Architektur und Philosophie 9783035616736, 9783035616729

Architektur überdenken Ein Querschnitt durch die Bandbreite der philosophischen Analyse zur Architektur: Sie reicht vo

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Architektur und Philosophie
 9783035616736, 9783035616729

Table of contents :
Inhalt
Editorial
Utopische Architektur
Über die Erfahrung der Architektur – Eine Auseinandersetzung mit Michel Foucault
Die Sprache der Architektur
Architektur und Rhetorik
Mies, die Sachlichkeit, der Geist Ein Fall von Poesie
Stille Über das Schweigen (in) der Architektur
Über das Verhältnis von Bild und Architektur
Architektur und Wissenschaft
Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren
Dank und Bildnachweis
Backlist

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UM_BAU 30

Wir widmen diese 30. Ausgabe des UMBAU dem Gedenken unseres langjährigen ÖGFA-Vorstandsmitglieds, der profilierten Architekturhistorikerin Iris Meder, die am 4. November 2018 viel zu früh verstorben ist.

UMBAU 30 Architektur und Philosophie Österreichische Gesellschaft für Architektur – ÖGFA (Hrsg.)

Birkhäuser Basel

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Editorial

Albert Kirchengast

8 Thomas Macho

Utopische Architektur 24 Ludger Schwarte

Über die Erfahrung der Architektur – Eine Auseinandersetzung mit Michel Foucault 40 Roger Scruton

Mies, die Sachlichkeit, der Geist Ein Fall von Poesie 100 Andreas Vass

Stille Über das Schweigen (in) der Architektur 122 Ulrich Huhs

Über das Verhältnis von Bild und Architektur

Die Sprache der Architektur

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Architektur und Wissenschaft

Manfred Russo

Architektur und Rhetorik

Petra Lohmann

Anhang

147 Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

148 Dank und Bildnachweis

149 Backlist

Inhalt

Editorial Dimensionen der Architektur In Texten über Architektur wird anhand verschiedener Ausdrücke und Begriffe beschrieben, was Bauwerke bedeuten. Gebäude drücken etwas aus, sie repräsentieren, zitieren oder spielen auf etwas an, generieren Bedeutung und werden damit zum Gegenstand philosophischer Betrachtungsweisen, die auch auf andere Wissenschaften Bezug nehmen. Sie berühren ethische Fragestellungen, aber auch die Dimension der architektonischen Erfahrung. Worauf beruht die ästhetische Erfahrung von Architektur und welche Wertmaßstäbe legen wir an sie an? Beruht sie auf gewissen Projektionen, die auf die Architektur gerichtet werden? Was kann und soll sie uns sagen, und wie? – Es waren derartige Fragen, die im Jahresprogramm 2016 der ÖGFA behandelt wurden. Ihnen widmet sich nun der UMBAU in dieser Ausgabe. Thomas Macho eröffnet mit der Beschreibung des Wandels in der Einschätzung der Bedeutung von Utopien, der tendenziell einer Verfallsgeschichte gleicht, denn das Faszinationspotenzial von Utopien hat sich inzwischen signifikant erschöpft. Seit 1989 wirken alle säkularen Prophezeiungen eines „Himmelreichs auf Erden“ unglaubwürdig, ausgenommen sind einzig wissenschaftlich technische Zukunftsvisionen. Diese technischen Utopien bilden also eine seltsame Allianz mit der Angst vor Katastrophen, die gerade durch die Verwirklichung dieser Utopien heraufbeschworen werden könnten. Auch Bürohochhäuser, smart houses können sich – wie die Science-Fiction-Literatur zeigt – in tödliche Fallen verwandeln. Eine Befreiung davon ließe sich mit Ludwig Wittgenstein denken, der Architektur als Geste sieht. Demnach sollte die Frage nicht mehr nach utopischer, sondern nach atmender, sprechender, zeigender, pneumatischer Architektur gestellt werden. Einen völlig anderen Wandel in der Bedeutungsdimension schlägt Ludger Schwarte für die Foucault’sche Interpretation von Architektur als Medium der Macht vor, indem er gerade in dieser Architektur eine Chance auf Selbstbestimmung und Empowerment entdeckt. Bei Michel Foucault gilt Architektur als eine Machttechnologie, die die Individuen dressiert, sie als Masse produziert und durch wenige beherrschbar macht. Schwarte möchte durch Gegenbeispiele zeigen, dass wir auch eine Alternative entwickeln können, die Architektur als Freistellung begreift und nicht als Festlegung oder Zwang. Architektonische Akte legen Ressourcen der Selbstbestimmung frei. Ins Spiel kommt daher die Sprache als ein Medium, das für die Bedeutungszuweisung relevant ist. Sind es die semiotischen Theorien, welche die Zeichenhaftigkeit der Architektur beschreiben und damit den richtigen Weg weisen? Roger Scruton möchte in seinem Essay über „Die Sprache der Architektur“ Möglichkeiten, aber auch Grenzen einer Analogie zwischen Sprache und Architektur darstellen. Gebäude können wie linguistische „Äußerungen“ in allen Einzelheiten gesehen und verstanden werden, weil seriöse Architektur über eine Art Syntax verfügt. Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Teil und Ganzem und der sich daraus ergebende Sinn sind nach Scruton die einzige Eigenschaft der Architektur, die der Sprache nahekommt. Bei der Bewertung des Stils kann man sich jedoch nicht mehr auf die linguistische Analogie verlassen. Jede vom Architekten angewandte „Regel“, dient dazu, sie zu verbessern oder zu missachten. Und doch erwächst aus der Synthese auf unerklärliche Weise ein Stil. 6

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Antworten gab hier die Rhetorik, die für die Entwicklung des künstlerischen Ausdrucks als einer elementaren Bedeutungsdimension der Architektur wesentlich war. Manfred Russo zeigt, dass die Architektur von ihren Anfängen her ganz eng in Zusammenhang mit Rhetorik als einer Kunst der Überredung und Überzeugung gestanden ist. Der Künstler wollte mit seinem Werk überzeugen, das Wirkungskalkül hatte bis ins 18. Jahrhundert offenbar keinen negativen Beigeschmack, da die Kunst nicht moralisch argumentierte. Vitruv, Alberti und zahlreiche andere Architekten, sie alle verglichen sich in ihrer Vorgangsweise mit einem Redner, der nach den Regeln der Rhetorik arbeitet. Wenn im 19. und 20. Jahrhundert das Vertrauen in die Wirkmacht und Legitimität architektonischer Rhetorik schwindet, bleibt neben der Frage nach dem Was auch die nach dem Wie architektonischer Aussagen offen. Albert Kirchengast stellt anhand einer historischen Debatte über Mies van der Rohes Haus Tugendhat einen „Fall von Poesie“ vor, bei dem das Haus als Symptom fungiert, als Anlassfall einer höchst geistreichen Diskussion um die Moderne, die um 1930 einen Wendepunkt bezeichnet: Aus Sicht von Mies und seinen zeitgenössischen Interpreten soll eine „Erhöhung des sachlich Gebundenen“ zu geistigen Dimensionen des „Sinns“ durch „Feinfühligkeit den Ansprüchen des Lebens gegenüber“ möglich werden. Doch gerade die Kategorie des „Geistigen“ wird in den politischen Exzessen des 20. Jahrhunderts brüchig. Bleibt Architektur also nur das Schweigen? Wenn Schweigen, so Andreas Vass in seinem Essay, weder als mangelndes Sprachvermögen noch als Metapher aufgefasst wird, sondern als positive Möglichkeit und inhärente Dimension des Sprechens, dann erschließen sich daraus für die Architektur essenzielle Fragestellungen: Kann Schweigen (in) der Architektur bedeuten, den Handelnden Raum zu geben, der Kommunikation einen Hintergrund, der diese erst in zivilisierter Form gewährleistet und dem Ende jeden Sprechens ein Symbol? Im aktuellen „Bilderrauschen des Netzes“, das Ulrich Huhs in seinen Auswirkungen auf die Architekturproduktion untersucht, kehrt die Rhetorik als bildgeprägte zurück. Anhand der Analyse prominenter Beispiele stellt er fest: Bilder unterliegen immanenten Bildherstellungs- und Kompositionsregeln, die nicht deckungsgleich sind mit den Bedingungen des architektonischen Raums in der physischen Realität. Abstraktes Denken, basierend auf Analyse, Empirie und Intuition, bedürfte eher der Bildlosigkeit, um zu einem befriedigenden architektonischen Entwurf mit ungewöhnlichen Ansätzen zu gelangen und um Klischee- und Scheinlösungen zu vermeiden. Zuletzt kommt eine Philosophin, Petra Lohmann, zu Wort, die nochmals den Bogen der Wissenschaft über das beschrittene Feld spannt und damit den Rahmen der Fragestellungen wieder schließt. Architektur ist demnach eine Wissenschaft, die sich nicht nur über die metatheoretischen Voraussetzungen der eigenen Disziplin verständigt, sondern aufgrund der Teilhabe der Architektur etwa an Umwelt und Mitwelt sich der Felder des ganzen Lebens überhaupt zu vergewissern hat. Architektur ist nicht nur ein Konstituens menschlichen Daseins, sondern sie bestimmt wie kaum ein anderes Medium die menschliche Lebenswelt. Das Redaktionsteam Manfred Russo, Andreas Vass Editorial

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Thomas Macho

Utopische Architektur 1. Retrotopia Utopische Architektur, so hat es Ernst Bloch in einem einschlägigen Kapitel seines Hauptwerks über Das Prinzip Hoffnung behauptet, ist Architektur im Entwurf, „Wunscharchitektur“, das Noch-nicht-Gebaute. „Wie schön sieht eine entworfene Treppe aus, klein eingezeichnet“, beobachtet Bloch. „Immer schon wurde ein eigener Reiz der Pläne und Aufrisse bemerkt. Das meiste davon geht ins fertige Haus ein, und doch war das Geschöpf auf dem Papier, das zart ausgezogene, ein anderes.“ Denn das Modell, das „Haus als Kind“, bezeugt „eine Schönheit, die nachher, im wirklichen Bau, nicht immer so vorkommt. Hier ist überall ein Vonvornherein, schöner scheinend als manches nachher Erwachsene und sein Zweck. Der Entwurf behält den Traum vom Haus.“ 1 Es wirkt nur konsequent, dass Bloch – nach diesen Bemerkungen – die Wunscharchitektur der Vergangenheit kommentiert, von den Wandmalereien in Pompeji bis zu den barocken Bühnenbauten, von den gotischen Bauhütten bis zu den Plänen der Idealstadt, von der Architektur im Märchen bis zur modernen Baukunst, in der das Mobile mit dem Festen, Dauerhaften verschmilzt. „Heute sehen die Häuser vielerorts wie reisefertig drein. Obwohl sie schmucklos sind oder eben deshalb, drückt sich in ihnen Abschied aus. Im Innern sind sie hell und kahl wie Krankenzimmer, im Äußeren wirken sie wie Schachteln auf bewegbaren Stangen, aber auch wie Schiffe. Haben flaches Deck, Bullaugen, Fallreep, Reling, leuchten weiß und südlich, haben als Schiffe Lust, zu verschwinden.“ 2 Und oft genug sind sie in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs, wie Bloch anmerkt, auch tatsächlich verschwunden. Utopie als „Retrotopie“? Eine gute Woche nach Zygmunt Baumans Tod (am 9. Januar 2017) ist im Verlag Polity Press sein letztes Buch erschienen: Retrotopia. Darin diagnostiziert Bauman den Anbruch eines Zeitalters der Nostalgie, fünfhundert Jahre nach dem Erstdruck der Utopia von Thomas Morus im Jahr 1516. Er konstatiert: „While in the seventeenth century nostalgia was treated as an eminently curable disease, which Swiss doctors, for instance, recommended could be cured with opium, leeches and a trip to the mountains“,3 begann das 20. Jahrhundert mit futuristischen Utopien, um mit nostalgischer Sehnsucht zu enden. Diese nostalgische Sehnsucht nimmt bereits Gestalt an als geräumiges Rokokozimmer, in dem die psychedelische Reise beyond the infinite des Science-Fiction-Klassikers 2001: A Space Odyssey von Stanley Kubrick ans Ziel gelangt; wenig später verwandelt sich die Szenerie bekanntlich in eine intrauterine Blase mit ungeborenem Kind, die wie eine planetarische Singularität im Weltraum schwebt. „Back to the Womb“, „Zurück in den Mutterleib“, so lautet der Titel des letzten Kapitels in Zygmunt Baumans Retrotopia.4 Die Gebärmutter als wunsch- und traumarchitektonisches Ideal, als biologisch präformierte „gated community“, als „Innenweltbildung“ und „Immunitätsarchitektur“ in einem neuen „Zeitalter technischer Komplexitätsentfesselung“? 5 8

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Wie von selbst versteht sich, dass die Wirklichkeiten mit diesem Idealbild heftig kollidieren. Um sich einen Eindruck von solchen Kollisionen zu verschaffen, genügt es schon, einige Stadtlandschaften in populären Science-Fiction-Filmen zu betrachten, beispielsweise in Ridley Scotts Blade Runner (1982), in Paul Verhoevens Total Recall (1990), in Luc Bessons Le Cinquième Élément (1997) oder in Christopher Nolans Interstellar (2014). Die Zukunftsstädte in diesen Filmen sind apokalyptische, düstere Zonen; sie wirken wie Ansammlungen von Ruinen nach einer Naturkatastrophe oder einem Atomkrieg. Philip K. Dick, Autor von Blade Runner oder Total Recall hat sie in einem aufgezeichneten Gespräch vom 10. Januar 1982 – wenige Wochen später, am 2. März 1982, ist er gestorben, Ridley Scotts Verfilmung hat er nicht mehr gesehen – mit folgenden Sätzen beschrieben: „Also die, die Straßen in dieser Stadt, die Gebäude, sind alle bewohnte Gebäude. Es herrscht eine gewaltige Atmosphäre von Abnutzung und Verfall vor; was passiert, wenn ein Gebäude alt wird, sie reißen es nicht ab, sondern bauen einfach mehr Stockwerke darauf, so daß es immer höher wird, wie eine Ameisenkolonie. Es ist unglaublich. Es ist wie ein Bild, das ich vor Jahren hatte, ein Druck von Breughels Turm von Babel, der genau so aussah, als hätten Ameisen ihn erbaut.“ 6 Die Geschichte des babylonischen Turmbaus erzählt von einer Niederlage, vom Scheitern, nicht zuletzt von Konflikten und Sprachverwirrung. Und dieser mythische Schatten wird auch durch den Vorschlag des Cyberpunk-Autors Neal Stephenson nicht aufgehellt, tatsächlich – in Zusammenarbeit mit dem „Center for Science and the Imagination“ der Arizona State University – einen Turm zu errichten, der bis in die Stratosphäre reicht, kurzum: ein zwanzigtausend Meter hohes Gebäude, das die Bewohner oberer Etagen dazu zwingen würde, nur im Druckanzug auf einen etwaigen Balkon zu treten. 2. Nova Insula Zurück zu Thomas Morus und seiner Schrift Utopia. Das Erscheinungsjahr der Erzählung von einer „neuen Insel“ darf auf einen Geburtstag bezogen werden: den 28. Oktober 1466, an dem der uneheliche Sohn des Priesters Rotger Gerard aus Gouda und seiner Haushälterin, einer Arzttochter, in Rotterdam geboren wurde. Erasmus von Rotterdam starb am 11. oder 12. Juli 1536, also ziemlich genau ein Jahr nach der öffentlichen Enthauptung seines Freundes Thomas Morus am 6. Juli 1535. Erasmus hat Morus im Jahr 1499 bei einem ersten Besuch in England kennengelernt; zehn Jahre später (um 1509) wohnte er monatelang bei ihm: Damals war Morus gerade dreißig Jahre alt. Es folgten noch drei kürzere Begegnungen in den Jahren 1516, 1520 und 1521; dennoch blieben die beiden Männer in engem Kontakt, wie ihr umfangreicher Briefwechsel bezeugt. Die Publikation der Utopia hat Erasmus intensiv unterstützt; er redigierte das Manuskript, forderte seine Freunde auf, „Verse und Briefe zu verfassen, die mit der Beschreibung der Neuen Insel abgedruckt werden könnten“,7 fügte selbst eine „Vielzahl von Marginalien“hinzu, entwarf vermutlich den Titel vom „wahrhaft goldenen Buch“ (libellus vere aureus) Utopische Architektur

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und veranlasste schließlich die Drucklegung in Löwen, die er akribisch überwachte. Nicht zuletzt war der flämische Humanist, Drucker und Magistratsbeamte Pieter Gillis von Antwerpen – latinisiert als Petrus Aegidius –, dem Morus seine Utopia widmete, ein enger Freund des Erasmus: Ein Doppelporträt des flämischen Malers und Medailleurs Quintijn Metsys (aus dem Jahr 1517), das Erasmus und Gillis zeigt, wurde Thomas Morus geschenkt. Auf dem Bild, das inzwischen geteilt wurde – das Erasmus-Porträt befindet sich im Palazzo Corsini in Rom, das Porträt von Gillis in Longford Castle bei Salisbury – zeigt Gillis mit einem Brief von Morus in der linken Hand; mit dem rechten Zeigefinger weist er auf eine Ausgabe der Antibarbari des Erasmus, einer ersten Sammlung antiker Weisheitssprüche.8 Gillis spielte auch eine wichtige Rolle in der (zunächst wahren) Rahmenhandlung von Utopia. Morus war 1515 als Gesandter des englischen Königs nach Brügge gereist, um an Verhandlungen zur Beilegung von Handelskonflikten mit dem Herzog von Flandern, dem späteren Kaiser Karl V., teilzunehmen. In einer Verhandlungspause fuhr Morus nach Antwerpen, um seinen Freund Gillis zu treffen. Und hier beginnt die Fiktion: Gillis habe ihm bei dieser Gelegenheit den Philosophen und portugiesischen Seefahrer Petrus Hythlodaeus vorgestellt, der angeblich Amerigo Vespucci auf mehreren Seereisen begleitet hatte. Danach hätten die drei Männer ein ausführliches, an einen platonischen Dialog erinnerndes Gespräch geführt – eben über die Insel Utopia. Morus und Erasmus: War Utopia vielleicht sogar eine Art von Gabe zum 50. Geburtstag des Rotterdamers? Diese Spekulation könnte sich auf die Vorgeschichte stützen: Als Erasmus im Jahr 1509 bei Morus wohnte, verfasste er einen seiner berühmtesten Texte: das Lob der Torheit – moriae encomium. Er widmete den Text seinem Gastgeber, mit einem kleinen Scherz über dessen Familiennamen, „der ebenso auf die Torheit anspielt, wie Du Dich von allem törichten Wesen gründlich unterscheidest“.9 Natürlich nutzte Erasmus den Mantel des Narren, um gewagte Kritik zu üben; so lässt er beispielsweise die Torheit klagen: „Von hoher Warte mag wohl einer Umschau halten, so wie die Dichter es manchmal Jupiter nachrühmen. Dann sieht er das menschliche Leben in maßloses Unheil verstrickt, in großem Elend. Er sieht die Peinlichkeiten der Geburt, die Mühen der Erziehung, die vielfältigen Ungerechtigkeiten, denen die Kindheit ausgesetzt ist, den argen Schweiß der Jugend, die Beschwerlichkeit des Alters, die harte Not des Todes. Er sieht, welch endloser Zug von Krankheiten droht, wie viele Zufälle uns auflauern, wieviel Missgeschick uns zustößt und wie alles allerorten mit Galle getränkt ist. Ich will gar nicht erst erwähnen, was die Menschen einander an Übeln selbst zufügen, wie Armut, Gefängnis, Schande, Scham, Martern, Hinterhältigkeiten, Verrat, Schmähungen, Streitigkeiten und Betrügereien. […] Gegenwärtig steht es mir nicht an auszuführen, womit die Menschen das alles verdient haben und welcher zornige Gott sie zur Geburt in diesem 10

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Thomas Macho

Utopische Architektur, so hat es Ernst Bloch in einem einschlägigen Kapitel seines Hauptwerks über Das Prinzip Hoffnung behauptet, ist Architektur im Entwurf, „Wunscharchitektur“, das Nochnicht-Gebaute.

Utopische Architektur

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Jammertal genötigt hat.“10 Und die Narrheit lobt die stoischen Weisen, die den Tod dem Leben vorzogen, und insbesondere den Kentauren Chiron, der freiwillig auf die Unsterblichkeit verzichtet habe. Georges Minois hat den Umschwung betont, der sich zwischen Sebastian Brants Narrenschiff (von 1494) und dem Traktat des Erasmus vollzogen habe. Denn für Brant sei es noch „Narrheit, den Tod zu suchen, denn der Tod findet uns allemal“; er meinte, „man müsse verrückt sein, um sich umzubringen; Erasmus, man müsse verrückt sein, um am Leben zu bleiben“.11 Auch in Utopia wird das vielgestaltige Elend der Menschen beklagt; und auch auf der neuen Insel bildet der freiwillige Tod einen möglichen Ausweg.12 Weitere Parallelen zwischen dem Lob der Torheit und Utopia lassen sich aufzeigen; vor allem gilt auch für Morus, dass er einen Mann erzählen lässt, dessen Name Hythlodaeus, wörtlich übersetzt, so etwas wie „Possenreißer“ oder Narr bedeutet. Gelegentlich wurde in der MorusForschung darüber spekuliert, ob Utopia als Satire gemeint war; 13 doch könnte darauf hingewiesen werden, dass die Strategie gewagter Kritik schon seit der Antike gern dem Narren in den Mund gelegt wurde. In seinem bekannten Brief an Ulrich von Hutten (vom 23. Juli 1519), in dem Erasmus die Persönlichkeit des Thomas Morus schildert, betont der Humanist: „Ist man mit ihm zusammen, so unterliegt man sofort seiner seltenen Umgänglichkeit und seinem Charme: da hellt sich auch das finsterste Gesicht wieder auf, und die ekelhafteste Situation verliert ihre Schrecken. Von Jugend auf hatte er am Spaßmachen eine solche Freude, daß man sagen könnte, es sei sein Lebenselement. […] An einem gepfefferten Wort hatte er immer Vergnügen, auch wenn es ihm selbst galt – derart sagt ihm treffender und geistreicher Witz zu. So machte er in jungen Jahren auch Epigramme und fand namentlich an Lucian Gefallen; er veranlaßte mich sogar, das Lob der Torheit zu schreiben, das heißt, dasselbe zu tun, wie wenn ein Kamel tanzt. Es gibt aber überhaupt nichts im Menschenleben, dem er nicht eine vergnügliche Seite abzugewinnen sucht, selbst wo es ernsthaft zugeht.“ 14 Utopia war 1516 keine Zukunftsvision, sondern eher ein Vexierbild. Darauf verwies sogar der Name der Nova Insula: Utopia referiert eigentlich auf oú-topos, „Nicht-Ort“, kann aber auch in korrekter englischer Aussprache als Eutopia, „guter Ort“ (eú-topos), verstanden werden. Diese Doppeldeutigkeit artikuliert auch ein sechszeiliges Gedicht, das zu den Briefen und Marginalien gehört, die dem eigentlichen Text vorangestellt wurden; als Autor figurierte der imaginäre „Hofdichter Anemolius“, ein „Neffe des Hythlodaeus von Schwesterseite“: „Utopia nannte man mich in der Antike, weil ich selten besucht ward, / Jetzt wetteifere ich mit Platons Staat und / Obsiege vielleicht (denn was er nur mit Worten / Darstellte, das habe ich mit wirklichen Menschen, / Mit Wohlstand und der besten Verfassung getan) / Glückliches Land, Eutopia, verdiente ich zu heißen.“ 15 Die raffinierte Konstruktion des Romans erlaubte es Morus, eine Art von Balance zwischen christlicher Religion, Loyalität zum König und humanistischer Zeitkritik zu wahren. Der Hinweis auf einen 12

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„Wettstreit“ mit Platons Politeia könnte darüber hinaus auch die Vermutung des US-Historikers Jack Hexter unterstützen, dass die Utopia einem intellektuellen Spiel entsprungen sei, das Morus mit Gillis in Antwerpen gespielt hatte; dieses Spiel sei noch in der Renaissance sehr beliebt gewesen. Eröffnet wurde es stets mit einer Frage: „Wer ist der / die /das beste …? Die beste Erziehung für einen Prinzen? Der beste Familienvater? Der beste Höfling? Die beste Ordnung eines politischen Gemeinwesens?“ 16 Die spielerische Spur zu Utopia sollte freilich nicht vergessen lassen, dass die Zukunftsentwürfe des 16. und 17. Jahrhunderts nicht auf die Zeit gerichtet waren, sondern auf den Raum, auf die Erscheinungsformen der scala naturae. Vor 82 Jahren hielt der gebürtige Berliner Arthur Oncken Lovejoy die „William James Lectures“ an der Harvard University; das aus diesen Vorlesungen hervorgegangene Buch – The Great Chain of Being (1936) – gilt bis heute als grundlegendes Werk der Ideengeschichte. Lovejoy untersuchte darin die historischen Wandlungen der im Neoplatonismus ausgebildeten Vorstellung von einer subtil und kontinuierlich graduierten Hierarchie der Schöpfung, eben einer „großen Kette der Wesen“.17 Maßgeblich für diese Vorstellung war einerseits, was Lovejoy als „jenseitiges Denken“ bezeichnete: nämlich die Idee, dass alles Seiende auf ein überzeitliches Absolutes zurückgeführt werden kann (nach Belieben auf Gott oder das Gute schlechthin), andererseits die Behauptung, alles Mögliche sei geschaffen worden und eben darum auch wirklich. Entscheidend transformiert oder gar gesprengt wurde die „Chain of Being“erst im 19. Jahrhundert – und zwar durch das „Eindringen der Zeit“ 18 in die Wissenschaften. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts galt selbst für Wissenschaften wie die Archäologie oder die Paläontologie ein Schöpfungsdatum, das bloß mehrere Jahrtausende in die Vergangenheit zurückreichen sollte. Zu dieser Zeit sei erschaffen worden, was seither als statische und ewige Ordnung der Dinge betrachtet werden müsse; und nach der formalen Logik des ontologischen Gottesbeweises durfte weder das Dasein denkmöglicher Meerjungfrauen bestritten noch die dauerhafte Fortdauer offenkundig nur als Fossilien auffindbarer Organismen in Frage gestellt werden.19 Nur allmählich und zunächst ohne tiefgreifende Wirkung konnte der Gedanke artikuliert werden, dass manche Möglichkeiten einmal wirklich waren (aber wie zahlreiche Schalentiere inzwischen ausgestorben sind) und dass andere Möglichkeiten erst in der Zukunft Wirklichkeit erlangen werden. Das traditionelle Wissenssystem wurde nur langsam und mit Zögern revidiert: als Projektion eines räumlich gedachten Zusammenhangs – in der ars memoriae als imaginäre Architektur verkörpert – in einen zeitlichen Ablauf. Utopische Architektur

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Was bisher ins Nebeneinander einer göttlichen Simultanschöpfung gestellt worden war, sollte nun im Nacheinander chronologischer Sequenzen und Fortschrittsmodelle interpretiert werden. Insofern ist wenig verwunderlich, dass die Architektur der Utopien – von der „neuen Insel“ des Thomas Morus bis zur Città del Sole des italienischen Philosophen Tommaso Campanella – eher konservativ ausfiel. So schreibt Morus über die fiktive Stadt Amaurotum auf Utopia, sie liege „an einer sanften Berglehne und ist von Gestalt beinahe viereckig. Ihre Breite beginnt etwas unterhalb des Gipfels des Hügels und erstreckt sich zweitausend Schritt am Flusse Anydrus hin; den Fluß entlang beträgt die Länge etwas mehr. […] Die Stadt ist mit dem gegenüberliegenden Ufer durch eine herrlich gewölbte Brücke von Steinwerk, nicht etwa bloß von hölzernen Pfeilern oder Pflöcken verbunden in jenem Stadtteile, der am weitesten vom Meere entfernt ist, damit die Schiffe dort ganz ungehindert vorüberfahren können. […] Eine hohe und breite Mauer mit zahlreichen Türmen, Basteien und Bollwerken umgibt die Stadt; trockene, aber tiefe und breite Gräben, mit Zäunen von Dorngestrüpp unwegsam gemacht, ziehen sich von drei Seiten um die Stadtmauern, auf der vierten versieht der Fluß die Stelle des Grabens. Die Straßen sind nicht allein zum Fahren, sondern auch die Winde abzuhalten geeignet; die Gebäude sind schmuck und bilden mit der Vorderfront eine zusammenhängende Reihe in einer Straßenbreite von fünfzehn Fuß. An der Hinterseite der Häuser liegen große Gärten, die ganze Länge der Straße entlang, an die wieder die Rückseite anderer Straßen stößt. Kein Haus, das nicht, wie vorneheraus die Straßentür, so nach hinten ein Pförtchen in den Garten hätte. Diese Türen sind zweiflügelig, mit einem leichten Druck der Hand zu öffnen, und gehen dann auch von selber wieder zu und lassen jedermann ein, denn Privateigentum gibt es ja nicht. Denn selbst die Häuser vertauschen sie alle zehn Jahre durchs Los. Diese Gärten halten sie hoch. Darin haben sie Weinberge, Früchte, Kräuter, Blumen, von solcher Pracht und Pflege, daß ich nirgends mehr Üppigkeit und Zier gesehen habe. Ihr Eifer in dieser Art Gärtnerei entspringt nicht nur bloß dem Vergnügen, sondern auch einem Wettstreite der Straßen untereinander in Bezug auf die Pflege der einzelnen Gärten und sicherlich ist in der ganzen Stadt nichts Nützlicheres und Angenehmeres für die Bürger zu finden.“ 20 Morus zitiert aus den Annalen der Inselbewohner, „daß die Häuser im Anfang niedrig, wie Baracken und Schäferhütten, waren, aus beliebigem Holze errichtet, die Wände mit Lehm verschmiert, die Dächer spitz zulaufend und mit Stroh gedeckt. Heutzutage ist jedes Haus elegant mit drei Stockwerken gebaut, 14

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die Außenseite der Mauer entweder von Kieselstein, Zement oder gebrannten Steinen, auf der Innenseite mit Bruchstein ausgekleidet. Die Dächer sind flach und werden mit einer Kalkmasse belegt, der das Feuer nichts anhaben kann und die gegen die Unbilden des Wetters sich widerstandsfähiger als Blei erweist. Den Wind halten sie durch Glas ab (dessen Gebrauch ihnen ganz geläufig ist). Doch gibt es auch Fenster von sehr dünner, mit klarem Öl oder Bernstein getränkter Leinwand, was den doppelten Vorteil hat, daß mehr Licht und weniger Wind durchgelassen wird.“ 21 Kurz gesagt: Utopia ist eine Festung. Darin gleicht sie – bei allen Differenzen in der Liberalität – der Sonnenstadt Tommaso Campanellas (von 1623), deren Mauerringe die alte „Kette der Wesen“ mit platonischem Rigorismus repräsentieren. Da werden Mauern mit Gemälden geschildert, mit Sternen, mathematischen Zeichen, Landkarten, Gesetzen, verschiedenen Alphabeten, Mineralien, Metallen, mit sämtlichen Meeren, Flüssen, Heilmitteln, Wettererscheinungen, Pflanzen und Bäumen, Tiergattungen von den Fischen bis zu den Vögeln, Reptilien und Landtieren, mit Werkzeugen zur Ausübung der mechanischen Künste, schließlich mit den Porträts herausragender Männer, Gesetzgeber, Feldherren, Künstler oder Religionsstifter. Campanellas Stadt mit ihren Mauerringen ist eine Kunstund Wunderkammer, ein Museum, eine Art von „Zeitkapsel“, ein „Retroland“ zu Beginn des 17. Jahrhunderts.22 Hat denn das Zeitalter der Nostalgie, das Zygmunt Bauman beobachtet, bereits mit der Gegenreformation begonnen? 3. Breite Gegenwart Seit 1516 sind zahlreiche Utopien konzipiert worden: soziale, pädagogische, politische, technische und architektonische Utopien. Dennoch haben sich ihre Faszinationspotenziale inzwischen signifikant erschöpft. Gern und häufig wird Helmut Schmidts Antwort auf eine Interviewfrage nach seinen Zukunftsvisionen zitiert: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Politik sei heute gut beraten, „auf Sicht“ zu operieren; utopisches Denken gilt spätestens seit 1989 als latent verdächtig oder gar totalitär. Vielleicht lassen sich verschiedene Epochen auch durch ihre spezifischen Utopien charakterisieren. So scheinen die religiösen Utopien zum Mittelalter zu gehören, die Staats- und Sozialutopien zum 16. und 17. Jahrhundert, die Erziehungsutopien zur Aufklärung. Spätestens im 19. Jahrhundert setzten sich technische und architektonische Utopien durch, die auch gegenwärtig dominieren. Diese Dominanz entsprang zunächst wohl der Faszination von ScienceFiction und der Beschleunigung technologischer Umwälzungen, danach jedoch dem Bedeutungsverlust konkurrierender Gestalten des Utopischen. An einer „Erziehbarkeit des Menschengeschlechts“ wurde schon während der Weltkriege entschieden gezweifelt; dreißig Jahre nach Ernst Blochs Prinzip Hoffnung hatten aber auch die Staats- und Sozialutopien ihren ehemaligen Glanz eingebüßt. Seit 1989 wirken alle säkularen Prophezeiungen eines „Himmelreichs auf Erden“ seltsam unglaubwürdig, ausgenommen einzig Utopische Architektur

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„Die Stadt ist mit dem gegenüberliegenden Ufer durch eine herrlich gewölbte Brücke von Steinwerk, nicht etwa bloß von hölzernen Pfeilern oder Pflöcken verbunden in jenem Stadtteile, der am weitesten vom Meere entfernt ist, damit die Schiffe dort ganz ungehindert vorüberfahren können.“ Thomas Morus

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jene Zukunftsvisionen, die einen wissenschaftlich-technischen Sieg über Ressourcenknappheit, Hunger, Kälte, Krieg, Krankheit, Schmerz, Alter oder Tod zu versprechen scheinen. Zum Jahresanfang 1995 erschien ein Sonderheft der Zeitschrift GEO, in dem das 21. Jahrhundert – in neun Schritten – porträtiert wurde. Illustriert mit bunten Bildern verhießen die Überschriften: „2010: Dr. Robot führt das Skalpell“, „2020: Die Wüste wird zum Blumenmeer“, „2030: Lavaströme befeuern Kraftwerke“, „2040: Claudia [Schiffer] läßt die Klone tanzen“, „2050: Nomaden wandern im Datennetz“, „2060: Frankfurt grüßt als Öko-Hauptstadt“, „2070: Meeresfarmer mästen Thunfische“, „2080: Gentechniker züchten Giga-Weizen“ und „2090: Mondmenschen bauen Erze ab“.23 Jede Prophezeiung schien auf spezifische Ängste zu antworten: die Angst vor Krankheit und Operation, die Angst vor einer Klimakatastrophe und der drohenden Ausbreitung von Wüstengebieten, die Angst vor Vulkanausbrüchen und Energiekrisen, vor Identitätslosigkeit und gentechnischer Manipulation, die Angst vor Heimatverlust, Flucht und erzwungener Mobilität, vor einer steigenden Verelendung der Metropolen, vor Hungersnöten und vor dem Verschleiß der letzten Ressourcen. Sämtliche Utopien replizierten also auf Befürchtungen; die leuchtenden Farben der Zukunft wurden gleichsam dunkel grundiert. Den technischen Utopien sekundierte insgeheim die Angst vor einem apokalyptischen Epochenbruch, vor dem drohenden Untergang. Dass Utopien mit Ängsten zusammenhängen können, ist freilich von vornherein evident. Wer nicht wenigstens gelegentlich am guten Ausgang einer Sache zweifelt, braucht keine Zukunftsvisionen – gleichgültig, ob es sich um einen Orakelspruch, eine astrologische Expertise, einen Science-Fiction-Roman oder eine aktuelle Trendanalyse handelt. Ohne Anlässe für Furcht und Sorge würde sich das Interesse an der Zukunft erübrigen; wer halbwegs überzeugt ist, dass er ein langes Leben in Glück, Reichtum und Weisheit führen wird, braucht keine Utopien und engagiert gewiss keine Propheten. Im Fall der architektonischen und technischen Utopien geht es freilich um einen spezifischen Mehrwert der Ängste, der gerade mit dem Erfolg und mit dem Gelingen der Zukunftsprojekte assoziiert wird. Die technische Utopie bildet also eine seltsame Allianz mit der Angst vor einer Katastrophe, die gerade durch die Verwirklichung dieser Utopie heraufbeschworen werden könnte. Kein Himmelreich ohne Weltuntergang. Die Internet- und Social Media-Euphorie wird inzwischen durch die Angst vor Kontrolle und geheimer Überwachung ausgeglichen; die Begeisterung für Genforschung findet ihr finsteres Äquivalent in den Fantasien über Menschenexperimente und eugenische Züchtungsprogramme. Das utopische Projekt einer „zweiten Schöpfung“ wird – ganz klassisch – als Hybris relativiert: als versuchte Wiedererrichtung des babylonischen Turms, als Aufstand der Titanen gegen den Olymp, als Luzifers Revolte gegen Gott. Je häufiger der Sieg über die alten Geißeln der Menschheit proklamiert wird, desto plausibler erscheint die Befürchtung, dieser Triumph werde sich zuletzt als die schlimmste Geißel überhaupt herausstellen. Soviel gilt auch für die Architektur, beispielsweise für die eifrig beworbenen smart houses. 1996 publizierte der inzwischen verstorbene Thriller-Autor Philip Kerr seinen Roman Game Over.24 Darin schildert Kerr einen Superarchitekten, der skrupellos und erfolgreich an den „intelligenten Gebäuden“ der Zukunft baut, zur Zeit – die Handlung spielt zeitnah in Los Angeles – an einem 25-stöckigen Bürohochhaus, dessen Zentralrechner allein vierzig Millionen Dollar kostet. Eine Robot-Empfangsdame, das gesamte Sicherheitssystem, von der automatischen Utopische Architektur

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Türverriegelung bis hin zur Identitätskontrolle per „Stimmabdruck“, Fahrstühle, Beleuchtung, Klimaanlage, Toilettenspülung: alles wird computergesteuert. Und, man ahnt es schon: Das Hochhaus ist eine Falle, zumal, wenn Gebäude und Computern – als selbstreproduzierenden Systemen – auch die Zukunft gehört, weil sie fortlaufend noch klügere Nachfolger erzeugen. Zunächst ereignet sich nicht mehr als ein zweifelhaft plötzlicher Tod und ein undurchsichtiger Mord. Als dann jedoch die ganze Mannschaft des Architekturbüros und die ermittelnden Polizisten feststellen müssen, dass sie in jenem klugen Hochhaus eingeschlossen sind, tritt an Stelle der Verbrecherjagd die Flucht vor der mörderischen Maschinenwelt. Das Bündnis zwischen den architektonisch-technischen Utopien und jenen spezifischen Katastrophenängsten, die rekursiv auf die mögliche Verwirklichung dieser Utopien bezogen sind, ist offenbar beständig. Unklar bleiben jedoch die möglichen Gründe für die Nachhaltigkeit solcher Assoziationen. Dem Niedergang der Utopien sekundiert ein synchronistisches Bewusstsein, das durch die Omnipräsenz der Medien und sozialen Netzwerke beständig erweitert und geschärft wird. Die Dominanz dieses synchronistischen Bewusstseins manifestiert sich exemplarisch in der stets wiederholbaren Frage, was gerade, während wir beispielsweise eine beliebige Arbeit verrichten, jenseits des Arbeitsplatzes geschieht: auf den Schlachtfeldern und Städten der Kriege in Syrien, im Jemen, in Afrika oder in der Ukraine, aber auch an Orten, an denen sich zur selben Zeit Kinder und Freunde aufhalten, die auf Facebook und Twitter posten, womit sie gerade beschäftigt sind: zumeist übrigens ebenfalls mit der Fülle beunruhigender Nachrichten, die sofort kommentiert und verbreitet werden müssen. Der Aufstieg des synchronistischen Bewusstseins, einer Art von freischwebender Aufmerksamkeit, die dem Multitasking ähnelt, lässt die Welt zunehmend ereignishaft erscheinen. Hinter den Mind-Maps gleichzeitig aufblitzender Ereignisse verschwinden die Fragen nach der longue durée, nach der Genealogie kriegerischer Konflikte und ökonomischer Krisen oder der Kohärenz individueller Biographien. Wir leben in einem Chronotop der „breiten Gegenwart“ (Hans Ulrich Gumbrecht), des „Present Shock“ (Douglas Rushkoff),25 der Rhizome und Wechselwirkungen. Begleitet werden wir alltäglich von schlechten Nachrichten, Berichten von Katastrophen, Kriegen, Hungersnöten, Seuchen, Anschlägen, Fluchtbewegungen und wachsenden Bedrohungen; selbst die Wettervorschau kommentiert oft genug globale Gefahren, mit animierten Karten von Waldbränden, Überschwemmungen, schmelzenden Gletschern oder Erdbeben. Das Weltbild des synchronistischen Bewusstseins ist düster: ein Weltuntergangsbild, ein Dokument synchron geteilter Hoffnungslosigkeit. 18

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4. Architektur als Geste Was bleibt? Vielleicht sollten wir die Perspektive wechseln und nicht vom Flüchtigen des Bleibenden sprechen, sondern vom Bleibenden des Flüchtigen. Im Jahr 1942 – mitten im Zweiten Weltkrieg – notierte Ludwig Wittgenstein die Sätze: „Architektur ist eine Geste. Nicht jede zweckmäßige Bewegung des menschlichen Körpers ist eine Geste. Sowenig, wie jedes zweckmäßige Gebäude Architektur.“26 Während seines gesamten Lebens unterhielt Wittgenstein eine enge Beziehung zu Architektur und Gestaltung; schon 1912 ließ er seine Möbel in Cambridge nach eigenen Entwürfen herstellen – „ziemlich seltsam, aber nicht schlecht“ – nachdem er bei „neunzig Prozent der Sachen“, die ihm in diversen Läden gezeigt worden waren, ausgerufen hatte: „Nein, scheußlich!“ 27 Zwischen 1926 und 1928 entwarf er, in enger Zusammenarbeit mit dem Architekten Paul Engelmann, das Wiener Haus seiner Schwester Margarete (die anlässlich ihrer Vermählung mit Jerome Stonborough 1905 von Gustav Klimt porträtiert wurde). Bis zum letzten Detail der Wandheizungen, Möbel, Tür- und Fenstergriffe sollte dieses Haus den Idealen Wittgensteins genügen, als eine Demonstration, die den Horizont der bloßen Nützlichkeit ebenso markierte wie jederzeit überschritt. Gerade darum wirkt der Vergleich eines Bauwerks mit einer Geste irritierend, sind doch Gesten beinahe die flüchtigsten Zeichen, die wir uns vorstellen können – flüchtiger als Schriften, Bilder, Skulpturen, Statuen oder eben Gebäude. Doch für Wittgenstein war das Flüchtige der Gesten in gewisser Hinsicht verwandt mit der Philosophie, dem Denken, dem Geist. 1931 schrieb er: „Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)“ 28 Gesten sind Gedanken in Bewegung; sie folgen zwar Regeln, aber den Regeln eines Spiels, keiner übergeordneten Logik. Daher hat sich Wittgenstein mehrmals dagegen verwehrt, Gesten als rudimentäre Sprachelemente zu betrachten. Gesten sind sprechend; und wie die Sprache repräsentieren sie nicht; sie erklären nichts, erfüllen keinen Zweck und erzeugen keine Kausalität. „Die Menschen, die immerfort ‚warum‘ fragen, sind wie die Touristen, die, im Baedeker lesend, vor einem Gebäude stehen und durch das Lesen der Entstehungsgeschichte etc. etc. daran gehindert werden, das Gebäude zu sehen.“29 Wittgenstein verfolgte ein Ideal, das erst im Zuge der Universalisierung historischer und philologischer Wissenschaften zurückgedrängt wurde. Er war kein Erzähler, vielmehr zeichnete er Bilder. Er verwendete gern Zeichnungen (wie den berühmten „Hasen-Enten-Kopf“ von Joseph Jastrow), um ein bestimmtes Problem zu verdeutlichen; die Philosophen verglich er mit kleinen Kindern, „die zuerst mit ihrem Bleistift beliebige Striche auf ein Papier kritzeln und dann den Erwachsenen fragen‚ ‚was ist das?‘“. Zugleich bemühte sich Wittgenstein aber um „große Ausblicke“, um „Ausschnitte aus einer ungeheuren Landschaft“, um die Wahrnehmung viel umfassenderer Bilder: „Der Denker gleicht sehr dem Zeichner, der alle Zusammenhänge nachzeichnen will.“ Und er konstatierte: „Ich bin im Grunde doch ein Maler, und oft ein sehr schlechter Maler.“ 30 Manche Philosophen erzählen Begriffsromane und Geschichten, andere Philosophen wiederum konstruieren komplexe Bilder, labyrinthische mind maps und subtil verschachtelte Systeme. Mit guten Gründen lässt sich dafür plädieren, die Verfahrenstechniken imaginativer und narrativer Rationalität, simultaner und sequentieller Erkenntnis, Utopische Architektur

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zu unterscheiden und als ebenbürtige – am Modell der Zeichnung, des Entwurfs oder der Rhetorik orientierte – Darstellungsstrategien zu würdigen: Die erst seit wenigen Generationen etablierte Trennung von Wissenschaft und Bild (als komplexer, visueller Struktur) empfiehlt geradezu eine beiläufig an Lessings Laokoon-Traktat oder Susanne Langers „Präsentationismus“ orientierte Differenzierung. Wittgenstein war ein Experte visueller, architektonisch-bildhafter Wissensformen, verliebt in Symmetrie und Klarheit: Das Motto des Tractatus verwirft nicht umsonst ein Denken, das seine Wahrheiten akustisch erfährt, nämlich bloß als „Rauschen und Brausen“. Wittgensteins Philosophie „hört“ nicht, sondern sie „schaut“: Sie ist in den bildenden Künsten beheimatet. Sie operiert vorwiegend nicht mit literarischen oder musikalischen Temporalstrukturen, sondern gleichsam mit „Bausteinen“; mit dieser Metapher beginnen die Philosophischen Untersuchungen. In seinen geheimschriftlich abgefassten Tagebüchern notierte Wittgenstein gelegentlich Sätze wie: „Ziemlich viel gearbeitet, aber ohne rechte Klarheit des Sehens!“ oder: „Das klare Sehen will sich nicht einstellen.“ 31 Drei Jahre vor seinem Tod schrieb er: „‚Denken ist schwer‘ (Ward). Was heißt das eigentlich? Warum ist es schwer? – Es ist beinahe ähnlich, als sagte man ‚Schauen ist schwer‘. Denn angestrengtes Schauen ist schwer. Und man kann angestrengt schauen und doch nichts sehen, oder immer wieder etwas zu sehen glauben, und doch nicht deutlich sehen können. Man kann müde werden vom Schauen, auch wenn man nichts sieht.“32 Wittgenstein hat gelegentlich geklagt, er sei zu einem Denken in Sukzessionen gar nicht fähig. In einer Bemerkung aus dem Jahr 1937 heißt es: „Wenn ich für mich denke, ohne ein Buch schreiben zu wollen, so springe ich um das Thema herum; das ist die einzige mir natürliche Denkweise. In einer Reihe gezwungen, fortzudenken, ist mir eine Qual. Soll ich es nun überhaupt probieren? Ich verschwende unsägliche Mühe auf ein Anordnen der Gedanken, das vielleicht gar keinen Wert hat.“33 Wittgenstein dachte in visuellen Tableaus, in Entwürfen, Hausplänen und Landkarten; er verstand sich gewissermaßen als Fremdenführer: „Die Sprache hat für Alle die gleichen Fallen bereit; das ungeheure Netz gut gangbarer Irrwege. Und so sehen wir also Einen nach dem Andern die gleichen Wege gehn, und wissen schon, wo er jetzt abbiegen wird, wo er geradeaus fortgehen wird, ohne die Abzweigung zu bemerken, etc. etc. Ich sollte also an allen Stellen, wo falsche Wege abzweigen, Tafeln aufstellen, die über die gefährlichen Punkte hinweghelfen.“34 Ein guter Fremdenführer sucht freilich nicht allein die bekannten „Wahrzeichen“ auf, sondern auch die verlassenen Nebenstraßen. In den Vorlesungen über die Grundlagen der Mathematik erläuterte Wittgenstein: „Ich versuche, euch auf Reisen durch ein Land zu führen. Ich werde zu zeigen versuchen, dass die philosophischen Schwierigkeiten, die sich in der Mathematik ebenso wie anderswo ergeben, deshalb entstehen, weil wir uns in einer fremden Stadt befinden und den Weg nicht kennen. Wir müssen also das Gelände kennenlernen, indem wir in der Stadt von einem Ort zum anderen gehen, von diesem wieder zu einem anderen und so weiter. Und dies muss man so oft wiederholen, bis man sich sofort oder nach einigem Umschauen auskennt, wo immer man auch abgesetzt wird. Dieses Gleichnis ist ausgezeichnet. Um ein guter Führer zu sein, sollte man den Leuten zuerst die Hauptstraßen zeigen, doch ich bin ein äußerst schlechter Führer und werde leicht durch interessante Örtlichkeiten vom Weg abgelenkt und neige dazu, Nebenstraßen einzuschlagen, bevor ich die Hauptstraßen gezeigt habe. In der 20

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Philosophie besteht die Schwierigkeit darin, sich auszukennen. […] Ein guter Führer bringt einen hundertmal die gleiche Straße entlang, und ebenso wie ein Führer jeden Tag neue Straßen zeigt, so werde ich jeden Tag neue Wörter zeigen.“ 35 Die Metaphern der Landkarte und des Reiseführers wurden an prominenter Stelle wieder aufgegriffen, nämlich im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen aus dem Jahr 1945. Da heißt es, die „Bemerkungen dieses Buches“ habe Wittgenstein nicht zu einem Ganzen „zusammenzuschweißen“ vermocht, in welchem „die Gedanken von einem Gegenstand zum andern in einer natürlichen und lückenlosen Folge fortschreiten“; daher seien „gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen“ entstanden, gezeichnet auf „langen und verwickelten Fahrten“ durch „ein weites Gedankengebiet“. Denn die „gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen. Eine Unzahl dieser waren verzeichnet, oder uncharakteristisch, mit allen Mängeln eines schwachen Zeichners behaftet. Und wenn man diese ausschied, blieb eine Anzahl halbwegser übrig, die nun so angeordnet, oftmals beschnitten, werden mussten, dass sie dem Betrachter ein Bild der Landschaft geben konnten.“ Daher sei das Buch „eigentlich nur ein Album“.36 Das Understatement wirkt irreführend, weil es an biedermeierliche Landschaftsalben und Skizzenbücher denken lässt; dabei ließe sich Wittgensteins Verfahren viel besser mit der Technik der fotografischen Reihenbilder oder des digitalen Stitching vergleichen. „Die Landschaft dieser Begriffsverhältnisse aus ihren unzähligen Stücken, wie sie die Sprache uns zeigt, zusammenstellen, ist zu schwer für mich. Ich kann es nur sehr unvollkommen tun.“ 37 Architektur als Geste: Die Frage nach dem Bleibenden klingt wie ein Zitat aus dem Buch Kohelet, das mit den bekannten melancholischen Sprüchen beginnt: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir an, das ist etwas Neues – aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren, und auch an die Späteren, die erst kommen werden, auch an sie wird es keine Erinnerung geben bei denen, die noch später kommen werden.“ (Koh 1,9 –11) Eine Beschwörung der Vergeblichkeit: Alles ist eitel und nichtig, Haschen nach Wind. (Koh 1,14) Freilich heißt „Wind“ oder „Hauch“ auf Hebräisch rûah: Und rûah wird gelegentlich auch als „Lebensatem“ oder „Geist“ übersetzt, im Griechischen als pneuma (πνεῦμα). Wenn wir daher nochmals die ersten Zeilen des Buchs Kohelet lesen, so ergibt sich ein neuer Sinn: „Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch“ (Koh 1,2): Vergänglichkeit ist rûah, Atem, Sprache, Geste, pneuma, Geist. Fragen wir also nicht mehr nach utopischer, sondern nach atmender, sprechender, zeigender, pneumatischer Architektur.

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1 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp,

Suhrkamp, Frankfurt /M 1985.

Frankfurt / M 1973, 819f.

18 Ebd., 96 –99.

2 Ebd., 858f.

19 Vgl. Ebd., 293f.

3 Zygmunt Bauman: Retrotopia, Polity Press,

20 Morus: Utopia, 98 –100 (wie Anm. 7).

Cambridge, UK, Malden, MA, 2017, 2f. Vgl. auch die

21 Ebd., 100f.

deutsche Übersetzung von Frank Jakubzik, Suhrkamp,

22 Vgl. Valentin Groebner: Retroland. Geschichts-

Berlin 2017, 10.

tourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen,

4 Ebd., 118 –152 in der Originalausgabe bzw.

S. Fischer, Frankfurt /M 2018.

147–185 in der deutschen Übersetzung.

23 „Das 21. Jahrhundert. Faszination Zukunft“,

5 Peter Sloterdijk: Blasen. Sphären, Bd. 1: Mikrosphä-

GEO-Extra 1, Hamburg 1995, 6 –25.

rologie, Suhrkamp, Frankfurt /M 1998, 72.

24 Vgl. Philip Kerr: Game Over. Roman, übers. v. Peter

6 Philip K. Dick: „… wenn unsere Welt ihr Himmel ist?“

Weber-Schäfer, Wunderlich, Reinbek bei Hamburg 1996.

Letzte Gespräche, hg. v. Gwen Lee und Doris Elaine

25 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegen-

Sauter, übers. v. Joachim Körber, Edition Phantasia,

wart, übers. v. Frank Born, Suhrkamp, Berlin 2010;

Bellheim 2006, 43.

Douglas Rushkoff: Present Shock: Wenn alles jetzt pas-

7 Michael Dominik Hagel: Fiktion und Praxis. Eine

siert, übers. v. Gesine Schröder und Andy Hahnemann,

Wissensgeschichte der Utopie 1500 –1800, Wallstein,

Orange Press, Freiburg im Breisgau 2014.

Göttingen 2016, 39. Vgl. Thomas Morus: Utopia, hg.

26 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen.

u. komm. v. Horst Günther, übers. v. Hermann Kothe,

Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hg.v. Georg Henrik

Insel, Frankfurt / M – Leipzig 1992, 8 – 37.

von Wright, in: Werkausgabe Bd. VIII, Suhrkamp,

8 Vgl. Johan Huizinga: „Erasmus“, in: Verzamelde

Frankfurt / M 1984, 510.

Werken. Bd. VI: Biografie, Tjeenk Willink & Zoon,

27 David Hume Pinsent: Reise mit Wittgenstein in den

Haarlem: 1950, 3 – 274: 186.

Norden. Tagebuchauszüge und Briefe, hg.v. Georg

9 Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit,

Henrik von Wright, übers. v. Wolfgang Sebastian Baur,

übers. u. hg. v. Anton J. Gail, Reclam, Stuttgart 2012, 5.

Folio, Wien / Bozen 1994, 76 und 34.

10 Ebd., 42f.

28 Wittgenstein: 472 (wie Anm. 26).

11 Georges Minois: Geschichte des Selbstmords, übers.

29 Ebd., 506.

v. Eva Moldenhauer, Artemis & Winkler, Düsseldorf /

30 Ebd., 473, 543, 529, 466 und 567.

Zürich 1996, 120.

31 Wittgenstein: Geheime Tagebücher. 1914 –1916,

12 Morus: 154 f. (wie Anm. 7).

hg. u. dokum. v. Wilhelm Baum, Turia + Kant,

13 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Emblematik der Zukunft.

Wien 1991, 41f.

Poetik und Geschichte literarischer Utopien von

32 Wittgenstein: 555 (wie Anm. 26).

Thomas Morus bis Robert Musil, Walter de Gruyter,

33 Ebd., 489.

Berlin / Boston 2016, 21f.

34 Ebd., 474f.

14 „Erasmus von Rotterdam über Thomas More“, in:

35 Wittgenstein: Vorlesungen über die Grundlagen

Morus: Utopia, übers. v. Alfred Hartmann, Diogenes,

der Mathematik, Cambridge 1939. Schriften Bd. VII.

Zürich 1981, 189 –199: 193.

Nach den Aufzeichnungen von R.G. Bosanquet,

15 Morus: 27 (wie Anm. 7).

Norman Malcolm, Rush Rhees und Yorick Smythies

16 Jack Hexter: „Das ‚Dritte Moment‘ der Utopia und

hg. v. Cora Diamond, übers. v. Joachim Schulte,

seine Bedeutung“, in: Voßkamp (Hg.): Utopieforschung,

Suhrkamp, Frankfurt /M 1978, 50.

Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 1,

36 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen.

Metzler, Stuttgart 1982, 151 –167: 152f.

Werkausgabe Bd. I, Suhrkamp, Frankfurt / M 1984,

17 Vgl. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen.

225 –580: 231f.

Geschichte eines Gedankens, übers. v. Dieter Turck,

37 Wittgenstein: 561 (wie Anm. 26).

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Ludger Schwarte

Über die Erfahrung der Architektur – Eine Auseinandersetzung mit Michel Foucault I. Innerhalb der philosophischen Texte, die Architektur thematisieren, ist Foucaults Position nach wie vor ein wichtiger Ausgangspunkt. Man könnte hier drei Zugänge zur Erfahrungsdimension der Architektur unterscheiden: erstens einen symboltheoretischen1, zweitens einen phänomenologischen2 und drittens einen machttheoretischen.3 Der erste Zugang begreift Erfahrung als ein bewusstes Entziffern von Bedeutung, der zweite als ein leibliches Erspüren von Präsenz und Atmosphäre. Der dritte sieht die Erfahrung als Produkt der Architektur. Er ist aus meiner Sicht der grundlegendste und radikalste Ansatz, weshalb ich ihn hier etwas genauer diskutieren möchte. Denn Foucault fasst Architektur nicht als ein Symbolsystem auf, dessen Bedeutung man quasi aus gemessener Distanz liest. Sein Ansatz ist voraussetzungslos. Architekturen bilden Kräfte aus, die auf den Körper, seine Affekte, seine Wahrnehmungsfähigkeit und seine Selbststeuerung wirken. Dies, und nicht das Programm, die Bedeutung oder die feinsinnige Atmosphäre nimmt er in den Blick. Die nüchterne Analyse Foucaults erlaubt uns auch nicht, die Erfahrung der Architektur nach dem Muster ästhetischer Erfahrung, etwa als kunsthistorisch gesättigtes Durchschreiten, als Flanieren in Dingekstasen oder als situationistische Dérive zu beschreiben. Architektur erscheint in den Schriften Foucaults als eine Technik, die gewissermaßen unterhalb der Erfahrung ihre Macht ausübt, indem sie die Menschen in ein Territorium einschließt, es strukturiert und deren Lebenswelt einem Herrschaftsapparat eingliedert. Menschliches Verhalten wird durch Architekturen eingegrenzt, disponibel gemacht und linearisiert. Architekturen richten die Bewegungs- und Wahrnehmungsweisen ein und fixieren das, was als Eigenschaft von etwas gilt. Aufgrund von Architektur sind Erfahrungen deshalb ebenso strukturiert wie überindividuell. Obschon Architekturen in Foucaults Werk eine prominente Rolle spielen (wie sonst nur bei Walter Benjamin) ist er bekanntlich an anderen Fragen interessiert. Für Foucault ist Architektur nur als Schnittpunkt von Wissen, Macht und Subjektivierung bedeutsam: Sie ist das effektivste Instrument zur Ausübung wissensbasierter Herrschaft, zur Überwachung, Kontrolle und Abrichtung der Körper, zur Disziplinierung und Produktivmachung der Subjekte. Aus der Parzellierung des Raumes und der minutiösen Taktung der Bewegungen entsteht seit der frühen Neuzeit eine architektonische Maschine, in die sich die Subjekte willentlich einordnen, sobald sie die „panoptische“ Blickbeziehung internalisiert haben, auf der das Gefängnis idealiter beruht. 24

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Dem architektonischen Machtdispositiv gelingt es durch verschiedene, systematisch abgestufte Verfahren, den Körper zu dressieren. In der Dressur des Körpers erweist sich die Architektur als Sozialtechnologie noch effektiver als die Pädagogik oder die Polizei. Schon der sich an distanzierten Signalen orientierende Mensch ist ein Produkt der Architektur. Foucault resümiert: „Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man uns einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“4 Die politische Anatomie, von der Foucault hier spricht, basiert auf Architekturen. Die Seele ist das Ergebnis einer Ausrichtung an Architektur. Von den Mauern und Einschließungen bis zu dem System der Blicke diszipliniert sie die Menschen und durchdringt ihre Körper, bis sie sich im Sinne der Herrschaft verhalten. Damit sich die Vielen der Herrschaft der Wenigen fügen, ist keine Gewaltanwendung erforderlich, nur Architektur. Gerade die lichten, transparenten, systematisierten Räume aufgeklärter Architektur haben diesen Effekt. Denn diese Räume muten nur luftiger und freier an, dienen aber einer immer präziseren Kontrolle. Denn sie basieren auf einer Technik asymmetrischer Blickkanäle, auf einem Kalkül der Kräfte, auf der Normierung von Individualität, die dazu führt, dass das Subjekt den Befehl als selbstgegebene Regel akzeptiert und das herrschaftskonforme Verhalten als Freiheit erfährt. Foucault entwickelt diese Einsichten in erster Linie entlang der Entstehung und Entwicklung von Bautypen, von architektonischen Paradigmen und nicht am Beispiel einzelner Gebäude oder Projekte. Neben dem Bautyp Gefängnis nennt Foucault auch Wohnungen, Hospitäler und Museen. Von der Wohnung über die Schule und die Fabrik bis zur Kaserne und zum Arbeitslager führt die Architektur dieser Bautypen über Stufen der Einrichtung, Überwachung und Selbst-Disziplinierung bis zur Ausbildung des politischen Subjekts in einem Prozess, der die bauliche Einschließung letztlich immer weniger erforderlich und die Architekturen immer filigraner, transparenter und transitorischer werden lässt. Dies wird besonders am Unterschied zwischen Kerker, Gefängnis und Lager deutlich. Aus dicken Wällen und massiven Einschließungen, die den Körper der Insassen im Zaum halten, wird die gebaute Existenzangst, die durch permanente Kontrolle und latente Drohung große Menschenmassen der Herrschaft Weniger unterwirft. Die moderne Architektur erreicht dies, indem sie das alte Schema der Einschließung – dicke Mauern, feste Türen – ersetzt durch ein „Kalkül der Öffnungen, Wände und Zwischenräume, der Durchgänge und Durchblicke“.5 Das Lager, wie Foucault vor Agamben betont hat, ist zugleich das Grundprinzip und der Fluchtpunkt moderner Raumgestaltung. Foucault schreibt: „Das Lager ist die Raumordnung einer Macht, die sich mit Hilfe einer allgemeinen Sichtbarkeit durchsetzt. Im Städtebau und bei der Errichtung von Arbeitersiedlungen, Spitälern, Asylen, Gefängnissen oder Erziehungsheimen sollte dieses Modell des Lagers zumindest in seinem Grundprinzip lange nachwirken: das Prinzip der räumlichen Verschachtelung hierarchisierter Überwachungen, das Prinzip der ‚Einlagerung‘. Das Lager bedeutete für die wenig rühmliche Kunst der Überwachungen das, was die Dunkelkammer für die große Wissenschaft der Optik war.“6 Über die Erfahrung der Architektur

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Die Grundprinzipien moderner Architektur werden im Lager greifbar, denn es übt seine Macht vor allem über Blickbeziehungen und die Berechenbarkeit von Bewegungen aus, es ist eine Maschine zur Internalisierung raumbasierter Herrschaft. Bauten sind keine Bilder des Souveräns; Architektur repräsentiert nicht nur Macht oder soziale Ordnung, sondern sie wird selbst operativ, sie ist ein Instrument zur Dressur. „Damit entwickelt sich auch die Problematik einer Architektur, die nicht mehr bloß wie der Prunk der Paläste dem Gesehenwerden oder die Geometrie der Festungen der Überwachung des äußeren Raumes dient, sondern der inneren, gegliederten und detaillierten Kontrolle und Sichtbarmachung ihrer Insassen. Noch allgemeiner geht es um eine Architektur, die ein Instrument zur Transformation der Individuen ist.“7 Die moderne Architektur, deren Inbegriff das Lager ist, unterscheidet sich von der Verbergungs- und Repräsentationsarchitektur vergangener Epochen dadurch, dass sie Transparenzen und Leerflächen, Öffnungen und Passagen zwischen Innen und Außen einkalkuliert und somit die Momente der Ausstellung und der Grenzziehung in die Individuen hineinverlagert. Die Erfahrung dieser Architektur bewirkt die Transformation der Individuen in ein vernünftiges Subjekt. Wir gehorchen Mauern, Absperrungen, Linien und Zeichen. Kleinste Signale veranlassen uns zur Veränderung unseres Selbstempfindens. Wir sind Subjekte der Architektur, denn die Tatsache, dass wir uns im Raum orientieren, laufen, fahren, fliegen können, dass wir unsere Erwartungen, Wünsche und Antizipationen daran ausrichten und die gedankliche Grundorientierung aus dieser Einrichtung berechenbarer Bewegung ableiten, zeigt die Produktivität architektonischer Machtinstrumente. Wir können kaum einen Schritt tun, der nicht bereits geplant und programmiert worden wäre. Mehr noch: Nur allzu gerne wählen wir im Alltag die freiwillige Knechtschaft und unterwerfen uns der durch Architektur agierenden Herrschaft. II. Man mag sich demgegenüber konkrete Architekturen denken, die nicht auf Einschränkung und Lenkung basieren und mit Utopien verschwistert sind. Diese Gruppe von Räumen nennt Foucault bekanntlich Heterotopien. Zum Teil sind dies großartige Gebäude, in denen wir uns in einer besseren Welt wähnen, Vorwegnahmen einer geordneten Gesellschaft oder, wie Supermärkte, schlicht aufgehübschte Widerspiegelungen der sozialen Ordnung. Foucaults wichtigstes Beispiel für eine Heterotopie ist der Friedhof 8, der die Gesellschaft von ihrem Rand her spiegelt und affirmiert. Solche realen Räume nennt Foucault Heterotopien, während Utopien irreale Analogien von Gesellschaften sind. Heterotopien bilden keinen Gegensatz zur Utopie, sondern eine Tendenz, eine Spielart, architektonisch realisierte Utopien.9 Diese Orte sind Foucault zufolge Spiegel, die eine Grenzfunktion innerhalb des sozialen Raums wahrnehmen und ihn zugleich ins Unendliche ausdehnen, indem sie einen irrealen Raum reflektieren. Der ideale Friedhof mit dem individuellen Grab für Jeden 26

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Wir sind Subjekte der Architektur, denn die Tatsache, dass wir uns im Raum orientieren, laufen, fahren, fliegen können, dass wir unsere Erwartungen, Wünsche und Antizipationen daran ausrichten und die gedankliche Grundorientierung aus dieser Einrichtung berechenbarer Bewegung ableiten, zeigt die Produktivität architektonischer Machtinstrumente.

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verspricht die konkrete Realisierung einer besseren Welt, ist aber im Grunde nichts anderes als ein perfekter, bürokratischer Apparat. Daher zählt Foucault auch die Hochschulen und das Militär zu den Heterotopien, die Altenheime, die Kliniken und, selbstverständlich, die Gefängnisse.10 Heterotopien markieren einen Bruch mit der traditionellen Zeit (Friedhöfe, Bibliotheken), sie basieren auf einem System von Einschluss und Ausschluss (Gefängnis, Sauna). Ihre Hauptfunktion ist es, entweder einen Illusionsraum zu bilden, der den reellen noch illusorischer aussehen lässt (Maison Close) oder einen reellen Raum, der den übrigen Raum als unaufgeräumt und skizzenhaft erscheinen lässt (puritanische oder jesuitische Kolonien in Amerika).11 Das Theater steht mit dem Kinosaal als Beispiel für die heterotopische Kombination inkompatibler Räume. Mit dem Begriff der Heterotopie beschreibt Foucault das Arrangement sozialer Platzierungen und die Identifikation von Grenzen innerhalb einer Gesellschaft; er erfasst, wie sich soziale Ordnungsideale in Architekturen manifestieren. Das Konzept erläutert aber nur unzureichend die Erfahrungsproduktion, die von diesen Grenzorten ausgeht, zumal wenn sie für die Umwälzung sozialer Handlungsfelder erheblich sind. III. Denn es ist zwar durchaus zutreffend, die Funktion öffentlicher Räume innerhalb einer sozialen Ordnung als heterotopisch zu beschreiben, doch ist dieser Blick auf Architektur fast zu optimistisch und wird doch nur von den angestrebten, geplanten Ordnungsmustern geleitet. Wir sollten nicht nur fragen, was mit derartigen Bauten intendiert worden ist, sondern auch, wie sie wirken, sobald sie im sozialen Raum existieren. Im Widerspruch zu seinen andernorts formulierten epistemologischen Forderungen schenkt Foucaults Analyse den materiellen Friktionen und dem inkommensurablen sinnlichen Eigenwert, die von den architektonischen Arrangements ausgehen, keine Aufmerksamkeit. Vor allem entgeht ihm die Tatsache, dass man mit Architekturen auch völlig unsachgemäß umgehen kann. In Foucaults Beschreibung bleiben die Toten in ihren Gräbern und die Ehegatten gehen pünktlich um Mitternacht ihrer Pflicht nach. Foucault macht sich die Perspektive der Sozialtechnologie und der Ersetzung der Politik durch Administration zu eigen. Kurioserweise fehlen in seinen Analysen deshalb die Ebenen des Ereignisses, der Vielstrebigkeit und die performative Dynamik, die Foucaults „Archäologie“ prinzipiell einklagt. Gerade mit seiner „Archäologie“ im Rücken sollte es uns nicht erstaunen zu bemerken, dass nicht nur die Planung durch Architekten und ihre Auftraggeber, sondern auch das Handeln dieser Vielheit von Menschen Teil architektonischer Prozesse ist. Aufgrund dieser Erfahrungsdimension unterhalb paradigmatischer Planungen und symbolischer Ordnungen, durch das individuelle Arrangement von Materialien und Kräften, auf denen die Diskurse lediglich aufruhen, können architektonische Räume 28

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Gesellschaften bestärken, aber auch öffnen oder transformieren. Foucault jedoch sieht diese Räume lediglich in Abhängigkeit von den sozialen Relationen, innerhalb derer sie auftauchen. Er stellt sie daher entweder als Ausdruck oder als Maß gesellschaftlichen Handelns dar. Und ähnlich wie später Bourdieu kann sich Foucault nur vorstellen, dass die Erfahrung der Architektur zur Reproduktion sozialer Ordnung und politischer Herrschaft führt. Die politische Performanz architektonischer Räume erschöpft sich jedoch weder in der Herrschaftstechnik, die sich durch gebaute Räume vermittelt, noch im heterotopischen Spiegelbild, sondern ist als Ermöglichung konkreter neuer Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erfahrungsweisen zu analysieren. Architekturen leiten nur dann jeden unserer Schritte und entziehen nur dann die dem Alltag zugrunde liegenden Entscheidungen unserer Aufmerksamkeit, wenn wir uns in sie einfügen, um Handlungsmacht zu gewinnen, wenn wir sie, mit anderen Worten, als subjektkonstitutive Gesetze befolgen. Ich kann Architekturen jedoch auch als etwas erfahren, das mir etwas nahelegt, was ich bislang nicht kannte und nicht anstreben konnte; ich kann sie als etwas erfahren, das sich mit mir verbündet, anstatt mich zu leiten. Ich kann aber auch gegen die Intention der Erbauer plötzlich, spontan oder planvoll Architekturen als Ressourcen nutzen und weiterentwickeln. Bereits Michel de Certeau hat gegenüber Foucault eingewendet, dass alle panoptischen und systematischen Raumorganisationen durch Gesten defiguriert werden können.12 De Certeaus Unterscheidung von „Karte“ und „Tour“ versucht zu zeigen, dass „Touren“ als populäre Prozeduren des Spiels mit den Mechaniken der Disziplin brechen, die eine „Karte“ festzuschreiben sucht. Touren sind Multiplikationen der Anwendungsarten. De Certeau beschreibt sie als Ausweitung und damit Entschärfung von Ordnungen aufseiten der Benutzer, die sich den Raum wieder aneignen, der ihnen durch die architektonischen Machttechniken zunächst entzogen schien. Seine Motivation ist es, der Analyse Foucaults einen Aspekt der Anti-Disziplin hinzuzufügen, die in der taktischen, dispersiven Kreativität liegt, welche Gruppen oder Individuen bei der Artikulation der Details des Alltags anwenden. Auch de Certeaus Idee der Benutzung, der Aktualisierung und der Äußerung bleibt jedoch der Regelfiktion verhaftet. Das Gehen erscheint in diesem Modell als das Andere der Architektur; genauso wie die Performanz in dem linguistischen Modell, auf das sich de Certeau bezieht, nur regelkonform oder regelwidrig sein kann. De Certeaus Taktik der Reappropriation der Straße durch das Gehen verlässt sich weiterhin – ebenso wie zuvor Henri Lefebvre (Le Droit à la Ville, 1968) – auf das architektonische Programm beziehungsweise das vorgesehene Design, um jenseits des Richtigen und Falschen die Dimension des Gebrauchs als freiheitlichen oder zumindest kreativen Spielraum behaupten zu können. So kommt das Handeln bei de Certeau nur als Subversion des Vorgeschriebenen und Richtigen in Betracht. Nach dem Modell des Gebrauchs betrachtet bleibt jegliches Handeln von der Planung, von der Intention und von der vorherigen Einrichtung der Dinge abhängig. Handeln muss sich aber nicht notwendigerweise in der Verwirklichung eines Planes erschöpfen. Gewiss, Architekturen strukturieren unsere Lebenswelt, bis wir schon den Eindruck haben, unsere Autonomie erfülle sich in der Zustimmung zu diesen gebauten Gesetzen. Dennoch gilt es, auch auf die gegenstrebige Raumdynamik Über die Erfahrung der Architektur

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zu achten, in der die Porosität sozialer Ordnungen, die Modifizierbarkeit und die Überschreitbarkeit architektonischer Markierungen und Setzungen erfahrbar werden. Denn auch in Befreiungsbewegungen spielen Architekturen eine zentrale Rolle. IV. Foucault sieht durchaus die Möglichkeit, in Architekturen aufzubegehren und durch Umnutzung gegen sie Widerstand zu leisten; er übersieht aber den Anteil einer anderen Architektur, einer Gegenarchitektur, an diesem Widerstand. Sicherlich hat er Recht mit der sarkastischen Bemerkung, ein Konzentrationslager sei zwar kein Instrument der Befreiung, aber abgesehen von den Extremfällen der Folter und der Exekution habe man immer die Möglichkeit des Widerstandes, des Ungehorsams und der Organisation von Oppositionsgruppen. Gleichwohl lautet seine Kernbotschaft: Keine Struktur der Dinge kann die Freiheit garantieren.13 An einer Stelle formuliert Foucault allerdings selbst einen Einspruch gegen diese Grundauffassung. In dem späten InterviewArtikel „Espace, savoir et pouvoir“ (1982) heißt es, die Architektur sei für die Praxis der Freiheit zwar unerheblich, doch damit sei nicht gesagt, dass man die Menschen genauso gut in Gefängnislöchern oder Elendsquartieren lassen könne, „weil man meint, sie bräuchten doch nur ihr Recht auszuüben […]“.14 Diese Bemerkung lässt erkennen, dass Foucault durchaus architektonische Bedingungen adäquaten Handelns für erforderlich hält. Wenn unterdrückende Architektur Widerstand niemals unterbinden kann, so kann es doch im Gegenzug Befreiung nicht gänzlich ohne eine Freiheit unterstützende (nicht erzwingende) Architektur geben. Architektur könne bestimmte Einschränkungen flexibler gestalten oder sie sogar durchbrechen, aber nicht automatisch befreien,15 unterstreicht Foucault. „Dies gelingt ihr, wenn ihre auf Befreiung zielenden Absichten mit der realen Praxis von Menschen zusammenfallen, die ihre Freiheit ausüben.“16 Diese Passage ist entscheidend, denn sie zeigt wiederum auch, dass Foucault unter Architektur Objekte versteht, keine Prozesse. Architektur kann aus seiner Sicht also bestenfalls einen Plan, eine Absicht oder eine Struktur bereitstellen, wie bestimmte Projekte Le Corbusiers oder das „Familistère“ von Jean-Baptiste Godin in Guise (1859), das die Arbeiterautonomie architektonisch unterstützen wollte und doch, aufgrund der eingerichteten permanenten Sichtbarkeit des Einzelnen für alle anderen, „absolut unterdrückend“ wirken konnte.17 Daher kann es für ihn keine Architektur geben, die per se befreiend ist. Aber Foucault stellt folgendes Gedankenexperiment an: Stellen wir uns vor, dass man 30

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dort, im Familistère von Guise, eine Gemeinschaft einrichtet, die sich unbegrenzten sexuellen Praktiken hingibt. So würde es ein Ort der Freiheit. Aber nur aufgrund der Praktiken, nicht aufgrund der räumlichen Anordnung, insistiert Foucault, denn Guise hätte ohne weiteres auch in ein Gefängnis umfunktioniert werden können.18 Aber könnten diese Praktiken denn gänzlich unabhängig von geeigneten Architekturen konzipiert werden? Foucault insinuiert, dass es aussichtslos oder kontraproduktiv wäre, wie bei manchen utopischen Projekten der modernen Architektur, das Recht institutionalisieren oder die Transparenz erhöhen zu wollen, um etwa eine größere Partizipation zu erreichen, denn das diene im Zweifelsfall nur zur Überwachung. Auch wenn sie sich als Lösung sozialer Probleme gebärdeten, so dissoziierten Architektenplanungen in diesem Sinne „die effektive Ausübung von Freiheit, die Praxis der sozialen Beziehungen und die räumliche Aufteilung“.19 Foucaults Gegenüberstellung einer Struktur der Dinge (einer räumlichen Distribution, eines Diskurses, eines Dispositivs) auf der einen und einer Freiheitspraxis20 auf der anderen Seite folgt der Planungsideologie traditioneller Architektonik. Foucault stellt nicht nur heraus, dass es ab dem 18. Jahrhundert eine Reflexion auf die Architektur als Technik der Regierung gegeben hat,21 sondern er folgt diesem Ansatz auch selbst, indem er den Stadtraum, die Epidemie, die städtischen Revolten, die Transportwege (Eisenbahn) und die Elektrizität als Probleme der Beziehung zwischen der Ausübung der politischen Macht und dem Territorialraum diskutiert. Foucault verweist hier auf die Ausbildungsprogramme der Architekten der Beaux-Arts-Tradition, auf die Ingenieure der„ponts et chaussées“ und die „polytechniciens“. Diesen Raumtechnikern schreibt er die Fähigkeit zur Beherrschung dreier großer Variablen zu, nämlich: Territorium, Kommunikation und Geschwindigkeit.22 Diese raumtechnischen Planungen üben zwar aus Foucaults Warte keine direkte Kontrolle über die Masse der Individuen aus, so dass diesen immer noch die Spielräume des Gebrauchs, die Zerstörung oder die Transformation bleiben.23 Doch es bleiben Akte des Widerstands oder der Aneignung innerhalb des von der Architektur produzierten Diagramms (wie Foucault hier, 1982, de Certeau antizipierend konzediert). Aus Sicht Foucaults ist die Architektur letztlich und trotz der freiheitlichen Anwandlungen einiger ihrer Protagonisten nichts anderes als eine Technik, die die Verteilung der Leute im Raum, die Kanalisation ihrer Zirkulation und die Kodifikation ihrer sozialen Beziehungen regelt.24

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Wie meine Gegenbeispiele zeigen, können wir jedoch auch eine andere Architekturauffassung entwickeln, die Architektur als Freistellung begreift und nicht als Festlegung oder Zwang.

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V. Es ist also vielleicht an der Zeit, von der „Archäologie“ Foucaults ausgehend eine neue Sicht auf die Architektur auszuarbeiten: Wenn man nämlich die Planungsideologie aufgibt, um das Handeln weniger aus dem Verhalten innerhalb gesetzter Strukturen als vielmehr aus der unbeherrschten Interaktion zu verstehen, so zeigt sich, dass Architekturen nicht zunächst aus Zwecksetzungen, Objekten und Symbolen und nicht ausschließlich aus objektiven Strukturen und deren individueller schematischer Aneignung bestehen, sondern in der Regel aus ergebnisoffenen Prozessen hervorgehen, an denen neben heterogenen Kräften und Dingen immer viele verschiedene Menschen mit ihren Wahrnehmungen, Emotionen, Verhaltensweisen und auch mit ihrer Passivität beteiligt sind. Dies lässt sich gut an der Architektur der Stadt veranschaulichen: Verschiedentlich ist versucht worden, Städte durch eine bestimmte Anzahl von Menschen pro Quadratkilometer zu definieren, durch eine bestimmte Dichte von Institutionen, durch eine spezifische Bevölkerungs- und Infrastruktur. Doch kaum jemand würde einen Wolkenkratzer, der 150.000 Menschen beherbergte, die in ihren Appartements ihr ganzes Leben nebeneinander her verrichteten, als Stadt bezeichnen. Die Erfahrung von Fremdheit und Diversität zählen wir sicher ebenso zu den Eigenschaften einer Stadt wie die Möglichkeit, die Zugehörigkeit durch Interaktionen zu überwinden. Eine gigantische Ansammlung von Gebäuden, völlig menschenleer, würden wir nicht als Stadt ansehen, sondern nur als das emergente Aggregat menschlicher und nichtmenschlicher Verhaltensweisen und Aktionspotenziale in öffentlichen Räumen. Nur aufgrund öffentlicher Räume, in denen diese Interkationen sich entfalten können, sind Städte keine ins Gigantische aufgeblähten Häuser, keine Funktionssysteme, keine gebauten Befehlsstrukturen. Ein Begriff der Stadt muss daher über gebaute Strukturen hinausgehen und die Architektur der Stadt wesentlich als kollektive Performanz begreifen können, die überhaupt erst ein Zusammen hervorbringt. Um die Architektur öffentlicher Räume zu verstehen, gilt es, all diejenigen Dingkonfigurationen ausfindig zu machen, die es Menschen ermöglichen, sich zu versammeln, einander als Fremde wahrzunehmen und zu interagieren. Öffentliche Räume sind immer Ausnahmen; Räume, in denen ein anderes Klima herrscht oder ein anderes Recht gilt, zum Beispiel Privatrecht, geschützt durch Mauern und Pforten: Der Palais Royal im Zentrum von Paris war Ende des 18. Jahrhunderts ein solcher Ort, der die kuriosesten Blüten trieb, weil er, als Privatgelände des Herzogs von Orleans, für bestimmte Aktivitäten einen Flecken Anarchie bot. Es war ein Raum, zu dem die Polizei keinen Zutritt hatte, es sei denn, der Herzog holte sie herbei. Öffentliche Räume sind immer auch Räume des Asyls vor staatlicher Exekutivgewalt. Sie sind im Gegenzug auch Schutzflächen vor einem erstickenden privaten Klima, Räume, in denen eine andere Moral gilt, wie beim Schwimmbad, in dem man sich entblößt, in der Sauna, in der man zusammensitzt, um zu schwitzen, oder beim Gelage, wo man Nahrung aufteilt und verschenkt. Wir wären erstaunt, in eine Agglomeration von der Größe einer Stadt zu gelangen, in der um 21 Uhr das Licht ausgeknipst würde und alle sich aufs Ohr legten. Es gehört zum Begriff der Urbanität, dass die Nacht in Städten nicht einfach hingenommen, sondern irgendwie bearbeitet wird. Das moderne Nachtleben wurde nicht zuletzt im Palais Royal erfunden. Nicolas-Edmé Rétif de la Bretonne hat dem Nachtleben von Paris ein Über die Erfahrung der Architektur

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erstes Denkmal errichtet mit seiner mehrbändigen Reportage Les Nuits de Paris, ou le Spectateur nocturne (1788 /89). Darin bezeichnet er den Palais Royal als „Zentrum der Freiheit“ (centre de la liberté), das seine nächtlichen Besucher jedes Mal verzaubere. Der Palais Royal war ursprünglich Richelieus Garten. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich dieser Garten komplett gewandelt: mitten im Stadtzentrum bot er Raum für die Marktplatzkultur, entfaltete städtisches Leben mit Museen, Salons, Clubs, Theatern, mit Ballonfahrten und Seiltanz, mit wissenschaftlichen und artistischen Spektakeln. Der Palais Royal wurde vor allem zu einem Palast des Nachtlebens; ein Garten der Lüste, in dem sich auch „alle Arten von Frauen“ trafen, was Louis-Sébastien Mercier – ein zweiter berühmter Chronist des Pariser Nachtlebens – veranlasst, diesen Ort das „Reich der Libertinage zu jeder Tageszeit und zu jedem denkbaren Preis“ zu bezeichnen.25 All dies war umringt von einem Prachtbau, der Tag und Nacht strahlte und eine eindrucksvolle Sammlung von Kunstwerken zur Schau stellte.26 Diesen hat ab 1780 Louis-Philippe II, der Herzog von Orleans, zusammen mit dem Architekten Victor Louis errichtet, vor allem zum Zwecke finanzieller Spekulation. Victor Louis ging daran, die aufwendigen Arkaden zu bauen, die Geschäfte beherbergen sollten, Cafés und Restaurants. Unter den Arkaden kristallisierte sich eine neue kollektive Praxis heraus, die es zuvor offenbar nicht gegeben hatte, die nicht geplant war und zu der doch diese Arkaden einluden: Hier entwickelte sich zum ersten Mal die kollektive Praxis des Spaziergangs (was übrigens Walter Benjamins Aufmerksamkeit entgangen zu sein scheint). Die „Promenade“ wird ein nächtliches Vergnügen, ein mondänes Ritual,27 aber auch ein kollektiver Aufstand gegen die gebaute Norm, abends im Privatraum sein zu müssen. Dieses allabendliche, urbane aneinander vorbei Promenieren muss man als Vorform der politischen Demonstration begreifen, die sich erst einige Monate später entwickeln sollte (Oktober 1789, beim Marsch zurück aus Versailles). Nur hier konnte Camille Desmoulins gewissermaßen ganz Paris zur Eröffnungsszene der Französischen Revolution mobilisieren. Am 12. Juli 1789 drängte sich eine rund sechstausendköpfige Menge um den Gelegenheitsschriftsteller Desmoulins, der sich auf einen Kaffeehaustisch geschwungen hatte, um „Zu den Waffen!“ und „Brüder, zur Freiheit!“ zu rufen. Angefeuert von Desmoulins setzte sich dann die Menge des Palais Royal in Bewegung, promenierte protestierend durch die Stadt. So ist der Palais Royal weder eine shopping mall noch eine bloße Heterotopie, noch als Versammlungsplatz lediglich die Voraussetzung einer Freiheitsbewegung. Camille Desmoulins transformiert den Kaffeehaustisch in ein Podest der freien Rede; seine architektonische Intervention ist ein politischer Akt, weil sie der Öffentlichkeit Räume der Interaktion und der Selbstbestimmung erschließt.28 So könnte man im Anschluss an Foucault die effektive Ausübung der Freiheit vor allem als einen architektonischen Akt begreifen, in dem Menschen und Dinge in ein neues, offeneres Arrangement treten. Wenn das Auf-den-Tisch-Steigen, mit dem sich Camille Desmoulins im Juli 1789 im Palais Royal eine Stimme verschafft hat, eine pratique de la liberté ist, die nicht in einem Gefängnisloch möglich gewesen wäre, dann entsprach dies nicht den Bauplänen des Palais Royal oder der ästhetischen Polizei der Königsplätze, vielmehr stellte die 34

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Assoziation seiner Bewegung mit der Zweckentfremdung des Tisches, mit der Versammlung der Zuschauer und mit den materiellen Eigenschaften der Gebäude und des Platzes um ihn herum selbst ein architektonisches Projekt dar. Seine Geste allein wäre eine bloße Sensation geblieben, nichts mehr als die Wiederholung einer triumphalistischen Monarchenstatue auf dem Sockel, doch sie ist von der johlenden und jubelnden Menge aufgegriffen worden; viele einzelne Akte haben den Palais Royal in ein Kraftwerk der Revolution verwandelt. Der Auftakt der Französischen Revolution war zugleich ein architektonisches Projekt, nicht minder als das Schleifen der Bastille. Nun könnte man die beschriebenen Ereignisse als Akte des Widerstands sehen. Worin liegt nun die Differenz zwischen Widerstand und Freiheit auf der Ebene der Architektur? Widerstand findet oft auf der Straße statt: Jemand revoltiert offenkundig gegen die staatliche Ordnung, indem er Verkehrsregelungen missachtet und die Straße als einen Ort politischer Demonstration nutzt. In diesem Sinne steht auch bei Jacques Rancière die Straße als Element politischer Umnutzung, Störung und Revolte.29 Die politische Bühne, auf der sich der Dissens inszeniert, die Straße, ihr materielles Vorhandensein wie auch ihre Gestaltung setzt Ranciere ebenso voraus, wie es vor ihm bereits Foucault und Lefebvre taten. Wo sollte sich aber der politische Eingriff inszenieren, wenn es diese Bühne nicht schon gäbe? Die Existenz von Stadtplätzen, zu denen der Palais Royal zählt, ist historisch alles andere als selbstverständlich. Daher griffe eine Betrachtung zu kurz, die neuzeitliche Stadtplätze nur in Hinblick auf ihre ästhetischen Vorbilder, Ordnungsmuster und ökonomischen Bestimmungen hin befragt. Denn ohne die Einbeziehung der politischen Kräfte und das Aufkeimen der Volkssouveränität lässt sich gerade die Leere der Plätze nicht würdigen. Die Piazza gibt es in dieser Form überhaupt nur, weil die norditalienischen Kommunen im späten 12. Jahrhundert begonnen haben, für neue zivile Lebensformen adäquate Stadträume auch durch Abriss freizulegen. Stadtplätze sind nicht nur Symbole politischer Ansprüche, sie ermöglichen ganz praktisch, die Versammlungen der Kommune auszuweiten und zu vertiefen. Jenseits der Mediatisierung und Monumentalisierung, die im Fall der Pariser Königsplätze der Grund für deren Errichtung waren, wirken Stadtplätze nicht nur als Instrument für die Ausbildung einer urbanen Kultur und eventuell für republikanische Politik; sie sind nicht nur Bühnen, auf denen Menschen einander begegnen, sondern Räume, die aus existierenden Kommunikationstrassen herausspringen. Stadtplätze sind prinzipiell allem und jedem Beliebigen zugänglich, sie sind nicht bestimmten Handlungen vorbehalten, sondern geben all dem Raum, was noch nicht identifiziert ist (sie sind keine Multifunktionsturnhallen). Nachts bergen sie den Schmelz städtischer Intimität. Dadurch verbreiten sie ein facettenreiches Flair, eine Verdichtung der Zeit. Über alles Symbolische und Imaginäre hinaus bieten Stadtplätze – in Italien im 12. Jahrhundert, in Frankreich 1789, in Deutschland 1989, in Tunesien oder Ägypten 2011 – die reale Möglichkeit der Versammlung und der Demonstration der Macht gegenüber illegitimer Herrschaft. Architekturen des Widerstands (Unterschlüpfe, Barrikaden) ebenso wie architektonische Befreiungsakte (Aufbrechen, Abreißen, Erschließen) gehen offenbar weit über das hinaus, was Foucault der Architektur zugesteht, nämlich bloß guten Willen. Über die Erfahrung der Architektur

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VI. Fassen wir zusammen: Der Palais Royal ist ein arkadengesäumter Platz mit parkähnlicher Gestaltung. Darin erfindet toutParis das Nachtleben, in Form der abendlichen „Promenade“. Es ist ein Prozess, in dem die Bauten und die dort sich sammelnden Menschen sich auf neue Weise assoziieren und eine neue Bewegungsform hervorbringen. Dort wird auch, ab 1765, das Restaurant erfunden, wo, anders als in den populären Cafés, Damen von Stand ohne Begleitung verkehren.30 Dies, und nicht allein die Arkaden, bildet die Voraussetzung dafür, dass sich am 12. Juli 1789 zum ersten Mal die politischen Massen als solche erheben. Camille Desmoulins steigt auf den Kaffeehaustisch und liefert damit die Vorlage der späteren Massenkundgebungsarchitekturen. Wenn wir dies adäquat analysieren wollen, können wir nicht dabei stehenbleiben zu sagen, die Besucher des Palais Royal seien die vom Herzog von Orleans und seinem Architekten baulich symbolisierte Bedeutung abgeschritten; oder sie hätten die Präsenz oder die Atmosphäre auf sich wirken und sich davon festlich stimmen lassen. Sie haben auch nicht einfach das Gebäude umgenutzt. Vielmehr sind entscheidende Merkmale urbaner Architektur erst durch die Erfahrung des Palais Royal entstanden. Wir sollten also, mit anderen Worten, die Erfahrung der Architektur selbst architektonisch beschreiben. Und nicht kunsthistorisch oder leibphänomenologisch. Erfahrung kann spontan und kreativ sein. Die Architektur, in der wir leben, stellt die Infrastrukturen der Lebenswelt bereit. Sie organisiert einen sprachgeleiteten Alltag; sie stellt die Gültigkeit von Zwecksetzungen durch die Möglichkeit von Planungen, durch die Evidenz baukünstlerischer Indizes und durch die Wirkmächtigkeit von Absichtserklärungen unter Beweis. Die Befolgung dieses Anspruchs auf Planung, Formung und Führung, das heißt die Tatsache, dass die Menschen die architektonische Einrichtung akzeptieren, anstatt mit dem Kopf vor die Wand zu rennen, stützt sich auf eine architektonisch generierte Macht, das heißt eine Welt, in der uns Dinge als Aussagen, wenn nicht als Befehle begegnen, und in der wir das Handeln als ein bestimmtes Machen, ein Können, begreifen. Die Architektonik als technische Festschreibung der Macht und des Könnens im Horizont des alltäglichen Erlebens ist die historisch dominante Auffassung von Architektur. Foucault bringt gewissermaßen nur auf den Punkt, was sich bei Aristoteles, Vitruv und der architekturtheoretischen Tradition abzeichnet: Für sie ist Architektur eine Machttechnologie, die die Individuen dressiert, 36

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Denn das, was architektonische Akte, von wem auch immer ausgeführt, freilegen, sind Ressourcen. Architektur lässt sich von daher verstehen als, wörtlich, Bauen eines Anfangs, als Freilegen einer Quelle, oder – als Ermöglichung.

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als Masse produziert und durch wenige beherrschbar macht. Sie erzwingt ein beherrschtes Verhalten, ein bestimmtes Fühlen und Denken. Wie meine Gegenbeispiele zeigen, können wir jedoch auch eine andere Architekturauffassung entwickeln, die Architektur als Freistellung begreift und nicht als Festlegung oder Zwang. Eine Architektur, welche die anarchischen Impulse, die jedem Handeln als einem spontanen, freien, unbeherrschten Akt innewohnen, freisetzt und beantwortbar macht, anstatt sie zu unterbinden oder zu konditionieren. Denn das, was architektonische Akte, von wem auch immer ausgeführt, freilegen, sind Ressourcen. Architektur lässt sich von daher verstehen als, wörtlich, Bauen eines Anfangs, als Freilegen einer Quelle, oder – als Ermöglichung. Jeder Anfang führt durch dieses Draußen, das die Ressourcen der Selbstbestimmung bereithält. Architektur in diesem Sinne arbeitet an der Ausrichtung der Selbstveränderung auf entscheidungsoffene Situationen hin. Die Architektur öffentlicher Freiräume beispielsweise bietet unbestimmte Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten; Möglichkeiten, die es ohne Architektur nicht geben würde. Wir sollten sie grundsätzlich begreifen als die Ermöglichung kollektiver Interaktion zwischen Menschen und Dingen, als Einrichtung einer Begegnung, und zugleich als Offenlegung der Bedingungen unserer Erfahrung.

1 Für Michelis ist die Idealisierung des Lebens die ästhetische Aufgabe der Architektur: „L’œuvre architecturale ne se contente pas de réaliser l’unité sociale, mais en même temps elle ennoblit plus directement la vie, parce que cet art érige des monuments symboles d’idées et idéalise la forme de la ville et de l’habitation.“ Panagiotis A. Michelis: L’esthétique de l’architecture, Paris 1974, 41. In gänzlich anderer Weise findet sich ein symboltheoretischer Zugang zum Beispiel bei Roger Scruton: The Aesthetics of Architecture, London 1979, und bei Christoph Baumberger: Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architektur, Frankfurt / M 2010.

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2 Hierfür können beispielsweise Karsten Harries:

réflexion sur l’architecture en tant que fonction

The ethical function of architecture, Cambridge, MA

des objectifs et des techniques de gouvernement des

1997, Gernot Böhme: Atmosphäre und Architektur,

sociétés.“ Foucault, „Espace, savoir et pouvoir“,

München 2006, stehen.

1080 (wie Anm. 14).

3 Michel Foucault: Surveiller et Punir. Naissance de la

22 „[…] territoire, communication et vitesse“,

Prison, Paris 1975; Henri Lefebvre: Le Droit à la Ville,

ebd., 1093.

Paris 1968; Thomas A. Markus: Buildings & Power.

23 Ebd., 1097.

Freedom and Control in the Origin of Modern Building

24 „C’est vrai que, pour moi, l’architecture, dans les

Types, London / New York 1993.

analyses très vagues que j’ai pu en faire, constitute uni-

4 Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des

quement un élément de soutien, qui assure une certaine

Gefängnisses, Frankfurt /M 1976, 42.

distribution des gens dans l’espace, une canalisation

5 Ebd., 222.

de leur circulation, ainsi que la codification des rapports

6 Ebd.

qu’ils entretiennent entre eux.“ ebd., 1102;

7 Ebd., 42.

„[…] l’architecture […] est une technê“, ebd., 1104.

8 Foucault, „Des Espaces Autres“, in: Ders.: Dits et

25 Louis-Sébastien Mercier: Tableau de Paris,

Ecrits, Bd. 2, Paris 2001, 1576f.

Neuchâtel 1781, Bd. 2, Kap. DCCCXXI, 938.

9 Ebd., 1574 f.

26 Darrin M. McMahon: „The Birthplace of the Revo-

10 Siehe ebd., 1576.

lution: Public space and political community in the

11 Siehe ebd., 1575 –1580.

Palais-Royal of Louis-Philippe-Joseph D’Orléans

12 Michel de Certeau, „Arts de faire“, in: L’invention

1781 – 1789“, in: French History, Bd. 10, Nr. 1, 1 – 29.

du quotidien, Bd. 1., Paris (1980) 1990, 152.

27 Siehe Olivier Dautresme: „La promenade, un loisir

13 „[…] il n’appartient jamais à la structure des choses

urbain universel? L’exemple du Palais-Royal à Paris à la

de garantir l’exercice de la liberté. La garantie de

fin du XVIIIe Siècle“, Histoire urbaine 2001/1, Nr. 3,

la liberté est la liberté.“, in: Foucault: „Des Espaces

Paris, 83 –102.

Autres“, Bd. 2, 1995 (wie Anm. 6).

28 Vgl. Kevin Hetherington: The Badlands of Modern-

14 Foucault: „Espace, savoir et pouvoir“ [Interview

ity, Heterotopia and social ordering, London 1997, 17f.

mit Paul Rabinow für Skyline, März 1982], in: Dits et

29 Vgl. Jacques Rancière: „Politisches Denken heute.

Ecrits, Bd. 4, 1094 (wie Anm. 8).

Die normale Ordnung der Dinge und die Logik des

15 Ebd.

Dissenses“, in: Lettre international, Nr. 61, II / 2003, 6.

16 „[…] en pensant qu’ils n’auront qu’à y exercer leurs

30 Rebecca L. Spang: The Invention of the Restaurant,

droits […]. L’architecture peut produire, et produit,

Paris and Modern Gastronomic Culture Cambridge,

des effets positifs lorsque les intentions libératrices de

MA 2000.

l’architecte coïncident avec la pratique réelle des gens dans l’exercice de leur liberté.“ Ebd., 1095. 17 Ebd. 18 Ebd., 1096. 19 „[…] la pratique effective de la liberté, la pratique des rapport sociaux et les distributions spatiales“, ebd., 1096. 20 Ähnlich diese Stelle: „Mon rôle […] est de montrer aux gens qu’ils sont beaucoup plus libres qu’ils ne le pensent […].“ Foucault: „Vérité, pouvoir et soi“, in: Dits et Ecrits, Bd. 2, 1597 (wie Anm. 8). 21 „[…] on voit, au XVIIe siècle, se développer une Über die Erfahrung der Architektur

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Roger Scruton

Die Sprache der Architektur Wenn es wahr wäre, dass Architektur eine Sprache ist (oder vielleicht eine Abfolge von Sprachen), dann sollten wir wissen, wie jedes Gebäude zu verstehen ist, und die Bedeutung der Architektur für den Menschen wäre nicht länger zu hinterfragen.1 Zudem wäre diese Bedeutung als intrinsische Eigenschaft von Bauten zu sehen und nicht als irgendeine externe oder zufällige Beziehung. Die Freud’schen und marxistischen Zugänge zu „Bedeutung“ scheitern teilweise daran, dass sie zur architektonischen Erfahrung keine Bedeutung beisteuern, die dieser nicht äußerlich ist – die nicht in einem Wert, einem Gefühl oder Bewusstseinszustand in Bezug auf das Gebäude besteht, der nicht intrinsisch, sondern Ursache oder Wirkung ist. Solche Ansätze müssen in einer Distanz zum ästhetischen Verständnis verharren. Es würde uns auch nicht überraschen, wenn es wahr wäre, dass Architektur auf die gleiche Weise eine Bedeutung hat, wie es bei der Sprache der Fall ist. Man bedenke die korrespondierenden freudianischen und marxistischen Theorien zum Begriff „Aussage“. Es mag sein, dass solche Theorien auf eine nachvollziehbare Verbindung zwischen Worten und ihren unbewussten ökonomischen oder ideologischen Bestimmungen zielen: Aber dies wird uns nie sagen können, was die Worte eigentlich bedeuten. Eine Freud’sche Theorie muss eine gegebene Bedeutung voraussetzen: Es ist wegen der buchstäblichen Bedeutung des Wortes „Milch“, dass es seine unbewusste Bedeutung erlangt – nicht umgekehrt. Deshalb ist es unmöglich, die eigentliche Bedeutung aus der Freud’schen Bedeutung logisch abzuleiten. Ähnliches trifft bei Marx zu: das englische Wort thrift [etwa: sparsamer Umgang mit Geld] erlangt seinen ideologischen Stellenwert – seinen Stellenwert als Signifikanz zur Verschleierung von Prozessen der Akkumulation und der Ausbeutung – aufgrund seiner früheren, buchstäblichen Bedeutung – eine Bedeutung, die eine Bezugnahme auf jenes Phänomen begründet, aus dem die ideologische Bedeutung hergeleitet ist. Deshalb ist eine marxistische Darstellung der eigentlichen Bedeutung unmöglich: Durch die Reduktion der Sprache auf ihren materialistischen Unterbau würde nichts über das Verständnis von Sprache entdeckt werden. Diese Analogie zeigt auch, wie belanglos jede Art wissenschaftlicher oder ursächlicher Erklärung für das Verständnis von Architektur ist. Eine erschöpfende Betrachtung einer Theorie der Psycholinguistik ist so etwas wie ein Erlass von Gesetzen, der die Aussage jedes Satzes bestimmt. Sie sagt uns zum Beispiel, wann eine Person „das Gras ist grün“ und wann sie „etwas ist grün“ sagen wird. In gewissem Sinne liefert eine solche Theorie eine komplette Darstellung der Beziehung zwischen diesen Sätzen, da sie die kausalen Regeln liefert, welche die Aussage bestimmen. Aber in einem anderen Sinn ist sie weit davon entfernt, vollständig zu sein, weil eine Verbindung zwischen diesen Sätzen besteht, die nicht kausal, jedoch von größter Wichtigkeit ist: eine Verbindung durch Sinn. Und diese Verbindung wird beim Verstehen von Sätzen begriffen, und jemand könnte sie genau verstehen, während er über die kausalen Gesetze, die ihr Verhalten 40

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Roger Scruton

Architektur scheint tatsächlich eine Art „Syntax“aufzuweisen: Die Teile eines Gebäudes scheinen auf solche Art zusammengefügt zu sein, dass die Bedeutung des Ganzen die Art der Kombination der Teile reflektiert und davon abhängig ist.

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regeln, nichts weiß. Er könnte auch komplette Kenntnis über diese Gesetze haben und doch kein linguistisches Verständnis. Anders gesagt heißt es, dass zwischen dem, was „natürliche“ und was „nichtnatürliche“ Bedeutung genannt wird, zu unterscheiden ist.2 Wir müssen zwischen dem Sinn von „Wolken bedeuten Regen“ und „John meint, dass es regnen wird“ oder „‚Il va pleuvoir‘ bedeutet, dass es regnen wird“ unterscheiden. Die erste dieser drei Aussagen ist ein Beispiel von „natürlicher“ Bedeutung – ein Fall, wo ein Phänomen der Grund ist, ein anderes zu erwarten. Man bezieht sich auf einen natürlichen, ursächlichen, äußerlichen Zusammenhang zwischen Ereignissen. Nur als gröbste aller Metaphern wäre von einer Sprache der Wolken zu sprechen; und tatsächlich wäre diese Metapher so vage, dass sie alles umfassen würde (da es kein Phänomen gibt, das nicht Grund dafür ist, ein anderes zu erwarten). Es ist überraschend, dass dieses Faktum so oft übersehen wird. Manche schicken sich an zu behaupten, es gäbe zum Beispiel eine Sprache des Gesichtsausdrucks, einfach weil dieser Zeichen eines Geisteszustands ist – aber diese Vorstellung hat mit Sprache nichts zu tun. Die Beziehung zwischen Wörtern und ihrer Bedeutung ist nicht von vornherein gegeben, sondern intendiert, und diese Intention wird durch ein notwendiges Gebilde aus Konventionen und Regeln realisiert.3 Auf Basis dieser beiden Fakten können all jene traditionellen Theorien von Bedeutung angezweifelt werden, die von einem Symbol als Antizipation des Objekts sprechen und die versuchen, linguistisches Verständnis als raffinierte Variante der Beziehung von Stimulus und Reaktion zu beschreiben.4 Zum Beispiel könnten wir den Einfluss von Sprache, wie er von C. W. Morris vorgetragen wurde, und die vielen daraus abgeleiteten Theorien über Architektur ablehnen.5 Solche Theorien definieren die Vorstellung eines „Zeichens“ als eine Art der „Aufbereitung“ der Beziehung zu seiner Bedeutung auf eine Weise, die weder Absicht noch Konvention, noch Regeln voraussetzt. Einem Architekturtheoretiker gelingt es beispielsweise nicht, den wesentlichen Unterschied festzustellen zwischen dem, was Spuren im Wald für einen Jäger bedeuten und was ein Gebäude für jemanden, der es versteht, bedeutet.6 Freilich ist es eine belanglose Übung, Bauten in Hinsicht auf ihre „natürliche Bedeutung“ zu betrachten: Es ist unmöglich zu leugnen – und unwichtig zu bestätigen –, dass Gebäude natürliche Zeichen sind – zum Beispiel natürliche Zeichen ihrer Funktion – und dass der Anblick einer Schule einen dazu bringen könnte, darin etwaige Prozesse der Bildung zu erwarten. Wie beurteilen wir die linguistische Analogie? Architektur könnte der Sprache entweder zufällig oder wesentlich ähneln. Sie könnte einige Eigenschaften oder alle jene, die Sprache zu dem machen, was sie ist, teilen, oder aber nur solche Eigenschaften, die linguistisch verzichtbar sind. Oder sie könnte manche der wesentlichen Eigenschaften der Sprache teilen, aber gewissermaßen nur zufällig und nicht schon aufgrund der Tatsache, Architektur zu sein. Nur im ersten Fall dürfen wir erwarten, aus der linguistischen Analogie eine Theorie zum Begreifen von Architektur abzuleiten. Aber wissen wir genug über Wesen und Funktion von Sprache, um über so einen Sachverhalt entscheiden zu können? Ein Problem liegt darin, dass die Proponenten von „linguistischen“, „semantischen“, „semiotischen“, „semiologischen“ und „strukturalistischen“ Auffassungen von Kunst allesamt von gänzlich unterschiedlichen Annahmen auszugehen scheinen und gleichermaßen unfähig sind, sich für irgendeine Eigenschaft der Sprache, die diese Frage 42

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vielleicht entscheiden könnte, zu entschließen. Dennoch behaupten sie alle, ein ausreichendes Verständnis von Sprache zu besitzen, um einen Begriff von Symbolik, der sowohl Architektur als auch Sprache umfasst, bieten zu können. Bevor wir also die eine oder andere Theorie betrachten, wird es notwendig sein, etwas über die tatsächlichen Gegebenheiten zu sagen, auf denen die Analogie basieren könnte. Einfach nur von Architektur als einer Form von „Symbolik “ oder „Sinn“ zu sprechen, ist eindeutig zu wenig. Ich habe die zwei bestimmenden Merkmale von Sprache, die hier vielleicht wichtig sein könnten, bereits erwähnt: Grammatik und Intention. Gebäude sind ebenso wie linguistische „Äußerungen“ in allen Einzelheiten intendiert und müssen als solche gesehen und verstanden werden. Weiters neigt seriöse Architektur dazu, sich durch Regeln zu steuern, Regeln für die Zusammenstellung und Verteilung von Architekturbestandteilen. Auch wenn es schwierig ist, die genaue Signifikanz dieser Regeln anzuführen, soll uns das nicht davon abhalten. Denn genau die gleiche Schwierigkeit entsteht, wenn es darum geht, die Rolle von Konventionen und Regeln in der Sprache zu verstehen. In beiden Fällen sind die Regeln weder unumstößlich noch kann man darauf verzichten und in beiden Fällen helfen sie mit, die Bedeutung des Resultats zu bestimmen. Architektur scheint tatsächlich eine Art „Syntax“ aufzuweisen: die Teile eines Gebäudes scheinen auf solche Art zusammengefügt zu sein, dass die Bedeutung des Ganzen die Art der Kombination der Teile reflektiert und davon abhängig ist. Alberti beschrieb Schönheit als Resultat einer solchen Organisation von Teilen, dass nichts daran verändert werden kann, ohne dem Ganzen Schaden zuzufügen7 – eine Definition, zu der zurückzukehren wir Gelegenheit haben werden. Und die klassische Theorie der Ordnungen, die gerade dieses Schönheitsideal zu erfassen suchte, führte fast unweigerlich zu einem „grammatischen“ Zugang zur Architektur. Die Ordnungen wurden von Meistern der Renaissance als Körper mit wechselseitig bedingten Einschränkungen konzipiert. Ein Architekt, der einer dieser Einschränkungen gehorcht, ist aufgrund der inhärenten Logik gezwungen, allen zu gehorchen. Somit verlangt die Verwendung der dorischen Ordnung eine strenge Beziehung zwischen vertikaler und horizontaler Dimension; sie bedingt eine bestimmte Art von Gebälk und bestimmte Fensteröffnungen. Dem Ornament wird jede Spur von Beliebigkeit genommen, indem man dem Architekten einen zwingenden Grund gibt, beispielsweise Triglyphen in den Fries einzufügen, die Form des Säulenbasis zu vereinfachen, der Wandfläche eine gewisse schwere Rauheit zu verpassen und so weiter. Auf diese Art dienen die Ordnungen dazu, den Entwurf einer ganzen Fassade zu kontrollieren, grammatische Einschränkungen Die Sprache der Architektur

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anzuwenden, wodurch ein Gebäudeeck ihr entferntestes Gegenstück zu definieren vermag; eine falsche Bewegung an irgendeinem Punkt kann die Integrität der Gliederung beeinträchtigen und den Faden der Bedeutung, der durch die Details des Ganzen läuft, zerstören.8 Der Einfluss der Ordnungen dehnt sich weiter aus, sogar in jene Gebäudeteile, wo sie weniger exponiert als angedeutet sind: Ein Fensterrahmen mag erkennbar dorisch sein, und sogar eine glatte Mauer könnte eine ionische Artikulierung haben aufgrund des Rhythmus der Öffnungen, der Gliederung der Teile und der Verzierung vereinzelter Leisten oder Profile. Und während dieses Ideal der grammatischen Ordnungen am eindeutigsten in der klassischen Theorie erläutert wird, gibt es andere Beispiele davon; sogar die Stile, die sich am weitesten von der Klassik entfernen (zum Beispiel, der Stil, den Le Corbusier mit der Unité d’Habitation eingeführt hat, oder der Stil, den Voysey in Bedford Park verwendet hat), werden von einer erkennbaren Grammatik beherrscht. Der wildeste Architekt mag im Sinne der Signifikanz seiner Bauten, wenn er sie schon nicht befolgt, zumindest auf die Missachtung von Kompositionsregeln angewiesen sein. Nun lassen die Ordnungen natürlich vieles unbestimmt; sie können mehr oder weniger streng angewendet werden; sie können ohne verheerende Resultate verändert oder variiert werden, wie in der Architektur der Manieristen, eines Giulio Romano, eines Peruzzi oder Michelangelo. Aber bis wir die Rolle der Syntax in der Sprache verstehen, werden diese Vorbehalte die linguistische Analogie nicht zu Fall bringen. Und insofern wir dieses Verständnis haben, sehen wir die Syntax als eine Reihe von negativen Einschränkungen, von Regeln, die begrenzen, wie wir das weiterführen können, was wir einmal zu sagen begonnen haben. Und genau das ist die Rolle, die wir intuitiv den Regeln der Architektur zuschreiben. Hier ist es nützlich, ein Gedankenmuster – gemeinhin als Semiologie bekannt – in Betracht zu ziehen, das vorgibt, die Bedeutung aller sozialen Produkte zu entziffern.9 Semiologie – die allgemeine Wissenschaft der Zeichen, wie sie Saussure vorausgesagt hat – legt eine Vorstellung von Bedeutung dar, die Sprache, Gestik und Kunst assimiliert und die anbietet, jedes menschliche Phänomen zu entwirren, indem sie es in die Sphäre einer allumfassenden Theorie der Bezeichnung einbringt. Diese Schule hat viele Ziele und Methoden, aber es ist eindeutig der Glaube an die Verallgemeinerbarkeit von „Bedeutung“, die wir untersuchen müssen. Die Semiologie nimmt also als Ausgangspunkt die Analogie zwischen Sprache und anderen Aktivitäten und verwendet in ihrer Suche nach Bedeutung alle unterschiedlichen, zur Verfügung stehenden Methoden, um sie zu entziffern: Freud’sche Analyse, Marxismus, strukturalistische Anthropologie und alles andere.10 Aber ihre intellektuelle Basis ist sowohl einfacher als auch genereller als ihre „Methoden“ und 44

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beruht auf zwei schlichten Annahmen. Erstens kann jedes menschliche Verhalten als expressiv angesehen werden – indem es Gedanken, Gefühle, Absichten usw. offenlegt. Oft (zum Beispiel in Träumen) vermag Verhalten Gefühle offenzulegen, die dem Subjekt nicht direkt zugänglich sind: und das ist ein Punkt, der dem Semiologen wahrscheinlich gefällt, weil er ihn glauben macht, dass die Bedeutung, die von seiner „Wissenschaft“ entdeckt wurde, etwas sein könnte, das noch nicht erkannt worden ist, sogar von denen, die „Zeichen“ verwenden und beachten. Zweitens können die Modi des menschlichen Ausdrucks so verstanden werden, als hätten sie eine gewisse „Struktur“, die ebenfalls in der Sprache ausgewiesen ist.11 Es ist diese „strukturalistische“ Behauptung, die die unmittelbarste Relevanz für unser gegenwärtiges Thema hat und weshalb wir die Betrachtung damit beginnen müssen. Nach Barthes zum Beispiel (der in dieser Frage Saussure folgt)12 ist ein Satz ein „System“, zusammengesetzt aus „Syntagmen“. Ein Syntagma ist eine Klasse von Begriffen, die sich gegenseitig ersetzen können, ohne das System zu zerstören – ohne den Satz für diejenigen, die diese Sprache sprechen, „inakzeptabel“ vorzutragen. Zum Beispiel im Satz „John liebt Mary“, kann „liebt“ durch „hasst“ oder „verschlingt“ ersetzt werden, nicht aber durch „wenn“, „denkt, dass“ oder „schwimmt“. Wer die Sprache versteht, ist in der Lage, die Worte, die in einem Satz einander ersetzen oder nicht ersetzen können, zu erkennen. Er wird von bestimmten „syntaktischen Kategorien“ beherrscht. Nicht überraschend, dass sich eine ähnliche Struktur in anderen menschlichen Aktivitäten beobachten lässt – zum Beispiel in der Architektur, wo (abhängig vom Stil) ein Bogen einem anderen der gleichen Art oder ein abschließender Pfeiler folgen kann, aber weder ein Bogen, dessen Größe und Stil mit dem ersten unvereinbar sind noch eine Serie von gebrochenen Säulen (daher die syntaktische Korrektheit der Rue de Rivoli und das inhaltsleere Durcheinander der Bebauung bei Elephant and Castle). Oder man betrachte einen anderen Fall, den Barthes in seinem Buch Elemente der Semiologie untersucht, den Fall eines Menüs. Jemand könnte folgendes bestellen: œufs bénédictine, gefolgt von steak frites, gefolgt von baba au rhum. Das ist ein „akzeptables“ System; in unserer Gesellschaft wäre die gleiche Mahlzeit in der umgekehrten Reihenfolge inakzeptabel. Es gibt vergleichbare Fälle in der Architektur. Nehmen wir beispielsweise die Nichtakzeptanz einer Säule, deren Sockel und Kapitell vertauscht wurden, oder eines Frieses, der dort platziert ist, wo ein Podest sein sollte. Es stimmt, dass die Architektur eine spezialisierte und komplexe Tätigkeit ist, dass das Verletzen von Regeln mehr oder minder toleriert werden kann und dass die Regeln selbst mehr oder weniger vermischt werden können. Wir können das „Mischen“ von Ordnungen, oder sogar das Vermischen von Klassik mit Gotik, wie in St. Eustache akzeptieren. Aber wenn Kritiker von verletzten Prinzipien sprechen oder von unkontrolliertem Entwerfen, haben sie oft eine Vorstellung von „Nichtakzeptanz“, die nicht so weit von dem entfernt liegt, was wir beim Menü gesagt haben. Es ist vielleicht in diesem Sinne, dass man für die Nichtakzeptanz von klassischen Fensterrahmen in gotischen Bögen (wie diese Kombination zum Beispiel in der Architektur von Webb zu finden ist) argumentieren könnte. Nehmen wir dann an, dass wir anhand des Menübeispiels generalisieren können: Autoren der Semiologie der Architektur – vom pedantischen Eco bis zu den überhitzten Beiträgen in Konzept und Tel Quel – haben gewiss keinen klaren oder konsequenten Grund gefunden, um zwischen diesen Fällen zu unterscheiden.13 Die Sprache der Architektur

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Genauso wie jedes Gericht zu einer „syntagmatischen Einheit“ gehört – es kann durch die einen Gerichte ersetzt werden, aber durch andere wiederum nicht –, verhält es sich auch bei den Bestandteilen der Architektur. Steak frites darf durch ham salad ersetzt werden, nicht aber durch ein Glas Tokajer – da das „inakzeptabel“ wäre; genauso wie es (grammatisch) annehmbar ist, ein ionisches Kapitell durch eine seiner Varianten (wie zum Beispiel jenes von Bassae oder sogar des von Michelangelo beim Palazzo di Conservatori verwendeten), aber nicht durch ein Kapitell des dorischen oder gotischen Idioms zu ersetzen. Das heißt, es gibt eine architektonische Exzentrik, wie beim Essen und Wein oder wie es extravagante oder schlampige Sprechweisen gibt. Der Semiologe wird jetzt voreilig den Schluss ziehen: Das Menü sei eine Art Sprache; auch Architektur sei eine Art Sprache; alle jene Aktivitäten erlangten eine „Bedeutung“ in der Weise, wie Sätze Bedeutung erlangen, und die Bedeutung könne von denjenigen, die den Schlüssel kennen, einfach „entziffert“ werden. Eine solche Schlussfolgerung ist natürlich unberechtigt. Denn die „Strukturen“, die wir im Menü oder im klassischen Idiom beobachten können, sind ohne semantischen Sinn. Jede Aktivität, die in Folgen abläuft und die als korrekt oder inkorrekt beurteilt werden kann, wird diese Struktur aufweisen. (Dies ist einfach eine notwendige Wahrheit.) Struktur ist mit Regel gleichzusetzen. Aber was folgt daraus? Man bedenke Barthes’ eigentliche Interpretation des Menüs. Steak frites soll auf das „was Französisch ist“ hindeuten.14 (Wie die dorische Säule, sagen wir, „männliche Kraft“ bedeuten mag.) Nehmen wir dann an, dass der Sinngehalt von œufs bénédictine römischer Katholizismus ist, und baba au rhum Sinnlichkeit bedeutet – was nun ist die Bedeutung des Gesamtsystems? Heißt das, dass französischer Katholizismus mit Sinnlichkeit kompatibel ist? Oder dass französisch zu sein wichtiger ist, als katholisch zu sein? Es gibt keine Möglichkeit dies festzustellen, obwohl unser System eine Struktur haben mag, hat es keine Grammatik. Eine Grammatik ist notwendig um zu zeigen, wie die Bedeutung der Teile die Bedeutung des Ganzen bestimmt. „Syntagmatische Struktur“ – als triviales Ergebnis einer regelgeleiteten Sequenz – zeigt nichts dergleichen. Es gibt in der Tat tiefgehende Unterschiede zwischen linguistischer und nichtlinguistischer Bedeutung – Unterschiede, welche die Semiologie bisher nicht zu beschreiben in der Lage war. Und man hätte Grund zu vermuten, dass diese Unfähigkeit genau von dem Versuch herrührt, eine allgemeine Wissenschaft der Zeichen anzubieten. Betrachten wir das Wortspiel um das Wort „akzeptabel“. Der Sinn, in dem ein Satz akzeptabel ist, ist nicht der Sinn, in dem ein Menü oder eine architektonische Komposition akzeptabel wäre, obwohl es in all diesen Fällen klare Konventionen gibt, die ins Feld geführt werden können, um die Wahl der Teile zu rechtfertigen. „John liebt Mary“ ist ein akzeptabler Satz, weil er verwendet werden kann, um etwas auszusagen, und er hat diese Verwendung, weil er wahr oder unwahr sein kann. So gesehen darf er mit inakzeptablen Sätzen wie „John wenn Mary“ kontrastiert werden. Akzeptanz in der Sprache ist mit der „Möglichkeit von Wahrheit“ 46

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verbunden und es kann keine Erklärung von linguistischer Bedeutung geben, die ihre Beziehung zur Wahrheit nicht zeigt.15 Doch ist es gerade diese Beziehung, die die Semiologie ignoriert – und ignorieren muss –, wenn sie das Konzept der „Bedeutung“ von der Sprache bis zu Kunst und Architektur generalisieren soll. Ein Mensch mag seine Haltung auf verschiedene Art und Weise ausdrücken; aber wenn er Sprache verwendet, dann gelten für sein Verhalten die Konzepte der Wahrheit und Unwahrheit. Was er sagt, mag nun übereinstimmen, nicht nur mit seinem inneren Zustand, sondern mit der Wirklichkeit. Dies ist es, was Sprache, was ihre „aboutness“, ausmacht und ihre Natur als eine Form der Kommunikation, durch die Leute einander über ihre gemeinsame Welt informieren können. Zudem waren Philosophen durch das Konzept der Wahrheit dazu in der Lage, Sinn für die Vorstellung einer grammatischen Struktur zu entwickeln. Was Sprache auszeichnet, ist gerade nicht nur die Beziehung zur Wahrheit, sondern die Tatsache, dass ihre Syntax von dieser Beziehung abgeleitet ist. Deshalb verweisen die einzelnen Wörter eines Satzes darauf, ob der Satz wahr oder unwahr ist, und die Regeln der Grammatik ermöglichen uns, die Bedingungen für die Wahrheit des Satzes aus der Bedeutung der Wörter abzuleiten. Diese Beobachtung, erstmals von Frege16 gemacht, hat sich trotz ihrer Einfachheit von primärer Bedeutung für das Verstehen von Sprache erwiesen. Sie ermächtigt uns zu sehen, wie die Bedingungen der Wahrheit eines Satzes von jedermann, der die Bedeutung seiner Bestandteile kennt, verstanden werden können. Und wenn jemand die Bedingungen für die Wahrheit eines Satzes kennt, weiß er, was der Satz sagt und somit was er bedeutet. Diese Theorie der Wahrheit liefert den Grundstein einer authentischen Grammatik,17 da sie uns sagt, wie die Bedeutung eines Satzes aus seinen Bestandteilen abzuleiten ist. Sie rechtfertigt damit diese intuitive Unterteilung in Bestandteile und zeigt, wie diese zueinander passen – Syntax folgt nun aus der Semantik. Und deswegen können wir das Menü nicht als linguistisches Phänomen betrachten: Hier von „Syntax“ zu sprechen, kommt der Verwendung einer Metapher gleich. Auch kann es keine Syntax (daher auch keine Theorie der Wahrheit) für Kleider, Essen oder jedes beliebige andere Phänomen geben, auf die der Semiologe seine vagabundierende Aufmerksamkeit richtet. Der Umstand, dass er seine Aufmerksamkeit auf die Architektur richtet,18 soll uns nicht zur Annahme führen, dass er irgendetwas zu ihrer Bedeutung zu sagen hat. Denn wenn die Frege’sche Theorie, die wir skizziert haben, wahr ist (und sie genießt heute breite Akzeptanz), dann basiert die ganze „Wissenschaft“ der Semiologie auf einem Irrtum. Die Sprache der Architektur

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An dieser Stelle müssen wir die linguistische Analogie verlassen. Denn Stil konnotiert eine Ordnung, die nicht die der Syntax ist. Ein Stil kreiert Harmonie, wo keine Syntax angewendet werden kann.

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Folglich scheint es, dass wir bisher kein Recht haben, von architektonischer Syntax zu sprechen. Solange Syntax mit Semantik korreliert – das heißt, solange sie auf eine schrittweise Erläuterung einer Bedeutung verweist –, läuft es auf eine beabsichtigte Regelhaftigkeit hinaus. Anders gesagt, sie führt keine wahre Grammatik ein und kann kein Licht auf das Verstehen von Form werfen. Aber vielleicht sollten wir doch darauf vorbereitet sein, eine echte Semantik der Architektur zu tolerieren. In seinem einflussreichen Buch strebte Eco zum Beispiel danach, etwas zu schaffen, was diesen Namen verdient.19 Von John Stuart Mill leiht er die Begriffe „Denotation“ und „Konnotation“ – ein Wort denotiert einen Gegenstand oder eine Klasse von Gegenständen und konnotiert eine Idee oder einen Sinn. Eco folgert, dass jede architektonische Form eine Funktion denotiert und zugleich eine Idee konnotiert. Hier gibt es kein Bemühen von Wahrheit zu reden – das Konzept der Denotation wird unabhängig analysiert.20 Das Verständnis von Architektur ist von dieser Warte aus eine Frage der „Wiedererlangung“ der verschiedenen Bedeutungen des architektonischen Zeichens, die es einverleibt hat; insbesondere die Ideen, die es konnotiert, und die Funktion, die es denotiert. (Der gotische Stil führt nach Eco eine Idee der Religiosität ein, obwohl er verschiedene Funktionen je nach deren Gebrauch denotiert.21) Eine Funktion zu denotieren ist nicht das Gleiche wie eine Funktion zu besitzen – eine Funktion zu denotieren heißt sie als Botschaft zu artikulieren, sie zugänglich und verständlich für die Allgemeinheit zu machen. Denotation ist, um es anders zu sagen, eine Form der symbolischen Beziehung; daher mag ein Gebäude eine Funktion denotieren, die es nicht besitzt (wie die zarten Strebepfeiler der St-Ouen in Rouen, die von Ruskin so vehement verurteilt wurden22), oder eine Funktion besitzen, die es nicht denotiert (wie die Säulen des RAC-Klubs, die eigentlich als Abflussrohre dienen). Kurz und gut, es ist richtig, skeptisch zu sein. Die Verwendung dieser Begriffe – „denotieren“ und „konnotieren“ – führt nicht unbedingt eine Theorie ihrer Anwendung ein. Es ist richtig zu fragen, ob wir wirklich über die Idee einer „natürlichen“ Bedeutung hinaus fortgeschritten sind, über das, was die Signifikanz eines Gegenstands irgendeiner nicht-symbolischen Beziehung halber suggeriert. Die Beispiele, die wir diskutierten, beinhalteten kausale Beziehungen: Das natürliche Symbol suggeriert seine Ursache oder Wirkung, und so kommt es, dass es „für etwas steht“. Und es bedurfte keines Baudelaire, um darauf hinzuweisen, dass jeder Gegenstand ein solches „natürliches Symbol“ ist. Nun ist die Beziehung eines Gebäudes zu einer Funktion nicht kausal, sondern teleologisch: Die Funktion eines Gebäudes ist weder seine Ursache noch seine Wirkung, sondern sein Ziel. Dennoch ist die natürliche Eigenschaft eines Gebäudes, dass es ein Ziel suggerieren Die Sprache der Architektur

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sollte – noch keine „linguistische“ Eigenschaft. Es gibt viele solche Beispiele von teleologischer „Bedeutung“ in der Natur. Die Finne eines Fisches suggeriert ihr Ziel, Bewegung zu lenken, wie die Spirale einer Schlingpflanze ihre Aufwärtstendenz suggeriert. Dies sind Beispiele von nicht-linguistischer Bedeutung aus dem Grund, dass – sobald die Beziehung zwischen Gegenstand und Zweck verstanden wurde – es nichts mehr zu begreifen gibt, und schon gar nichts Symbolisches. Es gibt keinen Inhalt in der Andeutung, dass die Finne des Fisches auch etwas zu ihrer Funktion sagt, dass sie eine „Botschaft“ vermittelt oder als ein „Symbol“ dient. Ein natürlicher Gegenstand mag sogar eine Funktion suggerieren, die er nicht besitzt, wie die schwarzen Saugnäpfe einer Krake die Idee von Sehvermögen suggerieren, aber keine optische Funktion haben. Wenn es darum geht, die von Eco vorgeschlagenen Begriffe einzubringen, dann scheint eine weitere Argumentation notwendig zu sein. Was könnte diese weitere Argumentation sein? Wir müssen wieder zu den Vorstellungen der semantischen und der syntaktischen Struktur zurückkehren. Wenn ich sage, ein Wort – sagen wir ‚John‘ – steht für oder denotiert etwas, will ich zumeist eher sagen, dass das Wort das, was es denotiert (den Mann John), „vorwegnimmt“ oder „suggeriert“. Ich will damit sagen, dass das Wort so sehr mit John verbunden ist, dass es verwendet werden kann, um über ihn zu sprechen, um über ihn Dinge zu erzählen, die wahr oder unwahr sein mögen. Anders gesagt, das Wort steht für John, weil es John in der Sprache repräsentieren kann, indem es an einer vollständigen Referenztätigkeit teilhat, deren Ziel (im zentralen Fall) ist zu sagen, was wahr ist. Deswegen wollten Denker wie Frege das Verhältnis von Referenz in Bezug auf das, was einzelne Wörter zum Wahrheitsgehalt von Sätzen beitragen, untersuchen. Frege ging in der Tat weiter und behauptete, dass ein Wort nur im Zusammenhang mit einem Satz eine Referenz hat: Es wird auf nichts verwiesen, bis etwas gesagt wird.23 Es ist nicht schwierig, mit dieser Ansicht zu sympathisieren. Denn sie leitet sich von einer ernsthaften Darstellung der Unterscheidung zwischen linguistischer und nicht-linguistischer Bedeutung ab, einer Darstellung, die zu zeigen versucht, warum verschiedene Fähigkeiten im Gebrauch und im Verständnis jeweils zum Zug kommen. Zu wissen, wie die Referenz eines Wortes bestimmt wird, ist wesentlich, um es zu verstehen, denn nach dieser Ansicht wird es ein Teil des Wissens darüber, was mit einem Satz , in dem der Begriff vorkommt, gesagt wird. Es ist daher die systematische Verbindung zwischen Referenz und Wahrheit, die uns zu sehen erlaubt, wie eine Theorie der Referenz auch eine Theorie des Verstehens ist. Eine korrekte Theorie der Referenz wird uns sagen, wie jemand in die Lage kommt, nicht nur einzelne Wörter zu verstehen, sondern die Gesamtheit dessen, was er hört und äußert. 50

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Dieser Ansicht nach ist es sicherlich doch mehr als ein Wortspiel, von Denotation, Referenz oder was auch immer zu sprechen, denn dort, wo keine semantische Struktur ist, gibt es keinen Weg von der Referenz zur Wahrheit. Die Denotation eines Bogens, nach Eco, ist seine stützende Funktion. Aber was sagt das fertige Gebäude oder die Arkade über diese Funktion aus? Wenn wir diese Frage nicht beantworten können, dann haben wir weder die Verwendung des Begriffs „Denotation“ gerechtfertigt, noch warum „Denotation“ verstanden werden muss. Dennoch war der einzige Vorteil der linguistischen Analogie, dass sie eine Darstellung davon, was es bedeutet, ein Gebäude zu verstehen und wahrzunehmen, suggeriert hat. Ecos „Denotation“wurde noch nicht in dieser Weise interpretiert: Es ist dies eine merkwürdige Tatsache, die manche vielleicht kommentieren mögen, andere aber ungestraft ignorieren. Selbstverständlich darf eine Form eine bestimmte Funktion suggerieren; sie darf auch eine Konnotation im Sinne Ecos besitzen (fast immer der Fall). Aber diese Tatsachen sind von geringem Interesse, solange wir nicht eine Analyse dieser beiden Beziehungen, von „Denotation“ und „Konnotation“, geliefert haben. Im Fall der Sprache ist die scheinbare Unergründlichkeit von Denotation durch unser Verständnis einer Verbindung zwischen Referenz und Wahrheit verschoben – zwischen sich auf etwas beziehen und darüber zu sprechen (in einer Art und Weise, die wahr oder unwahr sein mag). Im Fall eines Gebäudes, wo uns diese Verbindung zu fehlen scheint, ist die Idee einer „Denotation“ lediglich eine geistige Leerstelle – ein Wort ohne Konzept. Wir wissen einfach nicht, was gemeint ist, wenn behauptet wird, dass ein Gebäude eine Funktion denotiert; und diese Beziehung in linguistischen Begriffen einfach aufgrund der quasi-syntaktischen Natur der architektonischen Formen zu beschreiben, ist Beweis für die Verwirrung. Aber der Leser wird wahrscheinlich spüren, dass etwas von der linguistischen Analogie überbleibt. Schließlich mag es durchaus etwas geben, das zwischen natürlicher Bedeutung – wie wir sie beschrieben haben – und linguistischer Bedeutung liegt, etwas, dem die Struktur des Zweiteren fehlt und doch Absichten, Konventionen und Sinn ausdrückt, wie Symbole es tun. Könnten wir nicht dort, wo es weder Referenz, Behauptungen noch Wahrheit gibt, von „Zeichen“ oder „Symbolen“ sprechen? Wir werden sehen, dass es in der Tat andere Formen von Symbolik gibt und dass Kunst eines ihrer wichtigsten Felder ist. Aber zuerst müssen wir eine gründliche Darstellung der sprachartigen Eigenschaften der Architektur geben, die die Analogie überzeugend machen. Die vielleicht wichtigste Eigenschaft ist das Überwiegen von Konventionen und Regeln in der Architektur. Was zählt, ist nicht Die Sprache der Architektur

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die Befolgung der Regeln – denn diese Befolgung muss qualifiziert sein –, sondern die offenkundige Relevanz dieser Regeln für all das, was wir als architektonische Signifikanz verstehen. Man denke zum Beispiel an eines der am stärksten (und im Großen und Ganzen zu Unrecht) kritisierten Architekturgenres, den edwardianischen Barock, manifestiert in Norman Shaws Piccadilly Hotel Fassade (1905 – 06). Hier finden wir Details, die man en gros von einer Tradition, so wie sie einst verstanden wurde, hatte mitgehen lassen und die man mit so viel Respekt behandelt, wie es vielleicht angemessen wäre, um der Detaillierung der Fassade eines modernen Gebäudes gerecht zu werden. Man könnte sagen, was auch immer der Fehler dieses Gebäudes ist, es ist kein Fehler des Vokabulars: diese Säulen, Gesimse, Zierleisten, Fensterrahmen und Ochsenaugen sind alle aus der gleichen erweiterten klassischen „Sprache“ abgeleitet und es konnte erwartet werden, dass sie gemeinsam auftauchen. Aber an der Art und Weise, wie sie kombiniert werden, ist etwas falsch. Die Details sind irgendwie außer Kontrolle geraten: Es gibt kein übergeordnetes Konzept, in das sie hineinpassen, nichts, das ihre Existenz zu begründen scheint. Und man könnte hier durchaus von Ungehorsam gegenüber der Regel sprechen. Die mit Säulen verblendete Fassade des Piccadilly Hotels verbirgt nichts, bietet keinen Schutz, trägt nichts, ist extrem überdimensioniert, findet keinen Widerhall anderswo im Gebäude, sticht als bloße Wucherung hervor und ist unbedeutend für den Rest des Gebäudes, mit dem sie zufällig verbunden ist. Die ganze Fassade, könnte man sagen, ist syntaktisch zusammenhanglos. Man mag sie mit Palladios schöner Komposition bei Il Redentore vergleichen, wo der Lettner, der den Zweck erfüllt, den monastischen Teil vom Laienteil zu trennen, eine Struktur fortzusetzen scheint, die in der Kirche als Ganzes etabliert wurde und einer Kompositionsregel folgt, die aus den Details im Schiff leicht verstanden werden kann. Im edwardianischen Beispiel hingegen ist der klassische Bezug grotesk geworden: Die Details sind so unordentlich, dass sie keine Rolle für unser Verständnis des Gebäudes spielen können – genauso wie das Gebäude als Ganzes seiner Bestandteile keine passende Bedeutung wiedergeben kann. Es ist interessant, über die Idee einer signifikanten Abkehr von der Regel zu reflektieren – einer Abkehr, die die Existenz einer vorgegebenen Ordnung bedingt. Die Art der Signifikanz, die hier entsteht, kann nicht von einer linguistischen oder semantischen Theorie umfasst werden; sie behält dennoch eine zentrale Rolle in ernsthaftem Erleben von Architektur. Dies zu verstehen heißt zu sehen, wie nah oder wie weit die „Sprache“ der Architektur von all dem, was Syntax im eigentlichen Sinne genannt werden könnte, 52

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entfernt ist. Man denke also an den Palazzo Valmarana – eines der schönsten Häuser Palladios in Vicenza. In einer eleganten und kraftvoll strukturierten Fassade finden wir hier eine auffallende Abkehr von der Regel (eine Abkehr, die Sir William Chambers schockierte24). Die Kolossalordnung der Fassade – die an das Stärkste, das wir von Michelangelo kennen, erinnert – ist an den Ecken plötzlich verschoben, genau dort, wo ein kraftvoller Eindruck normalerweise benötigt wird, und weicht einer humorvollen Kombination von zerbrechlichen Wandpfeilern und schwülen Atlanten, wo Größe und Lage der Öffnungen sogar so weit geändert werden, dass an einer Stelle das Gesims durchbrochen wird. Der Eindruck ist nicht unpassend, ganz im Gegenteil, lebendig und reizend, eine unerwartete Harmonie zwischen dem imposanten Palazzo und den auf beiden Seiten angrenzenden, unprätentiösen Architekturen. Wenn auch der Palazzo uns nicht mit einer regelgeleiteten Ordnung beeindruckt, sollte uns diese Abkehr von der Regel nicht zu stark irritieren, auch sollten wir daraus nicht eine Bedeutung ableiten – die Bedeutung sozusagen eines zivilisierten Entgegenkommens, eines absoluten Mangels an vulgärer Selbstzufriedenheit. Die Abkehr wird bedeutsam wegen der Ordnung, die als Grundlage dient. Es ist dieser Kontext von Regeln und Konventionen, dass solche „freie Gesten“ expressive Absichten vermitteln können. Dieses Beispiel ist keineswegs außergewöhnlich. Im Gegenteil, es verkörpert die ganze Geschichte der westlichen Architektur. Während Architekten immer von der Suche nach Regeln motiviert wurden, haben sie die Regeln nur entdeckt, um sich von ihnen abzuwenden. Ab dem Zeitpunkt ihrer Neuetablierung dienten die klassischen Ordnungen eher als Kontrastfigur für das Experiment denn als starre Sammlung von Grundsätzen, und während es Bauten gegeben hat, deren Perfektion strikten Gehorsam Ordnungen und Regeln gegenüber widerspiegelt, ist ihre Perfektion von einer anderen Sorte als die einer expressiven Abkehr. Bramantes Tempietto und Michelangelos Vestibül der Biblioteca Laurenziana sind gleichermaßen schön, und schön auf ähnliche Art und Weise, obschon einer der beiden die Regeln bricht, welchen der andere folgt, und seine Perfektion gerade dadurch erreicht, dass er dies zeigt. Es scheint also, dass die Bedeutung architektonischer Formen nicht bloß durch das Befolgen von Regeln erklärt werden kann und dass in der linguistischen Analogie die Wichtigkeit von Regeln falsch interpretiert wird. Dennoch ist mehr an der Analogie dran, als von manieristischen Beispielen suggeriert wird. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Art von „Bedeutung“, die wir in der Fassade des Palazzo Valmarana erkannt haben, eine Qualität ist, die nicht nur der Gesamtheit einer architektonischen Komposition, sondern auch einzelnen ihrer Teile anhaften kann, und dass es oft eine Abhängigkeit der Bedeutung zwischen dem Teil und dem Ganzen und umgekehrt gibt, nicht unähnlich den semantischen Abhängigkeiten, die in der Sprache zu beobachten sind. Folglich ist einer der Hauptfehler in der Architektur derjenige, den wir schon im Piccadilly Hotel beobachtet haben: der Fehler der falsch verstandenen Komposition, weil man nicht begriffen hat, dass Die Sprache der Architektur

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Abb. 1 R. Norman Shaw: Piccadilly Hotel, London. Abb. 2 Andrea Palladio: Palazzo Valmarana, aus: I Quattro Libri. Abb. 3 Palladio: Palazzo Valmarana, Vicenza.

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Abb. 4 Andrea Palladio: Il Redentore, Venedig. Abb. 5 Peterborough Cathedral. Abb. 6 C. R. Cockerell: Ashmolean Museum, Oxford. Die Sprache der Architektur

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Details Konsequenzen haben und nicht einfach irgendwie kombiniert werden können, ohne dass Unsinn produziert wird. Den Details selber ist schon die Möglichkeit einer Organisation inhärent. Dies gilt nicht nur für Stile wie den Barock, der vor ornamentalen Details strotzt und der aus einer komplizierten Geschichte der schmückenden Verfeinerung entstanden ist. Die Details der frühen Bauhaus-Sprache sind nun hinlänglich bekannt – das sorgfältige Ziegelmauerwerk, die verglasten Ecken, die sauberen Kanten, Mauerbänder aus Beton, und abgerundete Türlaibungen. Aber wie selten werden diese Details mit irgendeinem Sinn für Organisation eingesetzt und wie oft unter Missachtung der bescheidenen, aber effektiven Grammatik, die Gropius und seine damaligen Kollegen aufgestellt hatten. Für Gropius war die Ablehnung des Ornaments ein stilistisches Prinzip, eine Art von Ornament, und hatte wenig mit der ungrammatischen Anti-Architektur zu tun, die behauptete, von ihm abzustammen, und die die ersten ernsthaften Versuche von Architekten kennzeichnete, die Prinzipien ihrer Kunst abzuschaffen. Demnach sind wir in der Lage zu erkennen, dass es nie möglich sein wird, die Qualität eines Gebäudes von seiner Detaillierung zu trennen, und dass es gut sein kann, dass eine Anordnung schlecht bearbeiteter Details, egal wie fein gemustert, im Vergleich zu der gleichen Anordnung, in der die Details anständig ausgeführt sind, wohl bedeutungslos sein wird. Eine oberflächliche Analyse mag suggerieren, dass die gleiche Art von Bedeutung sich an der Fassade eines Gebäudes wie des Palazzo Grimani in Venedig und der Fassade von Scotts St. Pancras Station festmacht. In der Kombination der Teile werden in beiden Fällen Rhythmen geschaffen und Konventionen befolgt, und in beiden Fällen ist der Erfolg ein Erfolg der Komposition. Dennoch könnte man argumentieren (ob richtig, ist nicht das Thema), dass die Grobheit der Detaillierung in Scotts Gebäude – seine behäbige, maschinell gefertigte Beschaffenheit – bedeutet, dass die Komposition der Fassade nichts anderes macht, als die Leere seiner Einzelteile ins Ganze zu transferieren. Aus einem solchen Grund sollte man Skepsis vor Behauptungen walten lassen, die im Namen eines corbusianischen Stils gemacht wurden, dass er ein wahres, modernes Pendant zum Klassizismus liefert. Regelhaftigkeit genügt nicht und die Wiederholbarkeit der Unité d’Habitation kann nur auf einen architektonischen Stil hinauslaufen, wenn die Details an sich zu lebendigen Teilen davon gemacht werden; und das heißt, dass sie die kindische, klumpige Beschaffenheit der Materie ablegen müssen und beginnen, die Artikulierung einer menschlichen Handlung zu übertragen. Der Palazzo Grimani leitet seine 56

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beschauliche Harmonie, seinen freudigen, ruhigen Charakter von der Tatsache ab, dass die lebhafte Sinnlichkeit seiner Detaillierung durch den operativen Eingriff einer strukturellen „Grammatik“ über die ganze Fassade verbreitet wird. Diese gegenseitige Abhängigkeit zwischen Teil und Ganzem und der Sinn dafür, dass aus dem operativen Eingriff eine Signifikanz entstehen könnte, ist die einzige Eigenschaft der Architektur, die der Sprache am ähnlichsten ist, und jede Theorie, die diesen Tatsachen gerecht werden und eine Analyse der architektonischen Bedeutung liefern will, muss dies berücksichtigen. Und darin liegt die Erklärung für die besondere Stellung, die Ruskin und Viollet-le-Duc bei den Architekturkritikern einnehmen. Denn ihr ausdrückliches Ziel war es zu zeigen, wie die Signifikanz eines Gebäudes aus dem Verstehen seiner Teile entsteht beziehungsweise davon abhängig ist. Und das gleiche Bewusstsein von architektonischer „Grammatik“ hat Pugin, der (wie Viollet-le-Duc) den Ideen des Gothic revival eine funktionalistische Wendung verleihen wollte, dazu motiviert, zu einer Vorstellung eines gültigen Details zu gelangen und irgendwie die Implikationen der einzelnen architektonischen Teile zu bestimmen. Aber in der Betrachtung der Kritik solcher Autoren, erkennen wir bald, dass es bei der Diskussion nicht um Sprache, sondern um Stil geht. Pugin reagierte auf die Ansicht,25 dass der ästhetische Wert einzig in emotionalen beziehungsweise narrativen Assoziationen angetroffen liegt – in Assoziationen, welche die Wahrnehmung eines Gebäudes durchaus überdauern könnten, so wie die Assoziationen eines Kampffeldes im Gedächtnis haften, lange nachdem man den Schauplatz verlassen hat. Pugin bemühte sich klar zu machen, dass solche Assoziationen unmöglich dem Architekten als Leitfaden, auch nicht als ernsthafter Geschmacksstandard dienen können, und wie wir sahen ist sein Argument überzeugend. Denn es bedarf eines gewissen Geschmacksstandards, um einen Stil zu kreieren, und solange es keinen Stil gibt, kann es keine sinnstiftenden Assoziationen geben. Nun entschied sich Pugin für eine funktionalistische Ausdrucksweise mit dem Argument, dass das gültige Detail ein Detail ist, das strukturell signifikant eine Last trägt oder diese bedingt, wie gotische Spitzbögen und Fialen. Aber seine Einsicht ist unabhängig davon. Es ist die Einsicht, dass es keinen Stil geben kann ohne Sinn für architektonische „Grammatik“, für Teile, die zueinander passen, und für Teile, die von einer Gesamtkonzeption dominiert werden. An dieser Stelle müssen wir die linguistische Analogie verlassen. Denn Stil konnotiert eine Ordnung, die nicht die der Syntax ist. Ein Stil kreiert Harmonie, wo keine Syntax angewendet werden Die Sprache der Architektur

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kann. Ein unvollständiger Satz wird keine Bedeutung haben: denn Syntax bringt Bedeutung nur dort ein, wo es um das Ganze geht; Syntax ist die Sklavin der Semantik; syntaktische Einheit kann es nur in einer semantischen Ganzheit geben. Aber ein unvollständiges Gebäude kann stilistische Einheit aufweisen und all die Bedeutung, die davon abgeleitet ist. Albertis Fassade am Palazzo Rucellai zum Beispiel, die eine der größten stilistischen Leistungen der frühen Renaissance darstellt, ist nicht bedeutungslos durch ihren unfertigen Zustand. Die Ordnung und Gelassenheit, wofür sie bewundert wird, ist im unfertigen Fragment vorhanden. Wenn stilistische Regelhaftigkeit auf eine Form der „Syntax“ hinausliefe, dann müssten wir die Fassade als architektonisches Kauderwelsch abqualifizieren. Nochmals: Stil agiert auf überraschende Art und Weise. Er kann eine rein additive Funktion haben und dabei dem Architekten erlauben, weiterhin Teil für Teil aneinander zu fügen (wie er vielleicht einer Wand Erker hinzufügt) in der Gewissheit, dass er nie bei einem Unsinn landen wird. Nehmen wir als Beispiel die Reihung gotischen Maßwerks, das die Westfassade der Peterborough Kathedrale durchstanzt. Diese ist kein Unsinn, so schwer es unter dem Aspekt einer syntaktischen Regel auch erkennbar sein mag. Indem sie ähnlichen stilistischen Einschränkungen gehorchen, können die Maßwerke trotz ihrer unterschiedlichen Formen und obwohl keine erfolgreiche Komposition (außer die der äußersten Schale) dadurch erzielt wird, erfolgreich kombiniert werden. Das Resultat ist nicht „bedeutsam“– zumindest nicht in der Weise wie beim Palazzo Valmarana; es ist aber auch kein Unsinn. Alles was wir sagen können ist, dass trotz der Schwierigkeiten, denen der Architekt gegenüberstand, sich eine stilistische Einheit von ihnen ableitet. Ein weiterer Punkt, der Erwähnung verdient, ist der radikale Unterschied zwischen den beiden Vorhaben, dem Kombinieren von Sprachen und dem Kombinieren von Stilen. Letzteres ist ein Akt kreativer Bemühungen, der etwas mehr als das Verständnis für verschiedene Stile zeigt. Wenn ich Französisch und Englisch verstehe, dann kann ich ohne Schwierigkeit auf Französisch vervollständigen, was ich auf Englisch begonnen habe: der Sinngehalt wird automatisch von einer Sprache in die andere übertragen. (Wenn dies nicht der Fall wäre, dann wäre es schwierig sich vorzustellen, wie unsere mittelalterliche Literatur ihren Anfang genommen hat.) Aber es ist eine Leistung, zum Beispiel ein gotisches Gebäude im Stil des Barock zu erweitern. Hawksmoor hat das erfolgreich in seinem Westturm zur Westminster Abbey gemacht, aber sogar dort ist es möglich, die Türme eher als eine losgelöste Ergänzung der Abbey statt eines integrierten Abschlusses zu ihrer Längsabwicklung zu sehen. Man bedenke auch den großen Unterschied, der zwischen einer bewusst vermischten Sprache (wie in den makkaronischen Versen: „A celuy que pluys eyme en mounde, / Of all tho that I have founde, / Carissima …“) und einem 58

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Jede „Regel“, die ein Architekt anwendet, wendet er nur an, um sie zu verbessern oder zu missachten. Und doch erwächst aus der Synthese auf unerklärliche Weise ein Stil, und jedes Detail dient nur dazu, die anregende Gelassenheit der Konzeption zu unterstreichen.

Die Sprache der Architektur

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selbstbewusst „vermischten“ architektonischen Stil besteht. Beim Ashmolean Museum kombiniert Cockerell römische Halbsäulen, griechische Kapitelle, palladianische Fenster, Gesimse im Stile eines Vignola, griechische Flechtverzierung und Leisten, barocke Giebel, Fensterrahmen im Stile eines Michelangelo, zusammen mit vielen Eigenerfindungen, all das in einem der harmonischsten englischen Bauten. Diese bemerkenswerte stilistische Leistung spottet jeder Beschreibung. Freilich zeigt sie Ordnung, Entwicklung, Signifikanz. Aber es ist weder die Signifikanz der linguistischen Äußerung noch die Ordnung der syntaktischen Regel. Jede „Regel“, die ein Architekt anwendet, wendet er nur an, um sie zu verbessern oder zu missachten. Und doch erwächst aus der Synthese auf unerklärliche Weise ein Stil, und jedes Detail dient nur dazu, die anregende Gelassenheit der Konzeption zu unterstreichen. Ein solches Beispiel zeigt, wie weit alle künstlerischen Unternehmungen (inklusive der Architektur) von einer normalen linguistischen Tätigkeit entfernt sind. Ein Beweggrund für die semantischen und semiologischen Theorien, die so modisch geworden sind, ist vielleicht der Wunsch, ein Konzept oder ein Begriffssystem zu finden, in dem alle Künste zusammengeführt werden können. Aber sogar im Fall der Literatur – wofür eine semiologische Darstellung besonders passend erscheinen mag – ist es zweifelhaft, ob „ästhetische“ Werte und Bedeutungen in semantischen Begriffen beschrieben werden können. Sogar dort hängt, in einer letzten Analyse, das Schaffen von ästhetischer Signifikanz von der Entdeckung der „richtigen“ und „angemessenen“ Details ab, und wir können diese Idee der Richtigkeit nicht einer semantischen Regel angleichen. Die Fähigkeit des Dichters ist die Fähigkeit, Worte trotz ihren identischen semantischen Eigenschaften auszuwählen, zum Beispiel, das Wort sans anstelle von without – um ein bekanntes Beispiel von Shakespeare zu nennen. Es ist, wie Frege sagen würde, die Fähigkeit, aus Wörtern mit der gleichen Bedeutung, aber unterschiedlichem Ton zu wählen. Und „Ton“ können wir nicht einer semantischen Kategorie angleichen. Ein Wort erlangt seinen Ton infolge seiner Verwendung und der Regeln, die dies bestimmen. Daher kann der Ton nicht Gegenstand einer Regel sein. Deswegen müssen wir – sogar in der Literatur – zwischen Stil und linguistischer Kompetenz unterscheiden. Ein Stil könnte imitiert werden, aber er stellt schon eine ästhetische Leistung dar, die ungeachtet seiner kreativen Fähigkeiten nicht für jeden, der die Sprache nützt, verfügbar ist. Daher wird Stil durch eine ganz andere Erziehung erlernt als zum Erlernen einer Sprache erforderlich ist. Und im Fall der Architektur wird Stil visuell erlangt, ohne die Unterstützung einer Übersetzung oder eines Wörterbuchs. Die vielleicht seltsamste Sache überhaupt in der Theorie, die postuliert, dass Architektur eine Sprache sei, ist die Neigung derjenigen, die die Architektur am besten verstehen, diese Theorie in Abrede zu stellen. Was ist es genau, das sie bestreiten? Natürlich bestreiten sie die Präsenz einer „semantischen Struktur“. Aber es gibt Erscheinungsformen – lose „Symbolik“ genannt –, die nicht linguistisch sind. Man denke zum Beispiel an kodifizierte Zeichen wie Straßenschilder oder Wappen. Solche Formen weisen nur eine fragmentarische Grammatik und nur eine partielle Referenz auf die Welt auf. Es ist zu bezweifeln, dass eine „allgemeine Wissenschaft der Zeichen“ ausgeweitet werden könnte, um diese zu inkludieren – zumindest nicht ohne eine Theorie zu liefern, die Codes von Sprachen unterscheidet. Nichtdestotrotz haben 60

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sie irgendeine Art symbolischer Funktion; sie „stehen für“ etwas, und dadurch stellen sie dem Beobachter Informationen zur Verfügung. Außerdem gibt es Formen der symbolischen „Äußerung“, die weder Grammatik aufweisen noch präzise Information beinhalten und die wir doch aus verschiedenen Gründen als Formen der Symbolik in Betracht ziehen sollten. Allerdings werden wir diese Formen der Symbolik nur verstehen können, wenn wir die linguistische Analogie außer Acht lassen. Wie wir gesehen haben, ist sie eine obskure und ungewisse Analogie und beinhaltet keine theoretische Einsicht, die uns eine aufschlussreiche Anwendung in der Architektur ermöglichen würde. Lasst uns also diese anderen Formen der „Symbolik“ untersuchen, ohne jedwede Annahme einer „allgemeinen Wissenschaft der Zeichen“.

Von Elise Feiersinger und Manfred Russo ins Deutsche übertragen. 1 Der Wunsch, Architektur – eigentlich, alle Kunstgattungen – als Sprache zu betrachten durchzieht die populärsten ästhetischen Theorien. Es ist schwierig, eine einfache Diagnose dieser Popularität zu liefern , aber sie wird durch jüngst erschienene Titel bezeugt: C. Jencks: Meaning in Architecture, London 1969; N. L. Prak: The Language of Architecture, Den Haag 1968; S. Hesselgren: The Language of Architecture, Kristianstad 1969; G. K. Koenig: Analisi del Linguaggio Architettonico, Mailand 1967. Es zeigt sich auch in den (eher schwachen) Versuchen, Informationstheorie und Semiologie auf die Architektur anzuwenden, 1. C. Jencks (Modern Movements in Architecture, London 1973), 2. Barthes, Eco und andere (s. Anm. 8 und 12). Diese generelle Tendenz machte sich auch in der analytischen Ästhetik bemerkbar; siehe z. B. Nelson Goldman: Languages of Art, Indianapolis 1968, sowie in der angewandten Theorie der Ästhetik (wie in L. B. Meyer: Emotion and Meaning in Music, Chicago 1956, und Deryck Cooke: The Language of Music, Oxford Die Sprache der Architektur

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1959. Die Informationstheorie behandle ich nicht in

30, 1976. Für eine erweiterte Untersuchung der literari-

diesem Kapitel, da es hinreichend klar ist, dass diese

schen Anwendung, s. Jonathan Culler: Structuralist

Theorie – die sich als eigene Sparte in der Wissenschaft

Poetics, London 1975, und für einen Versuch, das

der Voraussage keine Gedanken zur „Bedeutung“

Hoheitsgebiet „Architektur im Namen der semiotischen

macht – für die Ästhetik ohne Belang ist. (Für eine

Analyse“ zu beanspruchen, s. Konzept, hg. v. A. Carlini

überzeugende Widerlegung der Relevanz der Informa-

und B. Schneider, Tübingen, insb. Konzept 1 (Architek-

tionstheorie für die Ästhetik, siehe R. Wollheim: Art

tur als Zeichensystem, 1975) und Konzept 3 (1976,

and its Objects, New York 1968, 56.) Die grundlegende

betitelt in echter semiologischer Manier: Die Stadt als

Idee wird im Untertitel von Croces großartigem Werk

Text, und beinhaltet eine Abhandlung von Barthes –

Estetica come … linguistica generale – evident und

„Semiotik und Urbanismus“, ursprünglich veröffentlicht

entsteht immer, wenn die symbolische und kommuni-

in Tel Quel als „L’Architecture d’aujourd’hui“. Im

kative Natur der Kunst als ihr wichtigster Aspekt

Kapitel 1 von The Aesthetics of Architecture, London

präsentiert wird.

1979, argumentiere ich auf der Basis der Fregeianischen

2 Für die philosophische Ausarbeitung dieser Unter-

und Tarski’schen Semantik, und tue mich schwer, die

scheidung, siehe H. P. Brices bahnbrechenden Aufsatz

Anmaßungen dieser Pseudowissenschaft ernst zu

„Meaning“ (Philosophical Review 3, 1957).

nehmen. Allerdings ist die Suche nach einer „generellen“

3 Die Wechselbeziehung zwischen Intention und Kon-

Wissenschaft der Zeichen nicht an eine kontinentale

vention in der Sprache ist von D. K. Lewis, in seinem

Semiologie gebunden. In Languages of Art entwickelt

herausragenden Werk Convention, Oxford 1972,

Nelson Goodman eine solche Theorie auf der Basis des

vortrefflich illustriert. S. a. P. F. Strawson: „Intention

analytischen Nominalismus.

and Convention in Speech Acts“, in: ders.: Logico –

10 Siehe insbesondere Aufsätze von Barthes, und im

Linguistic Papers, London 1971.

Speziellen, Mythologies (Paris, 1957).

4 Die fraglichen Theorien stammen von Charles

11 Die Betonung der Struktur ist jene Stelle, wo die

Morris: Foundations of a Theory of Signs, Chicago

Semiologie in Kontakt mit der Anthropologie von Levi-

1938 und C.L. Stevenson: Ethics and Language,

Strauss (s. z. B. Anthropologie Structurale, Paris 1958)

New Haven, CT 1945.

und der linguistischen Theorie Chomskys (etwa Aspects

5 Eine solche Theorie vertritt Koenig (s. Anm. 1).

of the Theory of Syntax, Cambridge, MA 1965) zu

6 Ebd., 15.

treten scheint.

7 L.B. Alberti: De Re Aedifactoria, Florenz 1485,

12 Barthes, „Eléments de Sémiologie“, in: Communica-

übers. v. Max Theuer: De re aedificatoria. Zehn Bücher

tions 4, 1964, 91–135.

über Baukunst, Wien 1912), I. Bd., 2. Kap.

13 Betreffend U. Eco s. La Struttura Assente, Mailand

8 Die bei weitem fesselndste Beschreibung dieser

1968, in der die architektonische Anwendung extrem

„grammatischen“ Natur der Ordnungen entstammt

ernst genommen wird. Aufgrund des intellektuellen

Summerson: The Classical Language of Architecture.

Zwecks von Tel Quel grenzt sich der Text von Kon-

9 Die Konzeption der Semiologie (die „generelle“

zept – das eigentlich eine Hochglanzpublikation des

Wissenschaft der Zeichen) leitet sich von F. de Saussure:

radikalen Chics ist – ab.

Cours de Linguistique Générale, Lausanne 1916, ab.

14 S. Barthes: Mythologies (wie Anm. 10).

Es blieb anderen vorbehalten, diese als allgemeine

15 Diesem Gedanken, brillant erläutert von G. Frege

„Wissenschaft“ zu erfinden, insbesondere Barthes:

(„Über Sinn und Bedeutung“, in: Zeitschrift für Philo-

Éléments de sémiologie, Paris 1964; S /Z, Paris 1970,

sophie und philosophische Kritik 100, 1892, 25 – 50),

etc. und seinen Kollegen und Kolleginnen bei Tel Quel.

und formal weiterentwickelt von Alfred Tarski („The

Für eine kritische Diskussion der Semiologie, und über

Concept of Truth in Formalized Languages“, in: Logic,

Barthes im Speziellen, siehe J. Casey und R. Scruton:

Semantics Metamathematics, Oxford 1956), wurde

„Modern Charlatanism“ III, in: The Cambridge Review

in den letzten Jahren in der Arbeit von D. Davidson –

62

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Roger Scruton

s. insbes. „Truth and Meaning“ in: Synthese (1967) –

Bildzitate

erneut philosophische Bedeutung eingeräumt.

Abb. 1 Norman Shaw: Piccadilly Hotel, London,

16 S. a. M. Dummett: Frege, Philosophy of Language,

zit. nach Scruton, S. 168

London 1973.

Abb. 2 Andrea Palladio: Palazzo Valmarana, Vicenca,

17 Dies wurde von Tarski für formalisierte Sprachen

aus I Quattro Libri, zit. nach Scruton S. 170

bewiesen. Dank den Versuchen, Tarskis Theorie auf

Abb. 3 Andrea Palladio: Palazzo Valmarana, Vicenca,

Natursprachen auszuweiten, wurden unbestreitbare

zit. nach Scruton S. 170

Fortschritte bezüglich deren Verstehen erzielt.

Abb. 4 Andrea Palladio: Il Redentore, Venedig,

Siehe Davidson (wie Anm. 15) oder indirekt, durch den

zit. nach Scruton S. 169

Apparat der Modelltheorie und die konsequente Rela-

Abb. 5 Peterborough Cathedral, West Front,

tivierung des Wahrheitsbegriffs (s. z. B. R. Montague:

zit. nach Scruton S. 175

Formal Philosophy, London –New Haven, CT 1979).

Abb. 6 C. R. Cockerell, Ashmolean Museum, Oxford,

18 Z. B. Eco (wie Anm. 13) und Barthes (wie Anm. 9).

Detail der Fassade, zit. nach Scruton S. 177

Für ein wahrhaft prätentiöses Beispiel der Architektursemiologie, in dem ihre extravaganten Behauptungen und letztendliche Leere perfekt veranschaulicht sind, siehe U. Eco: „A Componential Analysis of the Architectural Sign /Column“, in: Semiotica, 2. Bd., 1972. 19 Eco, ebd., 207ff. Das Ausleihen bezieht sich auf J. S. Mill: System of Logic, London 1879, 10. A., 1. Bd., 1. Buch, 2. Kap. 20 Ein ähnlicher Versuch, Denotation oder Referenz von ihrem Wahrheitsgehalt zu trennen wird von S. K. Langer in ihrer Analyse der Musik Philosophy in a New Key, Cambridge, MA 1942, unternommen. Der gleiche Versuch ist auch in Nelson Goodmans Theorie der Symbolsysteme Languages of Art implizit. S. R. Wollheim: „On Nelson Goodman’s Languages of Art“, in: ders.: On Art and the Mind, London 1972, sowie Scruton: „Attaching Words to the World“, in: Times Literary Supplement, 12. August 1977. 21 Eco 209 (wie Anm. 18). 22 J. Ruskin: Seven Lamps of Architecture, London 1849, 8. 23 Diese „gesamtheitliche“ Anschauung des Begriffs Bedeutung, skizziert in „Sense and Reference“, erhält durch Dummett eine vollständige Ausarbeitung und Untermauerung (wie Anm. 16). 24 S. Sir William Chambers: Architecture, London 1825, „Of Persians and Caryatids“, 191f. 25 S. R. Scruton: The Aesthetics of Architecture, 6. Kap., FN 1.

Die Sprache der Architektur

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Manfred Russo

Architektur und Rhetorik Von der Antike bis zum Niedergang des Schönen im 18. Jahrhundert

Die Verbindung von bildender Kunst und Architektur mit Rhetorik mag den Leser prima vista überraschen und es gibt gegenwärtig nur wenige Arbeiten, die sich dieses Themas explizit annehmen. Tatsächlich aber besteht seit der Antike eine enge Beziehung, die erst in der Moderne in Vergessenheit geriet. Architektur und die bildende Kunst als solche sind von ihren Anfängen her ganz eng in Zusammenhang mit einer Kunst der Überredung und Überzeugung zu sehen. In der Literatur der Antike stand die bildende Kunst primär im Zeichen des Bildes, das auch die Skulptur inkludierte, während die Architektur in den wenigen einschlägigen (überlieferten) Schriften kaum Erwähnung fand, wenn man von Vitruvs Werk absieht. Dennoch betrifft die Logik einer Herstellung des Werkes, die eine intensive Befassung mit dem Fragenkomplex der téchne erfordert, alle Disziplinen der bildenden Kunst in gleicher Weise und verläuft innerhalb eines Kontinuums von ars zu artifex, von der Kunst zum Kunstschaffenden. Je mehr sich der Diskurs von der primär technischen, materiellen Seite hin zur konzeptiven Dimension verlagerte, umso mehr musste auch die Rolle des Künstlers zur Sprache kommen. Freilich war diese in der Antike nicht mit der Stellung des Künstlers in der Moderne vergleichbar, wiewohl die Frage der optimalen Wirkung des Werks im Fokus der Überlegungen stand. Der Künstler wollte mit seinem Werk überzeugen, das Wirkungskalkül hatte bis ins 18. Jahrhundert offenbar keinen negativen Beigeschmack, weil die Kunst nicht moralisch argumentierte. Es war nach Luhmann zwar erst in der Renaissance, als das „Was“– die Frage nach dem Kunstwerk, was es ist – durch das „Wie“– die Frage, wie der Künstler das Kunstwerk herstellt 1 – ersetzt wurde beziehungsweise im Sinne von Luhmanns Systemtheorie 2 von der Beobachtung erster Ordnung (Beobachtung des Kunstwerks) auf eine Beobachtung zweiter Ordnung (Beobachtung von Beobachtungen bzw. des Beobachters, der Künstler wird bei der Herstellung beobachtet bzw. beobachtet sich selbst dabei) umstieg, aber es müssen sich bereits in der Antike frühe Ansätze einer entsprechenden Selbstbeobachtung bemerkbar gemacht haben, wenn sich der Künstler in seiner Vorgangsweise mit einem Redner verglich, der nach den Regeln der Rhetorik arbeitet. Dieses Prinzip einer Orientierung des Architekten am Redner galt für den Zeitraum der Antike und von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Erst als die Entwicklung zur Autonomie der modernen Kunst durch die vermeintliche Überwindung der Rhetorik, die durch Baumgarten und Kants interesseloses Wohlgefallen eingeleitet worden war, beschleunigt wurde, führte dies dazu, dass sich die Kunst von einem Handwerk, das man zur regelgeleiteten Darstellung von idealer Schönheit erlernen konnte, zu einem Unternehmen wandelte, das den richtigen Selbstausdruck zum Ziel hatte. Der handwerklich orientierte Künstler musste eine Transformation zum 64

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Genie durchmachen, um der neuen Ästhetik einer autonomen Kunst zu entsprechen. Die Rhetorik hatte bis dahin ein Referenzsystem bereitgestellt, das seinen Ursprung in der Kommunikationstheorie hatte und die Künste mit klaren Anleitungen versorgte, ehe der Übergang zu einer Kunsttheorie vollzogen war, der sich aber nicht schlagartig vollzog, sondern über viele Jahrzehnte den Diskurs beeinflusste. In der Architektur spiegelte sich diese Problematik paradigmatisch in der Frage des Ornaments wider. In der Diskussion um das Ornament wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Architektur noch einmal die Frage gestellt, wie es um den aus der Rhetorik stammenden ornatus, den (Rede)Schmuck, bestellt ist. Louis H. Sullivan kann sich bereits Gebäude ohne Ornament vorstellen, wenn die konstruktive Klarheit gegeben ist, dennoch plädiert er noch für das Ornament, wenn es aus dem organischen Prinzip von Funktion und Form erwachsen ist und dieses ausdrückt, wenn es also individuell aus dem Gebäude entsteht und nicht beliebig appliziert werden darf.3 Langsam setzt sich aber der eindeutige Vorrang der Konstruktion durch und dem Ornament wird nur noch in besonderen Fällen, wenn es organisch vertretbar ist, eine dekorative Rolle zugestanden. Bei Loos wird dem Ornament bekanntlich in mehreren Aufsätzen eine deutliche Absage erteilt, weil der Gebrauchswert der Dinge im Vordergrund steht und keine zusätzliche Verzierung erfordert. Wenig später wird im Funktionalismus die Form völlig dem Verwendungszweck untergeordnet, was den absoluten Verzicht auf ornamentale Ausschmückung impliziert. All das steht im Zeichen einer vermeintlichen Wende zur Wahrheit, die das wirkliche Wesen nicht hinter Ornamenten verbirgt. Wenn in den theoretischen Diskursen der Moderne die Wesensbestimmung der Architektur zur ontologischen Frage wird, wenn vom „Wesen der Architektur als raummäßige Kunst“ 4 die Rede ist, wenn Architektur in den Gesamtzusammenhang von Raum und Zeit gerückt wird, wenn August Schmarsow 5 bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Wesensfrage ins Zentrum der Reflexion stellte, dann kann Rhetorik als Anleitung zum Bauen keine Rolle mehr spielen. Der Wunsch bestand damals darin, im Sinne Husserls zum Boden der Dinge vorzudringen, um eine völlige Neuschöpfung im Rahmen des neuen Kontextes an Wissen und Material zu versuchen, der russische Konstruktivismus oder das Bauhaus legten dazu beredtes Zeugnis ab. Aus all diesen Perspektiven muss der Künstler eine Technik der Rhetorik, die auf Überredung aus ist, ablehnen. Die Illusion des autonomen Kunstwerks ginge bald verloren, wenn man seine Quellen als Techniken der Persuasion freilegen würde. Man kann nicht die Wesensfrage stellen und zugleich anhand eines Rhetorikprogramms vorgehen. Schließlich steht Rhetorik im Verdacht, die Authentizität des Künstlers zu fälschen und um der Wirkung willen die Wahrheit zu verfehlen. Die Kunst und die Architektur nehmen nun für sich in Anspruch, im Rahmen einer Ethik zu agieren, die später mit der Politik verschmilzt und bevorzugt moralisch argumentiert. Die Diskussion über die Architektur hat sich bisher hauptsächlich für die erkenntnistheoretische Perspektive des Gemacht-Werdens interessiert und damit die ontologischen Fragestellungen nach dem Wesen der Architektur bevorzugt.6 Die Fragen nach dem „Was“ der Architektur und danach, „wie“ der Architekt sein Werk herstellt, standen im Vordergrund, und bei der Beantwortung dieser Frage spielte die Rhetorik seit der Antike bis ins 19. Jahrhundert jene bedeutende Rolle, die mit der Moderne endet. Architektur und Rhetorik

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Wenn man die Architektur jedoch aus der Perspektive einer Unterscheidung des Gebraucht-Werdens betrachtet, könnten sich auch in der Gegenwart neue Dimensionen der Rhetorik erschließen, die in diesem Zusammenhang wirken, ohne bisher thematisiert worden zu sein. Denn mit der Formel des Gebraucht-Werdens und der Erweiterung des Begriffs als Architektur des sozialen Raumes lassen sich möglicherweise zahlreiche Fragen aus der Perspektive einer aktualisierten Rhetoriktheorie beschreiben. Wenn der Architekt in der Frage nach dem Grund des Gebraucht-Werdens argumentiert, „warum“ das Bauwerk gebraucht wird, dann wird er auf Rhetorikformeln zurückgreifen, die bereits bei Quintilian und Cicero Usus waren, aber auch auf neue Formeln, die etwa auf ein Pathos des Sozialen oder bestimmte Ideologien abzielen. Der Medienphilosoph Norbert Bolz betrachtet das gesamte Design vor allem unter dem Gesichtspunkt einer Rhetorik durch das Ansprechen der Gefühle.7 Im vorliegenden Text befassen wir uns zunächst nur mit der eingangs beschriebenen Entwicklung der Rhetorik in der Tradition der Architektur von der Antike bis ins 18. Jahrhundert, ihrer Genese, dem Aufstieg und allmählichen Verlöschen zu Beginn der Moderne. Eine Konjunktur des Erhabenen als neuem Stil der Rhetorik geht damit einher. Die daran anschließende Entwicklung wird Gegenstand einer weiteren Folge sein. Rhetorik in der bildenden Kunst und Architektur der Antike In der Antike war die Frage der Kunsttheorie nicht auf eine Bewertung der Schönheit eines Kunstwerks ausgerichtet, sondern danach, ob es nach den Regeln der Kunst hergestellt war. Der antike Künstler war zunächst noch jemand, der sich durch eine besondere Kunstfertigkeit oder auch Erfindung auszeichnete, die einen kulturellen Fortschritt für die Menschen brachte. Spätere Vorstellungen der Neuzeit, wie etwa die der Kunstreligion, wonach der Künstler in Verbindung mit seinem Genius stehe oder über besondere Ausdruckfähigkeit verfüge, die auf individueller Begabung beruhte, waren nicht denkbar. Allerdings war auch bei der Herstellung von Bildwerken und Skulpturen immer schon die Beobachtung vorhanden, dass es sich bei bestimmten Werken, die der handwerklichen Produktion entstammten, um mehr als nützliche Gegenstände handeln müsse. Schließlich hatten sie die Eigenschaft, die Menschen in den Zustand des thau˜ ma, des Staunens, zu versetzen, eine von den Griechen hochgeschätzte Wirkung. Die althergebrachte téchne schien in diesen Fällen entweder durch magische Kräfte verstärkt oder durch eine Form der mímesis, der Nachahmung, charakterisiert, die als sóphisma, als Kunstgriff, den Betrachter täuschen könne. Insofern war die Nähe der Maler zu den Sophisten schon früh vermutet worden und manche von ihnen schienen diese Anmutung auch zu genießen.8 Trotz dieser zeitweisen Einschätzung einer Nähe zur Sophistik blieb die relevante Textsorte der Kunsttraktate bis in die Kaiserzeit hinein durch das Hauptkriterium der ars und nicht des 66

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Architektur und die bildende Kunst als solche sind von ihren Anfängen her ganz eng in Zusammenhang mit einer Kunst der Überredung und Überzeugung zu sehen.

Architektur und Rhetorik

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artifex bestimmt.9 Das bedeutete, dass nach wie vor der Korpus der téchne im Vordergrund stand und sich die Individuierung des Künstlers nach dem Vorbild des Orators noch nicht in den Texten niederschlug. Kunsttheoretisch wichtige Texte waren Werkstattschriften, die von den Malern, Bildhauern und Architekten selbst verfasst wurden. Diese Theoretiker waren ebenso erfahrene Praktiker im Umgang mit den Materialien und der gesamte Diskurs bewegte sich im Rahmen der téchnai.10 Zwei Zielgruppen suchte man zu erreichen: Intern wurde die jeweilige téchne für die Lehre beschrieben und dort, wo man in Wettstreit, im agón, zu den Kollegen stand, „trat man reformerisch oder gar polemisch auf“.11 Die Kommunikation verlief zwischen den Polen der Tradition und der Innovation, um einerseits empirische Kenntnisse, andererseits auch Wissen über Neues weiterzugeben. In der Sophistik wurden die Künste als artes persuadendi, also Künste des Überredens und damit auch des ÜberredetWerdens analog zur Rhetorik betrachtet. Und damit konnte man sie aus der Perspektive von Platons Ideenlehre als Scheinwissenschaften bezeichnen, weil sie durch die téchnai der Erzeugung von Reden und Bildern der epistéme, dem Erkennen, hinderlich waren. Allerdings hatte schon die aristotelische Definition der Metapher gezeigt, dass die rhetorischen Kriterien der Anschaulichkeit und Prägnanz (enárgeia, lat. evidentia und perspicuitas) von der Realität der bildenden Künste und ihrer Herstellung von Illusion ausgegangen waren. Die später einsetzende Kunstform der ékphrasis, der Beschreibung, forderte die Maler direkt zum agón heraus. Man darf damit die Kunstform des Bildes, die ja auch die Skulptur einschließt, trotz des Übergangs zur Schriftkultur als eine Basis der griechischen Kunsterfahrung und der damit einhergehenden Tendenz zur Rhetorik ansehen.12 Durch den Untergang der großen Bibliotheken der Antike von Pergamon und Alexandria wurde ein großer Teil der Kunstliteratur zu Bild und Architektur vernichtet, während die Schriften von Aristoteles, Cicero und Quintilian und die ars bene dicendi gut tradiert wurden. Im Vergleich der beiden Systeme von Kunstliteratur und rhetorischen Schriften ergeben sich überraschende Parallelen zur kommunikativen Funktion von Wort und Bild.13 Die Rede sucht den Hörer durch das bessere Argument zu überzeugen, das Bild den Betrachter durch seine Figuren (schémata, figurae). Die antike Kunstproduktion geht auch analog zur Redekunst vor. In der Rhetorik des Redners geht es im ersten Schritt um die Auffindung von Themen und Argumenten (inventio) und danach um deren Verteilung auf die festgelegten Redeteile (dispositio), beim Künstler um das Finden des Bildthemas und 68

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anschließend um die Disponierung der etablierten Figurengruppen auf dem vorgegebenen Bildgrund. Das künstlerische schéma ist dem rhetorischen tópos analog. Die elocutio als die sprachliche Gestaltung der Rede findet ihre künstlerische Entsprechung in der elaboratio, der handwerklichen Ausgestaltung, die sich in der Arbeit am Stein oder dem Auftragen von Farben realisiert. Entscheidend ist aber die permanente Beachtung des Wirkungskalküls, in dem jeder Gestaltungsschritt kontrolliert und in Bezug zum Effekt gesetzt wird. Der Bereich der inventio erfasst den Kontext der Aufstellung des Bildes, ebenso wie der Redner den Rahmen seiner actio in die Konzeption eingehen lässt. Der Blickpunkt des Herstellers muss mit dem des Betrachters abgestimmt werden. Der Faltenwurf der Statuen wird auf den idealen Standpunkt ausgerichtet, wie auch die Architektur die optisch veränderte Kurvatur der Bauelemente, etwa der Säulen, in die Planung miteinbezog. Die Gemeinsamkeiten der antiken Rhetorik mit der Kunsttheorie beziehen sich auf einen gemeinsamen Ursprung der Sophistik des 5. Jahrhunderts. Damals entstand das Konzept der téchne, in dem die Pluralität der Künste von der Medizin bis zur Bildhauerei, Malerei, Rhetorik oder Musik in den Dienst eines allgemeinen Nutzens gestellt ist. Eine handwerkliche Tätigkeit kann den téchnai zugerechnet werden, wenn sie Nützliches schafft und ein spezifisches érgon herstellt, wie die Überredung in der Rhetorik, die Gesundheit in der Medizin oder die angenehme Wirkung in den Künsten. Das Gewicht der Argumentation liegt bei der Perspektive des Nützlichen (hat aber nichts mit dem modernen Utilitarismus zu tun) und nicht etwa in der Faszination durch die Ästhetik, obwohl man der Wahrnehmung durchaus eine wichtige Rolle in diesem Gesamtzusammenhang zuerkannte. Vitruv weist unter Bezug auf seine Quellen auf ein Traktat des Bühnenmalers Agatharchos über die skené hin und berichtet auch über dessen Anregungen für Demokrit und Anaxagoras, die das Thema im Sinne einer Strahlenlehre weiterverfolgten.14 Sokrates fragt in seinem Gespräch mit dem Bildhauer Kleiton, wie er die Illusion des Lebens seiner Figuren erzeuge, und meint dazu, ob es nicht die genaue Nachahmung der Gefühle sei, von denen der Körper bei seiner Handlung berührt werde, die die Befriedigung beim Zuschauer hervorrufe. Eine Annahme, die von Kleiton bejaht wird.15 Die téchne steht im Dienste des érgon. Der Vergleich des Redners mit dem Künstler aus der Perspektive der Rhetorik ergibt folgendes Ergebnis. Der Redner verfügt nach Aristoteles über drei Mittel der Überzeugung: éthos, páthos und lógos,16 der Künstler arbeitet mit den vorgegebenen schémata und deren Variationen, die er mittels seiner Kunstfertigkeit Architektur und Rhetorik

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Es müssen sich bereits in der Antike frühe Ansätze einer entsprechenden Selbstbeobachtung bemerkbar gemacht haben, wenn sich der Künstler in seiner Vorgangsweise mit einem Redner verglich, der nach den Regeln der Rhetorik arbeitet.

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erzeugt. Der Redner muss, um überzeugend zu wirken, sein éthos einbringen, der Künstler steht im Vergleich der Mittel schlechter da, da er sein éthos nur vor dem Hintergrund seiner Werkstoffe, die aber im Schatten der téchne stehen, oder das éthos seiner Figuren als Charakterträger darstellen kann.17 Für die Griechen galt der Zusammenhang zwischen Aussehen und Ethos. Die Formel des kalós kai agathós meinte, dass die Schönheit des Äußeren die Schönheit des Inneren widerspiegelt. Der Künstler stand daher vor der Aufgabe, ein Porträt zu schaffen, das die ethische Qualität überzeugend vermittelte. Später wurden den visuellen Darstellungen des Ethos Formeln des Pathos hinzugefügt oder durch diese ersetzt.18 Die Frage des Künstlers lautete daher: Wie kann man mit dem klassischen orator perfectus gleichziehen? Eine Strategie bestand in der Nachahmung der Natur selbst und nicht anderer Künstler, die für die Tradition der téchne bestimmend waren.19 Durch die Nachahmung der phýsis, der Natur, wird der Künstler dazu ermächtigt, sich über die téchne zu erheben und damit ein eigenes éthos zu zeigen, wodurch eine frühe Form der Künstlersubjektivität entsteht. Bei Vitruv kommt ein weiteres Element, das iudicium hinzu, das auf eine in der Antike nur selten angedeutete Individuierung des Künstlers hinweist.20 „Des Architekten Wissen umfasst mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse. Seiner Prüfung und Beurteilung unterliegen alle Werke, die von den übrigen Künsten geschaffen werden. (Cuius iudicio probantur omnia quae ab ceteris artibus perficiuntur.)“21 Das iudicium beruht wie die phantasia auf einer natürlichen Anlage, die eben individuell unterschiedlich verteilt ist. Vitruv gleicht sich hier dem Rednerideal von Cicero an. Das iudicium ist eine Form der Urteilsfähigkeit bei der Auswahl der Methoden, vor allem wenn die Entscheidung für die Auswahl der angemessenen Formensprache für die jeweilige Bauaufgabe aus verschiedenen Stilen zu treffen war. Das große Angebot und die historische Vielfalt machten die Urteilsfindung zu einer künstlerischen und intellektuellen Herausforderung, die wiederum zu einer Aufwertung des iudiciums führte, das sich zur elegantia entwickelte. Auch in anderen Punkten ist der Einfluss von Ciceros Universalisierung der Rhetorik bei Vitruv erkennbar, indem er ältere griechische Begriffe der Kunsttheorie durch rhetorische Termini ersetzte. Er sprach von den genera der Säulenordnungen22 (dorisch, ionisch, korinthisch). Er wandte die Lehre vom decorum auf die Wandmalerei an, um der Lage und Funktion der jeweiligen Räume nach den Regeln der Angemessenheit zu entsprechen.23

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Renaissance In der Renaissance wird das rhetorische Potenzial der Architektur erstmals in seiner ganzen Tragweite begriffen. Neben Klerus und Fürsten beginnen auch vermögende Bürger durch Patronagen die Architektur als Repräsentationsmittel zu nützen und den öffentlichen Raum als Medium dieser Botschaften mit Bauwerken zu verschönern. Hier muss der Name Alberti ins Spiel kommen, denn er ist der erste, der eine systematische Darstellung einer rhetorisch-humanistischen Architektur vorlegt. Zudem hatte er mit De pictura ein Traktat über die Malerei verfasst, das sehr eng an Quintilians Institutio oratoria anschließt, deren Struktur er übernimmt, und den Maler nach dem Muster des Orators beschreibt. Neben dem schon von Vitruv praktizierten iudicium bezieht sich Alberti in De re aedificatoria inhaltlich und begrifflich auf die römischen Rhetoriklehren24 und greift die zentralen Kriterien der inventio (Stofffindung), dispositio (Stoffgliederung) und elocutio (Stoffausarbeitung) auf. Bei der Produktion der Rede wie auch beim Entwurf des Bauwerks erfolgt der kreative Prozess des Konzepts zur Eruierung geeigneter stofflicher Möglichkeiten für die wirkungsvolle Behandlung des gestellten Themas. Die Gliederung verläuft ebenfalls analog zur Rede. Beim Redner entwickelt sich die Anordnung des Stoffes dem Zweck entsprechend in Thesen und Schlüssen, der Architekt geht dabei folgendermaßen vor: Er entwickelt aus seiner Bauidee den Aufbau des Gebäudes durch Organisation des Grund- und Aufrisses, entsprechend den inneren und äußeren Funktionen, er entscheidet sich für die Baukonstruktion und verarbeitet alles zusammen zu einer harmonischen Einheit. Die elocutio als die Ausdruckslehre zeigt dem Redner, was er beim Einkleiden seines gedanklichen Konzepts in angemessene Worte zu befolgen hat und mit welchen Ausdrucksmitteln er überzeugen kann. Am Palazzo Rucellai entwickelte Alberti sein Konzept anhand des rhetorischen Prinzips der aemulatio, der wetteifernden Nachahmung, indem er auf das Bauprogramm der Medici Bezug nahm. Der Bauherr Rucellai, der einerseits seinem verbannten Schwiegervater Palla Strozzi die Treue hielt, wollte andererseits den herrschenden Medici die Gefolgschaft beweisen, indem er deren Architekturpatronat übernahm und deren Schema kunstvoll interpretierte, sodass er durch das Aufgreifen bestehender Traditionen daraus auch etwas Neues entstehen ließ.25 Eine wesentliche Rolle spielt bei Alberti der Schmuck beziehungsweise das ornamentum. Vom Redeschmuck, dem ornatus hängt die Überzeugungskraft entscheidend ab. Es ist in der Rhetorik der wichtigste Träger des Ausdrucks, von dem Alberti meint, dass man das Bauwerk erst nackt zu Ende führen muss, ehe man mit dem ornamentum im Sinne einer Einkleidung beginne (De re aedificatoria, IX,8). Als leitendes Prinzip galt in der Rhetoriklehre die Angemessenheit (aptum, decorum) und fand in der Dreistillehre ihre Orientierung. Damit wurde eine Hierarchie bestimmt, die den Schmuckstil für ein konkretes Thema, konkrete Adressaten oder eine bestimmte Wirkungsabsicht als geeignet empfahl. Das System der drei rhetorischen Stilarten, genus subtile, genus medium und genus grande – schlicht, mittel und erhaben –, wird von Alberti auf die Architektur übertragen, indem er das ornamentum in drei Gruppen gliedert: hoch (Sakralbauten, Buch VII), mittel (öffentliche Profanbauten, Buch VIII) und niedrig (Privatbauten, Buch IX).26 Auch diese Einteilung beruht auf der Rangabstufung der drei Sphären im Sinne des römischen Staatsrechts, für die der Redner unterschiedliche Ausdrucksmittel 72

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suchen muss.27 An der Kirchenfassade von Santa Maria Novella als einem Sakralbau werden im Sinne seiner Theorie erstmals die beiden großen Monumentalformen der Antike: Tempelfront und Triumphbogen als schmückende Würde- und Pathosmotive verwendet (Buch VII,3). Im 16. Jahrhundert wird überdies eine neue Basis der Architekturrhetorik geschaffen: Die klassischen Säulenordnungen werden Träger einer Ausdrucksweise von höchster Autorität, die eine Ordnung der Architekturelemente am Gebäude definieren. Obwohl Alberti bereits die Säule in ihrer konstruktiven Funktion abgelöst und zur Würdeform konvertiert hatte, ist es dann Sebastiano Serlio vorbehalten, die Säulenordnungen in eine umfassende Theorie zu integrieren, deren Bedeutung für die folgenden Jahrhunderte gilt. Durch die Vermischung mehrerer Säulenordnungen begründet er eine Dialektik zwischen klassischer Norm und Befreiung von der Regel mit dem rhetorischen Ziel einer Steigerung des Ausdrucks.28 Damit nimmt das decorum als wichtigste Kategorie der Rhetorik eine zentrale Stellung in der Architektur der Hochrenaissance ein, indem die inhaltliche Angemessenheit der Form zur Bedingung sine qua non wird. Die Systematisierung der fünf Säulenordnungen führt zu einer genauen Bestimmung der Inhalte, die den Ausdruck im sakralen und profanen Kontext definieren und die sozialen Merkmale der Bewohner des Gebäudes bezeichnen, um damit die gesellschaftliche Rangordnung zu zeigen. Dabei reicht die Skala vom einfachen dorischen Haus bis hin zum korinthischen Palast. Die Säulenordnungen gehen aber weit über die Anordnung der Säulen hinaus und bestimmen auch alle Details des Aufrisses. Serlio gilt damit als Begründer der architecture parlante der folgenden Jahrhunderte.29 Aus der Interpretation der Rhetorik des Vitruvianismus entsteht bei den Renaissancearchitekten eine feste Bedeutungslehre der jeweiligen architektonischen Formen. Manierismus und Barock Dem Manierismus kommt es zu, vor dem Hintergrund der etablierten vitruvianischen Systeme den Bruch der Konvention als Mittel der Ausdruckssteigerung und Distinktion zu etablieren. Obwohl die klassische Rhetorik als Orientierungsrahmen beibehalten wird, entsteht ein Wunsch nach Profilierung und individuellem Stil (maniera).30 Die Renaissancearchitektur mit ihrer intellektuellen Redefunktion (docere) wird nun mit einer Baukunst konfrontiert, die verstärkt die Wirkungen des delectare und movere anstrebt. Die elegantia mit der Tugend der perspicuitas (Klarheit, Transparenz, Maßhalten) wird durch die obscuritas (Verdunkelung, Unverständlichkeit) abgelöst.31 Nun steht nicht mehr die Einhaltung der Ordnung im Zentrum, sondern die Möglichkeit, durch rhetorisches Spiel einen Übergang von der Realität in die Fiktion zu schaffen und damit durch bizzarerie der Rätselhaftigkeit und Ambivalenz der Abbildung von Wirklichkeit besser gerecht zu werden.32 Dies dient aber der Ausdruckssteigerung und Erhöhung des Pathos, Dissonanzen wirken stärker als geregelte und geglättete Architekturen. Albertis Harmonisierung der Architektur und Rhetorik

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Gegensätze steht in krassem Gegensatz zur Inszenierung von Konflikten, wie etwa anhand des berühmten Palazzo del Te von Giuliano Romano mit seinen aus dem dorischen Fries herabfallenden Triglyphen oder des Zusammenbruchs der Architektur in der Sala dei Giganti zu erkennen ist.33 Hier steht nun der intellektuellen Redefunktion des docere die emotionale Wirkung des delectare und movere entgegen ebenso wie der perspicuitas mit ihrer Klarheit und Transparenz die obscuritas mit der Faszination des Dunklen. Mit Vicenco Scamozzi tritt dann nochmals ein Architekt und Schriftsteller auf, der in der Idea della architectura universale in seinem ersten Buch eine Lobrede auf die Architektur hält,34 die Renaissancearchitektur gegen die barocke Entwicklung abgrenzen will, die klassische vitruvianische Ordnung verteidigt und sogar so weit geht, die fünf Säulenordnungen als von Gott gesetzte und daher unwandelbare zu bezeichnen – vermutlich gegen Philibert Delorme gerichtet, der eine sechste Ordnung einzuführen gedachte.35 Die ordnungsgemäße Verwendung von Architekturteilen ist ihm ein zentrales Anliegen und er wendet sich gegen gesprengte Giebel und ähnliche Verstöße gegen den Dekor der klassischen Rhetorik. Der Barock wird auch durch die zunehmende Kunstliteratur rhetorisch erläutert. Das klassische Modell stellt hier Vasaris Vitensammlung dar, in der die epideiktische Rede vorbildlich formuliert wird. Die Lebensbeschreibungen der berühmten Künstler ersetzten eine trockene systematische Form der Anschauung und entsprachen dem Prinzip einer Belehrung durch mustergültige Exempla. Jede Vitenbeschreibung stützt sich auf einen Helden, so wie es bei Vasari Michelangelo ist, Gianlorenzo Bernini etwa wurde in den Biografien von Filippo Baldinucci und Domenico Bernini zum „Michel’angelo de sua tempore“ erhöht.36 Die Malerei nimmt in diesem Zusammenhang eine besonders bedeutende Stellung ein, da sie in der Lage ist, Ereignisse direkt vor Augen zu führen und die damit sogar der traditionellen Rhetorik des Redners überlegen ist, der in der ékphrasis, der Rede über das Kunstwerk, innere Bilder produzieren muss, um emotionale Wirkung zu erzeugen. Zugleich entstand mit dem concettismo eine neue Spielart der Rhetorik, die sich großer Popularität erfreute. Die Absicht war es, durch scharfsinnige concetti ein Staunen – meraviglia – hervorzurufen. Neue Metaphern, Allegorien, Personifikationen, Embleme, Wortbilder sollten dies bewerkstelligen. Ein berühmtes Beispiel liegt mit Berninis Cappella Cornaro vor, wo die barocke Wirkungsästhetik zur Bewegung des Zuschauers als Hauptziel fungiert.37 Die Figurengruppe der hl.Theresa mit dem Engel im 74

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Zentrum der Kapelle und das Erlebnis der Transverberation, der Verzückung, Theresas entsprechen dem Pathos des genus sublime. Die Malerei des Gewölbes suggeriert ein Herabsteigen der himmlischen Heerscharen in die Kapelle und bewirkt meraviglia. Die Herzverwundung Theresas als göttliche Auszeichnung wird durch eine sprechend gemachte Architektur vermittelt, indem das goldene Himmelslicht die Ädikula des Altars zu durchdringen scheint. All dies im Dienste eines concetto, das den Betrachter durch neue semantische Verbindungen und entsprechende Assoziationen, durch wechselnde Medien und ungewohnte Lichtwirkungen zu überraschen und damit auch für die Wunder der katholischen Lehre zugänglich zu machen sucht. Architektur ist Teil eines ästhetischen Diskurses und kann als Beitrag in Form einer Rede verstanden werden, die auch als eine solche gestaltet wird. Der Architekt tritt wie ein Redner auf und kompensiert mit dem Bezug zur Rhetorik das Fehlen architekturtheoretischer Grundlagen beziehungsweise schafft die Rhetorik Voraussetzungen einer späteren Kunsttheorie. Die Rhetorik wird zum architektonischen Paradigma.38 „Nie waren die eben beschriebenen Phänomene so ausgeprägt wie in der Zeit von 1500 bis 1700. Die Fassade von Michelangelos Konservatorenpalast folgt dem Aufbau eines lateinischen Schachtelsatzes; Berninis Sant’Andreae als Quirinale in Rom, Santini-Aichls Nepomukkirche bei Saar (Mähren) und die Stadtanlage von Karlsruhe bilden im Grundriss Heiligenattribute, Buchstaben, Zahlzeichen und Symbole nach; der Dresdner Zwinger ist als eine gebaute Zweitfassung des gedruckten Textes zu lesen, mit dem ihn sein Schöpfer Matthäus Daniel Pöppelmann kommentiert hat; die Gesandtentreppe in Versailles war von dem Baumeister Louis Le Vau und dem Maler Charles Le Brun als eine Eloge auf Ludwig XIV. konzipiert worden; bei der Schauseite von Johann Bernhard Fischer von Erlachs Karlskirche in Wien handelt es sich um eine historisch-antiquarische Zitatensammlung; in Planstädten wie Nancy, Rastatt oder Bruchsal sind Gebäude gemäß den Prinzipien von ordo und decorum in Größe, Materialität, Gliederung und Stil genau unterschieden; in der Hofburg zu Wien wirken die Bücher in den Regalarchitekturen wie geistige Bausteine, so dass das gesamte Monument aus dem in ihm enthaltenen Wissen zusammengefügt erscheint; in Francesco Borrominis Universitätskirche S. Ivo zu Rom sind die Bildmotive der himmlischen Glorie und des pfingstlichen Feuerregens in die Dreidimensionalität des Innenraums übertragen worden; das Langhaus von S. Ignazio zu Rom gibt sich als irdischer Ausfluss der im Gewölbe imaginierten Himmelsarchitektur; die Kolonnaden des Petersplatzes Architektur und Rhetorik

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vollziehen eine weite Umarmungsgeste; die konkav-konvex geschwungene Fassade von S. Carlo alle Quattro Fontane in Rom evoziert den Eindruck leidenschaftlicher Bewegtheit, wohingegen Claude Perraults hieratisch-klassische Ostfassade des Louvre erhabene Affektbeherrschung ausdrückt…“ 39 Wenn ein Gebäude als Invention bezeichnet wurde, so beruhte es auf den Richtlinien, die Quintilian und Cicero für die Konzeption einer Rede aufgestellt hatten. Die inventio bedeutete das Auffinden eines argumentums. Zunächst wurde das Generalthema festgesetzt, das die Grundaussage des Gebäudes transportieren sollte. Die zu findenden Beweise betrafen die loci als die Fundorte, wo die Elemente sich aus dem Sachverhalt an sich (loci a re) und die persönlichen Eigenschaften des Bauherrn (loci a persona) ergaben. In der folgenden elocutio übersetzte der Architekt sein Konzept in konkrete bauliche Formen, so der Redner es in Worte umsetzte. Drei Stilebenen standen zur Verfügung, die erhabene (genus grande oder sublime), die mittlere (genus medium) und die schlichte (genus humile). Durch die Wahl von bestimmten Formen, Zitaten, Stilfiguren und Metaphern (figurae) wurde der Idee beziehungsweise dem Gedanken, den es auszudrücken galt, Klarheit (perspicuitas) und der äußeren Gestalt Schönheit (ornatus) verliehen.40 Im Berliner Schloss etwa wird als Hauptthema der Aufstieg des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich I. in Preußen vom Architekten Andreas Schlüter dargestellt. Die Beweisführung erfolgt vornehmlich mittels vier loci a re und steht auch in einem Diskurs mit den zur gleichen Zeit in Dresden, Mannheim und München aufkommenden territorialen Königsstilen durch die Adaption von Bild- und Architekturmotiven aus dem antiken Rom.41 Der Niedergang des Schönen und der klassischen Rhetorik Im 18. Jahrhundert beginnt der Verfall des Schönen, das bis dahin auch im Rahmen des ornatus die Hauptrolle gespielt hatte. Zunächst werden die Künste aus dem Repräsentationszusammenhang der feudalen Gesellschaft herausgelöst. Bis dahin war das Schöne eingebunden in kultische Formen, die auch normativen Charakter hatten, und repräsentierte etwas, das außerhalb seiner selbst lag. Die feudale Repräsentation sah sich in ihrer Weltlichkeit auch immer als eine Emanation des Göttlichen, das durch die antike Mythologie und christliche Heilsgeschichte in der Form des Schönen dargestellt wurde. Die neuzeitliche Kunst beginnt vor diesem Hintergrund eine Öffnung und einen Ausgriff in die Sphäre des Menschlichen, die auch zunehmend von eigensinniger Gestaltung geprägt ist. Der Künstler vertraut auf seine eigene Erfindungsgabe und entwickelt daraus analog zum sich emanzipierenden Bürgertum ein neues Selbstbewusstsein. Die ursprünglich am Handwerk orientierte Kunst wandelt sich zu einer von Ideen geleiteten Tätigkeit. Das schöpferische Moment im Künstler erhält eine enorme Aufwertung, die sich bis 76

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Während das Schöne zum Gegenstand der Kunsttheorie in der Philosophie wird, verliert die Rhetorik an Gewicht. Denn in der Philosophie möchte man das Wesen des Schönen erkunden, Rhetorik hingegen konnte man nicht mit einem derartigen Wahrheitsanspruch belasten. Schließlich war sie nur die Kunst des Überredens.

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hin zum Genie entwickelt, einem ausgewählten Kreis außerordentlicher Begabungen, die ihre Eingebungen höheren Mächten des Genius verdanken. Die zunehmende Abstraktionstätigkeit des Künstlers verliert den Bezug zum handwerklich vermittelten Schönen, indem sie nun einer Idee des Schönen nachhängt, dessen Erscheinungsformen aufgrund der wachsenden Subjektivität aber unklarer und unverbindlicher werden. Die seit Descartes aufkommende Forderung nach einer Klarheit und Reinheit des Denkens, die sich auch mit dem Weltverständnis des wachsenden Bürgertums deckt, kann im Schönen nicht umgesetzt werden. Das Schöne ist zu unbestimmt und es kann weder Grund noch Vernunft gefunden werden. Aufgrund dieser Konstellation entwickelt sich bei der Betrachtung des Schönen ein prinzipielles Hindernis, weil es in die Wissenschaft nur eingehen kann, wenn es einer gewissen Regelhaftigkeit der philosophischen Erkenntnis unterworfen wird. Den von der Logik erforderten Grad an Klarheit kann es ohnehin nicht erreichen. Zumindest aber kann man es in einen größeren Erkenntniszusammenhang setzen, um seine eigenen Qualitäten unter Beweis zu stellen. Baumgarten stellt sich dieser Problematik und bezeichnet die Ästhetik als die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung „als Logik des unteren Erkenntnisvermögens, als Philosophie der Grazien und Musen, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens, als des der Vernunft analogen Denkens“.42 Er rehabilitiert damit die Sinne, in seinen Worten die cognitio sensitiva, indem er den Schönheitsbegriff mit den Sinnen verbindet und den platonisch inspirierten Reflexionen über das Schöne durch Shaftesbury und Hutcheson Schönheit als eine Einheit in der Mannigfaltigkeit entgegensetzt, die eben durch die Sinne wahrnehmbar sein müsse.43 Das Modell dieses Erkenntnisweges für das Schöne muss die Wissenschaft der Rhetorik entleihen. In der Rhetorik kann nämlich dem Begriff der Wissenschaft Genüge getan werden, allerdings ohne die Gewähr, eindeutige, klare und notwendige Wahrheiten zu erfassen. Weil sie aber über die Möglichkeit der plausiblen Darstellung einer solchen Wahrheit verfügt, kann sie zumindest eine Teilhabe (méthexis) vermitteln. Auch Baumgartens Systematik ist von rednerischen Dispositionskategorien abgeleitet, so formuliert er etwa den dreifachen Gegenstand der Schönheitserkenntnis, die Schönheit der Gedanken, der Ordnung und des Ausdrucks, dem rhetorischen inventiodispositio-elocutio-Schema nach.44 Außerdem wäre noch der Rekurs auf die Affektenlehre zu erwähnen, Reichtum (ubertas), Wahrheit (veritas) und Licht (lux).45 Baumgartens Ästhetik bleibt von der Rhetorik abhängig, wenngleich er auf die humanistische, auf die Vernunft vertrauende Rhetorik setzt, die ihn in Widerspruch zu Edmund Burkes Theorie des Erhabenen bringen muss, die auf einer die Affekte mobilisierenden Rhetorik beruht. Dies ist dem der Aufklärung verpflichteten Baumgarten eher zuwider, der eine Kultivierung der Sinne präferiert, weil erst deren Verfeinerung eine Erfahrung von Schönheit möglich macht.46 Als ein von der Leibniz’schen Lehre von der prästabilierten Harmonie Inspirierter sieht er die Ordnung der Welt in der Einheit der Kunstwerke, was übrigens auch die Utopien aus dem Reich der Kunst ausschließt.47 Der weitere Fortgang der Integration des Schönen in der Philosophie im Sinne erhöhter Rationalität und Annäherung an das Wahre vollzieht sich nun, um einige Eckpunkte anzugeben, bei Kant, der vor allem das Moment der gesellschaftlichen Rolle des Geschmacks und die damit verbundene Herstellung von Konsens betont. Das Schöne ist wesentliches Element der menschlichen Urteilskraft, wenngleich der reinen 78

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und praktischen Vernunft nicht adäquat. Allerdings wirkt er auch indirekt an der Erodierung des Schönen mit, indem er das Erhabene in seine Ästhetik integriert, freilich ohne Bezug zu dessen rhetorischem Ursprung. Bei Hegel gewinnt die Kunst nun den vorläufig höchsten Stellenwert der Wahrheit, denn sie zeigt das Geistige in seiner Selbstbewegung. Die Entfaltung der Kunst im Verlauf der historischen Entwicklung weist über sich selbst hinaus, von ihrer Stellung in der Religion ausgehend, kann sie schließlich in wissenschaftlichen Begriffen erfasst werden. Insofern hat Hegel einen starken Bezug zur Architektur, von der ägyptischen Pyramide bis hin zum gotischen Dom, allerdings immer als Zeichen der Erfüllung einer umfassenden Geistesbewegung. Damit ist das Schöne nun aufgestiegen von einer niederen Erkenntnisform, wie sie noch Baumgarten betrieb, zu einer versöhnenden Kraft bei Hegel, weil sie der Philosophie im Rang gleicht. Während das Schöne zum Gegenstand der Kunsttheorie in der Philosophie wird, verliert die Rhetorik an Gewicht. Denn in der Philosophie möchte man das Wesen des Schönen erkunden, Rhetorik hingegen konnte man nicht mit einem derartigen Wahrheitsanspruch belasten. Schließlich war sie nur die Kunst des Überredens. So steht zu Beginn von Aristoteles Rhetorik, dass sie „das Vermögen ist, das, was sich jeweils zum Überreden eignet, spekulativ zu erforschen“.48 „Ihrem Wesen nach ist sie pragmatisch und hat deshalb mit der Moral nichts zu tun.“ 49 Sie zielt nicht auf das Wahre, sondern auf das Angemessene und Geeignete – das prépon oder decorum, wie es bei Cicero heißt. Die Rhetorik war ein repräsentatives Ornament als Mittel der feudalen Repräsentation. Winckelmann kritisiert nun den Mangel an symbolischer Bedeutung, der die Allegorie durch Säkularisierung in einer Weise profaniert, so wie man sie etwa durch die französischen Hofmaler unter Ludwig XIV. zur sinnlosen Dekoration werden lässt, indem sie vor allem durch ihre Unangemessenheit hervorsticht.50 Allerdings versteht er darunter etwas anderes als in der Vergangenheit, weil der Verstand für ihn das Vermögen bedeutungsvoller Anschauung enthält, die zur Anschauung der Ideen im platonischen Sinne führt. Daher versucht er das klassische rhetorische Schema der inventio, deren Ziel in der Überzeugung der Hörer bestand, nun in eine Suche nach einer höheren Normativität wie der Religion zu transformieren. Winckelmann geht von einer Rhetorik aus, deren Überredung nicht durch die Affekte, sondern über die Ideen und die Affizierung des Geistes gelingt. Damit verliert die Rhetorik ihre überragende Rolle und wird zunehmend von der Kunsttheorie verdrängt, die einst mit der rhetorischen ékphrasis begonnen hatte. Das Erhabene Wie schon im vorigen Abschnitt diskutiert, gilt das Erhabene aus der Perspektive der traditionellen Rhetorik als problematisch, weil es ausschließlich auf einer Mobilisierung der Affekte beruht, die angesichts der Größe und des Schreckens eine Imagination des Todes bewirken. Baumgarten setzte noch auf eine humanistische, der Vernunft vertrauenden Rhetorik, die in Widerspruch zu Edmund Burkes Theorie des Erhabenen stehen musste. Kant führte freilich durch die Lektüre Burkes das Erhabene in seine Ästhetik ein und ebnete ihm damit auch das Feld in der Philosophie.

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Zugleich zeigt es den Paradigmenwechsel in der Rhetorik an, der sich mit dem Niedergang des Schönen abzeichnete. Zum Abschluss noch einige Sätze, die den Verlauf der Entwicklung des Erhabenen in der Architektur bis ins 18. Jahrhundert skizzieren. Das Erhabene existierte bereits in der Antike und wurde den rhetorischen Schriften, bei Werken der bildenden Kunst dem genus sublime (auch genus grande) zugeordnet, seine Rolle in der Literatur war aber gering einzuschätzen. Eine größere Wirkung dürften etwa die Kolossalstatuen im Zeustempel zu Olympia und die Athena Parthenos hinterlassen haben, wie von Longinus, dem einzigen Autor der Antike zu diesem Thema, überliefert ist.51 Eine kursorische Erwähnung von entsprechenden Beispielen aus Renaissance und Barock müsste den Palazzo del Te in Mantua, St. Peter in Rom oder die 570 m breite Gartenfront des Schlosses von Versailles beinhalten. Im 18. Jahrhundert prägten Piranesis Carceri d’invenzione die kolossal-labyrinthischen Formen des Erhabenen in der Architektur und wirkten auf die Revolutionsarchitektur ein. Der Entwurf des Newton-Kenotaphs von Boullée zeigt das Bild „einer gleichsam unermeßlichen Architektur, die Newtons Vorstellung vom Universum als einem unendlichen, homogenen und substanziellen Raum, seine Hypothesen zur Gravitation und zur Bewegung der Gestirne poetisch verklärt und mit der Idee des Nachruhms verschränkt“.52

1 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt /M 1995, 103. 2 Ebd., Kapitel 2. 3 Hanno Walter Kruft: Geschichte der Architekturtheorie, C. H. Beck, München 1991, 413. 4 Jörg H. Gleiter: „Conditio architectonica“, in: ders. / Ludger Schwarte (Hg.): Architektur und Philosophie, Transskript, Bielefeld 2015, 52. 5 Ebd. 6 Ebd., 56. Der Autor bezieht sich hier auf eine mögliche kritische Theorie der Architektur, die über die Seite des Gemachtwerdens auch eine Seite des Gebrauchtwerdens behandeln und die gesellschaftlichen Bedingungen der Architektur in den Fokus nehmen sollte. 7 Norbert Bolz: bang design, design-manifest des 21. jahrhunderts, Trendbüro, Hamburg 2006.

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8 Nadja Koch: „Rhetorik und Kunsttheorie in der

Das Berliner Schloss“, in: Brassat, a.a.O., 536.

Antike“, in: Wolfgang Brassat (Hg.): Handbuch Rheto-

39 Ebd., 537.

rik der bildenden Künste, De Gruyter, Berlin 2017, 112.

40 Ebd., 538.

9 Ebd.

41 Ebd., 551.

10 Nadja Koch: Techne und Erfindung in der klassi-

42 Alexander Gottlieb Baumgarten (1750 –1758),

schen Malerei, München, Studien zur antiken Malerei

§ 533, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden

und Farbgebung 6.

Abschnitte aus der ‚Aestetica‘. Lat.-dt., übers. und hg.

11 Koch: Rhetorik, a.a.O., 112.

von Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, zit. nach:

12 Ebd., 113.

Regine und Gerd Prange: „Das Schöne in der Wissen-

13 Ebd. In diesem Absatz gibt Koch eine Rekonstruk-

schaft“, in: Brassat, a.a.O., 660.

tion aus der Gesamtschau der Quellen wieder; 115.

43 Heinz Paetzold: „Rhetorik-Kritik und Theorie

14 Vitruv, Zehn Bücher über die Architektur, übers.

der Künste in der philosophischen Ästhetik von

von Curt Fensterbusch, 5. Aufl., Primus Verlag,

Baumgarten bis Kant“, in: Gérard Raulet: Von der

Darmstadt 1996, VII, Vorrede 11, 309.

Rhetorik zur Ästhetik, Centre de recherche PHILIA,

15 Xenophon: Memorabilia 3,10,8.

Rennes 1995, 12.

16 Aristoteles: Rhetorik, Fink, München 1980, 1, 2,3.

44 Gert Ueding: „Winckelmanns Begriff des Schönen.

17 Koch, a.a.O., 118.

Studien zur Entstehung der modernen Ästhetik im

18 Andreas Grüner: „Die Rhetorik der griechischen

18. Jahrhundert”, in: Raulet, a.a.O., 61.

Skulptur“, in: Brassat, a.a.O., 141.

45 Paetzold, a.a.O., 14.

19 Koch, a.a.O., 118.

46 Ebd.

20 Ebd.

47 Ebd., 15.

21 Vitruv, a.a.O., I,1.1, 22.

48 Aristoteles, a.a.O., I,2,1355b.

22 Pochat 1986, Brassat 8, Vitruv IV,1,3.

49 Todorov: Théorie du Symbole, Paris, Seuil 1977,

23 Vitruv, a.a.O., VII,4,4 und VII,4,5.

59, zit. nach Raulet, „Von der Allegorie“, in: ders.,

24 Heiner Mühlmann: Ästhetische Theorie der Renais-

a.a.O., 160.

sance. Leon Battista Alberti, Bonn 1981.

50 Ebd., 162.

25 Anke Naukojat: „Die Architektur der Renaissance

51 Pseudo Longinus, Subl. VII,3, zit. nach: Wolfgang

und des Manierismus“, in: Brassat, a.a.O., 370.

Brassat: „Das Erhabene“, in: Brassat, a.a.O., 606.

26 Leon Battista Alberti: Zehn Bücher über die Bau-

52 Monika Steinhauser: „Im Bild des Erhabenen“, in:

kunst, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken,

1975.

43. Jg., Heft 9 / 10, 815 – 832, zit. nach Brassat,

27 Naukojat, a.a.O., 373.

Das Erhabene, a.a.O., 616.

28 Ebd., 382. 29 Ebd., 380. 30 Ebd., 382. 31 Ebd. 32 Ebd., 383. 33 Ebd. 34 Christina Strunck: „Die Kunsttheorie des Barock“, in: Brassat, a.a.O., 438. 35 Kruft, a.a.O., 112. 36 Strunck, a.a.O., 437. 37 Ebd., 446. 38 Peter Stephan: „Barockarchitektur und Rhetorik: Architektur und Rhetorik

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Albert Kirchengast

Mies, die Sachlichkeit, der Geist Ein Fall von Poesie Die Debatte um das Haus Tugendhat gehört ins Repertoire jener oft und gern erzählten Anekdoten der Architekturgeschichte, die gerade deshalb vielsagend bleiben. Durch ein Haus wird Grundsätzliches ausgesprochen, ohne dass dieses selbst noch in Erscheinung tritt. Es tritt in den Hintergrund, wird zum Symptom. Im Vordergrund steht freilich meist jene Häme, mit der man Ludwig Mies van der Rohe als Architekten des Hauses Tugendhat leichthin versieht, stellt sich doch wiederholt die Frage, „ob man in diesem Haus auch wohnen könne“. Nimmt man diese Hausdebatte hingegen ernst in einer Gegenwart, die sich der klassischen Moderne wie einer formalistischen Blaupause bedient, dann begegnet man einer geistigen Herausforderung, der die Bewohner dieses Hauses auf beispielhafte Weise ausgesetzt waren. Dann erweist sich das Haus Tugendhat als geistiges Projekt von anhaltender Bedeutung. Wer heute durch das musealisierte Gebäude im schnellen Takt lange im Voraus geplanter Führungen eilt, mag durchaus Sympathie für den kritischen Fragesteller aus dem Jahr 1931 empfinden. Wer überhaupt nach Brünn in die Cˇernopolní ulici 45 gekommen ist, um auf ein Wohnhaus zu treffen, wird betroffen bemerken, wie seelenlos ein solches Haus ist ohne seine Bewohner. Seelenlos? Stein des Anstoßes war ein zwölfseitiger Artikel Walter Riezlers in der Zeitschrift des Deutschen Werkbunds Die Form. Mit drei Plänen und fünfzehn handverlesenen Schwarz-Weiß-Fotografien ausgestattet, durch die Mies sein Werk stets präzise zu inszenieren wusste, trägt der Beitrag den unaufgeregten Titel: „Das Haus Tugendhat in Brünn“. Nach dieser äußerst positiven Besprechung publiziert in der nächsten Ausgabe des Jahres 1931 Walter Bier seine berühmte Entgegnung: „Kann man im Haus Tugendhat wohnen?“ Im Folgeheft schließlich äußern sich die Bewohner, Grete und Fritz Tugendhat, die einzubinden dem Herausgeber – besagtem Walter Riezler – gelungen war. Vielleicht trug diese Besonderheit, dass nämlich die Bewohner vorerst das letzte Wort in einer so prominent geführten Fachdiskussion hatten, dazu bei, den „Fall“ bis heute am Leben zu halten. Wer sonst könnte besser Auskunft darüber geben, möchte man meinen. Was aber hieße das in der Moderne: zu wohnen? Vorangestellt war den schriftlichen Aussagen der Protagonisten dieses Hauses in Heft 11 der Form allerdings eine weitere, wenig beachtete Kontroverse um dasselbe Gebäude: „Zweckmäßigkeit“ versus „geistige Haltung“ lauteten die Kernbegriffe der Positionen, die Roger Ginsburger und Walter Riezler bezogen. Auf die so bezeichnete Polarität wird es noch ankommen, genauer: auf ihre Überwindung durch das Wohnen. 82

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Was aber hieße das in der Moderne: zu wohnen?

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Alles beginnt also mit Riezlers Beitrag. Der nüchterne Titel trügt. Er befasst sich nicht einfach mit dem bereits 1930 fertiggestellten Bauwerk Ludwig Mies van der Rohes; nur wenige Zeilen sind der beinahe euphorischen Darstellung des Wohnhauses gewidmet. Der Text kann als Generalkritik des „Neuen Bauens“ vonseiten eines seiner Verfechter in einem seiner wichtigen Organe aufgefasst werden. Diese wurde angeregt von einer besonderen Stimmung, die Riezler in den Wohnräumen der jungen Familie Tugendhat bemerkt haben will: „Niemand kann sich dem Eindruck einer besonderen Geistigkeit sehr hohen Grades entziehen, die in diesen Räumen herrscht, einer Geistigkeit allerdings, die sehr neuer Art, sehr ‚gegenwartsgebunden‘ ist und die daher von dem Geist, der in Räumen irgendeiner früheren Epoche herrscht, wesentlich verschieden ist. Es ist schon der ‚Geist der Technik‘ – aber nicht im Sinne jener oft beklagten engen Zweckgebundenheit, sondern im Sinne einer neuen Freiheit des Lebens.“1 Die „Zweckgebundenheit der Technik“ und eine „neue Freiheit des Lebens“ bilden in dieser Passage – wiewohl als Gegensätze aufgefasst – eine argumentative Klammer, vorausgesetzt eine nicht näher bezeichnete „Geistigkeit“ durchdringe beide. Gleich zum Auftakt seines Textes, wohl zur Bekräftigung und Verallgemeinerung dieses Befunds, der gleichermaßen kritisch zurück und hoffnungsvoll nach vorn gerichtet ist, bezieht sich der Rezensent auf Le Corbusiers Selbstkorrektur des Begriffs „Wohnmaschine“. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Corbusier aus der Frankfurter Rundschau – dorthin wiederum aus der jungen tschechischen Zeitschrift Prˇítomnost 2 – den Weg ins Organ des Deutschen Werkbunds gefunden. Sein eindringlicher Appell endete wie folgt: „Die ‚Wohnmaschine‘ könnte nicht in Gang gebracht werden, wenn sie uns gar keine geistige Nahrung geben würde. Wo beginnt die Architektur? Sie beginnt dort, wo die Maschine aufhört.“3 Schon damals schwirrt der Begriff „Geist“ durch die gedruckten Zeilen. Worum es Riezler wie Corbusier zu tun ist: um die Kritik einer Baukunst, die diesen Titel gar nicht mehr für sich beanspruchen dürfe, da sie nur „von rationellen Erwägungen und Berechnungen bestimmt“ 4 sei. Und doch ginge es nicht allein um einen sich davon freisetzenden, einzufordernden Kunstanspruch der Architektur, sondern um die „Überwindung des ZweckhaftKonstruktiven durch eine geistig-seelische Haltung, die Erhöhung des sachlich Gebundenen in das freie Reich des Absoluten“.5 Hier schwingt jenes Pathos mit, das man gern als „Pathos des Funktionalismus“ abtut – mit ihm die vermeintlich „heroische Geste“ eines antiquierten „Schöpferarchitekten“. Doch wird hier kritisch von Vertretern dieser „Strömung“ argumentiert – die 84

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diesen Pauschalbegriff somit zugleich korrigieren. Sie richten sich an den modernen Menschen und ein neues Zeitgefühl und legen den Schluss nahe, dieses sachliche Maschinenzeitalter sei von widerstreitenden Kräften durchdrungen, die im Haus – etwa in den großen, offenen Wohnräumen von Mies – wieder in Balance treten. Das Wort „Geistigkeit“ allerdings bleibt vorerst ohne nähere Erläuterung. Ein stummes Gegenwort, ein Gegenort zur drohenden „Herrschaft der Mechanisierung“. „Nur Lebensintensität hat Formintensität“,6 meinte Mies bekanntlich in einer seiner raren Stellungnahmen, die sich in die Debatte um sein wichtigstes europäisches Wohnhaus nicht einmischen. Er selbst allerdings könnte sie vorbereitet haben. Zeittypisches und zeitkritisches Pathos finden sich auch in seinen frühesten öffentlichen Äußerungen, wenn er die Entwicklung neuer Materialien, Fertigungstechniken etc. mit Nachdruck fordert, auf diesem Weg aber nur die Einlösung jenes Auftrags einmahnt, dem sich die Spitze seines Fachs stets in technisch avancierter Weise gestellt habe. Nur so nämlich begebe man sich in die Kontinuität mit der Baugeschichte und erfülle außerdem die Bedürfnisse der jeweiligen Epoche. Diese Denkfigur erlaubt es Mies im Jahr 1924 im für ihn ungewöhnlich langen Artikel mit dem Titel „Baukunst und Zeitwille!“ das alte Bauernhaus und den griechischen Tempel in einem Atemzug mit Corbusiers Ozeandampfer zu nennen. Solche Architektur wäre – in einer weiteren aphoristischen Sentenz – „raumgefasster Zeitwille“.7 Dass dabei aber nicht einseitig technischer Fortschritt gepredigt wird, dass jene Zwecke, deren „Resultat“ Baukunst wäre, auch geistige sein müssten, diese Forderung erhebt auch er im Zusammenhang mit der ersten Mustersiedlung des Werkbunds, deren Einrichtung er bekanntlich 1926 /27 leitete, wenn er schreibt: „Aus diesem Glauben heraus habe ich trotz aller heute gültigen Schlagworte wie ‚Rationalisierung‘ und ‚Typisierung‘ es für notwendig gehalten, die in Stuttgart gestellten Aufgaben aus der Atmosphäre des Einseitigen und Doktrinären herauszuheben.“8 Die schöpferische Kreativität des Architekten und die formale Ausbildung der Architektur treten auch diesmal in den Hintergrund, denn, wie es weiter heißt, das „Leben ist uns das Entscheidende. In seiner ganzen Fülle, in seinen geistigen und realen Bindungen“. Erneut zeigt sich ein produktiver Gegensatz: zwischen den Forderungen und den Möglichkeiten einer Zeit. Walter Riezler spricht in seinem Tugendhat-Artikel vom „neuen Ziel“,9 das ein tatsächlich neues Bauen ins Auge fassen müsse, und zieht ausgerechnet Josef Frank als weiteren Zeugen hinzu. Dessen Vortrag auf der Wiener Tagung des Deutschen Werkbunds vom Juni 1930 war ebenfalls in der Form abgedruckt worden. Dem umgreifenden Titel „Was ist modern?“ zum Trotz, veröffentlichte man ihn unter Voranstellung einer Einschränkung, in der die Schriftleitung zum Ausdruck brachte, auch auf diesem Wege der „Vielgestaltigkeit der Erscheinungen und Fragen des modernen Lebens“10 nachgehen zu wollen. Denn tatsächlich erhält die Frage des Wohnens in modernen Zeiten mit Frank eine Wendung. Das neue Ziel, gemäß Josef Franks kleinem Manifest: die alte, behagliche Wohnform unter Betonung des sich darin von der Umgebung bewusst absondernden persönlichen Lebens, das den Gegensatz zur mechanisierten Umwelt als eine Wohltat empfindet. Die Dualität aus Zweck und Geist ist hier in die Charakterisierung Mies, die Sachlichkeit, der Geist

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Titelblatt des Artikels „Kult und Form“ von Paul Tillich, in: Die Form 23 –24 /1930, 578 –583.

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Ludwig Mies van der Rohe, Musterhaus auf der Bauausstellung „Die Wohnung unserer Zeit“, Berlin 1931, aus dem Artikel „Die Halle II auf der Bauausstellung“ von Wilhelm Lotz, in: Die Form 7/1931, 241– 249.

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des Rückzugsortes Wohnraum gewandert. Der Akzent hat sich bedeutsam verschoben: Das Wohnen beansprucht für sich nunmehr jene Gemütlichkeit, die der „mechanisierte“ Stadtraum vermissen ließe. In welcher Beziehung steht die „alte“ Behaglichkeit zur „neuen“ Geistigkeit, die man für die Räume Mies van der Rohes reklamiert? Frank verband sie ja gerade nicht mit den typischen Bauhaus-Stahlrohrmöbeln, die auch im Haus Tugendhat Einzug hielten, nicht mit der Sachlichkeit verglaster Wohnhallen. Er war ihr wortmächtiger Kritiker. Heißt es bei Frank: „[der] technische[r] Fortschritt dient uns nur dazu, unsere Pläne und Gedanken durchzuführen. Er selbst ist keine geistige Grundlage, die selbständig zu etwas drängt oder etwas schafft“11, verläuft Mies’ Suche nach dem Zeitwillen scheinbar affirmativer. Mies nahm ebenfalls in Wien an der Tagung des Werkbunds teil. In den Jahren 1926 bis 1933 dessen Vizepräsident, eröffnet er seine dortigen Schlussworte mit dem Satz: „Die neue Zeit ist eine Tatsache; sie existiert ganz unabhängig davon, ob wir ‚ja‘ oder ‚nein‘ zu ihr sagen.“12 Und doch bekräftigt er die inneren Gegensätze der Gegenwart auch zu diesem Anlass, betont, Mechanisierung, Typisierung, Normung etc. nicht überschätzen zu wollen, prägt hierfür – um sich von diesen so oft repetierten Leitbegriffen zu distanzieren – gar das martialische Wort „Feldgeschrei“13. Auch er betont in Wien schließlich den „letzten Wert“, den „letzten Zweck“, aus dem erst „Maßstäbe“ für das Bauen und Leben zu gewinnen wären. Das scheint nicht weit entfernt von Frank. Die Kontroverse war bereits andernorts vorbereitet. Franks Beitrag in der Werkbund-Publikation zur Weißenhofsiedlung, „Der Gschnas fürs G’müt und der Gschnas als Problem“, aus dem bereits zitiert wurde, wendet sich der wohnlichen Gemütlichkeit zu, für die gilt: „je reicher etwas geschmückt ist, desto ruhiger wirkt es […]“.14 Das mag durchaus mit Mies’ Vorwort in Bau und Wohnung konform gehen – zumindest im Sinne jener Offenheit, die er als Kurator einer zeitgenössischen „Leistungsschau“ wie der Stuttgarter Werkbundsiedlung zur Beantwortung eines „komplexiven Problems“, nämlich jenes des neuen Wohnbaus, signalisierte. Allerdings bleibt Frank in einer Außenseiterrolle, das holz- und stoffreich-gemütliche Interieur seines dortigen Doppelhauses wird von mehreren Seiten geschmäht.15 Teilen beide den Befund über die Herausforderungen der modernen Welt, erfüllt das Wohnen seine „kompensative“ Rolle im Werk der Architekten auf verschiedene Weise. Frank sieht in der Sentimentalität der vertrauten Dinge ein sympathisches Remedium gegen das Pathos der Zeit; das Wort „Pathos“ dient ihm zur Kennzeichnung einer kalten, abweisenden wie widersprüchlichen, von Gegensätzen durchdrungenen Welt, charakterisiert durch „Liebe, Tod, Hunger, Problematik, Arbeitslosigkeit, Rekord, mechanische Arbeit, Organisation; […]“.16 Ihren Herausforderungen solle man zumindest zuhause entgehen. Mies’ Wiener Aussagen können ebenfalls als Wohn-Programm aufgefasst werden, das jedoch anders lauten müsste: dieser Zeit sich stellen, ihre Widersprüche in Architektur austragen, ihr Versprechen nach Freiheit – das auch für Frank mit dem Wohnhaus der Moderne verbunden ist – durch Architektur, also wohnend einlösen. Für beide Architekten spielt das individuelle Erleben eine zentrale Rolle. Im Wiener Kontext hat Marco Pozzetto – in seiner Biografie Max Fabianis – die Voraussetzungen modernen Bauens von engeren Positionsbestimmungen gelöst und das zugrunde liegende Projekt in allgemeine Worte gefasst, nämlich als „Versuch, die Vorherrschaft präziser, 88

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uralter, bindender numerisch-geometrischer Zusammenhänge mit jener der neu hervorbrechenden Sensibilität des Ich miteinander in Einklang zu bringen“.17 Es könnte als verbindender ideengeschichtlicher Ausgangspunkt der frühen wie der klassischen Moderne gelten – das erlebnisoffene Ich. Entscheidend aber bleibt, dass für Mies das Haus ein Ort gesteigerter Lebensintensität wird; technisch und rational, sachlich, nicht sentimental. Das ist die eine Seite. Mies errichtet schon seine ersten Berliner Villenbauten in der Tradition einer neuen Sachlichkeit, wie sie etwa Paul Mebes mit seinem einflussreichen Buch Um 1800 populär machte. Seine Häuser, auf ihre concinnitas – wenn man so will – entkleidet, weitestgehend von Ornamenten befreit, wenden sich einer symbolischen Konstruktion im Sinne Peter Behrens’ zu, evozieren aber stets auch einen besonderen Raumeindruck. Als „Erhöhung des sachlich Gebundenen“ formuliert Riezler diesen Anspruch. Und so steht die Brünner „Villa“ im Widerspruch zum historisierenden Luxus ihrer Umgebung, dem sie einzig durch (exorbitant) hohe Baukosten und die soziale Stellung der Eigentümer verpflichtet bleibt. Es liegt ihr – im Gegensatz zur Patina der Geschichte – eine „Feinfühligkeit den Ansprüchen des Lebens“18 gegenüber, wie Riezler wiederum meint. Wo Frank mit dem Kunstwort „Akzidentismus“ die Widersprüche und Unerklärlichkeiten der Welt zum paradoxen wie ironischen Gestaltungsprinzip erhebt, werden diese zum Konstituens der Wohnerfahrung des Mies’schen Hauses. Das Haus selbst entledigt sich jedweder „Spuren“. „Wenn man etwas vermißt, was noch vor kurzer Zeit als unentbehrlich im Sinne einer luxuriösen Lebensführung galt, also etwa eine ,Flucht‘ von ,Gesellschaftsräumen‘, so fehlen diese nicht um der Ersparnis willen, sondern weil eine ,Gesellschaft‘ dieser Art als völlig überflüssig angesehen wird. Was an ihre Stelle tritt, ist ein Raum ganz neuer Art […]. Im übrigen aber ist in jeder Einzelheit das Streben zu erkennen, alle Errungenschaften der Technik für die Gestaltung des Lebens im Sinne einer neuen ,Hygiene‘, im weitesten und geistigsten Sinne, d. h. der größten Freiheit und engsten Naturverbundenheit, auszunutzen.“19 So Riezler. Gilt Frank die Alberti’sche varietas als demokratisierendes Formprinzip,20 das Geschichte und Gegenwart im Haus gegenwärtig hält und zugleich Ausdruck der Unübersichtlichkeit einer neuen Zeit ist, tritt die ästhetische Erfahrung ins Zentrum von Mies’ vermeintlich kühler Sachlichkeit – denn nicht um das Pathos der Form, nicht um die Vielheit, sondern um die Tiefe der Erfahrung wäre es ihr zu tun. Deutet Frank den Menschen als „unvollkommene Absicht der Natur“21 – womit er in Architektur als Symbol die theoretisch-anthropologische Grundlage seiner Gestaltungslehre aus dem Naturverhältnis des Menschen abzuleiten scheint –, bilden Erfahrungsoffenheit und Erlebnisfreude das Komplement, die andere Seite des Mies’schen Wohnhauses. Das erfordert weitere Erklärung. Wilhelm Lotz zieht 1931 in der Form ähnliche Schlüsse über die Wohnidee von Mies’ Häusern.22 Wie in Brünn sticht dessen moderateres Haus auf der Bauausstellung Die Wohnung unserer Zeit aus der Masse heraus. Lotz’ Besprechung aus dem Jahr der HausTugendhat-Debatte hebt jene beiden Objekte hervor, deren Autoren einmal mehr für die Ausrichtung der Ausstellung verantwortlich waren. Nicht mehr Häuser wie noch 1927 Am Weißenhof, sondern Architekturmodelle im Maßstab 1:1 werden in Berlin errichtet. Mies, die Sachlichkeit, der Geist

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Mies’ Diktion kann als Wohn-Programm aufgefasst werden: dieser Zeit sich stellen, ihre Widerspru ̈ che in Architektur austragen, ihr Versprechen nach Freiheit durch Architektur wohnend einlösen.

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Lilly Reich und Mies van der Rohe setzen sich dort von jenen Kleinwohnungen ab, die aus guten Gründen eine von der wirtschaftlichen Not der Zeit angetriebene Nachfrage beantworten sollen. Das „Haus für einen Junggesellen“ streckt sich unbekümmert aus in der Halle II; daneben tut Reich es ihm gleich. Die Besucher bekommen eine aus den Avantgarde-Projekten der 1920er Jahre bekannte Komposition von Scheiben und Platten mit viel Glas zu sehen. Womöglich eine kompakte Reinkarnation des Landhauses in Backstein von 1923 – ebenso ortlos wie angewiesen auf ein unsichtbares Außen, bei dem diesmal nicht die „Unendlichkeit“ jenseits des Zeichenblattes, sondern deplatziert erscheinende Topfpflanzen Naturnähe symbolisieren sollen, die schon Riezler als zentrale Ingredienz dieser Räume erkannt hat. Bemerkenswert ist die Charakterisierung, mit der Lotz und Riezler zu einer übereinstimmenden Einschätzung des Raumeindrucks in Mies’ Wohnbauten gelangen: „Hier ist der Mensch im geistigen Sinne zum Maßstab des Räumlichen geworden […]. Wer bei diesen Häusern nach dem Bauherrn fragt und ihn real und leibhaftig als Typus einer besonderen Klasse sieht, versteht diese Ausstellung falsch, denn der Bauherr ist schlechthin der neue Mensch.“23 Das Pathos wird erhöht, nun ist gar vom „neuen Menschen“ die Rede. Kann dieser im Haus Tugendhat wohnen?, hatte bereits Justus Bier in seiner Replik auf Riezler gefragt, um sich gegen das allzu Pathetische darin zu wenden. Er selbst hatte Mies van der Rohes Reichspavillon auf der Weltausstellung in Barcelona von 1929 – den die Architekturtheorie durch Materialität und Raumkonstellation in unmittelbare Nähe zum Haus Tugendhat rückt – wegen dessen „Geistigkeit“ und „Reinheit“ noch gefeiert.24 Aber für ein Wohnhaus? Gilt dies auch für die individuellen Wünsche, die vielfältigen Beschränkungen und Anforderungen, die mit dieser Bauaufgabe einhergehen (sollten)? Wonach Bier eindringlich fragt, was er in Brünn vermisst, sind „Räume, die vollkommene Abschließung gestatten, in die nicht die Natur hereinflutet, sondern die sich deutlich von ihr distanzieren und dadurch eine geistige Konzentration geben, die ein derart geöffneter Raum nie geben wird. Eine Differenzierung des Wohngeschosses in einen ‚offenen‘ Wohnraum und einen ‚geschlossenen‘ Arbeitsraum ist also ebenso praktisches, wie psychisches Bedürfnis, das im Haus Tugendhat zugunsten reicherer Artikulation des Gesamtraumes vernachlässigt ist.“25 Ein psychisches Wohn-Bedürfnis nach „Konzentration und Stille“26 wird mit der Möglichkeit des Alleinseins verknüpft, was – abgesehen von den Schlafräumen des Hauses, die im Eingangsgeschoss orthodox gruppiert liegen –, im Einraum, Mies’ bevorzugter Typologie, nicht leicht möglich wäre. Mies, die Sachlichkeit, der Geist

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Aus zunächst nachvollziehbaren Gründen unterscheidet Bier zwischen Baukunst und Alltagsarchitektur, zwischen Repräsentationszwecken und Wohnzwecken: 27 „Man wird Riezler zustimmen, daß man sich in diesen Räumen dem Eindruck ‚einer besonderen Geistigkeit sehr hohen Grades‘ nicht entziehen kann, wird aber zugleich fragen, ob die Bewohner die großartige Pathetik dieser Räume dauernd ertragen werden, ohne innerlich zu rebellieren.“ Von „Strenge“ und „innerer Monumentalität“ ist die Rede, von einem „Repräsentationsstil“, der für die „Notdurft des Wohnens“ ungeeignet wäre. Aber das Wohnen ist keine Notdurft. Nicht für Mies; selbst in Zeiten der Wohnungsnot nicht. Und was hier als Pathetik erschient, wäre eben jene Hereinnahme einer pathetischen Zeit in den Wohnraum der Moderne, die Frank genau an diesem Ort auf seine Weise mildern wollte. Man könnte an dieser Stelle erneut Mies’ Gegenposition formulieren: hier wird die wohnende „Rebellion“ zum Projekt einer modernen, geistigen Baukunst und mit ihr eine andere Art Behaglichkeit, die sich einstellt, wo sich der Einzelne den Widersprüchen der Moderne stellt, den Widersprüchen der eigenen Vernunft, die sich nun in der Erfahrung eines gestimmten Raumes, im gelingenden Moment, aufheben. Eine solche geistige Einheit, als die Riezler der zum Garten und zur Landschaft offene Wohnraum erscheint, ein Zusammenhang von Mensch, Mitmensch und Natur, wäre durch die ästhetische Erfahrung vermittelt. Herausforderung und Glück in einem bekunden die Bewohner des Hauses Tugendhat: „jedenfalls habe ich die Räume nie als pathetisch empfunden, wohl aber als streng und groß – jedoch in einem Sinn, der nicht erdrückt, sondern befreit“,28 erklärt Grete Tugendhat, um anschließend eine zentrale Verbindung zwischen der sachlichen Architektur und einer herausfordernden Schärfung der Sinne herzustellen. Denn erst in ihr scheinen diese sich vollends zu öffnen für die Schönheit des Raumes. Auch die Charakterisierung der neuen Zeit wiederholt sich in den Worten der Bewohnerin, die dabei dezidiert Mies’ Gegenkonzept zu Franks Behaglichkeit umschreibt: „Diese Strenge verbietet ein nur auf ‚Ausruhen‘ und Sich-Gehen-Lassen gerichtetes Die-Zeit-Verbringen – und gerade dieses Zwingen zu etwas anderem hat der vom Beruf ermüdete und dabei leergelassene Mensch heute nötig und empfindet es als Befreiung. Denn wie man in diesem Raum jede Blume ganz anders sieht als sonst und auch jedes Kunstwerk stärker spricht – (z. B. eine vor der Onyxwand stehende Plastik) –, so hebt sich auch der Mensch für sich und die anderen klarer aus seiner Umwelt heraus.“29 Die Aufnahmen des Hobbyfotografen Fritz Tugendhat sind die visuelle Dokumentation dieses angeregten 92

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Lebens, belegen es auf lebendigere Weise als die nüchternen Abbildungen, die Mies in Umlauf bringt. Eine ominöse Geistigkeit tritt in ihnen durch die räumlich gefassten Eindrücke der Natur, die atmosphärischen Stimmungen und Wetterlagen, von Tages- und Jahreszeiten im Spiegel eines Hauses – in diesem „landschaftlichen Wohnen“30 – in Erscheinung. In den Worten der Bewohner: „[…] wenn ich die Blätter und Blüten betrachte, die wie Solitäre von gemäßen Hintergründen sich leuchtend abheben, wenn ich diese Räume und alles, was darin ist, auf mich als Ganzes einwirken lasse, dann empfinde ich deutlich: Das ist Schönheit – das ist Wahrheit.“31 Es ist eine Wahrheit jenseits der zeitbestimmenden Naturwissenschaften, jenseits der „sozialen Frage“, die, wie Grete Tugendhat ebenfalls bekundet, mit einem Haus nicht zu lösen wäre. Dieses berührt indes ein Menschenbild, das sich materialistischer Erklärungen entzieht, eine Strenge und Sachlichkeit, die zur ihrem Gegenteil, zur Freiheit persönlicher Erfahrung drängt. Die Forderung nach mehr Zweckmäßigkeit, die die Kritiker des Hauses Tugendhat erheben, richtet sich indes nicht nur gegen einen vermeintlich unangebrachten Luxus, sie findet mit Roger Ginsburgers Worten ihre Entsprechung in einem reduktiven Menschenbild. Es bedürfe in der Architektur lediglich einer „konstruktiven“, „funktionellen Vernunft“,32 diese müsse sich nur psychologisierender Wirkungen bedienen, die das „Statische“, „Optische“, „Räumliche“, „Rhythmische“ und „Farbliche“ der Baukunst regelten.33 Naturgemäß erscheint die Forderung nach Geistigkeit aus Sicht einer solchen, materialistischen Ästhetik haltlos. Riezler bleibt in seiner anschließenden Duplik der Debatte, die eigentlich eine ideengeschichtliche Kontroverse über den „Begriff des Menschen“ ist, nur noch, seinem Dialogpartner ein grundsätzlich anderes „Weltgefühl“ zu attestieren. Sein marxistisches Gegenüber hingegen muss sich – der Logik der eigenen Argumente gemäß – auf die Einforderung besserer Wohnbedingungen etc. beschränken und erteilt – aufgrund der beschriebenen Mechanik psychologischer Effekte – auch jeglichem „Künstlertum“ eine Absage, als wäre dies Mies’ ureigenstes Ansinnen. Er meint: „Bei diesen ‚künstlerischen Formen‘ handelt es sich also nicht um ein neues Weltgefühl, sondern um die Doppelwirkung der alten, dualistischen Weltanschauung und der Bedürfnisse der heute herrschenden Klassen.“34 Riezler wiederum lässt es sich nicht nehmen, einen transzendierenden Standpunkt einzunehmen.35 Auch dieser gehorcht dialektischen Gesetzen, beruht auf der Dualität bereits bekannter Begriffe: „Zweck“ und „Geist“. Im modernen Haus würden diese Gegensätze wohnend aufeinander bezogen – miteinander versöhnt. Mies, die Sachlichkeit, der Geist

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Die konkreten Äquivalente dieser Erfahrung von Entzweiung und ihrer ästhetischen Versöhnung waren eine im Raum gefasste Natur und die sachliche Architektur eines Wohnhauses, gedeutet durch die „ästhetische Evidenz“ zweier Bewohner. Solches Wohnen ordnet sich keinen mechanisch-funktionalen Zwecken unter, sondern ist der Ursprung eines utopischen Versprechens, das auch gesellschaftspolitische Kategorisierungen – zumindest dem Ideal nach – überwinden will und auf der ästhetischen „Sensibilität des Ich“ beruht. Man wäre nun sogar wieder gerüstet für sakrale Bauaufgaben, setzt Riezler in seiner Rezension am Schluss noch eins drauf, wenn er – unter Hinweis auf den im Jahr zuvor in seiner Zeitschrift erschienenen Aufsatz Paul Tillichs – die Auflösung auch dieser Kategorisierung im geistigen Projekt der Moderne bekräftigt.36 Denn das Sakrale wäre mitnichten Ausdruck einer institutionalisierten Religion, sondern eines „Neuen Seins“, wie es Tillich in einem seiner bekanntesten Aufsätze benennt: „Wirklichkeit, in der das Getrennte wieder vereinigt ist.“37 Tillich, einer der zentralen protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts, teilt mit Mies Geburtsjahr, Sterbeort und das Emigrationsschicksal.38 Sein vorgängiger Beitrag in der Form war der Abdruck einer Rede, die er am 10. November 1930 in Berlin gehalten hatte und die die Ausstellung Kultur und Form des so genannten Kunstdienstes eröffnete. Für Riezler dürften die dargelegten Gedanken essenzieller Natur gewesen sein, Anregung, Bestätigung. „Zum Vergleich zeigen wir hier profane Gegenstände, die im Streben nach letzter Einfachheit und Materialgerechtigkeit entstanden sind. In den Anfangszeiten christlicher Glaubensbewegung gab es meist keinen Unterschied zwischen sakralem und profanem Gerät. […] Wird nicht die kommende religiöse Erneuerung eine gegenseitige Durchdringung von Kultus und Werktag und damit auch Beseitigung der Grenze zwischen Kultgerät und Profangerät zur Folge haben müssen?“39 So die Ausstellungsbeschriftung über einem einfachen, länglichen Tisch mit schwerer, dunkler Platte auf vier verchromten Stahlbeinen, ausgesteift mit vier diagonalen Streben, darüber allerhand einfaches Glas und Porzellan, Teller, Schüsseln, Becher, Kelche. Gegenstände aus den Werkstätten der Reformkultur. Oder wäre dies doch ein Altar? Die Fotografie dieses Arrangements bildet den Auftakt zu besagtem Artikel. „Ergriffensein“, ein Wort, das auch Ginsburger – freilich mit gänzlich anderer Bedeutung – verwendet, wird in ihm mit dem „Hervorbrechen“ dessen verbunden, was das Leben aus der Tiefe heraus betroffen macht, wird für Tillich zum zentralen Thema von Feiertag und Alltag.40 Das empfindende Subjekt und seine Suche nach Ausdruck in der umgebenden Dingwelt sind Thema nicht nur der Urgeschichte kultischer Gegenstände, sondern das Desiderat der Gegenwart – auch aus Sicht des Theologen. Einer Theologie, die sich dem Wohnen zuwendet, ginge es um die „sinngebende Tiefe des Alltags“. „Kein heiliger Bezirk! Sondern Erschütterung und Wandlung jedes Bezirkes, das ist die erste Forderung jeder Gestaltung. Sie darf nur ein Pathos haben, das Pathos der Profanität. Und das ist die Aufhebung jedes falschen Pathos, jedes Pathos, das Flucht vor dem Alltag ist.“41 Der gelingende Alltag inmitten einer Massenkultur erfordert gegenwärtige Mittel: „Licht, Farbe, Material, Raum, Proportionen“.42 Man ist an die Aussagen der Tugendhats erinnert. Nur wenn diese Gestalt-Forderungen von der Wirklichkeit des Lebens umschlossen wären, könne es gelingen, nur dann wäre erfüllt, dass „jedes Ding 94

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„Kein heiliger Bezirk! Sondern Erschu ̈ tterung und Wandlung jedes Bezirkes, das ist die erste Forderung jeder Gestaltung. Sie darf nur ein Pathos haben, das Pathos der Profanität. Und das ist die Aufhebung jedes falschen Pathos, jedes Pathos, das Flucht vor dem Alltag ist.“ Paul Tillich

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[…] eine eigene Mächtigkeit, eine Ausstrahlung, eine Realitätsfülle“ hat.43 Pathos der Profanität: Sachlichkeit wäre weder das Ergebnis wirtschaftlichen Nutzens noch technischer Produktionsbedingungen. Lebensintensität: wenn solche Gegenstände die Existenzbedingungen des Lebens spiegeln und mit der Herausforderung des Lebens verbunden bleiben. So sehr sich die Beschreibungen von Riezler, von Lotz und Bier und den Tugendhats mit jener Tillichs decken, so sehr beruhen sie neuerlich auf einer Moderne als Zeit des Bruchs. Ein Bruch zwischen Alltag und Werktag, Sakralem und Profanem, zwischen Gesellschaft und Einzelmensch, zwischen Natur und Kultur – heil würde dieser in der Gegenwart nur im Moment ästhetischen Erlebens. Mies hat sich nie öffentlich auf Tillich bezogen. In seiner Bibliothek und persönlichen geistigen Entwicklung nahmen indes die Bücher des katholischen Theologen Romano Guardini eine wichtige Rolle ein. Dessen Briefe vom Comer See sind Gegenstand des einzigen durchgängigen „Notizhefts“, das von Mies überliefert ist. Wesentliche Gedanken daraus kehren in seinen Äußerungen beinahe wörtlich wieder.44 Zu Guardinis intellektuellem Lebensprojekt zählt eine weitere kleine Schrift – deren Thema hatte ihn bereits zu Studienzeiten beschäftigt –, die unter dem Titel Der Gegensatz. Versuch einer Philosophie des Lebendig-Konkreten im Jahr 1925 veröffentlich wurde.45 Der Gedanke einer coincidentia oppositorum, eines „Zusammenfalls der Gegensätze“, beschäftigte folglich nicht nur Mies; auch für Tillich war dieses Theorem wichtig.46 Nikolaus von Kues, der es im 15. Jahrhundert zum Gegenstand der Theologie gemacht hatte, formulierte im Prinzip der Koinzidenz einen ersten Schritt hinein in eine Welt der Sinne, rehabilitierte diese im Rahmen seines Glaubens: eine Hinwendung zum Sinnlichen für geistige Zwecke. Bald reichten ihm abstrakte geometrische Gleichnisse nicht mehr, um seine einflussreiche Lehre darzustellen. Anders als in seiner wohl bekanntesten Schrift, De docta ignorantia, sind es in De beryllo die menschlichen Augen – ein Beryll war ein Stein, aus dem Brillengläser geschliffen wurden –, die sehen. Die Sinne sind nun ausgezeichnet, Geistiges aufzuspüren, wenn „[…] du nämlich so die Erörterung fortsetzt durch Tastsinn, Geschmacks-, Geruchs-, Gesichts- und Gehörsinn und aufmerksam bedenkst, welche Erkenntniskraft jeder Sinn hat, wirst du alle Objekte in der sinnenfälligen Welt finden und [finden], dass sie auf den Dienst der Erkenntniskraft hingeordnet sind“.47 Guardini erneuert diese Lehre im Sinne von Tillichs Vorstellung von „sakraler Profanität“, wenn er vom Zusammenfall von Intuition und Ratio spricht,48 jenen beiden Bereichen der Vernunft, die dort auseinandergetreten wären, wo das Wohnen im rein Zweckhaften verharrte, im Wohnen aber auf genuine Weise ausgesöhnt werden könnten. Diese Überbrückung der ausdifferenzierten modernen Vernunft durch sich selbst wurde von Immanuel Kant als Vermögen der Urteilskraft in seiner „Ästhetik“ systemphilosophisch beschrieben:49 Die Bezogenheit der menschlichen Erfahrung, und somit des Konkreten, Dinghaften, auf ein Anderes, Allgemeines, auf eine „Idee“ sah Guardini wiederum in Briefe vom Comer See in der Kulturlandschaft verwirklicht, in der Mensch und Natur und Technik vereint wären.50 Das war 1927. Mies selbst spricht von „organischer Ordnung“.51 In Chicago, bei seiner Antrittsrede als künftiger Leiter der Architekturabteilung des IIT rund ein Jahrzehnt später, gibt er sie als höchstes Ziel aus. Ob damit eine moderne „Proportionslehre“ angedeutet sein sollte oder, viel direkter, mit dem Begriff des Organischen eine – dem 96

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Einzelbau und einzelnen Menschen – übergeordnete „landschaftliche Einheit“ benannt ist, bleibt offen.52 Diese Landschaft wäre nicht die Verneinung der modernen Industriekultur, wäre keine Klage über ihre zerstörerischen Kräfte, mit der Guardini seine Serie von Briefen noch begonnen hatte. In dieser Einheit der Gegensätze fände man Versöhnung durch gestalteten, ordnenden Zusammenhang. Und so – mit dem Pathos ganz neuer Lebens- und Wirkungszusammenhänge das „Chaos Europa“ hinter sich lassend, am Beginn eines neuen Lebens –, verkündet Mies seinen amerikanischen Kollegen und Studenten: „Wir wollen jedem Ding das geben, was ihm zukommt, seinem Wesen nach. Das wollen wir tun auf eine so vollkommene Weise, dass die Welt unserer Schöpfungen von innen her zu blühen beginnt.“53 Auch hier geht es offensichtlich um Ergriffenheit. Nicht aber das „mechanistische Ordnungsprinzip“, die „Überbetonung materieller und funktioneller Tendenzen“, die den dienenden Sinn der Technik vergesse, nicht das „idealistische Ordnungsprinzip“, das den praktischen Verstand vernachlässige, dürfe in einer solchen Architektur verwirklicht werden: „wir wollen jedem Ding das geben, was ihm zukommt, seinem Wesen nach“. Dies, so betont Mies, erfordere eine „Entscheidung“. Man kann das ein poetisches Prinzip nennen: Der Sachlichkeit einer unruhigen, „neuen Welt“ entspringt die Freiheit zu ästhetischer Distanznahme. Wenn man sich dazu entscheidet. Poetisch wäre ein Wohnen, in dem eine Wirklichkeit für kurze Momente aufschiene, in der alles in sich ruhte.

Der Text entstand im Zusammenhang mit einem Vortragsabend, der im Rahmen des ÖGFA-Schwerpunkts „Hinter den Bildern“am 4. März 2016 gemeinsam mit Jörn Köppler bestritten wurde. Jörn Köppler und Albert Kirchengast stellen die Frage nach einer „poetischen Baukunst“ seit einigen Jahren in verschiedener Weise – insbesondere mit kritischem Blick auf die gegenwärtige Architekturproduktion. 1 Walter Riezler: „Das Haus Tugendhat in Brünn“, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 9 / 1931, 321–332, 326. 2 Auf Deutsch: „Gegenwart“. Mies, die Sachlichkeit, der Geist

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3 Le Corbusier: „Wo beginnt Architektur?“, in:

Hermann Czech, Sebastian Hackenschmidt, Basel 2016,

Die Form 7 / 1929, 180f: 181. Roger Ginsburger wird

230 –243: 230.

in seiner Replik auf Riezlers Artikel gleich zu Beginn

16 Frank (wie Anm. 14), 52.

einwenden, es handle sich um keine Revision einer

17 Marco Pozzetto: Max Fabiani. Ein Architekt der

Haltung, sondern die würde so ähnlich schon in Vers

Monarchie, Wien 1983, 6.

une architecture vertreten: „Le Corbusier war also von

18 Riezler (wie Anm. 1), 9 / 1931, 321–332: 324.

vornherein für die Kombination Zweck und Kunst und

19 Ebd.

dabei ist ihm das emotiv-poetische Ziel sogar immer

20 Vgl. Caterina Cardamone: „Frank und Leon Battista

wichtiger gewesen als das praktische.“ Roger Ginsburger: Alberti“, in: Josef Frank (wie Anm. 15), 30–39: 38. „Zweckhaftigkeit und geistige Haltung. Eine Diskussion 21 Frank: Architektur als Symbol. Elemente deutschen zwischen Roger Ginsburger und Walter Riezler“, in:

neuen Bauens (1931), Reprint Wien 1981, 41. Mit der

Die Form 11 / 1931, 431– 437: 431.

Idee einer – wenn auch unvollkommenen – „Absicht der

4 Riezler, in: Die Form (wie Anm. 1), 321.

Natur“ ist nicht zuletzt eine Teleologie der Natur zum

5 Ebd.

Ausdruck gebracht, die einem naturwissenschaftlichen

6 Ludwig Mies van der Rohe: „Rundschau zum Neuen

Weltbild reiner Zweck-Mittel-Beziehungen entgegensteht

Jahrgang“, in: Die Form 2 / 1927: 59. Die Formulierung

und der ästhetischen Naturerfahrung des Idealismus

stammt aus dem zweiten zweier offener Briefe, die Mies

naheliegt.

1927 an Riezler richtet, um eine Änderung des Titels der 22 Wilhelm Lotz: „Die Halle II auf der Bauausstellung“, Zeitschrift anzuregen.

in: Die Form 7 /1931, 241– 249.

7 Ludwig Mies van der Rohe: „Baukunst und Zeit-

23 Ebd., 247.

wille“(1924), abgedruckt in: Fritz Neumeyer: Mies van

24 „Die Aufgabe war eine heute ganz ungewohnte: ein

der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin 1986, 303f.: 303.

Gebäude ohne Zweck, wenigstens ohne ersichtlichen,

8 Ludwig Mies van der Rohe: „Vorwort“, in: Bau und

greifbaren, sich aufdrängenden Zweck. Ein Bau, der

Wohnung, Stuttgart 1992, 7.

Repräsentation gewidmet, leerer Raum, und eben darum

9 Riezler, in: Die Form (wie Anm. 1), 322.

Raum an sich, Architektur als freie Kunst, Ausdruck

10 Josef Frank: „Was ist modern?“, in:

geistiger Verpflichtung. […] Er zeigt, daß Repräsentation

Die Form 15/1930, 399 – 406: 399.

ohne falsche Pathetik möglich ist, […].“ Justus Bier:

11 Ebd., 401.

„Mies van der Rohes Reichspavillon in Barcelona“, in:

12 Mies van der Rohe: „Die neue Zeit“, in: Die Form

Die Form 16/1929, 423 – 430: 423.

15/1930, 406.

25 Bier: „Kann man im Haus Tugendhat wohnen?“, in:

13 Mies van der Rohe: „Vorbemerkung“, in: Die Form

Die Form 10 / 1931, 392 – 394: 393.

9/1927, 257.

26 Ebd.

14 Josef Frank: „Der Gschnas fürs G’müt der der

27 Ebd.

Gschnas als Problem“, in: Bau und Wohnung (wie

28 „Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich“

Anm. 8), 48 –57: 51.

(Grete Tugendhat), in: Die Form 11/1931, 437– 438: 437.

15 In einem an J. J.P. Oud gerichteten Brief spricht

29 Ebd.

Paul Meller bekanntlich vom „Bordell Frank“. Zitiert

30 Zum Aspekt der „landschaftlichen Wohnens“ im

nach: Karin Kirsch: Die Weissenhofsiedlung, Stuttgart

Werk Mies van der Rohe vgl. Albert Kirchengast:

1987, 96. Theo von Doesburg beschreibt Franks

Das unvollständige Haus. Mies van der Rohe und die

Einrichtung als „femininely appointed interiors under

Landschaft der Moderne, Basel 2018.

French influence“. Zitiert nach: Claudia Cavallar,

31 „Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich“

Sebastian Hackenschmidt: „Cover Versions“, in: Josef

(Fritz Tugendhat), in: Die Form (wie Anm. 28), 438.

Frank. Against Design. Das anti-formalistische Werk

32 Ginsburger / Riezler, in: Die Form (wie Anm. 3),

des Architekten, hg. v. Christoph Thun-Hohenstein,

431 – 437: 431.

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Albert Kirchengast

33 Ebd., 432. 34 Ebd., 433. 35 Ebd., 437. Riezler entgegnet versöhnlich: „Die Grundthese des staatlich zugelassenen sogenannten ‚dialektischen Materialismus‘ ist ja die, daß zwar an der mechanisch materialistischen Erklärung aller Weltvorgänge unbedingt festzuhalten sei, daß aber damit über die Natur dieser Materie an sich noch nichts ausgesagt sei. Es steht also nichts im Wege, diese ‚Materie‘ als etwas Seelisch-Geistiges zu erklären – womit der Anschluß an die europäische Lehre von der ‚Leib-Seele-Einheit‘ gewonnen wäre!“ 36 Riezler, in: Die Form (wie Anm. 1), 328 und 332. 37 Paul Tillich: „Das Neue Sein“, in: ders.: Die neue Wirklichkeit, München 1962, 85 –95: 92. 38 Tillich wurde wie Mies 1886 geboren und verstarb 1965 – wie Mies 1969 – in Chicago. 39 Tillich: „Kult und Form“, in: Die Form 23 –24 /1930, 578 – 583: 578. 40 Ebd. 41 Ebd., 581. 42 Ebd. 43 Ebd., 582. 44 Mies van der Rohe: „Baukunst und Zeitwille“ (1924), abgedruckt in: Neumeyer (wie Anm. 7), 328 – 359. 45 Vgl. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Romano Guardini. Konturen des Lebens und Spuren des Denkens, Ostfildern 2010. 46 Werner Schüßler: Paul Tillich, München 1997, 26. 47 Nicolai de Cusa: De beryllo / Über den Beryll, Hamburg 1987, 85. 48 Vgl. Romano Guardini: Der Gegensatz. Versuch einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, Mainz 1985; v. a. Kapitel I, 15–33. 49 Vgl. Immanuel Kant: Die Kritik der Urteilskraft (1790). 50 Guardini, Briefe vom Comer See, Mainz 1927. 51 Mies van der Rohe: „Antrittsrede“(20. November 1938), in: Neumeyer (wie Anm. 7), 380 –381: 381. 52 Möglicherweise sollte das Begriffspaar beide Deutungsweisen umschließen – im Sinne der alten architektonischen Harmonielehre, die Mies ungebrochen in seiner Lektüre beschäftigt. 53 Mies van der Rohe (wie Anm. 51). Mies, die Sachlichkeit, der Geist

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Stille Über das Schweigen (in) der Architektur Über das Schweigen in der Architektur, mehr noch, das Schweigen der Architektur nachzudenken, führt auf Metaebenen und gleicht einem Paradox: Architektur spricht nicht im phonetischen Sinn, sie ist nicht einmal ein primär akustisches Phänomen, sondern eines der räumlichen Praxis und Befindlichkeit, vermittelt vor allem über visuelle und taktile Wahrnehmung. Und wenn ihr schon Analogien zur Sprache nachgesagt werden, so ist Schweigen ihr Sonderfall, steht sie doch als in letzter Konsequenz immer gesellschaftliche Aufgabe zunächst im Dienst der Vermittlung von Bedeutung und nicht von deren Verstummen. Noch über dem Ruinenfeld im Moment seiner Entdeckung liegt die Stille des verlassenen Orts wie ein negativer Beweis der gesellschaftsbildenden, gesellschaftserhaltenden „sprachlichen“ Konstitution von Architektur. Von Vitruv über die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts wird der Mythos vom Ursprung der Architektur im Heraustreten der ersten Menschengemeinschaften aus der Natur im Moment des Erwerbs der Sprachfähigkeit bis ins 20. Jahrhundert weiter tradiert. In der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel stehen Architektur und Massenkommunikation in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis: Als Zeichen soll der Turm die Menschen in der Stadt vereinen; seine Errichtung ist ohne gemeinsame Sprache nicht möglich. Breughels Gemälde steigert diesen Mythos zum Sinnbild, in dem der Turm zur räumlichen Stadt wird, deren äußerer Abschluss schon an der unbewältigbaren Komplexität seiner inneren Struktur, seiner räumlichen Kommunikationsstruktur, zu scheitern scheint. Woran diese Raum-Stadt scheitert, ist ihr Unvermögen, die Knäuel zu entwirren, die ungestillte zwischenmenschliche Begehrlichkeiten ineinander fesseln. Es ist eine Architektur in Aufruhr, unbewältigt und getrieben, heute lesbar als Vision einer Moderne, die Breughel heraufdämmern sah und im Negativ seiner Momentaufnahmen abbildete, ständig im Werden und niemals fertig, eine Architektur, die nicht stillhält in ihrer über jedes Ziel hinausschießenden Betriebsamkeit. Was sie verfehlt, ist eine mit den vielen teilbare Sprache und, als das was aus deren Pausen auftaucht, auch architektonische Stille, die uns erst einen zivilisierten Umgang miteinander und mit uns selbst ermöglichen könnte. Als Gegenbild zum babylonischen Turmbau, ja als ein anderer Ursprungsmythos der Architektur, der die Stille an den Anfang stellt, könnte nach Hegel der Typus der ägyptischen Pyramiden gelten: Ins Gigantische gesteigerte „Umschließung“ und „Entrückung“ eines Raums absoluten Schweigens. Darauf ist noch zurückzukommen. Doch schon hier wird klar, dass auch dieses Schweigen der ägyptischen Pyramide mitgeteilt sein will und dass sein Medium eben die Stille ist, aus der als Stillstand die Zeit verbannt ist: nach innen als Replik des Lebens durch die den Raum umhüllenden Schriftzeichen 100

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in Ewigkeit repetierter Geschichte; nach außen im Symbol der uneinholbaren Form. Verallgemeinert heißt das: Der Frage nach der Stille als Medium – und nicht nur als Wirkung – von Architektur ist nur über die nach ihrer „Kommunikationsstruktur“, nach ihrem „Sprechen“ und ihrem „Schweigen“, nach ihrer Fähigkeit und Zurückhaltung im „Aussagen“ beizukommen. Relative Stille Im Unterschied zur schwierigen Frage des „Schweigens“, also zur Frage, ob, was, wie und wann Architektur aussagen kann und soll, oder eben nicht, und wie diese Aussagen mit dem Sprechen oder allgemein dem Verhalten der Personen zusammenhängen, die diese Architektur benutzen, scheint die nach der Stille einfach. Denn Stille ist zunächst eine Wirkung, eine Qualität, die für Architektur schon auf der bloßen Ebene der Herstellung von Umweltbedingungen, also von Relationen, konstitutiv ist: als Abstufung der Schallpegel, die in einem Raum oder an einem Ort im Unterschied zu anderen Räumen oder Orten herrschen. Kommunikation setzt voraus, dass sie sich von anderer Kommunikation abgrenzt, dass sie also vor einem Hintergrund relativer Stille stattfindet. Gerade die gesellschaftlichen Zwecke, die architektonisch (auf)gefasst werden, werden in Abschirmungen manifest, die sich als materielle Spuren in einer großen Vielfalt an Lösungen und Wirkungsweisen durch die Architekturgeschichte verfolgen lassen. Rückzug als Mittel zur Heilung der Seele ist demgegenüber sekundär: „Da suchen sich die Menschen Stätten, um sich zurückzuziehen“, schreibt noch Mark Aurel, und findet dieses Verhalten „in höchstem Grade kindisch“, steht es doch jedem frei, „sich zu jeder Stunde in sich selbst zurück zu ziehen“. Andererseits erlangt der auch räumliche Rückzug von den Ablenkungen alles Weltlichen gerade in der Spätantike eine neue Bedeutung. Unabhängig von diesem spirituellen Potenzial des Räumlichen war relative Stille aber immer schon die architektonische Aufgabe schlechthin und sie ist es umso dringlicher, als die Vergesellschaftung etwas hervorbringt, was als Abfallprodukt ihrer Kommunikationen so unvermeidlich wie schwer zu objektivieren ist: Lärm. Den Lärm der Zivilisation mehr oder weniger auszuschließen, ist eine paradoxe, aber realisierbare zivilisatorische Notwendigkeit. Zwei Wege scheinen hier vor allem gangbar und bilden geradezu eine Grundstruktur architektonischer Typologie: Die Entfernung und die Umschließung. Die Typen, die jeder architektonischen Typologie zugrunde liegen, sind dementsprechend Weg und Raum – Wege, die Orte miteinander verbinden, aber eben auch voneinander entfernen, und Räume, die sich gegenüber anderen Räumen öffnen, aber auch abschließen. Stille

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Umschließung / Entfernung: Raum und Weg als Grundstruktur architektonischer Typologie.

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Relative / absolute Stille: Stille als Wirkung und Stille als Anspruch der Dauer – „lautlose Sprache der Geister“.

Stille

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Doch, abgesehen davon, dass diese elementaren Formen der relativen Stille in Bedrängnis kommen, wenn, bildlich gesprochen, alle „im Wald wohnen“ und jeder „die Welt in seine vier Wände holt“, wenn also Einsiedeleien in bestens erschlossene, flächendeckende Siedlungen umschlagen und in Umschließungen instantane Medien Fragmente einer Außenwelt in so enger Verschränkung abbilden, dass das „Geviert“ in scheinbarer Welthaltigkeit sich auflöst. Abgesehen von derartigen Veränderungen in der Zahl, im Maßstab und in den Systemen, hängen alle diese Fragen auch davon ab, was wir als Lärm empfinden. Die Schwierigkeit, diesen zu definieren, macht die Sache kompliziert, denn sein Ausgangsprodukt ist Information, und der Punkt, wo diese eine Dichte erreicht, die schmerzt, ist subjektiv (oder situationsbedingt). Damit haben wir es nicht mehr nur mit einem akustischen Phänomen zu tun, sondern mit einem kulturellen, in das Architektur in schwer auflösbarer Weise involviert ist. Die Hellhörigkeit einer traditionellen japanischen Stadt wäre für einen heutigen Westeuropäer gewöhnungsbedürftig. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel, wie auditive Intensität und visuelle Zurückhaltung korrelieren können.1 Die Relationen, in denen Stille hier steht, sind wesentlich komplexer, sie sind nicht mehr durch Skalen abbildbar und schließen Architektur als (vornehmlich) visuelles Medium mit ein. Auch visuelle Reize, als Informationsträger aufgefasst, können dem Lärm analoge Phänomene hervorbringen, aber, im Umkehrschluss, auch Stille. Architektur kann also nicht nur durch die Festlegung von Räumen und Orten die Informationsdichte anderer Medien modulieren. Die Strukturen, die sie zu diesem Zweck errichtet, tragen auch selbst als Medien zum Angebot an Botschaften bei, mit dem wir als ihre Nutzer oder Bewohner konfrontiert sind. Da es hier nicht einfach um ein „Mehr“ oder ein „Weniger“ an Aussage oder eben an Stille geht, sondern um die Frage, was, wie und ob überhaupt etwas ausgesagt werden kann, wird sich abschließend auch die Frage stellen, inwiefern und in welcher Weise neben der relativen auch eine „absolute“ Stille zum Wesen der Architektur gehören könnte. Jedenfalls aber bleibt der Umweg über die schwierigen Fragen des Schweigens (in) der Architektur nicht erspart, also diejenigen nach ihrem Sprechen und seinen Grenzen. Sprechen Seit der Antike wurde die Aufgabe der Vermittlung kollektiver Vorstellungen in der Architektur dem Begriff des Decorum zugeordnet. Dekor ist dabei nach Vitruv aber nicht im seit der Renaissance geläufigen Sinn als Einkleidung eines Bauwerks, als hinzugefügter Schmuck oder autonome Zeichenebene, gedacht, sondern als notwendige Eigenschaft von Architektur, zumindest für bestimmte Aufgaben. Was Vitruv als „fehlerfreies Aussehen“ definiert, könnte man im Wesentlichen als verbindlich kodifizierte Charakterisierung der einer bestimmten Gottheit zugeschriebenen Eigenschaften in der jeweiligen Säulenordnung und folglich im entsprechenden Proportionssystem ihres Gehäuses, des Tempels, sehen. Es geht also um eine in Satzungen (οραματισμoí, „Thematismen“) festgelegte Beziehung von Form 104

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und Inhalt, was in dem Maß zu einem komplexen, ja unbestimmbaren, nur mehr willkürlich festlegbaren Verhältnis wird, als der Inhalt sich von einer unveränderlichen Vorstellung in eine gesellschaftliche Relation verschiebt, deren stets anfechtbare Behauptung mit Repräsentationen abgestützt ist. Obwohl die christliche Tradition in der „harmonia mundi“ und in der Ebenbildlichkeit des Menschen noch bis ins 17. oder 18. Jahrhundert zwei Ankerpunkte, im Mikro- wie im Makrokosmos, zu versprechen schien, lässt schon Albertis Übertragung der antiken Ordnungen auf den Mauerwerksbau der Kirchen und Paläste deren in Manierismus und Barock auf unterschiedliche Weise ausgekostete Mobilität ahnen und damit ihre Loslösung von einem „nackten“ Kern. Während die „architecture parlante“ den zwiespältigen Versuch unternimmt, dem Kern durch Proportionierung und bildhafte Übertragung in gleichsam „psychologischer“ Weise die Ordnungen einzuverleiben, um ihm „Ausdruck“, ja „Erhabenheit“ zu verleihen, gilt die Anstrengung des Historismus, über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg, der Einkleidung der sich rasant vermehrenden „willkürlichen“2 Zwecke, deren „peinliche“ Erfüllung3 mit zunehmender Dringlichkeit als Notwendigkeit erkannt wird – in „Stilhüllen“, die nicht nur „wohlgefällig“ dem Geschmack der Zeit folgen, sondern auch als Medium einer bürgerlichen Massenkommunikation verbindlich die jeweilige Bedeutung der gesellschaftlichen Aufgabe eines Gebäudes vermitteln sollen. Die spektakulären Bauten der Weltausstellungen und die massenweise Distinktion der neuen metropolitanen Schichten in Fassaden wie Hausrat sind nur zwei Bereiche, wo „sprechende“ wie historisch „eingekleidete“, „erhabene“ wie „wohlgefällige“ Architektur bis zur Erschöpfung ihren Dienst tun. Die „kochende Blase“, als die Robert Musil die Großstadt um 1900 wahrnimmt, schmilzt Verbindlichkeit wie Massensuggestion ein zu einer radikalen Kritik am entfremdeten Leben. Die Bemühungen der unterschiedlichen Strömungen der architektonischen Moderne, auf der Suche sei es nach dem „Stil unserer Zeit“, nach neuer gesellschaftlicher Relevanz oder nach einer „innerarchitektonischen Wirklichkeit“ so etwas wie „Wahrhaftigkeit“ wiederzugewinnen, erscheinen aus heutiger Sicht, vor dem Hintergrund eines kulturindustriell und massenmedial geprägten, in alle Bereiche des Lebens und Denkens infiltrierten, von unfassbaren Finanzströmen gesteuerten Kapitalismus, fast wie eine Episode. Es lohnt daher, unter Rückgriff auf Walter Benjamin dessen an den Metropolen des 19. Jahrhunderts geschulte Sicht zum Ausgangspunkt einer Analyse der gegenwärtigen Sprachprobleme der Architektur zu machen. Stille

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Die größte Schwierigkeit, über das Schweigen (in) der Architektur nachzudenken, liegt in der weitgehenden Bedeutungslosigkeit ihres gegenwärtigen Sprechens.

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Für Walter Benjamin steht Architektur exemplarisch als Medium der Massenkommunikation: „Die Architektur bot von jeher den Prototyp eines Kunstwerks, dessen Rezeption in der Zerstreuung und durch das Kollektivum erfolgt.“ 4 Sie ist in dem, was er ihre „taktile Rezeption“ nennt, in dem „beiläufigen Bemerken“, das auch auf die „optische Rezeption“ der Architektur übergreift, auf der Stufe der kapitalistischen Metropolen des 19. Jahrhunderts mit ihren schockartigen Botschaften und Abwegigkeiten, Vorbild des Films, der Benjamin im Umsturz der kontemplativen, „auratischen“ Wahrnehmung des Kunstwerks in eine massenhaft zerstreute und doch objektivierend „begutachtende“ den generellen Umsturz der Produktionsverhältnisse zu versprechen schien. Während Benjamins Feststellung auch die heutige Situation überzeugend darzustellen vermag, hat das an sie geknüpfte Versprechen längst jeden Rest an Glaubwürdigkeit eingebüßt; nicht nur verbindet der Missbrauch von Architektur wie Film (um nur diese beiden Medien zu nennen) als Mittel der Manipulation der Massen faschistische wie kommunistische Regime, seit der popkulturellen „Revolution“ der 1960er Jahre erweisen sich bauliche wie multimediale Massenkommunikation, in den Händen von Medienkonzernen und Immobiliengesellschaften, als wichtige Stabilisatoren eines entgrenzten, aber in seiner scheinbaren Alternativlosigkeit umso mehr in sich geschlossenen Kapitalismus. Pure Sichtbarkeit und zerstreute Wahrnehmung scheinen mittlerweile Lesbarkeit und Kritikfähigkeit vollständig zu überblenden. Die größte Schwierigkeit, über das Schweigen (in) der Architektur nachzudenken, liegt in der weitgehenden Bedeutungslosigkeit ihres gegenwärtigen Sprechens. Bedeutung Die Behauptung der „Bedeutungslosigkeit“ des Sprechens von Architektur im entgrenzten Kapitalismus verlangt eine nähere Erklärung, die hier nur angedeutet werden kann. Die handlungstheoretische und sprachphilosophische Definition von „Bedeutung“, die H. P. Grice zuerst in seinem Aufsatz „Meaning“ 1957 5 vorgeschlagen und in der Folge bis in die 1980er Jahre mehrfach verfeinert hat, kommt zu dem Schluss, dass von „Bedeutung“ nur die Rede sein kann, wenn zur primären sprecherseitigen Intention, eine Äußerung zu tätigen, auch die weitere Intention kommt, ein Publikum zur Anerkennung dieser Intention zu bewegen, was auf Rezipientenseite voraussetzt, dass „the intended effect must be something which in some sense is within the control of the audience“. Nach Grice wird Bedeutung also kollabieren, sofern das Publikum nicht eine gewisse Entscheidungsfreiheit hat, die Intention einer Aussage anzuerkennen.6 Der Entzug dieses Kontrollvermögens auf Rezipientenseite kann durch direkte physische oder institutionelle Gewalt geschehen,7 aber auch, so könnte man in Erweiterung von Grice’ Überlegungen folgern, durch Selbstreferentialität und deren Überblendung Stille

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durch die Suggestivkraft z. B. von Werbung. Von Selbstbestätigungen oder Selbstwiderlegungen wie „ich rede jetzt“ oder „ich schweige“ bleibt der Zuhörer ausgeschlossen.8 Wenn wir als „Äußererer“ (utterer) z. B. Finanzkonglomerate (Investoren) annehmen, die Immobilienprojekte nach finanztechnischen Kriterien platzieren, so erschöpft sich die Intention der Äußerung in der Manifestation dieses Tuns, nämlich der Vermehrung von Kapital. Die „primäre Intention“ der Äußerung, also dessen, was Architektur war, ist selbstbezüglich. Zu einer „sekundären Intention“ kommt es erst gar nicht. Die Äußerung selbst, die „Immobilie“, bleibt als leere Sprechblase zurück. Sie verlangt nach Anlegern (die selbst zu einem Teil der selbstbezüglichen Äußerungsabsicht, des Finanzsystems, werden), nicht nach einem Publikum. Die Prüfung, die Walter Benjamin der zerstreuten Wahrnehmung der Massen zuschreibt, findet nicht statt. Der mit einem Immobilienprojekt intendierte, systemerhaltende Gewinn bleibt aus dem öffentlichen Diskurs ausgeklammert und außer Streit. Raumproduktion als Dienst an einer wie immer gewollten Gemeinschaft – Ursprung des Bedürfnisses nach einer „Sprache“ der Architektur – ist pervertiert zur Herstellung raumkonsumierender Verzinsungsvolumen. Allenfalls ist Marketing gefragt, um Anleger, vielleicht sogar (zahlende) Nutzer und – in noch nicht gänzlich ausgehöhlten Demokratien – auch eine Öffentlichkeit zu „überzeugen“ (nicht von dem intendierten Gewinn, der steht ja außer Streit, aber von dem Vehikel, der „leeren Sprechblase“). Und da spitzt sich die Frage nach dem Sprechen von Architektur weiter zu. Weg und Ziel von Marketing ist Maximierung von Präsenz. Gleichzeitig versteht sich Marketing aber als ein Sprechen, das ein anderes verdeckt. Konkret soll es das selbstreferenzielle Sprechen der Geschäftsinteressen durch ein vorgetäuschtes Ansprechen externer Referenzen (seine „primäre Intention“) verdecken, also etwa durch soziale, ökologische oder kulturelle Zwecke, welche die mediale Erscheinung der Architektur verspricht. Grice spricht einen derartigen, durch die Bedeutung einer „primary intention“ ausgelösten „further effect“ gegen Schluss seines Texts an: Seiner These nach ist dieser unausgesprochen verfolgte Effekt von der Anerkennung der primären Intention völlig unabhängig. Der Gewinn wird gemacht, ob die Konsumenten die Botschaft des Marketings glauben oder nicht – ihre Wahrnehmung genügt. Aus Grice’ radikaler These könnte man also folgern, dass der Sprache des Marketings aus systemimmanenten Gründen jede Bedeutung abzusprechen ist. Indem Architektur in den Dienst von Marketing und nicht hinterfragbaren Interessen gestellt wird, fällt sie notwendig einem im Sinn des Systems höchst effizienten Sprechen ohne Bedeutung anheim. Schweigen Was ist Schweigen? Wäre es ein bloßes Nicht-Sprechen, so wäre der skizzierte Bedeutungszusammenhang für unser Thema irrelevant. Schweigen heißt, so könnte man sagen, dass in der Stille, die es hervorbringt, das Sprechen, das durch das Schweigen beendet wurde, mitschwingt. Schweigen ist also zu Ende gegangenes Sprechen. Wenn bedeutungsloses Sprechen auch in den Fällen, in denen, wie oben angedeutet, den Zuhörenden die Entscheidungsfreiheit nicht durch offensichtliche Zwangsmaßnahmen verweigert wird, auf nichts anderes verweist, als die „Bedeutung“ des Sprechenden – 108

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Peter Zumthor: Therme in Vals, Abgang und Wasserbecken.

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also letztlich auf das den Sprechenden legitimierende und zugleich durch seine Äußerung (mediale Präsenz) auf Kosten unserer Lebensgrundlagen vermehrte Kapital – dann wird auch das „Schweigen“ die Zuspitzung der Besitz- und Machtverhältnisse ebenso weiter befördern wie die Vernichtung der Bestände. Neben der „sprechenden“ kann freilich auch „schweigende“ Architektur bestechen. Wellness und Meditation, „Chillen“ und alte wie neue Spiritualität wollen in Atmosphären des Schweigens gehüllt sein und manche Versuche, diese Aufgabe architektonisch zu lösen, sind einen Gedanken wert. Wer in Zumthors Therme in Vals die Treppe in den Bäderbereich hinuntersteigt, zwischen Wänden aus geschichtetem Stein (Valser Quarzit), wird vom Aufleuchten der bronzenen Handläufe im spärlichen Streiflicht begleitet, das von hoch oben durch Spalten zwischen den riesigen Sichtbetonmonolithen der Decke herabrieselt: eine perfekt inszenierte Ouvertüre zu einem Ort, an dem man die Stimme fast unwillkürlich senkt und schließlich vor allem schweigt (und genießt). In Pawsons Trappistenkloster Nový Dvu˚r verhüllt Innenwie Außenräume diffuses Weiß – weiß, wie die Trappistengewänder, die fast lautlos durch das Kirchenschiff rauschen, weiß, wie der Altarblock und dahinter die hohe Stele, auf der, allein in der Apsis, eine Madonna weit in den Raum gehoben ist, weiß, wie das Licht im aufragenden Kirchenraum, das aus unsichtbarer Quelle hinter den wie weiße Tücher in seitlichen Öffnungen hängenden Wandflächen hervortritt. Die „Wirklichkeit der Dinge“, von der Zumthor spricht,9 ist, wie Pawsons ausgeräumte, von Zen inspirierte Welt, Architektur gewordene Stimmung. Als typische Kinder ihrer Zeit sind diese „atmosphärischen“ Architekturen in Erwartung von Konsumenten (ob zahlend oder nicht ist hier nebensächlich), die in diese Stimmung eintauchen, sie in sich aufsaugen, gleichgültig, ob sie aus materiedichtem Halbdunkel oder aus entmaterialisierender Helle entströmt. Schweigen der und Schweigen in der Architektur sind hier eins: Die Schweigenden, architektonisch zum Schweigen Gebrachten, werden im wortgewandten Schweigen der Architektur aufgefangen. Sie liefern sich deren Schweigen aus, nicht anders, als sie sich sonst der „Massage“ der Medien ausliefern würden. In beiden Fällen verschmilzt das Individuum mit seiner Stimmungsblase, in der die Wirklichkeit der Welt ausgeblendet ist. Für die zerstreute (prüfende) Aufmerksamkeit der Erfahrung ist kein Platz, sie ist ersetzt durch den Bann, in den das Erlebnis die Eingetauchten schlägt. Die Freiheit des Bedeutens, aus der erst Bedeutung auftauchen kann, muss der gespannten Unruhe weichen, aus der sich das System der entgrenzten Ausweglosigkeit nährt. Die Bedeutungslosigkeit des 110

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Schweigens beginnt sich erst im Eintauchen in das warme Thermalwasser oder in die Gesänge der Trappisten aufzulösen. Doch warum ist das so? Ich kann eine Wand von jedem Dekor entkleiden und ihr jede spezifische Farbe und Textur nehmen, kann damit Prinzipien wie „Reinheit“, „Nacktheit“, „Wahrheit“ oder sogar „Nichts“ evozieren, kann ihr „Schweigen“ steigern bis zur Unüberhörbarkeit – dennoch wird auch die weiße Wand materiell erfahrbar bleiben, ihre Sprache wird die eines konkret hier verwendeten Materials, eines Anstrichs und seiner Verarbeitung sein. Wo Architekturen des Minimalen schweigen wollen, werden sie stattdessen vom Schweigen sprechen. Ich kann umgekehrt das Material, das den Raum einhüllt, unverhüllt zeigen, kann der „Wirklichkeit“ stärkste Präsenz, Sinnlichkeit, „Unmittelbarkeit“ und in diesem Sinn „Sprachlosigkeit“ verleihen, aber je mehr ich die Sprachlosigkeit der Atmosphäre beschwöre, desto weniger werde ich frei sein, diese als Schweigen anzuerkennen. Wo Architekturen des Atmosphärischen das Schweigen beschwören, bleibt im „Abgang“ das Aroma der Täuschung. Welche Wirklichkeit wird durch so viel wohlkalkulierte Sinneserfahrung ausgeblendet? Sicherlich: Unsere Sinne lassen sich täuschen, wenn sie nicht ohnehin die Täuschung schlechthin sind. Und doch lässt sich ein Gesetz nicht überwinden: je zwingender die Täuschung, desto enger die Verhältnisse, aus denen sie wirkt. Da Architektur in jedem Fall zunächst einmal gemacht werden muss (von ihrer Erhaltung einmal ganz abgesehen), entzieht sie sich der schon damit in sie eingehenden „Ansprache“ nicht, indem sie sich ihr verweigert oder in beredtem „Schweigen“ Atmosphären architektonischer Stille hervorbringt. Umgekehrt kommt im Thermalwasser von Vals und in den Gesängen von Nový Dvu˚r etwas zur Sprache, was diesem „Gemachtwerden“ immer schon, verdeckt durch das Sprechen oder Schweigen von Architektur, zufällt: das in allem, was dieses Machen zu seinem Material macht, also zum Vorhandenen, enthaltene Unverfügbare. Wasser wie Gesänge stehen für das, was sich an Architektur der architektonischen Kontrolle entzieht, was der Enge der von diesen Architekturen gesetzten Verhältnisse des erzwungenen Schweigens zumindest ein Stück weit die Gefolgschaft verweigert und dadurch zum Medium des Schweigens von Bedeutung werden kann. Wie jede Vermittlung von Bedeutung setzt auch diejenige eine gewisse Freiheit der Adressaten voraus, die sich in Schweigen hüllt. Die Intention des Schweigens ein Stück weit „within the control of the audience“ zu belassen, ist nur möglich, sofern Architektur es zulässt, ihr Material, seien es Stoffe oder Vorgänge, Stille

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Hermann Czech: Cin Cin Buffet, Wien.

Hermann Czech: Kleines Café, Wien.

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in der Unverfügbarkeit zu belassen. Und noch etwas wäre zu beachten: Da im Schweigen, im Unterschied zum Sprechen, die Richtung der Mitteilung nie eindeutig feststellbar ist, muss auch das „Publikum“ offen sein für das „Zuhören“ dessen, was ihm an und in Architektur begegnet; es muss seinerseits Kontrolle abgeben an das sich wandelnde Vorgefundene. Das Thermalwasser von Vals und die Gesänge von Nový Dvu˚r lösen diese Offenheit aus, indem sie die Kontrolle der Architektur einschränken. Man könnte also auch sagen: Erst wo die Grenze der Kontrollierbarkeit Architektur berührt, schweigt sie tatsächlich. Erst da kann auch die relative Stille, die sie anbietet, wirken. Ist also ein Schweigen, das der Bedeutungslosigkeit entgeht, architektonisch überhaupt denkbar, „machbar“? Könnte diese „schweigende Architektur“ von dem lernen, was sich ihrer Kontrolle schon immer entzieht? Zwei scheinbar gegensätzliche Zugänge zum Schweigen (in) der Architektur könnte man im Werk von Ottokar Uhl und von Hermann Czech finden. Was sich entzieht, verweigert, wird hier von vornherein mitgedacht: Verhaltensweisen und Spuren vergangener Vorgänge, also Bestand. „… das gerade nötigste“ Auch wenn Christa Kamleithner, in Hinblick auf Uhls Kapellenräume, von einer „Ästhetik des Gebrauchs“ spricht,10 ist der Bezug zum Gebrauch bei Uhl ein indirekter, reflektierter, der weiß, dass es keine unmittelbare Entsprechung zwischen Vorgängen und Vorrichtungen gibt. Sie werden einander vielmehr vermittelt über eine Kommunikation, die Uhl als demokratische versteht, unplanbar selbst in ihrer hochgradig kodifizierten Form als Liturgie. „‚Geplant‘ wird immer neu das gerade nötigste“ schreibt Uhl in den „Thesen für (eine ‚geplante‘) Improvisation“.11 Ziel dieses radikalen Reduktionismus ist nicht eine „schweigende Architektur“, kein „less is more“, das sich der Kommunikation verweigert, sondern eine, die Kommunikation herausfordert, indem sie auf dem Weg einer „demokratisierten Ästhetik“ „den Raum offen lässt“ für immer neues Improvisieren. Zum Schweigen gebracht werden soll jede Gedankenlosigkeit architektonischer Rhetorik (und sei es auch einer Rhetorik des „Funktionalismus“ oder der Partizipation), die dieser offenen Kommunikation im Weg steht – einer Kommunikation, die erst in dieser Offenheit auch Momente des Schweigens mit Sinn erfüllen kann. Doch Reduktion räumt, wie gesagt, die Fragen nach den architektonischen Mitteln nicht aus, im Gegenteil: sie verschärft sie noch. Uhl begegnet ihnen vor allem in seinen rituell geprägten Räumen durch die „sprachliche“ Genauigkeit in der Wahl dieser Mittel, durch eine Konzentration nicht auf das Wenigste, sondern das „Wesentliche“, das diese Architekturen aussagen sollen: Zugang, Wand, Struktur, Licht und Bild wären fünf dieser wesentlichen Kategorien des „Nötigsten“, die, bei aller Bedingtheit, so eingesetzt werden, dass sie dem Unbedingten Raum geben können.12 Auffällig oft sind die Strukturen ästhetisch wie statisch überbestimmt: technologisch auf der Höhe der Zeit, ja, innovativ im Kontext der Anwendung, aber ohne das Pathos des Neuen. Stille

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Was Uhl aus dem selbst in seinen auf den Ritus fokussierten Formen stets improvisierten, also im Unverfügbaren begründeten Material – den Verhaltensweisen und Kommunikationsprozessen der Nutzer – lernt, ist gerade nicht, seiner Architektur einen „improvisatorischen“ Charakter zu geben. Selbst in seinen Partizipationsprojekten meidet er die Rhetorik der Improvisation, um das Unplanbare eben erst zu ermöglichen. Die gedankliche Genauigkeit des Sprechens seiner Architektur, ist ein Wissen, das im Sinne von Nikolaus von Kues „nur wenige Worte [kennt]“. Es kommt (fast) einem Schweigen gleich, das der Bedeutungslosigkeit entkommt, indem es um das Sprechen weiß, aus dem es hervorgegangen ist. „…Architektur, die nur spricht, wenn sie gefragt wird“ So wie Uhls Bauten stehen die Räume von Hermann Czech zu den Vorgängen, die in ihnen stattfinden, in einem reflektierten, unbedingten Verhältnis. Funktionen, betont Czech immer wieder, sind keine Gegebenheiten, die von einem Projekt unabhängig existieren und dieses bedingen, sie werden vielmehr erst im Entwurf definiert und sie teilen sich dem Benutzer in der konkreten architektonischen Lösung mit – ein Vorgang, welcher der Kontrolle mit architektonischen Mitteln dennoch nur zum Teil unterliegt. Der eigentliche Bereich des Unverfügbaren, der für Czech ausschlaggebend wird, ist aber selbst Teil der Architektur oder wird in einem sehr umfassenden Sinn als solche gesehen: Es sind die Bestände, sei es die vor Ort vorgefundenen, sei es die aus den bereits getroffenen Entscheidungen, die in einem Projekt wirksam werden können, übernommenen.13 Josef Franks Resümee „Man kann alles verwenden, was man verwenden kann“,14 das auch Czechs Denken umschreiben könnte, bekommt damit eine paradoxe Wendung. Was man verwenden kann, ist das Unverfügbare. Das Projekt greift nicht darauf zurück, wie auf ein externes Archiv, das Entwurfsentscheidungen, auf rationalem oder auf mimetischem Weg, determiniert und damit abnimmt. Das Vorhandene, das sich zumindest ein Stück weit der eigenen Kontrolle entzieht, wird vielmehr zum Material eines Interpretations- und Transformationsprozesses, es wird zur (architektonischen) Sprache, zum Klingen gebracht. Was dieser Sprache Momente des Schweigens einschreibt, ist das (scheinbar) Zufällige, das Frank von Architektur fordert, wenn er meint, wir sollten „unsere Umgebung so gestalten, als wäre sie durch Zufall entstanden“. Bei Frank wie bei Czech hat dieses Moment des „Als ob“ aber weder mit einem aleatorischen Prinzip zu tun (auch wenn Franks späte „accidental houses“ daran denken lassen könnten), noch mit dem, was das „picturesque movement“ als das Malerische in die Architektur einbringen wollte. Es geht also weder um ein abstraktes Prinzip noch um einen „Schauwert“, 114

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Josef Franks Resümee „Man kann alles verwenden, was man verwenden kann“, bekommt eine paradoxe Wendung. Was man verwenden kann, ist das Unverfügbare.

Stille

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um bloße Zerstreuung, sondern um eine „Kategorie der Intellektualität, der Bewußtheit“.15 Das „Zufällige“ entsteht daher nach Czech aus dem „noch sachlicher“ Werden, das Adorno in seinem Vortrag „Funktionalismus heute“ 1963 zur Überwindung der Krise des Funktionalismus vorschlug.16 Das konsequente Aufgreifen aller „Verästelungen einer Gedankenreihe“, der Motivationen und „Zwecke“, die in einem Entwurfsprozess auftauchen, aller „Sachen“, die sich einem Entwurf stellen (nicht so sehr „zur Verfügung“ als „in den Weg“), lässt das Ergebnis „wie zufällig“ erscheinen. Die Genese ist an der Lösung nur mehr partiell oder gar nicht ablesbar, der Benutzer damit in seiner Wahrnehmung und Interpretation des Sprechens dieser Architektur gerade durch deren „Überbestimmtheit“ 17 (relativ) frei. Was entsteht, sind „mehrschichtige“ Lösungen, in ihren „Zwecken“ ebenso überbestimmt wie in ihrer Wirkung „unbestimmt“. Sie stehen unterschiedlichen Lesarten offen – eine „Architektur, die nur spricht, wenn sie gefragt wird“.18 Obwohl diese Lösungen, im Gegensatz zu Uhls „überbestimmten“ Strukturen, nicht durch Reduktion, sondern durch Anreicherung entstehen, verbindet beide Ansätze mehr als ihr gemeinsames Interesse am Unverfügbaren. Absolute Stille? Wenn es infolge der komplexen Bedeutungsverschiebungen, die hier am Werk sind, nicht um eine in Phon oder sonst linear messbare Stille geht: Was macht dann diese „Stille“ aus, die in diesen scheinbar gegensätzlichen Werken als Hintergrund von Kommunikationsprozessen „dient“? Oder anders gefragt: Sind hier, in einem jeweils konkreten Kontext, auch Momente im Spiel, die eine absolute Dimension architektonischer Stille zum Tragen bringen, eine absolute Stille, die auch unabhängig von diesem (von jedem beliebigen) Kontext beschreibbar wäre? Der technische Begriff der Überbestimmtheit, der auf unterschiedliche Weise sowohl im Werk von Uhl als auch von Czech in einen architektonischen übertragen wird, könnte auch mit dem linguistischen der Redundanz verglichen werden. Frank bringt die redundante Struktur arbeitsintensiver (handwerklich hergestellter) Ornamente mit einer beruhigenden Wirkung in Beziehung, die vom Eindruck des zur Herstellung notwendigen Aufwands an Arbeitszeit herrührt, der auf ein gestresstes Alltagsleben in einer modernen Gesellschaft kompensatorisch wirken kann.19 Redundanz und Überbestimmtheit, die aus dem Blickwinkel industrieller Produktion überflüssig erscheinen, werden gerade dadurch zu Ventilen der unter dem Diktat der Effizienz leidenden Psyche. Die Redundanz z. B. von Knüpfmustern alter orientalischer Teppiche vermittelt damit ein ähnliches Gefühl von (relativer) Stille wie die Überbestimmtheit architektonischer Lösungen. Was Überbestimmtheit und Redundanz aber vor allem verbindet, ist die Weise, wie sie in die Zeitstruktur sowohl der Produktion als auch der „Konsumtion“ oder Rezeption dieser Werke eingreifen. Sie schaffen, im Unterschied zu den vornehmlich individuellen „Stimmungsblasen“ atmosphärischer Architekturen etwas, das man vielleicht am ehesten 116

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Andreas Vass

als „Zeitblasen“ bezeichnen könnte. Anstatt in einen vorstrukturierten (mehr oder weniger dicht gedrängten) Zeitplan hier und da ein paar Minuten, Stunden, Jahre an „Freizeit“ oder „Auszeit“ einzufügen, also nur weitere – anders besetzte – Zeitpartikel zu produzieren, hebeln sie die Zeit selbst aus und bringen „Momente“ der Zeitlosigkeit oder „Zeitverlorenheit“ hervor, die den Takt der gemessenen (und kontrollierten) Zeit auflösen in den Zeitstrom, auf dem sie treiben. Momente, in denen wir zu einer Anschauung der Wirklichkeit kommen, einer elementaren Ästhetik, die Bewusstsein heißt. Sichtbarmachen von Texturen natürlich gewachsener Materialien durch ihre Bearbeitung bei Adolf Loos, erlebbares Altern von Artefakten und Gebäuden als Gegenstand architektonischer Auseinandersetzung bei Bernard Rudofsky oder Roland Rainer, das Vorgefundene bei Le Corbusier nach seiner puristischen, die Landschaft bei Hannes Meyer nach seiner konstruktivistischen Phase, Döllgasts Trümmerkultur, Rossis Analogien, Frettons „fictions“ und die Offenheit der Räume bei Lacaton &Vassal: Zeichen der Kritik innerhalb und parallel zur Moderne an der mechanisierten Zeit des Kapitals, trotz und entgegen deren Vereinnahmungen und Aufteilungen. Absolute (architektonische) Stille hat mit dem Entkoppeln dieser Zeit zu tun. Totenstille Die Frage nach wesentlichen Kategorien des Schweigens (in) der Architektur führt abschließend auf Hegel zurück, insbesondere auf Hegels Ausführungen zur ägyptischen Pyramide – dieser ins Gigantische gesteigerten „Umschließung“ und „Entrückung“ eines Raums absoluten Schweigens. Hegel führt diese „ungeheuren Kristalle“ als Zeugen für die „erste Kunst“ an, die seine im Symbolischen wurzelnde Definition von Architektur untermauern: Auch er sieht, wie die eingangs erwähnten klassischen Architekturtraktate, den wesentlichen Schritt in Richtung Kunst (und im speziellen Architektur) in der „Vereinigung der Völker“ in einem Akt des Heraustretens aus der Natur. Allerdings, und das erspart der Menschheit hier die Strafe der Sprachverwirrung, erfolgt dieser Akt bei Hegel nicht durch Nachahmung der Natur als eines mit dem Göttlichen identifizierten unbegrenzten Zusammenhangs, sondern durch Arbeit, nämlich indem Architektur sich der Aufgabe stellt, „die äußere unorganische Natur so zurechtzuarbeiten, dass dieselbe als kunstgemäße Außenwelt dem Geiste verwandt wird“.20 An den Beginn der Architektur setzt Hegel das „Materielle in seiner unmittelbaren Äußerlichkeit als mechanisch schwere Masse“. Dabei bleiben „ihre Formen […] die Formen der unorganischen Natur, nach den abstrakten Verstandesverhältnissen des Symmetrischen geordnet“.21 Dem Ideal der „künstlerisch für die Anschauung und Empfindung dargestellten göttlichen Wahrheit“ kann Architektur nach Hegel damit nicht genügen. Der Mangel einer bloß „abstrakten Beziehung“ zur Idee bedeutet, dass Stille

117

Das Material spricht uns unaufgefordert an, es meint uns als Sterbliche. In absoluter Stille fordert es uns heraus, Stellung zu beziehen.

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UMBAU 30

Andreas Vass

„der Grundtypus der Baukunst die symbolische Kunstform“bleibt. Es ist also ein Mangel, den Hegel hellsichtig als das Wesensmerkmal der Baukunst bezeichnet. Nach Hegels Theorie der Symbolik erfolgt der entscheidende Schritt, der „die Bedeutung für sich frei von der unmittelbar sinnlichen Gestalt“ werden lässt, durch Negation gerade des „Sinnlichen und Natürlichen“, im „Tod des Natürlichen“, der als „ein notwendiges Glied im Leben des Absoluten gewusst“ wird. „Dem Geiste verwandt“ wird die „kunstgemäße Außenwelt“ der Architektur also als Symbol der in der Materie gewussten Totenstille. Ja, das Symbol erscheint selbst als eine Form des Schweigens. In ihrer eigentlichen „symbolischen“ Bestimmung ist Architektur „selbständig“: Um die „allgemeinen wesentlichen Gedanken sich und anderen vor Augen zu bringen“ spricht sie, nach Hegel, „eine um ihrer selbst willen vorhandene, wenn auch lautlose Sprache der Geister“.22 Gegenüber dem Moment der Erfahrung bleibt das Symbol stumm. Es spricht nicht in Zeitmaßstäben des Lebendigen, sondern in denen der Materie, die den Augenblick überdauert. Daher seine elementare Bedeutung für die Architektur. Mit dem „Übergang zur klassischen [Baukunst]“ büßt diese dagegen, nach Hegel, ihre Selbständigkeit ein, „indem sie die Skulptur von sich ausschließt und sich zu einem Gehäuse für andere, nicht unmittelbar selber architektonisch ausgedrückte Bedeutungen macht“.23 Wie eingangs schon am Beispiel des griechischen Tempels gezeigt, dient sie fortan „einem Zweck und einer Bedeutung, die sie nicht in sich selbst hat“. Zwar besteht „ihre Schönheit […] in dieser Zweckmäßigkeit selber“, aber sie hervortreten zu lassen, scheint einer besonderen Anstrengung zu bedürfen, wobei die „in sich geschlossene Totalität“, in der sich die Zweckmäßigkeit „zusammenfügt, […] in der Musik ihrer Verhältnisse das bloß Zweckmäßige zur Schönheit heraufgestaltet“ 24. Dennoch verurteilt Hegel, im Unterschied zu Kants „wohlgefällig Machen“ des Diensts an „willkürlichen Zwecken“, die Konsequenz solcher Willkür im Zusammenkommen von Inhalt und „Kunstgestalt“ als„beziehungsloses Aneinanderfügen und bloßes Aufschmücken der einen Seite durch die andere“.25 Eine Spur der in der Ursprungsform der Kunst, dem Symbol, gefassten „allgemeinen wesentlichen Zwecke“ scheint für Hegel auch in der späteren Architektur nachzuwirken und sie vor der Willkür beredter Bedeutungslosigkeit zu schützen. Nach Maurizio Ferraris ist es, in Bezugnahme auf Hegels Theorie der Pyramiden, der „Überschuss an Material, der den Geist umgibt“ – Unerklärlichkeit des mit seiner „Zurechtarbeitung“ verbundenen Aufwands –, der Architektur vor dem Nihilismus, Stille

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dem „Tod in der Idee“, bewahrt.26 Das Material spricht uns unaufgefordert an, es meint uns als Sterbliche. In absoluter Stille fordert es uns heraus, Stellung zu beziehen. Loos’ Definition von Architektur in seinem gleichnamigen Aufsatz von 1912 knüpft hier an: „Wenn wir im walde einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist architektur.“27

1 Wenn Jun’ichiro Tanizaki in Lob des Schattens (1933)

auf die Bereiche eingrenzen wollen, wo sie der „Phan-

die Dunkelheit im Inneren der traditionellen japani-

tasie“ nicht im Weg stehen.

schen Häuser beschwört, spricht er die visuelle Reduk-

3 War etwa Otto Wagners Architektur seit seinen

tion als Zeichen der Wertschätzung der Dinge des

Anfängen als Zinshausarchitekt implizit den pragmati-

täglichen Lebens an, gerade auch in Bezug zum ständi-

schen Maßstäben der teils von ihm selbst getätigten

gen Fluss der Geräusche aus der Nachbarschaft, die

Veranlagungen verpflichtet, so tritt seit der Arbeit am

eben erst in der Dunkelheit des Hauses die Eigenschaft

Generalregulierungsplan 1893, mit der bewussten

des Lärms verlieren.

Anerkennung der vielfältigen und komplexen an ihn

2 Nach Hermann Czech „definiert [Kant] Baukunst als

gestellten Anforderungen, „Zweckmäßigkeit“ als

jene, die Dinge wohlgefällig macht, die ‚ihren Bestim-

explizite und programmatische Forderung in den Vor-

mungsgrund in einem willkürlichen Zwecke‘ haben“.

dergrund. „Peinliche“ oder „allerstrengste“ Erfüllung

Czech: „Neuere Sachlichkeit“, in: ders.: Zur Abwechs-

dieser Zwecke, wie in der Folge in zahlreichen Passagen

lung. Ausgewählte Schriften zur Architektur. Wien,

von Projektbeschreibungen und vor allem in den in

Wien 1996, 56 –57; Czech spitzt die Pointe von Kants

Zusammenhang mit der Lehre entstandenen Schriften

Definition zu, indem er „Funktionalismus“ und „ange-

formuliert wird, bleiben aber gebunden an eine Ebene

wandte Kunst“ gegeneinander setzt, die entweder unter

gesellschaftlicher Verbindlichkeit und Lesbarkeit,

Verzicht auf Wohlgefälligkeit willkürliche Zwecke ver-

die gewöhnlich mit den Begriffen Geschmack oder Stil

folgen oder Zwecke als „Verunreinigung“ der Architektur

umschrieben wird.

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UMBAU 30

Andreas Vass

4 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner

15 Czech, „Ein Begriffsraster zur aktuellen Interpreta-

technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung)“,

tion Josef Franks“, 1985, in: ders.: Zur Abwechslung,

in: ders.: Gesammelte Schriften, Band I.2, Frankfurt / M,

111–122: 120 (wie Anm. 2).

1980, 471–508: 504.

16 Ders.: „Neuere Sachlichkeit“, in: ebd., 56.

5 H. P. Grice: „Meaning“, in: The Philosophical

17 Ders.: „Mehrschichtigkeit“, 1977, in: ebd.,

Review, 66 (3) Juli 1957, 377 – 388.

79 – 80: 80

6 Grice bezieht sich auf Situationen der Alltagskom-

18 Ebd.

munikation. In religiösen oder spirituellen Kontexten

19 Josef Frank: „Raum und Einrichtung“, 1934, in:

müsste man wohl von einem durch vorgängige freie

Josef Frank, Schriften, Bd. 2, 288–305: 298 (wie

Glaubensentscheidung abgegebenen Versprechen, die

Anm. 14). Dass Herbert Muck in seiner Beschreibung

Intention der Glaubenssätze anzuerkennen, sprechen.

der feinen Unregelmäßigkeiten der Betonoberflächen

Zweifel und Auslegung machen aber auch hier die

von Uhls Studentenkapelle in der Peter-Jordan-Straße,

Kontrollmöglichkeit zu einem konstitutiven Element

die sich durch die „zufällige“ Textur der verwendeten

bedeutungsvoller Kommunikation.

Schalungsbretter ergibt, als für den Raumeindruck

7 Grice führt das Beispiel einer Prüfungssituation an;

besonders wichtig hervorhebt, ist in diesem Sinn zu

Propaganda diktatorischer Regime wäre eine extreme

verstehen (Muck: „Elementare Qualitäten“, 45–52;

Erscheinungsform.

wie Anm. 12).

8 Es gibt nur ein Sprechen, das seine Bedeutung aus

20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, 2. Ausgabe

Selbstreferentialität bezieht: Kunst. Zu diesem Sonder-

von Heinrich Gustav Hothos 1842, Berlin– Leipzig

fall später.

1955, Bd. I, 89.

9 Peter Zumthor: Architektur Denken, Basel 1999.

21 Ebd., 89 –90.

10 Christa Kamleithner: „Eine Ästhetik des Gebrauchs.

22 A.a.O., Bd. II, 28 –29.

Zu Ottokar Uhl“, in: Ottokar Uhl, hg. v. Az W,

23 Ebd., 30.

Wien 2005, 233 –251.

24 Ebd., Bd. II, 50.

11 Ottokar Uhl: „Thesen für (eine ‚geplante‘) Improvi-

25 A.a.O., Bd. I, 408.

sation“, Vortrag IKAS-Kongress in Malmö, 1987; zit.

26 Maurizio Ferraris: „Quel che resta dell’architet-

nach: Bernd Selbmann: „Perspektiven für partizipato-

tura“, in: Rassegna 10 (36 / 4), Dezember 1988, 9 –15:

risches Bauen – Versuche der Annäherung an Ottokar

„… vor der uns die Berechnung des Zusammenhangs

Uhl“, in: Ottokar Uhl. Werk, Theorie, Perspektiven,

von Ursache und Wirkung versagt“.

hg. v. Conrad Lienhardt, Regensburg, 2000, 9 – 40: 16.

27 Adolf Loos: „Architektur“ in: Franz Glück (Hg.):

12 Siehe u. a. Herbert Muck: „Elementare Qualitäten“,

Adolf Loos. Sämtliche Schriften 1, Wien –München

in: ebd., 45 –52.

1962, 302–318: 317.

13 Selbst wenn wir nicht „so weit gehen, die Entscheidungen dem Benützer oder Auftraggeber, dem ‚Konsumierenden‘, zu überlassen“ („Neuere Sachlichkeit“, 1963), „können wir unsere Entscheidungen als Fortsetzung eines Kontinuums verstehen“ („Zur Abwechslung“, 1973), und zwar umso eher, „je mehr wir [vom Vorhandenen] begreifen.“ Beides in: Czech: Zur Abwechslung, 56 und 78 (wie Anm. 2). 14 Josef Frank: „Der Gschnas fürs G’müt und der Gschnas als Problem“, in: Josef Frank. Schriften / Writings, hg.v. Tano Bojankin, Christopher Long, Iris Meder, Wien 2012, Bd. 1, 288 – 298: 298. Stille

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Ulrich Huhs

Über das Verhältnis von Bild und Architektur Architektur im Bilderrauschen des 21. Jahrhunderts

Bilddominierte Öffentlichkeit Die heutige Gesellschaft wird durch eine bilddominierte digitale und mediale Öffentlichkeit bestimmt. Die hohe Rezeptionsgeschwindigkeit von Bildern erweist sich als strategischer Vorteil bei der Platzierung sowie Sichtung von Inhalten im digitalen Weltarchiv des Internets. Eine unüberschaubare Anzahl an Bilderveröffentlichungen, das Bilderrauschen des Netzes, das ohne inhaltliche oder qualitative Auswahl das Interface der digitalen Welt bildet, umgibt uns. Was bedeutet die Verschiebung in der Wahrnehmung der Welt weg vom Beschreiben und Denken in Textform hin zur Darstellung in technikbasierten Bildern1 für die bildaffine Profession der Architektur? Verhindern die Bilder das architektonische Denken? Visualisierungen sind in der Anwendung des bildgestützten Entwurfs von Ungebautem eine in sich abgeschlossene, virtuelle Inszenierung, ein arrangiertes Bühnenbild. Sollte Architektur im Prozess des Entwurfs und der Ausarbeitung nicht strukturell offen sein, um nachhaltige und langfristig nutzbare Gebäude entwickeln zu können? Das Postulat von Hermann Czech: „Architektur ist Hintergrund“2 stellt die grundsätzliche Frage nach der Aufgabe der Architektur. „Je dichter am Leben die Architektur bleibt, desto komplexer ist sie; ,einfach‘ kann sie nur werden, indem sie davon abhebt.“3 Der Widerspruch zwischen der zur Lesbarkeit notwendigen Einfachheit eines komponierten Bildes und der Umsetzung komplexer Inhalte in Architektur ist evident. Wenn es bildbedingt vorrangig um einen inszenierten Vordergrund geht, kann sich Architektur in ihrer Kernfunktion als vielschichtiger Raumentwurf in der Breite kaum entwickeln. Architektonischer Raum und Bild Der architektonische Raum ist aufgrund seiner dreidimensionalen Komplexität nur in der Bewegung wahrnehmbar. Das zweidimensionale, einen Ausschnitt zeigende statische Bild kann einen objektorientierten Blick imaginieren, aber den tatsächlichen Raum nicht abbilden. Und selbst professionelle Versuche der Raumdarstellung wie Wim Wenders 3D-Film zum Rolex Learning Center der ETH Lausanne können nur eine Annäherung an die tatsächliche Raumerfahrung erzeugen.4 Der Film visualisiert eine die Topographie 122

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Ulrich Huhs

des ringförmigen Gebäudes nachzeichnende Kamerafahrt. Die Linse der Filmkamera zeigt ein fokussiertes Ausschnittsbild in der Bewegung durch den Raum. Der Unterschied zur menschlichen Wahrnehmung ist die Unschärfe der Raumerfassung am Rand des Blickfelds und die freie Wahl der Blickrichtung. Bild und bewegtes Bild unterliegen immanenten Kompositionsregeln und dramaturgischen Mitteln und sind durch diese bestimmt. Diese Bildgestaltungsgrundlagen sind nicht ident mit den Grundlagen der Entwicklung des architektonischen Raumes, d.h. das virtuelle Image stellt, obwohl es über fotorealistisches Mapping Realität suggeriert, eine Abstraktion von Architektur dar, die in perfekter Ausführung als Konkretion wahrgenommen wird. Es entsteht eine Unschärfe in der Wahrnehmung von visualisierter Virtualität und analoger Realität, die wechselseitig Einfluss auf den Entwurf von zeitgenössischer Architektur hat. In der klassischen Architekturlehre seit Vitruv wurde die dispositio, das Konzept des Gebäudes, in Grundriss, Schnitt und perspektivischer Ansicht dargestellt und vermittelt.5 Der Grundriss zeigt in die Raumfolge und Funktionsanordnung, der Schnitt die räumliche Entwicklung und die perspektivische Ansicht das Gebäude als Objekt. Die Darstellungen zeigen zeichnerische Abstraktionen der erdachten Architektur und sind als solche erkennbar. Die Darstellungstechnik entwickelte sich über die Jahrhunderte unter Einfluss freier oder angewandter künstlerischer Darstellungsformen des jeweiligen zeitlichen Umfelds. Die Werkzeuge des heutigen digitalen Bildentwurfs wurden für das industrielle Produktdesign entwickelt. Sie sind optimiert für die Darstellung dreidimensionaler Objekte im Raum. Das Designobjekt wird als Drahtgittermodell aufgebaut und anschließend mit Oberflächen belegt und mit gerechneten Lichtreflexionen in die Fotorealität überführt. Der Raum selbst spielt im Produktdesign eine ungeordnete Rolle. Um einen positiv konnotierten, stimmig wahrgenommenen Raumeindruck mit diesen Objektwerkzeugen generieren zu können, müssen die geometrischen Realitäten des dreidimensionalen Raummodells verlassen werden, Betrachterstandpunkte jenseits real möglicher Positionen eingenommen und Blickwinkel außerhalb des menschlichen Sehwinkels gewählt werden. Kombiniert mit professionellem Oberflächenmapping entstehen scheinbare Vorausschauen in die Realität der künftigen baulichen Umsetzung. Sie scheinen die Realität vorausschauend abzubilden, obwohl sie geometrisch der Realität – im Gegensatz zu einem abstrakten, maßstäblichen Modell – nicht entsprechen. Dieses konkret erscheinende Bild wird zum factum, das in der Realität erreicht werden soll.

Über das Verhältnis von Bild und Architektur

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Ludwig Mies van der Rohe, Hochhaus an der Friedrichstraße, 1921, perspektivische Ansicht von Norden. Kohle und Bleistift auf Transparentpapier, auf Karton montiert, 173,5 × 122 cm.

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Ulrich Huhs

Ludwig Mies van der Rohe, Resor House, project (Jackson Hole, Wyoming), 1937–1941, New York.

Über das Verhältnis von Bild und Architektur

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Das Image des Entwurfs soll einen kontrollierenden Abgleich zwischen Planung und Gebautem gewährleisten. Das Bild wird zum Kontrollinstrument, verhindert die nachhaltige Weiterentwicklung des Projekts und erzeugt das Erfordernis der bildgleichen Umsetzung des digitalen Bildes. Der virtuelle Raum mit seiner oberflächendominierten Bildästhetik sollte möglichst deckungsgleich in der physischen Welt umgesetzt werden. Dies führt zur Produktion von aufwendigen Oberflächen, zu a-tektonischen Lösungen. Ein Grundpfeiler der Architektur nach Vitruv, die distributio, die angemessene Verteilung der Materialien und Ausgaben,6 scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Bild und Realität Das Verlassen der maßstäblichen Abstraktion im Entwurfsprozess verändert die Architektur. Die ursprüngliche Funktion der Architekturbilddarstellung bestand in der Illustrierung einer Projektidee: das klassische Schaubild zur abstrahierten Visualisierung von Architektur in Form von Zeichnungen, Aquarellen, Collagen usw. Das Bild simuliert keine reale Wirkung des zu Bauenden, vielmehr dessen Abstraktion. In der digitalen Welt wird das Bild zum Ziel. Die digitale Realität und ihre Bildästhetik fordern aufgrund ihrer allumfassenden visuellen Präsenz die Umsetzung des Bildes in die Realität: das Bauwerk als nachgebautes Bild. Die Perfektion der digital erzeugten Simulation von Gebautem führt zu einer Hyperrealität, die in der Umsetzung vermehrt zu einem absurden baulichen Aufwand der Oberflächenherstellung führt, die keine tektonische oder architekturimmanente Grundlage hat. Die Kernaufgabe von Architektur: Die Raumgenerierung in ihrer Komplexität bleibt aufgrund ihrer Nichtdarstellbarkeit in Bildern unberücksichtigt und gerät zunehmend aus dem Fokus der architektonischen Arbeit. Diese grundlegende Verschiebung der Ziele in der Anwendung von Architekturdarstellungen wird im Folgendem an exemplarischen Projektbildern zweier exzeptioneller Büros dargestellt: für die klassische Moderne: Mies van der Rohe, Berlin – Chicago, für die Gegenwart: Herzog & de Meuron, Basel. Mies van der Rohe Das ikonische Bild des Wettbewerbsbeitrags für das Hochhaus an der Friedrichstraße von 19217 hat eine doppelte Zielrichtung: Zum einen stellt es den Wettbewerbsbeitrag für dieses Filetgrundstück im Zentrum Berlins dar, zum anderen zeigt es eine weit in die Zukunft weisende Architekturvision: die nichtragende, transluzente Gebäudehülle, die einen tragenden Skelettbau umschließt. Die perspektivische Ansicht ist vom Expressionismus inspiriert in der Technik der Kohlezeichnung auf Transparentpapier erstellt. Die Zeichnung weist einen hohen Abstraktionsgrad auf, die städtebauliche Umgebung ist auch in der Variante als Collage verfinstert, die Hochhausvision leuchtet über der alten, dunklen Stadt. Die Zeichnung gibt eine interpretationsoffene Ahnung der Gliederung der 126

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Ulrich Huhs

Was bedeutet die Verschiebung in der Wahrnehmung der Welt weg vom Beschreiben und Denken in Textform hin zur Darstellung in technikbasierten Bildern für die bildaffine Profession der Architektur?

Über das Verhältnis von Bild und Architektur

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Baumassen, die darstellerisch in Hell-Dunkel-Kontrasten dramatisiert wird, ohne Details zu zeigen, wie sie im 19. Jahrhundert in den perspektivischen Außen- und Innenansichten Karl Friedrich Schinkels zum Alten Museum auf der Spreeinsel in Berlin8+9 noch zu sehen waren. Der international beachtete Wettbewerbsbeitrag wird zur architektonischen Positionsbestimmung und Mies van der Rohe wird damit Teil der Avantgarde. Umsetzbar war die gläserne Vorhangfassade Anfang der 20er Jahre noch nicht, aber das Bild wurde zum Motor der baukünstlerischen und bautechnischen Entwicklung. Die Macht der Bildikone wurde Jahrzehnte später, in den 1990er Jahren ein weiteres Mal sichtbar. Nach der Wiedervereinigung wurde das Grundstück investorenseitig als Bürohochhausstandort entwickelt. Das ambitionierte Projekt Spreedreieck des Architekten Mark Braun (1962 – 2008) stand in dauernder Konkurrenz zur Bildikone von Mies van der Rohe. Die Vision hatte das Grundstück nachhaltig besetzt und in akademischer Hinsicht unbebaubar gemacht. Unter anderen hatte Fritz Neumeyer nach der Wiedervereinigung frühzeitig auf die besonderen Bedingungen des Standorts hingewiesen und für eine Umsetzung des Mies’schen Entwurfs geworben.10 Mies van der Rohe entwickelt die Technik der Entwurfsbilder im Bezug zur darstellerischen Entwicklung in der Kunst weiter. Für das Projekt zum Haus Resor, Jackson Hole, Wyoming, 1937– 41, werden im Projektverlauf Collagen zur zentralen Projektidee des Wohnraums über dem Snake River angefertigt.11+12 Eine rudimentäre, perspektivische Zeichnung wird mit einem Silbergelatineabzug einer Fotografie des Flusses kombiniert und zunehmend abstrahiert. Die Darstellung zeigt keinen realistischen Innenraum, sondern ein collagiertes Stimmungsbild: eine Impression aus Zeichnung, Fotografie, Materialimpressionen und Kunstabbildungen. In abstrahierter Form wird ein mondäner Lebensraum skizziert, den Betrachter assoziativ ergänzen können. Ein offenes Architekturbild, das Raum für Projektionen lässt. Herzog & de Meuron Jacques Herzog und Pierre de Meuron beziehen sich in ihren Projektdarstellungen zu Beginn ihrer Bürotätigkeit auf die interpretationsoffenen, assoziativen, Mies’schen Perspektiven in Montageform. Ihr Beitrag für „Berlin Morgen. Ideen für das Herz einer Großstadt“, eine Einladung des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt 1990,13 zeigt eine Komposition schemenhaft dargestellter, monumentaler, leuchtender Hochhausscheiben, die ein stadträumliches Bezugsfeld über dem Tiergarten aufspannen. Sie wachsen aus der schier unendlichen Blockstruktur Berlins heraus und sind Vision für ein mögliches Morgen mit assoziativen Bezügen zum Central Park New York und Referenz auf die Berliner Architekturavantgarde der Zwischenkriegszeit, Mies van der Rohe und Hilberseimer, zugleich. Eine konzeptionelle Darstellungsform, die strukturell offen ist für eine optionale architektonische Ausformulierung. Die Bezugnahme auf Mies van der Rohe wird im Projektentwurf für das Kulturzentrum in Blois, Frankreich 1991, noch deutlicher.14+15 Die flussseitige Nachtansicht zeigt eine Betonskelettstruktur, deren Fassadenbänder medial bespielt werden. 128

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Architekturimmanent lesbarer Bezug ist die ikonische Kohle- und Buntstiftzeichnung Bürohaus aus Beton, 1923, von Mies von der Rohe.16 Beide Darstellungen sind an ein Fachpublikum gerichtet, das die Bezüge zum architektonischen Diskurs und die damit einhergehende inhaltliche Positionierung lesen kann. Die Bezüge der Konzeptdarstellung für das Nationalstadion in Peking, 2002– 08, liegen nicht mehr im architektonischen Bereich, sondern außerhalb in der Alltags- und Kulturgeschichte Chinas. Eine subjektiv gewählte, bildliche Metapher bildet die Grundlage für das Erscheinungsbild des Projekts: das Vogelnest. Die unarchitektonische, semantische Metapher ist Politik und Öffentlichkeit leichter vermittelbar und ist mit der positiven Assoziation von Geborgenheit verknüpft. Yehuda E. Safran hat in einer frühen Kritik in werk, bauen + wohnen die Frage aufgeworfen, ob das Bild, das zu erreichen war, eine architektonische Weiterentwicklung des Projekts verhindert haben könnte.17 „Das Olympiastadion ist ein Projekt vom Typ „Ente“– also ein Bau, der so aussehen soll wie das, dem er ähnlich ist.“ Das Erscheinungsbild ist geprägt durch ein außenliegendes Tragwerk, gebildet aus einem Flechtwerk monumentaler Stahlhohlkastenträger. Die Tragstruktur wurde nicht nach konstruktiv-tektonischen, sondern nach bilderfüllenden Gesichtspunkten entworfen. Dort, wo bei einem Nest das schützende Innere ist, ist die Konstruktion unsichtbar. Wurde die bildmächtige Metapher in architektonischer Hinsicht zum zu erfüllenden Projektgefängnis? Jacques Herzog gibt nach Fertigstellung des grand projet in Peking in einem Interview eine überraschende Antwort auf die Frage nach seinem bis dato liebsten Bau: die Sammlung Goetz in München von 1992. Der kleine Ausstellungsbau einer Privatsammlung im Vorgarten einer Villa beinhaltet die forschende Bearbeitung grundlegender architektonischer Themen. Den nächsten Schritt in der Verwendung von Architekturbildern gehen Jacques Herzog und Pierre de Meuron mit dem Jahrhundertbauwerk der Elbphilharmonie in Hamburg: das Bild wird zum Projektgenerator. Gemäß dem Bonmot von Philip Johnson, dass der Architekt eine Hure ist, die ihre Kundschaft bedient, nicht ohne vorher ihre Wünsche erregt zu haben, wird im Auftrag privater Initiatoren18 ein Schaubild das Entwurfskonzepts geschaffen, das zur zu erfüllenden Prophezeiung wird. Ziel der Projektinitiatoren und ihres Investors war das Filetgrundstückes des denkmalwürdigen Kallmorgen-Speichers der HHLA am Kaiserkai im Hamburger Hafen,19 eines Wahrzeichens des Wiederaufbaus der kriegszerstörten Speicherstadt. Der prominent auf der stadtzugewandten Inselspitze gelegene Bau war nur durch ein noch größeres Wahrzeichen zu übertrumpfen: ein Konzerthaus von Über das Verhältnis von Bild und Architektur

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Bilder unterliegen immanenten Bildherstellungs- und Kompositionsregeln, die nicht deckungsgleich sind mit den Bedingungen des architektonischen Raums in der physischen Realität.

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Weltklang in der zeichenhaften Qualität des Sydney Opera House. Folgerichtig wurde ein spektakuläres Rendering in Umlauf gebracht, das ein architektonisches Weltwunder ankündigte. Welche ökonomisch halbwegs aufgestellte Stadt würde den damit angebotenen Bilbao-Effekt des weltweiten Stadtmarketings ausschlagen? Dass die öffentliche Nutzung eine Mantelbebauung aus Luxuseigentumswohnungen und ein Luxushotel tragen sollte, deren Nutzfläche die öffentliche übersteigt, spielte in der Projektwahrnehmung keine Rolle.20 Für den Hoffnungsträger, das symbolträchtige Bild einer Elbphilharmonie wurde eine Senatsmehrheit gefunden und das Projekt durch finanzielle Untiefen und über einen politischen Machtwechsel weitergetragen. Der Suggestion des Bildes konnte man sich nicht mehr entziehen. Der Erfolg des Images geht soweit, dass die Architekturfotografien des fertiggestellten Gebäudes in direkter Konkurrenz zur Ästhetik des Renderings stehen und den Vergleich kaum bestehen können.21 Das Rendering zeigt vom Wasser aus gesehen eine über dem Backsteinkörper des Speicherbaus schwebende, transluzente, im Firstbereich maritim geschwungene gläserne Gebäudehülle mit dahinterliegender, durchscheinender Tragstruktur. Herzog & de Meuron transformieren auf geniale Weise die Darstellung des Hochhauses an der Friedrichstraße von Mies van der Rohe und generieren eine eigenständige Bildikone. Die bildmächtige Visualisierung hat eine zweifache Ausrichtung. Die allgemeine Verständlichkeit durch die Öffentlichkeit wird mittels leicht lesbarer maritimer Metaphern wie Segel- oder Wellenassoziationen erreicht. Gleichzeitig wird über architektonische Referenzen auf das Hochhaus an der Friedrichstraße und das Sydney Opera House auf den akademischen Architekturdiskurs abgezielt. Das Rendering überstrahlt die inhaltliche Diskussion zu architektonisch-strukturellen Fragestellungen des Bauprojekts: Wird die Komplettentkernung bis auf die Außenmauern dem baukulturellen Stellenwert des denkmalwürdigen Kaispeichers gerecht? Was bedeutet es, wenn die ursprüngliche Massivität des Stückgutlagerspeichers in der Folge nur noch als Hülle vorhanden ist? Wie sinnvoll ist eine hybride Mischnutzung aus geräuschempfindlichen Hotel- und Luxuswohnnutzungen und einem öffentlichen Konzertsaal? Wie funktional ist die Erschließung eines Konzertsaales in ca.50 m Höhe über dem öffentlichen Straßenraum? In diesem Kontext sei an Vitruv erinnert: an die utilitas und die distributio. Die Frage ist, verhindern Bilder unbewusst eine angemessene architektonischstrukturelle Ausarbeitung und Entwicklung von Projekten?

Über das Verhältnis von Bild und Architektur

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Resümee Bilder unterliegen immanenten Bildherstellungs- und Kompositionsregeln, die nicht deckungsgleich sind mit den Bedingungen des architektonischen Raums in der physischen Realität. Abstraktes Denken, basierend auf Analyse, Empirie und Intuition, ermöglicht die erforderliche Kausalität von architektonischen Entwürfen, die zu Beginn in ihrer Bildlosigkeit Klischee- und Scheinlösungen der jeweiligen (Bau)Aufgabe vermeiden lassen und das Potenzial haben, dass forschend zu ungewöhnlichen Ansätzen gelangt werden kann. Die omnipräsenten Architekturbilder können die tiefergehende Bearbeitung von Planungsaufgaben blockieren sowie ihren inhaltlichen Diskurs verhindern. Die systembedingt in sich abgeschlossenen Bilder von künftigen Architekturen symbolisieren das Gegenteil der erforderlichen entwicklungsoffenen Lösungsansätze für die komplexen Aufgaben der nachhaltigen und ökologischen Entwicklung der Stadt. Gebautes, mit seiner mittleren Standdauer von über 80 Jahren, kollidiert in seiner Entwicklungsphase zunehmend mit den kurzfristig ausgerichteten Bedingungen des Marketings. Bildbasierte Bauten sind vorrangig Image und eignen sich für das Stadt- oder Produktmarketing, während nachhaltige Lösungen für den gebauten Lebens- und Arbeitsraum architektonisch-strukturelle Lösungen erfordern. Der Kunstwissenschaftler und Philosoph Gottfried Böhm spricht im Zusammenhang der Massenverbreitung von Bildern von der Bildfeindlichkeit der Medienindustrie.22 Im Kontext der digitalen Bildproduktion im Architekturbereich stellt sich die Frage, ob diese, außerhalb der Leuchttürme der Architekturproduktion, Lösungen für die Fragestellungen der Weiterentwicklung der europäischen Stadt unterstützt oder in ihrer Plakativität architektur- und stadtfeindlich wirkt.

1 „Technische Bilder unterscheiden sich von traditio-

über das Rolex Learning Center, ETH Lausanne, 2010.

nellen Bildern dadurch, dass sie nicht auf einem Akt

5 Vitruv: De Architectura Libri decem, Zehn Bücher

der Imagination beruhen, sondern auf der Automatik

über Architektur, Reprint von 1908, Matrix,

eines Apparates.“Aus: Edition Flusser, hg. v. Andreas

Wiesbaden 2004, 23ff.: „Grundlagen der Baukunst“.

Müller-Pohle, European Photography, Berlin 1994ff.,

6 Ebd.

Bd. 03 – Für eine Philosophie der Fotografie, 1983, 13.

7 Mies in Berlin. Die Berliner Jahre 1907 – 1938, hg. v.

2 Hermann Czech: „Architektur ist nicht das Leben. Architektur ist Hintergrund. Alles andere ist nicht

Terence Riley und Barry Bergdoll, Prestel München –

Architektur“, 1971.

Friedrichstraße, Projekt, Berlin-Mitte 1921.

London – New York 2001, 180 –182, Hochhaus an der

3 Czech im Gespräch mit Romana Ring: „Weil im

8 Gian Paolo Semino: Karl Friedrich Schinkel, Artemis,

Grunde alles Umbau ist“, in: Die Presse, Spectrum,

Zürich – München – London 1993, 76 – 77, Perspektive

5. 11. 2016.

von der Spree aus 1823.

4 If Buildings Could Talk, 3D-Dokumentarkurzfilm

9 Karl Friedrich Schinkel. Sein Wirken als Architekt,

132

UMBAU 30

Ulrich Huhs

hg. v. Bauakademie der Wissenschaften der DDR, Insti-

1.332 m² BGF Gastronomie; 3.631 m² BGF Kongress +

tut für Städtebau und Architektur, VEB Verlag für Bau-

Gastronomie; 22.736 m² BGF Parkhaus; 27.699 m² BGF

wesen, Berlin 1981, 98, Blick in die obere Vorhalle 1823.

NF Mischnutzung.

10 Podiumsdiskussion 1992, Leitung Architektur-

21 Architekturfotografie in Konkurrenz zur Ästhetik

theoretiker Fritz Neumeyer: Hochhaus am Bahnhof

und Eleganz digitaler Bilder, die eine weißliche Immate-

Friedrichstraße Berlin 1921 /22 – Berlin 1992.

rialität in der Darstellung zeigen können, die realen

11 Mies in Berlin, 307, Abb. 326 (wie Anm. 7), Blick

Materialreflexionen nicht entsprechen: Gebäudehüllen

aus dem Innenraum.

aus Glas werden gefaded, reflexionsarm und transpa-

12 Visionen und Utopien, Architekturzeichnungen aus

rent gezeigt statt real reflektierend kompakt.

dem Museum of Modern Art, Prestel, München u.a.

22 Gottfried Böhm, Kunsthistoriker und Philosoph:

2003, 90 –91.

„Die Bilderfeindlichkeit der Medienindustrie ist unge-

13 Ausstellung 26.1. – 24.3.1991. Das DAM hat eine

brochen, nicht weil sie Bilder verböte oder verhinderte,

Reihe namhafter Architekten aus aller Welt eingeladen,

im Gegenteil: weil sie eine Bilderflut in Gang setzt,

sowohl Vorschläge für eine neue städtebauliche Gesamt-

deren Grundtendenz auf Suggestion zielt, auf bildlichen

perspektive für den Stadtbereich zwischen Branden-

Realitätsersatz, zu dessen Kriterien von jeher gehörte,

burger Tor und Alexanderplatz in Berlin zu erarbeiten,

die Grenzen der eigenen Bildlichkeit zu verschleiern.“

als auch exemplarische architektonische Lösungen für

(1995) Quelle: wikipedia.

konkrete Einzelfälle in diesem Bereich zu finden. 14 Editorial, „Herzog & de Meuron, 1983 –1993“, in: El Croquis 60, Barcelona – Madrid 1995, 10. Berlin Zentrum Tiergarten 1990, 149. Cultural Center Blois, France, 1991. 15 Ebd. 16 Mies in Berlin, 193, Abb. 64 (wie Anm. 7), perspektivische Ansicht. 17 Yehuda E. Safran: „Das Nest. Nationalstadion von Herzog & de Meuron und Ove Arup in Peking“, in: werk, bauen + wohnen 7 – 8 / 2008, 4 (Bejing et cetera). 18 Die Kunsthistorikerin Jana Marko und der Immobilienprojektentwickler Architekt Alexander Gérard wurden 2004 aus ihren Verträgen herausgekauft und unterschrieben eine Übertragungsvereinbarung mit der Stadt Hamburg. 19 Kaispeicher A, genannt Kallmorgen-Speicher, Stückgutlagerspeicher der HHLA, Hamburger Hafenund Lagerhaus Aktiengesellschaft, Architekt Werner Kallmorgen, 1961 –1963. 20 Elbphilharmonie Hamburg, 2001– 2016 von Herzog & de Meuron, Basel: 2 Konzertsäle; Musikvermittlungsbereich; öffentliche Plaza; Hotel mit 244 Zimmern, 45 Luxuseigentumswohnungen. 30.121 m² BGF Konzert; 3.100 m² BGF öffentliche Plaza; 33.212 m² BGF NF öffentlich; 27.000 m² BGF Hotel; 12.801 m² BGF

Eigentumswohnungen; 39.801 m² BGF NF privat; Über das Verhältnis von Bild und Architektur

133

Petra Lohmann

Architektur und Wissenschaft I. Architektur ist ein hochdifferenzierter Gegenstand, der sich vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nur schwer fassen lässt. Doch wird gerade ein solches Ansinnen von der Politik seit „Bologna“ – Evaluierungsprozesse sowie die Forderung nach mehr Promotionen – auch an die Lehrenden in der Architektur mit großem Nachdruck herangetragen. Neben diesen wissenschaftspolitischen Motiven gibt es auch gute kulturwissenschaftliche Gründe für eine Befragung der Architektur als Wissenschaft. Während noch in den 1980er Jahren Malerei, Literatur und Musik die Künste dominierten, avancierte in den 1990er Jahren die Architektur zum kulturellen Leitmedium. Der spatial turn1 war die Folge und der Forschungsdiskurs zur Architektur stieg ab dieser Zeit sprunghaft an.2 Nicht selten zielten schwergewichtige Publikationsprojekte darauf, die Wissenschaftlichkeit von Architektur mittels eines theoretischen Überbaus in Hinblick auf zum Teil spezielle Fragestellungen wie zu Tektonik, zu künstlicher Intelligenz oder zur Wahrnehmung und vieles anderes mehr zu befördern. Demgegenüber ist das Ansinnen dieses Beitrags allgemeiner ausgerichtet. Es zielt auf eine Skizze der Kritik der Voraussetzungen und Problemstellungen, hinsichtlich derer man eine Bestimmung der Architektur als Wissenschaft in Bezug auf ihre Möglichkeiten und Grenzen überhaupt erst angehen könnte. Denn ein Blick auf den genannten Diskurs zeigt mit Hans Friesen, dass dieses Ansinnen noch lange nicht zu Ende gedacht ist.3 Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass man Martin Trautz zufolge das künstlerische Entwerfen von Gebäuden „im Widerspruch zu[r...] wissenschaftlichen Methodik sieht“. Dem entspricht auch, dass man „Bauwerke“, städtebauliche Projekte und Landschaftsarchitekturen „nicht selten“ als ästhetische Objekte wahrnimmt und „bewertet“, weil man sie als solche vermittelt bekommt. Doch anders als Objekte der schönen Künste haben architektonische Objekte notwendig einen „Zweck“, das heißt eine konkrete „Nutzung“ und sind demzufolge „räumlich, strukturell“ und vor allem auch pragmatisch mittels „technisch-konstruktiver Methoden“ nach allgemeingültigen „Normen“ konzipiert. Nicht zuletzt deswegen ist die Architektur Teil des Bildungskanons der „ältesten Disziplinen an technischen Hochschulen in Lehre und Forschung“. Sich deshalb kurzerhand die Wissenschaftstheorie der „Technikwissenschaften“4 zum Vorbild zu nehmen, um die Architektur als Wissenschaft zu bestimmen, greift jedoch aufgrund des künstlerischen Anteils der Architektur zu kurz, zumal dieser selbst noch in Fragen der Disziplinreinheit klärungsbedürftig ist. Es bietet sich daher an, das fragmentarisch umrissene Desiderat einer definitio und destinatio der Architektur mit grundsätzlichen Fragen nach Umfang, Form, Inhalt, Methoden, Leitgedanken und Zielsetzungen anzugehen, um aus diesen konstitutiven Rahmenbedingungen einer jeden Wissenschaft zukünftige Anforderungen einer Wissenschaft der Architektur ableiten zu können.5 Vor diesem Horizont werden vier Punkte 134

UMBAU 30

Petra Lohmann

skizziert: der innerdisziplinäre Dualismus von Architekturtheorie und Architekturpraxis, der Bereich der Differenzen und Analogien zwischen den Disziplinen Architektur und Kunst, der inhaltliche und methodische Bezugsrahmen der Architektur sowie der Bereich ihrer interdisziplinären Verbindungen. II. Jede Wissenschaft gliedert sich in einen Teil, der sich genetischspekulativ auf die Geschichte und auf die intellektuellen Biografien ihrer Vertreter bezieht sowie ihre Leitbegriffe, Teildisziplinen und Theoreme umfasst, und in einen praktisch-propädeutischen Teil, der auf ein Regelwerk der praktischen Anwendbarkeit und der dafür vorauszusetzenden Fertigkeiten sowie der didaktischen Vermittlung gerichtet ist. Werner Oechslin hat sich dieser bei Vitruv 6 grundgelegten Differenz für die Architektur mit Hilfe von Cesare Ripas Iconologia7 angenähert: Auf dem Kopf der Theorie der Architektur weist ein in die Höhe gerichteter Zirkel in die Sphäre der Ideen. Die Praxis der Architektur hingegen setzt den Zirkel auf dem Boden, das heißt in der Erfahrungswelt an. Für Vitruv bilden beide Wirkungsbereiche keinen strikten Gegensatz, vielmehr deutet er ihr Verhältnis korrelativ: „die vordringliche Aufgabe der Theorie […besteht] im Erklären und Begründen der praktischen Vorgänge, die zur Formgebung führen“.8 Insofern produzieren jene, die ohne Theorie hauptsächlich praktisch-mechanisch arbeiten, ein bloßes Regelwerk, während die, die meinen, mit Theorie ausschließlich ihr Ziel erreichen zu können, sich in leerer Selbstbezüglichkeit verlieren.9 Mit Vitruv lässt sich zudem dem Einwand begegnen, Architektur sei gar keine Wissenschaft, sondern Kunst und Wissen schränke die schöpferische Spontaneität ein. Die Haltung des Künstlers sei daher vielmehr die, sich von allem Praktischen zu befreien, um sich dann ohne jegliche Rückbindung an die Notwendigkeiten des Lebens der Einbildungskraft zu überlassen.10 Für den Geniekünstler mag das zutreffen. Doch in seinem Begriff liegt die Ausnahme und so kann man berechtigt die Frage stellen, ob diese Haltung der Selbstaufklärung der Architektur insgesamt förderlich sei. Ferner, führt nicht erst das Wissen um die praktischen Voraussetzungen einer Profession und um die ideellen Begründungsmomente ihrer Motive dazu, sich über das bloße Einhalten von erlernten Regeln frei zu erheben und damit zu einer wahrhaften Selbständigkeit der ästhetischen Urteilskraft zu gelangen? Ziel wäre das Gelingen der „Junktur“, wie sie Werner Oechslin zufolge bei Karl Bötticher beispielhaft dargelegt ist als diejenige, die „im Conflikte“ dieser theoretisch-praktischen Architektur und Wissenschaft

135

„In der Kunst muß der Gedanke immer auf Verwirklichung gerichtet seyn, und in der Darstellung die Critik [d.h. die Urteilskraft] heraustreten, die dem schöpferischen Geiste nothwendig bei wohnen muß.“ Karl Friedrich Schinkel

136

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Petra Lohmann

„Funkzionen“ „liegt“ und sie so „vermittelt“, dass die ästhetische Darstellung einer Idee im Werk mit diesem selbst einen „lebendige[n] Organismus“ bildet.11 Ein vorbildhaftes Regulativ dafür hat Werner Oechslin zufolge Karl Friedrich Schinkel formuliert: „In der Kunst muß der Gedanke immer auf Verwirklichung gerichtet seyn, und in der Darstellung die Critik [d.h. die Urteilskraft] heraustreten, die dem schöpferischen Geiste nothwendig bei wohnen muß.“12 III. Das daraus ableitbare Verständnis der Architektur als „Lebensmittel“13 einer gelungenen Existenz14 hat zwar den Status einer communis opinio, dennoch droht ihm eine unter dem Stichwort „Bilbao-Effekt“ fassbare Gefahr, die für das Artifizielle als Selbstzweck der Architektur im Sinne einer l’art pour l’art steht,15 für die die lebensweltlich existenziellen Bestimmungen der Architektur eher marginal sind. Christian Norberg-Schulz verbindet mit der Kritik an dem Aufgeben der Disziplinreinheit von Architektur zugunsten von Kunst deshalb den Wunsch, „dass die neue Architektur keinem l’art pour l’artWunschbild entspringt, sondern dem Streben idealistisch gesinnter Persönlichkeiten, die Umwelt des Menschen zu verbessern“.16 Damit ist keine grundsätzliche Kritik an der Avantgardearchitektur gemeint, aber die Avantgarde, die laut Werner Spies an der „Abschaffung von Gewissheiten“17 arbeitet und damit den Rezipienten in den Zustand des Zweifels setzt, wirkt sich in den Künsten anders als in der Architektur aus. Sie ist qua Definition ein auf den Einzelfall bezogenes Prinzip und der ästhetische Zustand in der Kunst ist mehr oder weniger eine Momentaufnahme in der Rezeption, die sich aus der Distanz zum Leben ergibt. In der Architektur hingegen ist er das ganze unmittelbare Leben in seiner vollen Dauer selbst, wie es bei Aldo van Eyck heißt.18 Architektur muss daher eher bejahend als problematisierend und kann kein rein selbstzweckhaftes ästhetisches Objekt sein.19 Leugnet man dies und verliert den Menschen mit seinen anthropologischen Bedürfnissen zugunsten der Lebenswelt gegenüber gleichgültigen individualistisch-ästhetischen Impulsen aus dem Blick, wird man – Martin Mosebach zufolge – „anerkennen müssen, dass die vollkommene Freiheit uns auf eine Probe stellt, auf die wir nicht vorbereitet sind und für die wir wahrscheinlich noch lange nicht gerüstet sein werden: Schönheit unserer Willkür abverlangen zu müssen“.20 Wir werden uns, wie Kenneth Frampton bemerkt, „narzisstisch“ der Suche nach dem Absolut-Neuen verpflichten und „die Architektur auf wenige bildstarke Momente reduzieren“21 und dabei – Tom Schoper zufolge – übersehen, dass die „Allgegenwärtigkeit“ eines kurzlebigen „Avantgarde-Strebens“22 dessen Innovationskraft ins Leere laufen lässt und die Rezipienten gerade in der jüngeren Vergangenheit zunehmend veranlasst, sich dem anderen Extrem, der Rekonstruktion, zuzuwenden, die ihrerseits jedoch ebenfalls an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht. Denn auch die Rekonstruktion hat keine erfüllte „Jetztzeit“, keine „Identität“.23 Um Architektur zu verstehen und richtig zu gebrauchen, muss der Rezipient sie in ihrer funktional-ästhetischen Präsenz und „Weltzugehörigkeit“ „lesen“ können, wie es bei Arthur C. Danto heißt,24 und das stellt an ihn andere Herausforderungen als das „Lesen“ eines reinen Kunstwerks. Architektur und Wissenschaft

137

Laut Hans-Georg Gadamer ist für ein gelungenes Architekturverständnis körperlichgeistiges „Wiedererkennen“25 nötig, das überzeitlichen, allgemeingültigen existenziellen Bedingungen gerecht wird – eine Voraussetzung, die auch in der Kritik von Martin Mosebach und Kenneth Frampton durchscheint. IV. „Architektonische Qualität“ fasst infolgedessen mehr als bloß „künstlerische“ Aspekte unter sich. Sie manifestiert sich nach Georg Franck vielmehr als „umfassende […] Motiviertheit“, die sich in „einem Corpus organisierten Wissens“ niederschlägt, das sich aus Kunst-, Natur-, Geistes-, Ingenieurwissenschaften, Medizin u.v.a.m. zusammensetzt und sowohl die „physischen“ und „psychischen“ als auch die ästhetischen „Bedürfnisse“26 des Menschen zu berücksichtigen hat. Diesen hochkomplexen Grundcharakter von Architektur hat Jörg R. Noennig als „komplementär[e]“ Wissensform, d.i. als „technoepistéme“ bestimmt. Während im aristotelischen Sinne epistéme das von der bloßen Sinneswahrnehmung unterschiedene Wissen um die Realität der Objekte der Erfahrung und ihrer Beziehung zueinander meint, ist téchne darauf aufbauend ein poietisches Vermögen, mit dem die erkannten Erfahrungsobjekte nach Ideen geordnet werden. Aufgrund dieser ihr eigentümlichen epistemologisch ästhetisch-dynamischen Verfasstheit erscheint Architektur als hochkomplexer Handlungsapparat, durch den kontinuierlich neue Strukturen der Realität erzeugt werden. Dafür muss der Architekt u.a. mit der Überschneidung divergierender Weltanschauungen und der damit verbundenen Konkurrenz der entsprechenden Explikationsansätze umgehen und sich in die dazu zum Teil völlig disparaten Anforderungen mannigfaltiger Disziplinen eindenken können. Während die Praxis der Wissensform Architektur schon immer durch das Bauen selbst und im Atelier ein hohes Maß an Fertigkeiten im Umgang mit komplexen Gegenstandsbereichen entwickelt hat, ohne jedoch das Wie dieser Fertigkeiten verbal zu formulieren, stellt sich hinsichtlich der Theorie dieser Wissensform die Frage, ob sie, die ja kraft ihrer eigenen Disziplin eine Metaperspektive zur Wissensform der Architektur einnimmt, Instanzen für eine mögliche Selbstvergewisserung von Architektur als komplexe Wissenschaft liefern kann. Ansätze dazu bieten Jörg R. Nönnig zufolge „semiotisch-ikonografische […]“ oder „strukturfunktionale […]“27 Architekturtheorien, die ihrerseits jedoch größtenteils akademisch-selbstreferenziell und damit einseitig geprägt sind, weil sie die lebensweltliche Praxis von Architektur ausschließen. Für die Reflexion der Einheit von Theorie und 138

UMBAU 30

Petra Lohmann

Praxis der Architektur in Bezug auf deren Komplexitätsanforderungen scheint die Systemtheorie nach Niklas Luhmann geeignet. Diese erfasst von einem universalistischen Ausgangspunkt sämtliche Bereiche der Gesellschaft. Dafür wird eine Vielzahl von Systemen angenommen – Architektur wäre auch ein solches System –, die alle durch gleiche Strukturen bestimmt sind. Dazu gehören neben Kommunikation, die Differenz von System und Umwelt, die Autopoiesis des Systems sowie „Auflöse- und Rekombinationsvermögen“28, mittels denen die Grenze zur Umwelt, das heißt zu allem was das jeweilige System nicht ist, gezogen wird und das System qua Negation zunehmend eindeutiger hinsichtlich seiner Komplexitätsanforderungen bestimmbar wird.29 Von einem solchen systemtheoretischen Ansatz dürfte sich eine Theorie der Theorie einer möglichen Wissenschaft der Architektur30 ableiten lassen, mit der sich folgende Fragen angehen ließen: Welches sind die charakteristischen Merkmale wissenschaftlicher Erkenntnis in der Architektur? Worin besteht der Gewinn wissenschaftlicher Erkenntnis in der Architektur und durch welche Regeln, Instrumente und Strategien kann er realisiert werden? Wie ist für die Architektur Fortgang in der Wissenschaft zu bestimmen? Welche Teildisziplinen hat die Architektur und welchen Theoriestatus haben sie jeweils? Ist die Wissenschaft der Architektur ein spekulativer Weg der Erkenntnis oder entwickelt sie wissenschaftliche Erkenntnis eher pragmatisch und empirisch oder gilt beides? Und schlussendlich: Wie hoch ist der Einfluss ethischer und ästhetischer Aspekte auf ihre Wahrheitsfindung?31 V. In der jüngsten Zeit hat sich in der Architekturtheorie eine große und zum Teil disparate Vielfalt an Motiven entwickelt, die von historisch-kritischen Ambitionen der Fortführung einer Theorie der Architekturtheorie über die Theorien der Moderne und der Kritischen Architekturtheorie bis hin zu gegenwärtigen Ambitionen reicht, nämlich die Architekturtheorie in einen philosophischen Diskurs zu bringen und von einer neuen wissenschaftlichen Disziplin der Architekturphilosophie zu sprechen. Tatsächlich haben seit der Antike fruchtbare Einflüsse der Philosophie auf die Architektur stattgefunden, und es erscheint sinnvoll, die an sich sokratisch gedachte zweckfreie Philosophie als Wissenschaft vom Wissen auf formale Vorgaben der Konstitution einer Wissenschaft überhaupt hin zu befragen,32 doch muss man unterscheiden zwischen der Architekturtheorie, der es Jörg H. Gleiter zufolge um das „praktische Gemachtwerden und Gemachtsein“ geht, das heißt um die „Wirklichkeit[sbedingungen]“ der Architektur als einer „praktischen Ästhetik“ 33, oder wie Alban Janson es formuliert, der in diesem Zusammenhang im Rückgriff auf Charles Sanders Peirce’ Begriff der Abduktion auch von der Architekturtheorie im Sinne einer „konkreten Theorie“34 spricht und von Philosophie, die sich der Tektonik der Architektur erkenntnistheoretisch bedient und die Architektur häufig zwar Architektur und Wissenschaft

139

relativ abstrakt in ihren metatheoretischen Denksystemen erörtert, wovon sich Architekten aber dennoch oftmals haben beeinflussen lassen. Vor diesem Horizont ist der Weg der Architekturtheorie zur Philosophie zwar konsequent und steht auch zurecht in der Tendenz der Scientometrie Derek de Solla Price’, für den das 20. Jahrhundert das Jahrhundert des exponentiellen Wissenschaftswachstums ist;35 trotzdem ist es meines Erachtens zu früh, um von einer neuen Disziplin der „Architekturphilosophie“36 zu sprechen, wären dafür doch allererst noch zu klärende formale Rahmenbedingungen und Abgrenzungsmomente von anderen Disziplinen abzustecken, wie zum Beispiel – Rolf Stichweh zufolge – ein stabiler Diskurs, ein von den Diskursteilnehmern anerkanntes Basiswissen und eine Kombination von Leitfragen, Methoden und beispielhaften Lösungsansätzen sowie die Institutionalisierung dieses bestimmten Wissens als Wissenschaft und der Nachweis der Praxis.37 Zudem ergeben sich durch das Anvisieren neuer Disziplinen, die nicht in diesen Hinsichten abgesichert sind, Nachteile für die vorhergehenden Disziplinen wie die der Architekturtheorie und der Philosophie, die durch die „Binnendifferenzierung“ und die „Bildung von Spezialgebieten innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin“ entstehen. So kann beispielsweise „die Kommunikation zwischen den Subdisziplinen“problematisch werden und die Wissenschaft mit der Auflösung „in Partialperspektiven zudem unfähig, auf komplexe außerwissenschaftliche Probleme zu reagieren. Sie bedarf daher [vielmehr] integrativer Mechanismen“ wie der „Interdisziplinarität“38 und keiner neuen Disziplin. Ferner besteht mit Boris Podrecca die Gefahr einer „Metasprache“ eines „paraphilosophischen Netzes“, das den praktischen Auswirkungen der Architektur nicht gerecht wird, denn die Gefahr des abstrakten „Über“ und der Verlust eines „Innerhalb“ 39 ist zu groß und verhindert die Selbstverständigung der Architekturtheorie als einer „Theorie der Theorie“ 40, wie es bei Eduard Führ heißt. Es ist daher sinnvoll, bei Architektur und Philosophie zu bleiben und mit Kenneth Frampton darauf zu bestehen: „Ich finde, Philosophie sollte zu einem Pflichtfach an jeder Architekturfakultät werden.“ 41 VI. Zusammenfassend lässt sich mit Martin Trautz festhalten, dass „Architektur als Wissenschaft […] gleichbedeutend mit Forschung in und zwischen Artefakten und auf den Menschen bezogenen Systemen mit multidisziplinärem Charakter“42 ist. Die wissenschaftliche Relevanz der Architektur besteht in Folgendem: Architektur ist demnach nicht nur eine Wissenschaft, der der Wert der Vielheit zukommt, sondern sich über die metatheoretischen Voraussetzungen der eigenen Disziplin als Wissenschaft zu verständigen, bedeutet hier auf Grund der mannigfaltigen Teilhabe der Architektur an den notwendigen Bestimmungsstücken menschlichen Lebens, wie etwa Umwelt und Mitwelt, für den Architekten mehr als für andere Professionen, sich über sein eigenes Tun nicht nur im Feld universitären Wissens, sondern im Feld des ganzen Lebens überhaupt zu vergewissern. Denn Architektur ist nicht nur ein Konstituens menschlichen Daseins, sondern sie bestimmt wie kaum 140

UMBAU 30

Petra Lohmann

Architektur hingegen rückt mit ihrem enzyklopädischen Umfang allerdings so nah wie kaum eine andere Wissenschaft an das, was man als Universalwissenschaft bezeichnet, weil sie auf die Gesamtheit der Lebenswelt des Menschen gerichtet ist.

Architektur und Wissenschaft

141

ein anderes Medium die menschliche Lebenswelt kontinuierlich unmittelbar und präbewusst. Durch dieses immense Wirkungsfeld unterscheidet sich die Wissenschaft der Architektur von vielen anderen Wissenschaften, die in ausgeprägterem Maße Sonderwissenschaften sind, weil sie sich lediglich auf einen Teilausschnitt des Wirklichen beschränken und innerhalb dieses Bereichs, also relativ, ihre letzten Gründe erforschen. Architektur hingegen rückt mit ihrem enzyklopädischen Umfang allerdings so nah wie kaum eine andere Wissenschaft an das, was man als Universalwissenschaft 43 bezeichnet, weil sie auf die Gesamtheit der Lebenswelt des Menschen gerichtet ist. Damit steht sie in hierarchischer Nähe zur Philosophie, die man traditionell als Universalwissenschaft bezeichnet und der es von jeher zukam, zu den letzten Gründen alles Wirklichen überhaupt oder zu den absolut letzten Gründen vorzudringen.

142

UMBAU 30

Petra Lohmann

1 Jörg Döring: Spatial Turn. Das Raumparadigma in

eines Begriffs, Frankfurt /M 2005, 124 –143.

den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008.

16 Christian Norberg-Schulz: Genius loci, Towards a

2 Kenneth Frampton: Grundlagen der Architektur.

Phenomenology of Architecture, New York 1980, 17.

Studien zur Kultur des Tektonischen, München 1993;

17 Werner Spies: „Die Moderne. 1930 –1940“, in: Art.

Derrick de Kerckhove: Die Architektur der Intelligenz –

Das Kunst-Magazin 7 /2009, 78 – 83: 80; Peter Bürger:

Wie die Vernetzung der Welt unsere Wahrnehmung

Theorie der Avantgarde, Frankfurt /M 1974.

verändert, Basel 2001; Steven Holl / Juhani Pallasmaa /

18 Lianne Lefaivre / Alexander Tzonis: Aldo van Eyck,

Alberto Perez-Gomez: Questions of Perception: Pheno-

Humanist Rebel, Rotterdam 1999.

menology of Architecture, Richmond, CA 2006;

19 Vgl. Tom Schoper: Zur Identität von Architektur.

Ákos Moravánszky / Ole W. Fischer: Precisions – Archi-

Vier zentrale Konzeptionen architektonischer

tektur zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2008.

Gestaltung, Bielefeld 2010, 16.

3 Hans Friesen: http://www.tu-cottbus.de/theorieder-

20 Martin Mosebach: „Und wir nennen diesen Schrott

architektur/Lehrstuhl/deu/lehre/SS06/210341.pdf

auch noch schön“, in: FAZ, 28.06.2016.

[04.10. 2016].

21 „‚Ich mag keine Vereinfacher‘. Ein Interview mit

4 Martin Trautz: Architektur und Wissenschaft,

Kenneth Frampton“, in: BauNetz, 11.11.2016,

RWTH Aachen, 1/ 2012, 6 –7.

vgl. https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-

5 Vgl. Artikel „Wissenschaft“ in: Historisches Wörter-

Ein_Interview_mit_Kenneth_Frampton_4905799.html

buch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter / Karlfried

[19.07.2017].

Gründer, Bd. 12, Basel 2005, 902 –951.

22 Schoper 2010, 15 (wie Anm. 19).

6 Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, übers. und

23 Vgl. Jörg Gleiter: „Infizierung der Geschichte. Iden-

mit Anm. versehen von Curt Fensterbusch, Darmstadt

titätskonstruktion und Geschichtlichkeit der Architektur,

1991, I. Buch.

in: der architekt 5/ 2009. Hier zitiert nach

7 Cesare Ripa: Iconologia Overo Descrittione Di

http://www.architekturtheorie.tu-berlin.de/fileadmin/fg

Diverse Imagini cauate dall’antichità, & di propria

274/Fachgebiet/Joerg_H._Gleiter/Gleiter.Infizierung.pdf

inuentione, Rom 1603. Vgl. http://www.arthistoricum.

[18.04.2018].

net/themen/portale/gkg/quellen/ripa/ [03.09.2016].

24 Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen.

8 Werner Oechslin: „Welche Theorie?“, in: der architekt,

Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt /M 1984, 37.

Berlin, (1/ 2013), 10 –11.

25 Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 8

9 Vitruv, I, 1,2 (wie Anm. 6).

„Ästhetik und Poetik“, Tübingen 1993, 1 –9, 161, 216.

10 Oechslin 2013, 11 (wie Anm. 8).

26 Georg Franck: „Die Architektur: eine Wissenschaft?

11 Karl Bötticher: Entwickelung der Formen der Helle-

Architekturtheorie heute“, in: der architekt 1/2009,

nischen Tektonik, Wien 1840, §1, Pkt. 3.

28–35: 29.

12 In: Alfred Freiherr von Wolzogen: Aus Schinkels

27 Jürgen Nönnig: „Languaging Complexity – Archi-

Nachlaß. Reisetagebücher, Briefe und Aphorismen,

tektur als Wissensform. Techno-episteme / Languaging

Berlin 1862 – 64, Bd. 3, 345f.

Complexity – Architecture as a Form of Knowledge.

13 Gleichnamiger Titel des 17. BDA-Gesprächs am

Techno-episteme, in: GAM 02 (Design Science in Archi-

1.12.2012 im Deutschen Architektur Zentrum Berlin.

tecture), 126 –147: 128, 129.

Vgl.: Andreas Denk: „Architektur als Lebensmittel“,

28 Georg Kneer /Armin Nahassi: Niklas Luhmanns

in: der architekt 1/2013, siehe auch http://derarchi-

Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, München

tektbda.de/architektur-als-lebensmittel/ [18.04.2018].

1993, 9.

14 Martin Düchs: Architektur für ein gutes Leben:

29 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß

Über Verantwortung, Ethik und Moral des Architekten,

einer allgemeinen Theorie, Frankfurt / M 1984 u.

Münster 2011.

Stephan Trüby: „Bau mir ein Haus aus den Knochen

15 Wolfgang Ullrich: Was war Kunst? Biographien

von Niklas Luhmann“, in: ARCH+ (205), vgl.

Architektur und Wissenschaft

143

http://www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,3763,1,

40 Eduard Führ: „Selbstbewusste Umsicht. Architektur-

0.html [19.07.2017].

theorie und Wissenschaft I“, in: der architekt 1/2009,

30 Helmut Seifert: Einführung in die Wissenschafts-

46 – 48: 46.

theorie, Bd. 3 (Handlungstheorie, Modallogik, Ethik,

41 Frampton 2016 (wie Anm. 2).

Systemtheorie), München 2001: „Autopoiesis“.

42 Trautz 2012 (wie Anm. 4).

31 Vgl. die Pkte. 1–6 des Artikels „Wissenschaftstheorie“,

43 Gerd de Bruyn: Die enzyklopädische Architektur:

in: https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaftstheorie

Zur Reformulierung einer Universalwissenschaft,

[30.07. 2017].

Bielefeld 2008. Zu Weisen der Bestimmung der Philoso-

32 Vgl. Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen.

phie als Universalwissenschaft vgl. den Artikel „Philo-

Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München /

sophie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie,

Zürich 1994, 19.

570 – 911 (wie Anm. 5).

33 Gleiter 2009, 41 (wie Anm. 23). 34 Alban Janson: „Konkrete Theorie Architekturtheorie und Wissenschaft“, in: der architekt 1 /2009, 49 –51: 49, 50. 35 Vgl. Derek de Solla Price: Little Science, Big Science, New York 1963. 36 Christoph Baumberger: Architekturphilosophie. Grundlagentexte, Münster 2013. 37 Rudolf Stichweh (Hg.): Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt /M 1994. Vgl. auch Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Berlin / Heidelberg /New York 1973; Thomas S. Kuhn: Die Entstehung des Neuen, Frankfurt /M 1978, 169 –193, 389 – 420; Ludwig Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Basel 1935; Martin Guntau: Zur Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen in der Geschichte (Thesen) (Rostocker Wissenschaftshistorische Manuskripte 1), Rostock 1978, 11 – 24; Imre Lakatos: „Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen“, in: Ders. /Alan Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974, 271 – 311. 38 Vgl. Dagmar Simon: Was macht ein Fach zu einer wissenschaftlichen Disziplin? Welches sind die Kriterien? Vgl. https://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wieso/artikel/beitrag/was-macht-ein-fach-zu-einerwissenschaftlichen-disziplin-welches-sind-die-kriterien/ [26.08.2016]. 39 Boris Podrecca: „Theorie lateral. Architekturtheorie und Philosophie II“, in: der architekt 1/ 2009, 42 – 45: 43ff.

144 UMBAU 30

Petra Lohmann

146

UMBAU 30

Titel Autor Vass Andreas

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher. Zuletzt (2012 –

Ulrich Huhs

2015) Gastprofessur an der Bauhaus-Universität

Architekt, univ. Lektor, Studium RWTH Aachen und

Weimar. Langjährige Lehrtätigkeit an der Universität

HdK Berlin, Studien der Geschichte HU Berlin, Büro-

Wien und anderen österreichischen und europäischen

gründung 2005, seit 2010 Lehrauftrag TU Wien,

Hochschulen. Vorstand ÖGFA. Mitherausgeber des

seit 2014 Vorstandsmitglied der ÖGFA, Arbeiten in den

UMBAU. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema

Bereichen Wohnungsbau, Bauen im Bestand, Möbel-

Stadt und Architektur. Zuletzt: Projekt Stadt. Eine

entwicklung. Holzbaupreis wienwood 2015.

Geschichte der Urbanität, 2016 bei Birkhäuser.

Albert Kirchengast

Ludger Schwarte

Architekturstudium an der TU Graz; 2008 –2017 wissen-

ist Professor für Philosophie an der Kunstakademie

schaftlicher Mitarbeiter der ETH Zürich (mit Christophe

Düsseldorf mit den Schwerpunkten Ästhetik, politische

Girot Herausgeber der Publikationsreihe „Landscript“).

Philosophie, Kulturphilosophie und Wissenschafts-

2014 Research Fellow an der Harvard University;

geschichte. Nach Promotion (1997) und Habilitation

2017 Promotion. Diverse Lehraufträge und Forschungs-

(2007) in Philosophie an der FU Berlin hatte er eine

aufenthalte. Autor zahlreicher Bücher, Veröffentlich-

Assistenzprofessor an der Uni Basel und eine Professur

ungen in Fachmedien und der NZZ. Derzeit Forschung

für Theorie des Ästhetischen an der ZHdK inne. Publi-

am Kunsthistorischen Institut Florenz, Max-Planck-

kationen u.a. Philosophie der Architektur (2009), Vom

Gesellschaft, zum Habilitationsthema „Evidenz der

Urteilen (2012), Notate für eine künftige Kunst (2016).

Architektur“. Roger Scruton Petra Lohmann

ist Schriftsteller und Philosoph. Senior Fellow am Ethics

ist Professorin für Architekturtheorie an der Universität

and Public Policy Center in Washington und Professor

Siegen. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus,

an der Universität von Buckingham, für die er in London

Transzendentalphilosophie und Ästhetik. Nach Promo-

das MA Programm lehrt. 2010 Gifford Lectures in

tion (2002) und Habilitation (2008) ist sie seit 2013

St. Andrews, 2011 Stanton Lectures an der Divinity

Professorin in Siegen Präsidentin der „Internationalen

School der Universität Cambridge, Fellow der Royal

Gesellschaft für Architektur und Philosophie“ Stell-

Society of Literature sowie der British Academy. Über

vertreterin des Präsidenten der „Internationalen Johann

vierzig Bücher zu den Themen Philosophie, Ästhetik

Gottlieb Fichte Gesellschaft“.

und Politik.

Thomas Macho

Andreas Vass

war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte

Architekturstudium in Wien (TU und Akademie der

an der Humboldt-Universität Berlin. Gegenwärtig leitet

bildenden Künste). Seit 1988 in Zusammenarbeit mit

er das Internationale Forschungszentrum Kulturwis-

Erich Hubmann, Umbauten, Stadträume und Land-

senschaften (IFK) in Wien. Mitglied der Europäischen

schaftsareale. Forschung und Publikationen zu Vorden-

Akademie der Wissenschaften und Künste sowie

kern der Moderne, Denkmalschutz und Landschaft.

Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des

Senior Lecturer an der Akademie der bildenden Künste

Minerva-Center for Interdisciplinary Study of the End

Wien sowie Lehr- und Vortragstätigkeit an zahlreichen

of Life an der Universität Tel Aviv. Letzte Publikation:

europäischen und außereuropäischen Hochschulen, u.a.

Das Leben nehmen: Suizid in der Moderne. 2017

Ferrara, TU Graz und EPF-Lausanne. Gründungsmitglied

Berlin (Suhrkamp).

der IG-Architektur und Vorstandsmitglied der ÖGFA.

Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren

147

Wir danken den Institutionen und

Bildnachweis

Unternehmen Umschlagfoto: © Hertha Hurnaus, Open City of Ritoque – Chile, Alberto Cruz & Escuela de Arquitectura de Valparaiso, 2007; eine Kooperation der ÖGFA mit der ig-architekturfotografie S. 86 / 87: Universitätsbibliothek Heidelberg S. 102 /103, 109, 112 oben: © Andreas Vass S. 112 unten: Gerald Zugmann S. 124 / 125: DIGITAL IMAGE ©(2019) The Museum of Modern Art / Scala, Florence Textquellen „Die Sprache der Architektur“ Übersetzung von Elise Feiersinger und Manfred Russo. Erstveröffentlichung in: Scruton Roger, The Aesthetics of Architecture, Methuen & Co, London 1979

148 UMBAU 30

Dank und Bildnachweis

UMBAU 29 2017

UM BAU 10 1986

Umbau. Theorien zum Bauen im Bestand

vergriffen

UMBAU 28 2016

UM BAU 9 1985

Das Geschäft mit der Stadt

vergriffen

UmBau 27 2014

UM BAU 8 1984

Plenum. Orte der Macht, Sonderausgabe Biennale

vergriffen

Venedig 2014

UM BAU 6|7 1983

UmBau 26 2013

vergriffen

Status Quo Vadis – Die Zukunft der Architektur als

UM BAU 5 1981

Prognose und Programm / A Prospectus on the

vergriffen

Future of Architecture

UM BAU 4 1981

UmBau 25 2010

vergriffen

Architektur im Ausverkauf – Auf dem Weg zu einer

UM BAU 3 1980

Ökonomie des Überflusses /Architecture for Sale –

vergriffen

Towards an Economy of Excess

UM BAU 2 1980

UmBau 24 2009

vergriffen

Strategien der Transparenz – Zwischen Emanzipation

UM BAU 1 1979

und Kontrolle / Strategies of Transparency – Between

vergriffen

Emancipation and Control UmBau 23 2007

Sonderpublikationen

Diffus im Fokus – Haare, Schlamm oder Schmutz

Umsicht 2 1997

zum Beispiel / Focus on Blur – Hair and mud and

Ernst Beneder, Zugänge

dirt, for example

UmSicht 1 1997

UmBau 22 2005

Andreas Fellerer, Jirˇi Vendl

Wettbewerb! / Competition!

UnErhörte Entwürfe

UmBau 21 2004 Lernen von CK / Learning from Calvin Klein

Der UMBAU erscheint seit 1979 als interdisziplinäre

UmBau 20 2003

Zeitschrift, die sich nicht auf die zeichnerische und

Architektur und Gesellschaft / Morality and

bildliche Präsentation von Architektur beschränkt,

Architecture

sondern Hintergründe und Zusammenhänge sichtbar

UmBau 19 2002

machen möchte.

Diagramme, Typen, Algorithmen / Diagrams,

Alle nicht vergriffenen Publikationen sind über das

Types, Algorithms

Sekretariat der ÖGFA zu beziehen. Von den vergriffenen

UmBau 18 2001

Heften sind dort zum Selbstkostenpreis plus Spesen

Im Sog des Neuen / The Call of the New

Fotokopien erhältlich. Weitere Informationen und

vergriffen

Inhalte der Hefte auf unten genannter Webseite unter

UM BAU 17 2000

„Publikationen“.

UM BAU 15 | 16 1997 UM BAU 14 1993

ÖGFA Österreichische Gesellschaft für Architektur

UM BAU 13 1991

1090 Wien, Liechtensteinstraße 46a / 5

UM BAU 12 1990

Telefon (+ 43-1) 319 77 15

vergriffen

Fax (+ 43-1) 319 77 15-9

UM BAU 11 1987

[email protected]

vergriffen

www.oegfa.at

Backlist

149

Herausgeberin

Library of Congress Control Number: 2018937576

ÖGFA Österreichische Gesellschaft für Architektur

Inhaltliches Konzept und Redaktion UMBAU

Bibliografische Information der Deutschen

Der Vorstand der ÖGFA (Elise Feiersinger,

Nationalbibliothek

Gabu Heindl, Ulrich Huhs, Gabriele Kaiser,

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Michael Klein, Christina Linortner, Iris Meder,

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Gabriele Ruff, Manfred Russo, Andreas Vass)

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Redaktionsteam UMBAU 30

www.dnb.dnb.de abrufbar.

Manfred Russo, Andreas Vass Lektorat

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch

Claudia Mazanek, Wien

begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung,

Visuelle Konzeption und Gestaltung

dungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfil-

des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbillenz + büro für visuelle gestaltung, Wien

mung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und

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Mitarbeit: Julia Stauber

auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

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der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätz-

lenz + büro für visuelle gestaltung, Wien

lich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Bildbearbeitung und Lithografie ISBN 978-3-0356-1672-9

Elena Henrich (lenz +), Wien

e-ISBN (PDF) 978-3-0356-1673-6

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