihr stehen bleibt. Sie ist Widerspiel zum Vorüber- oder besser 171 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Hindurch- bzw. Darunter-hindurchfließen, aber sie ist auch selbst für ein Weitergehen gemacht. Insofern kreuzen sich in ihr zwei Bewegungen. Zwar kann man auf der Brücke anhalten, sie lädt geradezu dazu ein, auf ihrer Mitte innezuhalten – vielleicht dem heiligen Nepomuk Reverenz zu erweisen – und von ihr aus das Fließen des Wassers zu beobachten; gleichwohl führt sie hinüber, ist sie kein eigener Aufenthaltsort. Chatwin zitiert in Traumpfade ein indisches Sprichwort: »Das Leben ist eine Brücke. Gehe über sie hinweg, aber baue kein Haus darauf.« (247) Insofern, d. h. im Hinblick auf dieses Hinüberführen, ist die Brücke ein Weg, nicht zum Verweilen, sondern zum Fortgang gemacht. Aber anders als sonstige Wege erstreckt sich die Brücke nicht in die Weite oder Ferne, sie führt nicht durch das Land und nicht an einen fernen Ort, sondern sie ist begrenzt durch die Breite des Flusses, über den sie an das andere Ufer führt; sie verbindet, auf ihre beständige, gesicherte Weise, die Orte, die die beiden Ufer sind. Heidegger schreibt über sie: »Die Brücke bringt mit den Ufern jeweils die eine und die andere Weite der rückwärtigen Uferlandschaft an den Strom. Sie bringt Strom und Ufer und Land in die wechselseitige Nachbarschaft. Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom. So geleitet sie ihn durch die Auen. Die Brückenpfeiler tragen, aufruhend im Strombett, den Schwung der Bogen, die den Wassern des Stromes ihre Bahn lassen. Mögen die Wasser ruhig und munter fortwandern, mögen die Fluten des Himmels beim Gewittersturm oder der Schneeschmelze in reißenden Wogen um die Pfeilerbogen schießen, die Brücke ist bereit für die Wetter des Himmels und deren wendisches Wesen.« (Bauen Wohnen Denken, 152) Das Wasser, das unter der Brücke herfließt, ist sowohl Wasser der Erde wie Wasser des Himmels. Und auch die Brücke selbst schwingt sich zwischen Himmel und Erde von 172 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

dem einen Ufer, dem einen festen Boden, zu dem anderen Ufer, dem anderen Boden. Sie hält den offenen Zwischenraum inne, indem sie ein Vermitteln der beiden Ufer ist, ein Überbrücken, Hinübergeleiten. »Die Brücke läßt dem Strom seine Bahn und gewährt zugleich den Sterblichen ihren Weg, daß sie von Land zu Land gehen und fahren. … Immer und je anders geleitet die Brücke hin und her die zögernden und die hastigen Wege der Menschen, daß sie zu anderen Ufern und zuletzt als die Sterblichen auf die andere Seite kommen.« (153) Wie jeder Weg ist auch die Brücke nichts, das »von Natur aus« da wäre; es gibt keine Brücken ohne den ausdrücklichen Brückenbau, das ausdrückliche, in Holz oder Stein oder Stahl umgesetzte Brückenschlagen. In Gottfried Benns Gedicht Schleierkraut stehen die – im Eigenzitat dann in Epilog 1949 noch einmal wiederholten – beiden Zeilen: Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn. Zwei Bewegungen, das Brückenschlagen und das Vergehen, ein Miteinander von Ständigkeit und Vergänglichkeit. Zunächst scheint das ganz einleuchtend zu sein, daß das Leben als ein »Brückenschlagen über Ströme, die vergehn« gesehen werden kann. Das Leben ist ein ständig Vergehendes, es fließt dahin, ist dem Fluß der Zeit unterworfen. Indem wir uns bewußt zu ihm verhalten, »etwas daraus machen«, wie man sagt, gelingt es uns, ihm eine gewisse Struktur zu geben, es zu gestalten. Dann ist es nicht mehr ein nur unaufhaltsam Verfließendes, sondern es ist die Brücke, die wir über den Fluß des Vergänglichen schlagen, – z. B. durch Werke, die wir schaffen oder durch Traditionen, die wir in Gang setzen bzw. die sich durch unsere Taten ergeben. Zwar gebieten die 173 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Brückenkonstruktionen dem Strömen keinen Einhalt, sie halten den Zeitfluß nicht auf; aber sie stellen sich gleichwohl seiner mitreißenden und die Ufer trennenden Gewalt entgegen, indem sie sicheren Halt und Übergang gewähren. Bedenkt man das verwendete Bild jedoch etwas genauer, so stößt man auf etwas Verblüffendes. Ströme, die vergehen. Streng genommen ist damit nicht nur ein stetes Weiterfließen angesprochen, sondern etwas viel Radikaleres, ein Verfließen und Zerfließen des Lebens selbst. Nicht nur Ströme des Vergehens, sondern vergehende Ströme. Heraklit sprach lediglich von »anderen und wieder anderen Wasserfluten«; er dachte nicht an vergehende oder vergängliche Ströme. Brükken werden gewöhnlich da gebaut, ein Brückenschlag wird da versucht, wo ein Fluß das Weitergehen von einem Ufer zum anderen verhindert; trocknet er aus, wird die Brücke überflüssig. Insofern geht der Brückenbau gerade davon aus, daß die Ströme nicht vergehen. Wieso also: »Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn«? Das Gedicht Schleierkraut, dessen erste Strophe mit dem genannten Satz über das Brückenschlagen endet – seine zweite Strophe spricht u. a. vom Sterben, von den Meeren und von fahlen Stränden –, fragt jedoch selbst in seiner letzten, der dritten Strophe: Sterbendes will schweigen: silence panique, erst die Brücken geschlagen, das Blutplateau, dann, wenn die Brücken tragen, die Ströme – wo? »Sterbendes will schweigen.« Vielleicht vergehen diese Ströme wirklich, vielleicht soll hier das Vergehen des Vergehens selbst angesprochen werden, jedenfalls des bloßen Ver174 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

gehens, das sich gegen eine Ständigkeit absetzt und das durch eine formgebende Struktur zu überwinden wäre. Verhielte es sich so, dann käme hier zum Ausdruck, daß angesichts des Faktums der Sterblichkeit auch keine Brücken mehr nützen, die versichernd und bestätigend durch das Vergängliche hindurch bzw. darüberhin führen. Gerade wenn die Brücken tragen, zeigt sich ihre Vergeblichkeit, die Vergeblichkeit schon ihrer Intention. Das panische Schweigen, die Mittagsstille verwischt den Unterschied zwischen Haltendem und Vergänglichem, zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Das Flutende und Flammende und Sich-Abmühende, die Ebene des Blutes, des Leidens und des Glücks, das Gewirr von Andrang und Rausch, die Spannung zwischen Nähe und Ferne – insgesamt Bennsche Vokabeln –, all das verbleicht und verflüchtigt sich letztlich in die Unbestimmtheit des Schweigens, das vermutlich ein Schweigen angesichts des Todes oder des Faktums des Sterbenmüssens ist. Eine Brücke, die über Ströme trägt, die nicht da, nicht mehr da sind, eine Brücke, die keine Brücke mehr ist, möglicherweise könnte diese Erfahrung der eines alten chinesischen Weisen verwandt sein – bzw. ihr verwandt werden, wenn sie den Bennschen resignativen Grundton abzulegen vermöchte: Wenn ich über die Brücke schreite, Siehe, so fließt nicht das Wasser, sondern die Brücke. (Shan-shui oder Fudaishi) Das Verhältnis von Festem, Bleibendem und Vergehendem, Fließendem kehrt sich scheinbar um, was heißt, daß ihr Gegensatz fragwürdig wird. Die Brücke selbst fließt. Die drei Zeilen, die den beiden zitierten voraufgehen, lauten:

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Mit leeren Händen gehe ich dahin, und siehe! der Spaten ist in meinen Händen; ich wandre zu Fuß und reite dabei auf dem Rücken eines Ochsen; Aristoteles’ früher zitierter Satz vom Widerspruch ist hier außer Kraft gesetzt. »Man kann nicht das Selbe von dem Selben in der selben Hinsicht zugleich aussagen und leugnen.« Gewöhnlich, wenn man eine als widersprüchlich erscheinende Aussage jenem Satz gegenüber retten will, betont man das »zugleich« und vor allem das »in der selben Hinsicht«. Aber hier hilft das nichts. Die einander entgegengesetzten Sachverhalte werden scheinbar hart und schroff zusammengebunden, um eben dadurch leicht und leer, frei zu werden. Die leeren Hände halten den Spaten, die Fußwanderung, die kein Reiten ist, ist ein Reiten, das kein Zu-Fußgehen ist, – das Fließen des Wassers ist das Nicht-Fließen des Wassers, das sogar selbst das Fließen der Brücke ist. * »Alle Wasser von allen Flüssen münden ins große Meer.« Immer, auch wenn er sich von einer zur anderen Richtung wendet, zuweilen sogar im Bogen zurückzufließen scheint, fließt der Fluß letztlich abwärts. Zwar gibt es auch eine Aufwärtsbewegung des Wassers und insofern in abgeleitetem Sinne auch der Flüsse, nämlich eben dort, wo und wenn die Wasserläufe entspringen. Die erste Bewegung eines zukünftigen Flusses ist nicht die eines Hinabfließens, sondern eine aufsteigende, die wir dann allerdings noch nicht als Fließbewegung, vielmehr als Hervorquellen und Entspringen bezeichnen. Leonardo da Vinci schreibt einmal: »Wie das Blut 176 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

aus der Tiefe nach oben strömt und aus den verletzten Stirnadern fließt, und wie das Wasser aus dem unteren Teil des Weinstockes bis zu den angeschnittenen Zweigen steigt, so steigt auch das Wasser vom tiefsten Grund des Meeres bis zu den Gipfeln der Berge, sprudelt dort hervor, wenn es geborstene Adern findet, und kehrt zum tiefliegenden Meer zurück.« (Zitiert nach Horst Bredekamp, Wasserangst und Wasserfreude in Renaissance und Manierismus, in: Kulturgeschichte des Wassers, 153 f.) Wenn sich das Wasser dann in Quellen, Bächen, Flüssen und Strömen sammelt, so bewegt es sich ständig – und sei es auch mit kaum sichtbarer Strömung – bergab, letztlich in Richtung aufs Meer. Insbesondere bei den großen Flüssen, die wir als Ströme bezeichnen, kommt fast notwendig, wenn wir an sie denken, ihre Mündung mit in den Blick. Ihr majestätischer, breiter Lauf scheint schon zum Meer hinzustreben, auch wenn er noch weit von ihm entfernt ist. Das Meer ist das Schicksal der Ströme. Hölderlin sagt (Stimme des Volkes): … und immer bewegen sie Das Herz mir, hör ich ferne die Schwindenden Die Ahnungsvollen, meine Bahn nicht Aber gewisser ins Meer hin eilen. Oder in einer früheren Fassung: … und öfters bewegen sie Und stärken mir das Herz, die gewaltigen; Und meine Bahn nicht, aber richtig Wandeln in’s Meer sie die Bahn hinunter. Meine Bahn nicht, nicht die Bahn des Dichters. Umso deutlicher ist es die Bahn der Ströme selbst, gewiß und richtig, die 177 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

sie zum Meer hin treibt, – eine Gewißheit und Richtigkeit, die Hölderlins eigener Bahn schmerzhaft fremd waren. In der Dichtung wird das Meer oft als das Ziel, ja als die Erfüllung der Ströme angesehen. So spricht man auch davon, daß sich ihnen ein Gebirgszug »in den Weg legt« und »sie aufhält«, gleich als wollten sie voran, als sehnten sie sich nach ihrer Erfüllung im Meer. Der Fluß durchbricht die Berge, gräbt sich ein in Schluchten, zwängt sich durch sie hindurch, stürzt sich manchmal in Wasserfällen hinab. Früher schon habe ich aus dem Zarathustra zitiert: »Und mag mein Strom der Liebe in Unwegsames stürzen! Wie sollte ein Strom nicht endlich den Weg zum Meere finden. / Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenugsamer; aber mein Strom der Liebe reißt ihn mit sich hinab – zum Meere!« (102) Nietzsche bringt hier deutlich die doppelte ›Intention‹ des Wassers zum Ausdruck. Zum einen tendiert es dazu, sich sozusagen ruhend auszubreiten, die spiegelglatte Wasserfläche ist ein geläufiger Topos, die Tiefe und das Geheimnisvolle des Wassers – wie ja auch die Fähigkeit zum Spiegeln – zeigt sich insbesondere in stehenden Gewässern. Der See – der verschwiegene Waldsee etwa – hat oftmals etwas Einsames, »Einsiedlerisches« an sich, er ist unbewegt gleichsam aus Weisheit, er ruht in sich und bleibt bei sich, drängt nicht über sich hinaus, ist »selbstgenügsam«. Aber das Wasser kann sich nicht bei sich selbst, bei seiner Ruhe bescheiden, es ist zugleich eine Unruhe und Dynamik in ihm, es drängt weiter, fließt und strömt, wird Fluß und Strom, reißt sich selbst mit fort zur Mündung, d. h. zur Selbstaufgabe ins Meer, ins große umfassende Wasser, das wiederum beide Momente in sich enthält: »Wasser tritt aus der Erde als Quelle, bewegt sich als Fluß, steht als See, ist in ewiger Ruhe und endloser Bewegtheit das Meer.« (Hartmut Böhme, Umriß einer Kulturgeschichte des Wassers. Eine Einleitung, in: Kulturgeschichte des Wassers, 13) In Mahomets 178 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Gesang (Goethe) hört sich diese Geschichte des Wollens zum Meer so an: Bäche schmiegen Sich gesellig an. Nun tritt er In die Ebne silberprangend, Und die Ebne prangt mit ihm, Und die Flüsse von der Ebne Und die Bäche von Gebürgen Jauchzen ihm und rufen: Bruder, Bruder, nimm die Brüder mit, Mit zu deinem alten Vater, Zu dem ew’gen Ozean, Der mit weitverbreit’ten Armen Unsrer wartet; Die sich, ach! vergebens öffnen, Seine Sehnenden zu fassen; Denn uns frißt in öder Wüste Gier’ger Sand, Die Sonne droben Saugt an unserm Blut, Ein Hügel Hemmet uns zum Teiche. Bruder, Nimm die Brüder von der Ebne, Nimm die Brüder von Gebürgen Mit, zu deinem Vater mit! Kommt ihr alle! – Und nun schwillt er Herrlicher; ein ganz Geschlechte Trägt den Fürsten hoch empor! … 179 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Und so trägt er seine Brüder, Seine Schätze, seine Kinder Dem erwartenden Erzeuger Freudebrausend an das Herz. Ein großes Pathos des Drängens zur Mündung, zum endlichen Ankommen und Sich-Aufgeben in ein Größeres, zur Erfüllung. Ein Gedicht wie anschwellende Musik – das Schiller/Beethovensche »wie ein Held im Siege« –, voller Jauchzen und leidenschaftlichem Wollen. Das Fortströmende, Mitreißende des Stromes verbindet sich mit dem »Führertritt«, mit dem der ursprüngliche Felsenquell, größer und mächtiger werdend, seine Brüder mitreißt. »Die Flüsse von der Ebne und die Bäche von den Bergen« jubeln und strömen ihm zu, und in machtvollem Triumph »rauscht er weiter«, dem Meer zu, in dem sich endlich die Spannung von Sehnen und Erwartetwerden auflöst. Goethe kommt es auf den Strom als Bild des prophetischen Menschenführers an; nicht nur die Bäche und Flüsse, auch die flaggengeschmückten Schiffe und den Verkehr der Städte und Länder trägt der Storm mit sich fort zum Ozean. Doch wir können dieses Bild auch für sich selbst nehmen: in dem mit-reißenden Fortströmen hin zum Ozean erfüllt der Strom sich selbst, sein Schicksal. In der »Wirklichkeit« allerdings ist die Mündung, der Eintritt der Ströme ins Meer zumeist weder ein »freudebrausendes« noch ein gewisses Ankommen. Sind sie schiffbar, so sind sie heute gerade in ihrer Mündung durch Deiche und Böschungen eingefaßt, kanalisiert, durch Wehre und Schleusen und Wasserwerke verbaut. Und auch wenn man ihnen ihren eigenen Lauf läßt, werfen sie sich gewöhnlich keineswegs leidenschaftlich dem Ozean »an das Herz«. Zuweilen scheint es vielmehr geradezu, als zögerten sie und scheuten sich vor der Selbstaufgabe. Sie tragen Schlamm und Erde vor sich her, alles, was sie in ihrem Verlauf aus Bergen und Ebe180 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

nen mitgebracht haben, und lagern es vor sich ab, bauen es als Hindernis vor ihrer Mündung auf. Sie winden sich in weiten Bögen durch das Schwemmland eines Deltas und verlieren sich schließlich fast unmerklich im Meer. Oftmals gibt es keinen sichtbaren Übergang, keine sichtbare Grenze zwischen der Dimension des festen Landes, der Landschaft um den Strom, und dem Meer. Bevor er aufhört, Strom zu sein, also vor seiner Mündung, ist er ohnehin oftmals so breit, daß die Ufer kaum mehr sichtbar sind. Immer wieder ist es mir begegnet, sei es an der Mündung von großen Flüssen – wie am riesigen Columbia River im Nordwesten Nordamerikas oder an der Po-Mündung –, oder auf Schiffen der Mündung ins Meer folgend – auf dem Rhein und auf der Weser oder auf dem Savannah River in Georgia –, daß ich vergebens den »großen Augenblick« des Übergangs vom Strom zum Meer zu treffen suchte. In gewisser Weise scheint der Strom, bevor er es erreicht, die Dimension des Meeres schon vorwegzunehmen, er verliert sich in ihm, indem er sich unmerkbar in es aufnehmen läßt, sich ihm mimetisch annähert, selbst zum Meer zu werden scheint. Hölderlin spricht in Andenken von dem »meerbreiten« Ausgehen des Stroms: … wo herab Die Dordogne kommt, Und zusammen mit der prächt’gen Garonne meerbreit Ausgehet der Strom. Einmal gibt es übrigens bei Hölderlin auch eine spektakuläre, nicht einfach »ausgehende« Mündung ins Meer; – aber da handelt es sich um einen Feuerstrom, den »flammenden Bergquell«: »Wenn er furchtbar umher vom gärenden Ätna gegossen, / Städte begräbt in der purpurnen Flut und blühen181 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

de Gärten, / Bis der brennende Strom im heiligen Meere sich kühlet.« (Der Archipelagus) In einem Text von Tschuang-tse geht es um die Erfahrung, die der große, stolze und selbstsichere Gelbe Fluß bei seiner Begegnung mit dem Meer macht: Zur Zeit der Herbstfluten ergossen sich Hunderte von Strömen in ihn, so daß er zu großer Breite anschwoll und sich reißend dahinwälzte. »Darüber war der Flußgott hocherfreut und glaubte nun, daß alle Schönheit auf der Welt ihm ausnahmslos zu eigen sei.« Dann aber gelangt er unversehens ans und ins Meer, und er sieht dessen unermeßliche Weite und unerschöpfliche Größe, der gegenüber er sich selbst unbedeutend und unzulänglich vorkommt. Doch der »Gott des Nordmeers« spricht zu ihm: »Mit einem Frosche, der im Brunnen lebt, kann man nicht vom Meere reden, er ist beschränkt auf sein Loch. Mit einem Sommerfalter kann man nicht vom Eise reden, er ist beschränkt auf seine Jahreszeit. Mit einem einseitigen Gelehrten kann man nicht vom Wirken der Natur reden, er ist gebunden durch seine Lehre. / Da du nun aus der Enge deiner Ufer herausgekommen bist, das große Meer erblickt und damit deine eigene Unzulänglichkeit erkannt hast, kann man mit dir schon von den Urgründen reden.« So lernt der Fluß vom Meer: »Für Dinge gibt es kein unbedingtes Maß. Der flüchtige Augenblick der Zeit kennt kein Verweilen. Nichts Bedingtes hat ewigen Bestand. Der ewige Kreislauf hat Anfang nicht, noch Ende. / Wer höchstes Wissen besitzt, der schaut darum das Nahe und das Ferne so an, daß ihm das Kleine nicht als unbedingt klein, das Große nicht als unbedingt groß erscheint, denn er weiß, daß es keine unbedingten Maße gibt. / Er durchschaut mit klarem Blick Vergangenheit und Gegenwart, so daß er dem Vergangenen nicht nachtrauert und das, was ihm bevorsteht, ohne gieriges Verlangen hinnimmt, denn er weiß, daß der flüchtige Augenblick doch nicht verweilt.« (Herbstfluten, 52 ff.) Tschuang182 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

tses Fluß ist zunächst selbstbewußt und stolz, dann kleinmütig und traurig, bis er vom Meer schließlich eine sichere Demut oder Bescheidenheit lernt. Auch in anderen Texten ist der Lauf des Stroms zu seiner Mündung hin von Gefühlen und Stimmungen begleitet, sowohl seinen eigenen wie auch denen seiner Anwohner. In einer kleinen Geschichte über den Rhein beschreibt Heinrich Böll dessen wechselnde Stimmungen »bis er in der Nordsee stirbt«: »Ich bin bereit, dem Rhein alles zu glauben, nur seine sommerliche Heiterkeit habe ich ihm nie glauben können; ich habe diese Heiterkeit gesucht, aber nie gefunden; … Mein Rhein ist der, den ich aus meiner frühesten Kindheit kenne: ein dunkler, schwermütiger Fluß, den ich immer gefürchtet und geliebt habe.« »Der Weintrinkerrhein hört ungefähr bei Bonn auf, geht dann durch eine Art Quarantäne, die bis Köln reicht; hier fängt der Schnapstrinkerrhein an; das mag für viele bedeuten, daß der Rhein hier aufhört. Mein Rhein fängt hier an, er wechselt in Gelassenheit und Schwermut über, ohne das, was er oben gelernt und gesehen hat, zu vergessen, immer ernster wird er auf seine Mündung zu, bis er in der Nordsee stirbt, seine Wasser sich mit denen des großen Ozeans mischen; der Rhein der lieblichen mittelrheinischen Madonnen fließt auf Rembrandt zu und verliert sich in den Nebeln der Nordsee.« (Undines gewaltiger Vater, 73 f., 76) Zum Abschluß ein letztes Zitat zu dem Verhältnis Fluß/ Meer, von dem ich eine Zeile schon zu Beginn dieses Abschnitts als Motto anführte; es entstammt der alten zenbuddhistischen Geschichte vom Ochsen und seinem Hirten in der Fassung, wie sie von Kuoan aufgeschrieben und von Hartmut Buchner und Koîchi Tsujimura übersetzt wurde (42):

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Mit einem Schlag bricht jäh der große Himmel in Trümmer. Heiliges, Weltliches spurlos entschwunden. Im Unbegangenen endet der Weg. Vor dem Tempel leuchtet der helle Mond und es rauscht der Wind. Alle Wasser von allen Flüssen münden ins große Meer. * In vielen Weltentstehungslehren ist das Wasser das Erste überhaupt, der Bereich des Unbestimmten und Gestaltlosen, das jeder Schöpfung oder Zeugung oder Entstehung voraufging. »Gottes Geist schwebte über den Wassern.« Oftmals wird das Wasser unhinterfragt und implizit als ein Erstes, Vorgegebenes vorausgesetzt, so, wenn wir in einer alten japanischen Weltentstehungsgeschichte lesen, daß zuerst der Himmel wurde, dann die Erde, von dieser aber gesagt wird, daß sie schwamm. Peter Pörtner schreibt in diesem Zusammenhang: »das Wasser ist älter als die Götter. / … Das Feuer mußte vom Menschen entdeckt, für ihn sogar geraubt werden, wie es etwa die Prometheus-Sage bezeugt. Das Wasser war da.« (Peter Pörtner, Mizu ni e o kaku – Bilder ins Wasser malen. Das Wasser in Japan, in: Kulturgeschichte des Wassers, 280; Hervorhebung von mir) Diese machtvolle Bedeutung des Wassers überhaupt zeigt sich in besonderer Weise auch an den Flüssen und Strömen. In der Vergangenheit hat die Mächtigkeit der Ströme ihnen, wie schon erwähnt, oftmals eine heilige und göttliche Größe verliehen. In Hesiods Werke und Tage (736 ff.) finden sich die Verse:

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Nicht durchwate der ewigen Ströme schönfließendes Wasser, Ehe du nicht im Anblick der prächtigen Strömung gebetet Und dir die Hände gewaschen im schimmernden, schönen Gewässer. Wer einen Strom durchwatet, frech, ohne die Hände zu waschen, Dem sind gram die Götter und senden ihm Leiden in Zukunft. Das erinnert entfernt an die Brunnenhäuser am Eingang shintoistischer Schreine in Japan, wo der Besucher und Pilger mit Bambuskellen Wasser schöpft, um sich zu erfrischen und zu reinigen; oder an die Reihe von Brunnen an islamischen Moscheen, wo die (männlichen) Gläubigen vor Betreten des Gotteshauses die Füße waschen. Hier, bei Hesiod, gebietet es die Ehrfurcht vor dem prächtig dahinfließenden Strom selbst, sich mit eben seinem Wasser selbst zu waschen. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zu den mannigfachen, meist mit Opfern verbundenen Flußkulten, u. a. bei den Griechen und Trojern, bei Kimbern, Germanen und Slawen, bei den Bewohnern Indiens, Ostafrikas und Zentralafrikas. Es mag u. a. auch das in solcher Ehrfurcht sich zeigende Wissen um die Größe und Macht der Ströme gewesen sein, das sie sowohl mit dem Ursprung allen Lebens wie auch mit dem Tod in Verbindung gebracht hat. Und so gibt es auch Grenzflüsse, die grundsätzlich ohne Brücken sind, wo das Jenseits des Stroms für sterbliche Menschen nicht zugänglich ist, wie etwa der Fluß, der nach mittelalterlichen Auffassungen das irdische Paradies umschließt und unzugänglich macht. Bloch schreibt zu ihm: »Hinter dem Indus wurden Berge geglaubt und dorthin verlegt, deren Steine Smaragde waren, und ihr Staub war Moschus; Bäume trugen grüne 185 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Vögel als Frucht, an anderen wieder wuchsen Menschenköpfe, welche weinten und lachten.« (Prinzip Hoffnung 2, 897) Der Okeanos, der die Erdscheibe umfließende Urstrom, dem »alle Ström’ und alle Fluten des Meeres, / Alle Quellen der Erd’ und sprudelnde Brunnen entfließen« (Ilias, XXI, 196 f.), hat, wie Homer ebenfalls berichtet, darüber hinaus überhaupt »allen Geburt verliehn und Erzeugung« (XIV, 246). Er ist der einzige Fluß, für den prinzipiell nicht gilt, was in einer japanischen Schrift über die Vergänglichkeit so aufgezeichnet ist: »Der Fluß fließt ohne Unterlaß, aber nie kehrt das Wasser zurück.« Der Okeanos fließt vielmehr, indem er den Erdkreis umrundet, in sich selbst zurück. Das Wort »Okeanos« ist vermutlich verwandt mit dem hethitischen »uginna«, was »Kreis« heißt, oder mit dem SanskritWort »a-cayana-h«, das »Umgebende«, »Umrundende«. (vgl. The Presocratic Philosophers, 14 Anm. 3) In einer Schale schwimmt auf dem Okeanos die Sonne bzw. Helios, der Sonnengott, wenn er für unsere Augen am Abend im Westen untergeht, die Nacht hindurch nach Osten – offenbar mit einem nächtlichen Aufenthalt in seinem eigenen Haus unter dem Horizont, im Norden –, um zur Zeit der Morgendämmerung wieder seinen Wagen zu besteigen, in dem er über das Firmament fährt. Als Grenze der bewohnten Erde ist der Okeanos zugleich der Strom, an dem das Totenreich beginnt, ohne daß er im eigentlichen Sinne selbst ein Totenfluß wäre. An seinem Ufer liegt in einem Hain schwarzer Pappeln der Haupteingang zum Tartaros. Um zu ihm zu gelangen, muß man ebenfalls einen Fluß überqueren, den Styx, »der Gehaßte«, mit seinen Nebenflüssen Acheron, »der Strom des Leids«, Phlegeton, »der Brennende«, Kokytos, »das Klagen«, Aornis, »der Vogellose«, Lethe, »das Vergessen«, und Erebos, »der Zugedeckte«. Von dem Land, das sich jenseits jener Flüsse befindet, gibt es nur spärliche Kunde, weil diese eigentlich 186 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

nur von solchen kommen kann, die in diesem Land ohne Wiederkehr gewesen sind, und das sind nur einige Auserwählte, von denen die Sagen berichten und die auf Vasenbildern zu sehen sind, – die Göttin Demeter, der Sänger Orpheus, die Helden Theseus, Herakles und Odysseus. Es gibt allerdings auch einen beschreibenden Bericht von der Ankunft von Toten im Hades, der nicht auf eigener Anschauung beruht, nämlich wiederum von Homer: er erzählt im 24. Gesang der Odyssee, wie Hermes die Seelen der von Odysseus erschlagenen Freier der Penelope in das Totenreich führt, »durch dumpfe, schimmlichte Pfade«, vorüber an »des Ozeans Flut, den leukadischen Felsen (wo sich Sappho in den Tod gestürzt hat), am »Sonnentor« (war es das Tor, durch das Parmenides geführt wurde, um das »unzittrige Herz der unerschütterlichen Wahrheit« zu erfahren?) und vorbei am »Land der Träume« (XXIV,1–14). Der Zusammenhang von Wasser und Tod in alten Mythen beschränkt sich nicht auf die Totenflüsse in Griechenland, die übrigens an verschiedenen Orten angenommen wurden, u. a. in Nordwestgriechenland, im antiken Thesprotien, beim Zusammenfluß von Acheron und Kokytos in der Nähe von Ephyra, nahe dem früher erwähnten Orakel- und Todesheiligtum. Oftmals sind es auch Seen, oder es ist das Meer selbst, jenseits derer das wie auch immer im Einzelnen imaginierte Totenreich liegt. Ich füge darum hier noch einige Aspekte der weiteren Verbindung von Wasser und Tod hinzu. So gibt es verschiedene Kulturen, in denen die Toten in einem Boot oder auf einem Baumstamm auf einem Fluß oder im Meer »ausgesetzt« wurden. Aus der Zeit des frühen Mittelalters berichtet Ariès von einer Jungfrau, die man, weil sie gefleht hatte, »nicht in diesem Lande« beigesetzt zu werden, »in einem Nachen ohne Segel noch Ruder« bestattete. (Geschichte des Todes, 28) Vielleicht gehört es auch in den selben Zusammenhang, wenn man die Asche Verstorbener dem 187 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Wasser anvertraut, indem man sie zum Beispiel auf dem hohen Meer, aber eben gerade auch in bestimmten Flüssen verstreut. (So wollte u. a. einer der Beatles seine Asche in den Ganges versenkt wissen, und auch Adolf Eichmann äußerte den Wunsch, seine Asche möchte den Wassern überantwortet werden.) Oft wird das Reich der Toten auf einer entfernten Insel angesiedelt, zu der die Toten reisen, – auch bei den Griechen gab es solch eine Insel der Seligen, die gegenüber der Mündung der Donau im Schwarzen Meer lokalisiert wurde. Im alten Japan begegnen wir verschiedenen Vorstellungen über die Reise der Toten, als Abstieg in das Totenreich Yomi, als Aufstieg in himmlische Gefilde, als Reise in die Berge oder aber als Segelfahrt über den Ozean. Man ging auch davon aus, daß die Toten jedes Jahr zu einem bestimmten Fest im Sommer in ihr altes Haus zurückkämen, und bereitete ihnen kleine Holz- und Papierschiffchen für die anschließende Rückkehr ins Totenreich vor, die man mit einer brennenden Kerze auf eine Wasserfläche setzte. (vgl. Japanese Death Poems, 31) Und zu Neujahr gab man den Toten, d. h. den Ahnen, die auf dem Hausaltar verehrt wurden, »Wasser von dem Wasser, in dem sie einst zum ersten Mal gebadet wurden, das sie ihr Leben lang tranken; so werden sie erneut an die Welt der Lebenden gebunden, an den Ort, der ihres Schutzes bedarf« (Peter Pörtner, a. a. O., 290) Um die Leben und Tod umfassende Bedeutung zu ermessen, die die Menschen stets dem Wasser zuerkannt haben, können wir uns auch an die Geschichte von der Sintflut erinnern, die sich ja in verschiedenen Mythologien auf die eine oder andere Weise findet. Ich zitiere aus Hartmut Böhmes Einleitung in die Kulturgeschichte des Wassers: »Zur Motivgeschichte des Wassers gehört selbstverständlich auch die Tradition der Sintfluten, des Atlantis-Mythos von Platon bis Thomas Pynchon sowie signifikante Schiffsuntergänge, 188 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

die von großer historischer Ausstrahlung waren (z. B. das Titanic-Desaster).« »In der Sintflut öffnet Gott den Himmel für den überhimmlischen Ozean und die Erde für den subtellurischen Ozean Tehom. Gott macht also den Schöpfungsvorgang wieder rückgängig, so daß die Erde von oben und von unten überflutet wird: Alles Leben, bis auf das in der Arche Noahs geborgene, wird vertilgt. Auch hier, indem das Wasser zum Mittel einer archaischen, schrecklichen Strafe wird, zeigt sich der ursprünglich feindliche Charakter der Urflut. Es wird verständlich, warum Johannes in der ›Offenbarung‹ den erlösten himmlischen Zustand so visioniert, daß ›auch das Meer nicht mehr ist‹ (Off. 21,1).« (26 f.) Gegenüber dieser negativen Einschätzung des alles Leben vertilgenden Meeres ist zugleich auch wieder an die andere Seite im Charakter des Wassers zu erinnern, auf deren symbolische Bedeutung etwa Martin Luther in seiner Genesisvorlesung hinweist: »So ist die Sintfluth gewißlich der Tod und Zorn Gottes und dennoch werden mitten darin die Gläubigen erhalten. … Wie die Sintfluth, die Noah litt, nicht ein ander Ding war, denn die Welt litt: so war das rothe Meer, darin Pharao und die Kinder Israel gingen, nicht zweierlei, sondern Ein Meer. … wie Noah erhalten wird, darum daß er den Kasten hat, das ist, die Verheißung und Wort Gottes, darin er lebt; die Gottlosen aber, die dem Worte nicht glauben, werden ohne Hülfe gelassen.« (zitiert nach Heimo Reinitzer, Kulturgeschichte des Wassers, 110) Die angeführten mythologischen Einsichten belegen einen engen Bezug zwischen Wasser und Tod. »Ins Wasser gehen« ist ein häufig gewählter Weg, sich das Leben zu nehmen. So war es in der japanischen Mythologie eine heldenhafte Weise, in das »Reine Land« des Buddha Amida hinüberzugehen, wenn der Held sich den Tod gab, indem er ihn im Meer suchte: »Ein sanfter vertikaler Einstieg in eine horizontal ausgebreitete Zeichenfläche.« (Peter Pörtner, Mizu ni e o 189 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

kaku – Bilder ins Wasser malen. Das Wasser in Japan, in: Kulturgeschichte des Wassers, 284) In manchen Filmen kann man die seltsam ruhige Dramatik des Hineinschreitens in die weite Wasserfläche eines Sees oder des Meeres sehen, die dann selbst als das Land des Todes erscheint. Schon bei den Betrachtungen zur Quelle waren wir der Nähe zwischen »Ort des Lebens« und »Ort des Todes« begegnet. Wenn wir an den Tod denken, so betrifft das, zumindest wenn es um unseren eigenen Tod geht, vor allem unsere Sterblichkeit, d. h. unser Wissen um das Faktum, daß wir sterben werden, also vergehen, vergänglich sind. Wenn wir uns dem aber stellen, dann kann uns der Blick auf das Wasser eine Weise der Auseinandersetzung mit unserer Vergänglichkeit lehren. Denn das Wasser könnte als Bild dafür genommen werden, daß das Leben dem Tod gar nicht so absolut entgegengesetzt ist, wie wir immer meinen, daß wir vielmehr »mitten im Leben vom Tod umfangen« sind, wie es in einem Kirchenlied von Martin Luther heißt, und daß umgekehrt jedes Vergehen zugleich auch ein Neues, ein Entstehen in sich birgt.

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Regen, Wolken, Nebel

Denkt man über den Regen nach, so wird man von der traditionellen Philosophie noch mehr allein gelassen als sonst schon bei der Betrachtung des Wassers. Konnte man beim Meer noch z. B. an Nietzsche denken, bei den Quellen an Heidegger, beim Fluß an Heraklit, so kenne ich keine Stelle, an der in prinzipieller Weise, und sei es auch nur zur Erläuterung irgendeines Sachverhalts, vom Regen die Rede ist. Auch ich gehe auf den Regen nur noch kurz ein, vor allem bei den Wolken und dem Nebel hebe ich nur einige wenige Momente heraus. Wir stehen am Meer, am Brunnen, an der Quelle und am Fluß, – und wir stehen im Regen, im Nebel, im Schneetreiben. Das Wasser zwischen Himmel und Erde betrifft und berührt uns auf eine ganz andere Weise als das Wasser auf oder auch in der Erde. Der Regen erfüllt den Raum, in dem wir uns mit Anderem befinden, auch wenn wir uns durch unsere Häuser – begrenzte trockene Räume, die wir in den allgemeinen Raum hineinbauen – gegen ihn schützen. Zumal der Landregen, der nicht enden wollende Dauerregen, hat einen Charakter des Umfangenden, Erfüllenden und Einhüllenden. Er macht den Eindruck eines alles Durchdringenden, er umhüllt alles Sichtbare in und hinter grauen Schleiern, das ganz Nahe kann er manchmal in fast bedrohlicher Materialität herausheben und das Fernere im gleichmäßigen Grau verbergen. »Es macht die Runde / Ein Regen ohne Rauschen / In Winterbergen« lautet ein Haiku von Buson (bei dem der Übersetzer wohl versucht hat, die Eintönigkeit des Regens 191 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

auch sprachlich einzufangen). Der feine Nieselregen hat eine gewisse Transparenz, er kann fast unsichtbar bleiben. Der Regen macht die Umrisse weicher, bis er sie ganz verschwinden läßt. Auch der lautlose Regen – »Regen ohne Rauschen« –, der eine gewisse Unwirklichkeit und zugleich Schicksalhaftigkeit an sich haben kann, hat einen einhüllenden Charakter. (Vielleicht hat die Erfahrung von scheinbar endlos niedergehendem Regen auch mitgewirkt beim Entstehen der früher erwähnten Geschichte von dem großen Dauerregen, der zur Sintflut wurde, die die ganze Erde überspülte.) Jener alles umfangende Landregen könnte sogar als Bild für die ursprüngliche Bedeutung des philosophischen Begriffs der Allgemeinheit stehen. »Allgemein« hat sich bei Platon und Aristoteles aus periechon, »umfassend«, entwikkelt, um dann zum katholou, »über das Ganze hin« zu werden; dabei spielt das spätere Über-und Unterordnungsgefüge zunächst noch keine Rolle. Könnte der Regen nicht als ein in jener ursprünglichen Bedeutung Allgemeines gesehen werden? Er umfaßt alles und geht über alles hin. Dabei verwischt er die Umrisse der einzelnen Dinge, dämpft und vereinheitlicht die unterschiedlichen Farben und Töne. Er näßt und durchnäßt, was ihm ausgesetzt ist, er holt es damit gewissermaßen zu sich heran, in seine Feuchtigkeit hinein, tilgt die trockene Andersartigkeit. »Vom Wasser durchweicht –/ Das Grün der Schachtelhalme / Im Winterregen.« (Teijo) Bei der Erfahrung eines nicht enden wollenden Regens über dem Land kann einen schnell das Gefühl der allgemeinen Endlosigkeit und allgemeinen Schicksalhaftigkeit, einer überwältigenden Allgemeinheit als solcher überkommen. In Shakespeares King Lear findet sich eine melancholische Bemerkung des Narren, die – wie auch die Übersetzung: »Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag« – die Regenstimmung lautmalend wiedergibt: »For the rain it raineth 192 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

every day.« Im nicht aufhören wollenden Regen verlieren alle Dinge ihre Konturen, das Gestern wird dem Heute gleich, und das Heute dem Morgen. Die Trostlosigkeit dieses »every day« ergibt sich gerade daraus, daß man dem Regen, zumal wenn es ein Dauerregen ist, ohnmächtig ausgeliefert zu sein scheint: will es denn gar nicht mehr aufhören? Fast gewaltsam und gleichsam kontrafaktisch meint man sich selbst daran erinnern zu müssen, daß die Erfahrung lehrt, daß auch das dauerhafteste Regnen noch immer einmal zu Ende ging. Il pleure dans mon coeur Comme il pleut sur la ville. Quelle est cette langueur, qui pénètre mon coeur? (Verlaine, aus Romances sans paroles) Als Motto steht über diesem Gedicht eine Zeile von Rimbaud: »Il pleut doucement sur la ville.« Daß dieses Motto gewählt wurde, ist erstaunlich, weil die douceur eine ziemlich andere Regen-Gestimmtheit zum Ausdruck bringt als das Gedicht selbst. Die langueur, die sich vom verregneten Tag, der verregneten Stadt in das Herz hinein fortsetzt und in ihm sich ausweint, mag zwar still und fast unmerklich sein, aber sie vermittelt dem Herzen wohl keine douceur, nichts Sanftes. Beide Male sind es allerdings Gestimmtheiten der Seele, die der Regen hervorruft. Er teilt uns oft eine ganz spezifische Stimmung mit. Die Stimmungen, die der Regen hervorruft und die ihm zuzugehören scheinen, sind jeweils sehr unterschiedlich. Man kennt die durch Nebel und Regen hervorgerufene, den Depressiven gefährliche Novemberstimmung. Anders ist die graue Mißstimmung, die einen überkommen kann, wenn man ihm eine Zeit lang selbst ungeschützt ausgesetzt ist, so 193 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

daß man mehr und mehr, bis auf die Haut, durch-näßt wird. Oder denken wir umgekehrt an das erregte Glücksgefühl bei einem plötzlichen Gewitterregen nach einem schwül warmen Tag. Oder an den ersten Frühlingsregen des Jahres, in dem man das kommende Wachsen mit zu hören und zu sehen meint. Im melancholischen Dauerregen wird, wie erwähnt, das Durchdringende und verschleiernd Erfüllende, die durchgreifende Allgemeinheit des Regens besonders deutlich. Der duftende Regenschauer an einem Sommerabend nach der großen Hitze kann sich zwar auch wie ein Vorhang vor alles Sichtbare legen; aber zugleich stellt er – zumal wenn es gleichzeitig noch oder schon hervorbrechende Sonnenstrahlen, vielleicht sogar einen Regenbogen gibt – das Einzelne in klaren Linien heraus; er setzt Akzente. Auch das vermittelt eine ganz eigene Stimmung, in die wir hineingezogen werden. Das Wasser, das sichtbar-undurchsichtig vom Himmel auf die Erde fällt oder das – als Nieselregen, als Nebel, als sommerschwüler Dunst – den Raum zwischen Erde und Himmel erfüllt, hüllt nicht nur alles um uns herum ein, sondern auch und gerade uns selbst. Regen ist nicht gleich Regen. Ob es gelegentliche Schauer sind oder plötzliche Wolkenbrüche, ein feiner Nieselregen oder ein herniederprasselnder Platzregen, ob es sich um die ersten, ersehnten Tropfen handelt oder das tagelange Vorsich-hinregnen, ob es der »strichweise Regen« ist, den wir in der Ferne niedergehen sehen, wie einen Schleier oder Vorhang, ob wir ihn aus dem Trockenen heraus sehen, durch das Fenster, an dem seine Tropfen niederrinnen, oder ob wir im Freien von ihm überrascht werden, – das Phänomen »Regen« und seine Erfahrung sind jeweils ganz verschiedene. Und auch wo er fällt, macht den Regen zu einem je anderen. Der Regen in der Stadt ist verschieden von dem auf dem Land, in den Bergen hat er eine andere Qualität als über 194 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

dem Meer. Es gibt kaum etwas Niederdrückenderes als den Regen auf einem Friedhof, bei einer Beerdigung. * Vielleicht hängt die besondere Stimmungsvalenz des Regens und der ihm verwandten Erscheinungen zumindest auch damit zusammen, daß er wesentlich eine raumhafte, raumerfüllende Verbindung von Himmel und Erde herstellt. Es wäre zwar übertrieben zu sagen, daß die Erfahrung des Regens einen Widerspruch zu unserer üblichen Raumerfahrung bedeutet. Aber unser Grundwissen von dem Raum zwischen Himmel und Erde scheint gleichwohl eher das eines leeren Raumes zu sein, von dem wir zwar rational wissen, daß er von Luft erfüllt ist, der unserem Alltagsverständnis aber als leer erscheint. Nur wenn es regnet, oder auch im Nebel, ist es anders. Bei beiden, beim Regen und beim Nebel – oder auch beim Schneefall –, gibt es diese seltsame, unfaßlich-faßbare Raumhaftigkeit, zu der auch ihre eigentümliche Farblosigkeit gehört. Sie verschleiern oder verstellen unsere gewohnte Sicht, die durch den Raum wie durch ein Leeres hindurch auf die Dinge zu sehen pflegt. Der Luftraum erscheint jetzt in einer eigenen Materialität, eben der des Wäßrigen. Wir sind diese Phänomene von klein auf so gewöhnt, daß wir die besondere raumerfüllende Eigenart des Regens und – in feinerer, zugleich noch weniger greifbarer, aber doch noch durchdringenderer Weise – des Nebels, der ja gewissermaßen die Grenze zwischen flüssigem und »luftartigem« Zustand des Wassers bedeutet, gar nicht mehr besonders wahrnehmen. Die »unfaßlich-faßbare Raumhaftigkeit« ist im übrigen vielleicht auch einer der Gründe dafür, daß es so schwierig zu sein scheint, ihn zu malen. Jedenfalls gibt es, zumindest in unserem Kulturkreis, nur wenige Bilder vom Regen. (Und auch relativ wenige Gedichte.) 195 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Eine kurze Bemerkung möchte ich hier zu chinesischen Bildern machen, auf denen zuweilen doch der Regen erscheint. Er fällt dann oftmals eher schräg als senkrecht. Wie überhaupt die Diagonale auf diesen Bildern eine besondere Bedeutung hat. Vielleicht gibt sie eine ausgezeichnete Möglichkeit, das, was ich die nichthafte Raumhaftigkeit nenne, sichtbar zu machen. Der Vogelflug, die Einzeichnung von Tälern, die Anordnung von verstreut versteckt liegenden Häusern u. a. m. bewirken, daß der Raum den wesentlich nicht zentrierten Blick auf sich zieht, obgleich er doch als solcher unsichtbar ist. Die Diagonale kann als Vermittlung zwischen der irdischen Horizontale und der Vertikale der Distanz von Himmel und Erde gesehen werden. Mit dem Raum zwischen Vorder- und Hintergrund wird zugleich der Raum zwischen unten und oben ins Bild geholt, der auch, zumindest zu einem Teil, der Raum zwischen Erde und Himmel, der Raum der Natur ist, in dem für die chinesischen Maler Berg und Wasser die beiden hervorragenden »Bestandteile« sind. Im mythologischen Wissen der Völker sind das Wasser und der Regen als räumlich Verbindendes zwischen Himmel und Erde auf vielfache Weise gegenwärtig. Jakob Ozols schreibt: »Der Gewittergott hält sich in den Regenwolken auf, die seine heilige Wohnung genannt werden, während er selbst als der ›Wolkenreiter‹ bezeichnet wird. Seine Kultstätten sind hohe Berge oder, wo solche fehlen, einzelne Anhöhen. Das sind Stellen, die er mit seinen Wolken streift und auf denen er den Menschen am nächsten ist. Außerdem läßt er von den Bergen und Anhöhen ebenso das allen lebenswichtige Wasser herabfließen wie aus den dunklen Wolken. In seiner Macht über das Wasser ist auch seine Herrschaft über die Welt begründet.« (Tod und Jenseits im Glauben der Völker, 26 f.) Das Wasser ist hier das Verbindungsglied zwischen der Gottheit, die auf den Bergen und d. h. in der Höhe wohnt, 196 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

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und den Menschen, Tieren und Pflanzen als Bewohnern der Erde. Das von oben regnende und fließende Wasser ist gewissermaßen das sichtbare Zeichen für die Wirkung des Himmlischen auf das Irdische. Entsprechend kann es von Menschen, die in besonderer Beziehung zur Geisterwelt stehen, Schamanen etwa, durch den Regenzauber beeinflußt werden. Anderswo wird im Regen unmittelbar ein Bezug zwischen Himmel und Erde gesehen: der Himmel läßt es regnen und begattet so die Erde, daß sie Leben tragen und erhalten kann: »Am Anfang aller Dinge tauchte Mutter Erde aus dem Chaos und gebar im Schlafe ihren Sohn Uranos. Er blickte von den Bergen liebevoll auf sie herab und sprühte fruchtbaren Regen über die geheimen Öffnungen ihres Leibes. Da gebar sie das Gras, die Blumen und die Bäume und auch die Tiere und Vögel, die dazu gehörten. Der gleiche Regen brachte die Flüsse zum Fließen und füllte die Tiefen, so daß Seen und Meere entstanden.« (Ranke-Graves, Griechische Mythologie I, 26) Aber auch ohne daß wir auf Mythen rekurrieren müßten, ist deutlich, daß im Kreislauf des Wassers, der es vom Himmel auf die Erde fallen und wieder von der Erde zum Himmel aufsteigen läßt, ein Sich-verbinden von Himmel und Erde geschieht. Der Regen verbindet, anders im einzelnen Regenschauer und anders im fast endlosen Dauerregen, den Raum zwischen Oben und Unten, zwischen Himmel und Erde. Der Himmel öffnet seine Schleusen, sagt der Volksmund. Der Regen macht mit seiner Bewegung den Raum oder Zwischenraum zwischen Himmel und Erde selbst sichtbar, gerade indem er diesen Raum »ausfüllt«. Das Wasser gehört zum Himmel und zur Erde; es ist sowohl himmlisch wie irdisch. Es ist Wasser, das vom Himmel kommt und zum Himmel zurückkehrt. Und ist ebenso Wasser, das selbst Teil der Erde ist und aus der Erde kommt. Die Erde bzw. das Leben auf ihr hat die wassergesättigte Atmosphäre zu ihrer Voraussetzung; drei Viertel ihrer Oberfläche sind von Wasser be203 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

deckt, von Meeren, Seen, Strömen bis hin zu Bächen, Quellen und Tümpeln. (Die Lebewesen, und so auch die Menschen, bestehen erstaunlicherweise zu einem etwa gleich großen Anteil aus Wasser wie die Erde, auf der sie wohnen.) Obgleich es zu dem Selbstverständlichsten unserer condition humaine gehört, uns unter dem Himmel und auf der Erde aufzuhalten, hat diese Grundtatsache für unser heutiges bewußtes und ausdrückliches Selbstverständnis keine größere Relevanz. Mir sind in der Universität junge Menschen begegnet, die mit der Rede vom Himmel, ja sogar mit der von der Erde, auf der wir stehen und gehen, nichts Konkretes mehr verbinden konnten. Die naturwissenschaftlichen, kosmologischen Erkenntnisse waren einfach stärker als die überkommenen Alltagssichten, das vorherrschende abstrakte Wissen hatte sich weitgehend vor die konkrete Erfahrung geschoben. Die tatsächliche Erfahrung z. B. der Wolken und des Sonnenlaufs, der Mondphasen oder der Winde »gilt« dann weniger als das »Wissen«, das die Naturwissenschaften über die reale Welt angesammelt haben. In verwandtem Sinne wird häufig gesagt, daß es »das Natürliche« als solches gar nicht mehr gibt, daß wir nur noch Menschengemachtes und durch Menschen Verändertes, also Künstliches um uns herum antreffen. Demgegenüber halte ich daran fest, daß ein Regentropfen »Natur« bleibt, auch wenn es sich um »sauren Regen« handelt. Auch das Wasser in Pfützen ist noch »Natur«. Und ich denke, daß es für unser In-der-Welt-sein, für unser Wissen von uns selbst und für unsere Fähigkeit, auf angemessene Weise miteinander umzugehen und uns gegenseitig als Andere zu respektieren, von großer Bedeutung ist, die Natur weiterhin oder erneut als unser primäres Anderes – außer uns und in uns – anzuerkennen. Nicht nur, weil wir ihr in Mythen und Symbolen, vor allem in der Literatur immer wieder neu begegnen. Uns in der Natur und damit als leibhafte Teile der Natur 204 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

zu wissen, heißt auch und maßgeblich, uns auf der Erde und unter dem Himmel zu wissen und zu verorten. Ein Blick auf den Regen, der – sei es schräg, sei es senkrecht – den Raum durch-zeichnet, kann diese Verortung real erfahrbar, sichtbar, fühlbar machen. Im Regen, der den Geruch eines Sommerabends haben kann oder auch den von Friedhöfen im November, bis hin dazu, daß er irgendwo auch – ich komme darauf zurück – den Geschmack von Wüste hervorzurufen vermag, erfahren wir uns selbst als irdische Wesen. (Von da aus kann uns vielleicht aufgehen, wie merkwürdig das mit unserem wissenschaftlich geprägten Weltbild eigentlich ist, daß wir uns mit ihm gewissermaßen aus dem realen Raum zwischen Himmel und Erde herauskatapultiert haben in jenen kosmologisch erkannten »leeren« Raum, in dem Materie bzw. Energieteilchen herumschwirren, – wobei die Färbung des Wortes »herumschwirren« ihrerseits schon zu subjektiv sein mag.) * Daß der Regen so unterschiedliche Gefühle, Stimmungen und Gemütslagen hervorruft, steht aber auch in Zusammenhang damit, daß er eine solch starke sinnliche Präsenz hat. Wir fühlen ihn, wie wir ihn sehen, riechen, schmecken, hören, spüren. Scheinbar riechen wir zwar den Regen nicht – höchstens den Smog, von dem er in den großen Städten manchmal gesättigt ist. Aber wir riechen den Duft der Erde, die ihn durstig in sich aufgesogen hat. Wenn wir ihm nicht unmittelbar körperlich ausgesetzt sind, so daß wir ihn auf der Haut spüren – als lauen, warmen, weichen oder als eiskalten, fast stechenden Regen, als freundliche Abkühlung oder als üble Nässe, die durch die Kleider dringt –, so sehen wir den Regen wohl zuerst. Allerdings ist die sinnliche Erfahrung des Regens sehr viel geringer geworden, seit wir in festen Häusern wohnen, (höchstens) Leitungswasser trinken, über was205 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

serundurchlässige Kleidung verfügen usw. Wir erfahren ihn vor allem, wenn wir »draußen« sind, »in der Natur«. Immerhin können wir ihn noch sehen. Z. B. die Ringe, die die fallenden Regentropfen auf Teichen und Tümpeln hervorrufen. Als Regenschleier über der Landschaft. Als einzelne Tropfen oder herniederstürzende Wassermassen am Fenster, auf Zweigen und in Pfützen, eintönig grau oder von der Sonne durchspiegelt. Fast unsichtbar im Nieseln oder fast greifbar raumerfüllend, wenn es schüttet. Und so hören wir auch sein Rauschen in den Blättern der Bäume, eintönig oder zu- und abnehmend oder überhaupt erst herannahend. Die ersten Tropfen auf dem Zeltdach, – es gibt kaum »Heimeligeres«, auch wenn dann das stetige Trommeln nach vierundzwanzig Stunden eine andere Qualität bekommt. Zuweilen scheint es, als gebe der Regen dem Raum selbst eine Hörbarkeit, wie Rilke es vielleicht im Sinn hatte, als er schrieb: »und die Brunnen rauschten wie Regen, / und es war, als käme kein Morgen / dieser langen Nacht entgegen.« (Die aus dem Hause Colonna) Doch auch in den Häusern hören wir den Regen manchmal, wenn er gegen die Scheiben, auf die Regenrinne oder z. B. auf ein nahes Blechdach prasselt. Wie das weiche Regenwasser schmeckt, wissen wir heute kaum mehr. Als Kinder haben wir vielleicht zuweilen die Münder aufgesperrt, die Zunge herausgestreckt, um die Tropfen aufzufangen. Es gibt eine schöne Geschichte über einen Papago-Jungen aus der Sonora-Wüste im Süden von Nordamerika. Auf die Frage nach dem Geschmack der Wüste antwortete er nach kurzem Zögern: »Die Wüste schmeckt wie Regen.« (Gary Paul Nabhan, The Desert Smells Like Rain, 5: »The question had triggered a scent – creosote bushes after a storm – their aromatic oils released by the rains. His nose remembered being out in the desert, overtaken: the desert smells like rain.«) Das ist nicht nur im Sinne des lucus 206 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

a non lucendo zu verstehen, es wird hier nicht einfach etwas von dem her bezeichnet, was es gerade nicht ist und was, als fehlend, eben dadurch auffällt. Sondern der Regen ist in dieser Wüste als ihr Geschmack oder Geruch präsent, weil er – wenn auch in kostbarer Seltenheit – kommen wird, insofern aus ihm heraus und durch ihn die Wüste zum Erwachen und Blühen kommt. Der Regen ist ein Geheimnis, das die Wüste selbst birgt, das in ihr aufbewahrt wird und das, wenn es heraustritt in die unverborgene Wirklichkeit, diese selbst verwandelt und zum Leben bringt, sie also auch seinerseits entbirgt. Der Raum zwischen Himmel und Erde erfüllt sich in diesem »Die Wüste schmeckt wie Regen«, sowohl in der Art eines Enthüllens wie auch eines Einhüllens und Verhüllens. Eine besondere sinnliche Präsenz hat der mit starkem Sturm verbundene heftige Regen, im Gewitter etwa oder gar im Hurrikan. Die schwarze Wolkenfront, vielleicht mit grauen windgepeitschten Wolkenfetzen davor, baut sich immer drohender auf, daß es einem fast den Atem nimmt, das Tageslicht scheint zu schwinden, der Sturm schüttelt die Bäume und rüttelt an den Pfosten und Masten. Wenn dann der Regen losbricht, nicht mehr in einzelnen Tropfen, sondern in herabprasselnden Wassermassen, sprechen wir wohl von einer »Weltuntergangsstimmung«. Regen und Sturm erscheinen als ein Eines, in übermächtiger und alles beherrschender Sinnenhaftigkeit. * Damit wären wir auch schon bei den Wolken, ohne die der Regen nicht einmal gedacht werden kann. Aber die keineswegs immer Regen bringen. In einem Nausikaa-Fragment von Goethe steht die Zeile: »Und duftend schwebt der Äther ohne Wolken.« Mir erschien es immer so, als wären in dieser wunderschönen Bemerkung trotz des »ohne Wolken« gerade 207 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

die zarten, kaum sichtbaren Wölkchen in einem zart blauen Himmel genannt, der ›duftende Äther‹ duftet, so scheint mir, im verwehenden Erscheinen heller, kaum wahrnehmbarer Wolken-Andeutungen. Jedenfalls fällt mir diese Zeile immer bei einem solchen Himmel ein. Gleichwohl stimmt es natürlich: der Regen fällt aus den Wolken, die über den Himmel ziehen. Oder in den Bergen hängen. Beim Wandern kann man in sie hineingeraten, beim Fliegen auch durch sie hindurchstoßen, wenn das Blau des Himmels dann über und um uns ist und sich die Wolken, eine relativ dünne Schicht über der Erde, wogend unter uns ausbreiten. Wolkenerscheinungen sind vielleicht noch vielfältiger als Regenphänomene. Zu jedem Wetter gehören eigene Formationen, wie auch jede Landschaft ihre eigenen typischen Wolkenbildungen zu haben scheint. Die ziehenden, wandernden, schwebenden, auf- und niedersteigenden, treibenden, sich jagenden, zerfließenden, sich auflösenden Wolken scheinen zuweilen so etwas wie Gestalt gewordene Bewegung zu sein. »Wandelt sich rasch auch die Welt / wie Wolkengestalten, …«, dichtet Rilke (Sonette an Orpheus, Erster Teil, XIX). Im Gegensatz zu den meisten Bewegungsarten, die wir von der Erde kennen, bewegt, d. h. hier verändert sich bei den Wolken auch ihre eigene Gestalt, wenn wir überhaupt von einer solchen sprechen können. Insofern wandelt sich die Welt auch gerade nicht wie Wolkengestalten, bzw. die Wolken-»Gestalten« wandeln sich eben nicht wie die Welt. Wenn die Welt und etwas in der Welt sich ändert, gibt es neben dem, was sich ändert, immer auch etwas, das sich durchhält, an dem sich etwas wandelt oder mit dem sich etwas verändert. Man muß nur einmal versuchen, die aristotelische Verdeutlichung einer Substanz, wie er sie z. B. so häufig am Haus als seinem ausgezeichneten Beispiel für das Zusammengesetztsein des selbständig Seienden aus Stoff und Form vorführt, auf eine Wolke zu bezie208 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

hen, um sich die Verlegenheit vorzustellen, in die metaphysische Denker gekommen wären, wenn man sie zu einer Bestimmung der Seinsart einer Wolke aufgefordert hätte. Die Wolken haben – wie das Wasser überhaupt – gerade keine feste Materialität; nur unsere Einbildungskraft spicht davon, daß sie wie Löwen erscheinen, die sich in Drachen, in Reiter, in Schlösser und wieder in Drachen verwandeln. Das sind unsere Bilder, die unsere Phantasie zu ihren Reisen entbinden und zu ihren Träumen verführen. Auch die Gestaltlosigkeit, Substanzlosigkeit und Immaterialität der Wolken können uns zwar zum Träumen bringen, aber das ist dann selbst ein gestaltloses, unbestimmtes Träumen. Oft wurden die Wolkenformationen, ihr Sich-Verändern und ihr Dahinziehen beschrieben oder besungen. In Aristophanes’ Wolken ruft Sokrates sie mit diesen Worten an (Erste Scene): Kommt, kommt, hochheilige Wolken, … Wo ihr immer verweilt, auf Olympos’ Höh’n, den beschneiten, heiligen, oder In Vater Okeanos’ Gärten, vereint mit den Nymphen zum festlichen Reigen, Ob am flutenden Nil ihr soeben die Flut in goldenen Eimern heraufzieht, Ob ihr schwebt am maiotischen See oder fern auf dem schneeigen Gipfel des Mimas: Wo ihr seid, o erhört mich … Und die Wolken nahen tatsächlich, unter Blitz und Donner: Schwimmende Wolken, ans Licht Ziehn wir, die leuchtenden, ewig beweglichen, Unversieglichen, Ziehen herauf aus dem Schoße des tosenden Vaters Okeanos … 209 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Auch hier wird u. a. die Beweglichkeit und Unfestigkeit der Wolken betont. Aber sie stehen keinewegs nur für ständige Wandlung, z. B. verhüllen sie auch, – wie der heftige Regen. Verschiedentlich spricht Ovid in seinen Metamorphosen davon, wie Götter sowohl von ihnen geliebte Menschen wie auch sich selbst in Wolken hüllen, um sie zu verbergen: Hyppolitos wird von Cynthia in dichtes Gewölke gehüllt (XV, 536), und Arethusa wird bei ihrer Flucht vor dem Flußgott Alphaios von Artemis/Diana auf die selbe Weise beschützt: »Mitleid fühlte die Göttin und warf eine Wolke aus ihrem Dichten Gewölk über mich. Es späht der Strom nach der jetzo Nebelgeschützten und kreist um die Wolke, die hohle, nichtsahnend.« (V, 621) Als Iphigenie geopfert werden soll, um den Griechen die Fahrt nach Troja zu ermöglichen, überzieht Artemis die Augen der versammelten Krieger mit Gewölk und ersetzt die zum Opfer Bestimmte durch eine Hindin. (XII, 32) Es kann einem auch der höhnisch herausfordernde Beginn von Goethes »Prometheus« einfallen: »Bedecke deinen Himmel, Zeus / mit Wolkendunst«. Von Goethe mögen hier auch noch einige Zeilen zum Regen nachgetragen werden, die sich gut in ein letztes Kapitel vom Wasser fügen: Warum nennt mein Lied dich zuletzt, Dich, von dem es begann, Dich, in dem es endet, Dich, aus dem es quillt, Jupiter Pluvius! Dich, dich strömt mein Lied, Und Castalischer Quell Rinnt, ein Nebenbach, Rinnet müßigen, Sterblich Glücklichen Abseits von dir, 210 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

der du mich fassend deckst, Jupiter Pluvius! (Aus Wanderers Sturmlied) * Das Einhüllen und Verhüllen ist besonders sinnfällig im Nebel (wie ja auch die Wolken, wenn sie durch die Täler und an den Berghängen hinauf ziehen, vom Nebel kaum zu unterscheiden sind). Ich möchte hierzu zunächst zwei Aussagen anführen, die ihn auf das Denken beziehen. Von de Saussure habe ich irgendwo gelesen: »Das Denken, für sich allein genommen, ist wie eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist … nichts ist bestimmt, ehe die Sprache in Erscheinung tritt.« (Grenzen der Sprachwissenschaft) Und Umberto Eco bemerkt: »Um zu denken, um ein Innenleben zu haben, braucht man erst einmal Einsamkeit und Schweigen. Ich bin in einer nebligen Gegend [Alessandria, im Piemont] geboren, und ich glaube, daß Nebel ein wesentliches Element für ein denkendes Wesen ist.« (Spiegel-Interview, Spiegel Nr. 33, 13. 8. 01, S. 175) Einmal mehr negativ, einmal durchaus positiv, wird in diesen beiden Äußerungen der Nebel mit dem Denken in Verbindung gebracht. Negativ bleibt das Denken solange nebelhaft, als es sich nicht in Sprache und durch Sprache artikuliert, bestimmt wird, sich nicht in spezifischen Strukturen und abgegrenzten Wortbedeutungen fest-setzt. Das positive Verständnis des Nebel-Vergleichs ist demgegenüber zunächst eher ungewohnt. Wenn wir von einer »Vernebelung« oder von etwas »Nebulösem« sprechen, spielen wir gewöhnlich darauf an, daß das Denken dann keinen freien Blick, keine Sicht hat, die Umrisse seiner Umgebung nicht klar erkennen kann. Aber es scheint gerade dies zu sein, was Eco positiv aufgreift, wenn er den Nebel als ein wesentliches Element für 211 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

ein denkendes Wesen begreift. Einsamkeit und Schweigen und Nebel versammeln das Denken auf sich selbst, weil der Raum um es herum nicht durch fremdes, ja zunächst durch überhaupt kein Sprechen, durch kein Begrenztes und Festes und Sicher-Gesichertes verstellt ist. Das Schwebende, die Offenheit, das Unbestimmte könnten – wie wir heute zu sehen beginnen – dem Denken wesentlicher sein als die Sicherheit und Bestimmtheit, die ihm in unserer Tradition immer wieder zugesprochen und nahegelegt wurden. Hermann Hesse hat ein – ziemlich bekanntes – Gedicht Im Nebel geschrieben; seine erste Strophe lautet: Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Busch und Stein, Kein Baum sieht den andern, Jeder ist allein. Und die letzte: Seltsam, im Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, Jeder ist allein. Ähnlich fehlt auch den Gedanken, wenn sie den Charakter von Nebel haben, ein fester und sicherer Anhalt, sie schweifen umher und scheinen selbst räumlich-bereichhaft zu sein, sie wachsen aus sich selbst heraus oder wachsen dem Denken aus dem farblosen Raum heraus zu. Ihre Verbindungen zu Anderem scheinen nicht mehr wahrnehmbar, sie stehen für sich, einsam. Die Umrisse, die der Nebel gleichwohl freigibt, haben eine unwirkliche Wirklichkeit, erscheinen ungewohnt, seltsam, erstaunlich. Zum Beispiel der Turm in diesem Haiku von Shiki: 212 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Die Nebel kamen, Die Berge schwanden langsam, Allein der Turm blieb. Wir könnten vielleicht auch betonen: Allein der Turm blieb, oder umstellen: Der Turm blieb allein. Der Nebel vereinzelt, gerade weil er die Umrisse verwischt, nicht nur die des Anderen, des im Nebel nur schemenhaft Wahrgenommenen, sondern auch die eigenen. Das ist nicht die Vereinzelung des Umgrenzten, im wörtlichen Sinne Umrissenen, Definierten. Vielmehr die Erfahrung des In-der-Schwebe-bleibens der Bezüge, der Möglichkeiten vor der Ermöglichung. Der schattenhafte Umriß des einzelnen Turms oder des einzelnen Baums kann, gerade weil er aus der gewohnten Bedeutsamkeit herausgenommen, gleichsam in den nichtigen Raum, das schattenhafte Nichts hineingehalten ist, alles und nichts sein, sich als dieses oder jenes erweisen, er scheint noch offen zu sein im Hinblick auf diese oder jene Möglichkeiten. Einsamkeit und Schweigen als grundsätzlich offener Raum für ein Denken, das sich immer noch erst dem einen oder dem anderen oder vielleicht auch gar nichts Bestimmtem zuwenden kann. Blicken wir zum Vergleich auf die Nacht, die auch, in noch radikalerer Weise, die gewohnte Sicht auf die Dinge unmöglich macht. Aber die Nacht hat – vielleicht von besonderen Ausnahmeerfahrungen abgesehen, wo das Dunkel wie mit Händen greifbar erscheint und fast eine samtene Beschaffenheit annehmen kann – keine eigene Materialität. Ihr Verhüllen ist darum von anderer Art. Besonders deutlich wird der Unterschied, wenn Lichter einerseits in der Dunkelheit, andererseits im Nebel aufscheinen, wo sie sich diffus ausbreiten, man sieht gleichsam die Mühe, ihn zu durchdringen. Auch die Undeutlichkeit der Dinge in der Dämmerung ist anders als im Nebel, – oder im Regen, wo die Gegenstände 213 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

in anderer Weise diffus, verschwommen, wie in Auflösung erscheinen. Etwas Besonderes ist der Nebel auf dem Wasser. Schiffe im Nebel z. B., die schemenhaft vorüberziehen, oder auf denen wir angespannt ins Grau hinausspähen. Der wiederkehrende Ton der Nebelhörner ist unheimlich und beruhigend zugleich. Die »Materialität« des Nebels ist eine merkwürdig unbestimmte, eben »nebelhafte«, »nebulöse«, was ihr eine gewisse Nichthaftigkeit verleiht. Auf chinesischen Bildern, die Landschaften wiedergeben bzw. erzählen, ist der Raum zwischen Vordergrund und Hintergrund oft durch Nebel ausgefüllt, durch einen Nebel oder Dunst, der gewöhnlich in der Weise »gemalt« ist, daß die Stelle leer gelassen wurde. Bei der Verwendung von Wasserläufen und Wasserfällen als raumbildenden Elementen besteht ein wesentliches Kompositionsprinzip darin, sie nicht vollständig zu zeigen. Denn gerade durch das Intervall, die Unterbrechung des strömenden Wassers durch Dunst oder Wolken oder Nebel und die Überschneidung durch andere Bildelemente entsteht räumliche Tiefe. Der Nebel wird hier durch Nichts gemalt. Vielleicht auch als Nichts. Gerade weil er den Raum vor den Bergen, oftmals zwischen Wasser und Bergen bezeichnet, der das unbestimmte nichthafte Zwischen ist, aus dem heraus alles in sein Erscheinen kommt, darf er auch als ein solches Nichts selbst erscheinen. Faktisch heißt das, daß das Bild in gewissem Sinne um dieses Nichts herum gemalt wird. Oder daß, indem die Landschaft – Berge und Kiefern und Wasserfälle und kleine Pagoden und Gebirgsklausen und Eremiten – gemalt wird, dem Nichts, in dem die Dinge sich letztlich aufhalten, anhand ihrer ein Zum-Vorschein-Kommen gegeben wird, nicht als begrenzt Ausgespartes, nicht als ein irgendwie geartetes Dieses, sondern als ontologischer Hintergrund. 214 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Der Nebel steht wie der Regen oft in besonderer Weise für ein jeweiliges Gestimmtsein unseres Wohnens im Zwischen von Himmel und Erde. Ich führe zum Abschluß – bzw. besser: vor dem Abbrechen – nur drei bekannte Erwähnungen des Nebels an: »Der Nebel steigt, es fällt das Laub« (Storm, Herbstlied), »und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar« (Claudius), und noch einmal Hesses »Seltsam im Nebel zu wandern, einsam ist jeder Busch und Stein«. Jedes Mal stehen diese Nennungen des Nebels in dem je verschiedenen Kontext einer ganz eigenen Stimmung, einer je anderen Weise menschlichen In-der-Welt-seins zwischen Himmel und Erde. Ähnliches sehen wir ja auch in Wolkenphantasien oder -träumereien: die drohenden, dunklen, schwarzen Wolken, die trüben, unheilvollen, oder auch die weißen, heiteren Wölkchen, – jeweils eine eigene Gestimmtheit, eine besondere Atmosphäre. Der bewohnte Raum zwischen Himmel und Erde ist immer durch eine derartige Atmosphäre gekennzeichnet, er ist gestimmt, gefärbt, getönt. Die Färbungen und Tönungen, die sich aus der jeweiligen Konstellation verschiedener Bewandtnisse ergeben mögen, finden sich in die nur scheinbar bloß meteorologischen Gegebenheiten eingeprägt und sprechen aus ihnen: Regen, der weint und damit das eigene Weinen wiederholt, Wolken, die drohen, Nebel, der einhüllt und einsam macht. Jeweils sind das Analogien oder Entsprechungen, die wir wahrnehmen, die uns etwas zeigen, uns sogar betreffen, ohne daß es möglich wäre, sie auf einen strengen und exakten Begriff zu bringen. Und ersichtlich sind es, zumindest zum Teil, keine bloßen Übertragungen unserer subjektiven Befindlichkeit in oder auf den objektiv gegebenen Wolkenhimmel, sondern die Nebel bedrücken wirklich, die Wolken drohen oder verdüstern tatsächlich, der Regen weint wie in Tränen.

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Zum Schluß

Und wie kommt man mit einem Buch, das vom Wasser handelt, zu einem Schluß? Wie finden wir wieder hinaus aus einer Beschäftigung mit dem fließenden Element? Das Wasser, unfixierbar, nicht substanzhaft, veränderlich in all seinen »Gestalten«, hat keine Grenzen und setzt keine Grenzen. Ich komme mit ihm an kein Ende. Der bloße Gedanke, mit dem Sagen von ihm aufhören zu wollen, überschwemmt mich mit einer Flut von Momenten und Aspekten, die noch nicht oder nicht genügend berührt wurden, von Erfahrungen, die noch zu nennen wären, die vielleicht »eigentlich« zu behandeln gewesen wären, auf die ich hätte aufmerken sollen. Darum will ich in diesem abschließenden Abschnitt gewissermaßen die Schleusen öffnen und die Wasser strömen lassen, eher zuschauend als eingreifend oder gar in Form bringend. Dabei melden sich sowohl Aspekte zu Wort, die in den Zusammenhang der zuvor thematisierten Bereiche gehört hätten, wie auch solche, denen bisher noch gar kein Raum gegeben wurde. Wie oft habe ich, wenn ich am Meer stand, schmerzhaft meine Unfähigkeit empfunden, etwas von der ungeheuren Präsenz, Mächtigkeit und Kraft in Worte zu fassen, die da vor mir lag. (Schon dies: als ob das Meer »liegen« würde!) Ich habe darauf verzichtet. Den Dichtern habe ich nicht ins Zeug zu pfuschen versucht, ich habe sie vielmehr ziemlich ausgiebig selbst sprechen lassen. Aber ich habe versucht, so zu schreiben, daß jeweils Raum genug blieb für ein Sich-einfügen der eigenen Gedanken, Erfahrungen und Träume der 217 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Lesenden. Ich wollte gewisse Anstöße geben, sich auf Wasser-Erfahrungen einzulassen bzw. sich an sie zu erinnern. Und dieses Vorhaben intensiviere ich nun zum Schluß, treibe es insofern auf die Spitze, als ich nur noch benenne. Natürlich wiederum und fast noch deutlicher ohne Abschluß, assoziativ, andeutend, aufzählend. * Das Wasser der Meere – das ist nicht nur Stille, Weite, Tiefe, Ferne. Es ist wütendes Stürmen, ist Gischt, Wellen, Brandung. Und ist stilles, unendlich sich erstreckendes Daliegen, überglitzert von der Sonne, schwarzsilbern leuchtend vom Mond Das Meer der Buchten und der Felsstrände. Weißer oder grauer oder rosafarbener Sand Unterwasserhöhlen. Mangrovenküsten. Korallenriffe und Atolle. Meeresbuchten und Lagunen. Meerengen. Das Kap der Guten Hoffnung. Der Golfstrom. Tiefsee und Wattenmeer. Die Halligen Ebbe und Flut, Priele und Dünen und Deiche, Leuchttürme Das (weitgehend vergangene) Meer der Seeleute mit seiner echten oder falschen Romantik. Shanties und La Paloma, Schifferklavier und Hafenkneipe. Das Meer der Piraten und Freibeuter. U-Boote und Flugzeugträger. Ozeandampfer und Kreuzfahrtschiffe. Tanker und Containerschiffe. Kaimauern, Hebeanlagen, Kräne Fischerdörfer und Handelshäfen Das Wasser der Seen – der kleinen Teiche und Tümpel wie der großen von den Eiszeiten zurückgelassenen Seenplatten. Die Teiche der Frösche und Kröten, der Libellen und Wasserläufer, des Schilfs und der Seerosen, der alles Offene

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überdeckenden Entengrütze. Und auch der träge vor sich hindösenden Kaimane Wasser in kleinen Rinnsalen. Matsch, Mud und Schlamm, Morast, Sumpf. Pfützen – Dreck und Himmelsspiegelung Überschwemmungen von Flüssen und Meeren. Leben bringend und Leben zerstörend. In regelmäßiger Wiederkehr oder in jäher, unvorhersehbarer Gewalt. Verursacht durch Hurrikane oder Seebeben, durch Sturmfluten oder Regengüsse, durch die Schneeschmelze, durch Dammbrüche Das Wasser in Tau und Rauhreif, in Schneeflocken, in Hagelkörnern. Die Gletscher, gletscherblau, gletscherweiß, scheinbar zu Gestalt erstarrt, doch in unendlicher Veränderung und Bewegung, kalbend ins Meer, herunterbrechend in Lawinen. Eisberge Das Wasser in Tropfsteinhöhlen. Geysire, Thermalquellen. Blubberndes, versickerndes Wasser, ablagernd oder fortspülend. Träge, in Wirbeln oder mit reißender Strömung Der Blautopf, Freiburgs »Bächle«, die plätschernden Brunnen im abendlichen Basel Klares, durchsichtiges und trübes, morastiges Wasser, sauberes und vergiftetes Wasser Oasen. Wasserstellen. Tränken. Heller Wasserstrahl. Wasserträger Wasser-Bauwerke: Wasserspiele und Springbrunnen. Bewässerungs-, Berieselungsanlagen. Kanäle, Wehre, Staudämme, Talsperren, Kraftwerke. Aquaedukte. Brücken und Stege. Mühlen Wasser an den Fensterscheiben, Wassertropfen, langsam, wie zögernd hinabfließend, sich sammelnd mit anderen. Kondenswasser. Eisblumen, die im Angehauchtwerden langsam zergehen Waschwasser, Duschwasser, Kochwasser, Trinkwasser. Wasser in Gläsern, Bechern, Tassen, in Krügen und Kannen 219 https://doi.org/10.5771/9783495817179 .

Wasser in Wasserleitungen, gezähmt, zubereitet, mit Chemikalien versetzt, von besserer oder minderer Qualität. Geeignet oder ungeeignet, daraus Tee zu kochen. Verfügbar jedenfalls (noch), man muß nur den Hahn aufdrehen – bei uns Wasserknappheit. Kriege um Wasser. Das Wasser in den Fieberträumen Verdurstender Wasser der menschlichen Körperfeuchtigkeiten und -flüssigkeiten. Z. B. der Schweiß, bei Anstrengung, bei Erhitzung, bei Angst. Oder – manchmal aus Freude, meistens aus Trauer oder Schmerz – die Tränen Wasser

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