Architektur als soziale Praxis: Akteure zeitgenössischer Baukulturen: Das Beispiel Vorarlberg 9783205789741, 9783205788973

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Architektur als soziale Praxis: Akteure zeitgenössischer Baukulturen: Das Beispiel Vorarlberg
 9783205789741, 9783205788973

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Günther Prechter Architektur als soziale Praxis

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Günther Prechter

Architektur als soziale Praxis Akteure zeitgenössischer Baukulturen: Das Beispiel Vorarlberg

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Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur und des Landes Vorarlberg

Umschlagabbildung: Hans Purin: Entwurfszeichnung für Pfarrhaus und Gemeindesaal der evangelischen Pfarrgemeinde in Bregenz, erbaut 1974/75. Zur Verfügung gestellt von Pfarrer i. R. Hans Jaquemar, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung Bernhard Purins. Reproduktion: Matthias Weissengruber, Bregenz.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: http://dnb.d-nb.de © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggrafik: Michael Haderer, Wien. Typografie und Satz: Günther Prechter, Bregenz. Fonts: New Century Schoolbook und News Gothic (Morris Fuller Benton). Autorenporträt: Frank Mardaus, Augsburg. Druck: Finidr, s.r.o. Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Czech Republic. ISBN 978-3-205-78897-3

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Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 1.1 1.2 1.3

Architektur? Architektur als Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 23 Architektur als Ordnung . . . . . . . . . . . . . . 40 Architektenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

2 2.1 2.2 2.3

Vorarlberg Land und Ländle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Genossenschaftlicher Wohnbau . . . . . . . . . . . 89 Baukünstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

3 3.1 3.2 3.3

Holz Holz als Baustoff . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Holzbau – Massivbau . . . . . . . . . . . . . . . 145 Modernisierung des Holzbaus . . . . . . . . . . 163

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Haus Bauernhaus . . . . . . Landhaus . . . . . . . „Ein anderes Haus“ . . Architektenhaus . . . Gewerblicher Wohnbau

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Dorf Was ist ein Dorf ? . . . . . . . . . . . Strukturen des Gemeinschaftslebens Architektur im Dorf . . . . . . . . . Beratung, Planung, Steuerung . . . .

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Handwerk Holz als Werkstoff . . . . . . . . . . . . . Arbeitsform und Wissensaneignung . . . . Rustikalproduktion im Bregenzerwald . . . Reform des Handwerks: Externe Entwerfer Reform des Handwerks: Serienproduktion . Reform des Handwerks: Möbel und Raum .

. . . . . . . . . . . . . . 185 . . . . . . . . . . . . . . 202 . . . . . . . . . . . . . . 213 . . . . . . . . . . . . . . 231 . . . . . . . . . . . . . . 253

. . . . . . 269 . . . . . . 295 . . . . . . 316 . . . . . . 349

. . . 375 . . . 381 . . . 389 . . . 402 . . . 417 . . . 429

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . 439 Anhang Verzeichnis Interviews . . . . . . . . . . . . . . 449 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 463

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... jede Idee, die sich nicht am Sozialen bricht und dabei verwirren, zerstören oder beglaubigen läßt, gibt es gar nicht. Rainald Goetz: Klage, 2008

Einführung Architektur als soziale Praxis aufzufassen und damit vor unserer baulichen Umwelt mit ihren Fassaden, Baukörpern und Räumen einen Schritt zurückzutreten, richtet unsere Aufmerksamkeit auf den dahinterliegenden Herstellungsvorgang. Vor allem aber rücken hierdurch die Menschen, die diesen ermöglichen, beauftragen, planen und durchführen sowie seine baulichen Ergebnisse als Lebensumgebung benutzen und bewohnen, in den Blick. Diese Studie verknüpft den Vorgang, in dem gebaute Architektur entsteht, ursächlich mit seinem gesellschaftlichen Rahmen und sucht auch die Voraussetzungen und Folgen des Vorgangs wiederum im Gesellschaftlichen. Ausgestattet mit diesem Denkmodell, Gesellschaft als Ursache von Architektur und die Wirkungen von Architektur als gesellschaftliche Effekte zu identifizieren, haben wir die Frage „Was ist Architektur?“ an solche Akteure unseres Forschungsfeldes gerichtet, die am Zustandekommen von Architektur beteiligt sind. Ihre Auskünfte und der diesen zugrundeliegende Wissensbestand bestimmen die im Folgenden verhandelten Themen. Im Gegensatz zu jenem universellen Bedeutungsumfang des Begriffs, der mit Architektur „alles Gebaute“ meint, betrachten wir nur solche Bauwerke als Architektur, denen ein Entwurf professioneller Architekten zugrundeliegt, als Architekten bezeichnen wir nur solche Planer, die ein Architekturstudium durchlaufen haben. Damit übernehmen wir jenes Bestimmungsmodell in den Sprachgebrauch dieser Studie, auf dem auch die professionelle Selbstwahrnehmung der Architekten, ihr Fachdiskurs, die Geschichte und Theorie der Architektur sowie jegliche „Architekturförderung“ gründet. Ohne den Berufsstand der Architekten und außerhalb des durch sie bestimmten Diskurses besitzt das Modell keine Plausibilität. In dieser Feststellung ist ein ebenso unauffälliger wie bedeutsamer Umstand identifiziert, die Existenz einer „Wirklichkeit“ nämlich, die einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, jener der Architekten und ihrem Umfeld, zuzuordnen ist und die außerhalb dieser nicht nur keine Bedeutung, sondern auch keine wahrnehmbare Kontur besitzt.

Architekturbegriff

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8 Beteiligte wissenschaftliche Disziplinen

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Einführung

In der wissenschaftlichen Befassung mit solchen Phänomenen überschneiden sich mehrere Disziplinen. Insofern es sich um ein gesellschaftliches Phänomen handelt, fällt es in die Zuständigkeit der Soziologie, von einem ihrer einflußreichsten Vertreter, Max Weber, auch „Wirklichkeitswissenschaft“ genannt. Auf den Umstand, daß es sich bei einer solchen „Wirklichkeit“ nicht um ein seiendes oder gewordenes, sondern um ein „gesellschaftlich konstruiertes“ Phänomen handelt, richtet die Wissenssoziologie ihr Augenmerk. Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben das für die Gegenwart gültige Theoriewerk dieser Disziplin verfaßt und darin insbesondere Entstehung und Wirkungsweisen solcher „gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeiten“1 aufgezeigt sowie die Konfrontation konfligierender oder einander widersprechender Wirklichkeiten systematisch beschrieben. Die Autoren definieren „Wissen“ als diejenige Fähigkeit, Phänomene als „wirklich“ zu erkennen. Im Sinn einer Erläuterung des unserer Studie zugrundeliegenden Denkmodells ist die Hinwendung zum Wissen, hier dem Architekturwissen, insofern entscheidend, als das Medium Wissen eine gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme an Architektur beobachtbar macht, daß also mittels einer Beobachtung des Mediums Wissen Architektur sich als sozialer, als Kommunikations- und Konstruktionsprozeß beschreiben läßt. Mit ihrer Begriffsbestimmung ordnen Berger und Luckmann Wissen gleichzeitig der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe und ihrer Wirklichkeit als Gültigkeitsraum zu. Indem Wissen also relativ ist, nämlich abhängig von der ihm zugrundeliegenden Wirklichkeitskonstruktion, bedarf es an der Grenze ihres Gültigkeitsraums der Übersetzung. Riklef Rambow hat als Psychologe dasjenige Werk verfaßt, das solche Übersetzungsphänomene auf dem hier interessierenden Feld thematisiert: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur, ein Standardwerk aus dem Jahr 2000, dem die vorliegende Studie einen wesentlichen Impuls zu ihrer Entstehung verdankt. Neben den bisher genannten wissenschaftlichen Werkzeugen, die den Ausdruck der vorliegenden Arbeit geprägt haben, ist es die Kulturwissenschaft, die den thematischen Rahmen ihrer Interpretationen gesetzt hat. Vor allem die Cultural Studies des angelsächsischen Sprachraums mit ihrem Interesse, „die Prozesse zu verstehen, die die Nachkriegskultur seit den Fünfziger Jahren bestimmen: Industrialisierung, Modernisierung, Urbanisierung, der Zerfall gewachsener lokaler Gemeinschaften, ökonomisch induzierte Bewegungen der Migration, die zunehmende Warenförmigkeit kulturellen Lebens“2 haben moderne Kultur in den Fokus kulturwissenschaftlicher Betrachtung gerückt und damit ein Themenfeld, dem auch der Interpretationshorizont der vorliegenden Studie nahesteht. Für das Vorhaben, Architektur zum Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen Analyse zu nehmen, war, zumal in dem hochschulfernen Rahmen, in dem diese Studie entstand, im Zeitraum ihrer Durchführung kein zeitgenössisches Vorbild auszumachen. Die aktuellsten derartigen Veröffentlichungen lagen etwa dreißig Jahre zurück. Indem Architektursoziologie als verbindendes

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Einführung

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Interesse wissenschaftlicher Arbeitskreise und der Forschung ihrer Mitglieder parallel zur Fertigstellung der vorliegenden Studie gegenwärtig erstmals wieder konturiert in Erscheinung tritt3 und auch als Wahrnehmungshintergrund von Architekturpublizistik neuerdings verstärkt aufscheint, darf die vorliegende Studie für sich in Anspruch nehmen, einen Blickwinkel zu repräsentieren, der „in der Luft“ liegt. Dieser Blickwinkel, seine Position und deren Bedingtheit sowie die Methodik seines Einsatzes im Kontext unserer Studie sollen im Folgenden erläutert werden. Seit der Disziplin Architektur im neunzehnten Jahrhundert eine akademische Ausbildung zugrundegelegt und die staatliche Verwaltung ihre Ausübung einem Berufsstand unterstellt hat, gibt es Institutionen, die „Regeln der Baukunst“ als technische Standards und künstlerische Qualitätsvorgaben sowie Referenzen in Form eines Kanons vorbildlicher Werke vermitteln und verwahren. Die Institutionalisierung von Architektur in Hochschulen, berufsständischen Kammern und Architektenverbänden formte Architektur zu demjenigen Medium, als welches sie im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht. Die Rollen, die Architektur als Medium im gesellschaftlichen Diskurs zugeschrieben werden, sind vielfältig und auf unterschiedlichen Ebenen dieses Diskurses angesiedelt. Allen gemeinsam ist, daß sie im direkten Zusammenhang mit Interessen der zuschreibenden Akteure stehen. Der mächtigste unter diesen ist die staatliche Verwaltung, die den berufsständischen Kammern ihre Privilegien verleiht und Architektur als Technik des Ordnens im territorialen Maßstab sowie als Vermittlerin jeweils zeitgemäßer ökonomischer, technologischer und sozialer Standards gegenüber den lokalen Baubehörden, dem Baugewerbe sowie den „Planungsbetroffenen“4 einsetzt. Verantwortlich für die Herausbildung eines Berufsstandes entsprechend vorgebildeter Planungsexperten sind die staatlichen Hochschulen, darunter sowohl solche mit technischem als auch solche mit künstlerischem Schwerpunkt.5 Es ist vor allem der künstlerische Aspekt, die Gestalt der Baukörper und die Physiognomie der Fassaden und nur im Ausnahmefall exponierter Ingenieurbauwerke auch ihre technische Leistungsfähigkeit, der die öffentliche Wahrnehmung von Architektur bestimmt. Indem Architekturhochschulen die technischen und künstlerischen Aspekte von Architektur zu einer kontrollierten Qualität systematisierten, konnte Architektur zum kulturalen Attribut werden, das Bauwerke aus ihrer Umgebung hervorhebt und seine Architekten und Bauherren nobilitiert. Auch nachdem sich die Institutionen der Architektur in den 1920er Jahren als internationale Bewegung neu formiert und die nunmehr „modernen“ architektonischen Werke programmatisch der „Stilfassade“ des Historismus entkleidet hatten, bleibt die Aufspaltung der Bauaufgabe in Zweck und Bedeutung als Grundprinzip architektonischen Denkens aufrecht.6 Architektur haftet dem Bauwerk als Bedeutungsgehalt an, der unabhängig von

Architektur als Institution

Zweck– Bedeutung

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Kultur als Mittel gesellschaftlicher Unterscheidung

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Funktionen und Verwendungsnutzen existiert, die Zweckebene jedoch vermittels Form, Materialwahl und Konstruktion räumlich präfiguriert, vor allem aber visuell „vermittelt“. Wiederum als Folge, sowohl ihrer Institutionalisierung als akademische Kunstform als auch der Modernisierung von Kunst selbst hin zu einer Absolutstellung des Künstlers sowie, damit in Verbindung stehend, einer Entfernung des gegenständlichen Sujets aus seinen Werken, die den individualisierten Schöpfungsakt selbst zum Thema von Kunst werden läßt, ist die ästhetische Vermittlung, die „Schönheit“ des architektonischen Bauwerks, wiewohl öffentlich zur Schau gestellt, nicht als gesellschaftlich neutral im Sinn eines Allgemeinguts zu betrachten. Sowohl die Zeichensprache und ihre Mittel als auch die Position des Schöpfers zu seinem Werk unterliegen den Weichenstellungen, die die Entwicklung von Kunst auf ihrem Weg in die Moderne vollzogen hat.7 Pierre Bourdieu, französischer Soziologe, dessen kultursoziologische Studien den Begriffsraum der vorliegenden Arbeit wesentlich bestimmen, hat diese Modernisierungen von Kunst in ihren gesellschaftlichen Effekten dargestellt. Aus der modernen Disposition von Kunst als gesellschaftlicher Avantgarde stellt Bourdieu fest, daß der Zugang zu Wahrnehmung und Wertschätzung von Kunst wesentlich durch die Sozialisation des Betrachters bestimmt ist.8 Wer als Kind bereits mit jener „Welt“ von Kunst und Hochkultur umgeben war, wird ihre spezifische Form von „Schönheit“ sowohl zum Bestandteil seiner habituellen Orientierung als auch zum Merkmal seines Auftretens und Handelns machen. Wer fern von ihr aufgewachsen ist, bleibt in ebenjener Wirklichkeit, deren Grundlage eine soziale Prägung und deren Zugehörigkeitsmerkmal ein von seinem Träger unbeobachteter Habitus ist, immer Fremder. Diese Analyse der Kulturwahrnehmung wirkt zurück auf die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion, nicht nur von Kunst, sondern jeglicher Kultur. Indem kulturelles Handeln, ebenso wie die Wahrnehmung von Kultur und der dieser zugrundeliegende „Geschmack“, Produkt der Sozialisation des Handelnden oder Rezipienten ist, wirkt Kultur als Mittel gesellschaftlicher Unterscheidung: Die kulturelle Urteilsfähigkeit, der „individuelle“ Begriff von Schönheit, klassifiziert nicht nur den beurteilten Gegenstand, sondern ordnet ebensosehr den Urteilenden einem spezifischen Habitus und mit ihm einer gesellschaftlichen Schicht zu. Indem sich institutionalisierte Architektur als Sparte zeitgenössischer Kunst und damit als „Hochkultur“ positioniert, klassifiziert sie gleichzeitig ihre Schöpfer, die Architekten, ebensosehr wie ihre Auftraggeber, die Bauherren, in gesellschaftlicher Hinsicht. Architektur als soziale Praxis aufzufassen, bedeutet in diesem Sinn, bauliche Ästhetik in ihrem Einsatz als Mittel gesellschaftlicher Positionierung zu beobachten. Architektur markiert eine Differenz in Form von kulturellem Mehrwert, sie scheidet die bauliche Landschaft unmißverständlich in archi-

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tektonische und nichtarchitektonische Territorien. Parallel dazu grenzt sie in der diese Landschaft bewohnenden Gesellschaft solche, die imstande sind, Architektur Wert beizumessen, damit die territorialen Grenzen wahrzunehmen und ihren Verlauf mitzubestimmen, von jenen ab, die es nicht sind. Architektur „ordnet“ Gesellschaft also nicht nur, indem sie mit Räumen gleichzeitig Bahnen für Bewegung und Raum für Begegnung, also Aktivitätsumfelder, formt, die die Formen und Potentiale dieser Aktivitäten präfigurieren. Architektur wirkt durch ihr semantisches Potential, ihre „Schönheit“ darüber hinaus als Mittel gesellschaftlicher Distinktion, das ihrerseits sichtbar wird, sobald Schönheit und ihre Betrachtung, ebenso wie der Abglanz, den sie auf den Betrachter zurückwirft, als Produkte von Erziehung, Bildung und Milieuzugehörigkeit und jene wiederum als gesellschaftliches Kapital identifiziert sind. Auch andere Baukulturen verleihen ihren Werken „Schönheit“. Als solche andere Baukultur neben institutionalisierter Architektur verfügt in den ländlich-agrarischen Gesellschaften, den Talschaften und Dorfgemeinschaften des Forschungsraumes vor allem diejenige des Bauhandwerks über traditionelle Besitzstände. Was Architektur gegenüber handwerklicher Baukultur gesellschaftlich hervorhebt und jene zu „Nichtarchitektur“ herabstuft, ist nicht das Vorhandensein von Schönheit, sondern die Präsenz von legitimierenden und nobilitierenden, also wertverwaltenden Institutionen in dieser. Jene richtigen Referenzen, auf die Architektur in ihrer Schönheit verweist, der legitimierte ebenso wie legitimierende Kanon, erhebt sowohl das Virtuose des Zitierens im Künstlertum als auch jenes der erkennenden Würdigung im Kennertum zu einer gemeinsamen Praxis demonstrativer Teilhabe an der gesellschaftlichen Durchsetzungskraft der dahinterstehenden Institutionen. Der Forschungsansatz der vorliegenden Studie verharrt nicht bei der Feststellung einer Trennung der baulichen Landschaft in Architektur und Nichtarchitektur und ihrer gesellschaftlichen Folgeerscheinungen, sondern interessiert sich ebensosehr für die Beschaffenheit der jeweiligen Qualitäten beiderseits der Trennlinie. „Was ist Architektur?“, unsere Forschungsfrage, die mit einschließt „wodurch entsteht, was bewirkt und wer bewegt Architektur?“, war von Anfang an die Arbeitshypothese unterlegt, daß institutionalisierte Architektur mit dem Habitus, den sie ihren Protagonisten verleiht, deren Schaffen in einer Weise prädisponiert, daß architektonischen Werken ein gemeinsames Idealbild ihrer Bewohnung und Benutzung und darüber hinaus eine Vorstellung von der wiederum habituellen Orientierung ihres Bewohners und Nutzers, kurz gesagt, ein spezifisches Menschenbild, innewohnt. Voraussetzungen einer solchen berufsspezifischen Disposition sind insbesondere in dem historischen Umstand zu finden, daß der Umbauprozeß, dem die Institutionen der Architektur an der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert unterworfen wurden, eine letztlich erfolgreiche

Architektur und Bauhandwerk als konkurrierende Baukulturen

Architektur als Modernisierungsbewegung

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Einführung

internationale Formierung der dem technologischen Fortschritt zugewandten Architektenschaft (sowie weniger erfolgreiche, wenn auch nichtsdestoweniger folgenreiche nationale Formierungen von deren restaurativer Fraktion) hervorgebracht hat. Der Voraussetzung, daß Architektur als Kultur gesellschaftlich nicht neutral sein kann, fügt der Forschungsansatz der vorliegenden Arbeit also eine weitere hinzu, diejenige, daß Architektur, indem sie sich als Moderne Bewegung international formiert hat, ebensowenig wertneutral ist. Diese Studie unternimmt den Versuch, zumindest einige jener Werte zu identifizieren, die Zeitgenössische Architektur aus ihrer Geschichte als Moderne Bewegung heraus vertritt und die ihre Vertreter der programmatischen Ästhetischen Erziehung, mit der sie bis heute ihren gesellschaftlichen Avantgardestatus legitimieren, als Inhalte unterlegen. Architektur und Staat

Eine dritte Ebene einer Prädisposition institutionalisierter Architektur ist erst in der Analyse des Forschungsmaterials sichtbar geworden. Architektur, wie wir sie hier verstehen, ist ohne Staat nicht denkbar (und umgekehrt). Außer Medium von Kultur und Modernisierungsbewegung ist Architektur auch Planung und als Planungsdisziplin vorgeformt. Räumliche Planung jedoch ist für den Akteur Staat ein unabdingbares Instrument territorialen Verwaltens und Regierens. Stärker noch als in Deutschland ist in Österreich die Nähe betont, in die der Berufsstand der Architekten als Ziviltechniker zur staatlichen Verwaltung gesetzt ist. Architektur als soziale Praxis aufzufassen, bietet damit Gelegenheit, institutionalisierte Architektur auch in ihrer Prädisposition als Technik des Verwaltens und Regierens wahrzunehmen. Ein Einsatzfeld für diese Technik des social engineerings bietet der Modernisierungsprozeß des ländlichen Raumes. Hierbei trifft Architektur gerade im Alpenraum auf Sozialstrukturen, die aufgrund ihrer Herkunft aus dem Agrarischen und Handwerklichen, auf der Erfahrung des Selbständig-Eigenhändigen als Überlebensprinzip beruhen. Die daraus kultivierte Sozialform des Bauens steht der Disposition von Architektur, in ihren systematischen Ordnungen einerseits eine Expertenfixierung und andererseits eine Referentialität in übergeordneten Systemen zu schaffen, diametral entgegen. Das dörfliche Gemeinschaften charakterisierende Motto „Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen“ kennzeichnet damit einen Grundkonflikt, dem Architektur im ländlichen Raum gegenübersteht. Das Selbstverständnis institutionalisierter Architektur, die Gestalt architektonischer Werke historisch-kanonisch oder im zeitgenössischen Fachdiskurs rückzuverankern, „nichtfachlichem“ Zugriff jedoch systematisch zu entziehen, erfährt im Kontext ländlicher Gesellschaften und ihrer eigenhändiggemeinschaftlichen Kulturpraxis eine Wertung als außenorientierte und übergeordnete „Einmischung“, die mit ihrem Habitus des städtisch-akademischen Sozialmilieus ebenso wie demjenigen staatlicher Ordnungspraxis den Verlust ländlicher Autarkie, zu der in der Gestaltung der eigenen räumlich-dinglichen

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Lebensumgebung auch die Ausübung von Ästhetik gehört, ankündigt oder offenbar werden läßt. In augenscheinlichem Widerspruch zur Feststellung einer „genetischen“ Unverträglichkeit zwischen institutionalisierter Architektur und ländlichem Raum gilt Vorarlberg, das westlichste österreichische Bundesland, bezüglich seiner „Architekturdichte“ als europäischer hot spot Zeitgenössischer Architektur. Das Land setzt seit den 1980er Jahren internationale bauästhetische Maßstäbe. Daneben weist es mit seinen Gestaltungsbeiräten, Architekten, die mittlerweile rund ein Drittel der kommunalen Bauverwaltungen des Landes in Fragen des „Orts- und Landschaftsbildes“ beraten, ein einzigartiges Maß staatlicher Institutionalisierung avancierter Architektur auf. Was hot spot quantitativ bedeutet, kann ein Vergleich illustrieren. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde außer für Vorarlberg auch für die deutsche Stadt Augsburg, die ebenfalls rund 350.000 Einwohner umfaßt, ein Führer zur Zeitgenössischen Architektur veröffentlicht. Sein Herausgeber Winfried Nerdinger, Leiter des Münchner Architekturmuseums, beklagte in seiner Einleitung dieses Faltblatts, angehängt an eine Ausgabe der Architektenzeitschrift Baumeister, daß es nicht gelungen sei, im Stadtgebiet Augsburg das geforderte Kontingent von dreißig zeitgenössischen Architekturen mit überregionaler Bedeutung zu finden. Statt dessen habe man etliche Umlandgemeinden in das betrachtete Gebiet einbeziehen müssen.9 Vorarlberg bot zur gleichen Zeit für seinen Baukunstführer seit 1980 eine Bautenkartei von 700 Objekten auf, denen solche überregionale Bedeutung zuerkannt wurde.10 Mittlerweile ist ein zweiter Band geplant. Die Objektanzahl dürfte die 1500 überschritten haben. Die europaweite Aufmerksamkeit, die Vorarlberg für seine hohe Dichte an Zeitgenössischer Architektur genießt, stellt sich aus dem Blickwinkel unseres Forschungsansatzes als Effekt einer sozialen Architekturpraxis auf die wirtschaftspolitische Repräsentation des Landes dar. Im Medium der Architekturpublizistik ist Vorarlberg im Vergleich der österreichischen Bundesländer bereits um 1980 in die Rolle eines kulturellen Vorreiters und gesellschaftlichen „Modernisierungslabors“ eingesetzt worden. Parallel zur Etablierung einer europäischen Wirtschaftsunion in der politischen Gestalt eines Europas der Regionen gewinnen kulturale Profile dieser Regionen heute zunehmend ökonomische Bedeutung im globalen Maßstab. Sein Wert als Standort, der Vorarlberg als architektonischem hot spot im Verlauf von drei Jahrzehnten buchstäblich zugeschrieben worden ist, verweist damit als exemplarische Erscheinungsform auf die Verkettung von Kulturförderung und ökonomischer Verwertung als Standortmarketing in der politischen Praxis des Regional Governance, dem marktwirtschaftlich bestimmten, aber hochgradig kulturalisierten Politikmodell des gegenwärtigen Europa.

Vorarlberg als hot spot Zeitgenössischer Architektur

Vorarlberg als Labor

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Vorarlbergs Wirtschaft

Kulturgeschichtlich zeichnet sich Vorarlberg innerhalb der österreichischen Bundesländer vor allem durch seine frühe Industrialisierung aus, die im Rheintal, entlang der Grenze zur Schweiz, im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts eine dichte Textilindustrie entstehen ließ. Trotzdem konnte das Land mit seiner auf rund einhundert Gemeinden verteilten Gesamtbevölkerung eine dezidiert ländliche Siedlungsstruktur bewahren. Aufgrund seiner geringen Bevölkerungszahl weist das Land lediglich Kleinstädte mit maximal 50.000 Einwohnern auf. Die Landeshauptstadt Bregenz etwa hat 35.000 Einwohner. Heute ist Vorarlbergs Wirtschaft längst nicht mehr agrarisch geprägt, und auch die Textilindustrie war in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs einem unaufhaltsamen Niedergang ausgesetzt. Statt ihrer haben sich vor allem im Rheintal, dessen Gemeinden mittlerweile zum Agglomerationsraum zusammengewachsen sind, hochwertige neue Produktionssparten angesiedelt, denen eine intensive Tertiarisierung zur Seite steht, sodaß Vorarlberg mittlerweile zu den wohlhabendsten Bundesländern Österreichs zählt.

Forschungsmethode

Die vorliegende Studie nähert sich Architektur nicht über die Analyse von Bauten, sondern durch qualitative Interviews mit Akteuren des Baugeschehens. Das sind zunächst Planer, und zwar akademisch gebildete Architekten ebenso wie solche, die dem handwerklichen Sozialmilieu entstammen. Beide Gruppen, als „Baukünstler“ subsumiert, dürfen in Vorarlberg beanspruchen, Architektur im engeren Sinn zu schaffen. Neben den Planern stehen Bauherren, Auftraggeber privater Wohnhäuser sowie Unternehmer als gewerbliche Bauherren im Fokus dieser Studie. Eine weitere befragte Akteursgruppe repräsentiert die Produktionsseite des Bauens: gewerbliche Bauträger und Handwerker. Vor allem die Berufspraxis und gesellschaftliche Position der Handwerker ist intensiv betroffen von der neuen Arbeitsteilung zwischen Entwurf und Produktion, den der Auftritt von Architekten als professionalisierten Entwerfern nach sich zieht. Bürgermeister, im ländlichen Vorarlberg gleichzeitig kommunale Baubehörde erster Instanz, die im Fall kommunaler Bauaufgaben zusätzlich als öffentliche Bauherren in Erscheinung treten, stellen die letzte der betrachteten Akteursgruppen. Die Wahl der Gesprächspartner folgte im wesentlichen dem eigenen, teils über Jahre verfolgten Interesse an den Projekten, die sie repräsentieren. Die überwiegende Anzahl der befragten Personen war mir zum Zeitpunkt der meist telefonischen Gesprächsvereinbarung noch unbekannt. Wiederholt wies der zunächst Angesprochene während des Interviews auf weitere Beteiligte hin, sodaß mit diesen unterschiedliche Blickwinkel auf das selbe Projekt erfaßt werden konnten, etwa derjenige des ausführenden Generalunternehmers und jener des Bürgermeisters im Fall eines zentrumsbestimmenden Kommunalbaus. Indem die Gespräche konkrete Projekte zum Anlaß nahmen, konnte deren Entstehungsgeschichte als Leitfaden des Interviews dienen. Thematische

Durchführung der Interviews

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Verzweigungen wurden in jedem Fall zugelassen und möglichst weiterverfolgt, was gelegentlich Folgegespräche ergab. Nachdem etwa der erwähnte Bürgermeister ein zwanzig Jahre zuvor „revolutionäres“ Einfamilienhaus im Dorf angesprochen hatte, suchte ich anschließend dessen Bauherrenehepaar auf und gewann, neben der Geschichte jenes Hausbaues, auch Einblick in die sich wandelnde Haltung gegenüber Architektur in jenem Dorf. In einem Fall ergriff der Interviewpartner die Gelegenheit des Gesprächs, um nach eigener Ordnung in mehreren Treffen seine berufliche Entwicklung zu rekapitulieren, die, als repräsentativ für seine Generation aufgefaßt, wiederum Aspekte architekturbezogener Sozialgeschichte lieferte. Alle Gespräche fanden als Vier-, im Fall beteiligter Ehepartner oder anderer Beteiligter als Sechsaugengespräch in konzentrierter Atmosphäre an dem Ort statt, den die Gesprächspartner jeweils wählten, in Wohnzimmern, Gaststuben, Amts- und Büroräumen sowie bei Spaziergängen. Sie dauerten ein bis zwei Stunden, wurden auf Tonband aufgezeichnet, anschließend wortgetreu transkribiert, von den Gesprächspartnern durchgesehen und auf Wunsch korrigiert. Ihre Eingriffe blieben in jedem Fall minimal, zumeist beschränkten sie sich auf die Streichung einzelner Sätze, deren Inhalt nachträglich als zu persönlich empfunden wurde. Die Brücke zwischen den Anlaß gebenden Architekturen und dem ihnen übergeordneten Begriff Architektur, zwischen den individuellen Sichtweisen, Haltungen und Betroffenheiten der mitgeteilten Fallgeschichten und der die Gesprächspartner zu Vertretern einer gemeinsamen Gesellschaft verbindenden sozialen Praxis schlägt ein Denkmodell, dessen zentrale Begriffe Wissen und Habitus hier bereits in den Zusammenhang sozial- und kulturwissenschaftlicher Parameter gestellt worden sind. Pierre Bourdieu, der den Habitusbegriff den kunsthistorischen Analysen Erwin Panofskys entlehnt hat, in denen dieser zeit- und gesellschaftsspezifische Konstanten von Wissens- und Bauformen der Gotik – also kunstsoziologische Überlegungen – dargestellt hatte, formuliert 1970 das Zusammenfallen von Individuum und Gesellschaft, von Werk und Kultur und auch jenes von Wissen und Praxis im Habitusbegriff: „Wer Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht, bloß um den Rechtsanspruch des schöpferischen Individuums und das Mysterium des Einzelwerkes wahren zu können, begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken, Kollektives in Form von Kultur – im subjektiven Sinne des Wortes ‚cultivation‘ oder ‚Bildung‘. Oder, nach Erwin Panofskys Sprachgebrauch, im Sinn des ‚Habitus‘, der den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet und, ohne daß dieser es merkte, seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist.“11 Einmal gefunden, lag es nahe, den Habitusbegriff und die ihm inhärente Herkunft aus der Kunst- und Architektursoziologie wiederum zur Analyse kollektiver Wissensdimensionen der durch den gemeinsamen geographischen

Analyse der Interviews

Bourdieus Habitusbegriff

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und gesellschaftlichen Raum verbundenen Sammlung individueller Äußerungen anzuwenden, die das Konvolut der Gesprächstranskripte darstellt. Die Dokumentarische Methode der Interpretation, eine Begründung der Beobachterhaltung in den Sozialwissenschaften, wie sie Karl Mannheim erstmals umfassend vorgelegt hat und die Ralf Bohnsack unter Bezugnahme auf Bourdieus Habitusbegriff methodisch beschreibt12, bot ein ideal fokussiertes Verfahren. Seine Beobachterhaltung basiert auf einer spezifischen Analyseeinstellung, die Mannheim als „genetische“ oder „soziogenetische“ Einstellung13 bezeichnet hatte. In dieser wird die Frage nach dem faktischen Wahrheitsgehalt oder der normativen Richtigkeit kultureller oder gesellschaftlicher Tatsachen „in Klammern gesetzt“. So ist ein Wechsel von der Frage, was kulturelle oder gesellschaftliche Tatsachen sind, zur Frage danach, wie diese hergestellt werden, möglich. Die zentrale Analysefrage ist diejenige nach dem „handlungsleitenden Wissen“, das vom Gesprächspartner selbst nicht formulierbar ist, also lediglich stillschweigend oder „implizit“ vorliegt. Bohnsack: „Jenes in der gelebten Praxis angeeignete und diese Praxis zugleich orientierende Wissen, welches den Orientierungsrahmen bzw. Habitus bildet, ist ein ‚atheoretisches Wissen‘ (Mannheim). Diejenigen, die über Gemeinsamkeiten im Bereich des atheoretischen Wissens verfügen, teilen Gemeinsamkeiten des Erlebens (...) im Sinn eines ‚kollektiven Gedächtnisses‘ miteinander. In Bereichen, in denen die Akteure über derartige existentielle Bindungen des gemeinsamen Erlebens verfügen, ist ein (unmittelbares) Verstehen untereinander möglich. Wir sprechen mit Bezug auf diese Bereiche von konjunktiven Erfahrungsräumen.“14 Solche Subgesellschaften, die einen gemeinsamen konjunktiven Erfahrungsraum teilen, bezeichnet die Kulturwissenschaft als Milieu oder, im Sinn der vorliegenden Studie zutreffender, als Community of practice15, ein Begriff, der neben dem Wissen die gemeinsame Praxis als verbindendes Medium benennt. Außerhalb dieser konjunktiven Erfahrungsräume geschieht Verständigung, diesem Denkmodell folgend, mittels „gegenseitiger Unterstellung“, ein Vorgang, den man sich bei Mitgliedern einer gemeinsamen Gesellschaft als stufenweise gegenseitige Annäherung in einem zirkulären Prozeß vorstellen kann. Für die Forschungspraxis bedeutet die Voraussetzung eines atheoretischen Wissens, daß davon auszugehen ist, daß der Befragte sich seines Wissens nicht in einer wörtlichen Weise bewußt ist. „Die wissenssoziologischen Forscher [gehen] nicht davon aus, daß sie mehr wissen als die Erforschten, sondern davon, daß die Erforschten selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen“ 16, charakterisiert Bohnsack die Beziehung des Forschers zu seinen Auskunftgebern. Das „stillschweigende Wissen“ seines Gegenübers in Sprache zu „übersetzen“ ist Aufgabe des Forschers und wurde für die vorliegende Studie in Form eines mehrstufigen Analysevorgangs der Gesprächstranskripte geleistet. Das Augenmerk lag darin vor allem auf der Argumentationsstruktur des Gesprächs, den Umschreibungen, Bildern und Referenzen

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etwa, die der Sprechende benutzt, und damit auf der Art und Weise, wie er Wissen in Sprache übersetzt. Der Methodenebene der Analyse steht eine dingliche Ebene zur Seite, die aus Aufnahmegeräten und Computern, vor allem aber aus bedrucktem und beschriebenem Papier besteht. Die Referenzierung der Gespräche im Analyseprozeß wurde auf der Dingebene als Übertragung ihrer linearen Struktur in die Simultaneität von Karteikarten dargestellt. Jede interpretiert ein Gesprächsfragment und betitelt es mit einem inhaltlichen Schlagwort. Die Verzettelung erlaubte die Gruppierung zu jenen die Gespräche verbindenden Generalthemen, die nachfolgend als Kapitel und Abschnitte in Erscheinung treten. Als Marginalien markieren die ehemaligen Kartentitel textliche Sinneinheiten und bieten Seiteneinstiege. Die vorliegende Studie ist also ein Puzzle aus rund 900 Interpretationen von Interviewaussagen, das auf einer Metaebene aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorie ausgebreitet ist. Seine enge Bindung an das Interviewmaterial gibt dem Text einen ausgeprägt dokumentarischen, mithin ethnographischen Charakter. Die Übertragung der Dissertationsfassung in die hier vorliegende Buchform unterzog den Gesamttext einer durchgängigen Überarbeitung. In diese flossen insbesondere Anmerkungen der Gutachten und Reflexionen aus der auszugsweisen Umarbeitung zu Vorträgen sowie aktuelle Fachliteratur ein, die gerade in der Architektursoziologie derzeit sprunghaft anwächst. Ein Sachregister erlaubt nun direkten Zugriff auf das erarbeitete Begriffsraster. Die Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ an Akteure des Vorarlberger Baugeschehens setzt zwei Vorannahmen stillschweigend voraus: daß ein allgemeingültiger Begriff von Architektur existiert und daß die Architekturdichte in der baulichen Landschaft Vorarlbergs gleichmäßig verteilt sei. Beides trifft bei näherem Hinsehen nicht zu. Was im Sinn dieser Studie unter Architektur zu verstehen sei, ist, neben der allgemeinen Begriffsbestimmung dieser Einleitung, unter den Bedingungen des Forschungsfeldes zunächst zu konkretisieren. Dies geschieht im ersten Kapitel Architektur?. Der ungleichmäßig verteilten Architekturdichte innerhalb der baulichen Landschaft des Bundeslandes Vorarlberg und damit der Frage nach der Legitimität, dieses als Geltungsbereich der vorliegenden Studie zu bezeichnen, geht das zweite Kapitel Vorarlberg nach. Erst nach diesen Klärungen kann die eigentliche Ausbreitung der Befunde erfolgen. Sie stützt sich auf vier Eckpunkte, die den in den Interviews am häufigsten angesprochenen Themen entsprechen: Ein materialspezifisches, Holz, zwei typologische, Haus und Dorf, sowie ein herstellungsspezifisches, Handwerk, bilden den Rahmen für ein dokumentarisches Panorama habituellen Architekturwissens, das, wo immer möglich, im Kontext konkreter Fallgeschichten wiedergegeben ist, um den Anspruch jener hohen Genauigkeit zu erfüllen, die der Verantwortung gegenüber den Auskunftgebern und ihrem mitgeteilten stillschweigenden Wissen entspringt.

Struktureller Aufbau der Studie

Inhaltlicher Aufbau

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18 Entstehungsgeschichte

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Anlaß und Gelegenheit zu dieser Studie gab eine existentielle berufliche Krise. Um sowohl die gewählte Perspektive, als auch die jeweils gefundenen Passungen oder Bindungen zwischen den „Puzzleteilen“ auch in ihrer Gebundenheit an Biographie ihres Autors und Umstände ihrer Entstehungszeit zu erschließen, mag ein kurzer Blick auf diese Situation erlaubt sein. Das eigene Architekturbüro in Augsburg, gegründet nach Studienabschluß 1997 gemeinsam mit einem erfahreneren Partner, stand 2003, im siebten Jahr seines Bestehens und mittlerweile auf fünf Personen angewachsen, aus Auftragsmangel vor dem Aus. Persönlicher Unfähigkeit allein war dies offensichtlich nicht anzulasten, denn auch im Kollegenkreis grassierten zu jener Zeit die Büroschließungen und -schrumpfungen. Die bereits zwölf Jahre währende Bauwirtschaftskrise hatte dem klassischen Berufsbild des freien Architekten, das „vor allem durch Honorarordnung, Selbstverwaltung und Werbungsverbot institutionalisiert ist und also insbesondere auf der Vorstellung beruht, daß das Produkt der Architektenleistung für sich spricht“17, den ökonomischen Boden entzogen. Die rasante Verbreitung digitaler Kommunikationsmedien verdrängte im selben Jahrzehnt, das gleichzeitig jenes des Aktienbooms, einer der längsten Krisen der deutschen Bauwirtschaft und erster prägnanter Einschnitte in staatliche Kulturförderung war, das bis dahin „handwerkliche“ Entwerfen und Planzeichnen binnen weniger Jahre. Indem anstelle von Zeichnungen nun Dateien gefordert waren, verwandelte sich das ehedem mit Bleistift, Reißschiene und Transparentpapier funktionsfähig ausgestattete Architekturbüro in einen investitionshungrigen Maschinenpark. Der Technisierung der Produktionspraxis folgte ein Wandel der Darstellungsstandards hin zu fotorealistischen Visualisierungen, die den nunmehr obligatorischen Rechnereinsatz dauerhaft an die immer kürzeren Produkthalbwertszeiten der Digitalindustrie koppelte. Zwangsläufig verfiel damit die Praxisrelevanz der Berufsvorbereitung, wie sie die Ausbildungsinstitute geboten hatten, binnen kurzem zu musealen Relikten. Neben den Effekten der „digitalen Revolution“ hatte insbesondere das im Studium vermittelte Bild vom Erziehungsbedarf des Bauherrn und den Baubehörden als natürlichem Gegner des Architekten eine Wirklichkeit geschaffen, die im Rahmen dramatisch verengter wirtschaftlicher Spielräume weder der Probe der Existenzsicherung noch der Verantwortung gegenüber Anvertrauten standhalten konnte. Der Schock der Erkenntnis, daß der gesellschaftliche Bedarf an der erworbenen Kompetenz am Ort der Berufsausübung schlichtweg fehlte, ließ die Analyse der eigenen professionalen Identitätskonstruktion zu einer notwendigen Bestandsaufnahme werden. Dabei einen übermäßig „betroffenen“ Standpunkt zu vermeiden, hat vor allem der wissenschaftliche Blickwinkel ermöglicht. Vor allem die Neukonstruktion der unterschiedlichen Akteursperspektiven, die die vorliegende Studie tragen, schuf Distanz zum eigenen impliziten Wissensbestand. In dieser

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Gleichzeitigkeit „objektiver“ wissenschaftlicher Methoden und der intuitivsubjektiven Figuration des individuellen Forschungsdesigns liegt für Bourdieu der Ansatzpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis: „Etwas [zu] tun, ohne genau zu wissen, was man tut, damit (...) die Chance, in dem, was man getan hat, etwas zu entdecken, was man vorher nicht wußte.“18 Nicht zuletzt spiegelt das vorliegende Ergebnis die freundlichen Bedingungen, die das neue Umfeld Vorarlberg dem Blick auf das eigene Metier bot, einem Land, das vom Forschungsfeld zur neuen Heimat geworden ist. Als anders als jenes Milieu, das mir meine berufliche Identität antrainiert und Architektur vor allem als Utopisches gesetzt hatte, erlebte ich Vorarlberg bereits in den Bewerbungsgesprächen, mit denen ich 2003 den eigenen Beruf in neuen Rahmenbedingungen fortsetzte. Architektur trat mir hier gegenwärtiger, nüchterner, geschäftlicher entgegen, als Profession, die einen Lebensunterhalt unter „bürgerlichen“ Verhältnissen ermöglicht, nicht nur in der überraschend wiederkehrenden Frage nach meiner „Familie“, die die Existenz einer solchen voraussetzte, sondern auch in Gestalt gebotener Bedingungen, die annähernd denen entsprachen, die in nichtkünstlerischen, in Dienstleistungsberufen zu finden sind. Besonders angenehm kontrastiert dieses Arbeitsklima zu demjenigen, das außerhalb Vorarlbergs im Architektenmilieu üblich ist und vor allem darauf beruht, Selbstausbeutung und soziale Absonderung zum positiv konnotierten Bestandteil der beruflichen Identität zu erheben.19 In der nun folgenden Aufzählung derjenigen, ohne die diese Arbeit in ihrer ausführlichen und verzweigten Form nicht hätte entstehen können, gebührt meiner Familie die oberste Stelle: meinen Eltern als Vermittlern prägender Werte, meiner Frau, die mich beständig begleitet hat und unseren Kindern, die die Welt in neuem Licht erscheinen lassen. Den Rahmen dieser Arbeit als wissenschaftliche haben vor allem ermöglicht: Prof. Dr. Norbert Huse,der dem Projekt thematisch und organisatorisch auf den Weg half, Prof. em. Friedrich Kurrent, der bestätigte, daß die gewählte Perspektive von Interesse sein könnte, vor allem jedoch Prof. DI Hermann Kaufmann, der kurzentschlossen die Betreuung als Dissertation an seinem soeben eröffneten Lehrstuhl an der TU München übernahm und trotz aller Irritationen, die seine Doppelrolle als Betreuer und zentralem Akteur des Forschungsfeldes mit sich gebracht haben mochte, solidarisch blieb. Prof. Dr. Bernhard Tschofen, Universität Tübingen, der die Betreuung auf halber Strekke zum hochschulübergreifenden Tandem erweiterte, legte das Augenmerk auf die Wissenschaftlichkeit der Methoden und verankerte diese in der erprobten Praxis, die sein Metier, Empirische Kulturwissenschaft, in der Feldforschung besitzt. An nächster Stelle ist den Interviewpartnern zu danken. Bertram Dragaschnig, Arno und Leopoldine Eugster, Peter Greußing, Gerhard Gruber, Helmut Kuess, Norbert und Reinelde Mittersteiner, Mario Nußbaumer, Peter

Dank

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Nußbaumer, Hans Purin (verstorben 2010), Wolfgang Schmidinger, Jürgen Sutterlüty, Ernst Wirthensohn und Gunter Wratzfeld haben rückhaltlos Auskunft gegeben und die Transkripte der Gespräche durchgesehen. Im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Arbeiten sind die Interviewpartner nicht anonymisiert, da der kleine und intensiv vernetzte Forschungsraum eine wirksame Unkenntlichkeit der Auskunftgeber, unter denen einige exponierte gesellschaftliche Positionen bekleiden, nicht zugelassen hätte. Das Analyseverfahren und die Herausarbeitung pointierter Positionen aus den Gesprächstexten haben aus den Gesprächspartnern wissenschaftliche Figuren werden lassen. Trotz steter Bemühung des Autors, die Würde der dahinterstehenden Personen zu wahren, liegt es letztlich in der Verantwortung des Lesers, ihre im Folgenden wiedergegebenen Aussagen nicht mit der weit differenzierteren Haltung zu verwechseln, die sie als lebende Persönlichkeiten verkörpern oder verkörperten. Außerhalb der unmittelbar Beteiligten umgibt ein Kreis von Freunden, Förderern, interessierten Beratern und Diskussionspartnern diese Arbeit und ihren Autor. Helmut Dietrich und Much Untertrifaller haben Arbeitsbedingungen in ihrem Architekturbüro und ein berufliches Umfeld geboten, das in seiner freundlichen Nüchternheit ermöglicht hat, den Architektenberuf gleichzeitig auszuüben und zu reflektieren. Robert Fabach und Heike Schlauch, meine ersten „Vorarlberger“ Freunde, stellten wichtige Kontakte her und nahmen engagierten Anteil am Entstehen der Studie. Zu den vielfältigen Hilfestellungen Theresia Sagmeisters gehörte, den Kontakt zu Kurt Greussing herzustellen, der Verknüpfungen zwischen den zunächst intuitiven Befunden mit Grundbegriffen und Schlüsselwerken der Sozialwissenschaft moderierte. Sein Zettel mit Analysefragen lag jahrelang auf meinem Arbeitstisch. Thomas Gronegger und Josef Perger boten wertvolle Diskussionen in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe, die eine zeitgemäße Fachdidaktik zur Vermittlung einer Formkultur des Handwerks entwickelte. Reflektierte Einblicke in die gegenwärtige gesellschaftliche Rolle des Handwerks gewährten über Jahre Gespräche mit Albert Pfiffner, Gerhard Huber und Edgar Höscheler. Der Augsburger Arbeitsgruppe Architektur und Schule, vor allem der Zusammenarbeit mit Thomas Körner-Wilsdorf, verdanke ich die unschätzbare Erfahrung, im schulischen Rahmen die Möglichkeiten ästhetischen Handelns, handlungsgestützter Pädagogik und entwerferischer Partizipation auszuloten und in Seminaren, Lehrerfortbildungen und Schülerbaustellen zu erproben. Interessierte Foren junger Wissenschaftler, in deren Kreis die Plausibilität der erarbeiteten Befunde diskutiert werden konnte, fand ich in Doktorandenkolloquien des LUI in Inzigkofen und Tübingen, dem Nachwuchsnetzwerk Stadt – Raum – Architektur bei ihren Treffen in Zürich, Berlin und Weimar sowie der AG Architektursoziologie bei ihrer Tagung „Alltagsarchitektur“ in Wien 2011. Walter Bachhuber, Vroni und Christian Hörl, Oliver Lowenstein und Bernhard Breuer diskutierten, appellierten und regten an. Mein Bruder Werner

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leistete wiederholt Feuerwehreinsätze zur Reparatur des unentbehrlichen Computers. Susanne Bruner-Linhart lektorierte die erste Fassung, Clemens Grieshaber verhalf ihr zur Buchform. Josef Majcen korrigierte akribisch den Satz der vorliegenden Verlagsfassung. Die Vorarlberger Landesbibliothek mit ihren zugewandten Mitarbeitern bot über Jahre hinweg das Privileg eines komfortabel ausgestatteten, weltabgeschiedenen Arbeitsplatzes mit Blick über den Bodensee. Ihnen allen und Weiteren, hier ungenannten, fühle ich mich in tiefer Dankbarkeit verbunden. Ein wichtiger Name darf in dieser Versammlung nicht fehlen: Helmut „Bari“ Prechter, verstorben 2004, Döllgast-Schüler, Regierungsbaumeister, Kirchenarchitekt, Hausforscher, Siedlungsgeograph. Er hat mir auf abenteuerlichen Reisen und in Gesprächen einen eurasischen, die drei monotheistischen Religionen vereinigenden Kulturraum rund um das Mittelmeer erschlossen. Den Plural „Baukulturen“ zu denken wäre mir ohne ihn nicht möglich gewesen. In dem mir zugedachten Exemplar seines Buches über schwäbische Bauernhäuser20 lag ein handgeschriebener Zettel, dessen fragende Feststellungen dem baukulturellen Alleinvertretungsanspruch der institutionalisierten Architektur aller Zeiten, die in der neuzeitlichen Überschätzung der Rolle des einsamen Schöpfers gipfelt, einen allgemeineren Begriff von Kultur entgegensetzen. Wiewohl historisch gegründet, verfügen seine Sätze über genügend utopisches Potential, daß ich den Stein der vorliegenden Studie, damit umwickelt, voller Hoffnung nach vorne werfe: „Die wahren Baumeister waren anonym? Die grosse Baukunst lebt von der anonymen Gestaltung?“

1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist Berger/Luckmanns Standardwerk von 1966 betitelt. In ihrem Vorwort teilen die Autoren mit, daß der Plan zu ihrem Buch „im Sommer 1962 (...) zu Füßen und (gelegentlich) auch auf Gipfeln der Berge im westlichen Österreich“ gefaßt worden sei und daß sie versucht gewesen seien, dieses „einem gewissen Jodler aus Brand in Vorarlberg zu widmen“. 2 List, S. 41 3 Vgl. Delitz (2009), Delitz/Fischer (2009) 4 Ein Begriff Ottokar Uhls. 5 Vgl. Die Ausbildung zum Architekten, in: Rambow, S. 21 ff 6 Vgl. Oechslin (1995) 7 Bourdieu (1970), S. 162; zitiert in Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 30.

Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: Bourdieu (1970), S. 159 9 Nerdinger (1995) 10 Kapfinger (1999), Anm. S. 4 11 Bourdieu (1970), S. 132 12 Bohnsack/Nentwig-Genemann/Nohl, S. 303 ff 13 Bohnsack (2001), S. 326 14 A.a.O., S. 331 15 Als (lernende) Wissensgemeinde konzipiert bei Etienne Wenger: Communities of Practice – Learning, Meaning and Identity; Cambridge (UK), 1999. 16 Bohnsack (2001), S. 337 17 Rambow, S. 16 18 Bourdieu (1988), S. 39 19 Vgl. Leeb (2008) 20 Götzger/Prechter (1960) 8

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1 Architektur?

1.1 Architektur als Kunst In Lustenau haben wir definitiv zwei Klassen von Bevölkerung. Die einen sagen: „Das ist Mist und gehört abgebrannt.“ So aggressiv läuft das. Und die anderen sagen: „Das ist eigentlich was Tolles.“1

Der hier spricht, Jürgen Sutterlüty, Geschäftsführer der gleichnamigen Vorarlberger Supermarktkette, ist als Bauherr und Besitzer des neuen Einkaufsmarktes2 im Ortskern der Rheintalgemeinde Lustenau von der gespaltenen Reaktion der Bevölkerung auf seinen Neubau existentiell betroffen. Ein solcher Grad von Ablehnung muß aus seiner Sicht als Unfall und als kapitaler Schaden gewertet werden. Er, der erheblichen Einsatz in Form finanzieller Mittel, auch ideell und zeitlich, aufgewendet hat, um ein Gebäude für einen kommerziell definierten Zweck zu erhalten, der Architekt und Behörden beteiligt hat, um den kulturell und rechtlich geforderten Standards zu genügen, ist am Ende dieses Prozesses der überraschenden Situation ausgesetzt, daß erhebliche Teile derjenigen Bevölkerung, die er als Kunden ins Auge gefaßt hat, nicht nur weder Anziehungskraft noch „Wohlfühlatmosphäre“ empfinden, sondern im Gegenteil abgestoßen sind und auf die dingliche Präsenz des Neubaus in ihrem Lebensumfeld offen feindselig reagieren. Vollends absurd muß die Situation für ihn erscheinen, nachdem sich herausstellt, daß der Bau währenddessen in der internationalen Presse herumgereicht wird und seine Gestalt dort euphorischen Beifall findet. Sutterlüty: Hier wurde darüber geschumpfen und in der Zürcher war ein zweiseitiger Bericht darüber und in der Frankfurter Allgemeinen genauso, also das ist halt dann das Thema „Architektur“, wo ich dann nicht mehr mithalten kann, wenn die Spezialisten darüber diskutieren.3

Zu dem wirtschaftlichen Desaster aus der Ablehnung durch das Zielpublikum tritt hier für den Bauherrn das Erlebnis eines Ausschlusses aus dem „Spezialistendiskurs“ über sein Haus noch hinzu, eines Diskurses, dessen Inhalte er nicht begreift und dem er nicht zu folgen vermag. Er stellt fest, daß eine Bedeutungsebene des Bauwerks existiert, die für ihn selbst nicht wahrnehmbar ist, sein Bauwerk also Träger einer Botschaft ist, die von ihm weder intendiert wurde noch von ihm kontrollierbar ist.

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24 Kunst als Bedeutungsebene von Architektur

Sondersituation Vorarlberg

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Architektur?

Dieser Bedeutungsebene professionalisierter Architektur und ihrer ebenso bedeutsamen Eigenschaft, aus Sicht „normaler“ Bauherren sowie weit überwiegender Teile des „Publikums“ verborgen zu sein, widmet sich der erste Abschnitt unserer Studie, die sich programmatisch ihrem Gegenstand nicht aus der für die Architekturtheorie üblichen, kunsthistorisch geprägten Warte nähert, für die die Parallelexistenz der Bauten als Werken der Kunst fraglos existiert, ja im Vordergrund steht, während die soziale Welt, ihre Zwecke und Funktionen, sowie diejenige des Baumaterials und seiner Bearbeitung demgegenüber zweitrangig erscheint und höchstens insofern Bedeutung gewinnt, als sie Gelegenheiten, wenn nicht bloße Vorwände für die Materialisierung künstlerischer Ideen liefert. Architektur besitzt kein ontologisches Wesen. Das „Sein“ von Architektur wird ihr erst durch gesellschaftliche Kommunikation zugeschrieben. Definitionen wie diejenige des großen deutschen Kirchenbauers Rudolf Schwarz, „Es ging mir aber eigentlich nicht um den Kirchenbau, sondern um die Architektur selbst, die im Kirchenbau an die ewige Grenze tritt und so erst sie selbst wird“4, sind ebenso Ergebnis wie Bestandteil einer Wirklichkeitskonstruktion im gesellschaftlichen Rahmen. Erst diese Konstruktion erschafft Architektur als Kulturtechnik, weist ihren Vertretern Bedeutung und ihren Werken Wert innerhalb der jeweiligen Gesellschaft zu. Die Positionierung von Architektur in einem Kunstfeld5 grenzt sie zu denjenigen Bauten ab, die nicht als Architektur gelten dürfen. Es ist festzustellen, daß das Architekturland Vorarlberg diesbezüglich eine Ausnahmesituation bietet. Die Abgrenzung zwischen Architektur und Nichtarchitektur und die darauf bezogene soziale Grenze zwischen ihren jeweiligen Schöpfern sind hier zeitweise bis zu einem gewissen Grad aufgelöst worden. Der Abschnitt Baukünstler des Kapitels Vorarlberg widmet sich daher der Frage, inwieweit der Begriff Architektur in seiner üblichen Bedeutung, insbesondere sein unter Experten6 maßgeblicher eingeschlossener Kunstkontext, für die Einordnung des Vorarlberger Phänomens brauchbar ist, besser: welche neuen Bedeutungszuschreibungen er hier erfahren hat, um die gesellschaftliche Praxis des lokalen Bauens erfassen und beeinflussen zu können. JS: Z 349 ff Zschokke (2002); Vgl. auch Kapfinger (1999), Kap. 3 /15 3 JS: Z 288 ff 4 „Rudolf Schwarz als Kirchenbauer“, in: Kurrent (2006), S. 292 ff 5 Vgl. hierzu u.a. die „Kunstfeldstrategien“, die Bauer erörtert. Bauer (1996), S. 113 6 In der Unterscheidung zwischen Experten und Laien beziehe ich mich auf Rambow: „Als ArchitekturExperten gelten dabei alle Personen, die ein Studium der Architektur erfolgreich abgeschlossen haben und über einige Jahre Berufserfahrung verfügen. Laien sind demgegenüber alle Personen, die kein Studium der Architektur absolviert haben.“ Rambow, S. 1 1 2

Rambow stellt mit seiner lapidaren Definition gleichzeitig Architekten als Akademiker dar, eine Eingrenzung, die in der Zusammenschau mit Bourdieus Kulturbegriff gleichzeitig eine schichtenspezifische Zuordnung von Architektur erlaubt, wie in der Einleitung zu vorliegender Arbeit ausgeführt. Max Frisch, selbst im Erstberuf Architekt, hat die Erklärungsbedürftigkeit von Architektur in seinem literarischen Werk mehrfach thematisiert. Vgl. u.a. Frisch (1954) 7 Zu den Aufgaben des Zimmereiverbandes Vorarlberger Holzbau-Kunst gehört u.a. die Auslobung des Vorarlberger Holzbaupreises. Dieser wurde erstmals 1997 vergeben, anschließend bis 1999 jährlich, dann in zweijährigem Rhythmus.

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Architektur als Kunst

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Der in Vorarlberg seit dem legendär gewordenen Befugnisstreit von 1984 in der regionalen Szene eingebürgerte Begriff Baukunst bzw. Baukünstler anstelle von Architektur und Architekt repräsentiert ein Unabhängigkeitsstreben von der Deutungshoheit der Standesvertretung über den Begriff Architektur und dessen „befugter“ Ausübung zugunsten einer Nähe zum regionalen Holzhandwerk und den Handwerkern. Wie um diese Nähe zu den Baukünstlern auch seinerseits zu bekräftigen, firmiert der Fachverband der Vorarlberger Zimmereien unter dem Titel Holzbau-Kunst7. Zur Sondersituation der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs gehört also eine Erweiterung des zugeordneten Kunstbegriffs in Richtung Handwerkskunst. Nachdem mit Hilfe des kulturellen Bezugssystems Kunst die Repräsentationsfunktionen der sozialen Konstruktion Architektur untersucht worden sind, dient im zweiten Abschnitt dieses Kapitels der Begriff Ordnung der Klärung räumlicher Effekte von Architektur, solcher, die mittels dinglicher Bauteile oder rechtlicher Grenzziehungen gesellschaftliche Beziehungen regeln. Der dritte Abschnitt wird die personellen Repräsentanten von Architektur, die Architekten, und ihre Organisationsform als Berufsstand in den Blick nehmen. Dieser Vorstellung des Forschungsgegenstands im Kapitel Architektur? folgt eine Einführung in den Forschungsraum. Mit dem Kapitel Vorarlberg wird dieser räumlich, historisch, architekturhistorisch und in Bezug auf die ungleichmäßige Verteilung architektonischer Brennpunkte charakterisiert werden. Unter den so geschaffenen Voraussetzungen widmet sich der Hauptteil der vorliegenden Arbeit, bestehend aus den Kapiteln Holz, Haus, Dorf und Handwerk, exemplarischen Erscheinungsformen, Rollen und Kontexten, die die Gesellschaft Vorarlbergs Zeitgenössischer Architektur bietet. Architektur als Kunst wird hier bewußt an einem „trivialen“ Gegenstand betrachtet. Gerade das Triviale der Bauaufgabe Supermarkt rückt sie in den Fokus dieser Forschungsarbeit mit ihrem Blick auf den sozialen Kontext. Eine solche Nähe zur „breiten“ Öffentlichkeit, einer Nähe, die durch alltägliche Nutzung anstelle von bloßer Betrachtung entsteht, vermögen andere, traditionellere und in einem traditionellen Kulturverständnis „hochwertigere“ Gegenstände der Architektur, wie Theater-, Museums- oder Verwaltungsbauten, nicht aufzuweisen, einerseits, weil diese „hochwertigen“ Bauten vor allem von einem schmalen, privilegierten und traditionell kultivierten Segment der Bevölkerung genutzt werden, andererseits, weil sie einer Form der Repräsentation dienen, für die der Kunstkontext einen unverzichtbaren Wert darstellt. Daß die älteste Aufgabe von Architektur, die ihren höchsten Anspruch mit dem Aspekt der allgemeinsten Öffentlichkeit verknüpft, der Sakralbau, heute zweifach marginalisiert ist, einmal durch sein zahlenmäßiges Schwinden in so dramatischem Ausmaß, daß von einem Verschwinden gesprochen werden muß, außerdem durch die zunehmende Auflösung seiner klassischen monofunktionalen Typologie, die quer durch die Konfessionen mit deren Ersatz durch Mehrzweckräume einhergeht8, profanen Raumhüllen, die neben

Supermarkt als triviale Bauaufgabe

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Supermarktarchitektur als Kunst

Architektur und Regionalität

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der Feier des Gottesdienstes auch dem Faschingsball dienen können müssen, entzieht der Kulturtechnik Architektur ihren Rückbezug zur ursprünglichen kultischen Zweckgebundenheit und damit zur eigenen Tradition als Sozialtechnik im religiösen Kontext.9 Selbst so bedeutende Kirchenbauten wie diejenigen des oben zitierten Rudolf Schwarz werden inzwischen, wie viele andere, unbedeutendere, infolge der Verödung des kirchlichen Lebens abgebrochen.10 Aus der Sicht eines traditionellen Kulturverständnisses, das Architektur als den hehren Hort hoher Kultur bewahren möchte, mag es zunächst vulgär erscheinen, wenn der französische Soziologe Pierre Bourdieu Supermarkt und Sakralbau in eins setzt, indem er von den Warenhäusern als den „neuen Kathedralen des Volkes“ spricht.11 Eine Betrachtung der aktuellen Aufgaben heutiger Architekten aller Prominenzgrade läßt diesen hehren Anspruch jedoch unter dem dominanten Eindruck der Berufspraxis des Standes als Nostalgie erscheinen.12 Spätestens das Programm der neunten Architekturbiennale in Venedig 2004 hat der Bauaufgabe Supermarkt auch in Fachkreisen die uneingeschränkte Kunstwürdigkeit verliehen, als sich das Architekturland Österreich durch die Bauten der Tiroler Supermarktkette M-Preis an diesem für die Selbstvergewisserung der Kunst weltweit beachteten Ort repräsentieren ließ.13 Diese Dokumentation eines Wandels in der Auftraggeberschaft der Architekten mit der Folge immer trivialerer Bauaufgaben erlaubt die Feststellung einer Verschiebung des Einsatzortes, an dem Architektur ihre Mittel einsetzt. Der Bezugsrahmen dieser Mittel, ihre Gültigkeit und Verständlichkeit innerhalb eines Kunstfeldes, ist von dieser Verschiebung nicht berührt. Bemerkenswert daran ist, daß sie das Kunstfeld mitten in ein Publikum stellt, das es nicht als solches wahrnimmt, ja, das keine Kenntnis von seiner Existenz hat. Das Gespräch mit Jürgen Sutterlüty eröffnet uns zunächst aus der Sicht des Bauherrn einen Blick auf die Folgen, die aus der Verschiebung des Kunstfeldes in solch triviale Funktionszusammenhänge erwachsen, wie sie der Supermarkt bietet, um anschließend auch Hinweise auf einen Wandel im Metier des Architekten zu geben. Um zu verstehen, warum Sutterlüty Architektur im Supermarkt einsetzt und wodurch gerade diese Art und Weise, Architektur einzusetzen, geeignet ist, eine Eigenart der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs zu repräsen8 Den Hinweis auf diese Entwicklung verdanke ich Christian Hörl, Ruderatshofen (Allgäu), der sich durch seine künstlerischen Projekte einen intensiven Einblick in die gegenwärtige kirchliche Baupolitik Süddeutschlands erworben hat. 9 Vgl. die Bezugnahme auf Durkheims gesellschaftlichen Begriff von Religion: Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, Anm. 8-10 und 44. Vgl. außerdem die Ausführungen zu Architektur

und Religion im Abschnitt Architektur im Dorf des selben Kapitels. 10 Besonders signifikant für den hier angesprochenen gesellschaftlichen Wertewandel erscheint der Abbruch von Rudolf Schwarz’ Kirche St. Raphael in Berlin-Spandau 2005 zugunsten eines Supermarkts. Kommentare zu aktuellen Abbrüchen von Kirchenbauten beider christlicher Konfessionen finden sich u.a. bei Pehnt und Herrmanns.

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tieren, ist es zunächst erforderlich, die konkreten Verhältnisse und Rahmenbedingungen dieser exemplarischen Situation kennenzulernen. In knapper Form charakterisieren wir daher zunächst den Supermarkt in seiner Abgrenzung gegen andere Formen von Selbstbedienungsmärkten für den täglichen Bedarf. In seiner Positionierung in der Öffentlichkeit, die durch die Absicht, Kunden zu gewinnen, bestimmt ist, kann verdeutlicht werden, worin der für Vorarlbergs Architekturpraxis typische Weg einer Profilierung gewerblicher Bauherren zu sehen ist. Indem zunächst nationale Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland, anschließend landesspezifische, die benachbarten Bundesländer Tirol und Vorarlberg betreffende Eigenarten betrachtet werden, wird der Versuch erkennbar, in einem spezifischen Verhältnis von Architektur und Kunst ein zentrales Merkmal regionaler Architektur zu erzeugen. Architektur wird für den Supermarkt, zumindest im deutschsprachigen Raum, erst seit kurzem eingesetzt. Einen zeitlichen Anhaltspunkt hierfür geben die ersten Architekturpreise für Supermarktbauten, die die Tiroler Supermarktkette M-Preis, Vorreiter auf diesem Sektor, erstmals 1993 mit der Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen erhalten hat.14 Sutterlüty folgt wenige Jahre später mit dem, Otto Kapfinger zufolge, „phänomenalen“ Kirchpark in Lustenau, einer „Pioniertat“ für diesen Sektor in Vorarlberg.15 Die öffentliche Erregung, die die Architektur dieses Bauwerks ausgelöst hat, haben wir eingangs geschildert. Sutterlüty wird zum Glücksfall für unser Forschungsprojekt, da es sich bei dem Unternehmen um eine regionale, nur in Vorarlberg präsente Kette handelt, die mit M-Preis in Tirol zu den beiden einzigen Familienunternehmen dieser Branche in Österreich gehört. Der Typ Supermarkt ist unter den Einzelhandelsmärkten der anspruchsvollste, indem er das größte Sortiment („Vollsortiment“) anbietet. „12.000 Produkte. (...) Das heißt, unser Sortiment ist ein Sortiment, mit dem sich ein Haushalt voll versorgen kann.“16 Dieser Anspruch des Vollsortiments, den Sutterlüty vertritt, ist beim Supermarkt aufwands- und kostenbestimmend. Die Präsentation dieses Merkmals erzeugt Abgrenzungsbedarf vor allem gegenüber dem Discounter, der durch programmatisch schmales Sortiment, „Aldi hat 660 Produkte und keines mehr“17, sowie geringen Aufwand niedrige Preise erzeugt: „Der Discounter fährt etwa mit einem Viertel der Kosten eines klassischen Supermarktes.“18 Die demonstrative Haltung des Discounters, auf „Außenwirkung (...) keinen Wert“19 zu legen, signalisiert zugleich, 11 Nicht nur die Orgeln, die in einigen Warenhäusern des späten neunzehnten Jahrhunderts eingebaut waren und gespielt wurden, bestätigen diese als Nachfolger der Kathedralen, wie Wilhelm Berger nachweist. 12 „Eine ernstzunehmende Architekturgeschichte des späten 20. Jahrhunderts wird solchen Bauaufgaben [der architektonischen Inszenierung von Konsum-

erlebnissen] deutlich mehr Raum geben müssen als etwa dem Sakralbau...“ Kühn (2006) 13 Elser (2004) 14 „Pöschls (...) Projekt am nördlichen Ortsrand von Lienz erhielt 1993 als erster Supermarkt die Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen.“ Köfler (2006) 15 Kapfinger (2003/1) 16 JS: Z 491 ff

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daß das gesamte „Wertgefüge zugunsten des Kunden geht, damit er günstig einkaufen kann“.20 Zwischen Vollsortiment und Discountsortiment gibt es spezifische Wechselwirkungen, die Sutterlüty am Beispiel des Discountangebots von Haarshampoo erläutert: Der Discounter ist ein sogenannter „Category Killer“. (...) In dem Augenblick, wo die Wirkungsdaten des Absatzes zum erstenmal über die Marktforschungsdaten erhältlich sind..., schaut sich der Discount an, in welchem Segment gibts Artikel, die die notwendige Drehung haben, die wir brauchen. Dann werden diese in Eigenmarken billigst produziert und immer nur stärkste Artikel werden beim Discount angeboten, (...) ohne die Kosten der Breite und Tiefe der Sortimente. Und killt sozusagen die Kategorie. „Category Killing“, er killt uns jetzt die Shampookategorie für fettendes Haar beispielsweise ab, indem er den Fokus des Konsumenten nur auf den Preis setzt, daß der Konsument die Unterscheidungskriterien der anderen Leistungen, die wir anbieten, nicht mehr erkennt.21 Profilierung des Supermarkts in Österreich

Sutterlüty zufolge haben deutsche Supermarktketten daraus die Konsequenz gezogen, ihren Aufwand ebenfalls zu reduzieren, um preislich konkurrieren zu können. „Die Bedienungsabteilungen wurden abgebaut, die Frische wurde nicht mehr gehalten, und [der Supermarkt] wurde immer vergleichbarer zum Discount (...) und ist immer noch mehr abgestürzt.“22 Die Folge dieser Entwicklung nennt Sutterlüty „Das große Supermarktsterben“.23 Parallel dazu hätten österreichische Supermarktbetreiber ihr Profil bezüglich Service und Angebot ausgebaut, vor allem jedoch ihre Strategie durch die Gestaltung ihrer Bauten signalhaft unterstützt. „In den Räumen, mit großen Sortimenten, frischen Angeboten, mehr Lebensfreude, Lebensqualität zu vermitteln. Und dem Kunden viel, viel deutlicher den Unterschied zwischen Supermarkt und Discount zu zeigen.“24 Architektur finde in österreichischen Supermärkten inzwischen auch bei international präsenten Ketten als Teil demonstrativer Unternehmenskultur ihren Platz.25

Sutterlüty und M-Preis

Sutterlüty und M-Preis sind als Familienunternehmen die beiden einzigen österreichisch geführten Supermarktketten, dabei ist Sutterlüty mit mittlerweile 21 Filialen nur in Vorarlberg, M-Preis mit gegenwärtig 150 Filialen in Tirol und Südtirol präsent (Stand 2008). Der Architektureinsatz beider Unternehmen unterscheidet sich – bei gleichem Sortiment und Anspruch – eklatant. M-Preis repräsentiert einen Architektureinsatz, der den Kunstkontext 17 JS: Z 489 ff 18 JS: Z 498 ff 19 JS: Z 85 ff 20 JS: Z 87 ff 21 JS: Z 467 ff 22 JS: Z 507 ff 23 JS: Z 502 24 JS: Z 514 ff 25 JS: Z 79 ff 26 Daß das „Beispiel M-Preis“ den ersten „Österreichischen Baukulturreport“ von 2006, Kapitel Architekturpolitik mit einem eigenen Absatz abschließt,

zeigt einmal mehr, daß dieser Architektureinsatz der typischere, von der offiziellen Architekturpolitik bevorzugte, ist. 27 JS: Z 713 f 28 JS: Z 715 ff 29 JS: Z 722 ff 30 JS: Z 720 f 31 JS: Z 735 ff 32 JS: Z 724 ff 33 Der Untertitel der deutschen Ausgabe von Venturis Werk (Wiesbaden 1979) lautet: „Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt “.

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von Architektur gezielt hervorhebt.26 Dessen Voraussetzung liegen nach Sutterlütys Einschätzung („Bin befreundet mit den Eigentümern und kenne alle seine Objekte“27) in den Neigungen der Besitzerfamilie. „Die Familie hat Kunst, Malerei, Architektur im Blut. Das ist geschichtlich schon in dem Unternehmen. Und die setzen sich persönlich intensiv mit Kunst und Architektur und Malerei und Gestaltung auseinander.“28 Indem Sutterlüty unterstellt, „daß es denen sehr wichtig ist, daß sie persönlich sozusagen Erfolg, im Bewußtsein, in der Auseinandersetzung, mit der Architektur dort erzielen“29, erinnert seine Erzählung an das historische Mäzenatentum eines Großbürgertums und dessen Repräsentation vermittels architektonischer Kulturbeiträge. Hier steht offensichtlich aus dem „persönlichen, sehr starken Zugang“30, der die Besitzerfamilie auszeichnet, Architektur als autonom belassene Kunstanstrengung im Vordergrund, die weitgehend getrennt von den Funktionen des Supermarktbauwerks belassen, die architektonischen Mittel primär als Signal nach außen einsetzt: „Mölk läßt vom Architekten ein Hallenkonzept entwickeln und setzt dann seine Linie straff rein. Egal, wie diese Halle ausschaut.“31 Sutterlüty charakterisiert die M-Preis-Märkte damit durch die Trennung von Architektur und Ladenbau, „denn die Architekten werden, (...) was das Innere des Raumes betrifft, (...) an der kurzen Leine genommen“32. Sutterlütys Kenntnis der Funktionsabläufe und Betriebsaspekte läßt ihn Diskrepanzen wahrnehmen, die zwischen dem Anspruch des Bauwerks, als Kunstwerk „autonom“ zu sein, und dessen funktional bestimmtem Innenleben auftreten. Er kennzeichnet damit das Prinzip der Verpackung durch Architektur, welches seit Robert Venturis einflußreichem Werk von 1972 Learning from Las Vegas33 mit dem Schlagwort decorated shed („dekorierter Schuppen“) als architektonisches Prinzip salonfähig geworden ist. Der Philosoph Jürgen Habermas hat den Zwiespalt aus Funktionserfüllung und künstlerischer Autonomie, in dem Architektur als zweckgebundene Kunst steht, einem Zwiespalt, der sich bei den M-Preis-Märkten in der Trennung von Architektur und Ladenbau manifestiert, in Moderne und postmoderne Architektur formuliert: Die moderne Architektur befindet sich in einer paradoxen Ausgangssituation. Auf der einen Seite war Architektur stets zweckgebundene Kunst. Anders als Musik, Malerei und Lyrik, kann sie sich aus praktischen Bewandtniszusammenhängen so schwer lösen wie die literarisch anspruchsvolle Prosa von der Praxis der Umgangssprache – diese Künste bleiben im Netz von Alltagspraxis und Alltagskommunikation hängen: Adolf Loos sah sogar die Architektur mit allem, was Zwecken dient, aus dem Bereich der Kunst ausgeschlossen. Auf der anderen Seite steht die Architektur unter Gesetzen der kulturellen Moderne – sie unterliegt, wie die Kunst überhaupt, dem Zwang zur radikalen Autonomisierung, zur Ausdifferenzierung eines Bereichs genuin ästhetischer Erfahrungen, den eine von den Imperativen des Alltags, von Routinen des Handelns und Konventionen der Wahrnehmung freigesetzte Subjektivität im Umgang mit ihrer eigenen Spontaneität erkunden kann.34

Für den spezifischen Blickwinkel dieser Arbeit sind neben den Paradoxien, die Architektur als zweckgebundene Kunst auf formaler Ebene erzeugt,

Künstlerische Autonomie versus Funktionserfüllung

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vor allem die nicht minder paradoxen Effekte von Interesse, die ihre dem Kunstfeld entspringenden ästhetischen Eigengesetzlichkeiten in einem sozialen Feld schaffen, gegenüber einer Öffentlichkeit, die dafür weder vorgebildet noch sensibilisiert ist. Jürgen Sutterlüty, der solche Effekte in seiner Beschreibung des Architektureinsatzes der M-Preis-Märkte feststellt, trifft damit den Kern einer Kulturkritik, die sich durch die Zusammenschau von Kultur und sozialer Schicht ihrer Erzeuger beziehungsweise Rezipienten auszeichnet und vor allem durch den französischen Soziologen Pierre Bourdieu etabliert worden ist. Sutterlüty gewinnt seinen Kritikansatz innerhalb des sozialen Feldes, indem er die Nutzung und Bauwerkserhaltung der M-Preis-Märkte beurteilt. Der von ihm hervorgehobene Effekt einer für M-Preis charakteristischen Haltung, Architektur „schon sehr, sehr künstlerisch aufs Podest“35 zu setzen, ist für ihn vor allem dort spürbar, wo die Prominenz der beauftragten Architekten am größten ist, „wo ein Perrault, oder spezielle berühmte Architekten Projekte entwickelt haben, die schon weit über dem Intellekt eines klassischen Handelsangestellten stehen. Und man spürt das dort, wo der Mitarbeiter mit der Architektur nicht mehr umgehen kann.“36 Das Fallbeispiel, an dem er seine Analyse entwickelt, ist der M-Preis-Markt in Telfs: Eine gigantische Halle. Glas, in der Mitte des Glases befinden sich solche MetallLamellen. Das ist ein Objekt mit zwei Ebenen, also in sich verschobene Schiffe. Außen roter Asphalt, seitlich, in einer Betonwanne, ein Brunnen. Und wenn man nüchtern anschaut, wie das Objekt drei Jahre später ausschaut: Einen halben Lkw Müll hätten sie aus dem Wasser nehmen können, diese Metallelement-Scheiben, die wurden sicher nie geputzt, es war nur dreckig und verschmiert. (...) Also, ich habe dort einen richtigen Widerspruch in mir verspürt. Nämlich, ein wirklich künstlerisches Objekt, das auf einem Podest steht. Aber um das Podest herum findet das normale Leben, die Wirklichkeit, statt. Und die kann man nicht mit dem Kostenaufwand betreuen, wie das ist, wenns ein öffentlicher Park oder ein staatliches Objekt ist.37

Zwei Hauptgedanken tragen Sutterlütys Analyse. Der erste betrifft die Definition von Architektur als gedanklich-reflexiv wahrnehmbarem System aus Merkmalen und deren Bezügen. Diese Begriffsbestimmung gewinnt er aus der Gegenüberstellung von international agierendem Stararchitekten und lokal zuständigem „Handelsangestellten“, dessen Wahrnehmungsorgan, sein „Intellekt“, zur Erfassung des architektonischen Anspruchs nicht ausreiche. Damit spricht Sutterlüty Architektur als Attribut mit sozial spaltender Wirkungsweise an. 34 Habermas (1981), S. 13 Rambow verdeutlicht, daß diese von Habermas beschriebene „paradoxe Ausgangssituation“ moderner Architektur gleichzeitig ein grundlegendes Kennzeichen für die Betrachtung von Architektur schafft, „die Aufspaltung in einen autonomen und einen heteronomen Diskurs. (...) Auf der einen Seite müssen Architekten bauen, wenn sie wirtschaftlich überleben wollen. Um bauen zu können, sind sie auf Aufträge von Personen oder Institutionen angewiesen, die hauptsäch-

lich architekturfremde (wirtschaftliche, politische, funktionale) Ziele verfolgen. Insofern ist Architektur immer fremdbestimmt, d.h. heteronom. Auf der anderen Seite machen aber Architekten einen fundamentalen Unterschied zwischen Architektur und bloßem Bauen. Die Charakterisierung eines Gebäudes als Architektur verlangt die Attribution eines künstlerischen Mehrwerts, der über bloße Effizienz und Funktionstüchtigkeit hinausgeht. Die Verständigung über diesen Mehrwert vollzieht sich nach

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Pierre Bourdieus Kulturanalyse, die er in einem Zitat aus Ortega y Gassets Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst zusammenfaßt, verallgemeinert die Wirkungsweise, die Jürgen Sutterlütys Fallbeispiel zeigt, und interpretiert sie als bewußt eingesetzte Strategie Moderner Kunst: Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit... Anderthalb Jahrhunderte lang hat das Volk behauptet, es sei die ganze Gesellschaft. Strawinskys Musik und Pirandellos Drama kommt eine soziologische Wirkungskraft zu, die es zwingt, sich als das zu erkennen, was es ist, als „nichts als das Volk“, als einen Baustein neben vielen im sozialen Verband, als träges Substrat des historischen Prozesses, als eine Nebensache im Kosmos des Geistes. Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen und ihre Mission begreifen: wenig sein und gegen viele kämpfen.38

Jürgen Sutterlütys Analyse der M-Preis-Märkte des Familienunternehmens Mölk am Beispiel ihres Supermarktes in Telfs mündete in die Feststellung eines Widerspruchs zwischen dem intellektuellen Anspruch, den das Bauwerk als Architektur erhebt, und dem Wahrnehmungspotential des für Betriebsablauf und Erhalt der materiellen Substanz verantwortlichen Personals. Parallel zum Auseinanderfallen des Bauwerks in Architektur und materielle Substanz wurden den beiden Erscheinungsformen gesellschaftliche Schichten als Angesprochene beziehungsweise Zuständige zugeordnet. Die gesellschaftliche Wirkungsweise dieser Erscheinungsform Zeitgenössischer Architektur, die als typisch gelten darf, kann damit als demonstrativer Ausschluß solcher Gesellschaftsschichten beschrieben werden, die über entsprechende Bildungsvoraussetzungen nicht verfügen. Der zweite Grundgedanke aus Sutterlütys Analyse ergibt sich aus der augenscheinlich unbewältigten und von der Struktur eines regionalen Supermarktunternehmens auch nicht bewältigbaren Bauwerkserhaltung der Architekturikone, der gigantischen Größe der mehrschiffigen Anlage, dem besonderen Glas, ungewöhnlichen Oberflächen und beigeordneten Attraktionen, die einen spezifischen Erhaltungsaufwand erzeugen, den aus Sutterlütys unternehmerischer Sicht höchstens die öffentliche Hand zu leisten imstande wäre. Seine aus der Alltagspraxis gewonnene Feststellung wertet den Einsatz einer im Kunstkontext verharrenden Architektur für kommerziell definierte Aufgabenfelder demnach als Fehlschlag und verweist indirekt eine solche Architektur zurück in ihre traditionellen Felder, denjenigen einer im weitesten Sinn staatlichen Repräsentation. Larson (1993) innerhalb eines autonomen Diskurses, d.h. hier sind Nichtarchitekten weitgehend ausgeschlossen. Larson zeigt, daß diese Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie keinen ernsthaften Architeken unberührt lassen kann. So sind z.B. die Kriterien für Reputation innerhalb der Berufsgruppe und für wirtschaftlichen Erfolg weitgehend voneinander abgekoppelt.“ Rambow, S. 19 35 JS: Z 894 ff 36 JS: Z 898 ff

37 JS: Z 904 ff 38 Ortega y Gasset: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst; Ges. Werke Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 230 ff; zit. in: Bourdieu (1979), S. 61 f 39 JS: Z 123 ff 40 JS: Z 921 ff 41 JS: Z 319 ff 42 JS: Z 328 ff 43 JS: Z 286 ff 44 JS: Z 360 ff

Architekturikone unter Alltagsbedingungen

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Für sein eigenes Unternehmen und dessen Architektureinsatz zieht Sutterlüty aus seiner Analyse Konsequenzen in mehrfacher Hinsicht. Zuvörderst „in der Wahl des Architekten, der auch ein heimischer Architekt ist“.39 Daß er damit, trotz Umkehrung des von M-Preis praktizierten Prinzips, gezielt ausländische Architektenprominenz zu beauftragen, dennoch eine international renommierte Liga wählt, liegt im hohen Grad an internationaler Wahrnehmung begründet, den die Vorarlberger Architektenszene auf sich zieht. Für die Bauwerkserhaltung schafft er Voraussetzungen, die zu seiner Unternehmensstruktur passen. „Wir haben in allen Filialen unseren Mann, der den Garten pflegt, und das wird zu gewissen Zeiten nach Schema F gemacht. Wir haben unseren Haustechniker, und der ist nicht programmiert, daß ein Sonderobjekt alle zwei Wochen Betreuung braucht.“40 Vor allem aber beschreitet er einen Weg, der exemplarisch den eigenständigen Charakter der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs repräsentiert, indem er Architektur auf Kosten ihrer Kunstreferenzen zu einem zweckgerichteten Instrument umformt. Architektur als Repräsentation des öffentlichen Raumes

Rufen wir uns die am Kapitelanfang geschilderten Reaktionen der Lustenauer Bevölkerung auf das Bauwerk des neuerrichteten und jetzt zentrumsbestimmenden Kirchpark in Erinnerung, so stellen wir zunächst fest, daß auch innerhalb Vorarlbergs gegenüber Zeitgenössischer Architektur ähnliche soziale Reaktionen auftreten wie beim M-Preis-Markt im Tiroler Ort Telfs. Sutterlüty erklärt diesen Effekt für Lustenau mit der Beschaffenheit des Projekts, vor allem seiner Lage im Ortskern, die neben der Situierung kommerzieller Funktionen gleichzeitig die von politischer Seite definierte Aufgabe einer Zentrumsbildung zu erfüllen hatte. Die Folge dieser Doppelfunktion des Bauwerks war für Sutterlüty, daß er als Bauherr nicht unabhängig, sondern zur Kooperation mit den „Architekturverantwortlichen der Gemeinde“ gezwungen war, die „sich ausbedungen haben, in der Architektur entscheidend mitsprechen zu dürfen“, insbesondere auch, „weil denen Teilgründe des Zentrums gehört haben“41. Die Gemeinde forderte einen Wettbewerb mit internationaler Beteiligung, aus dem das Schweizer Büro Marques + Zurkirchen als Sieger hervorging. Ich muß einfach eingestehen, es war von den vorgelegten Projekten, und wir hatten, glaube ich, zwölf, von nationalen und internationalen Architekten, wars sicherlich das beste. Obwohl ich das anfänglich nicht gleich gesehen habe. Also diese ganz einfache Rasterform und die Konzeption mit diesem Vordach, die ja den Grund hatte, den Raum zu schließen, der Platz, der da seitlich der Kirche entglitten wäre, das haben die eigentlich toll geschafft. Und diese Marktatmosphäre, die da unten auch stattfindet.42

Sutterlüty würdigt die positiven Aspekte für das Ortsgefüge und erkennt die ordnende Funktion und die räumliche Qualität des Bauwerks ausdrücklich an. Für seinen Supermarkt ist die „Marktatmosphäre“ unter dem weit ausladenden Vordach ein spezifischer Zugewinn an Attraktivität. Er reduziert seine Kritik am Entwurf der Architekten auf das Merkmal der Fassadenoberfläche: „Nur haben sie einen sehr aggressiven Weg gewählt, mit dieser trans-

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parenten Doppelstegplattenfassade. (...) Man hätte dort vielleicht eine zugänglichere Materialienwahl finden können.“43 Grundlage seiner Bewertung ist weder seine „private Meinung“ noch der Spezialistendiskurs der internationalen Presse, sondern die Rückmeldung seitens der Kunden im Supermarkt. Auch wenn er Umsatzeinbußen nicht statistisch nachweisen kann, ist für ihn der Unterschied in der Kundenakzeptanz zwischen Lustenau und seiner anschließend gebauten Filiale im Ortszentrum von Weiler ausschlaggebend: Wenn man das in Weiler hört, da haben wir nur Sympathie. Ich habe noch nie gehört, daß das Objekt nicht entsprechen sollte oder daß das ein Schandfleck sei oder daß das der Bevölkerung auch nicht gefällt. Diese Architektursprache hat allgemein eine große Zustimmung gefunden.44

Sutterlüty gewichtet hier eindeutig: Ein positives Echo der Fachpresse wiegt die Nachteile nicht auf, die ein Widerstand aus der Bevölkerung für ihn als Supermarktbetreiber und Vermieter von Ladenlokalen in dem betreffenden Gebäude bringt. Daraus leitet er das Rezept für seine weitere Architekturpolitik ab: Architekturformen, die den Kunden ästhetisch verunsichern, sind zu vermeiden. Ich glaube, man muß aufpassen, wenn man sich mit dem Supermarkt auseinandersetzt, daß man hier nicht eine Form, ich weiß nicht, ob „aggressiv“ das richtige Wort ist, aber eine Architektursprache wählt, die den Betrachter vor die schwierige Entscheidung, vor diese, wie soll ich sagen, Gratwanderung stellt, ist es jetzt schön oder ist es nicht schön.45

Wiederum identifiziert Sutterlüty damit ein charakteristisches Merkmal Zeitgenössischer Architektur, das gleichermaßen für Zeitgenössische Kunst zutrifft und das wegen seiner besonderen Relevanz im sozialen Kontext in der Kulturkritik Bourdieus, seiner Gegenüberstellung von „Populärer Ästhetik“ und „Ästhetischer Distanzierung“, die jede „legitime Kultur“46 kennzeichne, zentral steht. Gerade das Lustenauer Bauwerk, das mit seiner Fassade aus transparenten Kunststoff-Doppelstegplatten ein ursprünglich aus „banalem“47 Kontext stammendes Material durch seine neuartige Verwendung ästhetisch verfremdet und mittels Einbeziehung in einen architektonischen Kontext nobilitiert, offenbart seinen Reiz vor allem demjenigen Betrachter, der den Kontext der Vorbilder kennt und den konkreten Einzelfall als deren Variation oder ästhetische Weiterentwicklung erkennt. Diese ästhetische Strategie der Herauslösung des konkreten Werks aus seinen Alltagsbezügen (im Fall von Architektur auch aus denen des konkreten Ortes) und seine Neupositionierung in einem Bezugsfeld, das nur „Spezialisten“ vertraut ist, hat Bourdieu als eine Strategie jeder „legitimen Kultur“ identifiziert, die in Konfrontation mit einem „ungebildeten“ Publikum insbesondere dessen genaue Wahrnehmung des eigenen Ausschlusses zeigt:

45 JS: Z 297 ff 46 Bourdieu (1979), S. 64 ff 47 Zum Begriff des Banalen in der Architektur vgl.

die Studie „Minima Aesthetica – Banalität als strategische Subversion der Architektur“, die u.a. auch auf Vorarlberg Bezug nimmt. Bauer (1996)

Das Kunstfeld nobilitiert „banale“ Materialität

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[Als] Symptom für das, was sie [die Einzelnen dieses Publikums] gelegentlich als Absicht empfinden, den Nicht-Eingeweihten auf Distanz zu halten, oder (...) als Wille, mit anderen Eingeweihten „über die Köpfe des Publikums hinweg“ zu sprechen.48

Architektur und Unternehmenskultur

In der Einleitung zu vorliegender Arbeit haben wir in ebenjenem Bezugsfeld, auf das die „Schönheit“ von Architektur deutet, ein Unterscheidungsmerkmal von Architektur und „Nichtarchitektur“ identifiziert. Dieses Bezugsfeld und die soziologische Analyse seiner Konstitution und Wirkmacht geben uns Kriterien an die Hand, die eine Gegenüberstellung von architektonischer mit jener handwerklichen Baukultur erlauben, die im Forschungsfeld diejenige Tradition darstellt, gegen welche die Vertreter Zeitgenössischer Architektur seit Ende des Zweiten Weltkriegs ihren normativen Anspruch durchsetzen. Anstatt eine Polarisierung der Bevölkerung in Befürworter und Ablehner zu schaffen, sucht Sutterlüty im Anschluß an sein Objekt in Lustenau, mit seinen Bauten uneingeschränkte Zustimmung zu erhalten, indem er die Architektursprache so wählt, daß sie „allgemein zugänglicher“ ist, „weil wir es uns als Anbieter natürlich nicht leisten können, daß wir unsere Kunden vor den Kopf stoßen“49. „Kunden nicht vor den Kopf zu stoßen“ bedeutet, den ihnen unterstellten Vorstellungen zumindest nicht zu widersprechen. Sutterlüty, Akteur in der gesellschaftlichen Architekturpraxis Vorarlbergs, artikuliert in der Architektursprache seiner Bauten neue Plausibilitäten, die die Materialsprache des Baumaterials Holz als Brückenschlag zur Repräsentation „heimischer Kultur“ nutzen.50 Daneben löst Sutterlüty Architektur aus ihrer Fixierung auf die Gebäudehülle, um sie intensiver mit dem Funktionsgefüge des Supermarkts zu verschmelzen. Auslöser für diesen Schritt sind die Standortbedingungen des Bauplatzes für eine neue Filiale im Ortskern von Weiler. Wir haben dem Architekten vorgegeben, ein Markt schaut nur so aus. Das haben wir auch mit K. so gemacht. Und er hat uns am Standort Weiler gesagt, „wenn Du das machst, dann hol Dir jemand, der keine Architektur will, weil das Objekt, der Standort, ist kaputt. Denn, wenn ich die Lagersituation, die Rampen und diese Dinge in den sichtbaren Bereich an der Straße holen muß, dann habe ich im Endeffekt eine unruhige Situation, kann die architektonische Linie nicht durchziehen“, deshalb hat K. gesagt, „jetzt bitte laß uns doch mal in den Inhalt des Marktes gehen, wir wollen da mitentwikkeln“. Das war dann auch die Idee, daß wir gesagt haben, o.k., da brauchen wir ein halbes Jahr dazu, und wir haben den Weg gefunden mit ihm, daß wir heute den Markt sowohl so, als auch so errichten können.51

Die lange Entwicklungszeit, die für den neuen Supermarkt in Weiler aufgewendet wird, ergibt schließlich einen neuartigen inneren Funktionsablauf, der insbesondere erlaubt, eine weltweit gültige Regel zu durchbrechen: „Man geht (normalerweise) gegen den Uhrzeigersinn. Auf der ganzen Welt. Nur bei uns nicht. Wir haben das umgedreht. Kundinnen haben das sofort festgestellt: ‚Hier stimmt was nicht.‘ Aber wir haben das trotzdem gewagt, weil wir den Raum neu aufteilen wollten.“52 Eine übliche Aufteilung hätte an diesem Standort dazu geführt, den hermetischen Block der Lager- und Kühlräume und den Rampenbereich der Anlieferung entlang der Dorfstraße anordnen zu müssen, wogegen sich der Architekt gewehrt hatte und mit seiner Weigerung,

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eine schematische innere Struktur lediglich attraktiv zu verpacken, erzwang, erstmals auch an der Domäne der Ladenbauer beteiligt zu werden. In diesem Vorgang geschieht eine entscheidende Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs von Architekten gegenüber ihrer ansonsten üblichen Beschränkung auf die Verpackung anderweitig definierter Inhalte, wie sie die Tiroler M-Preis-Kette repräsentiert und die für einen wachsenden Sektor von Unternehmen charakteristisch ist, die Architektur als Corporate Identity einsetzen.53 Um nochmals mit Bourdieu zu sprechen, bedeutet diese Erweiterung in Bezug auf den Kontext von Kunst als Referenzraum für Architektur, daß mit dem Schritt in die innere Struktur, wie ihn Sutterlüty vollzogen hat, die „Ablehnung jeder Art von ,Involviertsein‘,(...) die zumindest indirekt dem Geschmack für Formexperimente (...) zugrundeliegt“54, aufzugeben ist. Sutterlüty erlebt diesen Schritt der Verschmelzung von Inhalt und Form als Wagnis:

Zweckform und Bedeutungsform

Ich bin sehr froh, daß wir es geschafft haben mit dem K., denn ich hab am Anfang auch nicht geglaubt... Das hat aber erst damit begonnen, als wir das Innenleben dem Architekten transparent gemacht haben. Daß er verstanden hat,wie unsere Wege gehen. Er hat sich die Logistik angeschaut, wie wird ein Lkw ausgeladen, wie viele Leute arbeiten dort, warum, was haben die für Funktionen. Und plötzlich ist er gekommen und hat gesagt, „ich hab Euch einen kürzeren Arbeitsweg“. Und passend in die Architektur und in die Abwicklung. Also, plötzlich hat er für uns gedacht. (...) Der Architekt kann viel rationaler denken, wie wir, in gewissen Ebenen. Und hat uns dann auch echte Vorteile gebracht.55

Sutterlüty setzt seine Erkenntnis, daß Architekten eine systematische Intelligenz besitzen, die sich außer für Formexperimente und Bauprinzipien auch zur Entwicklung von Funktionsabläufen, speziell für das Inbeziehungsetzen von Räumen mit Funktionsabläufen, eignet, in eine Planungspraxis um, die Spezialisten seines Unternehmens und Mitarbeiter des beauftragten Architekturbüros, „die inzwischen gelernt haben, wie ein Supermarkt funktioniert“56, verwebt. Dies zieht eine Rückwirkung auf die Architektursprache fast zwangsläufig nach sich. In seiner neuen Rolle hat der Architekt seine künstlerhafte Unabhängigkeit weitgehend aufgegeben, um Dienstleister seines Kunden zu sein.57 Das Ergebnis, in dem es nicht mehr um Neuerfindung, sondern um Anpassung eines etablierten Typs an die Besonderheiten der jeweiligen Lage geht, erlaubt dem Bauherrn umfängliche Kontrolle. Sutterlütys Feststellung „das Projekt Weiler ist ja nicht nur eine Architek58 tur“ und seine Bestimmung dessen, was hier Architektur übersteigt, „das Verständnis des Inhalts“59, erlaubt, seinen Begriff von Architektur zusammenfassend herauszupräparieren: Architektur ist ursprünglich losgelöst vom Inhalt vorhanden, folgt anderen Gesetzen als denen des Inhalts und existiert 48 49 50 51 52 53

Bourdieu (1979), S. 66 JS: Z 305 ff Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz JS: Z 618 ff JS: Z 592 ff Christian Kühn beschreibt diesen „Trend, (...) in

vielen Branchen die Nachfrage nach Architektur“ zu heben, „wobei die Ansprüche an Repräsentation und Effekt freilich um einiges schneller wachsen als die Budgets und die Freiheiten.“ Kühn (2006) 54 Bourdieu (1979), S. 69 55 JS: Z 920 ff

Architekt als Dienstleister

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auch unabhängig von diesem. Hier wird die Metamorphose sichtbar, die Architektur in ihrer Verschmelzung mit der Bauwerksfunktion vollzieht und ihre neue Qualität, nicht nur schön, „denn der schönste Supermarkt nützt mir nichts, wenn der Raum es nicht zuläßt, daß wir unsere Effizienz, die gefordert ist, (...) auch erreichen können, nämlich Personalkosten, Logistikstrukturen etc.“60, sondern auch gut im Sinn des Betriebsablaufs zu sein. Erst ein den regulären Architekturentwurf übersteigender Prozeß der Zusammenarbeit ergibt das, was der entwickelte Gebäudetyp jetzt repräsentiert, nämlich ein variierbarer Typ zu sein, der in unterschiedlichen Kontextsituationen immer gleich effektiv funktioniert. Der Gebäudetyp der Sutterlüty-Märkte ist in seiner Zusammenführung architektonischer und ablaufspezifischer Anforderungen nun eher eine „Maschine mit Karosserie“ und eben nicht mehr eine Hallenplastik als „Markensignal“. Das unterscheidet ihn von den M-Preis-Märkten und überhaupt von jeder Architektur, bei der der semantische Aspekt die Funktionserfüllung dominiert. Bauherr als Baukostenverwalter

Die Steuerung der Baukosten hat Sutterlüty selbst in die Hand genommen.61 In der Trennung von Architektur und Baukosten liegt für ihn der Schlüssel zur Widerlegung eines populären Vorurteils, das unser Gespräch thematisch eingeleitet hatte, „ein Architekt baut teuer und ein Nichtarchitekt baut günstig“62. Mittlerweile gilt für ihn eine vollständige Umkehrung dieser Voraussetzungen: „Wir bauen heute architektonisch hochwertige Supermärkte deutlich günstiger, wie wir früher schlechte Projekte gebaut haben.“63 Was die 56 JS: Z 560 f 57 Rambow weist darauf hin, daß die Frage, inwieweit Architektur Dienstleistung sein kann, für die Definition von Architektur – und damit für das Selbstverständnis der Architekten – von zentraler Bedeutung ist. Die Praxis der Vorarlberger Architektenszene weicht hier vom Mainstream Zeitgenössischer Architektur ab und zeigt weit geringere Berührungsängste mit solcher Kundennähe, als in Architektenkreisen außerhalb Vorarlbergs vorstellbar erscheint. Rambow zufolge könnte also gefragt werden, inwieweit die Vorarlberger Architekten damit bereits den traditionellen Architekturbegriff auflösen: „Bedeutsam dabei ist, daß diese Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie einem Verständnis von Architektur als Dienstleistung, wie es heute oft gefordert wird, grundsätzliche Grenzen setzt. Dienstleistungen im engeren Sinn sind vollständig heteronom, d.h. über ihren Nutzen und ihre Qualität entscheidet in letzter Konsequenz allein der Empfänger, also der Kunde. Die Zufriedenheit seines Kunden, die sich in wirtschaftlichem Erfolg niederschlägt, ist das einzige Kriterium, an dem sich der echte Dienstleister orientiert. Die Architektur im traditionellen Sinn würde schlechterdings aufhören zu existieren, wenn sie sich als reine Dienstleistung begriffe.“ (Rambow, S. 20)

Eine 2008 veröffentlichte Studie zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Berufsfeld[s] Architektur, so der Titel, erlaubt, den hier festgestellten Wandel des Selbstverständnisses der Architekten in Bezug auf den vormals verpönten Dienstleistungsaspekt ihres Berufs auf dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Neubewertung von Architektur als „zeittypisch“ zu interpretieren: „[Im Zuge der etwa seit 2000 in Österreich zunehmend als Wirtschaftsfaktor wahrgenommenen und geförderten ,Kreativwirtschaft‘] wurde nun auch die Kultur- und Kunstproduktion letztendlich der umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche unterworfen. (...) Diese (nun scheinbar vollzogene) Verschiebung der gesellschaftlichen Bewertung von Kultur markiert wohl den schärfsten Bruch, den die zeitgenössische Architektur–Kultur zu ihrenVorläufern einnimmt: Die Kulturleistung ,Architektur als Kunstform‘ wird zur Kulturleistung ,Architektur als Wirtschaftsfaktor‘. (...) Fazit, aus Künstlern werden Geschäftsleute der sogenannten Kreativindustrie gemacht, das Selbst- und Außenbild ändert sich radikal.“ Schürer/Gollner, S. 34 f Woltron (2007) bestätigt Schürers/Gollners Befund. 58 JS: Z 235 59 JS: Z 242 60 JS: Z 243 ff

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konkrete Kostenstruktur betrifft, verbucht Sutterlüty den kaufmännischen Zugriff auf die Arbeit seines Architekten als Weiterentwicklung: „Wir haben von Weiler bis Rohrbach, das ist der letzte jetzt, den wir vor zwei Wochen eröffnet haben, die Kosten um über zwanzig Prozent gesenkt.“64 Die Auseinandersetzung mit Architektur ist nach der Investition von Geld, Zeit und Engagement in die Entwicklung eines Prototyps nun in eine Phase getreten, in der dessen Bestandteile, inzwischen vertraut geworden, nach und nach optimiert werden. Im Vergleich der später gebauten Sutterlüty-Märkte mit dem Prototyp in Weiler fällt etwa auf, daß die raumprägende Deckenuntersicht, ursprünglich eine Massivholz-Dreischichtplatte, nun durch eine billigere OSB-Platte ersetzt oder die Anordnung der Brettstöße an der Außenfassade von einer individuellen Komposition zu einer regelmäßigen Ordnung vereinfacht worden sind. Die Architektur ist also aus der Kontrolle des Architekten in diejenige des Kaufmanns übergegangen, der seine Aufgabe darin sieht, das Nötige vom Unnötigen zu scheiden beziehungsweise das Minimum des Nötigen zu ermitteln. Was beim Prototyp noch ein festes Budget gewesen sein mag, das nach der Kostenschätzung dem Architekten zur Verwaltung überantwortet wurde, ist jetzt in allen Einzelposten auf dem Prüfstand. Die Beziehung der Bestandteile, die in der ursprünglichen, vom Architekten bestimmten Gesamtkomposition noch gegeneinander ausbalanciert werden konnte – hier sparen, dort aufwerten – wird in der „Optimierungsphase“ aufgelöst, um die Einzelelemente voneinander isoliert auf ihre Kosten-NutzenRelevanz untersuchen, die Aufwertungsnischen aufspüren und diese nun ebenfalls durch billigere Lösungen ersetzen zu können. Solange Architektur „Kunst“ ist, besitzt der daraus entstehende Nimbus offensichtlich auch die Funktion eines Schutzes vor genau dem Zu- und Übergriff, der bei Sutterlüty stattgefunden hat. Eine ähnlich systematische Eliminierung ihrer Freiheitsgrade kennzeichnet den Architektureinsatz gewerblicher Bauträger, Thema des letzten Abschnitts im Kapitel Haus. In der Beziehung, die zwischen Architektur und der Schichtung der Gesellschaft besteht und in deren spezifischer Beschaffenheit wir bereits ein Kennzeichen der Vorarlberger Architektur identifiziert haben, gibt es außer der Haltung, die der Bauherr gegenüber der Öffentlichkeit als „Publikum“ einnimmt, einen weiteren Aspekt, den Jürgen Sutterlüty anspricht: Gerade in den letzten paar Jahren habe ich festgestellt, daß ganz einfache Leute aus dem Mittelstand sich in Architektur auskennen und sich damit auseinandersetzen, daß das für sie ein Thema ist.65

Architektur zu beauftragen ist nach seiner Einschätzung anderen sozialen Schichten als „einfachen Leuten“ vorbehalten, Bessergestellten, Angehörigen höherer sozialer Schichten. Dieses soziale Modell besitzt im Forschungsraum historische Tradition. Es sind die Fabrikdirektoren66 der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die mit der Textilindustrie das Land nicht nur öko-

Kunstkontext schützt vor Übergriffen

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Normalfall Architektur

Handwerk als semantische Referenz

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nomisch und sozial umprägten, sondern auch die architektonische Tradition begründeten, welche Vorarlberg an die kulturelle Moderne anschließt. Daneben existiert eine handwerkliche Baukultur fort, die die Artefakte des bäuerlichen Lebens umfaßt. Sutterlütys nähere Bezeichnung der von ihm angesprochenen Beziehung zur Architektur „daß das für sie ein Thema ist“ deutet an, daß es bei der angesprochenen Auseinandersetzung um den eigenen Hausbau geht, er also einen Wandel im Sektor der Einfamilienhäuser feststellt, in dem immer mehr auch mittelständische Bauherren Architekten mit Planungen beauftragen, wodurch aus einer Ausnahmesituation ein Normalfall Architektur geworden sei. In der Zusammenschau mit seiner Eingangsfeststellung „Also, grundsätzlich behaupte ich, daß ich ganz einen schwachen Zugang zur Kunst generell habe. Ich bilde mir meine Meinung und habe meinen Geschmack.“67, in der er selbst „Kunst“ als Überkategorie von Architektur eingeführt hatte, um sich persönlich sofort wieder davon auszunehmen, heißt dies, daß mit dem festgestellten Wandel der sozialen Herkunft des Bauherrn auch die Architektur eine andere wird: wo sie beim Fabrikbesitzer noch den Bildungshorizont eines Großbürgertums repräsentieren durfte, der „Kunst“ jedenfalls mitumfaßte, fallen diese Bildungsinhalte für die neue Bauherrenschicht der „einfachen Leute“ weg. Auch der „einfache“ Bauherr will sein Haus „verstehen“ und sich von seinem Haus repräsentieren lassen. Architektur hat sich in solchen Fällen dem Wahrnehmungshorizont der neuen Bauherrenschicht anzupassen und auf alle ausschließenden Kunstreferenzen zu verzichten. Andere Referenzen treten an deren Stelle, im trivialsten Fall Vorbilder aus Fernsehserien, die das amerikanische „Südstaatenhaus“ mit seinem weißlackierten Holzwerk zitieren, oder der Luxusauto-Look „futuristischer“ Häuser. Sofern die Architektur der „Holzkisten“, der häufigsten Erscheinungsform Vorarlberger Architektur, als Aufruf von „Handwerk“ als referenzieller Kategorie mit möglichst breiter Zugänglichkeit betrachtet wird, die Zeitgenössische Architektur Vorarlbergs der regionalen Öffentlichkeit und ihren Bauherren also vom Handwerk her erschlossen wird, ergibt sich daraus eine Wirkungsweise, die umgekehrt funktioniert wie Bourdieus sozialwissenschaftliche Bestimmung von Hochkultur als speziell „untere“ soziale Schichten ausschlie61 JS: Z 213 ff 62 JS: Z 190 f 63 JS: Z 216 ff 64 JS: Z 531 ff 65 JS: Z 173 ff 66 „Der Architekt war [bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts] überwiegend individuellen Personen aus Aristokratie und gehobenem Bürgertum verpflichtet und konnte deren Ansprüche in einer exklusiven und dauerhaften Beziehung realisieren.“ Rambow, S. 38 67 JS: Z 142 ff

68 Daß gerade das Bewußtmachen einer Entfremdung von der Handarbeit und ihre Kompensation durch die „Authentizität“ der handwerklich hochwertig umgesetzten Holzhäuser zum Erfolgsrezept der Vorarlberger Architekten speziell gegenüber Bauherren mit akademischer Bildung gehört, widerspricht nicht der formulierten These von der Sonderstellung Zeitgenössischer Vorarlberger Architektur in bezug auf ihren Kunstkontext. Die festgestellte Umformung ländlicher Räume zu einer Wohnumgebung, deren Bildhaftigkeit speziell Akademiker anzieht, gehört zu diesem Thema. Vgl. Architektur im Dorf, Kapitel Dorf

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ßendem System. Diesmal sind es gerade die Akademiker, die typischerweise der Handarbeit fernstehenden, „besseren“ Leute, die in der spezifischen Wahrnehmung relevanter Qualitäten (zunächst) benachteiligt scheinen.68 So bildet sich aus der Betrachtung von Architektur als Kunst und ihrer Anwendung auf exemplarische Fälle des Forschungsfeldes eine Arbeitshypothese dieser Studie heraus: In der Spannung, die zwischen Architektur, ihrer akademischen Basis und der breiten Zugänglichkeit liegt, die ihr in Vorarlberg zugesprochen wird, ist etwas Untypisches und Bemerkenswertes zu vermuten. Architektur, wiewohl Sparte der Hochkultur, tritt hier ohne ihren sonst charakteristischen Hang zur sozialen Segmentierung eines öffentlichen Publikums auf. Umso intensiver, lautet die Folgerung aus dieser Annahme, dürfte ihre Eignung als Medium sozialer Praxis ausgeprägt sein, als das sie im Mittelpunkt dieser Studie steht.

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Laien nehmen Architektur vor allem als Fassade wahr, Grundrisse sind Experten vorbehalten

Der erste Abschnitt dieses Kapitels richtete sein Augenmerk auf den Konflikt, in dem Architektur als „öffentlichste der Künste“1 steht, indem das Kunstfeld, das ihren Referenzraum bildet, die Öffentlichkeit zwangsläufig – und gemäß Bourdieu sogar bewußt – ausschließt. Dieser ersten Annäherung an Architektur über die gemäß den jeweiligen Vorkenntnissen völlig unterschiedliche Wahrnehmung durch akademisch vorgebildete Experten einerseits und Laien, darunter die mehrheitlich „ungebildete“ Öffentlichkeit sowie die nicht minder „laienhaften“ Auftraggeber andererseits, haben wir in der Einleitung eine soziologische Analyse unterlegt. Eine solche Annäherung erfaßt vor allem die Repräsentationsfunktion von Architektur sowie die visuell wahrnehmbaren Aspekte der Bauwerke. Neben der Baukörperform, deren Wahrnehmung bereits ein am Abstrakten geschultes Sehen voraussetzt, betrifft dies in erster Linie die Fassade. Die Fassade, mit der das architektonische Werk dem Betrachter gegenübertritt, sein Aushängeschild, ist, wie die Gespräche der vorliegenden Studie zeigen, oftmals der einzige, jedenfalls der zentrale Gegenstand öffentlicher Konflikte um Architektur.2 Die öffentliche Wahrnehmung setzt „Architektur“ also im allgemeinen mit „Fassade“ gleich.3 Architektur als „nichts als Fassade“ aufzufassen hieße jedoch, entscheidende „innere“ Qualitäten, darunter das Herkommen der Disziplin Architektur aus der Vermessungskunst, zu verkennen sowie die Grundrisse, die mit ihrer Eigenschaft, den Bewegungsraum zu ordnen, weit wirksamer unser Leben bestimmen als alle Fassaden, zu ignorieren. Mit dem Schritt von den Fassaden, die wie der Mensch selbst senkrecht zur Erdoberfläche stehen, in den waagerechten Schnitt, den Grundriß, geht ein Wechsel von einer direkten Wahrnehmbarkeit baulicher Oberflächen in eine indirekte Betrachtung einher, die nur noch von Plänen vermittelt wird. Es ist ein Eindringen in eine Sphäre, die schon aufgrund der Künstlichkeit, die der Vorgang des horizontalen Schneidens aller Bauteile, Wänden wie Stützen, Fenstern und Türen, darstellt, ausschließlich denjenigen zugänglich ist, deren Seherfahrung für die Decodierung des Dargestellten geschult ist, und unter diesen nur solchen, denen Pläne überhaupt zugänglich sind oder zugänglich gemacht werden.4 1 Rambow, S. 19 2 Wolfgang Schmidinger berichtet in unserem ersten Gespräch von den unüblichen Fensterformaten der „Architektenhäuser“ der 1980er Jahre, „das waren schon die ersten Schlitze“, und ihrer provozierenden Wirkung auf die Bregenzerwälder Öffentlichkeit. WS 1: Z 335 ff 3 Die Praxis der Bauträger, ausschließlich über Fassaden für ihre Objekte zu werben, nutzt und dokumentiert diesen Umstand. PG: Z 410 ff

4 Wer einen Plan hat, besitzt den Schlüssel zum Haus. In Erich Kästners Pünktchen und Anton zeichnet das Kinderfräulein ihrem Bräutigam einen Plan, um ihm den Einbruch in das Haus ihrer Herrschaft zu ermöglichen. „Du, heute saß sie in ihrem Zimmer und zeichnete mit dem Bleistift Vierecke, und in dem einen stand Wohnzimmer und im anderen Arbeitszimmer...“, erzählt Pünktchen ihrem Freund Anton von Fräulein Andachts verdächtigem Verhalten. (Zürich: Atrium, 1938; S. 70)

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Aufgrund dieser Voraussetzungen basiert das Ausgangsmaterial dieses Abschnitts, der in Ergänzung zum vorhergehenden für eine einigermaßen zureichende Begriffsbestimmung von Architektur unabdingbar ist, auf Gesprächen mit Architekturexperten, also Architekten wie Hans Purin und Gunter Wratzfeld, und – weil der Sonderfall Vorarlberg die Gespräche unseres Forschungsprojekts vollständig durchdringt – Planern, die wie Norbert Mittersteiner Architektur auch ohne „Befugnis“ der Architektenkammer, kraft Selbstbestimmung als „Baukünstler“ und bestätigt durch ihre soziale Reputation als solche, ausüben.5 Architekten sprechen über Architektur normalerweise anhand von Grundrissen. Das Haus ist vertreten durch seinen horizontalen Schnitt. Während meines Gesprächs mit Hans Purin über sein Evangelisches Pfarrhaus auf dem Ölrain in Bregenz liegt der aufgeschlagene Achleitner auf dem Tisch zwischen uns, der briefmarkengroß die Grundrißfigur des 1974/75 entstandenen Hauses abbildet.6 Das Wort „Plan“, im heutigen Sprachgebrauch auf alle Bauzeichnungen angewendet, ist ursprünglich dem Grundriß vorbehalten gewesen. „Plan“ leitet sich etymologisch von lateinisch planta (Fußsohle) ab und hat mit dieser die vermittelnde Bedeutung „Grundfläche“ gemein. Ein weiterer Abkömmling von planta ist „Pflanze“, ein Wort, das seine Bezeichnung aus dem Feststampfen der Erde um den Setzling erhalten hat und damit weniger das Naturgewächs als vielmehr seine Kulturform meint. Erst später wird der Begriff auf alle Gewächse ausgedehnt, ohne den Grundsinn des Kulturvorgangs ganz zu verlieren.7 Im griechischen planos, planes ist eine Verbindung zu „Planet“, „umherschweifend, Wandelstern“, enthalten, eine Bedeutungsübertragung, die sich ursprünglich von der Bezeichnung derjenigen Bewegung ableitet, die eine sich auf der Weide ausbreitende Herde vollführt.8 Beiden etymologischen Wurzeln von „Plan“ gemeinsam ist der Hinweis auf archaische Kulturtätigkeiten des Menschen, das Kultivieren der Pflanzen im Ackerbau ebenso wie das Umhegen der umherschweifenden Herdentiere, eine Tätigkeit, die gemeinsam mit dem Anlegen des Ackers gleichzeitig die allererste Abgrenzung und, mit der Nutzbarmachung einhergehend, die erste Aneignung von Land in der ursprünglichen Naturlandschaft bedeutet. 5 Daß dieser sozialen Reputation eine nur eingeschränkte fachliche Reputation gegenübersteht, daß also die Baukünstler ohne Architektenbefugnis den befugten Architekten im innerfachlichen Diskurs keineswegs gleichgestellt sind, schließt Norbert Mittersteiner aus dem Umstand, daß er seine Werke aus den fachlichen Würdigungen durch die regelmäßigen Holzbau- und Bauherrenpreise ausgeschlossen sieht. NM: Z 1440 ff Auch der Zwischenruf „Designerarchitektur“ eines

weiteren Baukünstlers ohne Architektenstatus als Publikumsbeitrag beim ORF-Gespräch zwischen Walter Fink und Friedrich Achleitner am 26.04.2005 deutet auf das Vorhandensein eines solchen latenten Konflikts und auf die Wirksamkeit von Bourdieus „Feinen Unterschieden“ selbst im, was die Auslegung des Architektengesetzes betrifft, betont liberalen Vorarlberg. Vgl. dazu auch Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg 6 Achleitner (1980), S. 411

Der Begriff Plan verweist auf archaische Kulturtätigkeiten

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Es ist nicht zufällig ein Amerikaner, Bewohner eines Landes, dessen „Kultivierung“ so kurze Zeit zurückliegt, daß dieser Vorgang, und mit ihm die Figur des Pioniers, für seine Nation noch identitätsstiftend wirkt, der in seinen Prairiehouses die Gleichzeitigkeit von Messen und Bauen exemplarisch praktiziert und damit der Modernen Architektur in die Wiege gelegt hat. Frank Lloyd Wright, Urvater der modernen Architekten, fügt mit dem Entwurfsraster, das seinen Häusern und ihren Grundstücken zugrundeliegt, diese dem Vermessungsraster ein, mit dem die Gesamtfläche seines Heimatlandes unter Thomas Jefferson 1785 überzogen worden war, und weist mit seiner Methode gleichzeitig vorwärts auf die Zukunft der industriellen Vorfabrikation von Bauelementen. Der foot, der menschlichen Fußsohle, der planta, entnommenes Grundmodul des amerikanischen Maßsystems, ist Sinnbild des Abschreitens von Land im Vorgang seiner Vermessung. Seine dingliche Entsprechung ist das archaische, menschengeformte Baumaterial schlechthin, der Ziegel, dessen Länge im amerikanischen Format, das Wright etwa in seinem Robie House als römisch anmutenden Flachziegel verwendet hat, genau einen foot beträgt.9 Anschaulicher könnte der Kurzschluß nicht demonstriert werden, der zwischen Messen und Bauen, Grundstück und Bauwerk besteht und der Aneignung durch den Menschen, die das Land, die Naturlandschaft, die ursprünglich nur sich selbst zu eigen ist, durch seine Vermessung und Bebauung erfährt.10 Der Plan oder Grundriß repräsentiert somit Organisation und menschengemachte Ordnung im umfassenden Sinn. Sobald die im ersten Schritt der Kultivierung über das Land gezogenen Linien des Vermessungsrasters in Eigentumsgrenzen überführt sind, überdauern sie gewöhnlich weit längere Zeiträume als die innerhalb dieser Grenzen errichteten Häuser.11 7 Der Große Duden, Band 7, Etymologie, Ausgabe 1963; S. 505 8 A.a.O., S. 514 und S. 162 9 Prechter (1997), S. 24 ff 10 Noch die mediale Inszenierung der US-amerikanischen Mondlandung verknüpfte den menschlichen Fußabdruck mit dem Anspruch der Inbesitznahme von Land, indem sie das Bild des im Mondstaub konservierten Abdrucks eines Astronautenstiefels zum zentralen Symbol erhob. Eine präzise Rekonstruktion der Aufzeichnungspraxis und Materialgrundlage rund um die ikonenhafte Fußspur verdanke ich meinem Bruder Werner Kranwetvogel, Berlin, Regisseur und Raumfahrtspezialist: Der Fuß gehört Edward „Buzz“ Aldrin, dem zweiten Mann auf dem Mond. Er war Copilot von Neil Armstrong bei der Apollo-11-Mission vom 16. bis 24.07. 1969, der ersten Apollo-Mission, deren Besatzung den Mond tatsächlich betreten hat. Das Foto wurde aufge-

nommen am 20.07.1969, ihrem einzigen Tag auf dem Mond. Den eigentlichen Stempelabdruck, also die symbolische Inbesitznahme, vollführte Neil Armstrong, allerdings nur in jener berühmten Videosequenz dokumentiert, in der er von der Leiter der Mondfähre springt. Diese wurde von einer automatischen Kamera aufgezeichnet, die außen an der Mondfähre befestigt war. Aldrin hat anschließend diese Sequenz nochmals fotografiert, indem er Armstrong den Vorgang wiederholen ließ. Nachdem das Foto des Fußabdrucks auf dem gleichen Film wie die Abstiegssequenz von Armstrong zu finden ist, stammt das Bild also aus Aldrins Kamera. Die Kameras waren an der Brust der Astronautenanzüge befestigt und besaßen übergroße Schalter, um mit den klobigen Handschuhen bedienbar zu sein. Der Fuß ist in Laufrichtung nach oben fotografiert. Es ist also anzunehmen, daß Aldrin sich einfach nach unten gebeugt und seine eigene Fußspur fotografiert hat.

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Zuweilen sind dies Jahrtausende, wie die Römermauer zeigt, die in Nachbarschaft des Pfarrhauses auf dem Ölrain noch heute den Friedhof eingrenzt. Purins Geschichte vom Totengräber illustriert die wechselnden Nutzungen der so dauerhaft abgegrenzten Parzellen. Und herüben, (...) der Friedhof ist das, da war eine Therme, und der Totengräber, den hab ich als Pensionist, noch als alten Herrn kennengelernt (...). Da sterben nicht so viele, weil die Gemeinde klein ist, und er hat einmal erzählt, er hat immer den Mosaikboden durchgehackt, geschlagen, oder, wenn er ein Grab, ein neues Grab gemacht hat, und alles verschwinden lassen, daß man das ja nicht sieht (...). Da gibts eine Mauer, also direkt vorm Kirchplatz, und da ist der Friedhof, da gehen Stufen runter, und die Stützmauer ist noch römisch, (...) das schaut aus wie ein Straßenpflaster, das senkrecht ist.12

Hierin läßt sich städtisches und ländliches Bauen unterscheiden: Daß in der Stadt der Bauplatz begrenzt ist – etwa buchstäblich durch eine Stadtmauer, durch eine geographische Vorzugslage oder durch einen Flußlauf, der die Grenze bildet, städtisches Bauen daher frühere Bauten an gleicher Stelle überlagert. Ländliches Bauen dagegen ist typischerweise Bauen auf unbebautem Grund, damit Überführung von Natur- in Kulturland. Purins Pfarrhaus, als ebenerdiges Atriumhaus konzipiert, beansprucht wie Frank Lloyd Wrights Robie House die gesamte Grundstücksfläche und ist mit seinem ummauerten Gartenhof und dem Gemeindesaal in einer Weise zu einem Komplex verbunden, die an Häuser antiker Städte denken läßt, deren Typ noch heute in den städtischen und ländlichen Hofhäusern des arabischen Raums fortlebt. In diesem Haustyp greift der Plan direkt in die über- oder vorgeordnete Ebene der Landvermessung und Parzellierung ein oder ist mit dieser deckungsgleich, ist gleichermaßen Hausbau und Landnahme. So kann Purin, um die Grundstücksgröße zu ermitteln, im Gespräch die Stützenachsen des Hauses zählen und in diesem Vorgang das Stück Land, auf dem es steht, gleichsam abschreiten: „Die Stützen, das sind immer drei Meter (zählt Stützenachsen), zehn, das sind dreißig Meter, bis da her, und dann kommt noch der Saal dazu.“13

Städtisches und ländliches Bauen

In sozialer Hinsicht wird die Vorrangstellung des Grundrisses gegenüber den senkrechten Dimensionen des Bauwerks dadurch betont, daß er den horizontalen Bewegungsraum des Menschen festlegt. In dieser Funktion regelt und ordnet er die Form des Zusammenlebens, den Bewegungsraum jedes einzelnen Bewohners sowie die Verbindungs- und Trennstellen zwischen ihnen und der Mitmenschheit.14 Hans Purin ist sich bewußt, daß er mit seinen Entwurfsentscheidungen zum Grundriß des Gemeindesaals gleichzeitig eine „soziale Form“15 schafft:

Architektur beeinflußt soziale Verhaltensweisen durch räumliche Angebote

11 „...und im März steckte der Architekt mit Pflökken und Strängen von Angelschnur in einem Eichenwäldchen, der Taverne und dem Laden gegenüber, die rechtwinkligen schlichten Fundamente ab, unwiderruflicher Grundriß nicht nur für das Gerichtsgebäude, sondern auch für die Stadt, und er sagte es ihnen

im voraus: In fünfzig Jahren werdet ihr das ändern wollen, im Namen dessen, was sich dann Fortschritt nennen wird. Aber das wird euch nicht gelingen; ihr werdet nie davon loskommen.“ William Faulkner: Requiem für eine Nonne; Zürich: Fretz & Wasmuth, 1956 12 HP: Z 369 ff

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Das ist ja dieser Vorplatz, dieser gedeckte Eingang, das war auch so eine Überlegung, daß man nach der Kirche stehen kann, da heraußen, unter Dach noch... etwas, das bei einer Kirche überhaupt gemacht werden soll, daß Außenräume sind, die gedeckt sind, daß die Leute sich nicht gleich verlaufen.16 Soziale und geometrische Ordnungen

Der grundlegende Akt von Architektur, den horizontalen Bewegungsraum des Menschen innerhalb des Hauses zu ordnen sowie die Stellung des Hauses auf dem Grundstück festzusetzen, trägt neben dem sozialen Potential, damit nicht nur Bewegungs-, sondern auch Begegnungsräume, Individualund Kollektivräume zu schaffen, auch die Tendenz in sich, von den sozialen Folgen des Ordnens abzusehen und die abstrakte Geometrie der erzeugten „Figuren“ in den Vordergrund zu rücken. Die Sprache der Architekten offenbart die Vorzugsstellung der Geometrie nicht nur in LeCorbusiers berühmtem Satz von der Architektur als das „weise, korrekte und großartige Spiel der Körper unterm Sonnenlicht“.17 „Mit dem Quadrat hab ich mich sehr viel beschäftigt“18, beschreibt mein Gesprächspartner, Architekt Gunter Wratzfeld, seinen Antrieb zu geometrisierenden Haus- und Siedlungsentwürfen, zu denen die größten in Vorarlberg gehören. „Das größte Projekt, das ich gemacht hab’, ist die Siedlung an der Ach, das sind tausend Wohnungen, und da ist ein Quadrat neben dem anderen. Wie ein Schachbrett.“19 Wratzfeld begründet nicht weiter, was genau ihn am Quadrat so stark interessiert, daß er es bereits bei seinem ersten Haus, das er in Watzenegg für seinen Bruder geplant hat und das heute zu den Architekturikonen des Landes zählt, allen Entwurfsgedanken vorangestellt hat. „Was Sie hineininterpretieren, ist mir wurscht, oder. Aber wenn Sie hernehmen die Villa Rotonda in Vicenza, dann ist das ein Quadrat, oder, das nach zwei Achsen orientiert ist, und da so drübersteht, oder.“20 Aus seinem Hinweis auf Palladio ist zu schließen, daß der quadratische Grundriß zusammen mit der solitären, beherrschenden Stellung von dessen Villa Rotonda21 für ihn Architektur per se verkörpert. Aus der Entscheidung zum quadratischen Grundriß resultiert zwangsläufig die Gleichwertigkeit aller Fassaden, die Betonung des Zentrums22, das Solitäre des Baukörpers und das Potential zu einer herrisch-repräsentativen Haltung gegenüber der Umgebung, die mit ihrer demonstrativen Abgeschlossenheit jedes An- und Weiterbauen verunmöglicht.23 13 HP: Z 197 ff 14 Der englische Kunsthandwerks-, Architektur- und Sozialreformer William Morris schrieb 1881 in „Art and socialism“: Die Architektur umfaßt die gesamte physische Umwelt, die das menschliche Leben umgibt. Wir können uns ihr nicht entziehen, denn die Architektur ist die Gesamtheit der Umwandlungen und Veränderungen, die im Hinblick auf die Bedürfnisse des Menschen auf der Erdoberfläche vorgenommen werden!“ Hüter (1976), S. 81 Robert Evans widmet sich unter dem Titel „Der Plan und seine Bewohner“ der Korrelation von Wohn-

hausgrundrissen und Sozialverhalten. Die Einführung des Korridors anstelle direkt verbundener Durchgangszimmer repräsentiert in seiner Interpretation das neu erwachte Bedürfnis nach Privatsphäre, das einhergeht mit einer Reduzierung sozialer Kontakte zwischen den Bewohnern des Hauses. Evans (1996) Eine vergleichbare Entwicklung läßt sich im Forschungsfeld nachweisen: Die „Architektenhäuser“, wegen ihrer langgestreckten Baukörper als Traditionsnachfolger der Bauernhäuser präsentiert, vollziehen in ihrer Grundrißorganisation einen radikalen Bruch mit der traditionellen, um die zentrale Feuerstelle

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In der verselbständigten Geometrie und ihrer symbolischen Ordnung, ebenso wie in den Rasterordnungen, die in den Häusern Frank Lloyd Wrights noch den verbindenden „Takt“ für ein individuell durchkomponiertes baukünstlerisches Gefüge bildeten, in den Händen von Technikern jedoch in gerader Linie zur Bauteilnormierung und zu Versuchen führten, das gesamte Bauen über eine einzige Modulordnung24 zu vereinheitlichen, liegt ein potentielles Kippmoment von Architektur in Technokratie. Die Formung der Baustoffe zu einheitlichen Modulen, ihre Fügung zu den geometrischen Körpern der Gebäude und den städtebaulichen Großfiguren der Siedlungen ist reine Materie-Ordnung und ignoriert allzuleicht, zumal in politisch totalitären Systemen, den Umstand, daß jeder Bau soziale Umgebungen schafft. In der Person Ernst Neuferts, jedem Architekten im deutschsprachigen Raum durch seine Bauentwurfslehre vertraut, überschneiden sich prototypisch der aus der gesuchten Nähe zur industriellen Produktion resultierende „Glaube an eine umfassende Systematisierung“, der die Architekturmoderne der 1920er Jahre, speziell das Bauhaus als ihr ideologisches Zentrum, auszeichnet, und der daraus resultierende „umfassende Kontrollanspruch“ als „Schnittstelle zur NS-Ideologie“. Neufert, einer der ersten Bauhaus-Studenten in Weimar, wurde 1938 von Albert Speer zum Beauftragten für die Rationalisierung des Berliner Wohnungsbaus ernannt. Noch gegen Ende des Dritten Reichs entwarf er eine gigantische „Hausbaumaschine“, die, auf Schienen vorwärtsrollend, hinter sich betongegossenen, fünfgeschossigen Zeilenbau hinterlassen sollte, zehn Wohnungen pro Woche für die „zerstörten Städte“ und „die gewaltigen Bauaufgaben im Osten“. Waffen und Bauindustrie benutzen, wie Paul Virilio herausgestellt hat, die gleichen „Transportvektoren“.25 Gerade im Wohnungsbau war im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts massenhafter Neubaubedarf entstanden. Die fortschreitende Industrialisierung und die Verstädterung in ihrem Gefolge, die durch die Weltkriege ausgelösten Flüchtlingsströme und ihr Wiederaufbaubedarf und nicht zuletzt die politisch bedingten Massenumsiedlungen, Vorarlberg betreffend, diejenige der Südtiroler, hatten seit den 1920er Jahren auch auf dem Bausektor Entwicklungen zu industrieller Vorfabrikation vorangetrieben. Damit waren die technischen Voraussetzungen zu jenem Großsiedlungsbau geschaffen worden, der aufgrund der zunehmend sichtbaren sozialen Mißstände innerhalb der neugeschaffenen gruppierten Grundrißorganisation, an deren Stelle sie einen modernen, linearen Korridorgrundriß setzen. Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus 15 „Der Raum ist kein Gegenstand, er ist eine soziale Form.“ Henri Lefebvre in Czaja (2007) 16 HP: Z 455 ff 17 LeCorbusier I in: Posener (1979), S. 47 18 GW: Z 775 ff 19 GW: Z 811 ff 20 GW: Z 1061 ff 21 Andrea Palladio: Villa Rotonda, Vicenza (1566/67)

22 Beispiele aus Wratzfelds Werk hierfür sind die Mittelsäule im Kindergarten Koblach, die zentrale Erschließung in Haus Watzenegg und der Achsiedlung, die Dachlaterne über dem Stiegenhaus im Wohnbau Lustenau u.a. 23 Beim Haus Watzenegg haben Heike Schlauch und Robert Fabach, im Bregenzer Architekturbüro Raumhochrosen verbunden, im asymmetrischen Geländeanschluß seines Untergeschosses trotzdem eine Möglichkeit des „unterirdischen“ Weiterbauens gefunden und 2001/2002 realisieren können. Veröffentlichung u.a. in: Architektur aktuell 4.2006, S. 128 ff

Architektur als Technokratie und Totalitarismus

Soziale Aspekte in der Architektur der 1980er Jahre

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Wohnghettos seit Mitte der 1960er Jahre in den Fokus soziologisch grundierter Kritik geriet. Der Titel von Alexander Mitscherlichs Pamphlet von 1965 Die Unwirtlichkeit unserer Städte wurde zum Slogan einer breiten Kritik am Bauwirtschaftsfunktionalismus. Hier und in seinen folgenden Schriften mahnte der Autor, unterstützt durch seinen Rang als prominenter Sozialpsychologe, für Architektur und ihre Ausbildung eine erneute Übernahme sozialer Verantwortung an: Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist eine immer geschlossenere technische Zivilisationsumwelt entstanden. Ihre Planung ist ohne ausreichendes Wissen, man kann sagen, mit schreiendem Unwissen, über die menschlichen Bedürfnisse erfolgt. Obgleich dem Architekten jetzt eine völlig neue Funktion zufällt, nämlich in den allermeisten Fällen nicht mehr Schöpfer von Denkmälern, sondern Planer des einzig erreichbaren Erlebnis- und Erfahrungsraumes der wachsenden Menschheit zu sein, ist es bis heute noch zu keiner Durchdringung des Lehrganges der Architekten mit den Wissenschaften vom menschlichen Verhalten und der Entwicklung dieses Verhaltens gekommen.26

Das Büro Wratzfeld, zur Zeit der Veröffentlichung von Mitscherlichs Analysen gemeinsam mit den Architekten Jakob Albrecht und Eckhard SchulzeFielitz mit der Planung der Bregenzer Großsiedlung an der Ach befaßt, war Ende der 1970er Jahre Treffpunkt für eine Gruppe von Architekturstudenten und Sprungbrett in ihre partnerschaftliche Berufsausübung als Cooperative. Ihr Erstlingswerk, die Siedlung Im Fang in Höchst, formuliert eine typologische Antwort im Sinne der Kritik am anonymen Großsiedlungsbau jener Zeit und positioniert seine Planer nah an den meist mit knappen Budgets ausgestatteten Bauherren und zunächst in scharfer Opposition zu den in konventionellen Vorstellungen verhafteten Baubehörden. Ihr durch seinen sozialen Anspruch revolutionäres architektonisches Programm ordnet sie im Rückspiegel der Architekturkritik einer mit Beginn der 1980er Jahre sich formierenden Zweiten Generation27 der Vorarlberger Baukünstler zu. Die sozialen Aspekte ihres architektonischen Programms, neue Wohnformen, insbesondere das familiäre und familienübergreifende Zusammenleben, Selbstbau und die Integration gemeinschaftlichen Gebäudeerhalts in die Siedlungsplanung, sowie die Identifizierung von Gründen für diesen Paradigmenwechsel in der Architektur der 1970er und 1980er Jahre, werden Inhalt der folgenden Kapitel sein.28 An dieser Stelle, die den Fokus auf die Eigenschaft institutionalisierter Architektur richtet, als Ordnung in Erscheinung zu treten, interessiert vor allem, daß die Siedlung Im Fang weit mehr Kontinuität für einen im formalen Sinn traditionellen Architekturbegriff verkörpert, als ihre Rezeption an prominenter Stelle suggerieren möchte, die die oberflächliche Erscheinung als „gebasteltes Experiment“ und die Legende, als Baupraktikum einiger Architekturstudenten entstanden zu sein, für die Sache selbst nimmt.29 24 GW: Z 1048 ff 25 Pias (1994) 26 Alexander Mitscherlich: Vom möglichen Nutzen der Sozialpsychologie für die Stadtplanung (1971), zit. in Rambow, S. 40

27 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, Anm. 76 28 Vgl. vor allem Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz, sowie Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf

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Also, unser Gespräch, und die geistige Befassung mit dem ganzen, das war sicher zwei, drei Jahre, oder. Und dann ist es natürlich ziemlich rasch gegangen. Aber es war einfach die geistige Vorbereitung.30

So gibt Norbert Mittersteiner, aus dem Bauhandwerk stammender Planer mit eigenem Büro und seit den 1990er Jahren als Vorarlberger Baukünstler exponiert, der mit seiner Familie als einer der Erstbewohner noch in der Siedlung lebt, zur Auskunft und eröffnet im Gespräch den Blick auf eine architektonische Makro- und Mikroordnung mit enormer konzeptioneller Eindringtiefe, die den Siedlungskomplex bestimmt. Die äußerlich nicht wahrnehmbare strukturelle Verwandtschaft zwischen Achsiedlung und der Hausgruppe Im Fang besteht im gemeinsamen Rastermaß, das die zukünftige Cooperative gemeinsam mit Wratzfelds Partner Eckhard Schulze-Fielitz31 zu Raummodulen weiterentwickelt hatte. Alle 3,60 steht eine Säule, und in dem 3,60er Raster spielt sich das Ganze ab. Also, der geht über die ganze Siedlung durch, oder. (...) Ein 3,60er Feld kann man abteilen, in ein Klo und ein Bad, und ein Gang und ein Klo, und zwei Elemente sind ein Wohnzimmer, und ein Element ist ein Eßzimmer, ein Element oder ein halbes ist eine Küche.32

Das räumliche Raster ist hier Voraussetzung für die Entwicklung einer für Vorarlberg neuartigen, räumlich verschränkten Siedlungstypologie. Hierfür ist nicht die Corbusier-Schule vorbildgebend, die die prototypischen Entwürfe von Atelier 5 in der benachbarten Schweiz, vor allem ihre Siedlung Halen bei Bern (1955–61)33, und dieser folgend, auch Hans Purin mit seiner HaldeSiedlung in Bludenz (1965–67)34, repräsentieren, indem sie schmale Reihenhäuser in Schottenbauweise aneinandersetzen. Eher kann die räumliche Komplexität, mehr noch die introspektive Ausrichtung auf den Wintergarten im Kern jedes Hauses anstelle der Aussicht nach draußen mit einem Loos-Haus und damit einer „Wienerischen“ Architekturhaltung verglichen werden.35 „Weil er im Zentrum des Hauses immer sitzt, kriegt man natürlich sehr tief das Licht in den Rest des Hauses. Das heißt, die Hauptlichtquelle war eigentlich der Wintergarten.“36 Neben seiner Rolle, die der zweigeschossige Wintergarten für die Belichtung und damit auch für die nach innen orientierte Ausrichtung der Häuser spielt, repräsentiert er das bauphysikalische Prinzip der „Pufferräume“, das nach der „Makroordnung“ der Raummodule als zweites architektonisches Ordnungsprinzip für den Bau der Siedlung entwickelt worden war. 29 „Das provokant gebastelte Experiment der Siedlung ,Im Fang‘ begründete Mitte der siebziger Jahre die zweite Generation der ,Vorarlberger Baukünstler‘, deren Intelligenz der Einfachheit und Ökonomie eine neue Qualität der Architektur definierte.“ Dieter Steiner in: Becker, Steiner, Wang, S. 222 30 NM: Z 446 ff 31 Die Bedeutung der Projekte Eckhard Schulze-Fielitz’, darunter die Bregenzer Siedlung An der Ach zusammen mit den Architekten Wratzfeld und Albrecht, erfuhr als exemplarisches Ergebnis einer zeittypischen architektonischen Entwurfsstrategie in der Ausstel-

lung Megastructure Reloaded in Berlin 2008 eine späte Würdigung. Vgl. Maak Das Bregenzer Kunsthaus nahm sich des Themas 2011 in seiner Ausstellung Yona Friedmann und Eckhard Schulze-Fielitz an. 32 NM: Z 525 ff 33 Atelier 5 – Siedlungen und städtebauliche Projekte; Braunschweig: Vieweg, 1994, S. 30 ff 34 Achleitner (1980), S. 406 35 Vgl. die Analyse von Adolf Loos’ Villa Müller, Prag, in: Prechter (1997), S. 82; vgl. auch Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus, Anm. 65

Legende vom „gebastelten Experiment“

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Die ganze Siedlung war aufgebaut mit Einfachverglasung, also vier Millimeter Einscheibenglas. (...) Vom Eingang her – Haustüre, Innenhof, ist ein Windfang, und dann kommt die eigentliche Haustüre, also immer Pufferzonen, also die Pufferzone war ja das einfachste architektonische Mittel unserer Gestaltung. Beim Wohnhaus selber genau dasselbe: Außenverglasung der Wintergarten, Innenverglasung der Wohnraum, also auch wieder eine Zweifachverglasung. Und das nächste ist natürlich das Fensterelement, das Fenster ist ja dieses Kastenfenster, oder. Fenster nach außen aufgehend, der Wind drückt den Außenflügel an, und den Innenflügel. Also immer zweifach, die zwei Gläser mit der Pufferzone, Kastenfenster ist nichts anderes als ein Wintergarten mit der Pufferzone, oder.37 Bauphysikalisches Prinzip und architektonische Ordnung

Architektonische Ordnung und Baukomponenten

Ähnlich wie schon der Raster der primären Tragkonstruktion, auf dem die Raummodule basieren, ist auch der Wintergarten Teil eines architektonischen Ordnungsprinzips. Die Entscheidung zu Einscheibengläsern führt zwangsläufig zur Verdopplung der Fensterebenen, zwischen denen dann größere oder kleinere Pufferräume angeordnet sind. Die Einpassung der unterschiedlichen Situationen in dieses Prinzip ist nur durch intensive konzeptionelle Durcharbeitung zu erreichen. Die Konsequenz, mit der das geschah, ist weder mit technischer noch mit finanzieller Notwendigkeit erklärbar, sondern allein durch das Streben nach einer architektonisch gerechtfertigten Ordnung. Voraussetzung dieser Ordnung ist ein Entschluß zum technischen Rückschritt. Das Prinzip dieser Ordnung ist die Zerlegung der im Fensterbau eingesetzten Halbfabrikate in ihre Einzelkomponenten. Anstelle von Bauteilen auf dem aktuellen Stand der Technik, etwa Zweischeiben-Isoliergläsern, werden ausschließlich Einfachverglasungen eingesetzt, die komplexen und hochentwickelten Beschläge, die normalerweise Fensterstock und Flügelrahmen verbinden, sind auf ihre notwendigsten Funktionen reduziert und durch Kistenbeschläge aus dem Baustoffhandel ersetzt. Material der architektonischen Ordnung ist nun das archaische, unveredelte Rohmaterial: Glas, Holz von der Sägerei, Beschläge aus dem Baumarktsortiment. Wenn das Halbfabrikat Isolierglas und das von der Industrie erzeugte Bauteil Fensterbeschlag also in ihre Einzelteile zerlegt werden müssen, um architektonisch verwertbar zu werden, und der architektonische Entwurf be36 NM: Z 565 ff 37 NM: Z 582 ff 38 Oder war das ein Anliegen der Zeit, welches gar nicht der Architektur selbst entsprang, sondern die Architektur als Medium nutzte? Ein Anliegen, bestehende „Systeme“ aufzulösen und „besser“ neu zusammenzusetzen? Sich gegen das Ausgeliefertsein an die „Systeme“ zu wehren? Ist also die gleichzeitig stattfindende Auseinandersetzung der Architekten mit den Behörden eine in diesen Kontext gehörige „Systemdekonstruktion“? Ein Schlachtfeld, das zwar mit den Mitteln der Architektur ausgetragen wurde, tatsächlich aber ein soziales und politisches war. Was durchaus als Wechselwirkung gesehen werden kann: Die Architektur als politische Provokation gebrauchen, also als „Waffe“ in der politischen Auseinandersetzung einsetzen, die politi-

sche Auseinandersetzung sich in der Architektur abbilden lassen, also als Mittel der Formerzeugung nutzen. Epochenübergreifend heißt das für Architektur, daß diese jeweils Medium für zeittypische Anliegen ist, nicht nur Medium im sozialen Diskurs, also Sprache, sondern auch Medium für den sozialen Diskurs, also Spiegel. Daß diese Haltung zeitgleich auch in die Praxis der bildenden Kunst Eingang fand, illustriert ein Zitat Joseph Beuys’, wiedergegeben von einem seiner Schüler, Jonas Hafner, sinngemäß zitiert: „Wenn ein Maler, um ein Bild zu malen, in einen Laden geht, um sich Leinwand, Pinsel, Farbe zu kaufen, hat er (die Kunst?) schon verloren.“ 39 NM: Z 244 ff 40 Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz

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inhaltet, daraus eine neue, nunmehr individuelle Ordnung zu schaffen, stellt dies die Baukomponenten-Industrie zu Architektur in Konkurrenz.38 Eine dritte Ordnung tritt den Raummodulen und dem architektonisch definierten Prinzip der Pufferräume an die Seite, sobald der Maßstab der Betrachtung erneut um eine Stufe vergrößert wird. Die Erfindung war eben ein Kreuzprofil, oder, und da haben wir die getrockneten Hölzer gekauft und den Falz da (zeigt auf den Pfosten der Wintergartenverglasung) vierseitig über die Kreissäge, das hat man dann auf der Baustelle gemacht, den Falz herausgeschnitten, oder. Und der Trick bei dem war immer, die Überlegung, oder, auf der einen Seite zum Beispiel mit dem Profil, das man rausschneidet, das war dann nachher die Glasleiste, weil wir alles mit Einfachglas gemacht haben, oder wenn man das Profil als Zwischenwandelement gewählt hat, hat man einfach einseitig eine Platte rein oder zweiseitig eine Platte und eine Dämmung, dann war das Konstruktion.39

Das geschilderte Prinzip des Rahmenbaus umfaßt überraschend große Bereiche. Nicht nur die Fenster, auch Türen, Veranden, Innenausbau sind nach dem gleichen Prinzip konstruiert, mehr noch, basieren auf dem gleichen Profil. Nachdem aber dieses System nicht übertragen wurde auf andere Projekte, weil dort die Produktionsbedingungen andere waren und weil das Kostenargument, das Norbert Mittersteiner vorbringt, offensichtlich nur im individuellen Selbstbau-Fall der Siedlung Im Fang gegolten hatte40, wird das Kreuzprofil von der Kreissäge zum Kennzeichen der Siedlung im Sinn einer Signatur. Sein präziser Ort ist nicht der Rohbau, dem hier die Primärkonstruktion entspräche, sondern der Ausbau, die „innere Fassade“, der Ort also, an dem auch das historische Decorum seinen Platz hatte.41 Wie objektiv kostengünstig zu bauen ist, hat die Cooperative in ihren Projekten nach der Siedlung Im Fang demonstriert: mit industriell vorgefertigten Standardfenstern. Die eigene Siedlung stammt demgegenüber aus einer völlig anderen Welt: Sie ist Architektur im traditionellen Sinn eines Einzelstücks mit eigener Ordnung. Daß diese Ordnung nicht aus Stein, sondern aus Holz, daß sie nicht kanonisch, sondern technisch definiert, daß sie ohne Repräsentationsattitüde, sondern im Gewand einer „Baracke“ auftritt, steht zum vertretenen Anspruch, einzigartig und damit genuin Architektur zu sein, nicht im Widerspruch. Es ist Architektur, indem es kunstgerecht42 geordnet und systematisiert ist.43 41 Thomas Gronegger hat in seiner Untersuchung des Petersdoms in Rom herausgearbeitet, daß auch dem traditionellen künstlerischen Decorum solche Signatur-, Ordungs- und Orientierungseigenschaften innewohnen. Im Fallbeispiel unserer Studie tauchen sie unter den Bedingungen der Moderne wieder auf – als Bestandteil von Architektur, die, mittlerweile auf offensichtlichen Schmuck verzichtend, ebenso verborgen wie die Figur des Grundrisses, erst im Schnitt durch den Innenausbau ihre ornamentale Signatur, ihr Decorum offenbart. Was Gronegger für Michelan-

gelos Profile im Petersdom erforscht hat, daß sie den Bau sowohl ordnen, indem sie ein Orientierungssystem bilden, als auch codieren, also Ordnung im Doppelsinn von Geordnetsein und Abzeichen sind (vgl. Der Große Duden, Bd. 7, Etymologie (1963); Stichwort Orden, S. 482), davon steckt einiges im Profilsystem der Siedlung Im Fang. Vgl. Gronegger (2000) „Woran erkennt man, daß hier und sonst ein BauKunstwerk vorliegt?“ Auch Hans Döllgast interpretiert das Sockelprofil der Alten Pinakothek München als unverwechselbare „Signatur“. Döllgast (1957), S. 16

Ordnung als Signatur

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50 Verborgene Figuren der horizontalen Schnitte

Rückwirkung von Achleitners Inventar auf den gesellschaftlichen Rang von Architektur

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An drei Beispielen, Purins Pfarrhaus, Wratzfelds Grundrißquadraten und der Siedlung Im Fang der späteren Cooperative, konnte herausgearbeitet werden, daß in der Schaffung von Ordnungen ein Wesenszug institutionalisierter Architektur liegt. Diese Ordnungen weisen zurück auf spezifisch menschliche Kulturtätigkeiten wie das Ackerbauen und die Aneignung von Land durch Vermessen, Parzellieren und Bebauen, Tätigkeiten, die neben ihrer primären Funktion der Existenzsicherung des Einzelnen den Menschen als Kulturwesen ausweisen.44 Die Künstlichkeit und Individualität ihrer Ordnungen, die Architektur vom bloßen Bauen abgrenzt, erzeugt gleichzeitig ihren Wert und Rang als Kulturzeugnis, der den Werken der Architektur seitens der Gesellschaft beigemessen wird. Repräsentiert ist dieser „Kanon“45 einerseits durch die Akademien und Hochschulen, die ihn als Architekturlehre von einer Generation an die andere weitergeben46, daneben durch Sammlungen und Archive47, die die kanonischen Werke dokumentieren. Der Achleitner48 bildet ein österreichweites Inventar dieser als Architektur anerkannten Bauten, in gewisser Weise dem Dehio vergleichbar, der ein Inventar exemplarischer denkmalgeschützter Bauten ist. Mit dem Unterschied zu diesem jedoch steht hinter dem Achleitner keine Bundesbehörde als Herausgeber, die für die Verleihung des Status „Denkmal“ befugt und zuständig ist. Das Phänomen Friedrich Achleitner, seine Autorität als Person, seine gleichermaßen fachliche wie sprachliche Kompetenz und sein Werk, das flächendeckende Inventar, sind sicherlich einmalig als moderner nationaler Architekturkanon. Sie geben der Architektur Österreichs etwas leicht Faßliches, das ihre Bedeutung innerhalb der Kulturgattungen hebt, sie förderungswürdig 42 „Wie damals Saussure die Strukturen der Sprache, so untersuchen die holländischen Neoplastizisten, wie sie sich nennen, die Grammatik der Ausdrucksund Gestaltungsmittel, der allgemeinsten Techniken der bildenden Künste, um diese im Gesamtkunstwerk einer umfassenden architektonischen Gestaltung der Umwelt aufzuheben. ,In Zukunft‘, sagt von Doesberg (sic!), ,wird die Verwirklichung des reinen darstellerischen Ausdrucks in der greifbaren Realität unserer Umwelt das Kunstwerk ersetzen‘. (...) In Bruno Tauts Schlagwort ,was gut funktioniert, sieht gut aus‘ geht gerade der ästhetische Eigensinn des Funktionalismus verloren, der in Tauts eigenen Bauten so deutlich zum Ausdruck kommt.“ Habermas, S. 14 43 Das Erstlingswerk, das die Siedlung ist, konkretisiert in mehr als dreijähriger Planungszeit die technischen Möglichkeiten der Selbstbaugruppe, insbesondere die Ausstattung der Wagnerwerkstatt von Reinelde Mittersteiners Vater, in einem gleichermaßen simplen wie universellen Ausbausystem. Dieser Anspruch auf Universalität demonstriert gemeinsam mit Rastersystem und Raummodulen die Tendenz der Disziplin Architektur zum Systematischen.

Zum Aspekt des Selbstbaus vgl. auch Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz 44 Vgl. auch die Ausführungen zur Beziehung zwischen Architektur und Agrikultur in: Böhme (2001) 45 Der Begriff Kanon wird hier von derjenigen Wortverwendung auf das Feld der Architektur übertragen, die im kirchlichen Bereich die unabänderliche Liste religiöser Texte bezeichnet, welche die offizielle kirchliche Anerkennung besitzen. 46 „Mein Studium beim Professor Rainer war natürlich sehr umfassend, das war auch sehr geschichtsbezogen, denn bei Rainer mußte man die Geschichte der modernen Architektur und des Bauhauses und die Entwicklung in Wien sehr genau kennen und die ist auch gefragt worden und abgefragt worden und mußte man also in der Diskussion mit Professor Rainer beantworten können und Rainer hat einem da sehr viel auf den Weg mitgegeben.“ GW: Z 139 ff Die Architekten der Nachkriegsmoderne knüpfen an bei der Geschichte „ihres Stiles“, in den zwanziger Jahren, beim deutschen Bauhaus und der Wiener Moderne. Der 65-jährige Wratzfeld spricht von seinem „Professor Rainer“, als hätte er soeben sein Studium

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und förderungsfähig macht, ihr Sprache, Bedeutung und Repräsentation verleiht. Der Achleitner ist nicht auf Vollständigkeit bedacht, sondern wählt seine Objekte nach Kriterien des Exemplarischen aus. Die beschriebenen Objekte sind durch ihre Aufnahme der Masse des Anonymen enthoben, nobilitiert und als Kulturgut verewigt.49 Neben der Architekturlehre wird der architektonische Kanon wirksam, indem seine Werke in situ aufgesucht werden. Hierin ist eine erste Parallele zur Religionsausübung feststellbar, wenn die Architekturexkursion als Wallfahrt betrachtet und die Teilnehmer an die Stelle von Pilgern gesetzt werden. Die Architekturexkursion50 gehört zum festen Ritualbestand des „Systems Architektur“, ausgeübt selbst von seinen Großen, wie die dokumentierten Besuche LeCorbusiers auf der Athener Akropolis oder Mies van der Rohes im griechischen Theater von Syrakus zeigen.51 Die soziale Funktion des Architekturkanons ist, Architektur zum Kulturgut zu erheben und die in ihm verkörperten Ordnungen und Ordnungstraditionen „als Vermittlungsinstanz der jeweils herrschenden Rationalität mit der Sinnenhaftigkeit menschlicher Welterfahrung“52 präsent zu halten.53 So genießen architektonische Werke im Gegensatz zu „anonymen“ Bauten54 einen hohen Grad an Abgeschlossenheit, Unantastbarkeit, auch rechtlich verankerten Veränderungsschutz. Im regionalen Kontext grenzt der Architekturkanon Heimat und Nichtheimat gegeneinander ab und interpretiert die in den Bauten repräsentierte Gegenwart vergangenheits- oder zukunftsbezogen.

beendet, und fühlt sich in seinem Werk den Inhalten dieser Lehre verpflichtet. Indem sich die Hochschulen und Akademien somit als Orte der Kanonisierung der Moderne verstehen, müssen Revolutionäre und Neubeginner zwangsläufig von außen kommen, als Nichtakademiker und „Autodidakten“. Daß sich etwa LeCorbusiers Erneuerungskraft auf die Architektur seiner Zeit wesentlich aus seinem Selbstverständnis als Autodidakt speist, weist Julius Posener in seiner ersten Vorlesung über LeCorbusier nach. Posener (1980), S. 44 ff. Ähnliche Identitätskonstruktionen finden sich bei Frank Lloyd Wright und bei Adolf Loos. 47 Vgl. Abschnitt Architektenstand, Anm. 67 48 Achleitner (1980) 49 Vgl. Abschnitt Baukünstler im Kapitel Vorarlberg 50 Der Architekt Helmut Galler nimmt meinen Gesprächspartner, Tischlermeister Wolfgang Schmidinger, auf Reisen mit, die an klassische Bildungsreisen erinnern. Man reist dorthin, wo Architekten Werke hinterlassen haben, die „noch eine Berechtigung haben“ (WS 3: Z 351ff), studiert den Stand der bauli-

chen Entwicklung, besucht Möbelwerkstätten, die die klassischen Architektenentwürfe herstellen. Architektur stellt sich hier als Sammlung von Referenzen und Standards dar, an denen sich das Eigene zu messen hat. Als konsistenter Schatz auch, als Ausweis einer Bewegung in einem Ländergrenzen übergreifenden europäischen Kulturraum. 51 Posener (1979), S. 45 52 Gleiter, S. 7 53 Oder umgekehrt, aus diesem zu tilgen, wie die Sprengungen nationalsozialistischer Schlüsselbauten, etwa der „Ehrentempel“ beim Münchner Königsplatz und unzählige andere Beispiele, jüngst der Abbruch des „Palastes der Republik“ auf dem Berliner Alexanderplatz, zeigen. 54 Purin erwähnt die Kritik des Bauherrn-Nachfolgers an seinem Pfarrhaus, ohne gleichzeitig Änderungen seines Werkes zu erwägen (HP: Z 142 ff). Eine ähnliche Haltung legt der Architekt der Kirche in Altach an den Tag, die Purin selbst dann einem radikalen Wandel einer Längs- in eine Querorientierung des Kirchenschiffs unterzieht (HP: Z 644 ff).

Architektur ist Referenz eines Kulturraums

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Architektur als Kulturform des Bauens

Die Betrachtung von Bauwerken diente in den beiden vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels dazu, erste Annäherungen an den Begriff „Architektur“ zu finden. Die Bezugnahme auf ein Kunstfeld und die eigenen Ordnungen konnten als Indikatoren für die Abgrenzung derjenigen Bauten identifiziert werden, die innerhalb des gesamten Bauens als Architektur gelten dürfen. Architektur als Kulturform des Bauens ist in ihrer gegenwärtigen Ausprägung alles andere als selbstverständlich, allgemeinverständlich und zwangsläufig. Ebenso wie andere (alltags-)kulturelle Felder, wie die Medizin oder das Rechtssystem, ist Architektur das Ergebnis eines sozialen Prozesses mit geographisch eingrenzbarer Gültigkeit1, der geschichtliche Entwicklungen, politische Verhältnisse und gesetzliche Regelungen2 eines Raumes ebenso integriert wie technische Neuerungen und der zu seiner Weiterentwicklung den Wohlstand der Gesellschaft3 ebenso voraussetzt wie den Bildungsgrad ihrer Mitglieder zu deren Teilnahme an diesem Prozeß. Die Person des Architekten verzahnt die Werke der Architektur und ihr Zustandekommen mit der Gesellschaft, die diese Bauten beauftragt, sie nutzt und in deren Lebensumfeld sie gestellt werden. Architekten handeln nie isoliert, an welchem Ende des Spektrums zwischen Künstler und Dienstleister sie sich auch positionieren mögen, sondern sind über das soziokulturelle Netzwerk ihres Standes eingebunden in diese Kulturform des Bauens, die in Ermangelung eines etablierten Begriffs und zur Kennzeichnung ihrer festgefügten Organisiertheit4 hier hilfsweise als „System Architektur“5 bezeichnet werden soll. Bereits in den beiden ersten Abschnitten dieses Kapitels wurden einige Rahmenbedingungen dieses „Systems“ deutlich, die die Wahrnehmung der architektonischen Werke und den kulturellen Rang betreffen, der ihnen seitens der Gesellschaft zugemessen wird.6 Ergänzend hierzu soll dieser Abschnitt eine Skizze liefern, die die ge1 Insbesondere dort, wo sie sich auf die „architektonische Ordnung“ der traditionellen Bauernhäuser bezieht, erhält die Architektur einer Region ihre Rolle als Abgrenzung von Heimat gegen Nichtheimat. (HP: Z 891 ff) 2 Zur Beziehung zwischen Architektur und Staat vgl. Abschnitte Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, sowie Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf. 3 Architektur braucht Wohlstand und Frieden, da sie so lange „dauert“. Kriegszeiten sind Zeiten ohne Architektur (EW 2: Z 131 ff ). 4 Die Aneignung dieser Kulturform durch die Gesellschaft, also durch „Architekturlaien“ und die Formen ihres Gebrauchs bestimmen über den Grad ihrer Umwandlung vom hermetischen Kanon zum lebendigen Kulturgut. Dieser Zusammenhang erinnert an den Einfluß und die Wirkung von Laien innerhalb ei-

ner anderen traditionsreichen und festgefügten sozialen Institution, der christlichen Kirche. Auf die gegenwärtige Festgefügtheit des architektonischen Kanons und seine mögliche Ursache weist Otl Aicher, bezogen auf Deutschland, hin: „Es erweist sich als verhängnisvoll, daß design und architektur in der theorie von den kunsthistorikern verwaltet werden.“ Aicher (1991) 5 Hartmut Böhme, Professor für Kulturtheorie an der Humboldt-Universität Berlin, wendet den Begriff „System“ auf Architektur an, um ihr Verhältnis zur Gesellschaft zu verdeutlichen: „Doch mit den Systemen der Gesellschaft, deren eines Subsystem die Architektur darstellt...“. Böhme (2001) 6 Hierzu gehören rechtlich verankerte Schutzbestimmungen architektonischer Werke, basierend auf dem Urheberrecht des Architekten.

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sellschaftliche Position des Architekten, wie sie sich innerhalb des Forschungsfeldes darstellt, umreißt. Die rechtlichen Regelungen seiner Berufsausübung, die Bedingungen seiner Beauftragung, sein Auftritt und sein Selbstverständnis, die Beurteilung seiner Kompetenzen sowie die Beziehungen, die seine Berufsausübung mit sich bringt, einerseits zum Bauherrn und andererseits zu seinem Werk, bilden die Schwerpunkte der Erörterung. Nachdem die Laienperspektive aus dem vorangegangenen Abschnitt des Kapitels aufgrund der „Verborgenheit“der dort betrachteten architektonischen Ordnungen weitgehend ausgeschlossen war, kommt sie in diesem letzten Abschnitt, vor allem in der Sichtweise des Bauherrn auf seinen Architekten, wieder verstärkt zum Tragen. Architekten gehören den Freien Berufen an, da ihre Leistung für die Gesellschaft als notwendig gilt, wofür ihrer Berufsausübung seitens des Staates Privilegien gewährt (Honorarordnung) und Beschränkungen (Werbeverbot, Standesregeln, Verpflichtung zur Kammerzugehörigkeit) auferlegt werden. Diese Reglementierung sowie die den Freien Berufen gewährte Selbstverwaltung binden sie zu einem Berufsstand zusammen, dessen Vertretung, ähnlich wie bei Ärzten oder Anwälten, einer Kammer obliegt.7 7 „Ähnlich wie in Deutschland sind die Freien Berufe in Österreich nicht von der Gewerbeordnung erfaßt, sondern in Spezialgesetzen geregelt. Als Freie Berufe gelten (...) Architekten, Zivilingenieure, Ingenieurkonsulenten.“ http://de.wikipedia.org („Freier Beruf“) Stand 08.09. 2008 Rambow: „Architekten zählen in Deutschland, neben Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten, DiplomPsychologen u.v.a., zu den sogenannten Freien Berufen. (...) Juristische Definitionen liegen im Rahmen des Steuerrechts, (...) des Gesellschaftsrechts (...) und des Berufsrechts vor. Als charakterisierende Merkmale der Freien Berufe gelten insbesondere eine hohe berufliche Qualifikation und Kompetenz, die berufsaufsichtliche Selbstverwaltung und das Erbringen von ideellen Leistungen und Diensten mit hohem Gesellschaftswert. (...) Der Sinn der Reglementierung besteht im Prinzip darin, eine Balance von Verpflichtungen und Privilegien zu etablieren. Die Verpflichtung besteht in einem gesellschaftlichen Auftrag. Jeder Freie Beruf soll einen bestimmten als gesellschaftlich wichtig angesehenen Aufgabenbereich in einer Art und Weise „verwalten“, die das Eigeninteresse der Berufsangehörigen der Aufgabe unterordnet. Es handelt sich insofern um eine ethische Verpflichtung, deren Einhaltung durch die berufsständische Selbstverwaltung und die Sicherung der gleichbleibend hohen Qualifikation der zertifizierten Mitglieder gewährleistet werden soll. Die dafür gewährten Privilegien bestehen vor allem in der

Gewährung einer mehr oder minder gesicherten „Marktnische“. Durch den Schutz der Berufsbezeichnung und der Beschränkung bestimmter Rechte auf die Inhaber dieser Berufsbezeichnung wird die freie Konkurrenz der potenziellen Leistungsanbieter gezielt eingeschränkt. Die berufsständische Selbstverwaltung obliegt in Deutschland den Architektenkammern. (...) Die Berufsordnung der Architekten enthält zwei bedeutende Einschränkungen, und zwar zum einen ein Verbot individueller anpreisender Werbung. (...) Die zweite bedeutende Einschränkung (...) liegt in der Fixierung verbindlicher Preise für einzelne Leistungen. Diese Fixierung erfolgt in der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI). Der Preiswettbewerb zwischen verschiedenen Architekten ist dadurch – im Prinzip – zugunsten eines Leistungswettbewerbs ausgeschlossen. Das klassische Berufsbild des Architekten (...) beruht also insbesondere auf der Vorstellung, daß das Produkt der Architektenleistung für sich spricht („der Architekt wirbt durch seine Leistung“). (...) Der Gedanke der Selbstverwaltung des Berufsstands beruht letztlich auf der Vorstellung, daß die Qualität der Architektenleistung eigentlich nur von anderenArchitekten beurteilt werden kann. Ähnlich wie bei Ärzten sollte deshalb die Klärung von Rechtsstreitigkeiten durch reguläre Gerichte den seltenen Ausnahmefall darstellen, während die Regulierung durch die fachinterne Schiedsgerichtsbarkeit der bevorzugte Normalfall ist.“ Rambow, S. 14 ff

Architekten als Berufsstand

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54 Selbst- und Fremdwahrnehmung der Architekten

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Wichtiger noch als diese äußere Gebundenheit an die gesetzlich geregelten Bedingungen der Berufsausübung erscheint die innere Verbundenheit, die nicht nur „Anstandsregeln“ für den Umgang der Architekten untereinander definiert und Abweichungen hiervon als „berufsunwürdiges Verhalten“ wertet8, sondern vor allem gemeinsame inhaltliche Normen schafft. Die Architektenausbildung, das Architekturstudium, setzt diese Normen, der spätere standesinterne Fachdiskurs, zu dem die Forderung nach Publikationstätigkeit gehört9, festigt und aktualisiert sie. Die Wahrnehmung dieses Fachdiskurses seitens potentieller Bauherren, damit die Nützlichkeit der Veröffentlichungshäufigkeit als Mittel der Auftragsakquisition, wird von Architekten wegen des hohen Ranges, den der Fachdiskurs für ihre Selbstwahrnehmung besitzt, typischerweise überschätzt. So führt mein Gesprächspartner Architekt Gerhard Gruber die Beauftragung eines Kollegen für den Entwurf eines privaten Doppelhauses, das im betreffenden Dorf, Sulzberg-Thal, architektonische Initiativen von exemplarischer Bedeutung auslöste10, selbstverständlich auf dessen fachliches Engagement zurück: „Der (...) hat sehr viele Vorträge gemacht, theoretisch gearbeitet, und sie sind wahrscheinlich so auf ihn aufmerksam geworden.“11 In der Erzählung jenes Bauherrn über die Kontaktaufnahme zu seinem Architekten ist dieser nur zweite Wahl und kommt erst zum Zug, nachdem der eigentlich gewünschte Architekt, ein Schulfreund, den Auftrag abgelehnt hatte. Für den schließlich Beauftragten spricht vor allem, daß er Bregenzer ist wie der Mitbauherr und daß er sein Büro im Nachbarort Doren hat. Bauherr Wirthensohn: Und wie bist Du auf R. gekommen? Ich habe ihn nicht gekannt, sondern, wie war denn das, ich habe den H. gekannt, weil ich mit dem in die Schule gegangen bin... Und der konnte damals nicht, er hat gesagt, er hat kein Interesse, er hat zu viel am Hals. Und dann haben wir nach einer Alternative geschaut. Und der Theo (Bauherr der anderen Haushälfte) hat den R. von Bregenz her gekannt, weil der Theo ist auch Bregenzer. Und da hat der R. damals das Büro gehabt in Doren, da haben wir den einmal gefragt. So ist es zu der Geschichte gekommen.12

Im Gesprächsverlauf erwähnt auch Wirthensohn die publizistischen Aktivitäten seines Architekten. Als Voraussetzung einer Auftragserteilung dürften 8 Hans Purin berichtet von seinem Umbauprojekt der Kirche in Altach und dem vorgeschalteten Wettbewerb. Hier hat der ursprüngliche Architekt, im Bemühen, sein Werk zu verteidigen, die Anstandsregeln im Umgang mit den Berufskollegen verletzt, indem er die Wettbewerbsbedingungen unterlaufen hat: „Und das ist ja unanständig, das tut man ja nicht, oder? Wir haben uns hingesetzt und haben ein weißes Blatt Papier und müssen uns was einfallen lassen. Und der hat unsere Arbeiten gesehen, hat nachher angefangen...“ (HP: Z 661 ff) Noch an anderer Stelle dieses Gesprächs ist von der üblichen Konkurrenzsituation unter Architekten die Rede, die typischerweise ein Leistungs- anstelle

eines Preiswettbewerbs ist. Der Architekt wirbt durch sein „besseres Konzept“ und nicht etwa durch ein günstigeres Honorarangebot für seine Beauftragung. (HP: Z 43 ff) Vgl. auch: Standesregeln für Ziviltechniker, Pkt. 6: Verhalten gegenüber Kollegen; Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (Hg.); Wien: BIK, 2000 9 Der angesehene Bund Deutscher Architekten (BDA) erhebt die Publikationstätigkeit seiner Mitglieder zur Voraussetzung der Aufnahme. 10 Vgl. die ersten drei Abschnitte im Kapitel Dorf 11 GG: Z 215 ff 12 EW 1: Z 716 ff

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sie, entgegen der Einschätzung des Architektenkollegen, jedoch eher abschreckend gewirkt haben: „Der war ja für viele nahezu der Teufel persönlich, durch seine Fernsehsendung, die er gemacht hat, wo er Architektur kritisiert hat.“13 Die Auskünfte von Bauherren zu den Kriterien ihrer Architektenwahl, wie sie im Rahmen dieser Arbeit erhoben wurden, enthalten keine Hinweise auf die „fachliche“ Reputation des Architekten, eine Feststellung, die auch Rambow in seiner Untersuchung des Laienwissens zum aktuellen Architekturgeschehen sowie der typischen Überbewertung, die Architekten diesem Wissen und damit ihrer eigenen öffentlichen Wahrnehmung beimessen, bestätigt.14 Der Zweck der permanenten Reflexion über das eigene Werk, die in Gesprächen mit Architekten feststellbar ist15, muß daher vor allem in ihrer Selbstvergewisserung als Protagonisten einer „Reformbewegung“ und in der Festlegung und Verteidigung einer standesinternen Rangordnung ihrer Mitglieder gesehen werden.16 Daß die individuelle fachliche Profilierung des Architekten, dokumentiert in seinem bisherigen Werk, offensichtlich nur gegenüber Architektenkollegen von Belang ist, deutet gleichzeitig darauf hin, daß seine hinreichende Kompetenz, ganz im Sinn der Definition des Freien Berufs, von den meisten Bauherren ungeprüft vorausgesetzt wird.17 13 EW 1: Z 496 ff 14 Rambow unterscheidet zwei Kommunikationshürden, die zwischen Architekten und Architekturlaien typischerweise bestehen: den Gebrauch einer für Laien unverständlichen Fachsprache sowie die Überschätzung des Laienwissens zum aktuellen Architekturgeschehen durch Architekten. Rambow zufolge genügt es zur Schaffung einer Laienverständlichkeit nicht, die Fachausdrücke der von Architekten verwendeten Fachsprache zu übersetzen. „In den meisten Fällen des sinnvollen Gebrauchs von Fachwörtern bezeichnen diese (...) Gegenstände und Sachverhalte, für die die Alltagssprache keinen gleichwertigen Ersatz bereit hält. (...) Gelungene Laienorientierung beruht auf Prozessen einer grundlegenden Umstrukturierung und nicht auf einer lokal operierenden Wort-für-Wort-Übersetzung. (...) Die Kenntnis darüber, wie die Laien ihre Wahrnehmung strukturieren, welche ,kategorialen Schnitte‘ sie vornehmen, erweist sich als eine wichtige Voraussetzung dafür, die eigene Rede so zu strukturieren, daß sie dem Laien dabei hilft, auch durch die Komplexität des für ihn unbekannten Entwurfs die angemessenen ,Schnitte‘ zu legen, d.h. eine subjektiv plausible und nützliche Gliederung zu finden.“ (S. 245 f) Zum zweiten Hindernis, der Überschätzung des Laienwissens durch Architekten, führt er aus: „Am markantesten fiel die Überschätzung des Wissens zum aktuellen Architekturgeschehen aus. Mögliche Merkmale des Themas, die für diese Überschätzungs-

neigung verantwortlich sein könnten, sind die hohe Bedeutung für die eigene Wahrnehmung, die vergleichsweise starke Präsenz des Themas außerhalb der reinen Fachpresse und das Fehlen von eindeutigen ,Exklusivitätsmarkierungen‘: Die abgefragten Inhalte sind theoretisch jedem Laien ohne Probleme zugänglich; er müßte nur die entsprechende Berichterstattung in der Tageszeitung aufmerksam verfolgen. Die Tatsache, daß dies kaum ein Laie tut, wird offensichtlich leichter falsch eingeschätzt als die, daß Laien keine architektonischen Fachwörterbücher studieren.“ Rambow, S. 247 15 Die Frage nach formalen Grundthemen, die im ersten Haus angelegt und dann lebenslang für die Arbeit bestimmend gewesen seien, bejaht mein Gesprächspartner, der Architekt Gunter Wratzfeld, spontan und führt Beispiele an: eine hybride Konstruktionsweise aus Sichtbetonteilen und Holzbau und das Quadrat als Grundrißkontur. Seine spontane Antwort setzt intensive Reflexionsarbeit voraus, eine permanent präsente Selbstanalyse und Einordnung des eigenen Werks. Wratzfelds Auskünfte zeigen daneben, daß die Kriterien seiner Selbstbewertung keinerlei Verbindung zur Bewertungswelt der Auftraggeber und Nutzer haben. 16 Die tagesaktuelle Liste der Publikationshäufigkeit von Architekturbüros, die das deutsche Baunetz veröffentlicht, dient als Medium dieses rankings. www.baunetz.de/ranking/

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56 Was den Architekten vertrauenswürdig macht

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Anstelle der „fachlichen“ traten in den Gesprächen mit Bauherren ganz andere Qualitäten in den Vordergrund, die den Architekten vertrauenswürdig erscheinen lassen. Zuvörderst ist dies, wie bereits Ernst Wirthensohn mitteilte, persönliche Bekanntschaft. Fehlt ein Architekt im Freundeskreis, wie bei Arno und Leopoldine Eugster aus Langenegg, Bauherren des ersten „neuen“ Holzhauses im Bregenzerwald, werden Empfehlungen aus der unmittelbaren sozialen Umgebung eingeholt. Die Kollegenschaft an der Hauptschule in Doren, dem Arbeitsplatz des Lehrerehepaars, bot in ihrem Fall den ersten Kontakt zum Architekten: AE Die Frau von diesem Architekten war in meinem ersten Dienstjahr an der gleichen Schule. (...) Und er hat einem Kollegen dort ein Haus gebaut und dann haben wir, als wir uns überlegt haben, daß wir ein Haus bauen, da haben wir gesagt, wir brauchen einen Architekten. Daß wir einen nehmen. (...) Über den Kontakt haben Sie einfach persönlichen Kontakt zu [Ihrem Architekten] gehabt? AE Nein. Ich habe ihn nie gesehen, vorher. LE Aber ich habe ihn gekannt. AE Also wir haben gesagt, also, wen kennen wir, ja, dann haben wir einmal ein Haus angeschaut, das er gebaut hat. Das hat uns eigentlich gut gefallen. (...) Dann war eigentlich klar, daß wir ihn fragen. Und er war ja damals einer der jungen Architekten. Wie alt ungefähr? AE Dreißig, würde ich sagen. (...) LE Ja gut, ein Grund war für uns aber schon, er ist Andelsbucher, das ist ein paar Gemeinden weiter im Bregenzerwald. Und die [Familie hat] da einen guten Namen.18

Die hier wiedergegebene Erzählung erlaubt, den Entscheidungsweg des Ehepaars zu rekonstruieren. Das Vorbild eines Arbeitskollegen läßt das im eigenen Umfeld ungewöhnliche Bauen mit Architekt erwägenswert erscheinen. Das Ehepaar Eugster ist sich dabei gleichzeitig des Risikos bewußt, mit der Entscheidung zum Bauen mit Architekt die Deckung durch die eigene Dorfgemeinschaft zu verlassen. Dementsprechend sorgfältig sammelt es Argumente zugunsten ihres Architekten: Die erfolgreiche Auftragsabwicklung im Kollegenkreis und die Besichtigung des Hauses, das nicht nur „offen und ganz modern“ wirkt, sondern auch durch „funktionale“ Aufteilung, ähnlich einer „soliden“ Handwerkerleistung, überzeugt. Neben diesem Nachweis seiner Zuverlässigkeit spricht für die Person des Architekten, daß er der Altersgruppe der Bauherren angehört. Zuletzt zitiert Frau Eugster die Dorfgemeinschaft seiner Herkunftsgemeinde als Bürge für die Angesehenheit seiner Familie. Die Erwägungen, die aus der Sicht des Ehepaars Eugster für den Architekten sprechen, sind von Risikominimierung und Sicherheitsdenken bestimmt. Insgesamt betont konservativ, ähneln sie einer Handwerkerbeauftragung. Keinesfalls kann aus den Äußerungen geschlossen werden, daß der Architekt 17 Die unterschiedlichen Bezugsebenen, auf denen die Kompetenz des Architekten, der Wert seiner Leistung und die Qualität seiner Erzeugnisse jeweils anderen Maßstäben unterliegen, sind unter anderem durch die professionellen Beziehungen repräsentiert, die der Architekt mit anderen Architekten, mit Bauherren, Handwerkern und Behörden eingeht.

Sie werden in einzelnen Abschnitten der vorliegenden Studie jeweils gesondert betrachtet werden und als konfligierende Aspekte der „gesellschaftlichen Verantwortlichkeit“, die der Berufsstand in seinem Selbstverständnis verankert hat, einander gegenübergestellt. 18 ALE: Z 58 ff

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aufgrund seiner Qualitäten als „Avantgardist“ beauftragt wird. Diese Feststellung ist für den Kontext, in den diese Studie Architektur stellt, deshalb von Bedeutung, weil sie einen prägnanten Unterschied der Bauherrenperspektive zu derjenigen der Architekten und ihres Fachdiskurses markiert. In beiden zitierten Fällen, bei Eugster wie bei Wirthensohn, markiert der Hausbau Mitte der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre gleichzeitig den ersten Auftritt eines Architekten im Dorf. Dieser im Vergleich mit sonstigen Modernisierungen des ländlichen Raumes sehr späte Zeitpunkt sowie die zwingende Verknüpfung seines Standes mit einer Verwurzelung im akademischen System lassen den Architekten gerade im ländlich-dörflich geprägten Vorarlberg auch heute noch als Exoten erscheinen. Ernst Wirthensohn weist auf die Undurchdringlichkeit der sozialen Schichtung hin, die die ursprüngliche, bäuerlich-handwerklich dominierte Einwohnerschaft des Dorfes von Akademikern trennt und so dem Dorfbewohner viel eher den Zimmermann oder Bauunternehmer als Vertrauensperson für den Hausbau empfiehlt als den Architekten.19

Warum im Dorf kein Architekt beauftragt wird

Zum einen, glaube ich, weil die Leute meinen, das ist teuer. Zum zweiten, glaube ich, trauen sich auch viele nicht. Die haben Angst, an so jemanden heranzugehen und mit dem zu bauen. Welche Angst? Ich glaube, daß das die Angst ist, einfach bürgerlicher Menschen vor einem intellektuellen Menschen. Ich sage jetzt Angst, in gewisser Weise einfach der Abstand. Jeder intellektuelle Mensch hats in so einem Dorf relativ schwer. Und das drückt sich da auch aus in dem Spannungsfeld zwischen einem normalen Arbeiter, der sich praktisch nicht traut, einen studierten Architekten zu fragen, „Baust mir ein Haus?“ Sondern der lieber zum Zimmermann geht, mit dem er am Stammtisch natürlich immer hockt, und dann zu vorgerückter Stunde gesagt wird „Machst mir Du das?“ und „Machst mir Du das billig?“ Also, das einigermaßen zu überwinden ist nach wie vor schwierig, weils so tief sitzt.20

In seiner Schilderung stellt Ernst Wirthensohn jene soziale Schicht, der die Bauherren seines Dorfes entstammen, derjenigen des Architekten gegenüber. Den „normalen Arbeiter“ sieht er vom „studierten Architekten“ durch einen kaum zu überwindenden „Abstand“ getrennt, den er nicht etwa durch vordergründige Verständigungshindernisse, etwa dem „Fachchinesisch“ der Spezialisten aller Berufe charakterisiert, sondern durch die Kennzeichnung des Architekten als „intellektuellem Menschen“. Indem Wirthensohn den Architekten damit der Sphäre des Denkens zuweist und diese als Ausnahmeerscheinung kennzeichnet, stellt er gleichzeitig das Machen als Normalfall in 19 Der Abschnitt Modernisierung des Holzbaus des Kapitels Holz wird die unterschiedlichen Zugänge zum Hausbau näher beleuchten, die Architekt, Zimmermann und Selbstbauer kennzeichnen. 20 EW 1: Z 624 ff Ernst Wirthensohn, der für Thal den „Dorfkalender“ führt, benennt im für ihn gewohnten Lesen und Schreiben einen Aspekt des „Abstands“ (EW 1: Z 632), der ihn als Intellektuellen von der übrigen Dorfbevölkerung trennt. Die Dorfbewohner: sie reden, diskutie-

ren. Doch ihre Meinungen finden keinen Niederschlag, solange sie nicht aufgezeichnet werden. Die Macht des Chronisten: niederschreiben oder weglassen, entscheiden über Dauerhaftigkeit und Vergänglichkeit von Meinungen und Wissen. Wirthensohns Chronik, die der Dorfkalender gleichzeitig ist, setzt das Dorf einer externen Beurteilung aus und verschafft dem Dorf ein Forum, das weit größer ist als seine geografische Ausdehnung. (EW 1: Z 769 ff)

Sphäre des Denkens – Sphäre des Machens

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Der Plan als Urkunde, der Plan als Bauanleitung

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den Mittelpunkt des dörflichen Lebens. Diese Unterscheidung ist im Rahmen dieser Studie von zentraler Bedeutung und wird vor allem dort thematisiert, wo die charakteristische Kompetenz des Handwerks und Architektur aufeinandertreffen. Wirthensohn rahmt seine Darstellung, indem er das Architektenhonorar, das die Schwellenangst vor dem Architekten verstärkt, der Entlohnung der Planungsleistung des Zimmermanns gegenüberstellt. Eine dritte verbreitete Möglichkeit, Plan und Baugenehmigung zu erlangen, bot sich Bauwilligen noch bis in die 1980er Jahre in den Dörfern des Bregenzerwaldes in Gestalt fachfremder Planzeichner, häufig Gemeindesekretären, aber auch Lehrern, die die Anfertigung eines Genehmigungsplanes als Nebenverdienst ihrer sonstigen Beamten- oder Angestelltenexistenz zu einem im Vergleich zum Architektenhonorar geringfügigen Pauschalpreis offerierten.21 Im Hinblick auf das Anliegen dieses Abschnitts, aus der sozialen Stellung des Architekten charakteristische Eigenschaften von Architektur abzuleiten, erlauben diese drei Möglichkeiten des Bauherrn, zu einem genehmigten Plan für sein Haus zu kommen und insbesondere die Frage nach der Entlohnung für den Planfertiger, unterschiedliche Blickwinkel auf den Vorgang des Bauens einzunehmen und unter diesen denjenigen von Architektur spezifisch zu erfassen. Der Fall des Plans vom Gemeindesekretär, der insbesondere für das Bauherrenehepaar Eugster von Bedeutung war, da ihr Architekt in dessen angestammte Domäne einbrach22, steht die Baugenehmigung als Rechtsakt im Mittelpunkt des „Entwurfes“. Für Genehmigungsfragen, die Übereinstimmung des Neubaues mit geltendem Baurecht, ist der Gemeindesekretär als Teil der kommunalen Verwaltung der ausgewiesene Fachmann, sein Planungsentgelt kann ebenso als „amtliche Gebühr“ interpretiert werden wie der Plan selbst hier vor allem als amtliche Urkunde erscheint, die das gewährte Recht verbrieft. Der Fall des Plans vom Zimmermann, den Ernst Wirthensohn als den Normalfall innerhalb seines Dorfes anführt, stellt den Blickwinkel des Machens in den Mittelpunkt. Dieser Blickwinkel vereinigt in sich Aspekte der substantiellen Herstellung des Hauses, die eine Ausführungsplanung als Voraussetzung erfordert, und wirtschaftlicher Bedingungen, die den Handwerker als Unternehmer betreffen. Aus seiner unternehmerischen Sicht ist die Anfertigung des Genehmigungsplans eine Akquisitionsleistung, die dazu dient, den 21 EW 1: Z 694 ff 22 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kap. Haus 23 Im deutschen Baurecht sind Maurer- und Zimmerermeister zudem rechtlich befugt, Pläne für Häuser von begrenzter Größe zur Baugenehmigung einzureichen. Diese Befugnis spielt in Vorarlberg, wo nicht der „Planvorlageberechtigte“, sondern der Bauherr den Plan bei der Behörde einreicht, keine Rolle.

24 „Eine Gewerbeberechtigung auf einem Fachgebiet, die zu einschlägigen Arbeiten auf dem Fachgebiet der Befugnis oder zur Ausführung von Arbeiten auf dem Fachgebiet der Befugnis berechtigt, ist mit der Ausübung der Befugnis eines Architekten oder Ingenieurkonsulenten nicht vereinbar.“ Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (Hg.): Standesregeln der Ziviltechniker 1.3.; Wien: BIK, 2000

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Auftrag zum Bau des Hauses zu erhalten, und somit „billig“ angeboten werden sollte. Durch seinen Zeitaufwand entstandene und vom geringfügigen Planungsentgelt nicht gedeckte Kosten können im Zuge des späteren Bauauftrags, für den Bauherrn nicht erkennbar, abgerechnet werden.23 Das Geschäft des Architekten ist demgegenüber anders beschaffen. Er kann – und darf 24 – nicht die Planungskosten in einem aus der Planung folgenden Bauauftrag verstecken, wie es Gewerbetreibenden zu Gebote steht.25 Das Architektenhonorar rückt unmißverständlich den Entwurf in den Mittelpunkt der Architektenleistung, einen Entwurf jedoch, der neben dem individuellen Wohl des Bauherrn die „Lebensbedürfnisse (...) der Gesellschaft“ zu berücksichtigen hat. „Die Lösung der ihm gestellten einzelnen Aufgaben ist (...) stets als Teil einer größeren der Gesellschaft dienenden Ordnung anzusehen“, konkretisiert die Berufsordnung der Architekten deren Leistung.26 Die Honorarordnung, die das Architektenhonorar der freien Verhandelbarkeit entzieht, ist einerseits Privileg des Standes, andererseits Voraussetzung für den Architekten, seiner gesellschaftlichen Verpflichtung nachkommen zu können. Die Einwilligung des Bauherrn in ein Vertragsverhältnis mit regulärem Architektenhonorar impliziert damit auch dessen Bereitschaft, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Kulturbesitz zu leisten. Im Widerspruch zu der im untersuchten Raum häufig anzutreffenden Argumentation von Architekten, in ihren Holzbauten „traditionelle“ Formen und regional gebundene Grundrißtypen aufzugreifen, verweist das Privileg der Honorarordnung an sich und der damit dem Architektenstand zugesprochene gesellschaftliche Kulturauftrag viel eher auf den „individuellen“ Entwurf als Ergebnis als auf die Adaption eines typologisch gebundenen Haustyps für einen einzelnen Fall, wie er als typisch für eine Handwerkerplanung angesehen werden kann. Jenseits aller formalen Aspekte von Architektur beurteilt Arno Eugster im Rückblick auf seinen eigenen Hausbau das investierte Architektenhonorar vor allem pragmatisch, als Voraussetzung einer nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht effektiven Bauabwicklung. Manche haben bei uns auch gefragt: „Ein Architekt, was kostet denn der? Weil, zehn Prozent, oder fünfzehn Prozent der Bausumme, das kann sich ja niemand leisten.“ (...) Aber der Architekt hat natürlich durch die ganzen Ausschreibungen und so weiter uns viel Arbeit abgenommen und hat Firmen gefunden. Und hat das Geld, das er uns gekostet hat, leicht, er selber, hereingebracht. Nur hat das vorher niemand ausprobiert und auch nicht gewußt.27 25 Aus der geschilderten, im dörflichen Rahmen üblichen Praxis der Planfertigung durch Gemeindesekretäre oder Handwerker mit ihren niedrigen Pauschalpreisen ist nachvollziehbar, daß die Leistung des Architekten zunächst nicht erkannt, zumindest aber geringgeschätzt, seine Honorarforderung folglich als überzogen beurteilt wird: „Fünfzehntausend Schilling, das waren zweitausend Mark damals, (...) das

kann man investieren (...). Aber G., hat man gesagt, da zahlst eine halbe Million Schilling, nur für den G.“ (EW 1: Z 701 ff) 26 Berufsordnung der Bayerischen Architektenkammer vom 4. Dezember 1972, in: Architektengesetz und weitere Rechtsgrundlagen, Bayerische Architektenkammer (Hg.), München 27 ALE: Z 880 ff

Der Entwurf als Mittelpunkt der Architektenleistung

Honorarordnung der Architekten

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Das Privileg einer verbindlichen Honorarordnung für Architekten wurde in Österreich mit Wirkung vom 31.12. 2006 abgeschafft.28 Der Umstand dieser Eliminierung des Schutzes der Architekten als privilegierte Kulturträger zugunsten derjenigen Strömungen, die im Zuge der „umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ auch der Kultur die Form einer „Ware“ zuweist und sie bezüglich ihres Zustandekommens und ihrer Gestalt den Gesetzen des freien Marktes aussetzt, erlaubt die Feststellung einer aktuellen Umwertung des gesellschaftlichen Kulturbegriffs.29 Eine der Gründungslegenden des Vorarlberger Architekturwunders lautet, daß im ländlichen Raum vor allem Lehrer die ersten Auftraggeber für Architekten gewesen seien.30 Die Legende erhält einen plausiblen Erklärungsgehalt, sobald der Lehrer als akademisch geprägte Ausnahmeerscheinung im Dorf betrachtet wird, der sich aus seiner eigenen sozialen Schicht und nicht 28 Schürer/Gollner, S. 30 (für Österreich) Helmut Dietrich hat mich auf die unterschiedliche Rechtsstellung von österreichischer HOA und deutscher HOAI hingewiesen und die Konsequenz, daß die HOAI im Gegensatz zur HOA aufrechterhalten werden kann. (23.09.2008) Vgl. dazu auch Steger (2008) Rambow legt dar, daß die für Deutschland und Österreich geschilderte Entwicklung einer vergleichbaren in den USA und in Großbritannien „um ein knappes Jahrzehnt“ hinterherhinkt. „In den USA wurde bereits 1972 der Verzicht auf den Preiswettbewerb aus der Berufsordnung der Architekten entfernt (...). Architektur wird seither als gewöhnliches business enterprise betrachtet und die A.I.A. (American Institute of Architects) als Handelsvereinigung unter anderen.“ Rambow, S. 30 ff 29 Vgl. Anm. 57 im Abschnitt Architektur als Kunst dieses Kapitels 30 Arno Eugster erinnert sich im Gespräch an seine erste Konfrontation mit dieser Gründungslegende, die zum festen Bestand der Selbstwahrnehmung des regionalen Architektenstandes gehört: „Ich habe gelegentlich einmal den Namen Franz Bertel gehört. Der sei in der Lehrerbildung tätig gewesen. AE Woher haben Sie das? Das steht in Büchern. Zum Beispiel im Architekturführer. AE [Der damalige Leiter des Vorarlberger Architekturinstituts] hat einmal im Rotary Club einen Vortrag gehalten, (...) woher das kommt, und so weiter, und wer da die maßgeblichen Architekten waren. Ich habe ihm auch nicht gesagt, daß eigentlich der [Architekt des Eugster-Hauses] zuerst so ein Haus gebaut hat. Er hat lauter andere Namen genannt, natürlich seine Freunde. Und, hat er gesagt, Lehrer wären da drin-

nen gewesen, hauptsächlich als Bauherren, und die wären beeinflußt gewesen von diesem Franz Bertel. Also,mich hat der überhaupt nicht beeinflußt. Ich kenne ihn, ich habe Schönschreiben bei ihm lernen dürfen. Also, er hat eher das Gegenteil bei mir bewirkt. (...) Diese Beeinflussung, da widerspreche ich auf das Heftigste. (...) Wir haben nie über Architektur geredet, ich wüßte nicht, was. Zeichnen, Schönschreiben und solche Sachen haben wir gehabt. LE (...) [Unser Architekt] war vielleicht ein Vorreiter, oder? AE Das war der Vorreiter. Nicht der Franz Bertel und nicht die Lehrer.“ (ALE: Z 428 ff) Arno Eugster sieht sich durch die „offizielle“ Architekturgeschichtsschreibung Vorarlbergs in eine Rolle gedrängt, die er ablehnt. Weder ist er bereit, eine hier behauptete „gemeinsame Sache“ der Lehrer mitzutragen, noch, einen behaupteten Einfluß Franz Bertels auf ihn gelten zu lassen. Die von ihm für sich reklamierte individuelle wird zu einer kollektiven Leistung herabgestuft, die Leistung eines ungenannten, seines Architekten, von derjenigen eines „Freundesklüngels“ anderer Architekten beansprucht. Eine Bestätigung seiner Auslegung ist darin zu sehen, daß sein Haus ausgerechnet in dem Werk fehlt, das als Nachschlagewerk der Vorarlberger Architekturszene bislang den wirksamsten legitimierenden Effekt zeigt, dem Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980. Sofern Eugsters Einschätzung zutrifft, sein Haus sei das erste Architektenhaus der neuen Generation im Bregenzerwald gewesen, so ist diese Nichterwähnung zumindest als Fauxpas der Herausgeber anzusehen. Zum Thema „Lehrer als Bauherren für Architektenhäuser“ vgl. auch Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus, Anm. 71.

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aus der für ihn unvertrauten der Handwerker einen Vertrauensmann zum Hausbau sucht: den Architekten. Der andere akademische Exot neben dem Lehrer ist in der traditionellen dörflichen Gesellschaft der Pfarrer. Für seinen abnehmenden Einfluß als vorbildgebende Persönlichkeit und für die Sinnstiftung, die er als Vertreter seiner Kirche spendet, ist in einer Zeit grassierender Kirchenaustritte, die zusammen mit dem Priestermangel die Zusammenlegung von Pfarreien zu Pfarrgemeinschaften nach sich zieht und damit den Pfarrer aus dem Alltagsleben des Dorfes entfernt31, kein Ersatz in Sicht. Angeregt durch Hinweise unserer Gesprächspartner werden wir weiter unten der Frage nachgehen, inwieweit und in welcher Hinsicht der Architekt heute diese soziale Stellung des Priesters übernommen hat.32 Ernst Wirthensohn verknüpft diese Ähnlichkeit zum Priester, die er bei seinem Architekten feststellt33, direkt mit dessen fehlender Nähe zur Dorfbevölkerung und damit seiner Überzeugungskraft. Die festgestellte Distanz verhindert eine stärkere Einbeziehung von Architektur in kommunale Aufgaben. „Er hat so ein bißchen was Dozierendes, so was Priesterhaftes nahezu, oder. Das kommt bei den Leuten nicht so gut an.“34 Rambow benennt Indizien für diese Übernahme eines priesterlichen Habitus in denjenigen von Architekten: „Für den Architekten (...) verschließt sich die visuell wahrnehmbare Lösung einer vollständigen Übersetzung in Sprache. Das gilt vor allem auch für deren affektive Qualitäten, die nach Auffassung vieler Architeken überhaupt nur der direkten, unvermittelten Wahrnehmung zugänglich sind.“ Für ihn als Psychologen „wirkt diese Behauptung einer Nicht-Operationalisierbarkeit affektiver Qualitäten vielfach ,mystisch‘ und wie die vorsätzliche Verweigerung eines rationalen Diskurses.“35 Hier sind, verpackt in die Fachsprache des Psychologen, Eigenschaften von Architektur genannt, die ihrem ehemaligen Dienst am religiösen Kult entstammen und offenbar allen Säkularisierungsbemühungen der Moderne widerstanden haben. Rambows „affektive Qualitäten“ beschreiben Architektur durch den Affekt, die „heftige Erregung“ dessen, der ihr ausgesetzt ist. Den Architekten, der sich der „Operationalisierung“ dieser Qualitäten verweigert, kennzeichnet er als Figur, die, anstatt das Entstehen des Affekts zu „erklären“, dessen Rezept als Berufsgeheimnis wahrt und es so mit dem Schleier des Mystischen umgibt. 31 „Der Rückgang der kirchlichen Struktur, das merkt man ganz stark. Der Pfarrer ist jetzt weg, seit drei Jahren, die Pfarrei ist ganz rückläufig, das religiöse Leben, das kirchliche Leben, wie überall sonst.“ (EW 1: Z 1046 ff) 32 Solchen Situationen, in denen Architektur in die soziale Nachfolge von „Religion“ eintritt (Durkheims gesellschaftlichen Religionsbegriff zugrundegelegt), widmet sich der Abschnitt Architektur im Dorf des Kapitels Dorf. 33 In den Gesprächen des Forschungsprojekts finden

sich auch an anderen Stellen Hinweise auf einen Habitus der Architekten, der an Priester und Ordensleute erinnert, so z.B., wenn Peter Greußing, als typische Bauherrenforderung eines Bauträgers, feststellt, „daß ein Architekt gewisse Leistungen auf Risiko machen muß“ (PG: 1066 ff). Unentgeltliche Arbeit im Rahmen ihres Berufs verbindet Architekten, neben anderen Künstlern, mit Ordensleuten. Was dem einen der Lohn der Selbstverwirklichung, ist dem anderen „jenseitiger“ Lohn. 34 EW 1: Z 517 ff

Priesterlicher Habitus des Architekten

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Moderne Architektur als lebensreformerische Bewegung

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Offensichtlich hat in dem umfassenden Umbruch der Lebensverhältnisse der westlichen Welt, innerhalb dessen Moderne Architektur als künstlerische Erneuerungsbewegung auf den Plan trat, ein Umbruch, der von dem gleichzeitigen Verlust der religiösen Sphäre an Glaubwürdigkeit und sozialer Integrationskraft wesentlich geprägt war, eine Übertragung stattgefunden, die Moderner Architektur neben einer nutzungsorientierten, kultivierten Weise des Bauens gleichzeitig vormals kirchliche Aufgaben zugeteilt hat und sie in diesem Zuge zu einer lebensreformerischen Bewegung werden ließ.36 Architektur also Aspekte einer „Ersatzreligion“ zuzusprechen ist nicht vordergründig zu verstehen, etwa in dem Sinn, daß hier Esoterik oder formales Sektierertum betrieben werde, sondern dem sozialen Effekt nach: die symbolische Klammer, das Gemeinschafts- und Identitätsstiftende, das ehemals die Kirche repräsentiert hat, durch Bauten, Kult und Durchsetzung des Alltags mit Ritualen, nimmt heute professionalisierte Architektur für sich in Anspruch. Als Sinnstiftung, als Trost in der Absurdität, Unbeeinflußbarkeit und Schicksalhaftigkeit, als der der globalisierte Kapitalismus erscheint, bildet sie den Kristallisationskern eines Idealismus, der den Dingen der materiellen Welt einen Mehrwert über das Funktionale und als Statussymbol hinaus zuspricht37, ebenso wie Religion ehemals den Kristallisationskern von Gemeinschaftlichkeit im Sozialen bildete.38 35 Rambow, S. 44 affektiv: (aus lat. affectivus „ergreifend, rührend“) gefühls-, affektbetont, durch heftige Gefühlsäußerungen gekennzeichnet; auf einen Affekt bezogen (Psychol.) Affekt: heftige Erregung, Zustand einer außergewöhnlichen seelischen Angespanntheit Operationalisierung: die Umformung von theoretischen Begriffen u. Hypothesen im Sinn ihrer empirischen Überprüfbarkeit durch Angabe konkreter, im Einzelnen prüfbarer Zielvorgaben u. Schritte (Soziol.) Q. Duden: Das Große Fremdwörterbuch; Mannheim 2003 Jan Tschichold, der in den 1920er Jahren für die programmatische Modernisierung von Typographie und Gebrauchsgraphik eintrat, kennzeichnet rückblickend die zugrundeliegende Haltung als „Sektierertum“ ihrer Exponenten, ein Befund, der sich ohne weiteres auf den „Funktionalismus“ der Architektur übertragen läßt: „Es hat sich nämlich gezeigt, daß die scheinbar einfachen Formgesetze dieser funktionalen Typographie niemand geläufig sind, weil sie einer besonderen, im Grunde religiösen Gesamthaltung Verschworener entspringen, in die man zuerst ,eingeweiht‘ werden muß.“ Tschichold (1946) Noch ein weiteres von Tschichold ausgeführtes Kennzeichen der „neuartigen Typographie“besitzt eine Entsprechung in der Architekturmoderne: „Es scheint mir aber kein Zufall, daß diese Typographie fast nur in

Deutschland geübt wurde und in den anderen Ländern kaum Eingang fand. Entspricht doch ihre unduldsame Haltung ganz besonders dem deutschen Hang zum Unbedingten, ihr militärischer Ordnungswille und ihr Anspruch auf Alleinherrschaft jener fürchterlichen Komponente deutschen Wesens, die Hitlers Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat.“ (a.a.O.) Vgl. hierzu auch Achleitners Bezugnahme auf Adalbert Stifter und dessen „unduldsame[r] Reinheit“, in: Achleitner (2000), S. 201. Tschicholds Kennzeichnung der Modernen Bewegung als „Sekte“ findet sich auch in der Wortwahl Rudolf Schwarz’, hier gezielt auf Architekten gemünzt: Schwarz (1953/2), S. 197 36 „In Deutschland finden sich in den programmatischen Schriften des Deutschen Werkbunds und dann vor allem des Bauhauses in zunehmendem Maße Ansprüche der Architektur für alle Teile der Gesellschaft formuliert, die eine starke lebensreformerische Komponente haben.“ Rambow, S. 39 37 „Wie wär’s, wenn man die Religion der orthodoxen Einfachheit in der Architektur einmal unter dem Aspekt eines psychischen Schutzmechanismus gegen eine ganz andere gesellschaftliche Wirklichkeit analysieren würde? Es muß sich ja nicht immer gleich um Verdrängung handeln.“ Achleitner (2000), S. 205 38 Vgl. die Ausführungen zu „Verdinglichung“ und „Symbolische Sinnwelt“ bei Berger/Luckmann, S. 95 ff 39 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz

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Wie ehemals die Kirche ältere Gottheiten durch „Heilige“ ersetzte, ist auch Architektur imstande, über „mondgeschlagenes“ Holz und andere Naturverbundenheiten nicht wenige Aspekte einer gerade in Vorarlberg lebendigen, volkstümlichen Esoterik in ihren Wertekanon einzubinden.39 Die Gebundenheit des Bauens an die Person und Initiative eines Bauherrn, seinen Auftrag, bedeutet für den Architekten den Zugang zu seiner existenzsichernden Berufsausübung und gehört damit zu den zentralen Bestandteilen seiner Berufsdefinition.40 „Also, gebaut hab ichs nicht, ich habs geplant. (...) Gebaut ist es worden für meinen Bruder und meine Schwägerin, nicht. Also, ich war nie Besitzer.“41 Architekt Gunter Wratzfeld legt in unserem Gespräch über seinen ersten Hausentwurf Wert auf die sorgfältige Definition seiner eigenen Rolle im Bauprozeß. Er baut nicht und ist nicht Besitzer, seine Aufgabe ist die Planung. Der Besitz (des Grundstücks und des Bauwerks) gehört zur Rolle des Bauherrn, der Bau zu derjenigen des Handwerkers. Die Mindestbeteiligten am Bau des Hauses sind also drei Parteien: Bauherr, Architekt und Handwerker.42 Der Bauherrnauftrag verschafft dem Architekten gleichzeitig seine Perspektive gegenüber dieser Aufgabe. Wesentliche Teile ihrer Randbedingungen, so etwa Vorgeschichte und soziales Potential der Aufgabe, bleiben dem Architekten im Regelfall verborgen. Indem sich dieser der Begrenztheit seiner Perspektive nicht bewußt ist, entsteht eine für den Berufsstand typische, verkürzte Sichtweise seiner Aufgaben, ein blinder Fleck. Zwei Aspekte bestimmen im wesentlichen den Einschränkungsgrad der 40 Der für den Architektenstand zwingende Ausschluß einer „Gewerbeberechtigung auf einem Fachgebiet, die (...) zur Ausführung von Arbeiten auf dem Fachgebiet der Befugnis berechtigt...“ ist für Österreich in den „Standesregeln der Ziviltechniker“ festgelegt. Der Berufsstand des Baumeisters als österreichische Ausnahmeerscheinung verbindet beide Rollen, diejenige der Planung und diejenige der Bauausführung. Gemäß dem von der Bundesinnung der Baumeister veröffentlichten Leitbild der österreichischen Baumeister ist die Planungsbefugnis umfassend und damit derjenigen der Architekten gleichgestellt. Zu einer allein den Architekten vorbehaltenen Befugnis zur Planung von „Monumentalbauten“ fanden sich keine Hinweise. Seit Einführung der EU-konformen Neuregelungen dürfen Träger der österreichischen Baumeisterbefugnis die Berufsbezeichnung Gewerblicher Architekt führen. Eine Abgrenzung zwischen Architekt und Baumeister findet sich in der Institution der Ziviltechniker, zu der die Architekten zählen, einer Besonderheit des österreichischen Rechts. „Ziviltechniker sind (...) befugt, öffentliche Urkunden auszustellen. Über

die Bedeutung dieser Berechtigung bestehen seit langem unklare Vorstellungen, die bisweilen auf die Annahme eines allgemeinen Mehrwerts an Beweiskraft aller schriftlichen Ausfertigungen von Ziviltechnikern im Verwaltungsverfahren hinauslaufen. In der Konkurrenz mit (...) gewerblichen Baumeistern ergeben sich vielfach Spannungen. Aus der Entwicklungsgeschichte des Ziviltechnikerrechts wird deutlich, daß sich die Privilegierung nur auf Wissens- und Beweisurkunden und nicht auch auf andere Erklärungen, wie Gutachten, Planungen, Berechnungen, Stellungnahmen oder Einreichungen, bezieht.“ Funk/Marx (2002) 41 GW: Z 46 ff 42 Im weiteren Gesprächsverlauf kommt Wratzfeld nochmals auf diese Grundkonstellation zurück, als er das eigene Haus als Sonderfall schildert, bei dem Bauherr und Planer in seiner eigenen Person zusammengefallen sind. (GW: Z 746 ff) Der Rolle des Bauherrn kommen in Wratzfelds Erzählung durchaus Aspekte des aktiven Gestaltens zu (GW: Z 1364 ff). Vorarlbergs Kulturpolitik erkennt mit dem „Bauherrenpreis“ diese Rolle ausdrücklich als förderungswürdig an.

Rolle des Architekten im Bauprozeß

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Berufsblindheit des Architekten

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Architektenwahrnehmung. Der erste betrifft den Zeitpunkt innerhalb der Entwicklung eines Projekts, zu dem er seitens des Bauherrn beteiligt wird. Der zweite Aspekt ist seine Spezialisierung auf den ästhetisch betonten Entwurf von Gebäuden, die dort einschränkend wirkt, wo die Problemstellung eine erweiterte Lösungskompetenz erfordert. Im vorhergehenden Abschnitt ist auf Alexander Mitscherlichs Kritik an diesem Kompetenzdefizit hingewiesen worden, das umso negativer zutage tritt, je mehr der räumliche Umfang und die Totalität der zu entwerfenden Lebensräume zunehmen. Wer nach Gründen sucht, warum sich Architekten trotzdem und immer wieder solcher Aufgaben der „totalen“ Lebensraumgestaltung annehmen, ja, sie als die eigentliche Krönung ihrer beruflichen Praxis und damit auch ihrer Kompetenz betrachten43, stößt auf Aspekte ihres Selbstverständnisses, die direkt der Sozialgeschichte ihres Standes und den Entstehungsbedingungen Moderner Architektur entwachsen.44 Also, wir waren in einer Planungsphase und hatten mit verschiedenen Architekten zu tun und die Architekten haben sich immer wieder beschränkt nur auf ein Gebäude, also, wir haben einen Raumbedarf und diesen Raumbedarf decken wir so und so ab.45

Der Langenegger Bürgermeister Peter Nußbaumer hat anläßlich der komplexen Problematik bei der Neugestaltung des Ortskerns eine Gesetzmäßigkeit für die typische Lösungsstrategie der Architekten festgestellt, diese als berufsspezifische Beschränkung ihres Repertoires identifiziert und durch eine unorthodoxe Projektentwicklungsstrategie umgangen.46 Eine soziologisch gestützte Bedarfserhebung mittels eines mehrwöchigen Studentenworkshops im Dorf führte am Ende des Prozesses zu einem Maßnahmenkatalog, der unter anderem Grundlagen für den im Anschluß durchgeführten Architekten43 Der Publikumsbeitrag eines Vertreters der jüngsten Generation der derzeit etablierten Vorarlberger Architekten als Antwort auf die vom Podium herab gesprochene Feststellung eines älteren und arrivierten Kollegen, dieser würde am liebsten „mit dem Bagger durchs Rheintal fahren“, offenbart einen generationenbedingten Wandel in der Haltung zu den Bauherren, damit der Selbstpositionierung von Architekten in der „pluralistischen Gesellschaft“. Der Beitrag markiert für die jüngere Generation eine Abkehr vom totalen Gestaltungsanspruch ihrer Vorgänger. In diesem Sinn erlaubt die Äußerung eine Umdeutung von Architektur, die sich von einer gesellschaftsgestaltenden Kraft zu einem Moderationsmedium der Gesellschaft wandelt: „Ja also, um auf die Raumplanung nochmal zu sprechen zu kommen, das Bild (...) ist mir geläufig, (...) aber dieser eigene Abscheu, der ist ja nichts wert, wenn er ästhetischer Natur ist, meiner Meinung nach, wenn ich sag ,des gfällt mir nicht, diese schrillen Farben und die hohen Schriften‘, dann kann ich ja nicht mehr argumentieren. Ich glaube, daß diese pluralistische Gesellschaft, die ist vorhanden, mit der muß man wirklich umgehen, die können wir keinesfalls, in mei-

nem Horizont sehe ich keine Möglichkeit, die irgendwie abzuschaffen, zu übersteuern, oder zu bevormunden.“ (Theater am Saumarkt Feldkirch, Podiumsdiskussion im Anschluß an den Vortrag von Peter Gross „Lebensraum in der Multioptionsgesellschaft“ am 21.05.05; Transkript einer eigenen Tonaufnahme) 44 Zu den Entstehungsbedingungen der Modernen Architekturbewegung gehört wesentlich die kulturelle Orientierungnot nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in der Architektur die Rolle eines „Leitsterns“ beanspruchte. Vgl. Taut (1919) Zu den Umständen, die den Massenwohnbau zu einem prägenden Thema Moderner Architektur werden ließen, vgl. Abschnitt Genossenschaftlicher Wohnbau, Kapitel Vorarlberg Vgl. ergänzend das von Böhme erläuterte Heideggersche Geviert. „Architektur heißt, sich im Sein einzurichten, sich bauend auf der Erde gründen, eine colonia, sprich: eine Statt/Stadt pflanzen (colonia = Pflanzstadt).Das ist: Kultur erzeugen...“Böhme (2001) 45 PN: Z 87 ff 46 Ausführlicher im Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 47 PN: Z 169 ff

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wettbewerb enthielt – aber eben nicht die gesamte Problemstellung auf die Errichtung eines Gebäudes reduzierte. In der Zusammenfassung seiner Erfahrungen bei der Neugestaltung des Ortskerns äußert Nußbaumer eine Vermutung, woher die festgestellte Unfähigkeit zur spezifischen Problemerfassung stammt, die die Architektenkompetenz aus seiner Sicht charakterisiert: Das kommt aus dem Denken der Architekten. Da gibt es Landschaftsarchitekten und da gibt es städtebauliche Architekten und da gibt es richtige Architekten, die nur Gebäude machen, und die vernetzen sich nicht derzeit, das findet nicht statt. Da kommt einer, der plant das Gebäude und am Vorplatz, da hat man dann wieder irgendwas anderes und das geht nicht richtig ineinander. 47

Das Berufsbild Architektur habe sich demnach in spezialisierte, untereinander nicht mehr vernetzte Teilberufe aufgespalten.48 Dadurch nähmen Architekten nur den jeweiligen Teilaspekt einer Aufgabenstellung wahr, für den sie eine Lösung aus dem Fundus ihrer jeweiligen Kompetenz anbieten könnten. Solche Aufgabenstellungen, die wie die Neuorganisation des Ortskerns in Langenegg eine gleichwertige Betrachtung des dörflichen oder landschaftlichen Außenraums neben den erforderlichen Bauten und die Einbettung der Baumaßnahmen in einen sozial definierten Bedarf umfassen, seien demzufolge bei Architekten schlecht aufgehoben: sie würden lediglich ausschnitthaft wahrgenommen und folglich unzureichend bearbeitet.49 „Integrierte“ Lösungen könnten von Architekten nicht mehr erzeugt werden. Die Erarbeitung einer solchen integrierten Lösung für den neuen Ortskern des ehemals zweigeteilten Dorfes mußte daher von der Gemeindeverwaltung selbst eingefordert und gesteuert werden.

Teilberufe mit fehlender Vernetzung

Wir kehren zurück zur eigentlichen Domäne der Architekten, dem Hausentwurf. Diejenigen Bauherren von Einfamilienhäusern, die im Rahmen dieser Studie befragt wurden, wissen im Nachhinein, „was sie an ihrem Architekten haben“. Sie schätzen ihn als Fachmann50, der in der scheinbaren Undurchdringlichkeit der ineinander verzahnten Problemstellungen des Hausbaus den Überblick bewahrt.51 In ihren Erzählungen betonen sie fallweise mehr den praktischen Nutzen52 oder den täglichen Verdruß, den sein Entwurf für ihr Alltagsleben bietet. Leopoldine Eugster etwa klagt über die Architektenidee,

Kompetenz des Architekten aus Bauherrensicht

48 Weitere Abspaltungen von Teilbereichen aus der ehemals alle Aspekte des Planens umfassenden Architektenleistung sind aktuell die technisch-rechnerischen Aspekte des für Finanzierung und Genehmigung zunehmend wichtiger werdenden Energiehaushalts von Gebäuden. Neugeschaffene Berufszweige wie „Bauphysiker“ und „Energieplaner“ übernehmen nun solche Teile der Architektenleistung. 49 Nußbaumer erwähnt auch die Auswirkung dieser Spezialisierung auf die verbleibende Kernleistung der Architekten: An den Schnittstellen zwischen den Zuständigkeiten der Teilberufe werden unbefriedigende, weil voneinander unabhängig geplanteAnschlüsse hergestellt, etwa zwischen Gebäude (Hochbauarchitekt)

und Freibereich (Landschaftsarchitekt). PN: Z 169 ff 50 „Also, wenn jemand ein fundiertes Studium hat, oder etwas gelernt hat, oder ein Diplom, dann sollte man dem vertrauen.“ PN: Z 477 ff Bürgermeister Nußbaumer vergleicht den Architekten mit einem Arzt, Architektur mit Medizin. In seiner Sicht auf Architektur steht also nicht der Kunstaspekt im Vordergrund, der das Individualistische betont, sondern das Allgemeinwohl. Hier kommt eine spezifisch österreichische Interpretation des Architekten zum Vorschein, die ihn zum Träger des Staatswappens macht, eines Privilegs der Ziviltechniker, die qua Befugnis ausdrücklich den Staat repräsentieren. Vgl. auch Anm. 2 und 40

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Ausschluß des Bauherrn vom „System“ Architektur

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zwischen Arbeitsplatte und Oberschränken der Küche ein Fenster einzubauen, und läßt sich auch durch die Erklärung Ihres Ehemanns, „Damit du beim Arbeiten dort Licht hast, wo du es brauchst“53, nicht von ihrem Unwillen über das ständig fettverspritzte Glas hinter dem Herd abbringen. Neben solchen Kritikpunkten an Baudetails hebt das Ehepaar Eugster vor allem die tätige Hilfe ihres Architekten in den unvermeidlich scheinenden Auseinandersetzungen mit der Baubehörde hervor, die sein Entwurf entfacht hatte, sowie seinen Einsatz bei der Abwicklung des Hausbaus.54 Gleichzeitig offenbaren die Auskünfte der Bauherren ihre Unbeteiligtheit am Entwurfsprozeß55 und eine erstaunliche Unvertrautheit und Fremdheit, mit der sie der Architektur ihrer Häuser gegenüberstehen. Das „System Architektur“ haben sie in der Person ihres Architekten, seinen Ehrungen56 und in Gestalt massenhaft in die private Sphäre ihrer Häuser eindringender „Fachbesucher“ infolge seiner Publikationstätigkeit kennengelernt. Nach dieser Preisverleihung sind ja ganze Busse gekommen, zwei Jahre lang. Rundum Verkehr, alle möglichen Leute sind in der Gegend gestanden und haben fotografiert. Und das haben natürlich die anderen Leute auch alle mitbekommen, wenn schon wieder ein Bus die Straße entlang gefahren kommt.57

Sie selbst sind und bleiben von einer Teilhabe an diesem System ausgeschlossen, das sich ihnen als hermetischer Fachdiskurs zu alltagsfernen Themen auch dann noch zeigt, wenn er sich an Details ihrer eigenen Häuser entzündet.58 Ihre Rolle bei Besuchen von Architektengruppen erinnert an die Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Ausgeschlossenheit des Krankenhauspatienten bei der Visite, der während der Diskussion der sein Bett umstehenden Ärzte über den Genesungsfortschritt seines gebrechlichen Körpers an deren Lippen hängt, ohne doch aus dem Sinn ihrer Worte eine Folgerung für sein Weiterleben ziehen oder die Ahnung einer vor ihm versteckten Kritik bestätigen zu können. Trotzdem können Beziehungen zwischen Bauherren und ihren Architekten lebenslang währen. In solchen, heute seltenen Idealfällen, die Rambow für die 51 In seiner Führung durch das umgebaute und erweiterte Schulhaus in Thal charakterisiert Ernst Wirthensohn die Architektenleistung darin, sich im ehemals labyrinthisch verwinkelten Bestand einen Überblick zu verschaffen, neu zu erschließen, zu entrümpeln, Licht hereinzulassen.Voraussetzung hierfür ist das Zurücktreten und Aus-der-Ferne-Betrachten, das Architektenplanung immer ist. Und daß solche Planung (den „Entwurf“) unterscheidet vom Reparieren, Flicken und Herumbasteln, mit dem Wirthensohn den Bautrupp der örtlichen Handwerker charakterisiert. (EW 2: Z 171 ff) 52 Etwa, daß man ins Grüne „auch wirklich einen direkten Zugang hat.“ (ALE: Z 542 f) 53 Andere Bauherrenklagen finden sich im Gespräch mit Ernst Wirthensohn über einen ständig klemmenden Schiebeladen sowie bei Peter Nußbaumer: „Ich

habe ein Haus zuhause, (...) Tiroler Baustil, das hat auch ein Architekt geplant, aus dem Walsertal. Ein Riesenbalkon, 36 Laufmeter. Ich habe jedem gesagt, du kannst von mir sofort 30 Laufmeter Balkon kaufen, das Geländer brauch ich nicht. Aber: Baustil siebziger Jahre.“ (PN: Z 491 ff) 54 ALE: Z 885 ff 55 „Wir haben nur die Zimmer innen festgelegt. Was wir für Zimmer haben wollen. Wie die Anordnung der Zimmer ist, oder wie das Haus ausschaut, das war Architektensache.“ (ALE: Z 400 ff) Das „Aussehen“ des Hauses scheint AE so wenig zu interessieren, daß er den Architekten beauftragt, obwohl ihm dessen bisher realisierte Häuser äußerlich nicht gefallen. Die Rolle des „Abweichlers“, in die ihn sein Haus versetzt, ist Thema des Abschnitts „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus.

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historische Architektur noch als Normalfall darstellt59, kann der Architekt im Leben des Bauherrn eine vergleichbare Vertrauensstellung einnehmen wie ein Hausarzt, ein Schneider oder ein anderer eng mit den Bedürfnissen des Alltags verbundener Handwerker. Eine solche Beziehung bestand zwischen dem evangelischen Pfarrer der Bregenzer Gemeinde und dem Architekten Hans Purin. Der Bauherr des Pfarrhauses auf dem Ölrain gab nach einer beruflichen Versetzung in das Nachbarland Liechtenstein bei seiner Rückkehr nach Vorarlberg seinen Alterssitz bei Purin in Auftrag: „Wie er dann in die Pension ist, hat er (...) ein Haus gekauft, das war ein Bau aus den fünfziger Jahren (...) und das haben wir dann total umgebaut.“60 Architektur erscheint aus der Perspektive solcher Bauherren als Lebensfunktion, als flexible Hülle ähnlich der Kleidung, in die das Leben in seinen verschiedenen Phasen eingebettet ist. Für den Architekten ist der Bauherr die zentrale Figur im Bauprozeß des Hauses, als dessen Sachwalter und Vertrauter er auftritt. Der Auftrag des Bauherrn markiert für ihn eine spezifische Phase in seinem beruflichen Leben, womöglich eine prägnante Stufe in der Entwicklung seiner Selbständigkeit, wie Architekt Gerhard Gruber über einen Bauherrn berichtet. „Der (...) ist für mich dann, wie ich dann selbständig geworden bin, der wichtigste Auftragsvermittler geworden. (...) Und ich hätte wirtschaftlich mit meinem Büro nicht Fuß fassen können ohne ihn.“61

Beziehungen zwischen Architekten und Bauherren

Die andere wesentliche Beziehung des Architekten ist die zu seinem Werk, dem Haus. Sie überdauert in vielen Fällen noch seine Beziehung zu dessen Bauherr. Das Haus steht ihm im Regelfall näher als seine Bewohner, es genießt seinen besonderen Schutz, gelegentlich sogar gegenüber dem Bauherrn selbst, erst recht gegenüber etwaigen Zweitbewohnern.62 Architektur stellt sich so als das Stiften einer Dreierbeziehung dar: einer Beziehung zwischen dem Bauherrn und seinem Haus, für welche der Architekt eine Schutz- und Patenfunktion übernimmt. Diese Rolle des Architekten als „Pate“ des Hauses

Beziehung des Architekten zu seinem Werk

56 ALE: Z 326 ff 57 ALE: Z 580 ff Auch Ernst Wirthensohn berichtet von Busladungen voller Besucher. (EW 1: Z 505 ff) 58 „Die Idee war, ringsum eine weiße Hülle, und alles andere ist Holz. Das hat die Sache ziemlich verteuert, aber es ist ganz gut geworden. Das hat [einem Fachbesucher] irgendwie nicht so gefallen (die geteilten Stützen). Ich kenne mich konstruktiv nicht so gut aus.“ (EW2: Z 1441 ff) Wirthensohn referiert hier über die Architektur seines Hauses und verwendet typische Begriffe des Architektendiskurses, wie „weiße Hülle“. Sein Haus ist also nicht etwa ein „Stadel“, sondern verfügt über ein konstruktives Konzept, das außer Tragwerk gleichzeitig „Bild“ ist, was sich darin zeigt, daß der fachlich vorgebildete Besucher sofort darauf reagiert

und Stellung nimmt. Wirthensohn selbst drückt hier deutlich seine Distanz und Ausgeschlossenheit aus. Die Idee seines Architekten habe (unverhältnismäßig) viel Geld gekostet, eine Beurteilung des Ergebnisses und damit auch der Kritik seines Besuchers daran ist ihm jedoch nicht möglich. Vgl. auch die getrennte Betrachtung von Konzept und Materialisierung als typisches Merkmal der fachlich geschulten Wahrnehmung eines Architekten. So etwa in: HP: Z 466 ff 59 Vgl. Abschnitt Architektur als Kunst dieses Kapitels, Anm. 66 60 HP: Z 112 ff 61 GG: Z 241 ff 62 HP: Z 144 ff 63 GW: Z 20 ff 64 GW: Z 1373 ff

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ist empfindlich gestört, sobald andere Architekten beginnen, sich des Hauses zu bemächtigen. Jäh endet in diesem Moment die vom ursprünglichen Architekten mit dem Entwurf begonnene Begleitung des Lebensweges „seines“ Hauses. In den Äußerungen Wratzfelds zu der umbaubedingten Störung seiner Beziehung zu dem Haus in Watzenegg63, auf die er im Gespräch mehrfach eingeht, kommt die Verbundenheit mit seinem Erstlingswerk erst eigentlich zum Vorschein. „Ich steh zu dem Haus, aber ich hatte jetzt keine Möglichkeit, das Haus in dem Sinn weiterzuentwickeln, wenns auch andere Ideen gegeben hat.“64 Eine zweite Form des „Besitzes“, neben dem Besitz der Substanz des Hauses, die der Bauherr innehat, scheint hier auf: das „geistige Eigentum“ des Architekten an der Idee des Hauses, seinem Entwurf.65 In wessen Auftrag handelt der Architekt also wirklich? Betrachtet man die Beziehung zu seinem Werk, scheint es, zuvörderst dem von Architektur. Was aber heißt das für die Verfaßtheit von Architektur? Daß sie ein soziales System bildet, das seinen Vertretern, den Architekten, eine bestimmte Weise vorgibt, mit der Welt als Siedlungsraum umzugehen. Wenn das „sich untertan machen“ der Welt in der biblischen Schöpfungsgeschichte als Menschheitsauftrag anerkannt wird, dann ist Architektur eine Anleitung zum Menschsein selbst, eine kulturell gebundene Weise, diesem „Auftrag“ nachzukommen. Das zweite Leben der Häuser in den Zeitschriften

Wratzfeld findet, als er eine Veröffentlichung seines Hauses in Watzenegg sucht, in derselben Zeitschrift die Abbildung eines Hauses von Roland Rainer, seinem ehemaligen Professor, das in mancher Hinsicht Vorbild für seinen eigenen Entwurf gewesen sein mag.66 Architekturzeitschriften bieten den Häusern und ihren Architekten ein zweites Leben, eine Parallelexistenz zur materiellen Welt. Hier finden sie Nachbarschaften und Referenzen, hier: Schülerhaus und Meisterhaus, die mit den tatsächlichen räumlichen Verhältnissen nichts, dafür um so mehr mit den geistigen Verwandtschaften, Beziehungen und Beweggründen innerhalb des „Systems Architektur“ zu tun haben. Wo die realen Objekte von ihren Besitzern oder von anderen Architekten verändert werden und die ursprüngliche Idee dadurch verschwindet, konservieren Fotos und ihre Veröffentlichung in Zeitschriften und Büchern die ursprünglichen Formen. Sie sind die Bibliothek, das Archiv für die geistige Substanz des „Systems Architektur“, als solches gekennzeichnet auch durch die Exklusivität seiner Zugänglichkeit.67

65 In unserem Rechtssystem ist dieser Umstand im Begriff des (unveräußerlichen) Urheberrechts erfaßt. 66 GW: Z 626 ff 67 Daniel Walser stellt fest, daß dieses Archiv und seine Repräsentationsfunktion wiederum auf Architektur zurückwirkt: „Für ein erfolgreiches Architek-

turbüro ist es überlebenswichtig, daß seine Bauten regelmäßig publiziert werden. (...) Hierfür werden Gebäude auf bestimmte formale Reize und Ansichten hin entworfen, um auch sicher publiziert zu werden. (...) In der Auslassung, im Nicht - Publizieren eines Werkes liegt die eigentliche Kritik.“ Walser, S. 122

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2.1 Land und Ländle Konzentrische Kreise, die sich über die Kontur Europas hinweg von einem Punkt ausbreiten, der als Landesfläche Vorarlbergs erkennbar ist, markieren sowohl am Beginn einer mehrbändigen Landes- und Volkskunde Vorarlbergs von 19611 als auch 2003, im Katalog einer international repräsentierenden Ausstellung Zeitgenössischer Architektur des Landes2, den geographischen Ort, an dem Vorarlberg liegt.3 Indem wir beide Darstellungen jeweils als charakteristisch für den Darstellenden auffassen, können wir in diesem Abschnitt sowohl einige Anhaltspunkte zur Identitätskonstruktion geben, wie sie Volkskundler und Landeshistoriker Vorarlbergs erzeugt haben, als auch unseren Forschungsgegenstand Architektur in seinen territorialen Konnotationen zu untersuchen beginnen. Ebenso wie jene Darstellung einmal nach innen, als zentrierendes Identitätssymbol, einmal nach außen, als ausstrahlende landmark, eingesetzt wird, kann der territoriale Fokus in einem Mikro- ebenso wie in einem Makromaßstab zur Untersuchung von Architektur dienen. Beides soll in den folgenden Kapiteln unternommen werden. Dabei steht der Mikromaßstab für die sozialen Binnenterritorien der Gesellschaft, zu deren Abgrenzung Architektur eingesetzt wird4, der Makromaßstab für die Markierung eines Landes als Standort einer globalisierten Wirtschaft und damit als Ökonomisierung von Landschaft mittels architektonischer Ästhetisierung.5

„Im Zentrum Europas“

Um verständlich zu machen, in welchen landesspezifischen Kontexten Architektur in Vorarlberg diskutiert und eingesetzt wird, stellt der erste Abschnitt dieses Kapitels exemplarisch drei Großräume des Landes vor, denen jeweils charakteristische sozioökonomische Themen zugeordnet sind.

Vorarlberger Architekturlandschaften

1 Ilg, Bd. 1, S. 14; Bildunterschrift: „Karte 1: Vorarlbergs verkehrsgeographische Lage“ 2 Kapfinger (2003), S. 115, ebd. (S. 114) auch die Angabe „Lage: Im Zentrum Europas“ 3 Auch Barnay (2006), S. 5, beginnt den Text seines Vorarlberg-Leitfaden – Was Staatsbürgerschaftswerber

über unser Land wissen sollten mit dem Satz: „Auf einer Landkarte Europas liegt das Bundesland Vorarlberg ziemlich genau in der Mitte.“ 4 Vgl. Abschnitt Ein anderes Haus, Kapitel Haus 5 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf

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Im Montafon stehen die Protagonisten Zeitgenössischer Architektur dem Tourismusgewerbe, das die Talschaft prägt, und deren Vertretern gegenüber. Eine historische Hauslandschaft, deren tragende, agrarisch strukturierte Gesellschaft mittlerweile ihre Gestaltungsmacht eingebüßt hat6, sowie ein hochentwickeltes Holzhandwerk, das sich spätestens seit dem EU-Beitritt Österreichs auf internationalem Parkett etabliert7, gibt dem Auftritt Zeitgenössischer Architektur im Bregenzerwald sein regionales Thema. Das Vorarlberger Rheintal als dritte Architekturlandschaft steht für die Prägung des Landes durch seine frühe Industrialisierung ebenso wie durch Einwanderungswellen, die in deren Gefolge8 im Lauf des neunzehnten und durch die Bevölkerungspolitik der faschistischen Regime des zwanzigsten Jahrhunderts das Land erreichten. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels stellt dar, daß zumindest die Einwanderung der Südtiroler während des Nationalsozialismus in der Architektur des Landes prägende Spuren hinterlassen hat. Der dritte Abschnitt wird sich mit dem Zusammenhang zwischen Kulturdokumentation und der Entwicklung des Landes auf sozialer ebenso wie auf wirtschaftlicher Ebene befassen. Architekturgeschichte ist für dieses Kapitel ein zentraler Begriff. Er steht zunächst für eine landesspezifische Gegebenheit, den Bestand moderner ebenso wie traditioneller Architekturen bzw. baulicher Zeugnisse anonymer Baukultur, den die Zeitgenössische Architekturszene Vorarlbergs im Land vorfindet. Neben einer Rekapitulation des architekturhistorischen Forschungsstandes, die der Orientierung im Forschungsfeld dient, ist im Rahmen der wissenssoziologischen Fragestellungen, die die vorliegende Studie bewegen, 6 Vgl. Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 7 Vgl. Reform des Handwerks: Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk 8 Barnay (2006), S. 9 9 Amt der Vorarlberger Landesregierung (2008),S. 6 10 „In Vorarlberg befindet sich heute innerhalb Österreichs der einzige alemannische Volksteil. Dieser nimmt 3,6 Prozent der gesamten Bevölkerung Österreichs ein. Durch die geomorphologische Offenheit des Landes hat sich eine enge Verflechtung dieses alemannischen Volkstums über die Grenzen hinweg nach der Schweiz, Liechtenstein und in den süddeutschen Raum erhalten. Gleiche Abstammung, gleiche Sprache und Kultur haben über die Grenzen hinweg einen geschlossenen Kulturraum um den Bodensee entstehen lassen, der in kirchlicher Hinsicht durch Jahrhunderte hindurch bis zum Wiener Kongreß in der Zugehörigkeit Vorarlbergs zu den drei Diözesen Chur, Konstanz und Augsburg seinen Ausdruck fand.“ Es folgt eine Gegenüberstellung der einheimischen Alemannen und ihrer sprichwörtlichen Liebe zu Ordnung und Sauberkeit mit der „übermäßige[n] Zu-

wanderung von Ausländern, insbesondere Jugoslawen und Türken“. Eisterer (1978) in der Vorarlberger Lehrerzeitung, S. 10 Die beständige Erneuerung dieser Behauptung eines „lebendigen“ Vorarlberger Alemannentums und seiner Verknüpfung mit spezifischen Tugenden reicht bis in jüngste Zeit und in wissenschaftliche Eliten hinein. So spricht z.B. Otto Kapfinger in einer öffentlichen Podiumsdiskussion vom „schaffe schaffe“, um damit eine die Bevölkerung des Landes kennzeichnende Aufgeräumtheit der Interieurs und den Fleiß ihrer Bewohner zu charakterisieren. (Eigene Bandaufnahme und Transkript der Podiumsdiskussion Psychogramm des Bauens: Rudolf Sagmeister (Mod.), Hugo Dworzak, Hans Haid, Otto Kapfinger, Bernhard Tschofen, am 08.03.2005 im Kunsthaus Bregenz) Kapfingers hier zitierte Äußerung repräsentiert sein durchgängiges Interpretationsmuster, das Vorarlberger Architekturphänomen mit alemannischen Stammeseigenschaften zu verknüpfen. Vgl. auch Anm. 39 im Abschnitt Baukünstler dieses Kapitels.

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ebendieser Forschungsstand auf seine Produktionsbedingungen hin zu untersuchen und damit das Augenmerk auf den Vorgang wissenschaftlicher Theoriebildung durch Architekturhistoriker zu richten. „Theorie“ meint darin vor allem, daß Bauten qualitativ bewertet und katalogisiert werden und daraus ein Kanon gebildet wird, der zunächst zentraler Bestandteil der Architektenausbildung ist, anschließend als Bewertungsmaßstab an die Architektenarbeit angelegt wird und schließlich zur Unterscheidung zwischen Architektur und Nichtarchitektur dient. Der Architekturhistoriker, Erzeuger dieses Kanons, ist damit als zentraler Akteur zu betrachten, der maßgeblich mitbestimmt, was in einer Gesellschaft legitimerweise als Architektur gelten und wer als Architekt Ansehen beanspruchen darf. Die Darstellung des Vorarlberger Selbstbilds, wie es die Historiker und Geographen des Landes zeichnen, zeigt einen kleinen Landesteil mit gegenwärtig 367.000 Einwohnern9 im äußersten Westen Österreichs, fernab der Hauptstadt Wien an dessen Ostgrenze, dem seine Zugehörigkeit zum alemannischen Sprachraum10, mithin das Argument, innerhalb Österreichs eine kulturelle Minderheit zu bilden, zur zentralen Identitätsfrage geworden ist. Der vitale Konflikt aus emotionaler Abgrenzung vom gegenwärtigen Staatsgebilde und Zugehörigkeitswunsch zu Kulturräumen jenseits seiner Grenzen findet im offiziell vertretenen Bekenntnis des Landes zu seiner Mundart11 seinen äußeren Ausdruck und färbt selbst die Interpretation so objektiv erscheinender Gegenstände wie der Geographie und Geologie des Landes. Im Unterschied zu den sprachlichen Enklaven anderer Länder, deren politisches Bestreben den Wunsch nach Kontraktion auf eine Eigenständigkeit ausdrückt, ist die Identitätskonstruktion Vorarlbergs davon geprägt, sich den Sprachverwandten jenseits der das Land umgebenden nationalen Grenzen12, vor allem den Schweizern, weniger den „Alemannen“13 Südwestdeutschlands, anzuschließen und infolgedessen wegzustreben von Österreich.14 Dort, wo der Arlbergtunnel die technische Verbindung des Landes mit dem Bundesstaat herstellt, liegt die „emotionale“ Außengrenze Vorarlbergs15, an den politischen Trennstellen der Nationengrenzen entlang von Rhein und Bodensee dagegen liegt die gefühlte Nähe, die Brücke zu den „Verwandten“ am anderen Ufer der Gewässer. 11 So etwa in der Selbstdarstellung des Landes Vorarlberg kompakt (Stand 2008, S. 7), wie sie vom Amt der Vorarlberger Landesregierung herausgegeben wird. Auch Kapfinger (2003), S. 114, erwähnt dieses „Bekenntnis“ und verknüpft es durch seine Plazierung mit der international fokussierten medialen Präsentation der Zeitgenössischen Architektur des Landes. Einen Höhepunkt erlebte der politisch institutionalisierte Vorarlberger Konservatismus als ethnischsprachlicher Separatismus im nachträglich so bezeichneten „Alemannenerlaß“ des Landesamtsdirektors

Elmar Grabherr. In seinem landesamtlichen Rundschreiben vom 16.5.1961 sollte die Ausschreibung von Dienststellen des Landes von der „landsmannschaftlichen Herkunft“, belegt durch so „objektive Tatsachen“ wie „Abstammung“ und „Beherrschung der Mundart“, abhängig gemacht werden. Barnay (1998), Anm. 49 12 Barnay (2006): „Die Vorarlberger Mundart zählt zu den alemannischen Dialekten. Solche werden auch in der Schweiz und in Süddeutschland gesprochen.“ 13 Zum identitätsstiftenden „Alemannenmythos“ Vorarlbergs vgl. Bundschuh.

Landesidentität als Konstrukt

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Dieses die Emotionen leitende Gefälle, das am Arlberg seinen Hoch- und an Rhein und Bodensee seinen Tief- und Zielpunkt hat, das im nordwestwärts geneigten Landschaftsrelief seine Entsprechung und in der geologischen Zugehörigkeit Vorarlbergs zur helvetischen Platte eine Bestätigung seiner Naturgegebenheit sucht, bildete bis in die 1980er Jahre das unwidersprochene Referenzgerüst dessen, was Werner Bundschuh die „offizielle Landesgeschichtsschreibung“16 nennt. Diese setzt vor allem auf die bodenständigen Identitäten der Talschaften, um darin lebendige Spuren der Besiedlungswellen von Alemannen und (ebenfalls alemannischen) Walsern zu beschreiben und zu betonen. Dasselbe Gefälle bestimmt auch diejenigen, die ihm entgegenarbeiten.17 Dazu gehört sowohl eine junge Historikergeneration im Umfeld der 1982 gegründeten Johann-August-Malin-Gesellschaft 18, die die bis heute wirksamen Effekte19 der „Erfindung des Vorarlbergers“20 ihrer Väter und Vorväter zu dekonstruieren bestrebt ist, als auch die Industriearchäologen und Wirtschaftsgeschichtler21 des Landes. Seine bis heute wirksame wirtschaftliche und soziale Prägung erfährt Vorarlberg im neunzehnten Jahrhundert durch die – im österreichischen Vergleich – frühe und intensive Industrialisierung, welche fast ausschließlich durch die Textilproduktion erfolgt. Beide Grenzen, die nationale zur Schweiz und die geographische am Arlberg, manifestieren sich in dieser Modernisierungsphase des Landes auf jeweils eigene Weise. Die mehrheitlich in der benachbarten Schweiz ansässigen Fabrikanten nutzen Vorarlberg als Produktionsstandort 14 Barnay (1998) rekonstruiert diese politische Geschichte Vorarlbergs als Beitrag des Bundeslandes zum Föderalismus der Zweiten Österreichischen Republik und analysiert die zugrundeliegenden Geschichtsbilder und politisch instrumentierten Identitätskonstruktionen. Der aktuelle Zielpunkt dieser Suche nach einem identitätsgerechten „Ort“ des Landes ist die „Euregio Bodensee“. Daß dieser derzeit noch nicht politisch konstituierte, länderübergreifende Zusammenschluß einen Austritt Vorarlbergs aus dem „Viererlandtag“, der eine Gemeinsamkeit mit Tirol und den italienischen Regionen Südtirol und Trentino suchte, nach sich zog (vgl. Barnay [1998], Anm. 79), verlängert ebenjenes Wegstreben Vorarlbergs von Österreich zugunsten eines Zusammenschlusses mit den „alemannischen“ Regionen der Schweiz und Deutschlands in die Gegenwart. Eine deutsche Perspektive des historischen und gegenwärtigen „Alemannischen Separatismus“ gibt www.wikipedia.org (Stand 16.10.2008) 15 „Vorarlberg ist vom übrigen Österreich durch hohe Gebirge getrennt und öffnet sich (...) zu den Anrainerstaaten BRD, Schweiz und Liechtenstein. Mit diesen Nachbarn verbinden Vorarlberg 23 Straßen und drei Eisenbahnen, während durch das nur schwer zu erschließende Arlberggebiet nur drei Straßen und eine Eisenbahnlinie führen.“ Eisterer (1978), S. 10

16 Bundschuh, S. 14. Ebd. bietet der Autor auch eine Darstellung des „Vorarlberger Historikerstreits“ von 1986, der seinen Höhepunkt in einer (Barnay [1998] zufolge als redaktionelle Anmerkung veröffentlichten) Aufforderung des damaligen Chefredakteurs der Vorarlberger Nachrichten (VN), Franz Ortner, an die Landesregierung fand, sie möge Landesarchivar Karl Heinz Burmeister doch nahelegen, das Land zu verlassen. Den Anlaß dazu hatte Burmeisters Kritik am Geschichtsbild des „Landeshistorikers“ Benedikt Bilgeri in der ORF-Mittagslandesrundschau vom 22. 11. 1986 gegeben. Vgl. Barnay (1998), Anm. 69 17 Vgl. Abschnitt Bauernhaus im Kapitel Haus 18 Zur Gründungsgeschichte und gesellschaftlichen Einbettung der Johann-August-Malin-Gesellschaft vgl. Barnay (1998). 19 Für die Gegenwart gibt etwa die neu zu konzipierende Präsentation der Landesgeschichte im Neubau des Vorarlberger Landesmuseums Bregenz Anlaß zu solchen Auseinandersetzungen. Vgl. Barnay (2009/1 und 2009/2) 20 So der Titel von Barnays Standardwerk (1988). 21 An erster Stelle ist Christoph Bertsch, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck, zu nennen, der sich intensiv für die Erforschung und den Schutz des baulichen Erbes der Industrialisierung Vorarlbergs im neunzehnten Jahrhunderts einsetzt.

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und betreiben zeitweilig mehr Webstühle und Stickereimaschinen im Vorarlberger Rheintal als in der Schweiz selbst. Das Lohnniveau und die günstigen Betriebsbedingungen mögen hierfür maßgeblich sein, mehr aber noch die Verkehrsverbindung am Arlberg, der Umstand also, daß Vorarlberg als sein äußerster westlicher Ausläufer den riesigen Binnenmarkt des k. u. k. Reiches repräsentiert und erschließt. Am Ende des Ersten Weltkriegs bleibt von Österreich, das sich bis zum Friedensvertrag von St.-Germain als „Deutschösterreich“ konstituiert, nur noch ein Rumpfland mit zweifelhafter Überlebenskraft und manifester Auflösungstendenz. Die meisten österreichischen Bundesländer streben eine Abspaltung von Österreich und Anschluß an die jeweils angrenzenden Staaten an. Auch in Vorarlberg bildet sich 1918 eine politische Initiative, die den Anschluß des Landes an die Schweiz anstrebt und den Landtag zu einer diesbezüglichen Volksabstimmung veranlaßt, die am 11. Mai 1919 stattfindet.22 Ihr Ergebnis ist mit 80% Zustimmung überwältigend und nötigt die Schweiz zu einer Stellungnahme, die gegen eine Aufnahme Vorarlbergs ausfällt. Zurückhaltung gegenüber den Siegermächten des Weltkriegs, die Aufrechterhaltung des konfessionellen und sprachlichen Proporzes der Kantone, auch wirtschaftliche Erwägungen sind letztlich ausschlaggebende Kriterien.23 Nachdem der Friedensvertrag von St.-Germain 1919 Österreichs Vereinigung mit dem Deutschen Reich verhindert und gleichzeitig die Voraussetzungen zu einer politischen Stabilisierung einer „Republik Österreich“ schafft, erhält Vorarlberg, bis dahin gemeinsam mit Tirol verwaltet, zum ersten Mal in seiner politischen Geschichte die Selbstverwaltung als Bundesland.24

Politische Eigenständigkeit als Bundesland

Der geographische Tiefpunkt des Landschaftsreliefs Vorarlbergs ist die Mündung des Rheins in den Bodensee bei Gaissau mit 396 m über Meereshöhe. Der Rhein markiert nicht nur streckenweise die Grenze Vorarlbergs zur Schweiz, sondern bildet auch diejenige prägnante Zäsur der Alpenkette, die den Geographen zur Grenzziehung zwischen Ost- und Westalpen dient. Sein breites Tal vom Bodensee bis zur Stadt Feldkirch, verlängert um das Walgau, dem Tal am Unterlauf der Ill, die in Feldkirch in den Rhein mündet, bietet den einzigen großflächig ebenen Boden des Landes. Mit Ausnahme von Lech und der Breitach des Kleinwalsertals fließen sämtliche Flüsse Vorarlbergs dem Rhein und Bodensee, damit der Nordsee zu.25 Die Allgäuer und Lechtaler Alpen, die Vorarlberg im Osten gegen Bayern und Tirol abgrenzen, wirken als prägnante Wasserscheide, jenseits derer das Einzugsgebiet der Donau beginnt.

Topographie

22 Vgl. Dreier / Pichler (1989) und Natter (2009) 23 Wirthensohn berichtet von der kriegsbedingten Auflösung gewachsener Handelsbeziehungen zur Schweiz und zu Frankreich, unter der das Stickerei-

gewerbe im Vorderen Bregenzerwald zu leiden hatte. Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 24 Barnay (2006), S. 7 25 Eisterer (1978), S. 9

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Soziogeographie

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Östlich des Rheingrabens steigt eine Schichtung aus Gletschergeschiebe, Nagelfluh, Molasse und Flysch auf, die im Nordosten Vorarlbergs die Vorgebirgslandschaft des Vorderen Bregenzerwaldes formt. Mit der Kanisfluh als erstem Kalkrücken geht diese in die schrofferen Rippen des Hinteren Bregenzerwaldes über. Der Bregenzerwald ist das Einzugsgebiet der Bregenzerach, die zwischen Bregenz und Hard in den Bodensee mündet. Südlich des Bregenzerwaldes schließen sich, durch Kalksteinkämme getrennt, die ost-westlich verlaufenden Täler von Frutz, Lutz und Afflenz an, das Laternser-, Großwalser- und Klostertal. Im äußersten Süden des Landes, gebildet vom Oberlauf der Ill mit seinen Seitentälern, östlich vom Verwall begrenzt, im Südwesten überragt durch die aus kristallinem Gestein gebildete Silvrettagruppe, deren südliche Flanke bereits auf schweizerisches Staatsgebiet des Kantons Graubünden abfällt, liegt das Montafon. Die geographische Gliederung des Landes in die Rheinebene einerseits und die Bergtäler andererseits bietet der Besiedlung des Landes, seiner wirtschaftlichen Nutzung und sozialen Entwicklung Räume mit jeweils unterschiedlichen Bedingungen, die sich unter anderem in spezifischen Bautraditionen manifestieren. Der Begriff der Talschaft 26, der die durch historische Kolonisierungskampagnen entstandene, ortsspezifische Kultur der Bevölkerung eines Talraumes und ebenso deren privilegierte Rechtsstellung bezeichnet, bildet den wichtigsten Bestandteil einer Zusammenschau von geographischen, wirtschaftlichen und sozialen Kulturvoraussetzungen, unter der hier, auf die Gegenwart bezogen, drei prägnant unterscheidbare landschaftliche Großräume als exemplarische Vorarlberger Architekturlandschaften herausgegriffen werden: das Rheintal, der Bregenzerwald und, hier die Reihe eröffnend, das Montafon. Im Hinblick auf die zeitgenössische Architekturentwicklung des Landes erscheinen vor allem die jeweiligen Wirkungen von Modernisierungswellen bedeutsam und weniger die „lebendigen Traditionen“, die für die populäre Geschichtsschreibung des Landes im Vordergrund stehen.

26 „Als Talschaften werden ländliche Verbände in Gebirgsgegenden mit kommunal ausgeprägter Verfassung bezeichnet. (...) Die Ursprünge der Talschaften sind unterschiedlich. Viele entstanden aufgrund herrschaftlicher Verwaltungsstrukturen (...). ,Tal‘ wird hier nicht selten als Korrelat zu ,Burg‘ (,Burg und Tal‘) genannt. Bisweilen ist ein gemeinsames materielles Substrat, etwa die Mutterkirche oder die Allmend, der Ursprung einer Talschaft (...). Das den Walsern gewährte Recht zur Kolonisierung liess ebenfalls Talschaften entstehen (...). Eingriffe des dt. Kaisers, meist im Zusammenhang mit der Passpolitik, konnten eine Talschaft begründen oder fördern (...). Die Talschaften entwickelten kommunale Verfassungsstrukturen (...) mit Talgemeindeversammlungen und Vorgesetzten für das Verwaltungs- und Gerichts-

wesen. Sie verfügten über wesentliche Hoheitsrechte, die in Statuten und in Talbüchern festgeschrieben wurden...“ (Hans Stadler: Talschaft; in: Historisches Lexikon der Schweiz, Online-Ausgabe www.hlsdss.ch, Stand 24. 10. 2008) 27 Mit Dank an Bernhard Breuer für die Unterstützung bei der Unterscheidung von Gemeinden und Dörfern des Montafon am 01. 07.2010. 28 Der Begriff „Stand Montafon“ geht zurück ins Mittelalter, in die Zeit der Vorarlberger Landstände. Die Einrichtung eines „Standesrepräsentanten“ im Anschluß an die bayerische Herrschaft (1806- 1814) zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten, Forstsachen, Straßen- und Brückenbauten, Weg- und Wuhrbauten, hat sich unter den Vorarlberger Talschaften bis heute nur mehr im Montafon erhalten. Maßgebend dafür wa-

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Die zehn Montafoner Gemeinden, gereiht nach dem Talverlauf von Bludenz kommend, Stallehr, Lorüns, St. Anton i. M., Vandans, Bartholomäberg, Tschagguns, Schruns, Silbertal, St. Gallenkirch und Gaschurn27, nicht nur als historische Verwaltungseinheit Stand Montafon28, sondern bis heute als Gerichtsbezirk Schruns abgegrenzt, gruppieren sich im weiträumigen Haupttal beidseits des Oberlaufs der Ill in einer Höhenlage zwischen 650 und 1400 m und bilden zusammen etwa ein Sechstel der Landesfläche an dessen Südspitze. In die Talverengung an dessen Zugang zwängt sich neben Fluß und Straße auch die Montafonerbahn, die bis zum Hauptort Schruns reicht. Das Tourismusgewerbe bildet das wirtschaftliche Rückgrat des Tales29 und prägt mit seinen Hotels und Ferienwohnungen das bauliche Gesamtbild. Friedrich Achleitner handelt die touristisch geprägten Bautenkategorien Vorarlbergs und damit den spezifischen Beitrag des Montafon als Vorarlberger Architekturlandschaft mit einem kurzen Satz ab: „Es mag überraschen, daß es in einem Land des Fremdenverkehrs (oder vielleicht deshalb?) so wenige interessante Hotelbauten gibt“ 30 und nennt in seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert kein einziges Bauwerk dieser Gattung im Montafon. Die zeitlich an „den Achleitner“ anschließende Architekturchronik Kapfingers veröffentlicht immerhin das Silvrettahaus auf der Bielerhöhe31, hoch über den Tallagen des Montafon, weit abseits von den zusammenhängend bebauten Siedlungsgebieten gelegen.32 Für das Montafon untypisch erscheint nicht nur dessen Lage, sondern auch die Bauherrschaft, die Vorarlberger Illwerke, die den Hotelbau als Stützpunkt für ihre Belegschaft mitnutzen. Das Montafon stellt sich somit auf der Quellenbasis der offiziellen Architekturregister Vorarlbergs als Leerstelle dar. Seine Aufnahme unter die drei Architekturlandschaften des Landes erscheint bereits aus diesem Grund gerechtfertigt, als Hinweis darauf, daß im „Architekturland Vorarlberg“ Architektur keineswegs so „allgegenwärtig“ ist, wie die mediale Repräsentation des Landes dies suggeriert.33 Dem Negativkriterium „Architekturvakuum“, mittlerweile als drohender Anschlußverlust der Talschaft an den globalen ren sicher die relative Abgeschlossenheit der Talschaft und die ständigen Auseinandersetzungen mit der Stadt Bludenz im Bemühen um den eigenen Markt und das eigene Gericht. Das entscheidende Moment war aber wohl der Erwerb des staatlichen Waldbesitzes im Jahr 1832, der die gemeinschaftliche Verwaltung und Nutzung der Waldungen bedingte. Vgl. Geschichte, in: www.stand-montafon.at, Stand 24.10.2008 29 40% der Arbeitsplätze des Tales liegen im Tourismussektor, überwiegend mit auswärtigen Saisonarbeitskräften besetzt. Vgl. Reichenbach-Klinke Schauer bezieht sich in seinem Artikel auf einen Rückgang der Buchungen: „Allein in der Wintersaison 2004 / 2005 zählten die Montafoner im Vergleich zur Saison 2003 /2004 knapp siebenunddreißigtausend Übernachtungen weniger.“

30 Achleitner (1980), S. 400 31 Kapfinger (1999), 11/13 32 Silvrettahaus 1990–92; Architekten Much Untertrifaller sen. und jun. mit Gerhard Hörburger; veröffentlicht in Kapfinger (1998), S. 11/13, ausführlicher dokumentiert in: Zschokke (2001). In der Einladung zur Dietrich|Untertrifaller-Ausstellung im VAI Dornbirn 2010 wird das Gebäude als „Wende im Tourismusbau“ gewertet. 33 „Gleich nach der Grenze beginnt abrupt eine erstaunliche Allgegenwart von zeitgenössischen Bauten, die [den Reisenden] durch das ganze Land bis hinauf in die Berge begleiten“, schreibt etwa Robert Fabach in Architekturland Vorarlberg, einer Broschüre von Vorarlberg Tourismus, gemeinsam mit dem VAI herausgegeben (o.J.).

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Attraktivitätswettbewerb der Standortqualitäten etikettiert34, steht aus dem Blickwinkel der vorliegenden Studie ein Positivkriterium zur Seite, der exemplarische „Montafoner Architekturstreit“ von 2005, hervorgegangen aus einer Auseinandersetzung bauwilliger Hoteliers mit der Landesraumplanungsstelle als übergeordneter Urteilsinstanz für das „Orts- und Landschaftsbild“35. Der Begriff „Identität“ wurde in diesem Streit, der bis heute nachwirkt36, mit ihrer architektonischen Repräsentation verknüpft diskutiert und akademischer Architektur jene sozial spaltende Wirkungsweise zuerkannt, die bereits im Abschnitt Architektur als Kunst des Eingangskapitels thematisiert worden ist.37 Eng verwoben in diese als Angelegenheit des öffentlichen Interesses inszenierte, großteils in Gemeindesälen als Podiumsdiskussion stattfindende38 und von der regionalen wie überregionalen Presse gleichermaßen kommentierte39 Auseinandersetzung ist die Bezugnahme auf einen „traditionellen“ 34 Vgl. Gnaiger (2009/ 1) und Winkler (2010) 35 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 36 Implizit als Hintergrund der Auseinandersetzungen um den umstrittenen Entwurf für das Montafoner Heimatmuseum Schruns (vgl. Winkler, 2010), auch als Legitimation für eine architekturbezogene Bildungsmaßnahme des Montafoner Heimatschutzvereins, die Montafoner Architekturgespräche MONT.AG, die seit 2010 angeboten werden. 37 In überregionalen Feuilletons ebenso wie in den Fachzeitschriften des Architektenstandes wird eine architektonische Ästhetisierung von Tourismusbauten gegenwärtig verstärkt thematisiert. Ein Großteil der besprochenen Beispiele stammt aus dem Tourismusland Österreich und unterstreicht seinen Rang als Kultur- und damit Architekturland. Die journalistische Wahrnehmung der sozialen Wurzeln und Folgen des Phänomens ist durch zwei konträre Positionen bestimmt: Während die eine Kritikerfraktion vollständig mit den innerfachlichen Bewertungsmustern des Architektenstandes verschmilzt, moderne Architektur als universell „heilsam“ zu interpretieren und mit „Aufgeklärtheit“ gleichzusetzen, nimmt die andere Kritikerfraktion Distanz zu diesem akademikerzentrierten Standpunkt. Sie thematisiert aus größerem Abstand zum Gegenstand den hinter der architektonischen Ästhetisierung liegenden sozialen Wandel innerhalb der jeweils ortsspezifischen Touristenpopulation und identifiziert damit deren soziale Selbstpositionierung durch ästhetische Markierung ihres lifestyle. Zeitgenössische Architektur gehört aus dieser Perspektive zum Inventar einer „gebildeten“ Gesellschaftsschicht und damit zu deren Gefolge am jeweiligen Urlaubsort. Notwendig interpretieren beide Fraktionen die

wirtschaftlichen Auswirkungen des stilistischen Wandels der Touristenherbergen von rustikal zu modern konträr. Während die den Interessen der stake holders Zeitgenössischer Architektur zugeneigte Publizistenfraktion außer Frage stellt, daß avancierte Architektur „als Marketinginstrument im Tourismus für Erfolg sorgen kann“ (Matzig, 2009), beobachtet die sozialwissenschaftlich eingestellte Fraktion einen negativen ökonomischen Effekt: „Hoteldirektor Peter Heine vom Martinspark in Dornbirn erinnert an die ersten beiden, wirtschaftlich schwierigen Jahre des Hotels, weil die Gäste sich ,ganz einfach‘ mit der ungewöhnlichen Architektur des Hauses nicht anfreunden konnten. Das änderte sich erst, als das Marketing des Martinspark auf intellektuell geprägte Zielgruppen umschwenkte.“ (Schauer, 2005) Vgl. zum Thema Tourismusarchitektur auch Baumeister B6, Juni 2009 38 Neben der Lokalberichterstattung und den erregten Leserbriefauseinandersetzungen in den Vorarlberger Nachrichten (VN) (vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus, Anm. 19) vgl. auch Berger (2005 /1 und 2005 /2), Schauer (2005) und Winkler (2007). 39 So etwa das „Architektursymposium Montafon – Architektur, die ins Tal passt – Gibt es eine Zukunft für traditionelles Bauen im Montafon?“, 12. 05. 2005, im Festsaal Vitalquelle Gauenstein, Schruns. Die Bezugnahme auf eine „Urform unserer Region“, die im Einladungs-Flugblatt (Archiv des Autors) für eine erneuerte „traditionelle“ Bauform wirbt, wird gleichermaßen von den Befürwortern avanciert „moderner“ Architektur in Anspruch genommen, so etwa Winkler (2010, S. 40), den die in Sichtbeton geplante Fassade des umstrittenen HeimatmuseumsNeubaus am Schrunser Kirchplatz bereits im voraus „an rätoromanisches Mauerwerk erinnert“.

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Baustil, dessen Referenz die örtlichen Bauernhäuser bilden. Bedingt durch den Umstand, daß das bäuerliche Montafon bereits im neunzehnten Jahrhundert zu den ersten Sehnsuchtszielen eines städtischen, erholungssuchenden Bürgertums geworden war, somit innerhalb Vorarlbergs als prototypische Tourismusregion gelten darf, hat das „Montafonerhaus“40 neben seiner ursprünglichen bäuerlichen Nutzung bereits eine zweite und dritte „Karriere“ als vorbildgebender Typ nichtbäuerlichen ländlichen Bauens hinter sich. Stationen dieser Rolle als überregional wirksames bauliches Bildwerk sind die Gewerbeausstellung in Bregenz 1887, bei der ein neugebautes „Montafonerhaus“ die Ausstellung eines Parkettherstellers beherbergte,41 sowie seine Stellung in der Bauernhausforschung des Nationalsozialismus. Beide Aspekte, die Übertragung der ästhetischen Merkmale seiner durch eine Mischbauweise aus geputztem Mauerwerk und gedunkeltem Holzstrickbau gekennzeichneten und durch diesen Kontrast besonders „malerisch“ wirkenden Fassade auf das bei nichtbäuerlichen Dorfbewohnern des gesamten Alpenraums beliebte „Landhaus“42 und daneben seine Propagierung als Vorarlberger Beitrag zum „Alpenländischen Baugesicht“, das die nationalsozialistische Überlegenheitslehre zu stützen hatte43, sollen im Folgenden vertieft werden. Zunächst erscheint bemerkenswert, daß der Bezugnahme der Montafoner Hoteliers auf das „Montafonerhaus“, das innerhalb der Moderne ein inzwischen historisch gewordenes Vorbild landschaftsverbundenen Bauens im Alpenraum darstellt, bereits eine eigene Wahrnehmungstradition anhängt. Diese wiederum bildet die Grundlage für das bis zum Klischee abgenutzte und als solches für die jüngste Touristengeneration bereits selbst wieder „Pop“44 gewordene Medienbild45 der alpinen Natur- und Kulturlandschaft.46 Das Montafon vertritt unter den hier vorgestellten Vorarlberger Architekturlandschaften denjenigen Ort, an dem die Zeitgenössische Architektur des Landes als gesellschaftliche Konstruktion gegenwärtig zum offenen sozialen 40 „Der Hausbau im Montafon [läßt sich] von zwei Grundformen ableiten, nämlich vom rätoromanischen Steinhaus und vom reinen Walser Holzhaus. Charakteristisch für das eigentliche Montafoner Haus ist die Verbindung beider Formen in einer Stein-Holz-Mischbauweise.“ Lehrerarbeitskreis „Heimatkunde im Unterricht“; S. 459 41 „Auf der Vorarlberger Landesausstellung in Bregenz 1887 errichtete man ein gestricktes Montafoner Haus im alten Baustil und mit einer Einrichtung aus dem siebzehnten Jahrhundert.“ Sagmeister (1990), S. 35 So auch bei Peter Strasser, der in seinem Vorwort zu Haas (S. 7) weitere Beispiele für verpflanzte Bauernhäuser anführt. 42 Vgl. Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus 43 Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz 44 Unter den österreichischen Bundesländern setzt vor allem das Tourismusgewerbe Tirols auf eine Ver-

knüpfung von Rustikalität und Popkultur, eine Position, die der Architektenschaft Vorarlbergs erlaubt, demgegenüber die dezidiert „moderne“ Formensprache ihrer Bauten gleichzeitig als landesspezifische Eigenart zu konnotieren. In der „Überzeugungsarbeit“, die die stake holders Zeitgenössischer Architektur zugunsten einer architektonischen „Aufwertung“ von Tourismusbauten leisten, nehmen Vorarlberger Beispiele gewöhnlich den Rang von Vorbildern oder Vorreitern ein. Vgl. etwa den Schwerpunkt Tourismus in der Zeitschrift der Österreichischen Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, konstruktiv 274, Juli /August 2009, S. 32 ff 45 Vgl. Tschofen (1993 und 2004) 46 Zur Entwicklung einer dominanten gesellschaftlichen Wahrnehmung, die „Landschaft“ primär als „Bild“ rezipiert, vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus.

Montafonerhaus als Vorbild für alpine Rustikalität

Montafon als Prüfstand der Vorarlberger Architekturpolitik

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Konflikt führt. Die unterlegte Legitimitätskonstruktion wirkt innerhalb Vorarlbergs auch anderswo als Spaltkeil zwischen sozialen Schichten der einheimischen Bevölkerung.47 Thematisiert wird dieser Umstand gegenwärtig nur im Montafon, was die impliziten Kriterien der Qualitätsbeurteilung durch die Baugenehmigungsbehörden des Landes und damit seine Architekturpolitik48 erstmals seit den 1980er Jahren einer öffentlichen Kritik aussetzt.49 Im Gegensatz zu jener „revolutionären“ Phase, die mit dem Auftritt einer zweiten Generation der Vorarlberger Baukünstler einherging und die Baubehörden seinerzeit dem Vorwurf von Provinzialität und eines unzeitgemäßen ästhetischen Konservatismus aussetzte, steht diesmal eine mittlerweile ins dezidiert Modernistische gewendete Landespolitik auf dem Prüfstand der Sozialverträglichkeit und regionalen Akzeptanz.50 Bregenzerwald

Im Kontrast zur unübersehbaren Übernutzung zugunsten einer touristischen Verwertung, die den Dörfern und der Landschaft des Montafon ihren Stempel aufdrückt, könnte der Bregenzerwald dem ersten Eindruck nach als intakte bäuerlich-handwerklich geprägte Landschaft beschrieben werden, eine Charakterisierung, die sich nicht nur die Regionalplanungsgemeinschaft REGIO Bregenzerwald 51 zunutze macht und auf der Basis der Dreistufen-Weidewirtschaft der regionalen Milchbauern 2006 eine Bewerbung um den Schutz der Kulturlandschaft als Weltkulturerbe bei der UNESCO initiierte.52 Sie prägt auch die Dokumentationspraxis zur Zeitgenössischen Architektur, die für den

47 Vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus und Architektur im Dorf, Kapitel Dorf 48 Zu den Effekten dieser Architekturpolitik in der Gesetzgebung und Baurechtspraxis des Landes vgl. Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf. 49 Jedes Anzeichen öffentlicher Kritik an Zeitgenössischer Architektur innerhalb Vorarlbergs erregt auf überregionaler Ebene Aufmerksamkeit und wird als Revolution innerhalb einer gesellschaftlichen Situation interpretiert, die über Jahrzehnte durch die Hegemonie der Interessensvertreter Zeitgenössischer Architektur geprägt war. So etwa in Wojciech Czaya: Widerstand im Paradies – Bregenz ist ein Hot Spot zeitgenössischer Architektur. Kleines Manko: Die Bevölkerung hat scheinbar zu viel Einfluß. So verfalle ein Ort guten Bauens zu einem Unort polemischer Diskussionen, sagen Kritiker; Der Standard, 30.09.2008, S. 14 50 In seiner Wortmeldung zu Hans Purins Vortrag „Mit Wohnungen soll man keine Architektur machen“ (Wohnbauforum 2004) verdeutlicht Landesrat Manfred Rein, daß das Signal von den Politikern verstanden worden ist: „Wir stehen unter dem Druck, wie Sie das jetzt bezeichnen, der modernen Architektur, dieser modernen Holzkisten, dieser Liftstationen – oder im Montafon hat man mir gesagt, es seien ,Schwikista‘,

d.h. Schweinekisten. Und jetzt passiert etwas in einzelnen Talschaften, Frust zeigt sich, und vor allem begehren welche auf, hauptsächlich dort, wo Tourismus stattfindet. Der Tourist sucht die Identität dieser Talschaft, und plötzlich findet er diese Holzkisten und sieht die ganze Gegend ,verschandelt‘. Dann heißt es von der einen Seite: ,Das ist Architektur, und die Leute, die das nicht verstehen, sind alle von vorgestern, die wissen ja nicht, was Architektur ist.‘ Und da stellen sich für mich die Fragen: Wie groß ist die Freiheit, die beschränkte Freiheit, der Architektur? Wer beurteilt, was jetzt Kunst ist oder was schön ist und wo der Inhalt zählt? (...) Teilweise stelle ich fest, dass die Menschen in Gruppen geteilt und einfach in ein Eck gestellt werden. Man sagt: ,Ja, das sind genau die, die keine Ahnung haben, das sind die Vorgestrigen.‘ Und alle anderen sind die Modernen, die Aufgeschlossenen, die zukunftsweisend und -blickend sind.“ Purin, S. 16 51 „Die Regionalplanungsgemeinschaft Bregenzerwald wurde 1970 in Bezau mit dem Ziel gegründet, die übergemeindliche Zusammenarbeit in der Region in sämtlichen Belangen zu fördern.“ Republik Österreich: Einreichdokument Weltkulturerbe, S. 24 52 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz 53 Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus

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Bregenzerwald vor allem den engen Bezug zur historisch gewachsenen Bausubstanz der Bauernhäuser und die vorbildliche Einbettung des Neuen in den Bestand der Dörfer betont.53 Diese Studie nimmt die dichte Präsenz Zeitgenössischer Architektur im Bregenzerwald jedoch weniger als ästhetische Steigerung des durch die historischen Bauernhäuser geprägten Bildes der Kulturlandschaft und Bestätigung ihrer „Intaktheit“ denn als Indiz eines tiefgehenden Bruchs in der Tragfähigkeit der traditionellen wirtschaftlichen und kulturellen Säulen der ländlichen Gesellschaft. Die anläßlich der UNESCO-Bewerbung (das 250 Seiten umfassende Schriftstück wird im Folgenden Einreichdokument genannt) kürzlich neu aufgearbeitete und in ein breiteres Bewußtsein gehobene Geschichte des Bregenzerwaldes zeigt, daß dieser Bruch in der bäuerlich-handwerklichen Lebensform, für den der Auftritt der Zeitgenössischen Architektur in den 1980er Jahren ein Indiz bildet54, nur die jüngste einer langen Kette grundlegender wirtschaftlicher und politischer Wandlungen ist, denen die Bevölkerung des Bregenzerwaldes seit seiner Besiedlung im späten Mittelalter ausgesetzt war und die seine Landschaft fortgesetzt umprägten. Die vom Einreichdokument ausgeblendete, akute und flächendeckende Gefährdung der Bauernhäuser des Bregenzerwaldes55 könnte ein Hinweis darauf sein, daß dieser aktuelle Bruch der finale für seine agrarische Kulturlandschaft ist. Die vorliegende Studie richtet mit der Hälfte ihrer Fallbeispiele ein besonderes Augenmerk auf den Bregenzerwald. Gerade ihr Forschungsblickwinkel scheint geeignet, exemplarische Schwierigkeiten im Modernisierungsprozeß der Region und einige der angewandten Lösungsstrategien, unter denen der Einsatz Zeitgenössischer Architektur eine Vorrangstellung einnimmt, zu dokumentieren und in einem sozialwissenschaftlichen Reflexionsraum zu interpretieren. Die typischen „Strukturprobleme“ des Bregenzerwaldes, die großteils deckungsgleich sind mit denen anderer ländlicher Räume in den Alpen, wie Abwanderung der jungen Generation in städtische Räume, Abbau von Infrastruktur, Verfall der historischen Bausubstanz, Aufgabe landwirtschaftlich genutzter Flächen etc.56, führen in anderen Regionen des Alpenraums bereits zur Verödung ehemals intensiv genutzter Lebensräume.57

54 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus 55 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 56 Auch wenn die Gefährdung der Bausubstanz, der die Bregenzerwälder Bauernhäuser seit dem Verlust ihrer vitalen Funktion als Wohn- und Arbeitsstätte einer Agrargesellschaft ausgesetzt sind, im Einreichdokument nicht explizit erwähnt ist, so hat doch die UNESCO-Bewerbung die Gründung der Arbeitsgruppe Alte Bausubstanz initiiert, die auch nach dem Rückzug der Bewerbung fortbesteht und im Frühjahr 2010 eine erste Fachtagung veranstaltete. Vgl. www.altebausubstanz.at und Berchtold 57 Die Bewertung der zu beobachtenden Verödung

spaltet in der benachbarten Schweiz gegenwärtig die der Raumplanung zugewandte Architektenschaft. Während die Städtebauliche Studie Schweiz (Diener u.a., 2006), für die das ETH-Studio Basel verantwortlich zeichnet, nüchtern eine zukünftige Nutzung dieser verödeten Kulturräume als „Resorts“ und „Alpine Brachen“ prognostiziert, vertritt Gion Caminada, durch seinen Lehrstuhl an der ETH-Zürich ebenfalls exponiert, mit seinem Forschungsschwerpunkt Alpine Kultur eine entgegengesetzte Haltung, die Strategie einer Aufrechterhaltung der ortsspezifischen Lebensqualität, wenn nicht sogar Rekultivierung dieser ländlichen Räume.

Substanzverfall der traditionellen Hauslandschaft

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Grenzen und Gebiet des Bregenzerwaldes sind sowohl naturräumlich als auch durch die Verkehrserschließung bestimmt. Binnenregionen entstehen durch die Besiedlungsgeschichte und den Grad der wirtschaftlichen und politischen Selbstbestimmung seiner Bevölkerung, ihrer historisch gewachsenen „Unabhängigkeit“ also. Diese Abgrenzungskriterien ergeben jeweils unterschiedliche Gebietsausdehnungen für die Gesamtregion. Deren größte besitzt der Bregenzerwald nach der Zugehörigkeit seiner Gemeinden zur Regionalplanungsgemeinschaft (REGIO) Bregenzerwald, die das Gebiet im Einreichdokument so beschreibt: Der Bregenzerwald, im Nordosten des Bundeslandes Vorarlberg gelegen, bildet weder eine administrative Einheit, noch ist er durch politische oder geographische Grenzen eindeutig umrissen. Die politische Abgrenzung (...) besteht im Norden und Nordosten aus der Staatsgrenze zu Deutschland. Das Gelände ist hier aber landschaftlich offen und mit dem benachbarten Allgäu verbunden. Von Ost bis West bilden dann Gebirgszüge natürliche Grenzlinien. Im Osten ist es das Kleine Walsertal sowie die Landesgrenze zu Tirol. Das Arlberggebiet mit der Gemeinde Lech bildet die südöstliche Grenze und im Süden schließt sich das Große Walsertal an. Im Westen bildet das Rheintal, größtenteils die Gemeinde Dornbirn, die Grenze. Im Nordwesten bildet die Rotach die Grenze zur Gemeinde Langen (...). Das Relief des Bregenzerwaldes steigt von Nord nach Süd an. (...) Das Ortszentrum mit der geringsten Seehöhe befindet sich in Egg (560 m), während der Ortskern von Warth auf 1.495 m liegt. Der Bregenzerwald gliedert sich in die drei Gebiete Vorderwald, Mittelwald und Hinterwald und umfaßt 24 Gemeinden (inkl. Buch und Langen).58

Innerhalb dieser Maximalausdehnung, die für das heutige Regionalmarketing maßgeblich ist, ist vor allem der Ausschluß des Vorderwaldes59 aus der historisch gewachsenen Identität der „Wälder“ bedeutsam. Der Hintere oder Innerbregenzerwald60, die „Freie Bauernrepublik“61 des achtzehnten Jahrhunderts, wie auf der Bezegg-Säule62 verzeichnet, durch die Bayernherrschaft zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts beendet, ist dasjenige Gebiet des Bregenzerwaldes, auf welches sich bis heute die Identität seiner Bewohner stützt. Wenn in der oben zitierten naturräumlichen Umgrenzung des Bregenzerwaldes auch von seiner landschaftlichen Offenheit gegen das Allgäu die Re58 Republik Österreich: Einreichdokument, S. 24 59 Das Einreichdokument (Republik Österreich, S. 48 ff) nennt die Gemeinden Sulzberg, Doren, Krumbach, Langenegg, Lingenau, Riefensberg, Hittisau und Sibratsgfäll. Die Subersach, die bei Egg in die Bregenzerach mündet, bildet die südliche Grenze des Vorderwaldes. 60 Die Bezeichnungen Hinterer Bregenzerwald und Innerbregenzerwald sind synonym im Gebrauch. Hinterbregenzerwald ist die Bezeichnung des Gerichtsbezirks Bezau lt. Karte in Barnay (1988), S. 34. Das in der zitierten Gebietsumfassung des Einreichdokuments genannte Binnengebiet „Mittelwald“ (als „vordere Hälfte“ des Inneren oder Hinteren Bregenzerwaldes) ist ohne historische Grundlage und dient allein der Orientierung im organisatorischen Gebilde

desjenigen regionalen Umgriffs, den die REGIO Bregenzerwald repräsentiert. 61 Walter Lingenhöle hält die populäre These einer bäuerlichen „Frühdemokratie“ im Bregenzerwald für „zumindest anfechtbar, wenn nicht voll widerlegbar“, indem er zwischen Selbstbestimmung der Region und derjenigen ihrer Bewohner unterscheidet: „Zwar galt auch der Wald einst als Besitz feudaler Macht, jener der Grafen von Bregenz und Feldkirch, doch hatten sich die Wälderbauern schon während des Hochmittelalters so viel politisch-ideelle wie materielle Freiheit erworben, daß ihnen alles, Regierung wie Verwaltung, selbst zustand. Ihre Rechtsprechung erfolgte ohne ein Obergericht, sie besaßen den Blutbann, also das Recht auf Todesstrafe, und ebenso das Recht auf Begnadigung. (...) Die Aufschlüsselung der ,Freihei-

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de ist, so wird doch seine Abgeschlossenheit zum Rheintal und damit zu den städtischeren Zentren Vorarlbergs weniger deutlich, als sie sich demjenigen darstellt, der, von Bregenz oder Dornbirn herkommend, den Bregenzerwald erreichen will. Die sich entlang der Bregenzerach auffädelnden Orte seiner mittelalterlichen Besiedlung63 Egg, Andelsbuch und den Gerichts- und damit Hauptort Bezau oder das oberhalb des Talgrundes gelegene Schwarzenberg erreicht man entweder durch Überwindung des Losenpasses, Bödele genannt, der mit seinen von 1140 m Paßhöhe aufsteigenden Nordhängen winters als veritables „Schneeloch“ bekannt ist, oder durch die langgezogene, tief eingeschnittene und von einer kurvenreichen Straße gesäumte Schlucht der Schwarzach, dem Schwarzachtobel, dessen Verkehrskapazität zugunsten des regionalen Wirtschaftraums neuerdings durch einen Tunnel vervielfacht worden ist. Der historische Hauptzugang in den Bregenzerwald, das Tal der Bregenzerach, ist heute unpassierbar, seit die an ihrem Uferhang geführte Eisenbahntrasse der Wälderbahn 1980 nach wiederholten Murenabgängen nicht wiederhergestellt und 1985 schließlich offiziell aufgelassen wurde. Daneben gibt es noch den verschlungenen Weg durch den Vorderwald über Langen und Doren und, vom Hochgebirge im Süden herkommend, die Paßzugänge bei Damüls, Schröcken und Warth. Noch heute, im Zeitalter des Autoverkehrs und moderner Asphaltstraßen, bildet also eine spürbare, zeit- und kraftraubende Schwelle, ein den Naturgewalten ausgesetzter Riegel im Landschaftsrelief, die Grenze des Bregenzerwaldes gegen das übrige Vorarlberg. „Kaum irgendwo in den Alpen scheint die Mischung von Hügelland und Gebirge auf so kurzer Strecke so geglückt wie hier“64, beschreibt Walter Lingenhöle das Landschaftsbild des Bregenzerwaldes als Komposition. Die Wandlungen, denen dieses seit der Zeit der mittelalterlichen Besiedlungskampagnen unterworfen ist, erschließen sich dem, der diese Landschaft, zumindest in ihrer sich dem Augenschein darbietenden Oberfläche, nicht als naturgegeben, sondern als Erzeugnis intensiver landwirtschaftlicher Nutzung begreift. ten und Rechte von alters her‘ ergibt ein leicht geändertes Bild der politischen Praxis: Hier regierten ein Landammann, neben ihm standen ein Landwaibel und 24 Ratsherren sowie 48 Volksvertreter, und sie gehörten allesamt oder größtenteils den wohlhabenden Familien des Tales an, bildeten also eine Art Oligarchie. Und das lag doch weit entfernt von dem, was dann die politische Aufklärung Ende des achtzehnten Jahrhunderts gefordert und in Ländern wie Frankreich und den Vereinigten Staaten von Nordamerika kurze Zeit verwirklicht hat: wahre Volksherrschaft.“ Lingenhöle, S. 10 62 Die im gotischen Stil gehaltene steinerne Gedenksäule auf der Bezegg, halben Weges zwischen Andelsbuch und Bezau gelegen, ist eine historisierende Schöpfung des neunzehnten Jahrhunderts und sym-

bolisiert den ehemaligen Standort des Bregenzerwälder „Rathauses“. Ernst Hiesmayr bezweifelt ihre Ortstreue: „Die Bezeggsäule von Schmid steht nicht am historischen Standort.“ Hiesmayr (1995), S. 44 Ihre Aufschrift: „An dieser Stelle stand das hölzerne im Jahre 1807 abgebrochene Rathaus des Innerbregenzerwaldes in welchem der frei gewählte Landammann und Rath durch Jahrhunderte die Angelegenheiten der Gemeinden nach altem Landsbrauch beraten, beschlossen und verwaltete haben. 1871.“ Eigene Abschrift 05. 09.2006 63 Die zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Studie aktuellsten Erkenntnisse zur Besiedlungsgeschichte des Bregenzerwaldes referiert Moosbrugger (2009) in einem empfehlenswerten Aufsatz. 64 Lingenhöle, S. 9 f

Kulturelle Abgeschlossenheit

Agrarisch geprägtes Landschaftsbild

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Schwabenkinder

Auer Zunft

Heimarbeit in der Stickereiindustrie

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So sind die heute prägenden immergrünen Grasmatten der Tal- und Hochweiden in ihrer Ausschließlichkeit ein relativ neues Element, denn die „Fettkäserei“, die die heutige monofunktionale Ausrichtung der Landwirtschaft auf Milcherzeugung ermöglicht hat, wird aus dem Schweizer Emmental und dem Appenzell erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts importiert.65 Davor prägt Ackerbau mit Getreide, Kartoffeln und Flachs wenigstens die Hälfte der landwirtschaftlich genutzten, dem ursprünglich alles bedeckenden Wald durch Rodung abgewonnenen Flächen. Die Schwierigkeiten, sich von den Erträgen dieser Böden zu ernähren, die Armut also, der die bäuerliche Bevölkerung des Bregenzerwaldes großteils ausgesetzt ist, wird durch ihre bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gängige Praxis charakterisiert, ihre Kinder als „Schwabenkinder“ den Sommer über auf den wohlhabenden Höfen des Allgäu zu verdingen66, nachdem auf Kindermärkten, etwa im württembergischen Ravensburg, für sie ein Platz gefunden worden ist. Die allsommerliche Auswanderung Hunderter arbeitsfähiger Männer als Handwerker im Baugewerbe, aus den Dörfern Au und Schoppernau etwa sind zeitweise bis zu neun Zehntel der männlichen Bevölkerung darunter67, ergänzt das Bild der traditionell kargen bergbäuerlichen Existenz. Seine Organisationsform findet der Bregenzerwälder Handwerkerstand seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts als Auer Zunft, die 1707 als „Viertellade“ der Tiroler Hauptzunft, mit Sitz in Innsbruck, anerkannt wird. Die Zunft, die von Anfang an alle Bauberufe umfaßt, ermöglicht ihren Unternehmerpersönlichkeiten, hochrangige kirchliche Aufträge als „Generalunternehmer“ auszuführen und in den eineinhalb Jahrhunderten bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, einer Zeit, die als Folge des Dreißigjährigen Krieges und der Gegenreformation mit einer Blütezeit des katholischen Kirchenbaus zusammenfällt, den südwestdeutschen und deutschschweizer Raum mit ihrem Münsterschema architektonisch zu prägen.68 Diese „Bauschule“ der Bregenzerwälder Barockbaumeister bildet den historischen Bezugspunkt einer bis heute wirksamen Kategorisierung der Zeitgenössischen Architekten Vorarlbergs durch Friedrich Achleitner als zweiter Vorarlberger „Bauschule“.69 Ein weiteres Zubrot ergänzt die schmale Kost der Bregenzerwälder Bevölkerung seit dem neunzehnten Jahrhundert, intensive Heimarbeit für die Stickereiindustrie. „Fergger“ genannte Vermittler organisieren Rohstoff und Aufträge und sorgen für den Absatz der Produkte in der benachbarten

65 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 66 Wirthensohn dokumentiert in seinen Lebensbildern jüngst Verstorbener noch einige Dorfbewohner Thals, deren Kindheit von einer Verdingung als „Schwabenkind“ geprägt gewesen war. Vgl. etwa Lebensbild Max Schmuck, in: Wirthensohn, Jb. 1998/99 67 Vgl. Die Bregenzerwälder Baumeister der Barockund Rokokozeit, www.au-schoppernau.at Stand 03.10.2008

68 Vgl. Oechslin (1973) 69 „Wenn man heute von einer Bauschule spricht, dann darf man nicht vergessen, daß es sich dabei nicht um eine akademische Tendenz, sondern um eine Erfahrungswelt am Rande der Gesellschaft (denn diese Gruppe baut vorwiegend für Leute, die unter normalen Umständen kaum bauen könnten) handelt, also wirklich um eine Bauschule im alten Sinne des Begriffs.“ Achleitner (1984) S. 223

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Schweiz. Nicht etwa die traditionelle „Nahtstubat“, von der etwa Franz Michael Felder berichtet, gibt hierfür die Arbeitsform, sondern vielmehr ein im Geist und mit den Mitteln der Industrialisierung gestalteter, technisch geprägter Arbeitsplatz. Sperrige Stickereimaschinen werden von den Bauern auf Kredit erstanden, zu deren Aufstellung am Bauernhaus eigene Anbauten errichtet. Die auszuführenen Stickereientwürfe entspringen keineswegs der Kreativität der Ausführenden, sondern sind vorkonfektionierte Halbzeuge, durch Aufdrucke oder Lochkartensteuerung der Maschinen standardisiert.70 Die armutsbedingte saisonale Auswanderung der Bauhandwerker ebenso wie der Austausch, den die Fergger mit den Wirschafts- und Kulturzentren der Nachbarländer pflegen, bringen nicht nur Geld und Arbeit in den Bregenzerwald, sondern auch die aufklärerischen Ideen und emanzipatorischen politischen Konzepte, für die die Französische Revolution 1789 ein Signal gegeben hatte, das die politischen Diskussionen, die Revolutionen und Reformansätze Europas im neunzehnten Jahrhundert prägen sollte. Franz Michael Felder und sein Schwager Kaspar Moosbrugger, Bauern in Au und Schoppernau, im Hinteren Bregenzerwald gelegen, sind die zentralen Persönlichkeiten einer politischen Emanzipationsbewegung, die auch für den Bregenzerwald erstmals politische Reformen und eine Linderung der Not durch gerechtere Wirtschaftsformen einfordert.71 Konkret initiiert Felder die Gründung von Käsereigenossenschaften, die zugunsten der Milchbauern wirtschaften und damit schließlich die Monopolstellung der einheimischen „Käsebarone“ im Käsehandel mit der Lombardei brechen.72 Der genuine Reformansatz Felders liegt in seiner Zusammenschau der strukturell bedingten Not des einheimischen Bauernstandes mit den Umwälzungen der Arbeitswelt, die die Industrialisierung mit sich bringt.73 Als einer der letzten Reformdenker des neunzehnten Jahrhunderts imaginiert Felder den ländlichen Bauernstand und das in den Städten neu entstehende Industrieproletariat als gemeinsam agierende politische Kraft, ein sozialreformerisches Potential, dessen Energie im Auseinanderfallen der beiden gleichermaßen von den Modernisierungseffekten der Industrialisierung betroffenen und in der Politik unterrepräsentierten Gesellschaftsklassen in gegensätzliche politische Lager wirksam zersplittert werden konnte. Die bauliche Landschaft des Bregenzerwaldes bleibt architektonisches „Niemandsland“ bis zur Mitte der 1980er Jahre und damit rund zwei Jahrzehnte länger als diejenige des benachbarten Vorarlberger Rheintals. Das ausgeprägte Traditionsbewußtsein seiner Bevölkerung, die wirtschaftliche Tragfähigkeit ihrer bäuerlich und handwerklich bestimmten Lebensform halten gemeinsam mit der geographischen Abschottung die Modernisierungseffekte aus 70 71 72 73

Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf Vgl. Walser Vgl. Bilgeri, Bd. IV, S. 438 ff „Felder war der letzte gewesen, der sich die So-

lidarität von Agrikultur und Industrie zu weiter, allseits segensreicher Entwicklung hatte vorstellen können.“ Walter Methlagl: Der Traum des Bauern Franz Michael Felder; Bregenz 1984, S. 115 (zit. in: Walser)

Franz Michael Felder

Architektur im Bregenzerwald

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Exemplarische Bedeutung des „Strickhüsle“

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dem benachbarten Rheintal lange von der Region fern. So bleibt für das Wohnen neben dem typologisch gebundenen Bauernhaus das anonym geplante, in Eigenleistung errichtete und formal anspruchslose „Baumeisterhaus“ vorherrschend. Neben diesem gemauerten Haustyp rückt ein hölzernes Fertighaus aus dem Kaufmann Holzbauwerk in Reuthe, „Strickhüsle“ genannt, das parallel zum Auftreten der Zweiten Baukünstlergeneration im Bregenzerwald und außerhalb Verbreitung findet, in unseren Fokus. Das „Strickhüsle“ bildet in Material, Grundriß und Fassade den regionalen Bauernhaustyp ab und repräsentiert neben dieser traditionellen Konnotation seines Bautyps in fertigungstechnischer ebenso wie in sozialer Hinsicht spezifische Grundzüge derjenigen handwerklichen Baukultur, die unserer Analyse der architektonischen Baukultur als Gegenbild dient. Dieser exemplarischen Bedeutung und nicht seinem Verbreitungsgrad in der baulichen Landschaft ist das inhaltliche Gewicht geschuldet, das dem „Strickhüsle“ in der vorliegenden Studie eingeräumt wird.74 Kirchliche und staatliche Verwaltungs- und Schulbauten sowie vereinzelte Gewerbebauten stellen seit den 1960er Jahren eng begrenzt bleibende Arbeitsfelder für Architekten dar.75 Die Ansässigkeit einer technologisch modernen Holzindustrie und das wirtschaftlich ebenso wie gesellschaftlich präsente Holzhandwerk im Bregenzerwald prägen entscheidend die Entwicklung, die das Land seit den 1980er Jahren zu einem europaweiten Vorreiter Zeitgenössischer Architektur werden lassen. Anders als in den bis hierher betrachteten Vorarlberger Talschaften fällt der geographische Landschaftsraum, den der Rhein auf den letzten fünfzig Flußkilometern vor seiner Mündung in den Bodensee konstituiert, nicht mit einem Kulturraum gleicher Ausdehnung zusammen. Zivilisationsgeschichtlich ist das Rheintal Durchgangsraum. Es erschließt wichtige Alpenpässe und gewinnt damit seine Bedeutung als zentral im Alpenbogen gelegene Wegeverbindung zwischen süd- und nordalpinen Kultur- und Wirtschaftsräumen. Der landschaftliche Raum des Rheintals entlang der Vorarlberger Westgrenze zerfällt politisch in die drei Staaten Österreich, Schweiz und Liechtenstein, die ihrem Anteil am Rheintal jeweils unterschiedliches kulturelles Gewicht zuweisen. Während für Vorarlberg hier die städtische Kultur des Landes liegt, ist für die Schweizer Uferseite dieser Abschnitt des Rheintals kulturelles Hinterland der weiter nordwestlich liegenden Kantonshauptstadt St. Gallen. 74 Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz, und Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus 75 Walter Johler nennt in seiner Lebensbeschreibung des in Andelsbuch geborenen, „bedeutendsten Vorarlberger Architekten der Zwischenkriegszeit“, dem Holzmeister-Schüler Alfons Fritz (1900–1933), Gewerbetreibende, Geschäftsleute, Ärzte und Lehrer

als Bauherren. Aus der Reihe seiner Werke entfallen lediglich zwei Einfamilienhäuser auf den Bregenzerwald. Zu dem von ihm entworfenen „Wälderhaus“, einem Wochenendhaus für den Fabrikanten Arthur Hämmerle auf dem Bödele (1932), vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus.

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Auch wenn sein nächtliches Lichtermeer demjenigen, der nachts, vom Bregenzerwald herkommend, das Bödele überschreitet oder vom schweizerischen Appenzell den Abstieg nach Altstätten antritt, das Bild einer einzigen durchgehenden Stadt nahelegt76, zerfällt seine in gleichförmiger Dichte bebaute Fläche, eine Dichte, die man sonst von städtischen Randgemeinden kennt77, verwaltungstechnisch, ebenso wie in der Identität seiner Bewohner, in 29 selbständige Gemeinden.78 Vier davon besitzen den Rang von Städten: Bregenz, Dornbirn, Hohenems und Feldkirch. Rechnet man den Walgau, das Tal am Unterlauf der Ill, die in Feldkirch in den Rhein mündet, als dessen südlichen Ausläufer noch zum Vorarlberger Rheintal hinzu, dann ist innerhalb dieses früh industrialisierten Siedlungsgebietes Bludenz die fünfte Vorarlberger Stadt dieses Raumes, unter denen keine mehr als 50.000 Einwohner aufweist. Das Vorarlberger Rheintal bildet mit seiner im europäischen Vergleich früh entwickelten Textilindustrie einen der Hauptstandorte der Industriekultur Österreichs. Christoph Bertsch, Kunsthistoriker an der Universität Innsbruck, betont seinen exemplarischen Rang: „Vorarlberg besitzt die größte Anzahl bedeutender Fabriken des neunzehnten Jahrhunderts in Österreich, es spielt in Österreich dieselbe Rolle wie England im Vergleich zum Kontinent oder das Rheinland im Verhältnis zum übrigen Deutschland.“79 Fabrikbauten und deren Erhaltung als Kulturdokumente, Anliegen, für die Bertsch sich einsetzt, werden im Kontext der Konnotationen des Baumaterials für unsere Studie bedeutsam.80 Vorerst interessiert hier nicht die Architektur der Produktionsstätten, sondern diejenigen eher unauffälligen baulichen Folgen, die den sozialen Umwälzungen infolge der Industrialisierung entspringen. Bertsch greift unter diesen Effekten vor allem zwei heraus und bilanziert beide als Verluste: Der soziale Verlust einer Differenzierung der Berufsarten, „Handwerker, Tagelöhner, besitzlose und entwurzelte Bauern, (...) alle werden zu leblosen Handlangern in einem großen, maschinell funktionierenden, kasernenartig reglementierten Betrieb“81. Der andere Verlust ist derjenige des angestammten Wohnorts, der im Fall des Bauern gleichzeitig die Basis seiner Selbstversorgung dargestellt hatte. Die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte, die das Arbeits-, vor allem aber das Lohnangebot der Industrie in Form von Geld auslöst, ein Angebot, das seine Attraktivität aus dem Kontrast zur weitgehend geldlosen Wirtschaftsform der agrarischen Gesellschaften gewinnt82, nimmt im Lauf des neunzehnten 76 Die Studie Vision Rheintal etwa unterlegt ihm eine solche Wunschidentität als Denkmodell. 77 „Europäisches Laboratorium der Nicht-Verdichtung“ nennt die stellvertretende Leiterin des französischen Architekturinstituts Marie-Hélène Contal das Vorarlberger Rheintal. In: Kapfinger (2003), S. 3

78 Das Motto von Vision Rheintal ist „29 Gemeinden – Ein Lebensraum“ 79 Bertsch (1980), S. 129 80 Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz 81 Bertsch (1987), S. 20 82 Vgl. Krammer/Scheer; ausführlich im Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf

Soziale Folgen der Industrialisierung

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Landflucht und Wohnungsnot

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Jahrhunderts dramatische Ausmaße an und erzeugt an den Standorten der Fabriken und, außerhalb Vorarlbergs, in den durch die Industrialisierung modernisierten Städten eine drängende Wohnungsnot. Im durchgängig ländlich strukturierten Vorarlberg erkennen die Fabrikherren bereits früh die Vorteile, die ihnen aus der Aufrechterhaltung einer Nebenerwerbslandwirtschaft ihrer Arbeiter erwachsen. Ihre Strategie, die langfristig den Fortbestand der Landwirtschaft sichert und gleichzeitig die Entstehung eines Industrieproletariats unterbindet, verhindert wirksam die politische Formierung der Vorarlberger Arbeiterschaft und damit eine Etablierung der Sozialdemokratie im Land.83 Daneben bietet sie den Fabrikherren während konjunktureller Engpässe die Möglichkeit, radikale Lohnkürzungen vorzunehmen84, ohne gleichzeitig die Obsorge für ihre Arbeiter und deren Familien übernehmen zu müssen. Die Existenzsicherung der Arbeiterschaft kann während der wiederkehrenden Krisen, der die Textilindustrie im Lauf ihrer Etablierung ausgesetzt ist, an deren bäuerliche Parallelwirtschaft delegiert werden. Auch wenn die Effekte der Landflucht85 auf diese Weise abgemildert werden, wird die Wohnungsnot verstärkt „durch eine große Anzahl italienischer Einwanderer, insbesondere aus dem Trentino, die ebenfalls in der Vorarlberger Textilindustrie Beschäftigung“ 86 finden. So sehen sich die Fabrikanten Vorarlbergs genötigt, ihre Produktionsstätten um Arbeiterhäuser87 und Werkssiedlungen88 zu erweitern. Neuartige Siedlungsgebilde entstehen, die sowohl die patriarchalische Stellung des Fabrikherrn als auch die hierarchische Differenzierung der Arbeiterschaft zum sozialräumlichen Bildprogramm89 ihrer Architektur erheben.90 Bertsch weist darauf hin, daß neben der unmittelbaren Behebung der Behausungsnot mit diesen Wohnbaumaßnahmen auch Effekte der sozialen Befriedung verknüpft sind. Die Kopplung von Arbeitsund Mietvertrag verdoppelt für die Arbeiter im Fall von Arbeitskämpfen das Risiko91, indem es sie der Gefahr aussetzt, über Arbeitsplatz und Lohn hinaus auch ihre Wohnung, die häufig auch die Familie beherbergt, zu verlieren.92 83 Greussing (1984). Vgl. dazu auch Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf, Anm. 117 84 Barnay (1988), S. 311 85 Zwei Effekte sind zu unterscheiden: Am Ort der Zuwanderung und am Ort der Abwanderung; Barnay (1988, S. 90) beschreibt die Abwanderung der Bregenzerwälder Bauern ins Rheintal. 86 Bertsch (1980), S. 25; vgl. auch Reinhard Johler 87 Vgl. Bertsch (1983/84) 88 Ebd. 89 Die „Meisterhäuser“ der Fabriksiedlungen finden eine Entsprechung am Bauhaus Dessau, wo die Villen der Dozenten ebenfalls als „Meisterhäuser“ bezeichnet werden. Darin mag einerseits eine Erinnerung an vormoderne Handwerksmeister anklingen, ebensosehr aber die soziale Wohnungshierarchie aus den Fabrik-

siedlungen des neunzehnten Jahrhunderts, nun in die Industrieaffinität der 1920er-Jahre-Architekturmoderne übertragen. 90 Je nach Größe und Prosperität der Fabrikanlagen können aus solchen Voraussetzungen ganze Städte entstehen, so etwa die tschechische Batá-Schuhstadt Zlín. 91 Bertsch (1980), S. 25/26 92 Im größeren Rahmen der staatlichen Finanzierung von Eigenheimen (Frankreichs) beobachtet Bourdieu auch in der Gegenwart solche bewußt herbeigeführten Effekte einer neuen Hörigkeit. Vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus, Anm. 32 93 Zur politischen Konnotation des neuen Arbeitsfeldes, das gleichzeitig eine Neubestimmung des berufsständischen Selbstverständnisses verlangt hatte,

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Die Entstehung moderner Architektur als integraler Teil der Moderne ist ursächlich verbunden mit der Entwicklung der Industrialisierung zu einer alle Lebensbereiche durchdringenden und prägenden Kultur. Erst die Industrialisierung erzeugt die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen und damit den Reformbedarf des Bauens in seinen kulturellen und wirtschaftlichen Aspekten, in dessen Rahmen eine moderne Architektur auftreten und sich in den 1920er Jahren zu einer weltweiten Bewegung mit umfassendem Zuständigkeitsimpetus formieren kann. Das Vorarlberger Rheintal als Architekturlandschaft bietet denjenigen baulichen Bestand, der erlaubt, nicht nur die Industriekultur als Element der modernen Architekturgeschichte des Landes, sondern auch soziale Hintergründe der akademischen Geschichtskonstruktion der modernen Architekturbewegung im Forschungsfeld zu verorten. Die vorliegende Studie richtet ihre sozialwissenschaftlich bestimmte Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ insbesondere auf den Anspruch heutiger Architekten, durch ihre Bauformen normativ in einem die Lebensweise reformierenden Sinn zu wirken. Dieser Anspruch ist, gemessen an der Tradition, auf die der Berufsstand zurückblickt, ein sehr junger und genuin moderner. Erst die Kumulation aus sozialen Umwälzungen, die die Industrialisierung mit sich bringt, und der politischen Neuformierung Europas im Gefolge des Ersten Weltkriegs haben einerseits den drängenden Bedarf nach städtischem Wohnraum und andererseits die staatlichen Institutionen entstehen lassen, diesen Bedarf systematisch zu decken. Erst indem die Staaten Europas, unter denen wir hier vor allem Österreich und Deutschland betrachten, zur Bewältigung der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg Programme massenhaften Wohnbaus initiieren und Bauämter zu deren Durchführung einrichten, wird die „Wohnungsfrage“ in ihrer Erstreckung vom städtebaulichen bis zum Einrichtungsmaßstab zur zentralen Herausforderung für Architekten.93 Eine Folge dieses neuen „sozialen Interesses“ der Architektenschaft, das primär als staatlicherseits gesetztes und vgl. ausführlicher in Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus. 94 Konrad Wachsmanns Wendepunkt im Bauen (1959) ist eine jener Schriften, in denen ebendiese programmatische Erneuerung der Architekturformen im „Geist“ einer industriellen Produktionsweise postuliert ist. 95 Beispiele für diesen Schwenk der beruflichen Orientierung hin zu einem social engineer bieten Lebensläufe von Architekten an der Schwelle des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Adolf Loos etwa übernahm in einem fortgeschrittenen Stadium seiner beruflichen Karriere für einige Jahre die Leitung des Wiener Siedlungsamtes und hatte sich in dieser Funktion nunmehr anstelle des individuellen und luxuriösen Bedarfs seiner bisherigen personellen

Bauherren dem Wohnbau für das anonyme Existenzminimum zuzuwenden. Sein prototypischer Entwurf für ein „Haus mit einer Mauer“ entstand in diesem Kontext. 96 Vgl. Abschnitt Architektenstand, Kap. Architektur? 97 Unter den Verlusten an Privilegien, die der Architektenstand gegenwärtig erleidet, ist für Österreich an erster Stelle das Außerkraftsetzen der HOA (Honorarordnung für Architekten und Ingenieurkonsulenten) zum Jahresende 2006 zu nennen. An ihre Stelle trat eine unverbindliche, aufwandsspezifische Berechnungsgrundlage, die HIA („Honorar Information Architektur“, 2008 erstmals in gedruckter Form publiziert, 2010 in überarbeiteter Fassung neu aufgelegt). Vgl. Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 26

Architekturmoderne als Reformbewegung

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Architekt als social engineer

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nicht als gesuchtes anzunehmen ist, ist der Verlust der Übereinstimmung von Bauherr und Nutzer. Der Architekt verliert an diesem „Wendepunkt“94, an dem sich gleichzeitig die akademische Architektur von der Pflege historischer, bis in die Antike zurückreichender Bauformen abwendet, um eine neue Verankerung in einer „gegenwärtigen“ Formkultur zu suchen, und als weltweite Bewegung formiert, sein bis dahin bestimmendes Gegenüber im personellen Bauherrn.95 An seine Stelle tritt eine „Vision“ vom modernen Menschen, diejenige „soziale Verantwortung“96, auf die der Architektenstand heute seinen exponierten gesellschaftlichen Status stützt, ein Privileg, das gegenwärtig, im Gefolge des Rückzugs, den der Staat als Privilegierender aus seiner Versorgerrolle antritt, bereits wieder im Abbau begriffen ist.97 Aufgrund der Umstände ihrer Entstehungszeit ist diese Vision „genetisch“ verknüpft mit einer neuen, immer städtischen und betont technizistischen neuen Lebenswelt, die nun auch dann die Entscheidungen der Architekten leitet, wenn sie in traditionellen Auftragsverhältnissen zu personellen Bauherren stehen. Die industrielle Produktion mit ihren Folgen für die Priorität von Geldwirtschaft, die Warenhaftigkeit aller Gegenstände, die weltweite Konkurrenz der Produktionsstandorte, die Mobilität des modernen Menschen, die zugleich Entwurzelung ist, seine fokussierte Wahrnehmung und soziale Vereinzelung, bestimmt die Kultur dieser neuen Lebenswelt. Die Architekturlandschaften Vorarlbergs bilden daraus jeweils prototypische Effekte ab, sodaß wir, vor allem in der Beziehung zwischen Bregenzerwald und Rheintal, die in der öffentlichen Wahrnehmung als landschaftlich, sozial und ökonomisch gegensätzlich inszeniert ist, ein Feld vorfinden, das uns erlaubt, auf kleinem Raum und in hoher Dichte die Rolle Zeitgenössischer Architektur als gesellschaftlichem „Modernisierungsmotor“ zu studieren.

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89 2.2 Genossenschaftlicher Wohnbau Um die allumfassende Zuständigkeit der Architekten für die Belange der Lebensraumgestaltung zu verstehen, das ihr gegenwärtiges Selbstverständnis kennzeichnet, notierten bereits die beiden vorangegangenen Abschnitte erste Aspekte der Entwicklung ihres Berufsstandes zu einer Reformbewegung.1 Stichworte hierfür lieferten die sozialen Umwälzungen im Gefolge der Industrialisierung, die Kritik ihrer Warenkultur als kultureller Mißstand, mehr noch der von ihr ausgelöste Wohnraumbedarf als sozialer Notstand. Zur Behebung dieser Folgen formiert sich die Architektenschaft der Moderne seit den 1920er Jahren als reformatorische Bewegung2 und wird gleichzeitig von staatlichen Bauverwaltungen zur Umsetzung von Wohnbauprogrammen bisher nicht dagewesener Größenordnung eingesetzt. Auch in der Rückschau der Architekturhistoriker ist die zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in England beginnende Industrialisierung Europas für die moderne Architekturbewegung, wie sie sich in den 1920er Jahren etabliert, das konstituierende Ereignis. In dem Vorzug, den sie der Gegenwartsgegenüber einer Vergangenheits- und Geschichtsbezogenheit gibt, steht die Industrialisierung für den Ausgangspunkt einer gegenwärtigen Kultur. Während die Programmschriften der modernen Architekturbewegung die mechanisierte Produktionsweise und die Konsequenzen, die daraus für die Formgebung zu ziehen sind, in den Mittelpunkt rücken, sind es jedoch vor allem die von der industrialisierten Arbeitswelt ausgelösten sozialen Umwälzungen, die den Wohnbau als prägendes Arbeitsfeld eröffnen. Erst dieses Arbeitsfeld wiederum schafft den zentralen Rechtfertigungsgrund des Anspruchs auf universelle Zuständigkeit für den Rahmen des alltäglichen Lebens, damit für die Gestaltung der gesamten baulichen, ja dinglichen Umwelt, von der Wohnung und ihrer Einrichtung bis zur Stadt, den Architekten seither erheben. Nicht vergessen werden darf, daß neben dieser Geschichte der Architekturmoderne, wie sie der spezifische Blick der Kunsthistoriker3 erzeugt hat, eine staatlich gesetzte Komponente existiert, der sowohl eine Verwaltungslogik4 als auch parteipolitische Programmatik5 zugrundeliegt. Erst der Staat 1 Der Anspruch heutiger Architekten, in der Ausübung ihres Berufes gesellschaftsverändernd zu wirken, ist ein zentrales Thema der vorliegenden Studie. Architektur- und designhistorische Vertiefungen liefern folgende Abschnitte: Architektenhaus des Kapitels Haus (Ästhetische Erziehung), Architektur im Dorf des Kapitels Dorf (Architektur und Religion), Externe Entwerfer (Der neue Mensch), Serienproduktion (Standardprodukte) sowie Möbel und Raum (Wohnen lernen) des Kapitels Handwerk. Vgl. auch Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 33 2 Die größte Öffentlichkeitswirkung besitzen in den 1920er Jahren die nationalen Werkbund-Organi-

sationen und ihre in Bauausstellungen vorgestellten Prototypen moderner Wohnbauten. Auf fachlicher Ebene formuliert der CIAM (Congrés Internationaux d’Architecture Moderne), gegründet 1928, jeweils zeitgemäße Richtlinien, insbesondere für den Städtebau. 3 Rudolf Schwarz charakterisiert diesen Blick als „optisch plastische Empfindungen“, um die „Kunstwissenschaftler“ als „Ästheten“ zu charakterisieren, denen „ziemlich gleichgültig [ist], welchen Inhalt oder meinetwegen Zweck unsere Werke haben“. Schwarz (1953) S. 11 4 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung Kapitel Dorf

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Einfluß staatlicher Wohnbauprogramme

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ist imstande, seiner Architektenschaft ein so vollständig andersartiges Arbeitsfeld zuzuweisen, wie es der Sozialwohnbau 6 für eine Profession darstellt, die bis zum Ersten Weltkrieg fast ausschließlich mit individuellen Wohnhäusern eines Großbürgertums betraut und damit auf eine dialogische Beziehung zu individuellen Auftraggebern geeicht war.7 Indem der Staat zur Bewältigung der Wohnungsnot im Gefolge des Ersten Weltkriegs Wohnbauprogramme initiiert und Bauämter zu deren Durchführung einrichtet, werden Architekten erstmals in großem Maßstab mit dem Aufgabenfeld Sozialwohnbau konfrontiert und damit mit einer Auftragssituation, in der Auftraggeber und Bewohner programmatisch auseinandertreten. Das soziale Interesse der Modernen Architekturbewegung, das mit dieser Anonymisierung des Nutzers verknüpft ist, muß also in hohem Maß als ein staatlich gesetztes und nicht als gesuchtes angenommen werden. Es bildet zunächst die durch Anonymität gekennzeichnete Beziehung der staatlichen Verwaltung zu den Staatsbürgern ab und verknüpft diese mit einem Sendungsbewußtsein des Künstlerstandes, mit dem dieser die im Zuge der Aufklärung entmachteten religiösen Institutionen beerbt.8 Erst vor diesem Hintergrund läßt sich die öffentliche Äußerung eines angesehenen Vorarlberger Architekten, wegen der dort versammelten baulichen Häßlichkeiten am liebsten „mit dem Bagger durchs Rheintal fahren“ zu wollen, als repräsentativer Ausdruck seines Berufsverständnisses einordnen. „Das darf ich zu Hause gar nicht erzählen“, entfuhr seinem Gegenüber, einem Schweizer Sozialwissenschaftler, dessen Vortrag die Podiumsdiskussion mit dem Architekten eingeleitet hatte. Dessen Anspruch, das „Häßliche“ nicht nur identifizieren, sondern aus dem Landschaftsbild eliminieren zu dürfen, um es als „Schöneres“ wiederzuerrichten, mochte sich dem Schweizer Gast vor dem Hintergrund der demokratischen Bürgersouveränität seines Heimatlandes als Widerschein totalitärer Verhältnisse darstellen.9

5 Zur sozialistischen Konnotation der WohnbauModerne der 1920er Jahre vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus. Die politische Voraussetzung der Wohnbauprogramme des „Roten Wien“ der 1920er Jahre hat Hans Werner Scheidl in der zeitgeschichtlichen Kolumne der Presse „Die Welt bis gestern“ vor kurzem bündig zusammengefaßt: „... Dazu war erst eine Trennung vom ,schwarzen‘ niederösterreichischen Umland nötig. Bisher gehörte Wien zu Niederösterreich. Die säuberliche Trennung geschah durch ein Verfassungsgesetz 1921. (...) Das niederösterreichische Bauernland hatte jetzt eine klare ,schwarze‘ Mehrheit, die von den Proletariern nicht mehr gefährdet werden konnte. Im ,roten‘ Wien hingegen durften nun die Sozialdemokraten quasi allein regieren. Bis 1934.“ Vgl. Scheidl 6 Höhns ordnet den Begriff Sozialwohnbau dem

Wohnungsbau des Nationalsozialismus zu. Der Wiener Massenwohnbau der 1920er Jahre, für Österreichs Wohnbaumoderne der konstituierende institutionelle Rahmen, wird als Gemeindebau bezeichnet. Vgl. Höhns 7 Vgl. Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur?, Anm. 65 Eine Fortwirkung dieser historisch bedingten sozialen Positionierung des Architektenstandes kann in dessen Fixierung auf solitäre, antikontextuelle Entwurfsresultate gesehen werden. 8 Der Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, widmet sich der Beziehung zwischen Architektur und Religion in ihren sozialen Aspekten. 9 Wie Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 43 10 Vgl. die Studien von Dietrich, Merz /Mätzler und Sagmeister

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Vorarlberg nimmt in der Entwicklung seiner modernen Architektur, ebenso wie in der Entwicklung ihrer Protagonisten zu einer gesellschaftlichen Reformbewegung einen Sonderweg ein, der zeitverzögert einsetzt und damit der architektonischen Avantgarde des Landes andere politische und soziale Umfelder bietet als andernorts derjenigen der 1920er Jahre. Nachdem das Land zwar eine intensive und frühe Industrialisierung durchläuft, diese sich aber nicht in einem großstädtischen, sondern einem kleinstädtischen und dörflichen Siedlungsmilieu entfaltet, entwickelt sich nach dem Ersten Weltkrieg weder ein die Städte prägender Massenwohnbau noch eine prägnante Architekturmoderne, wie sie etwa in Wien oder in anderen Großstädten die staatlichen Bauprogramme der 1920er Jahre kennzeichnet. Von wenigen architektonischen Einzelstücken abgesehen, modernen Villen und innerstädtischen Geschäftshäusern, bleibt die Form des Bauens traditionell gebunden. Anstatt moderne Wohnblöcke, verdichtet zu städtischen Wohnvierteln, entstehen zu lassen, werden die kommunalen Wohnbaukampagnen der 1920er Jahre in Vorarlberg, quantitativ nicht vergleichbar mit denjenigen Wiens, als Randsiedlungen, Siedlungen aus normierten Einfamilienhäusern auf großen Grundstücken, realisiert. Der agrarischen Lebensform entlehnt, gehört eine weitgehende Selbstversorgung der Siedler zum ideologischen Programm dieser Kampagnen.10 Ein den Bauprogrammen des Roten Wien vergleichbarer, städtisch konnotierter Massenwohnbau in verdichteter Bauform entsteht in Vorarlberg erst ab 1939 im Rahmen der Südtirolersiedlungen.11 Auch wenn den Vorarlberger Südtirolersiedlungen damit der Rang der modernsten12 Wohnbauten zukommt, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Land entstehen, wird ihr Beitrag zur Architekturgeschichte des Landes, jedenfalls aus österreichischer Perspektive, als bemerkenswert gering eingestuft.13 Diese Geringschätzung mag zunächst aus der Verknüpfung von Schöpfer und Werk begründet sein, die den Blickwinkel der Architekturhistoriker prägt und dem als Schöpfer allein der Architekt und als Werk allein der Entwurf, die den Niederungen der Baustelle und den Beschränkungen des Materials vorauseilende Gestaltvision, gilt. 11 Im Vergleich der Größenordnungen ist die jeweilige Gesamtbevölkerungszahl zu berücksichtigen. Dem Resultat des Wohnbauprogramms im Roten Wien der 1920er Jahre von rd. 60.000 Wohnungen stehen rd. 10.000 Wohnungen gegenüber, die von 1939 bis 1943 in Vorarlberg als Südtirolersiedlungen errichtet worden sind. 12 Höhns stellt die Modernität der österreichweit entstehenden Südtirolersiedlungen auf der Basis ihrer Quantität und der Rationalisierung des Baubetriebs fest: „Was hier zu Beginn des Krieges die seit den Jahren der ,Systemzeit‘ weitgehend daniederliegende Wohnungsbau-Produktion des Landes [Öster-

reich] in kürzester Zeit überrollt, ist alles andere als eine nostalgische Variante im Wohnungsbau: Es ist ein Bauboom, der sich mit dem des expandierenden ,roten‘ Wien der Zwischenkriegszeit messen kann und der eine neue Gründerzeit einleitet, organisiert von Technikern, deren oberstes Ziel Rationalisierung lautet, auf der Ebene des Städtebaus ebenso wie im Maßstab architektonischer Details.“ Höhns, S. 286 13 Bedingt durch seine Einordnung in eine Moderne Architektur in Deutschland seit 1900 schätzt Höhns den architektonischen und architekturhistorischen Wert der Südtirolersiedlungen weit bedeutender ein, als Achleitner. Höhns, S. 285

Vorarlberger Sonderweg

Randsiedlungen anstelle von Geschoßwohnbau

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Friedrich Achleitner, der diesen Standpunkt mit seinem nationalen Register Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmt, dokumentiert unter den Vorarlberger Südtirolersiedlungen, allesamt entworfen unter Leitung des deutschen Chefarchitekten Fritz Vogt, nur diejenige in Bregenz als größte des Landes und kommentiert bezeichnenderweise deren Architekturform nicht spezifisch im Kapitel Vorarlberg, sondern summarisch, zusammen mit der Werkssiedlung der Reichswerke Hermann Göring in der oberösterreichischen Stadt Steyr (1939–45).14 Seine Klassifizierung „alldeutsche Modifikation ländlichen Biedermeiers“, verbunden mit dem Nachsatz „Heimatschutzstil der Stuttgarter Schule“, erzeugt neben der personellen diejenige ästhetische Abgrenzung, die die Vorarlberger Südtirolersiedlungen als Fremdkörper aus der Architekturgeschichte des Landes ausgrenzen: als deutsche (nationsfremde), nichtregionale (regionsfremde), historistische (zeitfremde) und schließlich bürgerliche (aufklärungsfremde) Architekturform. Aus dem spezifischen Blickwinkel der vorliegenden Studie, die Architektur nicht allein als Kulturtechnik, sondern ebensosehr als Technik, eine Gesellschaft zu regieren15, als social engineering16 betrachtet und die darüber hinaus innerhalb einer „gesellschaftlichen Architekturpraxis“ das Bauen in seiner logistischen und materialspezifischen Bedeutung wenigstens gleichwertig neben den „Entwurf“ stellt, treten jedoch neben den Trennstellen, die Achleitner betont, prägnante Verbindungslinien in Erscheinung, die geeignet sind, die Vorarlberger Südtirolersiedlungen neu zu bewerten und als unverzichtbaren Bestandteil der Architekturgeschichte des Landes anzusehen. Einem sozialwissenschaftlich bestimmten Verständnis von Architektur folgend, finden wir solche Nahtstellen auf der Institutionenebene und in der Baupraxis. Es sind die Siedlungsgesellschaften17 als diejenigen konkurrenzlosen Repräsentanten jeglichen großmaßstäblichen Wohnbaus, die die Architekten der Generation Hans Purins am Beginn ihrer Berufspraxis als institutionelles Umfeld vorfinden und gegen die sie ihre Architekturauffassung zu profilieren beginnen. Siedlungsgesellschaften wie die Vogewosi sind die institutionellen Nachfolger des nationalsozialistischen Sozialwohnbaus und damit für Vorarlberg, das im Gegensatz zu Wien keinen „sozialistischen“ Massenwohnbau kennt, die aus den landesspezifischen Gegebenheiten historisch gewachsenen und staatlich legitimierten Träger für den Wohnbau. 14 Achleitner (1980), S. 108/109 15 Zum Verhältnis von Architektur und Staat vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 16 Im politikwissenschaftlichen Sinn als Anstrengungen zur Veränderung oder Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen verstanden. 17 Siedlungsgesellschaften sind gemeinnützige Bauträger. Ihnen obliegt der öffentliche Wohnbau, Errichtung, Instandhaltung und Verwaltung von Mietwohnanlagen. Gewinne werden nur im gesetzlich vorge-

schriebenen Rahmen erwirtschaftet und, etwa im Fall der Vorarlberger Vogewosi, sofort in neue Projekte investiert. Haupteigentümer der Vogewosi, die aktuell (2008) 15.385 Wohnungen verwaltet, ist mit einem Anteil von 70,95% das Land Vorarlberg. www.de.wikipedia.org/wiki/Vogewosi; 60 Jahre VOGEWOSI, in: Wirtschaftszeit 04/2008; Eine Vorarlberger Institution in: www.vogewosi.at 18 GW: Z 178 ff 19 GW: Z 165 ff

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Eine Moderne in der Architektur ist unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in der Vorarlberger Gesellschaft nicht repräsentiert. Auch die Kommunikation innerhalb der sozialen Elite, die die modern eingestellten Architekten des Landes verkörpern, ist zwischen der in den 1920er und -30er Jahren tätigen Generation und ihrem „Nachwuchs“, der zu Beginn der 1960er Jahre die Hochschulen verläßt, abgerissen. So zerfällt etwa für Gunter Wratzfeld eine kulturelle Kontinuität in der Architekturmoderne Vorarlbergs in die wahrnehmbare Repräsentation durch Bauten und eine fehlende Vermittlung durch Persönlichkeiten. Für ihn, der in den 1960er Jahren seine Berufslaufbahn angetreten hat, sind die wenigen Beispiele von Einfamilienhäusern in moderner Architektursprache, die es aus der Vorkriegszeit im Land gibt, durchaus präsent. Es gibt ja ein paar hervorragende Bauten aus den dreißiger Jahren im Land Vorarlberg, oder, ob das Dönz /Reznicek in Bludenz waren oder Ströbele in Bregenz, die waren ja guat, die Dinger.18

Die Architekten jener Zeit stehen jedoch als Ansprechpartner oder präsente „Vaterfiguren“ in Bezug auf formale Haltungen nicht mehr zur Verfügung. Zwischen der Vorkriegs- und der Nachkriegs-Architektengeneration reißt die Kommunikation tatsächlich ab. Die Leute, die in den dreißiger Jahren ihre Häuser im Stil der Zeit gebaut haben, die waren ja, um nicht zu sagen, geächtet, aber das waren Außenseiter. (...) Also die Vorarlberger Architekten (...) wie Ströbele, die haben nach dem Krieg nicht mehr Fuß gefaßt. Die waren, mit denen konnte man auch schlecht ein Gespräch aufbauen, die hatten selbst auch keine Beziehung mehr zu dem, was sie in den dreißiger Jahren gemacht haben.19

Auch wenn die Nachkriegsgeneration damit in gewisser Weise einen berechtigten Anspruch stellen könnte, als „Gründungsgeneration“ zu gelten, erhebt zumindest Wratzfeld keinen solchen, sondern setzt aus seiner Sicht eine, wenn auch nur in Spuren vorhandene Moderne fort, die er im Land vorfindet. Es ist das gesellschaftliche Reformprojekt, welches sich in moderner Architektur repräsentiert, das für diejenige Architektengeneration, der Purin und Wratzfeld angehören, einen Neubeginn erfordert. Einen Neubeginn, der erschwert ist durch die formale Charakteristik des baulichen Bestandes, dessen traditionalistische Gestalt die staatlichen Repräsentanten darin bestärkt, ebendiese formale Haltung als Vorarlberger Bautradition fortzusetzen. Die Baubehörden, das wichtigste Gegenüber der Architekten bei der Realisierung moderner Bauten, sind in den 1960er Jahren personell und ideell weiterhin auf die Südtirolersiedlungen und ihre Ästhetik eingestellt. Die Architekturmoderne der Nachkriegszeit in Vorarlberg hat sich damit gegen den Widerstand staatlicher Repräsentanten als Subversion zu etablieren und nicht, wie im Wien der 1920er Jahre, als Staatsbaukunst zur Repräsentation der neugeschaffenen Ersten Republik Österreichs.20

„Stunde Null“ der Vorarlberger Architekturmoderne?

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Vorarlberger Arbeitersiedlungen

Als von der Industrialisierung geprägte Landschaft ist das Vorarlberger Rheintal derjenige Ort, an dem gemäß dem Geschichtsmodell der „orthodoxen Moderne“21 auch eine moderne Architektur zu Hause wäre, hätte die Industrialisierung ein großstädtisches anstelle eines dezentralisierten ländlichen Siedlungsgebiets zu ihrem Ausgangspunkt genommen. Die Arbeitersiedlungen, die im Gefolge der hier gegründeten Textilfabriken entstehen, bleiben in Vorarlberg moderat in der Größe und werden, dem kleinstädtisch-dörflichen Umfeld sowie dem dominanten politischen Konservatismus22 geschuldet, nicht zu den modernen Wohnvierteln, die für Österreich neben der Hauptstadt Wien vor allem in Industriestädten wie Linz oder Graz eine das Stadtbild prägende Architekturmoderne schaffen.23 Die konservative Sozialpolitik der Vorarlberger Fabrikherren, die auf eine Aufrechterhaltung einer Nebenerwerbslandwirtschaft des einheimischen Anteils ihrer Arbeiterschaft setzt, vermeidet so die Herausbildung einer neuen sozialen Klasse, eines Industrieproletariats, und dessen politischer Solidarisierung unter der Fahne der Sozialdemokratie. Mit einem Industrieproletariat fehlt in Vorarlberg das soziale Pendant zum funktionalistischen Massenwohnbau und damit diejenige „notleidende Klasse“, die andernorts das gesellschaftliche Reformprogramm einer Architekturmoderne der 1920er Jahre legitimiert hatte.24

Massenwohnbau für Südtiroler

Es sind in Vorarlberg nicht die „modernen“ 1920er Jahre, sondern erst die NS-Zeit ab 1938, die mit der Einwanderung der Südtiroler„Optanten“25 einen den kommunalen Wohnbaukampagnen der 1920er Jahre in Wien, Frankfurt 20 Die Bedeutung der 1920er-Jahre-Moderne Österreichs ist hinsichtlich ihrer politischen Voraussetzungen unabhängig von derjenigen Deutschlands zu sehen. Mit dem Wiener Wohnungsbau der 1920er Jahre geht gleichzeitig eine neue Staatsgründung einher, die weit schwierigere Bedingungen stellt als in Deutschland der Übergang von einer Monarchie zur Demokratie. Dies verleiht der österreichischen 1920er-Jahre-Moderne einen Gründungshabitus, der, eher als mit der deutschen, etwa mit der finnischen Moderne vergleichbar ist, insofern, als hier der Moderne die Aufgabe zufällt, das neuerwachte Selbstbewußtsein eines demokratisch verfaßten Staates zu verkörpern. 21 Vittorio Magnago Lampugnani: Einleitung zu ders.: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Bd. 1: Reform und Tradition 22 Dietrich weist in seiner Studie über die Vorarlberger Randsiedlungen der 1920er Jahre nach, daß dieser organisierte, „massenhafte“ Einfamilienhausbau Vorarlbergs eine bewußte, auch politisch konnotierte Gegenposition zum Modell des Wiener Wohnungsbaus darstellt. (Dietrich, S. 50) Wratzfeld teilt mit, daß in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs diese Vorbehalte gegenüber

dem „modernen“ Wohnbau der 1920er Jahre aufgrund von dessen politischer Konnotierung weiterbestehen. (GW: Z 231 ff) Die Abwesenheit einer Wohnbau-Moderne in Vorarlberg bis in die 1960er Jahre ist also nicht nur einer passiv wirkenden „Fortschreibung“ der ländlich bis kleinstädtisch geprägten Siedlungsstrukturen des Landes, sondern auch einer aktiven, politisch motivierten „Abwehr“ zuzuschreiben. 23 Wratzfeld erwähnt neben dem kommunalen Massenwohnbau die Werkbundsiedlungen, die Ende der 1920er Jahre in europäischen Großstädten errichtet wurden, um typologische Vorbilder für den modernen Wohnbau zu schaffen. Nach seiner Einschätzung ist die als Weißenhofsiedlung bekannte Stuttgarter Werkbundsiedlung „noch prägnanter und (...) vor allem städtebaulich sicher noch besser“ als die Wiener Werkbundsiedlung. (GW: Z 516 ff) Wratzfelds Einschätzung einer Dominanz Deutschlands in der Entwicklung der Architekturmoderne kommt auch in seiner Bemerkung zu Roland Rainers Architekturlehre zum Vorschein, der auf „jene(r) Entwicklung, die speziell in Wien gemacht worden ist“, schon auch aufgebaut habe, „nicht nur auf dem Bauhaus“. (GW: Z 511 ff)

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oder Berlin vergleichbar großen und ebenso schlagartig zu deckenden Wohnungsbedarf schafft und die Südtirolersiedlungen damit für Vorarlberg zum prägenden Typ eines verdichteten städtischen Siedlungsbaus werden lassen. In dieser Eigenschaft eines prägenden Typs sind sie unmittelbares Vorbild und Anknüpfungspunkt für den Vorarlberger Wohnungsbau der Nachkriegszeit durch die Siedlungsgesellschaften. Wratzfeld: Aus dieser baugeschichtlichen Entwicklung heraus hat sich das einfach nach dem Krieg fortgesetzt und der soziale Wohnbau hat sich nicht stark unterschieden von dem sozialen Wohnbau, der im Dritten Reich gemacht worden ist. Ja, was ist dazugekommen, irgendwo ein paar Balkone, nicht. Aber sonst nicht viel.26

Die Bruchlosigkeit des Übergangs vom Nationalsozialismus zur österreichischen Zweiten Republik auf dem Sektor des Vorarlberger Wohnungsbaus ist nicht nur in der Architekturform feststellbar. Wichtiger und nachhaltiger erscheinen die institutionellen und personellen Kontinuitäten. Siedlungsgesellschaften wie die Vogewosi werden nach dem Krieg formal neu gegründet27, behalten jedoch den Wohnungsbestand aus der Zeit des Nationalsozialismus und, wichtiger noch, ihre institutionelle Dominanz auf dem Sektor des Wohnungsneubaus. Neben den Siedlungsgesellschaften gewährleisten die Baubehörden eine Aufrechterhaltung der konservativen Formideale der NS-Zeit. Hier dürfen personelle Kontinuitäten angenommen werden, die aus der NS-Zeit in die 24 Das pädagogische Projekt einer Ästhetischen Erziehung der Arbeiterschaft durch funktionalistisch gestalteten Wohnbedarf – und sein Scheitern – arbeitet Moos exemplarisch an der Person Sigfried Giedion heraus. Vgl. Moos, S. 795 25 „Vorarlberg, das unter den österreichischen Bundesländern seit über zwei Jahrzehnten den größten Zuwanderungsüberschuß aufweist, hat seine Zugezogenen in mehreren Wellen erhalten. Waren in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und nach 1950 in erster Linie wirtschaftliche Motive für die Zuwanderung ausschlaggebend, so kamen zwischen 1940 und 1950 infolge des Zweiten Weltkrieges rund 20.000 Personen aus politischen Gründen nach Vorarlberg, deren größte Gruppe die Südtiroler Optanten (rund 9200 Personen) bildeten...“ Greber, S. 259 GW: Z 277 ff 26 Daneben werden weiterhin Werkssiedlungen gebaut. Daß auch diese dem formalen Trend des staatlich geförderten Wohnungsbaus folgten und sich durch „ideologische Anleihen bei der Siedlungspolitik der Nationalsozialisten“ auszeichneten, dokumentiert Bertsch am Beispiel der „Dr. Fritz Schindler Siedlung“, die 1950 in Kennelbach in Form eines „Miniaturdorfs“ errichtet wurde. Bertsch (1994), S. 17 ff 27 Eine institutionelle Kontinuität aus der NS-Zeit in die österreichische Zweite Republik der Nachkriegszeit läßt sich für die Tiroler Siedlungsgesellschaft

Neue Heimat Tirol feststellen, die 1939 zur Schaffung von Wohnraum für die Südtiroler Umsiedler („Optanten“) geschaffen worden war. Als ehemaliges deutsches Eigentum sprach sie der österreichische Staatsvertrag von 1955 der Republik Österreich zu, die die Gesellschaft 1968 zu gleichen Teilen an das Land Tirol und die Stadtgemeinde Innsbruck übergeben hat. Heute ist die Neue Heimat Tirol laut Darstellung ihrer homepage www.neueheimattirol.at der „größte Bauträger Westösterreichs“. Die Weiterverwendung des Namens „Neue Heimat“ erscheint absurd, da er die Funktion des Wohnungsbaus durch Siedlungsgesellschaften im Dienst der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik konserviert. Die Vogewosi betont in ihrem Internetauftritt ausdrücklich, daß „keine rechtliche Identität mit früherer Gesellschaft“, der 1939 gegründeten Vogewosi, existiert. Diese war bereits 1943 in die nationalsozialistische Neue Heimat Tirol eingegliedert und damit als eigenständiges Unternehmen aufgelöst worden. Nach der Neugründung der Vogewosi 1948 erfolgte 1957 der Rückkauf ihres 1943 in die Neue Heimat Tirol eingeflossenen, aber in Vorarlberg gelegenen Siedlungsbestandes (größtenteils Südtirolersiedlungen) durch das Land Vorarlberg und 1969 schließlich die Übertragung dieses Bestandes an die neue Vogewosi. Die übrigen in Vorarlberg tätigen Siedlungsgesellschaften nennt Wratzfeld in: GW: Z 1291 ff.

Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Zweiter Republik

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Nachkriegszeit herüberreichen. Sie bestimmen thematisch wesentlich jene Auseinandersetzungen, die die Architektengeneration der 1960er Jahre zur Durchsetzung ihrer Konzepte zu führen hatte. Wratzfeld: Das war in deren Köpfen drinnen, oder, und ein nicht-gesprosstes Fenster war für die schon a Todsünd. Also, da bist schon g’straft worden.28

Voraussetzungen für die Südtirolereinwanderung nach Österreich

Die politische Voraussetzung für die Einwanderung der Südtiroler nach Österreich schafft das Hitler-Mussolini-Abkommen vom 23. Juni 1939, das vorsieht, Mussolinis Bestrebung einer vollständigen „Italianisierung“29 des bei den Friedensverhandlungen von St.-Germain 1919 dem Königreich Italien zugeschlagenen Südtirol30 mit seiner deutschsprachigen Bevölkerung durch Aufnahme des auswanderungswilligen Anteils dieser Bevölkerung zu unterstützen. Diese Unterstützungszusage ist als deutsche Gegenleistung für das Stillhalten Italiens beim „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 zu sehen.31 Um Befürchtungen auf italienischer Seite zu zerstreuen, Südtirol könnte in den „Anschluß“ Österreichs einbezogen werden, anerkennt Hitler anläßlich eines Italienbesuchs am 7. Mai 1938 Mussolini gegenüber die Brennergrenze als endgültig.32 Bei der Umsetzung des Abkommens von 1939 ergeben sich beiderseits der Grenze rasch organisatorische Schwierigkeiten. Nachteilige Folgen für 28 GW: Z 284 ff 29 „Die Italianisierung bezeichnet den Versuch der ab 1922 regierenden faschistischen Regierung Italiens, die im Rahmen des Irredentismus einverleibten Gebiete mit nichtitalienischer Bevölkerungsmehrheit sprachlich und kulturell italienisch zu dominieren und ihrer gewachsenen Identität zu berauben. Frühzeichen waren schon ab 1921 während des Bozner Blutsonntags bemerkbar.“ www.wikipedia.org/wiki/ Italianisierung; Stand 30.09.2008 Greber zitiert einen Ausspruch des italienischen Ministerpräsidenten Salandra von 1920, also zwei Jahre vor Mussolinis Regierungsübernahme von König Viktor Emmanuel, die am 28. Oktober 1922 erfolgte: „Nachdem wir den Brenner mit den Waffen erobert haben, müssen wir ihn jetzt durch und durch italienisch machen.“ Greber, S. 261 30 Im Londoner Geheimvertrag vom 26. April 1915 zwischen Italien und der Entente war Italien für seinen Kriegseintritt gegen die Donaumonarchie neben anderem auch die Brennergrenze zugesagt worden. „Die italienische Einverleibung vollzog sich gegen den ausdrücklichen Willen der Südtiroler Bevölkerung: Sämtliche Südtiroler Gemeinden verlangten im Februar 1919 in einer Denkschrift an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson den Verbleib bei Österreich (...). Durch den Friedensvertrag von St. Germain hatten über 220.000 Deutsche (sic!) und knapp 10.000 Ladiner die italienische Staatsbürgerschaft anzunehmen.“ Greber, S. 261

31 „Die Anerkennung der Brennergrenze muß jedoch auch als Dank Hitlers an Mussolini („Duce, das vergesse ich Ihnen nie“) für dessen neutrale Haltung bei dem Anschluß Österreichs gesehen werden.“ Greber, S. 263 32 „Durch den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 war die deutsch-italienische Freundschaft bezüglich dem Südtiroler-Problem einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. Denn einerseits wurden in Südtirol Erwartungen, andererseits in Italien Befürchtungen geweckt, der Anschluß würde sich später auch auf Südtirol erstrecken. Um die italienischen Bedenken zu beseitigen, anerkannte Hitler am 7. Mai 1938 auf seinem Italienbesuch (...) die Brennergrenze als endgültig.“ Greber, S. 262 Bezüglich des Widerspruchs, der zwischen der „Lebensraum-Politik“ des Dritten Reichs und seinem Verzicht auf einen Anschluß Südtirols an das Gebiet des Deutschen Reichs besteht, weist Greber darauf hin, daß Hitler bereits in Mein Kampf erklärt hatte, von einer Wiedergewinnung Südtirols abzusehen. Greber, S. 263 Auf italienischer Seite war die Umsiedlungsidee ein Rückgriff auf ältere, extrem nationalistische italienische Forderungen, die bis in die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückreichen, noch ehe ein ethnisches Problem Deutschsüdtirol bestand. Greber, S. 263 33 Greber, S. 259

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eine zügige Umsetzung des Umsiedlungsprogramms zeigt insbesondere der im Jahr des Abkommens vollzogene Kriegseintritt Deutschlands, dem das verbündete Italien 1940 folgt. So ist 1943, als in Italien die faschistische Macht besiegt ist, erst etwa ein Drittel der Südtiroler Bevölkerung umgesiedelt.33 Voraussetzung für die Identifizierung des auswanderungswilligen Bevölkerungsanteils Südtirols ist die 1939 in Form einer Volksbefragung durchgeführte „Option“. Bis zum 31. Dezember 1939 müssen alle Südtiroler entscheiden, ob sie deutsche Reichsangehörige werden oder Italiener ohne jegliche Minderheitenrechte bleiben wollen.34 Ein weit überwiegender Teil der Südtiroler35 entscheidet sich für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit für eine Auswanderung.36 Fest steht, daß die Menge an Auswanderungswilligen in der Südtiroler Bevölkerung, die die Optionsauswertung erkennen läßt, für die italienischen Behörden völlig unerwartet kommt und ein wirtschaftlicher Ruin der Provinz als Folge der Auswanderung befürchtet wird. Das Augenmerk der Politiker richtet sich dabei vor allem auf den Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung, den die einheimische Bauernschaft leistet, sowie die im Vergleich zu anderen Bevölkerungsteilen hohen Entschädigungszahlungen als Gegenwert ihrer Höfe. Die Auswanderung der Bergbauern wird 34 „Optionserklärungen wurden später noch bis Juni 1940 entgegengenommen.“ Greber, S. 264 35 Das genaue zahlenmäßige Ergebnis dieser Befragung ist zwischen deutscher und italienischer Seite strittig. Während deutsche Quellen die Quote der Deutschlandoptanten mit 86% angeben, liegt der Prozentsatz in italienischen Angaben bedeutend niedriger. 36 Auch für die Interpretation des Optionsergebnisses gibt es mehrere Auslegungen. Wratzfeld, dessen Sichtweise durch seine Kenntnis des Schicksals eigener Südtiroler Verwandter geprägt ist, einem „Großonkel in Bozen, der war Weinbauer und dem ist nichts geschehen während dieser Zeit“, gibt in unserem Gespräch primär den Wunsch nach wirtschaftlichen Verbesserungen und erst nachgeordnet Affinitäten zum Nationalsozialismus als Motivationen der Auswanderungswilligen an. Den Bauern innerhalb der Südtiroler Bevölkerung rechnet er wegen ihrer Verhaftung an Grund und Boden die größte Heimatverbundenheit zu. GW: Z 300 ff Greber betont in seiner Interpretation vor allem die Auswirkung der Diskriminierungen, denen die deutschsprachigen Südtiroler seit Beginn der italienischen Herrschaft über ihr Heimatland ausgesetzt waren: „Der überwältigende Mehrheitsentscheid für das Deutsche Reich ist als eine klare Absage an die italienische Nationalisierungspolitik zu verstehen, und nicht, wie von italienischer Seite mehrfach ausgesprochen, als ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus.

Daß in Südtirol nach beinahe zwanzigjähriger faschistischer Unterdrückung das Bewußtsein von einer Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis stark vorhanden war, ist nur verständlich. Ebenso darf die Begrüßung der deutschen Truppen während deren Besetzung Südtirols 1943 bei sehr vielen Südtirolern nicht als Kundgebung für die nationalsozialistische Ideologie gesehen werden; sie sahen nun vielmehr die drohende Gefahr der Umsiedlung schwinden. Außerdem wurde von italienischer Seite der Option für Deutschland durch kurzfristige Entlassungen der Südtiroler aus dem öffentlichen Dienst, Kündigungen von Pacht- und Mietverträgen und durch eine Äußerung des Bozner Präfekten Mastromattei am 20. Juni 1939 Nachdruck verliehen: „Diejenigen, welche von der Möglichkeit, für Deutschland zu optieren, keinen Gebrauch machen, werden in die Provinzen südlich des Po verpflanzt werden.“ Die massive Propaganda für die Option und das Beispiel angesehener Persönlichkeiten trugen im übrigen zum klaren Votum für Deutschland bei.“ Greber, S. 266 Am wenigsten erscheint diejenige Interpretation durch die Quellenlage gedeckt und verallgemeinerbar, die von einer „erzwungenen Aussiedlung“ spricht, wie sie der Historiker Erwin A. Schmidl für einen nicht näher bezeichneten „Teil“ der deutschsprachigen Südtiroler angibt. In: „Duschen aus der Dose“; Die Presse, 27.10. 2007, Spectrum, S. IV

„Option“

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Italianisierung Südtirols

in der Folge zunehmend weniger gefördert, statt dessen konzentriert sich das Augenmerk der italienischen Behörden auf „unruhige Elemente“, die Südtiroler Intelligenz. Daneben scheint die Bevölkerung der Städte und größten Ortschaften und die Obst- und Weinbauern in den Talschaften mit geringeren Schwierigkeiten durch Italiener ersetzbar als die Bergbauern. Bereits seit 1935 war begonnen worden, in Bozen eine Industriezone zu errichten und so die Voraussetzungen zur Schaffung eines Industrieproletariats in der bis dahin vorwiegend agrarischen Südtiroler Gesellschaft durch Masseneinwanderung von Süditalienern nach Südtirol herzustellen. Obwohl es, Greber zufolge, vor allem Himmler ist, der in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums die italienischen Forderungen mit eigenen Vorstellungen einer ethnischen Radikallösung noch übertrifft, treten auch auf deutscher Seite rasch Schwierigkeiten auf, hier in der Bereitstellung des erforderlichen Wohnraums, die den auf politischer Ebene vereinbarten Zeitplan auszuhebeln drohen.

Gründung der Vogewosi

Zu einer Vorarlberger Geschichte wird der Bau der Südtirolersiedlungen nicht auf der Ebene der Architektur, sondern derjenigen der Baupraxis. Es ist der Vorarlberger Architekt, Bauunternehmer und frühe Nationalsozialist37 Alois Tschabrun, der in dieser Situation die Initiative ergreift und mit der am 27. 04.1939 gegründeten „Vorarlberger gemeinnützigen Wohnungsbau- und Siedlungsgesellschaft“, kurz Vogewosi, seine Praxis und in früheren Siedlungsprojekten erworbene organisatorische Kompetenz38 im Siedlungsbau einsetzt. Bereits im Frühjahr 1939 zieht die Gründung der Vogewosi die Zustimmung von siebzehn Gemeinden zum Bau von insgesamt fünfhundert Eigenheimen und zwanzig Mietwohnungen nach sich. Das Abkommen zwischen Hitler und Mussolini über die Umsiedlung der Südtiroler wertet bereits ein knappes halbes Jahr später den massenhaften Wohnungsbau zum „Kriegswichtigen Projekt“ auf und bezieht Tschabruns Vogewosi neben der Tiroler Neuen Heimat 39, der Alpenländischen Heimstätte und der Siedlungsgesellschaft der Stadt Salzburg in die Pläne des Innsbrucker Gauleiters Hofer zur Errichtung von Südtirolersiedlungen ein. Durch sein reichsweit beachtetes Bautempo sollte Tschabrun für Vorarl37 „Im Sommer 1933 trat er der NSDAP-Ortsgruppe Nenzing bei. Zu einer offiziellen Aufnahme in die Partei kam es allerdings nicht mehr, da die NSDAP in Österreich am 19. Juni 1933 verboten wurde.“ Tschabruns aktive Rolle als Propagandist der nunmehr illegalen Nationalsozialisten führte 1934 zu einer Verurteilung und einem insgesamt einjährigen Gefängnisaufenthalt. Nach dem „Anschluß“ Österreichs dankte die Partei Tschabrun „mit der Verleihung des Blutordens und mit der Berufung zum Leiter einer neu geschaffenen Raumordnungsstelle bei der Vorarlberger Landesregierung“. Pichler (2007), S. 270 ff

38 Pichler dokumentiert ein erstes, unter Tschabruns Regie in Selbsthilfe errichtetes Projekt in Weil am Rhein für 60 Siedler aus dem Jahr 1935. Die Finanzierung war durch Sperrmark erfolgt, Gelder von Konten deutscher Juden, die die Besitzer selbst nach Sperrung durch die Nationalsozialisten nicht mehr abheben durften. Pichler (2007), S. 272 39 Höhns zufolge ein Unternehmen der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront. Höhns, S. 286 40 Pichler (2007), S. 276 ff 41 Greber, S. 259 42 Vgl. dazu die ausführliche Schilderung bei Pichler (2007).

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berg in der Folge weit größere Anteile am Gesamtkontingent der zu errichtenden Südtirolersiedlungen zugesprochen bekommen, als ursprünglich vorgesehen war. 1941, als sich das staatlich unterstützte Wohnbauprogramm kriegsbedingt verlangsamt und schließlich zum Stillstand gekommen war, sind es 2096 Wohnungen in 430 Häusern in Bregenz, Lochau, Hard, Dornbirn, Lustenau, Götzis und Feldkirch.40 Weit größere Anteile der auswandernden Südtiroler sind nach Vorarlberg gekommen, als politisch vorgesehen war. Schließlich sind es 9200 Südtiroler als größte Gruppe unter den insgesamt 20.000 Einwanderern, die aus „politischen Gründen“41 zwischen 1940 und 1950 nach Vorarlberg kommen, was zehn Prozent der Vorarlberger Bevölkerung entspricht. Bemerkenswert für den hier betrachteten Kontext ist weniger das weitere Schicksal Alois Tschabruns42, als die völlige Ausblendung seiner Person und Rolle aus den architekturbezogenen Dokumentationen der Vorarlberger Südtirolersiedlungen, soweit sie im Rahmen der vorliegenden Studie auffindbar waren. In Umkehrung der tatsächlichen Abhängigkeiten43 weist Wratzfeld dem Chefarchitekten Fritz Vogt – „der hat die ganzen Vorarlberger Architekten sozusagen in einem Büro vereint“44 – sogar die Initiative und zentrale Rolle beim Bau der Südtirolersiedlungen zu. Achleitner45 beschränkt sich in seinem Standardwerk auf die Bregenzer als größter Vorarlberger Südtirolersiedlung46 und gibt neben Vogt lediglich einen zweiten „Entwerfer“, Helmut Erdle, an. Darüber hinaus finden die Vorarlberger Südtirolersiedlungen in den Lebenserinnerungen des nationalsozialistischen „Landschaftsanwalts“ Alwin Seifert47, Verfasser des noch heute im Rahmen der Vorarlberger Bauernhausforschung zitierten Werks Das echte Haus im Gau Tirol-Vorarlberg, Erwähnung, auch hier nur unter Vogts Autorenschaft.48 Nach dem Krieg wird die 1948 neugegründete Vogewosi erneut zu einer der größten Siedlungsgesellschaften Österreichs und schafft in ihrer institutionellen Dominanz jene Voraussetzung, gegenüber der die Purin-Generation der Vorarlberger Architektenschaft als „Baukünstler“ ihr Profil gewinnt.49 Erst Ende der 1960er Jahre beginnen neben den Siedlungsgesellschaften auch private Bauträger50 mit großmaßstäblichem Wohnbau im Land.

Bilanz des Südtirolerprogramms

Tschabrun, Vogt, Erdle

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43 Vgl. die Rede Vogts zum 90. Geburtstag seines ehemaligen „Chefs“ Tschabrun in: Alois Tschabrun: Marktstraße 51, Dornbirn –Ein politischer Freiraum; Bregenz 1993, S. 78 ff; Hinweis auf diese Quelle bei Pichler (2007). 44 GW: Z 382 f 45 Achleitner (1980), S. 415 46 Gegenüber Achleitners Charakterisierung der architektonischen Formensprache der Vorarlberger Südtirolersiedlungen („Heimatschutzstil“, vgl. Anm. 14) scheint mir Wratzfelds Interpretation, der die Augsburger Fuggerei (1516–25 errichtete, erste europäische „Sozialsiedlung“) als konkretes Vorbild angibt, die treffendere zu sein. Das „Bild“ der Fuggerei faßt zusätzlich das archetypische Modell einer patriarchalischen Fürsorge und damit jene politisch inszenierte Haltung gegenüber den „heim ins Reich“ geholten Südtirolern, die auch der Name der Tiroler Siedlungsgesellschaft Neue Heimat vermittelt. Für die Unentrinnbarkeit einer solchen „Fürsorge“ stehen sowohl die noch heute allabendlich geschlossenen Tore der Augsburger Fuggerei als auch die symbolhaften Torbögen über den Erschließungsstraßen der Vorarlberger Südtirolersiedlungen. 47 Zur rassistischen und speziell antisemitischen Orientierung Seiferts findet sich in seinen hier zitierten Lebenserinnerungen ein verschlüsselter Satz, der sich demjenigen erschließt, der den umschriebenen Fachausdruck „Jud“ kennt: „Die Sichtflächen [einer

Natursteinmauer] zu ,beleben‘ dadurch, daß einzelne Steine ,aufgestellt‘ werden, ist ein schwerer Kunstfehler; in der Zunftsprache der Steinmetzen haben diese Aufsteller sehr treffende Namen, die sie als nichthineingehörig kennzeichnen.“ Seifert (1962), S.78 Vgl. auch Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz, Anm. 17 48 „Ein schwäbischer Architekt [Fritz Vogt, dessen Herkunft Wratzfeld mit Ravensburg, Achleitner mit Stuttgart angibt] hatte für jene Südtiroler, die für Deutschland optiert hatten und nun aus Südtirol auswandern mußten, Siedlungen zu bauen. Tiroler Architekten warfen ihm vor, daß er nicht tirolisch baue mit breiten Giebeln, mit Erkern, Balkonen und Fresken. Ich wurde als Gutachter nach Innsbruck gebeten und mußte dem anwesenden Gauleiter Hofer sagen, daß man Kleinwohnungen nicht in der Art bauen könne, daß man von einem mächtigen Unterinntaler Bauernhof eine Giebelscheibe abschneide. Die Vorarlberger Siedlungen des schwäbischen Architekten seien vorbildlich; bei den Tirolern merke man an Kleinigkeiten, daß er eben ein Schwabe sei und kein Baier.“ Seifert (1962), S. 144 f 49 Purin, S. 15 50 Nach Auskunft von Peter Greußing war Rhomberg unter den ersten privaten Bauträgern, die diesen Entwicklungsschritt vollzogen haben. (PG: Z 4 ff) Vgl. auch Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus.

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101 2.3 Baukünstler Um 1965 kam der Architekt und Autor Friedrich Achleitner erstmalig nach Vorarlberg, machte uns mit seinem Architekturführerprojekt bekannt und wollte u.a. auch unsere Bauten sehen. Nach einer der ersten Fahrten durch das Land, auf der ich ihn begleitete, sagte er am Abend: „Ist euch eigentlich bewusst, dass das, was ihr da macht, etwas ganz Einmaliges ist?“ Mir war es jedenfalls nicht bewusst. Ich fand das alles ganz normal und nichts Besonderes...1

Am Beginn dieses Abschnitts steht eine einfache Frage: Wer oder was sind die Vorarlberger Baukünstler? Dem Leser sollte im Forschungsfeld, dessen „Architekturgeschichte“ im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits siedlungsgeographisch und im zweiten Abschnitt, bezogen auf den Wohnbau, institutionengeschichtlich skizziert worden ist, nun auch für die Architekturentwicklung der Vorarlberger Nachkriegszeit und ihrer Fokussierung auf die Gruppe der „Baukünstler“ diejenige Grundorientierung geboten werden, die ihm erlaubt, das Phänomen, in dessen Diskussion er im Folgenden verwickelt werden wird, innerhalb eines Rahmens übergeordneter und unbezweifelter Tatsachen zu verorten. Den Autor stellt bereits die Frage selbst und mehr noch der Anspruch „objektiver“ Orientierung vor ein Dilemma, das in der Eingangsszene illustriert ist. Hans Purin, im Juni 2010 verstorbene Kernfigur2 einer ersten Generation jener „Vorarlberger Baukünstler“, hat uns dieses Ereignis überliefert, das als Initialzündung des Vorarlberger Architekturwunders gelten darf. Das angedeutete Dilemma, das der Anspruch architekturhistorischer Orientierung schafft, liegt darin begründet, daß die Szene die Konturiertheit der Bedeutung von Architektur und folglich auch jegliche Objektivität im Nachvollzug ihrer Geschichte auflöst. Zwischen den Blickwinkeln der beiden Akteure, die Purin hier einander gegenüberstellt, dem aus Wien angereisten Architekturhistoriker, der soeben eine Entdeckung gemacht hat, und dem Erzähler selbst, einheimischer Baukünstler3 ohne Architektenstatus und in diesem Moment noch völlig mit dem Gegenstand jener Entdeckung verschmolzen, die die bislang unberührte Normalität seiner Lebenswelt ist, stellt sich Architektur als Produkt einer Zuschreibung von Eigenschaften dar, die sie innerhalb ihres baulichen Umfelds erst bemerkenswert und als Exemplarisches bedeutsam macht. Mag der Architekt in seinem Entwurf noch so qualitätsbewußt und berufsethisch korrekt gehandelt haben, es ist erst der Architekturhistoriker, der über die Aufnahme des entstandenen Werkes in den Kanon befindet, mit diesem Akt die Qualität, Architektur und damit Kunst zu sein, bestätigt4 und gleichzeitig dem Geltungs- und Wirkungsanspruch des Architekten als Person, ebenso wie dem Wert- und Schutzanspruch seines Werkes, gesellschaftliche Legitimität und Durchsetzungskraft verleiht.5 Im Fall unseres Forschungsgegenstandes, der Vorarlberger Baukunst, als Phänomen einer gesellschaftlichen Architekturpraxis betrachtet, ist die Entwicklung, die mit Achleitners „Entdeckung“ beginnt und die Vorarlberger

Architektur als Produkt von Zuschreibung

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Kriterien für die Einordnung in den Kanon

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Architektenschaft heute in die Position einer normativ wirksamen Institution setzt, zunächst mit der Konstruktion eines gesellschaftlichen Architekturbegriffs von ausschließlich regionaler Gültigkeit verbunden, auf dessen inhaltliche Eckpunkte wir weiter unten zurückkommen werden.6 Auch wenn der Architekturhistoriker somit als Akteur in die Forschungsperspektive eingesetzt ist, darf seine Qualitätsselektion, die er zur Fortschreibung des aktuellen und der kritischen Rekapitulation des historischen Kanons durchführt, keineswegs als Willkürakt, darf seine subjektive Position nicht als ungebunden angenommen werden. Seine Entscheidung darüber, welcher einheimische Architekt – oder Handwerker – legitimerweise Vorarlberger Baukunst schafft und warum etwa den Architekten der in Städten und Dörfern des Landes gebauten Wohnhochhäuser aus den 1970er Jahren7 ebenso wie denjenigen rustikaler Hotelbauten in den Tourismusorten des Oberlandes der Zugang verwehrt wird8, ferner, wer von den Auswärtigen9 dazugehört und warum etwa Holzbauer mit seinem Landhaus10, ebenso wie 1 Purin, S. 16 2 Vgl. Kapfinger (2010) 3 Baukünstler bezeichnet in Österreich den Träger des Magisterabschlusses eines Architekturstudiums. Der Begriff Vorarlberger Baukünstler erhielt erst im Zusammenhang mit dem Befugnisstreit der 1980er Jahre seine heutige Bedeutung als Bezeichnung einer Architektengruppe. Vgl. Anm. 79 und 86 4 Es ist fester Bestandteil des innerfachlichen Diskurses, die Rolle von Architekturgeschichte und -theorie, speziell die bewertende und klassifizierende Wirkung ihres Kanons, für die Praxis des Faches als Fremdbestimmung zu kritisieren. Eine Stellungnahme mit langer Nachwirkung hat etwa Rudolf Schwarz in seinem Aufsatz „Bilde, Künstler, rede nicht“ abgegeben, in der er die „Kunstwissenschaft“ als „überzählige Geisteswissenschaft“ im Bett der Baukunst tituliert. Schwarz (1953/1) S. 11 Auch Otl Aicher hat sein Befremden darüber zum Ausdruck gebracht, „daß design und architektur in der theorie von den kunsthistorikern verwaltet werden“. Aicher (1991), S. 19; vgl. auch Kapitel Architektur?, Abschnitt Architektenstand, Anm. 3 Daß dieser Diskurs und damit jegliche Infragestellung der Deutungshoheit in Händen der Architekturtheoretiker im Forschungsfeld kaum in Erscheinung tritt, mag daran liegen, daß sowohl Friedrich Achleitner als auch Otto Kapfinger als denjenigen Persönlichkeiten, die den Theoriediskurs um Architektur maßgeblich bestimmen, selbst ausgebildete Architekten sind und damit als schreibende im Feld der bauenden Architekten Akzeptanz als ihresgleichen genießen. 5 In einem Interview, das Friedrich Achleitner anläßlich seines 80. Geburtstags gab, bestätigt er diese Wirkung seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert als unbeabsichtigten Effekt:

(Leeb:) „Herr Achleitner, in Ihrem Architekturführer vorzukommen, ist für Architekten sehr wichtig, weil quasi nicht existiert, was nicht drinsteht. (Achleitner:) (...) Wenn das Bundesdenkmalamt etwas im ,Achleitner‘ findet, sagt man ,Vorsicht!‘, und wenn nicht, dann nicht. (...) Die Textilschule in Dornbirn ist nur nicht abgerissen worden, weil in meinem Architekturführer fünf Zeilen enthalten waren.“ Achleitner (2010) 6 Mittlerweile verschmilzt dessen Bedeutung wieder mit dem Spektrum überregionaler Kategorien, um den Protagonisten internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. 7 Hubert Matt unternimmt am Beispiel einer Analyse des Bregenzer „Sternhochhauses“ den Versuch, Achleitners Architekturbegriff in einen Gegensatz zu den baulichen Effekten einerseits des (technologischen) Modernisierungsschubes zu stellen, den Vorarlberg nach 1945 erfahren habe, andererseits zu einer „Sozialgeschichte der Moderne (...) und zwar ihrer Verläufe jenseits ihrer Zentren“. In: Bertsch (1994), S. 67 8 Eine „politische“ Haltung Achleitners tritt umso mehr gegenüber einem konservativen Umfeld, wie Vorarlberg es darstellt, hervor. So ordnet etwa Oswin Wachter Achleitner in seinem Leserbrief zum Montafoner Architekturstreit dezidiert Positionen politischer Lager und ihrem „Kulturkampf“ zu: Achleitner, als „engagierter 68er“, identifiziere „in jedem Haus, das mit Giebel und Balkon gebaut wurde, ein Relikt aus der Nazizeit“. In: Das Kleine Blatt, 7. Juni 2005 9 Von den genannten Beispielen fallen Holzbauers Vorarlberger Landhaus und das „Strickhüsle“ in den von Achleitner bearbeiteten Zeitabschnitt, die anderen in denjenigen Kapfingers. 10 Das Bregenzer Landhaus ist der Sitz von Vorarlberger Landesparlament und Verwaltung. 11 Moos, S. 812

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Zumthor mit dem Kunsthaus der Landeshauptstadt, nicht aber Nouvel mit seinem (heute als solchem genutzten) Finanzamtbau Aufnahme findet, warum das Fertighaus SuSi als Architektur, das Strickhüsle des Kaufmann Holzbauwerks aber nicht als Architektur anzusehen ist, ist wiederum bestimmt durch seine Verpflichtung gegenüber der Entwicklung Moderner Architektur zu derjenigen gesellschaftspolitischen Position, die sie zu einem Reformprojekt werden ließ. „Im Zusammenhang wovon und im Hinblick worauf“?11 Mit dieser Fragestellung hat Stanislaus von Moos die architekturhistorischen Schriften Sigfried Giedions12, verstanden als aktiven Einsatz für die gesellschaftliche Exponierung der Architekturavantgarde der 1920er Jahre, analysiert. Mißt man Achleitners13 Rolle mit ähnlichen Maßstäben wie von Moos diejenige Giedions, ist also zu fragen, welchen Standpunkt Achleitners (und anderer beteiligter Theoretiker) derjenige Bedeutungsumfang signalisiert, den er den Begriffen „Vorarlberger Bauschule“ und „Vorarlberger Baukünstler“ zuweist, bezogen auf welchen gesellschaftlichen Idealzustand also er seine Architekturgeschichte14 formuliert und damit implizit als gesellschaftliche Wirkungsgeschichte von Architektur angelegt hat. Architekturgeschichte in einem wissenssoziologischen Sinn verstanden, hat somit die Geschichte der gesellschaftlichen Institution Architektur in ihrer Auswirkung auf den wissenschaftlichen Blickwinkel des Fachs einzubeziehen und den Umstand, daß Architektur in den 1920er Jahren von „bloßer Baukunst“ zu einem gesellschaftlichen Reformprojekt geworden ist, indem ihre Protagonisten sich als Bewegung organisiert und konstituiert haben15, als affirmativen Subtext der Architekturgeschichte mitzulesen. Erst dieser Subtext nämlich präfiguriert die Interpretation der spezifischen Position von Architektur als Leitstern der kulturellen Moderne, erklärt die charakteristische Exponierung von Avantgarde innerhalb der Architekturmoderne und legitimiert deren gesellschaftspolitische Ziele, ebenso wie die Mittel, diese zu erreichen, als eigentliche Funktion zeitgenössischer Kunst.16 12 Sigfried Giedion (geb. 1888 in Prag, gest. 1968 in Zürich) gehört zu den einflußreichsten Architekturhistorikern des 20. Jahrhunderts. „Giedions Werk stellt eine originelle Synthese zwischen kunst- und architekturgeschichtlicher Forschung und der Verteidigung der Avantgarde-Architektur der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts dar, die er – ebenso wie das Design – mit konkreten Aktionen unterstützte.“ An den Architekturhochschulen Harvard und Zürich wirkte er als Dozent, von 1928 bis 1956 war er Generalsekretär des CIAM, den er mitbegründet hatte. (Historisches Lexikon der Schweiz, online-Ausgabe, Stand 16.02.2009) Giedions Hauptwerke sind Space,Time and Architecture (1941), deutsch Raum, Zeit, Architektur (1965) und Mechanization Takes Command (1948), deutsch Die Herrschaft der Mechanisierung (1982).

13 Friedrich Achleitner, geb. 1930 im oberösterreichischen Schalchen, ist nach seinem Studium bei Clemens Holzmeister bis 1958 als freischaffender Architekt in Arbeitsgemeinschaft mit Johann Georg Gsteu tätig. Gleichzeitig profiliert er sich mit seiner Mitgliedschaft in der Wiener Gruppe (1955–1964) als Literat. 1965 beginnt er die Arbeit an seinem architekturhistorischen Lebenswerk. Seine Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert ist als Führer in drei Bänden angelegt, wovon der dritte, Wien, wiederum dreibändig angelegt ist. Vgl. www.azw.at, Stand 05.08.2010 Vgl. auch Friedrich Kurrent: Laudatio anläßlich der erstmaligen Verleihung des Österreichischen Preises für Architekturpublizistik an Friedrich Achleitner am 19.12.1980; in: Kurrent (2010), S. 51 ff Zu Achleitners Lehrtätigkeit vgl. Anm. 14

Architekturgeschichte ist auf einen gesellschaftlichen Idealzustand hin formuliert

Gesellschaftsreform als Subtext moderner Architekturgeschichte

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Rolle des Staates

Die Stilisierung einer künstlerischen Avantgarde zu Initiatoren einer Gesellschaftsreform unterschlägt in ihrer impliziten Gleichsetzung von Avantgarde mit Revolution notwendigerweise speziell die aktive Rolle des Staates. Zur Aufhellung dieses blinden Flecks widmet unsere Studie der Beziehung zwischen Architektur und Staat besondere Aufmerksamkeit, indem sie danach fragt, ob die architekturgestützte Gesellschaftsreform mit oder gegen den Staat erfolgt oder etwa der Modernisierung der staatlichen Verwaltung selbst dient. Eng mit diesen auf den Staat, seine Autorität, seinem Bild vom Staatsbürger und seiner Haltung gegenüber der Moderne bezogenen Fragen verknüpft ist wiederum der Bedeutungsumfang des Begriffs Architektur, insofern, als der Staat dessen Legitimität bezüglich der Berufs- und Standesprivilegien der Architekten bestimmt.17

Architektur als Bedeutung, Architektur als materielle Form

Architektur ist nicht nur Zuschreibung, sondern immer auch Werk: Material, im Streben nach „Schönheit“ geformt. Der Rang der Bedeutungszuschreibung gegenüber den Materialaspekten erschließt sich durch die Frage, wozu Architektur ins Werk gesetzt wird und worauf ihre „Schönheit“ deutet. Im Hinblick auf die soziale Relativität des Schönheitsbegriffs18 ist also zu fragen: Für wessen Augen ist sie schön und zu wessen Gunsten verherrlicht sie was? Achleitner setzt diesbezüglich in seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert klare und dezidiert soziokulturelle Polaritäten: Nicht das„Bürgertum“ und erst recht nicht dessen „Oberschicht“ sei Träger einer (in ihren 14 Der Begriff „Architekturgeschichte“ ist im Zusammenhang mit Achleitners Hauptwerk Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, das er selbst als „Architekturführer“ bezeichnet, zu problematisieren, ebenso sein Rollenverständnis, das vor allem als Kritiker profiliert ist (vgl. zuletzt Kurrent [2010], S. 51 ff). Seine Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert als Grundlegung einer modernen Vorarlberger „Architekturgeschichte“ zu betrachten, wie in diesem Abschnitt angenommen, erscheint vor allem durch Achleitners Methode gerechtfertigt, seine Darstellung, ebenso wie die Auswahl der dokumentierten Bauten, historisch anzulegen und zu begründen.Weiterhin gibt Achleitners Rolle in der Architekturlehre, sein Lehrstuhl für Architekturgeschichte, den er 1983–1998 an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien innehatte, Anhaltspunkte dafür, ihn als Architekturhistoriker und sein Hauptwerk als „Architekturgeschichte“ anzusehen. Gegen eine solche Einordnung spricht vor allem der fehlende zeitliche Abstand zum Forschungsgegenstand, die durch den Anspruch, einen Architekturführer zu schaffen, begründete Methode, in Dokumentation und Interpretation der Bauten bis an die Gegenwart heranzureichen. Letztlich trägt die Zuweisung aus dem wissenschaftlichen Umfeld, der Rang, den sein Werk durch das wissenschaftliche Vakuum erhält, in dem es steht,

dazu bei, es zumindest in den Rang der „einzig verfügbaren“ Architekturgeschichte Vorarlbergs einzusetzen. Eine architekturgeschichtliche Dissertation zur ersten Generation der Vorarlberger Baukünstler, 2003 begonnen, die eine wesentliche Forschungslücke schließen sollte, konnte bedauerlicherweise nicht abgeschlossen werden. Neben Achleitners Werk, Bertschs Forschungsergebnissen, vor allem zur Vorarlberger Industriearchitektur, aber auch zur Architekturgeschichte des Landes im zwanzigsten Jahrhundert, und den Arbeiten regionaler Kunsthistoriker, vor allem Sagmeisters, sowie den angeführten Studien zu den Südtirolersiedlungen existieren Diplom- und Magisterarbeiten zum Thema (v.a. Dietrich, Mangold, Merz/Mätzler). Vgl. das Literaturverzeichnis der vorliegenden Studie. 15 Vgl. Banham 16 Lampugnani kommentiert diese implizite Präfiguration der Architekturgeschichtsschreibung, auf Deutschland bezogen, als „orthodoxe Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts“; in: Lampugnani (1992), S. 10. 17 Das Etikett „Vorarlberger Baukünstler“ legt in seiner Vermeidung des Begriffs „Architektur“ diesbezüglich bereits eine erste Spur. 18 Vgl. Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur?

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Zielen nicht näher bezeichneten) „eigenständigen und unverwechselbaren Entwicklung“19 der Vorarlberger Nachkriegsarchitektur, sondern „Randgruppen“20. Intellektuelle und Künstler stellt er damit als die neuen Tonangeber eines Wertesystems dar, in dem (Bau-)Kunst ihre soziale Rolle als „Bewegerin“ erhält. Große Teile der vorliegenden Arbeit werden sich mit der Frage auseinandersetzen, auf welches Ziel hin diese „Bewegung“ gerichtet ist. Neben der Scheidung, die Achleitner zwischen „Randgruppen“ und „Bürgertum/Oberschicht“ der Bauherrschaft trifft, zieht er eine zweite und ebenso prägnante soziale Trennlinie, diesmal auf der Produzentenseite des Vorarlberger Baugeschehens: diejenige zwischen Architekten und gegen sie „konkurrenzierenden“ Handwerkern.21 Es ist nicht nur ein Austriazismus, mit dem er diese Polarität sozialer Baukulturen feststellt, sondern auch ein spezifisch österreichischer Referenzhintergrund 22, der darin aufscheint. Es ist derjenige, den Adolf Loos in seinen Schriften vertreten hat, wenn er die Frage, wer denn nun den Ausdruck der Gegenwart gestalte, zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“ unterscheidet, ersteres dem Handwerk und zweiteres der Kunst zuordnet.23 Von Moos:

Randgruppen statt Oberschicht

Konkurrenz zwischen Architekten und Handwerkern

So verteidigte er z.B. zu Hochzeiten der Wiener Sezession das Handwerk und die Industrie [in ihrer Rolle als Schöpfer einer zeitgemäßen Ästhetik] gegenüber den Versuchen des Werkbunds, „Kunst“ in den Alltag der anonymen Güterproduktion zu bringen. Loos: „Sie sind es, weil noch kein unberufener sich als vormund in diesen werkstätten aufzuspielen versuchte.“24

Achleitners Implikationen lassen hinter dieser „Wiener Position“ denjenigen Zielhorizont erkennen, den er als Funktion von Architektur in ihrer Eigenschaft als reformatorisches Medium voraussetzt und seinen Werturteilen unterlegt. Von Moos hat diesen Zielhorizont für Sigfried Giedion „Die eigene Zeit und ihre Schwierigkeit, zu sich selbst zu finden“ genannt. Sein Kulturkampf galt dem „tragischen Erbe des neunzehnten Jahrhunderts“, dessen offizielle Kunst, dessen Kunstgewerbe und dessen Architektur, wie er meinte, auf weite Strecken im Widerspruch standen zum „Wesen“ ihrer Epoche, weil die künstlerischen und architektonischen Formen dieses „Wesen“ – um das Vokabular einer späteren Generation zu benutzen – ideologisch verschleierten. Ziel war die Gleichstimmung der Formen von Zivilisation und Kultur, von Technik und Kunst. Elemente dieser „verborgenen Einheit“ galt es unter den „Verschüttungen“ des „herrschenden Geschmacks“ hervorzuholen und der eigenen Zeit als Richtlinie künftiger Entwicklungen vor Augen zu führen...25 19 Achleitner (1980), S. 392 20 Achleitner (1980), S. 399 21 Ebd. 22 Dieser „österreichische“ Referenzhintergrund besitzt angelsächsische Wurzeln. So ist etwa Adolf Loos’ publizistisches ebenso wie sein architektonisches Werk dicht besetzt mit Verweisen auf englische und US-amerikanische Vorbilder. 23 Mit dieser Positionsbestimmung hat Loos, als Architekt sprechend, zu einer Kunstgegnerschaft der Architektur aufgerufen, die, da aus der Kunstdisziplin

Architektur heraus formuliert, nur eine „Erneuerung“ der Kunst selbst meinen kann, die sich am Handwerk zu orientieren hat. Ihr Ziel ist einerseits die Rekonstitution von Kunst als Sonderfall, mithin ihr Rückzug aus dem Alltag (Loos zufolge ist Architektur nur bei besonderen Bauaufgaben, dem Denkmal und dem Grabmal, „Kunst“), andererseits die Neukonstituierung von Architektur als Nichtkunst, als „Hintergrund“, wie Hermann Czech, als heutiger Vertreter der Loos’schen Haltung, formuliert. 24 Moos, S. 799

Gleichstimmung von Zivilisation und Kultur

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Mitte der 1960er Jahre beginnt Friedrich Achleitner in Vorarlberg ebenso wie im übrigen Österreich, Material für sein Lebenswerk Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert zu sammeln. Der Architekturhistoriker nimmt in diesem Prozeß neben seiner klassischen Rolle des distanzierten Beobachters und Chronisten, ähnlich wie bereits Giedion, die Rolle eines Förderers für sich in Anspruch, der die Gegenwartsentwicklung des dokumentierten Ereignisses aktiv mitgestaltet. Die untrennbare Allianz aus Architekturgeschichtsschreibung und Architekturproduktion gehört seither wesentlich zum Charakter des Vorarlberger Phänomens. Das Eingangskapitel erörterte den Umstand, daß Architektur nicht etwa eine „natürliche Eigenschaft“ von Bauwerken oder, in Summe, einer baulichen Landschaft ist, sondern eine akademisch geprägte Formkunst, die sich durch Bezugnahme ihrer Werke auf ein Kunstfeld, indiziert durch spezifische Ordnungen, rechtlich und sozial gesehen durch Etablierung eines Berufsstandes befugter Repräsentanten auszeichnet. Architekturgeschichte gehört zum festen Bestand dieser Kulturtechnik, deren Gesamtheit aufeinander bezogener Teile ebenda bereits als System Architektur bezeichnet wurde. Als etablierte wissenschaftliche Disziplin 26 schafft Architekturgeschichte die jeweils gültigen Wahrnehmungs- und Bewertungskonventionen zur Beschreibung und Bestimmung von Architektur und fixiert den Kanon der exemplarisch bedeutsamen Werke. Dieser Kanon prägt durch seine Vorbildfunktion ganz wesentlich die Ausbildung des Architekten 27, das Selbstverständnis des Berufsstandes, welches die Ausübung seiner Profession prägt, und die Rezeption zeitgenössischer Architekturen im standesinternen Fachdiskurs. Insbesondere für die Architekturentwicklung Vorarlbergs seit den 1960er Jahren hat über diese konstituierende Rolle hinaus, die Architekturgeschichte im akademischen Betrieb der Architektenausbildung einnimmt und Achleitner als Wiener Hochschullehrer maßgeblicher Vorarlberger Architekten verkörpert, dessen Einflußnahme „vor Ort“28 eine kaum zu quantifizierende, aber nichtsdestoweniger spürbare Rolle gespielt. In Gesprächen mit exponierten Architekten des Landes ist immer wieder von Gutachten29 Achleitners die Rede, die die „üblicherweise“ strittigen Baugenehmigungsverfahren durch Hinweis auf den kulturellen Wert des 25 Moos, S. 811 26 Zur Entwicklung von Architekturgeschichte als selbständiger Disziplin vgl. Anm. 4 27 Gunter Wratzfeld geht in unserem Gespräch ausdrücklich auf die Verpflichtung gegenüber der Bauhaus-Moderne ein, die sein Lehrer Roland Rainer seinen Studenten mitgegeben habe (GW: Z 139 ff). Wörtlich in Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?, Anm. 45 28 Wratzfeld erwähnt etwa die Beteiligung Achleitners an der Jury des Wettbewerbs für die Bregenzer Achsiedlung (GW: Z 506 ff). In Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert ist die Ach-

siedlung, als größter Sozialer Wohnbau Vorarlbergs der Nachkriegszeit, im unmittelbaren Anschluß an die Bregenzer Südtirolersiedlung veröffentlicht. 29 Vgl. die Gespräche mit Norbert Mittersteiner (RNM: Z 838 ff) und Helmut Kuess (HK: Z 102 ff) 30 Schall (S. 121) dokumentiert etwa Achleitners Vortrag bei den Wäldertagen in Egg 1973 sowie dessen Rezeption in Vorarlberger Medien. Die lange und polarisierende Nachwirkung der öffentlichen Auftritte Achleitners wurde zuletzt im Rahmen des Montafoner Architekturstreits deutlich. Im Rahmen der hier versammelten Dokumente in: Walter Fink (2005), der sich auf Achleitner in dessen Rolle als „Architektur-

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Streitgegenstandes positiv beeinflussen. Er kann in solchen Auseinandersetzungen seine Autorität über den Architekturbegriff der Provinzialität lokaler Behördenvertreter entgegenstellen. Noch heute wirken Achleitners Vorträge30, in denen er die Ästhetik moderner Bauten propagiert und gegen rustikales Bauen polemisiert, in der Einschätzung Zeitgenössischer Architektur nach, wie sie sich für die nichtfachliche Öffentlichkeit darstellt. Auch sein Nachfolger im Amt des österreichischen „Architekturpapstes“31, Otto Kapfinger32, das dieser spätestens als Autor des zweiten Vorarlberger Architekturführers angetreten hat, beschränkt sich nicht auf kritische Rezeption und historische Einordnung, sondern weitet mit Kommentaren zur aktuellen architektonischen Entwicklung Vorarlbergs und „Impulsreferaten“33 zu deren Zukunft die Doppelrolle des Architekturkritikers und -historikers zu der eines Moderators aus. Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert ist ein unabgeschlossenes, auf drei Bände angelegtes Werk, das in Band eins und zwei die einzelnen Bundesländer, im dritten Band, selbst wiederum dreibändig angelegt, die Hauptstadt Wien behandelt. Der Architekturbestand jedes Bundeslandes wird zunächst durch textliche Würdigung nach Bautenkategorien, die für das gesamte Werk einheitlich sind, anschließend nach Orten gegliedert, in Einzelbauten erfaßt, die durch Angabe von Architekt und Baujahr gekennzeichnet sind. Diese vom Autor gewählte Systematik erschließt sich aus dem historischen Kontext ihres Bearbeitungszeitraums. Mit seinen Forschungsreisen, Architektengesprächen und Bautenbegehungen führt Achleitner seit den 1960er Jahren für das infolge des Ersten Weltkriegs auf einen Bruchteil seiner ursprünglichen Fläche verkleinerte Österreich die erste Bestandsaufnahme und „Zählung“ durch. Er zieht für die Zweite Republik in ihrem Selbstverständnis als Kulturnation eine Bilanz der dem Land verbliebenen architekturrelevanten Bauten und stellt den aktuellen Vitalitätsgrad seiner architektonischen Kultur fest. Das entstehende österreichweite Register führt erstmals einen erweiterten Blick ein, der die Selbstbezogenheit und Wahrnehmungsverengung der papst“ beruft, oder den Leserbrief Wachters, vgl. Anm. 8 31 Walter Fink (2005) 32 „Otto Kapfinger ist der Architekturkritiker und -theoretiker und Zusammensteller für Vorarlberg. Er hat die letzten Jahre die Szene in Vorarlberg begleitet, kommentiert und verarbeitet.“ Moderator Rudolf Sagmeister: Psychogramm des Bauens, Öffentliches Podiumsgespräch in der Ausstellung Konstruktive Provokation im Kunsthaus Bregenz am 08.03.2005. Weitere Teilnehmer: Hugo Dworzak (Architekt), Hans Haid (Volkskundler), Bernhard Tschofen (Kulturwissenschaftler). Transkript einer eigenen Tonaufnahme

Otto Kapfinger, 1949 im niederösterreichischen St. Pölten geboren, gründete 1970 noch während seines Architekturstudiums an der Technischen Hochschule Wien zusammen mit Angela Hareiter und Adolf Krischanitz die Architektengruppe Missing Link, die bis 1980 bestand. Seit seinen regelmäßigen Publikationen in der Tageszeitung Die Presse in den 1980er Jahren tritt er als Architekturkritiker in Erscheinung. Begonnen mit dem Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980 schreibt er das nationale Architekturregister Achleitners in jeweils auf ein Bundesland bezogenen Einzelbänden fort.

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108 Architekturgeschichtsschreibung als Modernisierungsbaustein

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Bundesländer aufbricht. Im nationalen Maßstab erhält Achleitners Werk damit den Rang eines Modernisierungsbausteins der Nachkriegszeit34, der Qualitätsreferenzen und konkrete Bestandsdaten als Basis der Kultur- und Wohlstandsentwicklung Österreichs liefert.35 Wie bereits festgestellt, ist Achleitners Architekturgeschichte selektive „Qualitätsdokumentation“ und nicht, auch nicht repräsentativ, Abbild der baulichen Landschaft in ihrer quantitativen und funktionellen Zusammensetzung. Ihrem Volumen nach prägende Bauten wie Hochhäuser, Industriegebäude, Bahnanlagen, landwirtschaftliche Bauten, Hotelbauten etc. fehlen im „Achleitner“ streckenweise völlig. Andere, für das Gesamtbild unerhebliche Bauten nehmen dagegen in seinem Bild des Vorarlberger Architekturbestandes breiten Raum ein. Vor allem die Bewertung der Einfamilienhäuser fällt auf. Vermutlich wäre es möglich, allein mit dem Kapitel „Einfamilienhäuser“ eine informative Vorarlberger Baugeschichte zu schreiben. Dieses Thema Nr. 1 im Ländle zeigt nicht nur eine erstaunliche Vielfalt, sondern hat auch (im Gegensatz zu anderen Bundesländern) zu einer eigenen Entwicklung geführt, sodaß man ohne Übertreibung von einer regionalen Architektur sprechen kann, die sich immer mehr ihrer Eigengesetzlichkeit und Tradition bewußt wird, ohne – und das ist ebenso bedeutend – vordergründig traditionalistisch zu sein.36

Bedeutung des Einfamilienhauses

Die offensichtliche Überbewertung der Einfamilienhäuser gegenüber den tatsächlichen baulichen Dominanten Vorarlbergs erschließt sich aus der Rolle der Bautenkategorien als Repräsentanten gesellschaftlicher Initiativkräfte. Achleitners Auswahl und Einordnung der dokumentierten Werke ist gleichzeitig als Botschaft zum Veränderungsbedarf der kulturellen Verhältnisse zu lesen, ein Subtext, der Achleitners Architekturbegriff seine politische Dimension verleiht.37 33 Kapfinger (2003) 34 Hans Zeisels Bestimmung von Soziographie aus ihrer historischen Entstehung als Voraussetzung staatlicher Entwicklungspolitik (vgl. Jahoda /Lazarsfeld/Zeisel, S. 113 ff) erlaubt, auf Achleitners Werk übertragen, dieses als folgenreiche Beschreibung eines Potentials innerhalb eines Bündels anderer Potentiale zu betrachten. Sein Selektionsakt, die Dokumentation ausgewählter Beispiele, ist es, der auf Verwaltungsebene staatliche Förderung oder Schutzanstrengungen auf ebendiese Exemplare lenkt. Achleitner bestätigt dies rückblickend in Achleitner (2010), vgl. Anm. 5. Der Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf befaßt sich u.a. mit diesem Effekt, der auf die Politik handlungsleitend wirkt und bis in die Ebene der Gesetzgebung reicht. 35 „Das Achleitner-Archiv ist das bedeutendste Archiv der österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Das Archiv wurde 1999 von der Stadt Wien angekauft und dem Architekturzentrum Wien zur öffentlichen Aufbereitung und wissenschaftlichen Weiterbearbeitung übergeben. (...) Die zugeordneten Materialsammlungen setzen zum Großteil in den sechzi-

ger Jahren des 20. Jh. ein und werden bis dato fortgesetzt. (...) Bestand: 22.340 Karteikarten Objekte 2.690 Architektenkarteikarten 66.500 Foto-Negative 37.800 Diapositive 13.800 Foto-Abzüge 570 Plandarstellungen 250 Begehungspläne ...“ www.azw.at: Achleitner-Archiv, Stand 05.08.2010 36 Achleitner (1980), S. 397; 37 Achleitner steht mit dieser Position nicht allein. Ernst Hiesmayr, auch er Wiener Hochschullehrer heute tonangebender Vorarlberger Architekten der zweiten Baukünstlergeneration, berichtet von seiner Jurierung des Ersten Bauherrenpreises für Vorarlberger Einfamilienhäuser 1987: „Die Identität der Bewohner, meist aus dem Mittelstand, mit ihrem offenen Wohngefüge, war für mich ein ganz großes Erlebnis. Am Abend befiel mich eine Euphorie wie selten in meinem Leben. Die Euphorie stand unter dem Tenor, es gibt Hoffnung auf einen Ausbruch aus der Konvention.“ Ernst Hiesmayr (1991/3), S. 173 38 Purin (2004), S. 15

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Vorarlberg, dessen bauliche Landschaft sich nach dem Zweiten Weltkrieg „frei“ von einer regionalen Architekturmoderne aus den 1920er Jahren zeigt und damit bezüglich (gescheiterter) sozialistisch konnotierter Gesellschaftsutopien ein unbeschriebenes Blatt ist, kann unter den österreichischen Bundesländern am ehesten in die Rolle eines nationalen Zukunftslabors eingesetzt werden, das die Wirksamkeit von Architektur in ihrer Reformfunktion zu erweisen hat. Vor allem im Hinblick auf diese Laborsituation, die Achleitner konstituiert, indem er Vorarlbergs Kulturentwicklung unter den österreichischen Bundesländern eine Spitzenposition zuweist, als kultur- und sozialpolitisches Programm also, und nicht im Rahmen kunsthistorischer Kategorien, definiert Achleitner – und seine Nachfolger –, was in Vorarlbergs Baugeschehen als Architektur Bedeutsamkeit und damit als Leitkultur gesellschaftliche Durchsetzungskraft erhalten soll. Die Begriffe „Vorarlberger Baukunst“ ebenso wie ihre personelle Verkörperung im „Baukünstler“ sind unter diesen Voraussetzungen vor allem gegenüber denjenigen Konventionen zu profilieren, die bisher der Gestaltungshoheit traditioneller Eliten unterworfen waren: Der Kopplung von Wohlstand und politischem ebenso wie kulturellem Einfluß innerhalb der Auftraggeberschaft, dem Einflußbereich des Handwerks als dem traditionellen Verwalter des Baugeschehens und seiner Kultur, gegenüber dem Staat und seiner Bauverwaltung, die diese Traditionspflege fördert, sowie, auf den Berufsstand der Architekten bezogen, gegenüber den „alten Platzhirschen“38 unter den einheimischen Architekten, ihrer Standesvertretung, und schließlich, auf die Zukunft gerichtet, innerhalb der Hochschulausbildung des Architektennachwuchses. Wir haben uns bis hierher auf die Person Friedrich Achleitner konzentriert, um an dem Phänomen „Vorarlberger Baukunst“ denjenigen Aspekt herauszustellen, der es als Produkt eines Eingriffs von außen39 erscheinen läßt, als Interpretation einer endemischen Situation durch eine Brille, die geprägt ist durch die sozialreformerische Funktionalisierung des Mediums Architektur. Diese Funktionalisierung wird als Implikation eines Begriffs von Architektur verstanden, der im Zuge ihrer Neudefinition als Ausdruck der industrialisierten Moderne formuliert, im Verlauf der 1920er Jahre in Programmen fixiert und zu diesem Zweck konstituierten Institutionen zur Verbreitung anvertraut worden ist. 39 Kapfinger befaßt sich mit der Rezeptionsgeschichte der Vorarlberger Architektenszene als „Bauschule (...) die nie eine war“ (in: Kapfinger [2003], S. 9). Mit dieser Titelwahl profiliert er seine eigene Position gegen diejenige Achleitners. Zu Achleitners Begriff einer zweiten Vorarlberger „Bauschule“ vgl. Abschnitt Land und Ländle, Anm. 69, dieses Kapitels.

An Kapfingers Position fällt sein durchgängiger Versuch auf, das Vorarlberger Architekturphänomen ethnologisch, als Folgeerscheinung alemannischer Stammeseigenschaften, der „sprichwörtlichen Mentalität“ seiner Angehörigen, speziell ihrer „Tugenden und Tüchtigkeiten“, zu deuten. Kapfinger (1999), S. 5 und 6; ebenso in Kapfinger (1992), S. 6; Kapfinger (2003), S. 17, u.a.m.

Zukunftslabor Vorarlberg

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Pädagogik des gesellschaftlichen Erziehungsprozesses

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Achleitner ist es, der Vorarlberg zum „Labor“ erklärt und das Experiment formuliert, das dort stattfinden soll. Die Vorarlberger Baukünstler werden hierin zu Katalysatoren einer gesellschaftlichen Versuchsanordnung der Moderne. Der Inhalt des Experiments, sein Entwicklungsziel, ist die Gleichstimmung von Zivilisation und Kultur durch Kulturalisierung dieser Zivilisation. Das anonyme Industrieprodukt, die industrialisierte Produktionsweise und die industrielle Arbeitsform sollen (endlich) ihr Pendant in einer Lebensform erhalten, die Zeit soll in einer neuen Einheit zu sich selbst finden. Die Methode des Experiments, das, nachdem es als gesellschaftlicher Erziehungsprozeß formuliert ist, auch als seine „Pädagogik“ zu bezeichnen wäre, setzt voraus, möglichst große Bevölkerungsanteile zu erreichen. Das Mittel hierzu ist, Wohnbau zu ästhetisieren, die Gesellschaft, vor allem deren neu zu erreichende untere Schichten40, in ästhetisierte Wohnumgebungen zu versetzen, deren Räume, dingliche Formen und Oberflächen ebendiese Inhalte vermitteln, indem sie sie dem Körper einschreiben, zu inkorporiertem Erfahrungswissen werden lassen, mit dessen Hilfe die Erziehung schließlich zur Selbsterziehung werden kann.41 Mit dieser Rekapitulation des gesellschaftlichen Architekturbegriffs der Moderne, wie Achleitner ihn seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert unterlegt hat, ist jedoch unsere Eingangsfrage „Wer oder was sind die Vorarlberger Baukünstler?“ erst teilweise, nämlich in bezug auf ihre Indienstnahme zugunsten des Experiments Moderne, beantwortet. Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, solche Quellen zu versammeln, die die Purin-Generation und ihr Umfeld vor ihrer Historisierung zu beschreiben imstande sind. Wir schließen zu diesem Zweck nochmals an diejenige Voraussetzung an, für die die Vorarlberger Südtirolersiedlungen innerhalb der Architekturentwicklung des Landes stehen, als Voraussetzung, die die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs prägt und diejenige Situation schafft, in die Hans Purin und seine Altersgenossen mit dem Beginn ihrer Berufslaufbahn eintreten. Die Politik des Nationalsozialismus hatte in Österreich nicht nur materielle Bauwerke, die für Vorarlberg zu den ausgedehntesten seit den Fabrik40 Moos dokumentiert an Sigfried Giedions Zürcher Wohnbedarf, daß noch im Lauf der 1930er Jahre die Avantgarde der Architekturmoderne erkennen mußte, daß jenseits des intellektuellen, gehobenen Mittelstandes, der von jeher ihre soziale Trägerschicht gewesen war, alle kulturgestützten Reformutopien fruchtlos geblieben waren. „Die Moderne blieb – im Gegensatz zu ihrem Programm – vorläufig eine Sache der Elite.“ (S. 795) Zu den „Wohnausstellungen“ der 1920er Jahre vgl. Abschnitt Reform des Handwerks: Möbel und Raum, Kapitel Handwerk 41 Für eine systematische Untersuchung solcher Phänomene und ihrer Interpretation als subtiler For-

men von Machtausübung steht der französische Soziologe Michel Foucault. 42 „Nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich sind die Bestimmungen der österreichischen Bauordnungen und damit auch der Vorarlberger Landesbauordnung über die Zuständigkeit der Baubehörden durch die Verordnung über baupolizeiliche Zuständigkeiten in den Reichsgauen der Ostmark, DRGBl. I S. 485/1941, mit Wirkung vom 1. Oktober 1941 aufgehoben worden. Durch diese mit Gesetzeskraft ausgestattete Verordnung waren auch die Aufgaben der gemeindlichen Baupolizeibehörden auf die Landräte übergegangen.“ Amt der Vorarlberger Landesregierung, Franz Vögel (Hg.), 1974, S. 12

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anlagen des neunzehnten Jahrhunderts gehören, sowie dominante Institutionen für den Wohnbau hinterlassen, sondern auch das Baurecht der österreichischen Bundesländer, vor allem aber seine Durchführungsbestimmung im „Baupolizeirecht“ durch deutsches Baurecht ersetzt.42 Der prägnante Unterschied zwischen beiden nationalen Rechtssystemen, welcher hier von Interesse ist, ist der jeweilige Grad der Zentralisierung von Entscheidungsgewalt und damit die Positionierung der effektiven Gestaltungsmacht für die bauliche Landschaft innerhalb der Hierarchie des staatlichen Verwaltungsapparats. Im Deutschen Reich lag diese Gestaltungsmacht, als Genehmigungsautorität für Wohnhäuser geringer Größe, bei den Landratsämtern43 (vergleichbar den Bezirkshauptmannschaften der österreichischen Verwaltungshierarchie), im Vorarlberger Baurecht dagegen bei den Gemeinden, personifiziert durch ihre Bürgermeister. 1948 schafft die Vorarlberger Landesregierung „übersichtliche Klarheit“44 in einer Situation, die seit 1945 durch das Nebeneinander von „reichsrechtlichen Vorschriften gleichzeitig mit solchen des Landes auf dem Gebiete der Baupolizei“45 bestanden hatte, und setzt die Vorarlberger Landesbauordnung in ihrer Form von 1887 wieder in Wirksamkeit.

Nationale Rechtssysteme

Ausdrücklich verknüpft der Gesetzgeber mit diesem Akt eine gesellschaftliche Verantwortung, indem er ihn als Demokratisierung des Rechts auf Kulturausübung interpretiert. Dementsprechend leitet er den veröffentlichten Text der Verordnung durch einen Appell ein, der in unserer Darstellung als konstituierender Text für die Wiederaufbauzeit gelten soll. Durch die Rückübertragung eines bedeutenden Teiles der baupolizeilichen Zuständigkeiten auf die Gemeinden ist bewußt die Beurteilung der baulichen Gestaltung wieder mehr in das unmittelbare Empfinden des Volkes gerückt worden. Leitgedanke hierfür war das berechtigte Vertrauen, daß gleich wie in vorausgegangenen Zeiten auch in Zukunft das Volk selbst am besten eine volks- und landschaftsverbundene Bauweise als kulturelles Erbe seiner Vorfahren treu verwalten wird.46

Gunter Wratzfelds Befund, die Konfrontation zwischen der ersten Architektengeneration nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vorarlberger Bauverwaltung sei vor allem durch traditionalistische Formpräferenzen auf Behördenseite geprägt gewesen, die eine Kontinuität der NS-Ideologie in die Nachkriegszeit hinein schufen47, stellt sich im Licht dieses Textes differenzierter dar: Mag auch seine Feststellung für die Verwaltungsebene der Bezirkshauptmannschaften zutreffen, so wird jedoch ebendiese durch die Wiedereinführung 43 Diese Zuordnung der Genehmigungsautorität besteht im heutigen Deutschland fort. Gemeindliche „Ortsbildsatzungen“ verschaffen jedoch gegenwärtig denjenigen Gemeinden, die solche erlassen, im Baugenehmigungsverfahren eine Vorrangstellung gegenüber den Landratsämtern und damit eine Genehmigungsautorität Erster Instanz. 44 Amt der Vorarlberger Landesregierung, Franz Vögel (Hg.), 1974, S. 12

45 Ebd. Genaueres findet sich im geschichtlichen Überblick der Einleitung zum Vorarlberger Baugesetz von 1974; Amt der Vorarlberger Landesregierung, Franz Vögel (Hg.), 1974, S. 12 46 Amt der Vorarlberger Landesregierung, Helmut Pontesegger (Hg.), 1948, S. 5 f 47 GW: Z 284 ff 48 Vgl. Krammer/Scheer

Bezirkshauptmannschaft wird Zweite Instanz im Genehmigungsverfahren

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Souveränität des ländlichen Raumes

Institutionalisierung des Selbstbaus

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der Vorarlberger Landesbauordnung in ihrem Einfluß in die zweite Reihe zurückgedrängt, indem ihr die Gemeinden und ihre Bürgermeister als Erste Instanz im Baugenehmigungsverfahren erneut vorgeordnet werden. Vorarlberg wird in diesem staatlichen Dezentralisierungsakt, der die kulturelle Gestaltungsmacht in Form von Baugenehmigungsrecht der Souveränität der ländlichen Gemeinden und damit der breiten Bevölkerung unterstellt, die wiederum geprägt ist durch den Bauern- und den Handwerkerstand, als ländliches Milieu bestätigt. Neben dieser wiedereingesetzten Rechtstradition ist das Bauen in diesem ländlichen Milieu durch eine praxische Tradition gekennzeichnet, den Selbstbau. Solange die ländliche Gesellschaft als traditionelle Agrargesellschaft „funktioniert“, in der Bauern und Handwerker in symbiotischer Wirtschaftsbeziehung zusammenleben48, ist ländliches Bauen Bestandteil der Selbstversorgung und als solches ein zentrales Medium der Gemeinschaftspflege.49 Die Rekonstitution der gemeindlichen Rechtsautorität als lokale Baupolizei vervollständigt diese Kompetenz der ländlichen Selbstverwaltung ein letztes Mal innerhalb der Vorarlberger Moderne zu einer sehr weitgehenden Souveränität des ländlichen Raumes, wie sie gegenwärtig nur noch die Verfaßtheit des benachbarten Schweizer Staates in der Rechtsposition, die er den Gemeinden innerhalb der Eidgenossenschaft zuweist, lebendig erhält.50 Gleichzeitig wird in diesem Vorgang deutlich, daß diese Souveränität keine natürliche, sondern eine staatlicherseits gewährte, damit eine gegebenenfalls einschränkbare ist. Der Selbstbau als individualisierte selbstverständliche Kompetenz der traditionell unspezialisierten ländlichen Gesellschaft findet anläßlich herausragender Ereignisse zu einer Bündelung durch Institutionalisierung: in der „Fronarbeit“51, traditionell vor allem anläßlich dörflicher Kirchenneubauten sowie zur Schaffung von Infrastruktur und zur Behebung von Schäden im Gefolge von Naturkatastrophen eingesetzt, sowie, hier bereits politisch konnotiert, im gemeinschaftlichen Eigenheimbau der Siedlerbewegung, die in Vorarlberg anläßlich der Errichtung von Randsiedlungen in den 1920er Jahren in Erscheinung tritt. Es wurde bereits erwähnt, daß diese das konservative politische Gegenmodell Vorarlbergs zu den „sozialistischen“ Wiener Gemeindebauten der Ersten Republik darstellen.52 In dieses gesellschaftliche Umfeld treten Hans Purin und seine Altersgenossen, aus dem Architekturstudium in Wien oder Graz zurückkehrend, ein. Diejenigen unter ihnen, auf denen später Achleitners Blick ruhen und sie, alle-

49 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 50 Aus der Sicht von Avenir Suisse ist die Gemeindeautonomie ein zentrales Modernisierungshindernis

auf dem Weg zu ökonomischer Konkurrenzfähigkeit der Schweiz im globalen Maßstab. 51 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, Anm. 41

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samt „Roland-Rainer-Schüler“ 53, als „Schrittmacher“ 54 entdecken wird (Hans Purin, Rudolf Wäger, Gunter Wratzfeld 55), sind hinsichtlich ihres Wissensprofils Doppelexistenzen56 aus Handwerkern und Planern, näher am Berufsbild des Zimmerer- bzw. Maurermeisters57, der mit seiner Meisterprüfung auch das Recht zu planen erwirbt, als an demjenigen Selbstbild des Architekten, wie es ihre Folgegeneration vertreten wird, in deren typischem Bildungs- und Erfahrungsspektrum das handwerkliche Selbstverständnis fehlt. Hans Purins Darstellung seines beruflichen Werdegangs ist so häufig erzählt58, daß sie den Rang eines weiteren konstituierenden Textes für die Architekturentwicklung der Vorarlberger Nachkriegszeit für sich beanspruchen darf. Darin schildert er, daß ebendieses „baumeisterliche“ Wissensprofil ein folgenreiches Abgrenzungsmerkmal gegenüber den „Platzhirschen“, den etablierten Architekten, darstellt, die es demnach im Lande gab, auch wenn sie bisher in keiner Architekturgeschichte Vorarlbergs namentlich gemacht werden. Folgenreich ist es vor allem bezüglich der Bauaufgaben, die Purin zugänglich sind gegenüber jenen, die unzugänglich bleiben: Zu letzterer Kategorie gehören der Soziale Wohnungsbau, fest in der Hand der Vogewosi 59, sowie die öffentlichen Bau- und klassischen Architektenaufgaben, worunter insbesondere der Schulbau hervorsticht.60 52 Dietrich, vgl. vorhergehender Abschnitt , Anm. 22 53 Achleitner (1980), S. 399; Achleitners Attribut „Roland-Rainer-Schüler“, mit er seine Gruppierung begründet, steht auf seiten der Gruppierten ein unterschiedlicher Grad von Identifikation mit dem „Meister“ gegenüber. Während in Gunter Wratzfelds beruflicher Identität die Figur Rainer stark präsent ist (GW: Z 141 ff), gibt Rudolf Wäger seinem zweisemestrigen Studium als Gasthörer bei Rainer untergeordneten Rang und teilt mit, „daß sich das für mich nicht so lohnte. Dort erwartete ich mir mehr.“ Mangold, S. 92 54 Ebd. 55 In seinem Beitrag über Vorarlberg „Vernunft, Handwerk, soziales Engagement“ fügt Achleitner dem Dreigestirn Purin, Wäger, Wratzfeld noch Jakob Albrecht hinzu. Achleitner (1982), S. 210 56 Ein Begriff Josef Pergers 57 Dem Zimmererberuf entstammen u.a. Rudolf Wäger und Leopold Kaufmann, dem Maurerberuf Hans Purin und Gunter Wratzfeld, in der Nachfolgegeneration Norbert Mittersteiner. Hans Purin ist in unserem Gespräch ausführlich auf seine handwerkliche Grundbildung eingegangen: „Ich hab zwar in einer Zimmerei auch gearbeitet, aber (...) ich hab Maurerei gelernt. Und war bei einem Baumeister, die haben auch eine Zimmerei gehabt. Und hab immer gern auch in der Zimmerei, aber ich hab meine Lehre und meine Prüfungen im Maurerfach gemacht.“ HP: Z 790 ff 58 Veröffentlicht sind Hans Purins Erzählungen seines beruflichen Werdegangs etwa in: Füßl (1992), S. 11, und Purin (2004).

59 Dieser, nach dem Wegfall des ideologisierten Architekturprogramms im nationalsozialistischen Staatsapparat nach Purins Einschätzung formal verkümmernd. Vgl. Purin (2004), S. 15. Purin bringt seine Wertschätzung der Südtirolersiedlungen und ihrer Wohnqualitäten, aus eigener Erfahrung berichtet, in seinem Gespräch mit Füßl (1992, S. 15) zum Ausdruck. Hierin ist zugleich dokumentiert, daß das Wohnerlebnis, das die Südtirolersiedlungen „vermitteln“, zum positiv besetzten, inkorporierten Erfahrungswissen zentraler Protagonisten der Vorarlberger Architektenszene und als solches zum Referenzbestand ihrer Architektur gehört. Inwieweit sich in diesem Architekturwissen der Umstand manifestiert, daß es sich beim Bauherrn der Südtirolersiedlungen um Organe eines totalitären Staates und bei dieser Architektur um ideologisch hochgradig aufgeladene Programme handelt (wie Höhns deutlich macht), Programme, denen ein dezidierter Erziehungsanspruch hin zu einem staatlicherseits formulierten Menschenbild unterlegt ist, ist eine Frage im thematischen Umfeld von „Architektur und Staat“, die bis auf weiteres offen bleiben muß. 60 Die exponierten Planerpersönlichkeiten aus Purins Generation könnten also anhand ihrer Spezialisierung auf Sektoren des Baugeschehens in die Wohnhausplaner Purin und Wäger (bei beiden tritt in unterschiedlichem Ausmaß der Sakralbau hinzu) und die durch Einbezug in öffentliche Bauaufgaben näher am modernen Architektenprofil tätigen Kaufmann, Albrecht, Sillaber/Fohn, Wratzfeld u.a. gruppiert werden.

Hans Purins Geschichte

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Beruf wird Stand

Die Frage der Zugehörigkeit zum Berufsstand der Architekten, verknüpft mit der Zuständigkeit für bestimmte Planungsaufgaben, drängt sich der Generation Purins insofern auf, als das Ereignis der Architektenkammergründung in ihre Zeit fällt. „Beruf wird Stand“61, die mit dieser staatlich gesetzten Form der Professionalisierung als Institutionalisierung verbundene Tendenz betont vor allem die akademisch vermittelten Ausbildungsgrundlagen des neuen Berufsstandes. Ein Abrücken vom Handwerk ist die Folge, ebenso eine implizite Solidarisierung mit dem Staat und seinen Entwicklungszielen vor allem insofern, als der Staat die dem Architektenstand vorbehaltenen Privilegien gewährt.62

Reform des Handwerks

Wenn hier Akademisierung mit „Abrücken vom Handwerk“ gleichgesetzt wird, dann soll das Anlaß sein, eine Eigenart der Beziehung zum Handwerk zu erwähnen, die Purin und Wäger in ihren Selbstauskünften wiederholt anführen: „Die haben ihre Häuser gemauert und haben ihre Hallen betoniert. Zimmerer.“63 Das Handwerk habe sich in der Nachkriegszeit so weit von seinen Wurzeln im eigenen Material entfernt, daß es erst wieder dorthin, zum Eigenen, zurückgeführt werden mußte, um als Partner des Planers brauchbar zu sein. Die Beziehung zum Handwerk, in Zusammenschau der Doppelexistenzen, die die Planer selbst verkörpern mit dem Befund eines Traditionsverlustes im Handwerk, zeigt sich als Wissenstransfer in einem Planerhabitus des Voranschreitens, insbesondere auf dem Feld der Konstruktion: Der Planer fordert das Handwerk in seinen handwerksgerechten Konstruktionen zu Spitzenleistungen auf dessen Feld heraus.64 Purins erfolgreicher Versuch, Rohbau und Ausbau zu vereinen, dem Zimmermann Tischlergenauigkeit abzufordern, um Zimmertüren – ohne Stock – direkt am konstruktiven Skelett anschlagen zu können65, Wägers Abmagerung jenes konstruktiven Skeletts auf unglaublich zart erscheinende Pfostenquerschnitte von acht mal acht Zentimetern66, setzen architektonische Qualitätsmarken auf dem Feld des Handwerks selbst, im ingenieurnahen Konstruktionsmetier des Handwerkers.67 Die Voraussetzung 61 Der Beginn der Pflichtmitgliedschaft in der Architektenkammer fällt mit dem Beginn der Berufspraxis der Purin-Generation zusammen und stellte für diese ein kostspieliges Hindernis dar. Damit stellt sich der Kampf gegen den Deutungsund Verwaltungsanspruch der Kammer als generationsspezifischer dar. Der Architekt und Hochschullehrer Friedrich Kurrent hat das Ereignis und seine Konsequenzen kommentiert: „Seit 1957 wurde die Architektenkammer zur Pflichtvereinigung für Architekten. Seither ist Architekt (orig. in Versalien) kein Beruf mehr, sondern Stand. Die standeseigenen und standespolitischen Themen wurden somit der alten ,Zentralvereinigung der Architekten‘ der ,ZV‘ weggenommen.“ In: Zur Gründungsgeschichte der Österreichischen Gesellschaft für Architektur; www.oegfa.at, Stand 23.07.2010

62 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 63 HP: Z 604 ff; ähnlich äußert sich Rudolf Wäger in: Mangold, S. 92 64 Rudolf Wäger teilt mit, daß hierfür zunächst eine Rekonstruktion zwischenzeitlich verlorengegangenen Wissens im Umgang mit Holz erforderlich gewesen sei. Gespräch mit Marina Mangold, S. 92/93 65 So etwa in der Halde-Siedlung in Bludenz. 66 So etwa in der 1977/78 errichteten Reihenhaussiedlung Reichenaustraße 96–100 in Lustenau. Vgl. Psychogramme des Bauens, Programm der Dialogführung Architektur in Vorarlberg am 8. Juli 2005 mit Robert Fabach, raumhochrosen 67 Gleichzeitig stellt dieser Vorgang eine Umdeutung des Wissenskonvoluts der handwerklichen Tradition dar. Die „Konstruktion“ wird nun selbst Formträger.

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zu einer solcherart definierten Reform des Handwerks bietet diejenige Kompetenz, die Purin und seine Altersgenossen noch im Wissensspektrum einer einzigen Person vereinen, die Folgegeneration jedoch in drei und mehr spezialisierte Berufe aufsplitten wird.68 Das Stichwort Technologie gibt Gelegenheit, einige „zivilisatorische“ Tendenzen anzuführen, die das Zeitbild der Purin-Generation prägen. Es sind technologische Innovationen im Produktions-, Mobilitäts- und Kommunikationsbereich, die den steigenden individuellen Wohlstand der Nachkriegsgesellschaft mit Geräten unterfüttern und zur Entgrenzung und Vermischung bisher aufrechterhaltener traditioneller Territorien führen. Die Stadtflucht der städtischen, die die Landflucht der ländlichen, aus der mechanisierten Landwirtschaft zunehmend herausfallenden Bevölkerung ablöst, ist vor dem Hintergrund steigenden allgemeinen Wohlstands ursächlich mit der Technisierung der Lebensformen und der Ausdifferenzierung neuer Lebensstile im Verlauf der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs verbunden.69 Aus heutiger Sicht archaisch erscheinende Praktiken einer Agrargesellschaft, in der die Zugtiere gerade erst von Traktoren abgelöst werden70, müssen also als Gegenbild ebenso in das Umfeld der Purin-Generation und der technizistischen Sachlichkeit ihrer Wohnhäuser hineinprojiziert werden wie archaisch erscheinende Alltagsgegenstände, etwa die laubsackgepolsterten Betten in den Interieurs des ländlichen Vorarlberg jener Zeit. Sagmeister berichtet, daß die Mehrzahl der Raiffeisenbankdirektoren des Bregenzerwaldes noch in ihrer Jugend, bis weit in die Nachkriegszeit, allnächtlich auf Buchenlaub schliefen.71 Purin und seine Altersgenossen, selbst Randgruppe innerhalb der neu institutionalisierten Architektenschaft ihrer Zeit, finden ihr Gegenüber im intellektuellen Milieu der Vorarlberger Gesellschaft72, das sie sich durch ihre Konzentration auf kostensparende Konzepte als Bauherrenschicht erschließen. Achleitner findet in deren Kulturausdruck eine Bestätigung ihrer sozialen Einheitlichkeit: 68 Vor allem im Licht von Wratzfelds Wahrnehmung der Situation der 1960er Jahre (GW: Z 571 ff), das Handwerk als Technologieträger und insofern auf der Höhe der Zeit befindliche Institution zu sehen, wobei er das Kaufmann Holzbauwerk im Bregenzerwald an die Stelle eines handwerksinternen Fortschrittsmotors setzt, wird die Romantisierung deutlich, die den Handwerksbegriff der Folgegeneration kennzeichnet. Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz 69 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 70 Krammer/Scheer dokumentieren den „Ersatz tierischer durch mechanische Zugkraft in der österreichischen Landwirtschaft“ durch statistische Angaben zum Anstieg der Traktorenanzahl im Vergleich zu dem der landwirtschaftlichen Zugtiere. Während 1953 noch zwölfmal mehr Zugtiere als Traktoren einge-

setzt waren, war 1962 etwa ein Gleichstand erreicht worden. 1972 schließlich hatte sich das Verhältnis umgekehrt. Nun war die Zugtieranzahl auf ein Fünftel des Standes von 1953 reduziert, die Traktorenanzahl auf das Achtfache des Standes von 1953 gesteigert worden. S. 111 71 Sagmeisters Befund entstand in Gesprächen anläßlich einer Ausstellung zum Bauen und Wohnen in Vorarlberg seit dem Mittelalter, veranstaltet von den regionalen Raiffeisenbanken. Mit Dank an Rudolf Sagmeister für die zeitliche Präzisierung „50 oder 60er Jahre“, mitgeteilt am 19.01.2011. Vgl. auch Sagmeister (1987), Abb. 19–21 72 Purin grenzt 1991 rückblickend seine Bauherrenschaft mehrheitlich auf eine spezifische Berufsgruppe ein:„Ich würde sagen, in 50% unserer Einfamilienhäuser und Kleinwohnanlagen sitzen Lehrer.“ Füßl, S. 11

Technologisierung der Zivilisation

Intellektuelles Bauherrenmilieu

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Wer damals diese ersten Häuser besuchte, fand überall ähnliche Bilder an den Wänden, die gleichen Schallplatten herumliegen und dieselben Bücher in den Regalen. Diese Kultur wurde aber auch bald ein Statussymbol, es wurde einfach schick, im verglasten Holz zu wohnen.73

Auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten74, die gesellschaftliche Position und das kulturelle Ausdrucks- und Abgrenzungsbedürfnis75, nicht zuletzt auch den Grad der handwerklichen Kompetenz auf dem Feld des Selbstbaus dieser spezifischen Gesellschaftsschicht stimmen sie das architektonische Programm ihrer Entwürfe ab. Die zweite Baukünstlergeneration und ihr Umfeld

Die zweite „Generation“ der Vorarlberger Baukünstler76 ist jene, auf deren Bauten und gesellschaftliche Integration sich die vorliegende Studie vorwiegend bezieht, wenn sie von Zeitgenössischer Architektur und ihren Architekten spricht, denn sie ist es, die heute die Vorarlberger Architekturszene institutionell ebenso wie medial repräsentiert und wirtschaftlich dominiert. Ebenso wie der Begriff „Vorarlberger Baukünstler“ ist auch die Untergliederung der Architektenschaft des Landes in „Generationen“ vor allem dem Bemühen zuzuordnen, das beobachtete Phänomen methodisch zu erfassen.77 Bereits die erste Baukünstlergeneration Vorarlbergs, als Kohorte Hans Purins zu betrachten, war höchst inhomogen und mehr durch landesspezifische Bedingungen charakterisiert als durch ein gemeinsames Programm. Vor allem bezüglich ihrer Beziehung zum Handwerk, also der Selbstkategorisierung ihres Bauens entweder als Handwerklichkeit oder als Technologisierung78, den Auftragsschwerpunkten im privaten beziehungsweise öffentlichen Bauen sowie ihrer Haltung zum Architektenstand zerfällt diese Generation in weit auseinanderliegende Positionen und ebensolche Karriereverläufe. Eine Folge, die die Gründung der Architektenkammern mit ihrer Definition sowohl der Kompetenzen als auch der Privilegien des Berufsstandes nach sich zieht und sowohl staatliche Einflüsse als auch solche der Architektenausbildung in ihrer Wirkung bündelt, ist eine Homogenisierung dessen, was der Architekt sein Selbstverständnis nennt.79 Die parallel stattfindende Akademisierung der Ausbildung80 schwächt insbesondere die (soziale) Nähe zum Handwerk, der Entwurf gewinnt gegenüber der Konstruktion an Bedeutung, der Architekt wird künstlerischer.81 Auch in der zweiten Generation der Vorarlberger Baukünstler gibt es solche Planer mit handwerklichem Ausbil-

73 Achleitner (2003), S. 4 74 Purin: „Es mußte möglich sein, mit geringen Mitteln auch ein anständiges, vertretbares Haus herzubringen.“ In: Füßl, S. 11 75 Die Werkschau der schwedischen Architektin Wenche Selmer (1920-1998) im Frauenmuseum Hittisau 2009/10 hat in den gezeigten, bewohnt fotografierten Innenräumen eine frappierende Übereinstimmung in der Auswahl von Möbeln und textilen Ausstattungsgegenständen mit Innenraumaufnahmen

von Bauten der ersten Vorarlberger Baukünstlergeneration gezeigt. (Unter diesen darf die Aufnahme des Wohnraums Franz Bertels in Purins Bludenzer Siedlung Halde den Status einer Ikone für sich beanspruchen.) Damit ist ein Hinweis gegeben, daß sich nicht nur das formale Interesse der Architekten (vgl. etwa GW: Z 153 ff, Rudolf Wäger, in: Mangold, S. 91), sondern auch der schichtenspezifische Romantizismus jener Bauherrengeneration, deren gemeinsamen Habitus Achleitner identifiziert, auf Skandinavien richtete.

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dungs- und Sozialhintergrund, die diejenige Position vertreten, für die Rudolf Wäger innerhalb der ersten Generation steht. Unter den Gesprächspartnern, die das Material der vorliegenden Arbeit lieferten, repräsentiert Norbert Mittersteiner diesen Typus des Vorarlberger Baukünstlers. Während jedoch Friedrich Achleitner als Chronist der ersten Nachkriegsgeneration die handwerkliche Position82 noch in seinem Geschichtsbild der Vorarlberger Architektur verankert, setzt der Chronist der Folgegeneration, Otto Kapfinger, in seinem Architekturbegriff neue inhaltliche Schwerpunkte, vor allem, indem er ausdrücklicher, wenn auch als Negation, die Nähe zu den akademischen Debatten herstellt und den Bezugsrahmen seiner Qualitätsselektion internationalisiert.83 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Unterscheidung der Planergenerationen mit einer Erbordnung der Historiker, ihrer generationsspezifischen Interessenslage und ihrer konstituierenden Texte korreliert. So fällt der Generationensprung zwischen der ersten und der zweiten Baukünstlergeneration mit dem Erscheinen, damit dem archivalischen Abschluß des ersten Bandes von Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert im Jahr 1980 zusammen.84 Zwei Jahrzehnte später, in Kapfingers zweitem Vorarlberger Baukunstführer von 1999, ist dann die zweite Generation mit ihren Werken historisiert.

76 Gemeint sind hier die um 1955 geborenen Architekten: z.B. Carlo Baumschlager (*1956), Helmut Dietrich (*1957), Dietmar Eberle, (*1952), Anton Fink (*1951), Roland Gnaiger (*1952), Hermann Kaufmann (*1955), Helmut Kuess (*1952), Wolfgang Ritsch (*1956), Much Untertrifaller jun. (*1959); vgl. Kapfinger (2003), Umschlag. 77 Kapfinger darf als Urheber dieser Systematisierung in „Generationen“ gelten. Vgl. seinen konstituierenden Text, in mehreren Modifikationen seit seiner Erstverwendung als Laudatio Vorarlberger Baukünstler 1991 anlaßbezogen mehrfach ergänzt und aktualisiert (Kapfinger 1991, 1999, 2003). 78 Eine an industrieller Technologie orientierte Entwurfshaltung weist Achleitner innerhalb der ersten Generation der Vorarlberger Planerszene vor allem Gunter Wratzfeld zu. Vgl. Achleitner (1971) 79 So könnte der Befugnisstreit zwischen der Vorarlberger Planerschaft der 1980er Jahre und der Architektenkammer interpretiert werden, der den Anlaß zur Gründung des Vereins Vorarlberger Baukünstler (Rudolf Wäger über die Gründung der Gruppe 16, „unter der Fuchtel eines Baumeisters – in diesem Falle war es mein jüngerer Bruder, der uns den Stempel gab“, [in: Mangold, S. 93]) gegeben hatte: Als Widerstand derer, die eine „sozial gewachsene“ Planungswirklichkeit repräsentieren gegenüber einer Institution, die eigene Regeln für eine zukünftige, staatlich

moderierte Planungswirklichkeit zu etablieren bestrebt ist. Vgl. auch Anm. 49 80 Die Gründung einer Architekturfakultät an der Universität Innsbruck im Jahr 1969 steht für diese Akademisierung, die mit einem sprunghaften Ansteigen der Architektenzahl verbunden ist. Vgl. Abschnitt Ein anderes Haus, Kapitel Haus, Anm. 2 81 Die Beziehung der Architektengenerationen Vorarlbergs untereinander stellt sich trotz äußerlich zur Schau getragener Geschlossenheit in der direkten Konfrontation als konfliktgeladen dar. Eine latente Kritik der Älteren gegenüber den Jüngeren tritt immer dort zutage, wo Angehörige der Purin-Generation dazu aufgefordert werden, die gegenwärtige Architekturproduktion im Land zu kommentieren. Solche Äußerungen sind u.a. dokumentiert in: Kapfinger (2001), Mangolds Gespräch mit Rudolf Wäger (Mangold, S. 90) und Purin (2004). 82 Eine Position, die keine „formulierte“ ist! Charakteristisch für das Handwerk ist, daß ihm das Medium Theorie fehlt. Eine Folge ist ein eklatanter Wettbewerbsnachteil in einer Bildungslandschaft, die so gut wie ausschließlich auf einen Bildungsbegriff setzt, dessen Inhalte sich sprachlich oder in Bildern darstellen und vermitteln lassen: Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, zum Bildungsbegriff speziell Anm. 49 83 Kapfinger (1999), Zum Geleit

Generationensprung der Planer und die Erbordnung der Historiker

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In dem Versuch, den der zweite Teil dieses Abschnitts unternimmt, inhaltliche Schwerpunkte zu formulieren, die geeignet sind, den Architekturbegriff der ersten von demjenigen der zweiten Baukünstlergeneration zu unterscheiden, um so den zeitgenössischen Architekturbegriff, wie er heute in Vorarlberg etabliert ist, aus seiner regionalen Entstehungsgeschichte heraus zu beschreiben, fallen konstituierende Ereignisse ins Auge, die, über zwei Jahrzehnte verteilt, den Generationswechsel unter den Planern begleiten und der zweiten Generation ihr Thema geben. Wieder sind Staat, Handwerk, Gesellschaft und Architektenstand die Kategorien, in denen sich der regionale und generationsspezifische Architekturbegriff bildet und als charakteristisches Profil beschreiben läßt. Als konstituierende Ereignisse sollen hier das Vorarlberger Raumplanungsgesetz von 197385, der „Befugnisstreit“ von 198486, die Kunstpreisverleihung des Landes Vorarlberg an Hans Purin von 199187 und die von 1985 bis 1997 ausgestrahlte Fernsehserie PlusMinus88 gelten. Hatte die gesetzgebende Versammlung im Jahr 1948 einen betont demokratischen und dezidiert ländlichen Begriff von Baukultur an den Beginn der Wiederaufbauzeit im Gefolge des Zweiten Weltkriegs gesetzt, so setzt das Landesparlament fünfundzwanzig Jahre später, mit dem Vorarlberger Baugesetz, das 1972 die mehrfach novellierte Landesbauordnung von 1887 ablöst, vor allem aber dem Raumplanungsgesetz von 1973 neue Prioritäten, die den Demokratisierungsschritt von 1948 in wesentlichen Punkten revidieren. Anstatt die Baukultur weiterhin durch das Volk „treu verwalten“89 zu lassen, indem er eine sehr weitgehende Gemeindeautonomie ins Recht setzt, erscheint es dem Staat nun angebracht, die Baukultur und das von dieser geprägte „Orts- und Landschaftsbild“ künftig in die Hände von Spezialisten zu legen und eine zentrale Landesstelle zu deren Koordination zu schaffen. Die Erkenntnis des Gesetzgebers, daß die Landschaft mit vermehrter Aneignung durch individuelle Bauherren zunehmend ihre ökonomische Verwertbarkeit als ästhetisches Bild verliert und folglich als „öffentliches Gut“ unter Schutz gestellt werden muß 90, stellt sich gleichzeitig als Abwendung des Staates von der Gestaltungskompetenz seiner Bürger dar.91 Das damit korrelierende neue Bild der Architekten von einem idealen Staat profiliert die

84 Die Siedlung „Im Fang“ in Höchst markiert als ältestes Bauwerk des zweiten Architekturführers gleichzeitig den Auftritt der zweiten Baukünstlergeneration und repräsentiert ihren spezifischen Architekturbegriff, der sich eklatant von demjenigen der ersten Generation unterscheidet. Ein hierdurch entstehender Dissens zwischen den Planergenerationen, vor allem der Vorwurf der älteren gegenüber der jüngeren, den mühsam „resozialisierten“ Holzbau durch materialfremde Konstruktionen erneut in Verruf zu bringen, thematisiert Kapfinger (2001). 85 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung Kapitel Dorf

86 Merz/Mätzler (S. 74 ff) geben zwei Artikel aus der zeitgenössischen Presseberichterstattung zum Befugnisstreit wieder: „Unbefugte Kunst“ in: Profil 8/84 sowie „Keine Einzelfälle“ in: Profil 9/84. Achleitner äußert sich in seinem Vortrag beim Österreichischen Architektentag 1984 zum Befugnisstreit. Achleitner (1984), S. 222 87 Vgl. Kapfinger (1992); Füßl (1992) 88 Vgl. Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 41 89 Einleitung Landesbauordnung 1948, wie Anm. 35 90 Ausführlich im Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf

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zweite Generation der Vorarlberger Baukünstler gegenüber ihren „Vätern“ und wird 1991 anläßlich der Kunstpreisverleihung des Landes Vorarlberg an die Gruppe der Baukünstler explizit formuliert. Im Kontext seiner Zielvorgabe, „wo es um einen kulturellen Wiederaufbau geht. Und dem wird man auch einiges [an vorhandener Bausubstanz] opfern“ 92, fordert der Vertreter der zweiten Planergeneration eine Politik, „die die Gesellschaft koordiniert und gestaltet“.93

Das Bild der Architekten vom Idealstaat

Die Praxis bereits der ersten Generation der Baukünstler, die Bürgermeister der Gemeinden in ihrer Eigenschaft als Erste Instanz im Baugenehmigungsverfahren „auszuschalten“, indem der Berufungsweg, die Anrufung der Bezirkshauptmannschaft als Zweiter oder des Landeshochbauamts als Dritter Instanz, als „Normalweg“ 94 etabliert wird, entmachtet systematisch die lokalen Baubehörden und damit diejenige Rechtsinstitution, die – in einem Korrekturakt des nationalsozialistischen Verwaltungszentralismus – 1948 mit der Vorarlberger Landesbauordnung wiedereingesetzt worden war. Die Praxis der Bezirkshauptmannschaften, dieses Verfahren durch ihre durchwegs positiven Entscheidungen zum Erfolgsmodell werden zu lassen95, stellt sich als „interne“ Modernisierung der staatlichen Verwaltung dar. Die Kommunen verlieren ihre Autonomie, um in gegeneinander konkurrierende „Regionen“96 zusammengefaßt werden zu können.97

Erfolgsmodell Berufungsweg

91 In der Broschüre Gemeinsam Bauen, die sich 1984 in der Absicht, eine (Selbst-)Beschränkung des Baulandverbrauchs zugunsten des Gemeinwohls zu popularisieren, mit „Beispiele[n] verdichteter Bauweise in Vorarlberg“ an potentielle Bauherren wendet, illustriert die Vorarlberger Raumplanungsstelle mittels statistischer Daten den Umstand, daß „innerhalb von drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Vorarlberg mehr Häuser gebaut wurden, als 1945 bestanden hatten. (...) So entstand etwa 1/5 des Gebäudebestandes von 1981 in der Dekade 1961 bis 1971 und fast 1/4 zwischen 1971 und 1981. Annähernd die selbe Entwicklung ist auch im Wohnungsbau festzustellen, wobei hier der weitaus überwiegende Teil der Wohnungen in Form von Einfamilienhäusern erstellt wurde. Die Siedlungsausbreitung ging daher in der Vergangenheit äußerst flächenaufwendig und zudem meist auch ungeordnet vor sich. Dies gilt insbesondere für die Talsohlen von Rheintal und Walgau, in denen die für die Besiedlung in Anspruch genommenen Flächen bis 1980 etwa den dreifachen Umfang von 1950 erreicht haben, obwohl die Bevölkerung in dieser Zeit ,nur‘ 73% zugenommen hat. Die Folge davon war eine Zersiedlung weiter Landesteile mit (...) äußerst nachteiligen städtebaulichen, landschaftlichen und ökonomischen Erscheinungen. Um dieser Entwicklung zum flächenverschwendenden Ausufern der Besiedlung Einhalt zu gebieten, sollte daher auch aus

raumplanerischer Sicht in verstärktem Maße auf verdichtete Wohn- und Siedlungsformen zurückgegriffen werden...“ Häusler, S. 4 92 Füßl, S. 15 93 Ebd. 94 „Am Anfang waren Baubewilligungen fast ausschließlich über den Berufungsweg zu erhalten.“ Purin (2004), S. 15 95 „Wenn der Bauherr dahinter stand, konnte man die kommunale Behörde außer acht lassen; man sagte sich: die sind nicht maßgeblich, wir gehen in der Instanz weiter. Bei den oberen Behörden – wie Bezirkshauptmannschaft oder Land – haben wir eher Chancen, um einen Plan durchzubringen.“ Rudolf Wäger in: Mangold, S. 93 Hans Purin nennt unter den „günstigen Voraussetzungen“ der Vorarlberger Architekturentwicklung u.a. „Eine Landeshochbaubehörde und Raumplanungsstelle mit qualifizierten Fachleuten, von denen unsere Berufungen in letzter Instanz positiv erledigt wurden.“ Purin (2004), S. 16 96 Regional governance ist eine der Erscheinungsformen von „Output-Steuerung“, wie sie Radtke als gegenwärtige Zeiterscheinung diagnostiziert. Sie setzt eine „Gleichschaltung“ von Stadt und Land voraus. Der ländliche Raum verliert mit seiner „Rückschrittlichkeit“ gleichzeitig seine Autonomie.

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Architekten als Leistungsdarsteller

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Jener Erziehungsanspruch der modernen Architekten, der ihre gesellschaftliche Selbstpositionierung bestimmt, ändert mit dem Generationenwechsel seine Pädagogik. Hatte sich diese in der ersten Baukünstlergeneration noch auf den personalen Bauherrn konzentriert, um dessen intellektueller Geisteshaltung einen ihr gemäßen individuellen Lebensrahmen als Entfaltungsraum zuzuweisen, wobei die bauästhetische „Qualitätslosigkeit“ des Umfeldes als unveränderlich98, wenn nicht sogar für den Avantgardestatus notwendig toleriert worden war, so findet die zweite Generation mit ihrem Berufseintritt zu Beginn der 1980er Jahre neue Rahmenbedingungen vor. Hatte der Staat mit dem Vorarlberger Baugesetz und dem Raumplanungsgesetz von 1972/73 bereits dem einzelnen Staatsbürger als repräsentativem Kulturträger eine Absage erteilt, so umarmt er 1991 mit der Vergabe des Internationalen Kunstpreises des Landes Vorarlberg an Hans Purin, in den dieser die im Befugnisstreit als Verein solidarisierte Gruppe der Baukünstler einbezieht, seine architektonische Avantgarde und positioniert sie in diesem Akt als „Leistungsdarsteller“ neu.99 Jenes pädagogische Modell, das Achleitner mit seiner Hervorhebung des Einfamilienhauses innerhalb der Bautenkategorien noch als erzieherische Hefe und damit als Aussender eines Inputs im Teig einer Gesellschaft von Individuen vor Augen gehabt haben mag, genügt den Anforderungen der 1990erJahre an eine Profilierung Vorarlbergs als zukunftsfähige Wirtschaftsund landschaftlich intakte Wohn- und Tourismusregion nicht mehr.100 Erziehungswissenschaftler kennzeichnen den Wandel, der sich in der schulpädagogisch moderierten Beziehung des Einzelnen zu seinem Staat im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends vollzieht, als signifikanten Methodenwechsel, nämlich der Umstellung einer Input- auf eine Output-Steuerung.101 Als dessen Vorwegnahme kann die gegenüber der ersten Baukünstlergeneration gewandelte Selbstpositionierung jener jungen Vorarlberger Architektengeneration interpretiert werden, die mit der Kunstpreisvergabe von 1991 ins Licht der Öffentlichkeit gestellt wird. 97 Zum gegenwärtigen „allgemeinen Trend zur Dezentralisierung“ staatlicher Verwaltungsstrukturen vgl. Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 47 98 „Es gibt eine gewisse Anerkennung von oben und von unten, wobei uns klar war und ist, daß wir immer für eine Minderheit arbeiten werden. Es wird nie so eine Breite bekommen, daß ein jeder in unserem Sinn gute Architektur macht. Damit muß man sich abfinden. Das ist aber auf der ganzen Welt so, nicht nur in Vorarlberg.“ Hans Purin in: Füßl (1992), S. 10 99 Landesrat Guntram Lins formuliert in seiner Ansprache zur Preisverleihung die „Aufgabe des Architekten“ als „sichtbar zu machen, was hinter den Mauern verborgen oder geborgen ist“. Vgl. Lins, S. 8 100 Die Vorausschau auf den bevorstehenden EUBeitritt Österreichs (vollzogen 1995) wurde etwa im

Sektor des Handwerks bereits seit 1991 in wirtschaftlicher Hinsicht kommentiert und vorbereitet. Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk 101 Radtke, S. 238 Der Autor stellt den Paradigmenwandel der Schulpädagogik im Gefolge des Bologna-Prozesses in den Rahmen einer Rückkehr zu einem gesellschaftlichen Disziplinarregime, das vor allem mit ökonomischen Kräften in Wechselwirkung stehe. Dieser Prozeß reiche bis in die 1980er Jahre zurück und sei darauf gerichtet, insbesondere die Demokratisierungen durch die 1968er Generation rückgängig zu machen. 102 Ausdrücklich ist diese Wende in Carlo Baumschlager und Dietmar Eberles Rückblick auf die Baukünstlervergangenheit formuliert. Vgl. Waechter-Böhm (2000), S. 125 ff

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Sie fordern programmatisch – und erhalten – nun umfassende Beteiligung an jenem „System“, dessen Effekt auf den Einzelnen, seine individuelle Entwicklungsmöglichkeit zu beschneiden, ihre Väter noch durch alternative Wohnformen und umfassende Partizipationsmodelle am Bauprozeß zu überwinden gesucht hatten. Tritt die zweite Generation im Verlauf der 1980er Jahre zunächst noch in die Fußstapfen der Altersgenossen Hans Purins, indem sie mit Selbstbausiedlungen an das intellektuelle mittelständische Bauherrenmilieu anschließt, das jene für das Wohnen im „Architektenhaus“ erschlossen hatten, so vollzieht sie im Verlauf der 1990er Jahre Maßstabssprünge sowohl in der Erschließung neuer Bautenkategorien, ihren Bürogrößen, als auch in einer Internationalisierung ihrer Projekte, der sie denjenigen Bestandteil des regionalen Architekturbegriffs ad acta legen läßt 102, welcher die Absolutstellung von Ästhetik zugunsten „breiter“ Nutzerbeteiligung vorübergehend in den Hintergrund der architektonischen Anstrengung gedrängt hatte. Eine gesellschaftliche Neuplazierung von Architektur ist die Folge dieses Aufbruchs derjenigen Vertreter der zweiten Baukünstlergeneration, die sich „neues Terrain“ zu „erobern“103 gedenkt: „Dann sind die Partner kommunale Auftraggeber, Großinvestoren, Versicherungen, Banken, große Bauträger, Generalunternehmer.“104 Der ins Auge gefaßte „Entwicklungs- und Bildungsprozeß“105 ist ein kulturpolitischer im Maßstab des gesamten Landes. „Wir können also relativ problemlos bei den Einfamilienhäusern bleiben oder (...) die echten Probleme in diesem Land anpacken. (...) Wenn es nämlich um Raumplanung, Städtebau, Siedlungsbau, ordentlichen Verwaltungsbau geht, dann stehen wir einigermaßen am Anfang.“106 Hatte Achleitner 1980 den gesellschaftlichen Initiativkern der architektonischen Kultur Vorarlbergs noch außer-, genauer unterhalb von „Bürgertum“ und „Oberschicht“107 vorgefunden und daneben dessen Verankerung im Sozialmilieu des Handwerks betont, so identifiziert Kapfinger zwei Jahrzehnte später bereits wieder „Teile der hochkulturellen Elite“108 als deren gesellschaftliche Trägerschicht. Hatte Achleitner noch eine Teilhabe und Mitgestaltungsrolle des Handwerks an der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs propagiert, so beschränkt sich Kapfinger auf die Feststellung, daß das Bauhandwerk den Anspruch der Architekten „mitvollzogen“109 habe. Mögen dies auch graduelle Unterschiede sein, so legen sie doch jeweils dezidiert den Kreis derjenigen Bevölkerungsteile fest, die zur aktiven Mitgestaltung der eigenen räumlich-dinglichen Lebensumgebung, zur „Ausübung von Ästhetik“110 legitimiert und aufgefordert sind.111 Der Wandel, dem die Größe dieses Kreises unterliegt, gehört als wirksamster Effekt, den Architektur als soziale Praxis hervorruft, zu den Generalthemen des hier anschließenden Hauptteils unserer Studie. Vorarlberg bietet uns dazu die Möglichkeit eines Blicks in eine nahe Zukunft, sofern diejenigen Kreise, die von seiner Landesfläche auf Europa abstrahlen, als Darstellung seiner Rolle als gesellschaftlichem Labor „in der die eigene Zeit (...) zu sich selbst“ 112 findet, genommen werden.

Wer darf bauliche Ästhetik ausüben?

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103 Füßl, S. 12 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Wie Anm. 19 und 20 108 Kapfinger (1999), Zum Geleit, 4. Seite 109 Kapfinger (1999), Zum Geleit, 3. Seite 110 Bernhard Steger hat herausgearbeitet, daß Ottokar Uhls Auseinandersetzung mit Partizipation am Planungsprozeß um ebenjene Grenzziehung zwischen Ausübung und Betrachtung von Ästhetik kreist: „[Uhls] Forderung ist, dass die Fähigkeit zu ästhetischer Handlung prinzipiell allen Menschen zugesprochen wird. Er stellt den Vorbehalt in Frage, nur Künstler und Architekten wären als schöpferische Persönlichkeiten in der Lage, ästhetisch zu handeln. (...) Ästhetik ist also nicht, wie Uhl gerade im Zusammenhang mit seinen partizipativen Ansätzen im Wohnbau

vorgeworfen wurde, ein nachrangig zu behandelnder Teil der Architektur, sondern sie ist vielmehr so wichtig für den Menschen, dass eine Verkürzung der ästhetischen Aktivität auf die Betrachtung von Objekten ein unzulässiges Vorenthalten von Chancen auf Lebensentfaltung darstellt.“ Steger (2007/1), S. 185 Die vorliegende Studie berührt verschiedene Aspekte der Partizipationsfrage u.a. in Modernisierung des Holzbaus des Kapitels Holz, in Architektenhaus des Kapitels Haus, in Strukturen des Gemeinschaftslebens sowie Beratung, Planung, Steuerung des Kapitels Dorf sowie Externe Entwerfer des Kapitels Handwerk. 111 Monika Gentner stellt in einem Gespräch zwischen namhaften Architekturjournalisten Österreichs deren unterschiedlichen Blickwinkel auf diese Legitimationsprozesse einander gegenüber. Gentner, S. 13 ff 112 Moos, S. 811

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3 Holz

3.1 Holz als Baustoff Wie sie kaum es erfleht, faßt starrende Lähmung die Glieder, und mit geschmeidigem Bast umzieht sich der schwellende Busen. Grünend erwachsen zu Laub die Haare, zu Ästen die Arme; fast hängt, jüngst noch flink, ihr Fuß an trägem Gewurzel!1

Die Zeitgenössische Architektur Vorarlbergs ist in den 1970er und 80er Jahren als „neuer Regionalismus“2 mit einer „ganz neuen Sicht des Holzhausbaus“3 in Erscheinung getreten. 1982, als das Phänomen bereits erste internationale Aufmerksamkeit erregt, weist ihm Friedrich Achleitner diese beiden Kennzeichen zu, nämlich für das im Zuge der Postmoderne neu erwachte Interesse am Regionalen substantielle Beiträge zu liefern sowie den Holzhausbau wieder gesellschaftsfähig zu machen. Es sollte sich erweisen, daß damit für diese Architekturszene eine Etikettierung geschaffen worden ist, die ihr bis heute anhaftet. Achleitner belegt seine Charakterisierung an dieser Stelle lediglich durch eine Handvoll Einfamilienhäuser, die er allesamt in den Gemeinden des Rheintals findet. Eine größere Zahl von Objekten hatte er in seinem zwei Jahre zuvor erschienenen ersten Band des nationalen Inventars Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert4 versammelt, dem Band, der neben Oberösterreich, Salzburg und Tirol das Bundesland Vorarlberg umfaßt. Dort präzisiert er seine Sicht einer neuen Rolle, die dem Holzhausbau zufällt. Nach der Feststellung, daß das „sogenannte bürgerliche Wohnen im architektonischen Bereich zur völligen Bedeutungslosigkeit und Ignoranz der Entwicklungen abgesunken ist“5, ortet er„gerade in Vorarlberg“ die neuen Träger einer architektonischen Kultur in „Randgruppen oder jungen Bauherrn mit geringen Mitteln.(...) Es fällt auf, daß sich diese neue Entwicklung in Vorarlberg fast ausschließlich auf dem Gebiete des Holzhausbaus abspielt.“6 Die vorliegende Studie gibt den Themen Holz und Handwerk breiten Raum und folgt damit der Spur Achleitners. Der vorangegangene Abschnitt Baukünstler hat verdeutlicht, daß an dieser Spur nicht allein das analytische Moment, sondern ebensosehr die Setzung neuer gesellschaftlicher Werte und die Schaffung daran geknüpfter Einflußsphären von Interesse sind. Den

Holzbau und Regionalismus

Holzbau als Träger architektonischer Kultur

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Rahmen bildet eine Modernisierung, die sich vor allem im ländlichen Raum als grundstürzende Veränderung traditioneller Lebensformen abzeichnet. Erst vergleichsweise spät, nämlich seit Mitte der 1980er Jahre, sickert der „neue“ Holzhausbau auch in den Bregenzerwald ein,7 der, topographisch abgeschirmt, bis dahin die traditionelle Selbstversorgung seiner bäuerlich-handwerklichen Gesellschaft weitgehend aufrechterhalten konnte und, zumindest im privaten Wohnhausbau, für die akademisch-internationalistischen Einflüsse unempfindlich geblieben war8, die Architektur ebenso bestimmen, wie sie durch sie verkörpert werden. So führt Achleitners 1980 abgeschlossene Beispielsammlung architektonisch relevanter Einfamilienhäuser Vorarlbergs für den Bregenzerwald nur ein einziges Objekt auf, das Haus Dietrich in Mellau, 1969–71 entstanden, ein Werk Rudolf Wägers.9 Fünfundzwanzig Jahre später registriert eine durchaus dokumentarisch gemeinte Beschreibung, die den Bregenzerwald als Handwerksstandort ins Auge faßt, eine in voller Blüte stehende zeitgenössische Holzbauarchitektur als selbstverständliche Gesellschaft der alten Bauernhäuser, als ihre kulturelle Fortschreibung, wenn nicht gar Steigerung. So fahren wir über sanft gewelltes Land mit weidenden Kühen und durch Dörfer mit den für die Region typischen alten Schindelhäusern. Dazu gesellt sich eine neue Architektur, die das Überlieferte nicht alt aussehen läßt, sondern dessen Vorzüge in zeitgemäßer Sprache fortschreibt und so den Ruf der Vorarlberger Bauschule in die Welt trägt.10

Wir könnten mit diesem Bild einer offensichtlich glücklichen Romanze zwischen Alt und Neu, das im untersuchten Raum gern präsentiert wird, einer sich dem Augenschein darbietenden, harmonischen Konstellation aus einer neuen Holzarchitektur, die im Wald zu sich gefunden und, zu Hause unter ihren Vorvätern, den ehrwürdigen Wälderhäusern angekommen, eine Hochblüte erlebt, zu der ganz Europa, wenn nicht die Welt, aufblickt, unsere Studie beenden, noch bevor sie begonnen hat, und uns darauf beschränken, in einem Abspann die handelnden Personen und ihre Darsteller zu nennen. Doch zögern wir, noch bevor The End die Leinwand füllt, spätestens an der für die Versicherung vorgesehenen Stelle, daß während der Dreharbeiten keine Tiere zu Schaden kamen. Just die erwähnten und für das Bild der intak1 Ovid Metamorphosen 1/ 547- 550 nach der Übersetzung von Reinhart Suchier; Leipzig: Philipp Reclam, 1986 2 Achleitner (1982), S. 210 3 Ebd. 4 Achleitner (1980), S. 397 5 A.a.O., S. 399 6 Ebd. 7 Haus Eugster in Langenegg, Bj. 1984, Architekt Anton Fink. Nach Auskunft der Bauherren das erste moderne Holzhaus im Bregenzerwald, vgl. Gespräch mit Ehepaar Eugster (ALE). Zur Beurteilung dieser

Einschätzung sind die spezielle Situation der 1980er Jahre und die Rolle dieser Generation von Bauherren und Architekten für den sozialen Wandel zu berücksichtigen, dem die dörflichen Gesellschaften des Bregenzerwaldes zu dieser Zeit unterlagen. Vgl. hierzu das Kapitel Dorf. 8 WS 2: Z 267 ff 9 Achleitner (1980), S. 400 Im Hinblick auf eine Vorbildwirkung für die nachfolgende Architektengeneration wären daneben Bauten Leopold Kaufmanns aus dieser Zeit, etwa sein Jagdhaus in Reuthe, zu nennen.

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ten bäuerlichen Landschaft so maßgeblichen Kühe nämlich fielen im Sommer 2007 reihenweise einer Seuche zum Opfer und mußten noch auf dem Vorsäß notgeschlachtet werden.11 Der Almabtrieb geriet zum Trauerzug, und die laufende UNESCO-Bewerbung, die Intaktheit der traditionellen Dreistufen-Milchwirtschaft des Bregenzerwaldes zum Weltkulturerbe12 zu erheben, erfuhr einen empfindlichen Rückschlag. Als Ursache der Katastrophe kam ans Licht, daß die so ursprünglich erscheinende Vorsäß- und Almwirtschaft vielerorts nur noch äußerlicher Deckmantel für eine Hochleistungsmilchproduktion mit entsprechend überzüchtetem, krankheitsanfälligem Vieh13 gewesen war: Märchenwelt ade. Unter heutigen Bedingungen, den Lebens- und Wirtschaftsbedingungen einer hochindustrialisierten Gesellschaft des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts muß vorausgesetzt werden, daß auch die sich dem Auge darbietende Idylle das Ergebnis einer interessensbestimmten Gestaltung ist, und selbst, wo es sich um den Anblick „unberührter“ Naturschönheiten handelt, diesem eine Schutzanstrengung vor unmittelbar verwertendem Zugriff vorangegangen sein muß. Zumeist steht dieser Schutz wiederum im Dienst einer indirekten Verwertung. Achleitner hat hierfür den Begriff Vermarktung von Landschaft geprägt.14 Speziell im Umfeld des Holzes wirken gesellschaftliche Kräfte, zu denen wirtschaftliche und politische ebenso gehören wie diejenigen von Tradition und Mythos, da in den Holzeigenschaften noch heute der Mond und selbst die Sterne am Werk gesehen werden. Holz verkörpert eine Nutzung der Naturkräfte, deren Erschließung von modernster Technik bis in esoterische Sphären reicht. Zeitgenössischer Architektur fällt in diesem Kontext die Rolle zu, die genannten Kräfte zu moderieren, zu beeinflussen, auch zu beschwören und aus ihrer sozialen Konstitution als Bewegung heraus eigene reformerische Intentionen ins Spiel zu bringen. Die Darstellung der vorgefundenen Verhältnisse erfordert eine weitgehende Entflechtung und Herauspräparierung einzelner, besonders prägnanter Phänomene. Daher durchstreift dieser Abschnitt zunächst den mythologischen Hintergrund einer gemeinsamen Wesenheit von Mensch und Baum, wie sie in traditionellen Bezeichnungen und Ritualen des Holzbaus und in Volksbräuchen lebendig geblieben ist. Historisch gesehen prägt den Holzbau vor allem die Konfrontation der ersten Siedler mit dem alles bedeckenden Wald. Die heutige Kulturlandschaft 10 Claudia Schwarz in: Gögl (2005), S. 44 11 Das Schwarzenberger Gemeindeblatt berichtet von mehr als 100 Stück Vieh, die im Sommer 2007 auf der Alpe Mittelargen geschlachtet werden mußten. s’Gmuondsblättle, Ausgabe Nov. 2007, S. 4 12 http://regio.bregenzerwald.at/antrag

13 Greussing (2007), S. 14 f Ähnlich kritisch wie Greussing setzt sich Kurt Bereuter, Beirat im Kulturforum Bregenzerwald, mit der modernisierten Alpwirtschaft der Region auseinander. Vgl. Bereuter 14 Achleitner (1980), S. 312

Umwelt als Produkt von Gestaltung

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ist Ergebnis einer tiefgreifenden Umgestaltung der ursprünglichen Naturlandschaft, die im Bregenzerwald erst spät, im Zuge der spätmittelalterlichen Besiedlung der Talgründe von Bregenzerach und ihren Nebenflüssen beginnt.15 Die wirtschaftliche Verwertung des Holzes steht im untersuchten Raum heute im Spannungsfeld zwischen einer mittlerweile globalisierten Holzwirtschaft und kommunal initiierten Signalprojekten, die, der Globalisierung entgegengesetzt, betont kleinräumiges Wirtschaften demonstrieren. In diesem Zuge werden solche Qualitäten im heimischen Holz, speziell der Weißtanne, herausgestellt und gepflegt, die der Weltholzmarkt mit seiner Nivellierungstendenz nicht mehr zu bieten imstande ist. Im Bregenzerwald hat eine differenzierte Materialsprache des Holzes mit ihrer bis zur ursprünglichen Besiedlung zurückreichenden Tradition der Holzverarbeitung in vielfältiger Form in das soziale Verhalten Eingang gefunden. Zeitgenössische Architektur integriert solche Aspekte in ihre Entwürfe, um so für die Beteiligten eine vertraute Basis zu schaffen, die eine Identifikation mit ihrer Formensprache erleichtert. Baum- und Menschengestalt

Wer dem Holz als Baumaterial und Baum und Wald als dessen Herkunftsorten nachgeht, dem gerät die Gegenüberstellung mit dem Baum womöglich zum Gestaltvergleich, zur Entdeckung eines Verwandten im Baum.16 Dieser tritt je nach den Umständen der Begegnung als Freund und Beschützer oder als bedrohlicher Feind in Erscheinung. Im Mythos der Daphne, die sich in ihrer äußersten Bedrängnis der Verfolgung durch den verliebten Apoll mittels Verwandlung in einen Lorbeerbaum entzieht, erreicht diese in den Baum hineingelegte Verwandtschaft zum Menschen ihre äußerste Nähe; die Verschmelzung des menschlichen mit dem Baumkörper vollzieht sich vor den Augen des abgewiesenen Verehrers und mit diesen vor den unseren. Das Eingangszitat dieses Abschnitts entstammt Ovids literarischer Bearbeitung dieser Szene in seinen Metamorphosen. Gian Lorenzo Bernini, italienischer Bildhauer und Baumeister des Barock, hat diese fließende Gestaltverwandlung, jenen Moment der simultanen Präsenz von Mensch und Baum, als Apolls „Atem (...) schon ihr Haar auf den Schultern“17 berührt, in Marmor fixiert wie das Standbild einer Filmszene. Andere Zeitumstände und andere individuelle Antriebe verschaffen etwa in Stephan Balkenhols Holzplastiken der menschlichen Figur durch ihren wahrnehmbar bleibenden Stamm des Baumes eine ähnliche Gleichzeitigkeit der Erscheinung, die immer auch den Subtext von der Reanimation des toten Holzes als Effekt des künstlerischen Tuns erzählt.18 Selbst weit jenseits

15 EW 2: Z 47 f 16 In ihrem Aufsatz über exklusiven Möbelbau im Bregenzerwald findet Renate Breuß eine Identifikationsbrücke des Tischlerkunden mit dem hölzernen Auftragsstück in der Menschenähnlichkeit der Bäu-

me: „Mit dem Menschen verbindet sie eine gerade Gestalt mit Fuß und Krone.“ Breuß (2006/1), S. 7 ff 17 Wie Anm. 1, 1/542 Berninis Skulptur Apollo und Daphne, geschaffen 1622–1625, steht heute in der Villa Borghese in Rom.

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solch subtiler künstlerischer Strategien findet sich das Thema der Wesenseinheit von Mensch und Baum bei trivialen und scheinbar voraussetzungslosen Stücken, wie den gelegentlich an Straßenrändern alpenländischer Tourismusorte angebotenen, in bizarr geformte Wurzelstöcke geschnitzten Fratzen. Und wenn wir dieses Motiv neben den griechischen schließlich auch in den germanischen und slawischen Mythen19 und daneben sowohl in den anonymen Volksmärchen als auch den Kunstmärchen moderner Autoren wiederfinden, unter denen mit Collodis Pinocchio, Tolkiens Herr der Ringe und zuletzt Rowlings Harry Potter20 nur die populärsten genannt sind, so darf wohl mit Berechtigung von einem Urbild unseres Kulturkreises gesprochen werden.

Wesenseinheit von Mensch und Baum als Urbild unseres Kulturkreises

Das Christentum tritt der archaischen Vorstellungswelt, die eine Beseelung der gesamten Natur voraussetzt, von Anfang an entschieden entgegen und setzt in der für ihre Erlösungslehre zentralen Szene vom Kreuzestod des Gottessohns ein radikales Gegenbild an deren Stelle. Dort, wo noch in der Daphnegestalt die gemeinsame Naturhaftigkeit von Mensch und Baum dargestellt ist, bildet beim Christustod das leb- und seelenlose Holz, als Material der Kreuzesbalken, den rahmenden Bildgrund für den bald darauf gleichfalls leblosen Körper. In dieser Konstruktion, die das Christuskreuz ist, und der neuen Religion, die es zu ihrem zentralen Symbol erhebt und die bald ganz Europa und darüber hinaus dessen Kolonien erobern wird, tritt uns mit ihrer Lehre vom Menschen als einzig beseeltem Wesen gleichzeitig ein neues Verhältnis zur Natur, deren Teil der Mensch nun nicht länger sein will und deren Produkte er von nun an unter dem Aspekt ihrer Materialhaftigkeit betrachtet, erstmals entgegen. In der Folge schafft dieser neue Blick des Menschen auf die „im christlichen Bereich“ nunmehr „säkularisierte“21 Natur die moralische Grundlage für die Entwicklung der modernen Technik. Die Natur liegt von diesem neuen, rationalen Standpunkt aus „wie ein riesiges Feld vor dem Menschen, auf dem er sich als Forschender oder Ausbeutender nach Belieben bewegen kann...“22 Ohne sich zu einem generalisierenden Verdammen der modernen Technik hinreißen zu lassen, ist der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt23, der diese Interpretationen entwickelt hat, in seinen Tübinger Vorlesungen zur vorsokratischen Philosophie immer wieder auf diesen Wandel in der Naturbeziehung des Menschen im Zuge der Entwicklung des europäischen Denkens hin zum Rationalismus eingegangen, ein Wandel, der unsere heutige Zivilisation bestimmt.

Christentum und unbeseelte Natur

18 Matthias Winzen: Wo steht der Bildhauer?, in: Stephan Balkenhol, Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Baden-Baden; Köln: Snoeck, 2006 19 Vgl. u.a. Johann, S. 9 f 20 Die Erscheinungsdaten der genannten Werke

sind über ein Jahrhundert verteilt: Pinocchio erschien erstmals 1883 bei Paggi, Florenz, in Buchform. Lord of the Rings 1954/55 bei Allen & Unwin, der erste Band von Harry Potter 1997 bei Bloomsbury, London. 21 Schadewaldt, S. 208

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Die rationale Weise des Sich-zur-Welt-Verhaltens hat sich gegen alle Widerstände von Mystik, Bildlosigkeit, auch von romantischen Strömungen, die immer wieder einbrachen, durchgesetzt und beherrscht unsere ganze Kultur heute, zumal in den Formen der Technik, deren Macht und Kraft ebenso wie das tief Bedenkliche, was sie auch an sich hat, auf dieser Ratio beruht. Die Technik ist in ihrem Wesen nichts anderes als der bis in seine letzten Konsequenzen durchgeführte Logos, angewendet auf die Beherrschung der Natur, wobei letztere zum bloßen Objekt degradiert wird... 24

Das angesprochene Schwanken der Naturbeziehung des Menschen zwischen rationaler Ausbeutung und einer entgegengesetzten Haltung, die Schadewaldt in „romantischen Strömungen“ identifiziert, findet sich einerseits in den Praktiken der Holzverarbeitung nachgezeichnet, die im untersuchten Gebiet anzutreffen sind, andererseits in den mannigfaltigen Baumbräuchen. Baumbräuche

Wo Lorbeerkranz und kunstvolle Maizweige25, jene in Prozessionen zum Apollonfest getragenen, mit Lorbeer, Kugeln und Bändern geschmückte Olivenstäbe, im antiken Griechenland noch an die in der Daphnegestalt verkörperte, lebendige Einheit von Mensch und Baum erinnerten, da spinnen sich im christlichen Mittelalter nun Legenden um die vier Holzarten des Kreuzes, dessen Splitter man als Reliquien verehrt, und fassen seine tote Materialhaftigkeit als Gegenstand theologisch-mystischer Betrachtungen auf.26 Alle lebendigen Baumheiligtümer der einheimischen Kulte hatte man im Zuge der Missionierung gefällt und mit der Axt zu beweisen gesucht, daß es sich bei den verehrten Bäumen um nicht mehr als profanes Holz handle und daher der Anspruch auf eine Seele dem Menschen allein gebühre. Überliefert ist etwa die Fällung der Donareiche, einem Baumheiligtum der germanischen Chatten, an die Wynfrith, der spätere Bonifatius, von Papst Gregor II. zum Bischof derjenigen Völker ernannt, „die noch der Sorge eines christlichen Hirten entbehren“, im Jahr 723 die Axt legte.27 Und doch veranlassen uns noch heute die Reste vorchristlicher Kulte alljährlich und allerorten zum Aufrichten von Maibäumen, von Weihnachtsbäumen und zu anderen, jenseits aller Rationalität angesiedelten Verrichtungen. Beim bis heute gepflegten Brauch des „Bloch“ im Schweizer Kanton Appenzell-Außerrhoden wird ein besonders schönes Exemplar der im Winter gefällten Tannen mit solcher Feierlichkeit im Festzug durch die Dörfer geleitet, als müßte man einem lebenden Baumwesen Abbitte tun. „Die ältesten Schilderer des Brauchs (...) vermuten, daß das Blochziehen auf eine uralte kultische Handlung zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Freya zurückgehe.“28 Das Fortbestehen des Mythos innerhalb der ansonsten vom Rationalismus geprägten Beziehung zur Natur wurde zur Zeit des Nationalsozialismus durch politische Instrumentierung kontaminiert. Die von politischer Ideologie gesättigte Naturbetrachtung des Nationalsozialismus sah im Wald „die Wurzeln des deutschen Volkstums verankert. (...) Er ist uns Sinnbild der Heimat und der Unvergänglichkeit unseres Vaterlandes“29. 22 A.a.O., S. 209 23 1900–1974, geb. in Berlin, seit 1950 in Tübingen 24 Schadewaldt, S. 185

25 Andresen, S. 690 26 Wagner, Rübel, Hackenschmidt, S. 147 27 Fischer, S. 59

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Aus der Antike sind nur wenige Holzbauteile erhalten.30 Doch ungeachtet der im Vergleich zu Stein und Metall vergänglichen Beschaffenheit seiner Substanz finden sich in der Literatur jener Zeit, etwa bei Plinius d. Ä., der die Veredelung billiger Hölzer durch Furniere ablehnt31, Zeugnisse einer hochentwickelten antiken Holzbaukultur. Der Umstand, daß heilige Bäume und Haine als Wohnort von Göttern und Seelen verehrt werden, führt wohl zum Schutz solcher Bezirke32, schränkt indes die Nutzung des Holzes als Baumaterial keineswegs ein. Vielmehr läßt sich etwa aus der Entwicklung der griechischen Sprache ableiten, die mit dem Begriff hyle zunächst Holz oder Wald und später Materie, „das Ungeformte“33, ausdrückt, daß die europäische Kultur anhand der Bearbeitung des Holzes überhaupt erst ihr Selbstverständnis als formende und bauende Kultur entwickelt hat. Der Umstand, „daß der griechische Tempel aus einer Holzarchitektur hervorgegangen ist“34, was aus der Beschaffenheit seiner seit Ende des siebten vorchristlichen Jahrhunderts in Stein übertragenen Elemente abgeleitet wird, die nur im Holzbau eine tektonische Funktion erfüllen, kann als späte Illustration dieses Vorganges gesehen werden. Diese intensive Aufladung des Holzes mit der an ihm gewachsenen Kulturentwicklung bleibt trotz kirchlicher Anstrengungen, der Natur ihre Beseeltheit abzusprechen, bis in unsere Tage erhalten. Tradition und Technik des Holzbaus konservieren insbesondere das Bewußtsein von der Menschenähnlichkeit der Baumgestalt. So nennt der Sprachgebrauch das Strebenkreuz der Fachwerkwand im alemannischen und fränkischen Fachwerkbau den „Wilden Mann“35 und beschreibt die untereinander verdübelten Rundstämme der „Dippelbaumdecken“36 als „Mann an Mann“ liegend. Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch an das grüne, oft mit bunten Bändern geschmückte 28 Maeder, S. 72 ff 29 Solche patriotischen Appelle wurden dem „Naturfreund“ selbst in so unverdächtig erscheinenden Werken wie dem 1937 vom Cigaretten-Bilderdienst herausgegebenen Sammelalbum Aus Wald und Flur ans Herz gelegt. Durch ihre Beanspruchung insbesondere der germanischen Mythen für die Rechtfertigung einer gleichsam naturgegebenen Dominanz des „Tausendjährigen Reiches“ verleihen sie bis heute jeder Auseinandersetzung mit solcher Mythologie einen schalen Beigeschmack.(Walter Nöldner: Aus Wald und Flur – Pflanzen unserer Heimat; Hamburg: CigarettenBilderdienst, 1937) 30 Spuren von Holzbauteilen sind als Hohlformen in den antiken Vesuvstädten nachweisbar, im Original erhalten sind einige Türen aus dem 5. Jh. n. Chr., Reste einer Falttür in Herculaneum sowie am gleichen Ort ein bes. schönes Beispiel röm. Holzfachwerks. Andresen, S. 1315 31 A.a.O. S. 1314 32 Johann, S. 9 f 33 Schadewaldt, S. 206 f

34 Andresen, S. 1315 35 www.wikipedia.org nennt unter dem Stichwort „Mann (Fachwerk)“ noch weitere, jeweils regional gebräuchliche Bezeichnungen solcher Strebenkreuze: Mann, Halber Mann, Mann mit Fuß- und Kopfverband, Hessenmann, Schwäbisches Männle, Schwäbisches Weible, Schwäbisches Kindle. In Württemberg wird die Mannform als „Dambedei“ bezeichnet, in Graubünden als „Tambeda“. An dieser Stelle wird auch auf die unheilabwehrende Wirkung hingewiesen, die speziell dem „Wilden Mann“ zugesprochen wurde. (Stand 30.01.2008) Swoboda dokumentiert ein spätgotisches Riegelwerk mit sogenannten Wilder-Mann-Verstrebungen an einem Bauernhaus in Fiß/Tirol (Swoboda [1986], S. 45); nachdrücklich weist Swoboda darauf hin, daß der Fachwerkbau innerhalb Österreichs in Vorarlberg seine größte Verbreitung besitzt, und widmet Vorarlberger Beispielen große Teile des dritten Bandes seiner Alte[n] Holzbaukunst in Österreich. 36 www.fachwerk.de: Stichwort „Dippelbaum“. (Stand 30.01.2008)

Holz als ungeformte Materie

Überleben des Mythos im Holzbau

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Bäumchen, mit dem zum Aufrichtfest des Holzbauwerks dessen First geschmückt wird. Es verkündet nicht nur den Anspruch der Zimmerleute auf ein vom Bauherrn ausgestattetes Richtfest, indem es bei allzu langem Zögern des Spenders durch ein dürres Exemplar ersetzt wird, sondern ist auch als in die Gegenwart reichende Erinnerung an die kulturale Kette zu verstehen, die Wald, Baum, Holz und Mensch gemeinsam in die Natur zurückbindet.

Waldrodung als Schaffung von Kulturlandschaft

Die Sonderstellung, die Holz unter den traditionellen Baumaterialien einnimmt, die neben ihm alle flechtbaren Gräser, den Lehm im ungebrannten oder zum Ziegel gebrannten Zustand, Stein und Metalle umfassen, läßt sich auch aus seiner Nähe zur archaischen menschlichen Siedlungstätigkeit ableiten, die ihren Begriff von Kultur noch eher mit dem Ackerbau als dem Hausbau verbindet. Wer je in Mitteleuropa siedeln wollte, mußte zunächst Wald roden. Damit schuf er Voraussetzungen in zweierlei Hinsicht: die freie Fläche zur Errichtung des Hofes und zugleich das hierzu benötigte Bauholz. Die Rodung rund um den Einzelhof und die Substanz seines Hauses entstanden in ein und demselben Vorgang. Mittlerweile beobachten wir im Alpenraum den umgekehrten Vorgang überall dort, wo ehemalige Rodungsflächen in hochgelegenen Grenzertragsregionen bereits wieder aufgegeben und vom Wald zurückerobert werden. Erst außerhalb Europas, unter besonderen Bedingungen, wie sie der Untergang der sozialistischen Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre bot, sind solch ursprüngliche Siedlungsvorgänge wie das mit dem Hausbau einhergehende Roden des Waldes noch gelegentlich erlebbar. Konkret war es die wiedergewonnene Freiheit der Religionsausübung, die zu dieser Zeit Voraussetzungen für eine Klostergründung mitten im unwegsamen Birkenwald Zentralsibiriens schuf. An diesem abgeschiedenen Ort, fünf Flugstunden östlich von Moskau, war der Wald noch so weglos und der Untergrund den Sommer über so sumpfig, daß sich jeder Transport von Baumaterial verbot. Der Lada des Popen und einige Motorsägen waren die einzigen technischen Hilfsmittel für die Siedler, und der kurze Aufenthalt, der uns auf einer Reise im Jahr 1994 dort gegönnt war, zeigte, daß sie zum Bau der kleinen Siedlung inmitten der Wildnis ausreichten. Ein Jahrtausend zuvor mögen die ersten Kolonisten, die vom Kloster Mehrerau und vom Allgäu her in den Bregenzerwald vordrangen37, ähnlich begonnen haben; einzelne Bäume im Dickicht des Urwalds gefällt, die Stämme zu Brettern geschnitten. Die Wände der ersten Häuser im Blockbau errichtet und Türen, Böden und Läden zum Verschluß der Fenster aus den Brettern gezimmert. Der Transport von Stämmen über größere Strecken war, wie es heute noch im Bergwald mancherorts der Fall ist, nur auf dem schneebedeckten, gefrorenen Winterboden mit Hilfe von Zugtieren möglich. So verbinde ich die Anfänge der Besiedlung des Bregenzerwaldes mit dem Bild aus Sibirien: wegloser Wald, da und dort eine Rauchsäule, die aus

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dem Kamin eines Blockhauses aufsteigt. Das Haus selbst ist zwischen den Stämmen noch unsichtbar, denn die Lichtung umschließt die locker gruppierten Bauten ganz eng. Was heute die Kulturlandschaft prägt, die zusammenhängende Rodung für Acker und Weide, fehlt in diesem Zustand noch. Der freie Raum ist noch nicht geschaffen. Im untersuchten Gebiet ist heute der traditionelle Holzbau mit seinen vielfältigen, zwischen Menschen- und Baumgestalt vergleichenden Bildern verdrängt worden durch einen abstrakten, technisch geprägten Holzbau, der an internationalen Maßstäben nicht nur orientiert ist, sondern diese maßgeblich mitbestimmt. An die Bedingungen der ursprünglichen Besiedlung des Tales erinnert nur noch sein Name Bregenzerwald. Doch liegt im Umgang der hier lebenden Menschen mit dem Holz nach wie vor eine Selbstverständlichkeit, die weit mehr ist als der Restbestand einer abgestorbenen Tradition, mehr auch, als irgendein demonstratives Verhalten, das ein emsiges, tourismusorientiertes Regionalmarketing zur Produktion einprägsamer Bilder inszeniert, in deren Motivkatalog mittlerweile neben Bauernhäusern und Almhütten auch das schnittige, in idyllische Landschaft gebettete Architektenhaus Aufnahme gefunden hat. Der Graubündner Architekt Gion Caminada beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit einem regional verankerten Holzbau und beschreibt anläßlich einer Handwerksausstellung im Bregenzerwald das im ländlichen und insbesondere landwirtschaftlichen Holzbau verankerte Selbstverständnis: Das einzige Rohmaterial, das die Region in genügender Menge liefert, ist Holz. (...) Holz wird aus einem „Selbstverständnis“ heraus verwendet. Die einheimischen Handwerker und auch die Bauern können mit diesem Material umgehen. Es gibt auch eine gute Infrastruktur zur Verarbeitung des Rohstoffes Holz. 38

Gespräche mit Bauherren von Holzhäusern, mit Unternehmern aus dem Holzbaugewerbe und mit Bürgermeistern und Gemeindevertretern zweier Dörfer sind diesem Umgang mit dem Holz, auch den Vorbehalten gegenüber dem Holzbau, der insbesondere in den Nachkriegsjahrzehnten als unsolide verschrieen war, nachgegangen, um für Qualitäten, Kompetenzen und Strategien, auch für wiederbelebte traditionelle Rituale, und insbesondere für die typischen Rollen der tonangebenden Spezialisten, Zimmerern wie Architekten, angemessene Begriffe und Beschreibungen zu finden. Insbesondere dort, wo Selbstverständlichkeit herrscht, lauerte hierbei eine Falle, die Bruno Reichlin für eine Begriffsbestimmung der Alpinen Architektur benannte, nämlich den Umgang mit dem Holz und dessen baulichen Manifestationen vordergründig als „Bild“ zu nehmen und dessen Entstehung als „natürliche Absonderung von Land und Leuten“ zu interpretieren.39 Die 1980er Jahre haben den Holzbau auf breiter Basis reanimiert, ihm neues soziales Renommee verschafft und ihn zunächst zum Kennzeichen einer jungen, ökologisch bewegten Bauherrengeneration erhoben. Jenseits aller

Holz als vertrauter Baustoff

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Gefühlswerte, grenzwissenschaftlichen Argumente und Mystizismen, die den Holzbau bis heute begleiten, spricht für die Nutzung des Holzes als Baumaterial auch aus der Sicht heutiger, ortsansässiger Bauherren vor allem der Umstand, daß es einfach da ist. Wiederholt sind mir bei der Bearbeitung von Wohnhausplanungen für ein Bregenzer Architekturbüro Bauherren begegnet, die mit der Aufforderung nach Verarbeitung schlagreifer Bäume oder bereits am Waldrand nahe des Bauplatzes bereitliegender Stämme in die ersten Besprechungen ihres Projekts gekommen sind. Auch im Gespräch mit dem Ehepaar Eugster aus Langenegg taucht das eigene Holz, hier dem elterlichen Wald Frau Eugsters entstammend, auf: Wir hatten ja keine fixe Vorstellung, und der [Architekt] hat uns dann den Vorschlag gemacht, mit dem Holz. Und wir sind also darauf praktisch gleich eingestiegen. (...) Holz ist kein Problem, das hat man bei uns. Das haben wir dann von den Eltern bekommen, das mußten wir nicht bezahlen. Aus eigenem Wald? LE Ja. Das war natürlich auch ein Punkt. AE Es war nicht so, daß wir das Holz aus dem eigenen Wald drinnen haben wollten, aber es war gut, daß wir es nicht kaufen mußten. Also, es war vielleicht ein Grund, sich für ein Holzhaus, und gegen ein Ziegelhaus zu entscheiden? AE Ja. Aber wenn der Architekt gesagt hätte, er baut uns irgendein gemauertes Haus, wir hätten auch ja gesagt.40

Das eigene Holz repräsentiert die Familie

Zum Ausdruck kommt hier, daß Arno Eugster (AE), der Lehrersohn, zum Holz keinen vitalen Gefühlsbezug hat. Für ihn steht im Vordergrund, daß es ein Baumaterial ist, das er geschenkt bekommt. Im Sinn einer Identifikation mit dem Wald ihrer Eltern, den sie wohl seit Kindheit kennt, spricht statt dessen seine Frau Leopoldine (LE) auf den Aspekt des „eigenen Holzes“ an. Die Verknüpfung mit der Person des Vaters und Schwiegervaters, der sich sowohl über die im Haus sichtbar belassenen Dekkenbalken freut, die sein Holz zeigen41, wie auch darüber, daß er in seinen Kenntnissen über den richtigen Zeitpunkt des Holzfällens geschätzt wird42, läßt den Baustoff Holz hier vor allem in einer sozialen Funktion auftreten. Sosehr der Hausbau für die Eugsters zum Streitfall mit Nachbarschaft und Gemeindeobrigkeit wird, so sehr schafft er gleichzeitig Solidarität und neue Verwurzelung in der Familie. Das eigene Holz ermöglicht materielle und tätige Unterstützung durch die Eltern und deren Anerkennung durch sichtliche Wertschätzung. All diese Aspekte individueller Identifikation betreffen die stoffliche Substanz, die Materie des Holzes, nicht die Form, in der es am Haus in Erscheinung tritt. Eine Voraussetzung, daß Holz in diese soziale Funktion eingesetzt werden kann, bietet der breit gestreute private Waldbesitz in den Talschaften Vorarlbergs.43 Auch auf kommunaler Ebene, in den untersuchten Dörfern des Bregenzerwaldes, finden wir vergleichbare Identifikationsmuster. Hier treten sie jedoch intentionaler auf, als Mittel, um vorhandene Bindung zu stärken, neue Bindung zu schaffen und so Argumente für das Bleiben der Bewohner in den ständig von Abwanderung und Überalterung bedrohten Dörfern zu erzeugen. In Langenegg, wo auch das Eugster-Haus steht, gab der Bau zweier

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kommunaler Holzbauten Anlaß zu ausführlichen Gesprächen mit Bürgermeister Peter Nußbaumer sowie dem ausführenden Generalunternehmer Bertram Dragaschnig, einem gelernten Zimmermann. Charakteristisch für dieses Bauprojekt war die Auflage der Gemeinde, ausschließlich Holz aus eigenem Wald zu verwenden. Dragaschnigs Erzählung des notwendigen Ausweichens auf den Wald der Nachbargemeinde, „die Gemeinde Langenegg hat bei weitem nicht soviel [Tanne]“44, drückt aus, daß das Material Holz ein Identitätsbestandteil der Gemeinde ist. Es ist nichts, was die Gemeinde lediglich besitzt oder womit sie sich schmückt, sondern es ist Teil der Substanz der Gemeinde. Auch in anderen Gesprächen unseres Forschungsprojekts tauchen solche Begriffe auf, die die Deckungsgleichheit zwischen Dorf und Wald im Bewußtsein ihrer Bewohner dokumentieren:

Holz gehört zur Substanz der Gemeinde

Das ganze Haus ist mit Weißtanne gemacht. Decken, Wände, alles Weißtanne. Aus der Gemeinde. Großteils aus dem Pfarrwald.45

Holz ist somit auch auf kommunaler Ebene das Material, das da ist, also nicht gekauft werden muß. Ernst Wirthensohn erzählt von einem Fall, in dem es zum Zweck der Schulhauserweiterung von der Kirche gestiftet wird. Pfarrwald ist eine Herkunftsangabe, die ganz und gar zum dörflichen Leben gehört. Dieses unmittelbare Vorhandensein macht das Bauen mit Holz in kommunalen Bauprojekten wieder als „selbstverständliche“ Wahl vermittelbar und läßt es im privaten Hausbau erneut zum „naheliegenden“ Baumaterial werden. So einfach die Verarbeitung des „vor der eigenen Haustür“ gewachsenen Holzes zunächst erscheint, so schwer fügt es sich in den modernen Planungsund Bauprozeß ein. Im Versuch, das Naheliegende zu tun, zeigt sich, wie sehr das Fernliegende inzwischen das Bauen bestimmt, konkret die globale Verfügbarkeit erstklassigen Materials, das der internationale Holzgroßhandel bietet. Dieser Überfluß wird durch billigen Transport über beliebige Strecken erzeugt und ermöglicht ausdrücklich auch den Materialfluß in Gegenrichtung, also die Rückgabe bei kundenseitiger Unzufriedenheit. Solche Voraussetzungen sind längst als Normalfall in die Praxis von Planung, Ausschreibung und Vergabe von Bauaufträgen sowie der Qualitätssicherung eingeflossen. Die archaische Konstellation eines ländlichen Holzbaus, die noch der Bauernhof inmitten seiner Rodung verkörpert hat, in der Hausbau und Materialgewinnung in kürzestmöglicher Distanz zueinander stehen müssen, um den zeit- und kraftraubenden Transport des Baumaterials zu vermeiden, hat die Bauwirtschaft unter den aktuellen Bedingungen eines 37 38 39 40 41 42

EW 1: Z 47 ff Caminada, S. 5 Reichlin (1996), S. 87 ALE: Z 379 ff ALE: Z 1087 ff ALE: Z 1097 ff

43 Für solche Bauwerber, die keinen eigenen Wald besitzen, hat der Waldverband Vorarlberg die Broschüre Leitfaden für den Einkauf von Heimischem Holz, Bregenz 2006, herausgegeben. 44 BD: Z 33 f 45 EW 2: Z 188 ff

Eigenes Holz im modernen Bauprozeß

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globalisierten Rohstoffmarktes in ihr Gegenteil verkehrt. Die räumliche Distanz zwischen Gewinnung und Verarbeitung der Rohstoffe und der Umstand, daß der zu ihrer Überbrückung erforderliche Transport mit Hilfe staatlich subventionierter Treibstoffpreise zum vernachlässigbaren Faktor erklärt werden kann, ist auch im Holzbau das typische Merkmal heutiger Wirtschaftsweise geworden. Industrialisierung im Holzbau zeichnet sich neben maschinengestützter „Ernte“ und fabrikmäßiger Verarbeitung des Holzes46 also vor allem durch die geographische Trennung von Gewinnung, Verarbeitung und Verwendung des Holzes aus. Weltforstwirtschaft

Intensive wirtschaftliche Nutzung des Waldes und weltweiter Holzhandel sind kein genuin modernes Phänomen, sondern haben bereits zur Versorgung sämtlicher Weltreiche seit der Antike die materielle Grundlage geliefert.47 Weniger als Überraschung denn als Teil einer Normalisierung erscheint es also, wenn der enorme Materialbedarf, den heute vor allem das aufstrebende China entwickelt, nach dem europäischen Stahl mittlerweile auch sein Holz erfaßt hat. „Es gibt längst eine Weltforstwirtschaft“, resümiert Bernhard Dierdorf, Vorsitzender des „Bundes Deutscher Forstleute“ unter der Überschrift „China hat Interesse am deutschen Wald“ im Wirtschaftsteil einer deutschen Tageszeitung.48 Zunächst erstaunlich, nämlich als Anachronismus und erklärungsbedürftige wirtschaftliche Unvernunft erscheinen angesichts der jederzeit verfügbaren Sortimente einer weltweit vernetzten Holzwirtschaft vielmehr solche Voraussetzungen, wie sie am Waldrand bereitliegende Baumstämme, die Materialstellung von Bauholz seitens der Gemeinde bei den Kommunalbauten in Langenegg oder die Stiftung des Bauholzes durch die Kirche bei der Schulhauserweiterung in Thal bieten, Voraussetzungen, die bewußt die Marktgesetze außer Kraft setzen. Vernünftig werden sie erst im Kontext von Erfahrungen, wie der Zerstörung von regionaler Infrastruktur durch den Konkurrenzdruck einer globalisierten Wirtschaft, der sich etwa am kontinuierlichen Sinken des Holzpreises gegenüber der realen Kaufkraft bemerkbar macht. Um die „Kaufkraft eines geernteten Festmeters Rundholz vom Anfang der siebziger Jahre zu erreichen, müssen heute 2,5 bis 3 Festmeter geerntet werden“49, stellt eine Beschreibung des Technologiestandes der österreichischen Forstwirtschaft nüchtern fest und stellt auf die rhetorische Frage „Wie kann eine Branche einer solchen Entwicklung überhaupt standhalten?“ Strategien der Forstwirtschaft vor, die sich von denen anderer Industriezweige nicht unterscheiden: „Senkung der Kosten durch Zukauf von Dienstleistungen und Personalabbau, Erhöhung der Produktivität mit neuen Holzernteverfahren, Intensivierung und Schaffung neuer Geschäftsfelder.“50 Die kommunalpolitisch initiierte Reaktivierung kleinräumiger Holzwirtschaft reagiert auf die existenzbedrohende Verschlechterung der Lebensbedingungen, die die im ländlichen Raum lebenden Menschen durch solche

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Prozesse erleiden. Die derzeit noch vereinzelten Signalprojekte sind eine Strategie, den von Verlust und Demontage seiner Infrastruktur bedrohten ländlichen Raum gezielt zu schützen. Gebaute Beispiele solcher Initiativen mehren sich in Vorarlberg inzwischen. Mit dem Kindergarten Langenegg und der Schulhauserweiterung in Thal wird sich die vorliegende Studie im Anschluß näher befassen, das Gemeindezentrum in Ludesch ist ein weiteres, vielfach publiziertes Beispiel. Auch in der benachbarten Schweiz werden Projekte mit ähnlicher Zielsetzung realisiert, so in Urnäsch, einem Dorf im Kanton Appenzell-Außerrhoden, wo aus gemeindeeigenem Holz, hier mit Vorarlberger Architekten-Know-how, ein Feriendorf entstand. An erster Stelle jedoch ist das Graubündner Bergdorf Vrin zu nennen, seit Jahrzehnten bearbeitet von dem Architekten Gion Caminada, der das Dorf demonstrativ als seinen Lebens- und Arbeitsort aufrechterhält und mit seiner kommunalpolitischen, sozialen und architektonischen Kulturarbeit ein Zeichen gegen die Abwertung des ländlichen Raumes zu „Resorts“ der Freizeitgestaltung von Städtern setzt. Die Sonderstellung dieser Projekte zeigt sich in ihrer Präsentation und öffentlichen Wahrnehmung. Entgegen der sonstigen Architekturberichterstattung im Feuilleton der Tageszeitungen wird über solche Signalprojekte 46 Eberl, S. 11 47 Ebenfalls ist der mit dem Holzhandel verbundene Transport von Bau- und Edelhölzern über weite Strecken keineswegs eine Neuentwicklung der modernen Weltwirtschaft. Bereits die frühen Hochkulturen am Nil und jene zwischen Euphrat und Tigris waren aufgrund klimatisch bedingter Holzknappheit auf den Import nicht nur exotischer Schmuckhölzer, sondern auch von Hartholz für den Schiffsbau und von Bauholz angewiesen. Aus dem Libanon wurden Zedern, aus Nubien Ebenholz und Zypressen sowie Koniferen aus Armenien nach Ägypten transportiert, nach Babylon Teakholz aus Indien eingeführt. Die Phönizier verbreiteten den Handel mit seltenen Hölzern über den ganzen Mittelmeerraum, wichtiger für den Handel wurde jedoch bald der Ex- und Import von Nutzhölzern, insbesondere für den Schiffsbau. Makedonien, in der klassischen Zeit Griechenlands Hauptausfuhrgebiet für Holz, erhielt in der römischen Kaiserzeit bereits Konkurrenz durch die waldreichen Donauprovinzen. Andresen, S. 1315 Und so, wie in unseren Breiten die Rodung des Waldes zur Schaffung von Acker- und Weideland, des Waldes, der noch um das Jahr 1000 die Fläche Österreichs zu 95% bedeckte (vgl. Johann), die Landschaft radikal veränderte, ebenso prägte der intensiv betriebene Schiffsbau und sein Holzbedarf die Küsten des Mittelmeeres, die mit zunehmender Entwaldung auch ihren fruchtbaren Boden durch Erosion verloren. (Vgl. etwa Braudel: Schiffe und Wälder, in: Die Welt des Mittelmeeres; Frankfurt: Fischer, 1990; S. 45)

In Österreich setzte eine Intensivierung der Nutzung des Waldes, der in vorindustriellen Zeiten vor allem der Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Bau- und Brennholz gedient hatte, im achtzehnten Jahrhundert durch den sprunghaft gestiegenen Holzbedarf der Montanindustrie für Grubenbauten, insbesondere jedoch zur Holzkohleerzeugung, ein. Auch die Salinen benötigten zum Aussieden der Salzsole Brennholz in solchen Mengen,„daß sogar die schönsten Nutzholzbestände nicht nur an Fichte, sondern auch an Lärche und Zirbe als Hallholz in die Sudpfannen (...) wanderten“. Johann (2002) Doch erst, nachdem zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts als Folge großer Kahlschläge „erhebliche landeskulturelle Schäden wie katastrophale Murenabgänge und Überschwemmungen“ (ebd.) aufgetreten waren, erhielt der Schutz des Gebirgswaldes im Interesse der Landeskultur eine gesetzliche Grundlage. „Mit dem Forstgesetz vom 3. Dezember 1852 [wurde] ein Jahrhundertwerk geschaffen, das bis zum Jahr 1975 Gültigkeit hatte. (...) Als oberste Maxime galt dabei, daß die Waldfläche Österreichs in ihrem vollen Umfang erhalten bleiben sollte“ (ebd.). Der Wald wurde in seiner wirtschaftlichen Nutzung hierdurch nicht beschränkt, sondern diese vor allem mit den Interessen der Agrarkultur sowie dem Schutzbedürfnis der Siedlungen koordiniert. 48 Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. 06. 2007, S. 12 49 Eberl, S. 11 50 Ebd.

Kleinräumiges Wirtschaften zum Schutz des ländlichen Kulturraums

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auch im Wirtschafts- oder Inlandsteil überregionaler Tageszeitungen berichtet. Nicht mehr die Form der Neubauten und der Architekt als ihr Autor stehen im Mittelpunkt, wie in üblichen Architekturrezensionen, sondern ihre wirtschaftliche Bedeutung sowie die Rolle des Bauherrn: Profitieren wird auch die Holzwirtschaft: Für Gebäudehüllen und Innenausbau wurden 2700 Kubikmeter einheimisches Holz aus Weiß- und Rottannen verarbeitet und dank dem Feriendorf konnte ein Fernwärmeverbund realisiert werden...51 Bedingungen für die Umsetzung kleinräumiger Holzwirtschaft

Konkret bedeutet die Rückkehr zu einer kleinräumigen Wirtschaftsweise eine Beschränkung auf die Materialressourcen des eigenen Waldes. Den Beteiligten, Bauherren ebenso wie Architekten, Unternehmern und Behörden, verlangt dieser Schritt die Bereitschaft ab, gewohnte Verfahren und absichernde Normen außer Kraft zu setzen, vor allem jedoch, auf Vorleistungen durch Forstwirtschaft und Holzhandel zu verzichten, die auf der Basis enormer Holzmengen und internationaler Bezugsquellen imstande sind, einheitliche Holzsortierungen anzubieten und zu gewährleisten. Die Auseinandersetzung mit einem Gesamtkonvolut an vorhandenem Material, dem ganzen Stamm, und bei größeren Projekten, dem Bestand einer zusammenhängenden Waldfläche schlagreifer Bäume, bringt ökonomische Kriterien in den Planungs- und Bauprozeß zurück, die als Teil einer modernen Arbeitsteilung längst „überwunden“und an Spezialisten delegiert zu sein schienen. Insbesondere die Notwendigkeit, Qualität zu definieren und den Aufwand ihrer Erzeugung ökonomisch zu beurteilen, steht wieder im Mittelpunkt, da die „objektiven“ Sortierklassen des internationalen Holzhandels auf die ortsabhängige Beschaffenheit lokaler Holzbestände nicht anwendbar sind. Mario Nußbaumer, Gemeindeangestellter in Langenegg, schildert im Gespräch die Konsequenzen: Also das, alles Holz aus Langenegg, alles Weißtanne. Und was vielleicht nicht jedem auffällt, Weißtannenholz ist sehr sehr astig. Wo sind die Äste? Das war ein großes Bemühen, eben so wenig wie möglich Äste drinnen zu haben. Das ist fast, fast unbezahlbar. Weil so viel Ausschuß entsteht? So viel Ausschuß, und man muß schon schauen, wo die Bäume wachsen, sie sollten eher im Schatten gewachsen sein und langsam gewachsen sein und eben halt nur die schönsten Stücke.52

Kleinräumiges Wirtschaften und Qualität

Qualität wird zwischen sozialen Gruppen verhandelt

Zur Schaffung spezifischer, also vom verfügbaren Holzbestand ausgehender Qualitätskriterien werden dem schlagreifen Wald repräsentative Stämme entnommen, diese zu Brettern gesägt und die typische Asthaltigkeit des Holzes festgestellt. Projektspezifische Sortierklassen werden festgesetzt und diese der Repräsentativität der auszustattenden Räume zugeordnet. Bertram Dragaschnig erläutert bei der Führung durch den Langenegger Kindergarten, wie sich das Verfahren im Bau niederschlägt: „Also, das ist die zweite Wahl, oder, das ist das Aussortierte vom oberen Stock.“53 Hierarchien sind zu definieren und im Fall dieses Projekts, das im Keller des kommunalen Kindergartens das Probelokal der Blaskapelle beherbergt, auch zwischen den Anspruchsgruppen des Dorfes auszuhandeln: die erste

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Wahl in den „oberen Stock“, dem Kindergarten, die zweite Wahl in den Proberaum darunter, dessen Innenausbau von den Musikern selbst ausgeführt wurde. Für den Unternehmer Dragaschnig, der das Holz von der Gemeinde zu beziehen hatte, bedeutete die Bauherrnentscheidung, vom üblichen Materialbezug aus dem Holzgroßhandel abzuweichen, erhöhtes Risiko: Die Ausschreibung heißt „Klasse A“, und da haben wir uns geeinigt auf „quasi astfrei“. Das heißt, wir haben bei der Wandvertäfelung 33% Verschnitt. Wir haben im Normalfall 15% (...). Das sind Kosten, die man nicht weiterverrechnen kann, die bleiben an uns hängen. (...) Wenn man dieses „quasi astrein“ will, braucht man sehr, sehr viel Holz.54

Die Auseinandersetzung mit den natürlichen Eigenschaften des Materials bestimmt den Qualitätsbegriff. Wer sich astfreies Weißtannetäfer leisten kann, verfügt über viel Material, ist „reich“ genug, die asthaltigen Bretter aussortieren zu können. Die schmalen Fassadenlatten des Langenegger Kindergartens funktionieren überhaupt nur astfrei. „Wenn da ein Ast drin wär, dann hätt mer da einen Knick drin.“55 erklärt Dragaschnig. Für die repräsentative Außenansicht wurde hier eine Verfeinerung der Form entwickelt, die nur mit der höchsten Sortierqualität herstellbar ist.

Qualität als Ausnahmeerscheinung

Der Ausführungsplanung fallen in dieser neuen Ökonomie des kleinräumigen Wirtschaftens neue Aufgaben zu. So ist zur Maximierung der Ausbeute nutzbaren Holzes aus dem vorhandenen Materialkonvolut die Koordination der Maßquerschnitte von sichtbarem Verkleidungs- und unsichtbarem Konstruktionsholz ein wichtiger strategischer Schritt, der jedoch weit intensivere Zusammenarbeit zwischen Architekt und Statiker voraussetzt, als sie heutige Planungsprozesse normalerweise bieten.56 Die Maßkoordination ist der Erkenntnis geschuldet, daß effektive Qualitätssortierung erst beim Sägevorgang erfolgen kann, somit erste und zweite Wahl immer gleichzeitig entstehen und unmittelbar an der Säge sortiert werden müssen. Es ist jedoch nicht nur das Wissen um seine Herkunft, die in den betrachteten Signalprojekten dem Holz Identität verleiht und der lokalen Holzwirtschaft Arbeit vor Ort gibt, es offenbaren sich in der lokalen Verarbeitung auch spezifische Eigenschaften des einheimischen Holzes: „Es gibt in Tschechien auch Weißtanne, aber wenn du dort Holz kaufst und für den Sichtbereich verwendest, da haben wir eine ganz andere Holzfarbe...“57 So verbot sich Dragaschnig insbesondere, einen durch den hohen Verschnittanteil auftretenden Materialengpaß durch einen spontanen Anruf beim Großhändler zu überbrücken.

Ökonomische Materialnutzung als Ziel von Planung

Da haben wir es dann so gemacht, daß wir mit dem Waldbesitzer in den Wald gegangen sind, die Tanne, die Tanne und die Tanne wollen wir haben, oder, und die haben nachmittags die Motorsäge gestartet, den Baum gefällt, sofort auf die Säge.58 51 Lebenszeichen aus dem Hinterland–Erstes Appenzeller Feriendorf als Chance für Urnäsch: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.03.2008, S. 18

52 MN: Z 299 ff 53 BD: Z 116 f 54 BD: Z 120 ff

Ortsspezifische Qualität

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138 Qualität als Ergebnis qualifizierter Verarbeitung

Riftschnitt

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Die Qualität des Holzes als Bauholz entwickelt sich aus einer Wechselwirkung zwischen natürlicher Beschaffenheit des Baumes, Einflüssen aus den Bedingtheiten des Ortes und der qualifizierten Verarbeitung des gefällten Stammes. Natürliche Eigenschaften wie Holzfarbe und Astanteil sind durch Sortierarbeit in ihrer Erscheinung beeinflußbar. Ausschließlich der qualifizierten Verarbeitung unterliegt dagegen das Schnittbild des Holzes. Dragaschnig betont, daß nicht jeder Säger imstande sei, den Stamm so aufzuschneiden, daß größtenteils Riftschnitt, also stehende Jahresringe, entstehen. Das Sägen zur Erzeugung von Riftschnitt dauere länger, da der Stamm stufenweise zerlegt werden müsse, gesägt und zwischendurch gedreht werde. Das Riftschnittbrett ist, im Verwendungskontext Zeitgenössischer Vorarlberger Architektur, ästhetisch gewünscht, denn es zeigt ein „schlichtes“ Schnittbild. Weiterhin sind auch seine Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften verbessert: Das Brett schüsselt nicht, bleibt formstabil und gibt weniger Spieße ab, da die Fasern fest im Holzverbund verankert sind. Dragaschnig erläutert während des Rundgangs im Langenegger Kindergarten den komplexen Vorgang seiner Erzeugung: Es werden zuerst Model geschnitten, zehn Zentimeter breite Dielen, aus dem ganzen Block. (...) Daß die Jahresringe immer stehend sind. (Zeigt an der Wand:) der Fladrige, der ist schon falsch geschnitten. Den gibts automatisch, im Randbereich, aber eigentlich, gewünscht, wurde das. Da muß man hergehen, also diese Model schneiden, dann werden sie gelegt, auf doppelte Stärke geschnitten, also, die Rohware doppelt, dann wird getrocknet, und erst dann, wenn mans hobelt, trennt mans auf...59

Mehrfach erwähnt Dragaschnig im Gespräch den entscheidenden Einfluß ausführender Handwerker auf die Holzqualität, ihre Fachkenntnis und Erfahrung, „zu welchem Zeitpunkt mans trocknet, zum Beispiel“60, ihr Blick dafür, „wie der Model dann ausschaut“61. „Also, der wo das Holz sortiert, der muß Holzfachmann sein, damit man so ein Ergebnis erzielt, wie wir es hier haben. Wir haben ganz einen hervorragenden Säger.“62 Offensichtlich wohnt dem Holz als Baustoff das Potential inne, an besonders vielen Punkten seiner Verarbeitungskette zugänglich zu sein für „einfühlende“ Bearbeitung. Die Summe des händischen Wissens der Bearbeiter hebt spürbar die Qualität des fertigen Holzbaus. 55 BD: Z 293 ff 56 Die Ungewöhnlichkeit des Vorgangs innerhalb der modernen Verfahrenspraxis wurde im Fall des Feriendorfs Urnäsch vom Schweizer Sägereiverband bestätigt: Eine ähnlich genaue Ausschreibung habe es auf seinem Sektor in der Schweiz bisher nicht gegeben. Festgestellt werden konnte bei diesem Projekt auch, daß die Beschränkung auf ein begrenztes, dem eigenen Wald entstammendes Holzkonvolut nicht nur im modernen Wirtschaftlichkeitsdenken, sondern ebenso in der technischen Ausrüstung der Sägereien gegen den Strom der Zeit gerichtet ist. Automatisierte, auf maximale Nutzholzausbeute getrimmte Sägeanlagen kontrollieren zwar jedes ge-

sägte Brett mittels automatischer Bilderfassungsgeräte, um den Stamm möglichst effektiv auszunutzen, die lokale Herkunft der Stämme auf dem Holzlagerplatz, erst recht der Säge- und Hobelware geht in dieser Verfahrensweise jedoch zwangsläufig unter, spätestens, sobald die Holzprofile in die Lagerhallen des Großhandels einsortiert sind. 57 BD: Z 175 ff 58 BD: Z 170 ff 59 BD: Z 147 ff 60 BD: Z 209 61 BD: Z 210 62 BD: Z 202 ff 63 Wie Anm. 52

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Sie zeigt sich vor allem demjenigen Betrachter und Nutzer, der mit Holz vertraut ist. So schätzt vor allem derjenige astfreies Weißtanne-Täfer, der den hohen natürlichen Astanteil dieser Holzart kennt. Mario Nußbaumer hatte zu Beginn seiner Führung auf eben diesen Qualitätsaspekt hingewiesen: „Und was vielleicht nicht jedem auffällt...“63 In der Wahl des Zeitpunkts für die Holzfällung, dem Beginn der Verarbeitungskette im Wald, verbindet sich natürliche Voraussetzung und qualifizierte Verarbeitung mit archaischer Naturbeobachtung. Insbesondere die Beachtung der Mondzyklen64 bei der Bestimmung des Fällzeitpunkts führen auf ein zunächst dubios erscheinendes Feld. Die im Land verbreitete Orientierung von Alltagsverrichtungen am Mondkalender, so, „daß man nach Auskunft aus Vorarlberg selbst beim simplen Brennholzaufschlichten (...) auf übergehenden Mond und Hornzeichen (etwa Steinbock) achten sollte, damit die Scheiteln rasch und anhaltend austrocknen“65, bietet eine Zielscheibe wohlfeilen Spotts von außerhalb der Landesgrenzen. „Mondholz“ ist also ein Vorarlberger Thema. Die wissenschaftlich feststellbare Verbesserung der physikalischen Eigenschaften des Holzes durch Beachtung der Mondzyklen bei der Bestimmung des Fällzeitpunkts, nämlich Dichte, Trocknungs- und Schwindverhalten, die für seine Verwendung als Bauholz von Relevanz sein könnten, werden gegenwärtig nicht systematisch genutzt. Bürgi und Leuthold begründen dies mit „deutlich ausgeprägteren“ Einflüssen aus Standort und Klima auf die Holzqualität.66 Die in ihrer Studie geäußerte Geringschätzung einer Praxisrelevanz der verbesserten physikalischen Holzeigenschaften von „Mondholz“ erscheint angesichts neuer maschineller Meß- und Sortierverfahren für Bauholz überholt, da diese nun imstande sind, auch die Holzfestigkeit zu berücksichtigen. Als Folge dieser Entwicklung könne zukünftig im Holzbau, speziell „in der Dimensionierung, im Materialeinsatz wesentlich wirtschaftlicher“ gearbeitet werden67, betont Dr. Erich Wiesner, Obmann des Fachverbandes der Holzindustrie Österreichs. Vorläufig wird „Mondholz“ im Holzmarketing noch vor allem als Produkt mit hohem Identifikationspotential für den Endverbraucher aufgebaut. Mit der Möglichkeit, anhand des Mondkalenders den Fällzeitpunkt selbst bestimmen zu können, womöglich gemeinsam mit dem Waldbesitzer und Säger vor Ort die schlagreifen Bäume selbst auszusuchen, streben aktuelle Marketinginitiativen im Untersuchungsgebiet und in benachbarten Regionen die Schaffung neuer Bindungen zwischen Einzelbauherren und der regionalen Holzwirtschaft an. Den Rahmen solcher Initiativen bildet eine Strategie zur Stützung der Wettbewerbsfähigkeit von Gebirgsregionen und ihrer durch Standortnachteile bedrohten Holzwirtschaft. Ihre Träger, regionale Forstwirtschaftsverbände, etwa Vorarlbergs, aber auch des benachbarten Schweizer Kantons Graubün-

Qualität durch Wahl des Zeitpunkts der Holzfällung

Wissenschaftliche Erforschung der Mondeinflüsse auf die Holzqualität

Wirtschaftlichkeit der Nutzung von Gebirgswäldern

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den, identifizieren Einschränkungen der Wirtschaftlichkeit von Forstbetrieben in Bergregionen vor allem in der kurzen jährlichen Vegetationsperiode. Die Folge ist geringere Produktivität gegenüber den Nutzwäldern tiefer gelegener Regionen.68 Unter den einschränkenden Faktoren seiner wirtschaftlichen Nutzung ist zunächst die Funktion des Gebirgswaldes als Schutzwald zu nennen, die Flächenrodungen, wie sie wegen des Geräteeinsatzes wünschenswert wären, weitgehend verbietet. Statt dessen muß in besonders sensiblen Lagen einzel64 Die komplexe Bewegung des Erde-Mond-SonneSystems wird bezüglich der Erscheinung des Mondes aus Erdperspektive in drei separat zu betrachtenden Mondzyklen beschrieben. (Zürcher, S. 59 f) Der synodische Mondrhythmus (29,531 Tage) beschreibt den Lauf des Mondes um die Erde und seine Erscheinungsformen als Neu-, Halb- und Vollmond je nach Stellung zur Sonne. Diese Mondphasen werden als zu- bzw. abnehmender Mond bezeichnet. Während jedes Erdumlaufs ergibt die Neigung der Mondbahn zur Erdachse eine Überlagerung mit einem zweiten, dem tropischen Mondrhythmus, der sich gegenüber dem Erdhorizont in einem täglich höher bzw. in der zweiten Zyklushälfte kontinuierlich niedriger erscheinenden Mondlauf zeigt. Der tropische Monat dauert 27,32158 Tage, ist also rund zwei Tage kürzer als der synodische. „Aufsteigender“, „über sich gehender“, schweizerisch „obsigehnder“ Mond bezeichnen die erste Hälfte des tropischen Monats, „absteigender“, „unter sich gehender“ oder „nidsigehnder“ Mond seine zweite Hälfte. Noch eine dritte Einflußebene findet in den Mondbeobachtungen seit jeher Erwähnung. Der siderische Mondrhythmus, der den Mond im Verhältnis zum – aus Erdperspektive – dahinterliegenden Sternenhimmel beschreibt. Die Periode eines Monddurchlaufs durch die zwölf Tierkreiszeichen hat nahezu diesselbe Länge wie ein tropischer Mondzyklus, nämlich 27,32166 Tage. Diese schwer zu fassenden Phänomene, die bereits drei Himmelskörper bieten, welche auf gegeneinander verkippten Bahnen elliptisch umeinander kreisen und selbst wiederum rotieren, sind eingebettet in außerhalb jeder menschlichen Erfassbarkeit liegende Periodizitäten der Sternbewegungen, die etwa den Tierkreiszeichen zugeordnete Sternbilder unendlich langsam über den von der Erde aus sichtbaren Himmelsausschnitt verschieben. Zusätzlich zu solch astronomisch nachweisbaren Verschiebungen verunklären Veränderungen in der Kalendersystematik die Überprüfung überlieferter Regeln, die sich aus der jahrtausendealten Himmelsund Naturbeobachtung ergeben. Der Zeitsprung von immerhin zehn Tagen, den Papst Gregor XIII. zur Korrektur des seit der Zeitenwende gültigen Juliani-

schen Kalenders anordnete, indem er auf den 4. Oktober 1582 unmittelbar den 15. Oktober folgen ließ, bedeutete die Verschiebung des Kalenders gegenüber den Mondzyklen um einen Drittel Monat. (Klaus Bartels: Was sonst hält 2000 Jahre? in: Die Presse, 23.02. 2008, Spectrum S. 1) Ob Bauernregeln und andere Volksweisheiten, die Himmelsbeobachtungen mit dem Kalender koordinieren, um Zeitpunkte für bestimmte Verrichtungen anzugeben, solche Sprünge jeweils mitvollzogen haben ist immerhin fraglich. Ausführlich zitiert eine 2005 von der Landwirtschaftskammer Vorarlberg gemeinsam mit dem Vorarlberger Waldverband herausgegebene Broschüre „Mondphasenholz – Holz vom richtigen Zeitpunkt“ solche Regeln und nennt weiterführende Literatur. Eine Reihe wissenschaftlicher Versuchsreihen, in jüngster Zeit insbesondere am Dept. Forstwissenschaften der ETH Zürich unter der Leitung Ernst Zürchers, aber auch an der Universität Florenz und andernorts, untersuchen die Beziehungen zwischen synodischem und tropischem Mondzyklus, dem Fällzeitpunkt und den resultierenden Holzeigenschaften. So konnten periodische Durchmesserschwankungen von Stämmen sowohl lebender als auch gefällter Bäume im Rhythmus der Gezeitenkurve des jeweiligen Ortes erkannt werden, weiterhin Variationen des Trocknungsverhaltens sowie der Dichte des Holzes. Die zwischen „günstiger“ (abnehmender + absteigender) und „ungünstiger“ (zunehmender + aufsteigender) Mondstellung festgestellten Dichteschwankungen von immerhin durchschnittlich 10% interpretiert Zürcher als das mit dem Mondlauf schwankende Vermögen der Zellwand, Wasser zu binden. „Diese fällzeitbedingten Unterschiede sind zunächst für unsere holzphysikalischen Kenntnisse erstaunlich. Eine zu prüfende Erklärung dazu wäre, daß das Holz einmal das Wasser leichter verliert und dadurch eine tiefere Dichte erhält, abwechslungsweise mit Phasen, wo das Wasser stärker an die Zellwand gebunden bleibt, mit höheren Dichten als Resultat.“ Zürcher, S. 61 f 65 Hell, S. 15 66 Bürgi, Leuthold, S. 17 67 Tschavgova (2002), S. 18 68 Vgl. Bürgi, Leuthold

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stammweise durchforstet werden, um die Fähigkeit des Waldes zu Bodenstabilisierung und Lawinenschutz nicht zu gefährden. Dazu kommt Unzugänglichkeit großer Waldflächen durch steile Hangneigung und ihre fehlende Erschließung durch Forstwege. Weitere Nutzungseinschränkungen erlegen Naturschutzinitiativen und Anforderungen an ein „intaktes Landschaftsbild“ aus der touristischen Nutzung der Landschaft der Waldbewirtschaftung auf. Verstärkt wird die Benachteiligung gegenüber der Forstwirtschaft im Tief- und Flachland noch dadurch, daß die erwiesenermaßen höhere Qualität des langsamer gewachsenen, engjährigen Gebirgsholzes in den Normen des internationalen Holzhandels nicht spezifisch erfaßt wird und sich somit die höheren Produktionskosten nicht durch höheren Holzpreis kompensieren lassen. Speziell in Vorarlberg ist als weiterer einschränkender Faktor der hohe Anteil der in den Wäldern vertretenen Weißtanne zu sehen. Durch die Globalisierung der Holzmärkte hat diese Holzart in den letzten zwanzig Jahren ihre einstmals führende Marktposition innerhalb des Verbreitungsgebiets, das im nördlichen Voralpenraum neben Vorarlberg vor allem die angrenzende Ostschweiz, in Süddeutschland insbesondere den Schwarzwald sowie das französische Elsaß umfaßt, verloren. Hauptursache für diesen Wertverfall ist ihr, europaweit betrachtet, geringes Vorkommen.69 Gegenüber der dominierenden Fichte schränken den Wert der Weißtanne daneben Mehraufwände für die Holztrocknung ein, die zunehmend kostenmäßig ins Gewicht fallen, seit die Trocknung heutigen Bauholzes fast ausschließlich mit Hilfe technischer Verfahren erfolgt. In Vorarlberg wird der aktuelle Wertverfall zusätzlich dadurch dramatisiert, daß der Schritt der Holzwirtschaft in die Globalisierung zusammenfällt mit der Schlagreife großer Teile der Weißtannebestände in den Wäldern, die aufgrund fehlender Nachfrage zu überaltern drohen. Insbesondere im Bregenzerwald ist es jedoch gelungen, die Suche nach einer zeitgemäßen Identität der Region mit einer Vermarktungskampagne zugunsten der Weißtanne zu verknüpfen, dergestalt, daß Weißtanne heute zum Synonym für heimisches Holz aufgebaut werden konnte. Wer heute im Bregenzerwald Zeitgenössische Architektur besucht, begegnet der Weißtanne fast zwangsläufig. Ihre Verbreitung als Einkleidung zeitgenössischer Bauten ist mittlerweile derart hoch, daß sie alle anderen Holzarten zu verdrängen scheint. So selbstverständlich der Zustand dieser totalen Präsenz erscheint, als so außergewöhnlich entpuppt er sich bei jedem Schritt zur Seite, der einen Blick von außen ermöglicht. So verursachte meine Anfrage bei einem Lackhersteller im benachbarten Bundesland Tirol nach einer Bemusterung seines Materials auf Weißtannefurnier zunächst Ratlosigkeit am anderen Ende der Telefonleitung. Weißtannefurnier, hieß es, sei in Tirol nicht erhältlich, denn diese Holzart diene dort ausschließlich als Brennholz.

Weißtanne

Wiederentdeckung von Weißtanne als Bauholz

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Schwierige Verarbeitung der Weißtanne

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Ähnlich unwillig reagierten die Holzlieferanten für das Feriendorf Urnäsch im Schweizer Kanton Appenzell-Außerrhoden auf den Wunsch der aus Vorarlberg stammenden Architekten nach Bauholz in Weißtanne. Der Grund lag im schlechten Holzpreis, der wegen fehlender Nachfrage für Weißtanne dort zu erzielen ist. Daß auch im Bregenzerwald die bauliche Verwendung der Weißtanne keine kontinuierliche Tradition besitzt, sondern Resultat einer Wiederentdeckung ist, deutet sich bereits in den ersten Gesprächen der vorliegenden Studie an, als Arno Eugster die landläufige Ablehnung der Waldbesitzer gegenüber dieser Holzart erwähnt: „Also ursprünglich hat man immer gesagt, Tanne, nein, pflanz ja keine Tannen an.“70 Bertram Dragaschnig bestätigt diese Vorbehalte für die verarbeitenden Handwerker: „Zu der Zeit, wo ich die Zimmermannslehre gemacht hab, war Weißtanne nur Konstruktionsholz. Nicht für Fassade, (...) nur Konstruktionsholz, alles andere war Brennholz.“71 Es ist die Fichte, die als verbreitetste Holzart in den Nutzwäldern zur Beurteilung von Weißtanne herangezogen wird. Vor allem in der Unterscheidung zur Fichte definiert sich der „Charakter“ des Weißtannenholzes, seine Harzfreiheit, sein Geruch, der frei wird, wenn man die Handfläche an der Brettoberfläche reibt, seine größere Härte, die größere Splitterneigung der Brettkanten und die Eigenschaft durchschnittener Äste, aus dem Brett nicht herauszufallen, sich jedoch durch schwarze Verfärbung stärker abzuzeichnen, wie überhaupt das Weißtannenholz stärkere Verfärbungen zeigt, als das der Fichte.72 Die im Verarbeitungssektor geäußerten Vorbehalte liegen vor allem in der schwierigeren Verarbeitung des Weißtannenholzes begründet.73 Hier ist zuvorderst das wesentlich höherere Gewicht des frisch geschlagenen Holzes zu nennen, ein Nachteil gegenüber der Fichte, der bereits den Abtransport der gefällten Stämme aus dem Wald erschwert. Dragaschnig erläutert, wo die Konsequenzen dieser höheren Wasseraufnahme der Weißtanne auch in der Weiterverarbeitung spürbar sind: Man kann zum Beispiel Weißtannenholz und Fichtenholz nicht gemeinsam in eine Trockenkammer geben. Dann ist die Weißtanne kaputt. (...) Die hat viel mehr Feuchtigkeit, viel mehr Wasser. Wenn man Weißtanne zu schnell trocknet, dann zerspringt einem der ganze Balken.74 69 www.weisstanne.info/de/verein/forumwta.php Stand Feb. 2008 70 ALE: Z 1106 ff 71 BD: Z 60 ff; bestätigt durch Peer (2006), S. 4 72 BD: Z 35 ff 73 In Bregenzerwälder Handwerkerkreisen ist jedoch auch die Position vertreten, dem Weißtannenholz rundweg seine „Vorteile“ gegenüber Fichtenholz abzusprechen und es gegenüber diesem als minderwertig zu klassifizieren. In solchen Argumentationen wird Fichtenholz aufgrund seines Harzgehalts eine höhere Dauerhaftigkeit etwa für Fassadenschindeln bescheinigt sowie sein harziger Duft als atmosphäri-

scher Beitrag betont, demgegenüber Weißtanne in frisch verbautem Zustand eine Ausdünstung kennzeichne, die an Katzenurin erinnere. (Gespräche mit F., Bodenlegermeister mit Geschäftssitz in Dornbirn und Andelsbuch, 15./18.04.2008) 74 BD: Z 103 ff 75 BD: Z 158 ff 76 BD: Z 178 ff 77 BD: Z 112 ff 78 BD: Z 188 f 79 Markus Faißt in: Gnaiger /Stiller, S. 73 80 BD: Z 64 ff Vgl. auch Breuß (2006 / 2), S. 18 f

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Das langsame Trocknen, das war leider nur (...) im Kaltbereich möglich, im Dachstuhlbereich. Da ist es dann natürlich, über ein Jahr, ausgetrocknet. 75 Wenn man sie zu schnell trocknet, die Weißtanne, dann verschließt sie sich, die kapselt ab, die ist zu. Dann ist sie oberflächlich trocken, und die Feuchtigkeit aus dem Kern, die kommt nicht mehr heraus. Dann mißt man nur die Oberfläche, die zwei Zentimeter, aha, die ist trocken, 10%, dann legt man die heraus, und nach einer Woche mißt man wieder, dann hat die 25%. (...) Und das ist nicht mehr zu trocknen, also die Weißtanne macht zu.76

In Dragaschnigs Schilderung erscheint derjenige, der mit Weißtanne umzugehen weiß, als besonders qualifizierter Fachmann. „Also, Weißtanne ist mit Vorsicht zu bearbeiten. Man kann sie bearbeiten, aber man muß überlegen.“77 Die Weißtanne, die separiert und am besten überhaupt langsam an der Luft anstatt im Ofen zu trocknen ist, erscheint aus dem Blickwinkel des Unternehmers und in Konfrontation mit heutiger, beschleunigter Bearbeitungspraxis als „altmodisches“ Holz, als Holz, das Zuwendung fordert, als Gegenüber mit schwierigem Charakter, bockig und empfindlich gegenüber Fehlbehandlung. „Wenn die Weißtanne beleidigt ist, dann ist sie beleidigt.“78 All diesen Schwierigkeiten für denjenigen, der sie zu Bauholz verarbeitet, stehen jedoch Vorteile gegenüber, die die Weißtanne für den Landschaftsschutz insbesondere gegenüber der Fichte hat. Als Schutzwaldbaum, wegen ihres tief in den Boden reichenden Wurzelballens79 insbesondere zur Hangsicherung geeignet, so Dragaschnig, wurden in der Region um die Jahrhundertwende, voriges Jahrhundert, viel Weißtannen gesetzt, (...) weil die schlechten Boden sehr gut verkraften, (...) Nordhänge, und vor allem diese Rutschhänge, die es im Vorderen Bregenzerwald gibt.80

Auch wenn hier festgestellt wird, daß die Weißtanne Böden verträgt, auf denen andere Baumarten weniger gut gedeihen81 und die Bodenbeschaffenheit des Vorderen Bregenzerwaldes dem entgegenkommt, gilt doch keinesfalls der Umkehrschluß Mario Nußbaumers: „Wir haben Weißtannenholz, das wächst nur im Wald unserer Region.“82 Ein solcher Fehlschluß deutet vielmehr auf den Erfolg der aktuellen Verwertungskampagne hin, die Dragaschnig im Gespräch erläutert. Infolge der umfangreichen Pflanzungen war der Anteil an Weißtanne in den Wäldern relativ groß geworden, dem, als diese Bestände schlagreif geworden waren, wegen der geschilderten Schwierigkeiten in 81 Umgekehrt ist Weißtanne auf Urgestein in ihrem Wachstum eingeschränkt, wie Landwirte über die Weißtannenbestände beiderseits des Steirer Ennstales berichten. Der Oberlauf der Enns trennt die Nördlichen Kalkalpen, denen das Dachsteinmassiv angehört, von den Zentralalpen, in denen Urgestein den unmittelbaren Untergrund für die Vegetationsschicht bildet. 82 MN: Z 125 ff 83 BD: Z 60 ff Vgl. auch Anm. 73 84 Im Mittelpunkt der Kampagne steht ihr Duft, das astreiche Schnittbild der Bretter, die Kontaktauf-

nahme durch Berühren des Holzes. Zirbenholz wird darin zum „Wohlfühl- und Geniesserholz“ stilisiert. (Zirbe – für Holzgenießer; Innsbruck: Holzcluster Tirol, 2004) Von einem Einsatz von Zirbe als Ausnahmeerscheinung innerhalb der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs berichtet Vorderwinkler (2006), S. 12 f 85 So wirbt die Weißtanne-Broschüre mittels zahlreicher Architekturaufnahmen zeitgenössischer Bauten für die universelle Verwendbarkeit dieser Holzart am Bau: Aktionsgruppe Vorarlberg, Entwicklungsverein Natur- und Kulturerbe Vorarlberg e.V. (Hg.): Weißtanne – heimisch edel ökologisch modern; Schruns, 2004

Weißtanne als Schutzwaldbaum

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der Verarbeitung, verstärkt durch die bereits spürbaren Effekte der Globalisierung der Holzmärkte, ein „relativ schlechter Preis“ gegenüberstand. Waldbesitzerverband und Landwirtschaftskammer reagierten darauf mit einer Kampagne zur Aufwertung des Weißtannenholzes als Bau- und Möbelholz. Dann sind die Architekten eingestiegen, haben Weißtannengeschichten neu gemacht, und zuerst einmal Möbel, Weißtannenmöbel, gibts ja eine eigene Gruppe, und so ist das gekommen, auf den Urgedanken zurück, weil es früher nämlich Weißtannenfassaden gegeben hat, und so sind wir jetzt wieder bei der Weißtannenfassade.83 Vermarktungsstrategie zugunsten der Weißtanne

Der Vorarlberger Weißtanne-Boom ist also das Ergebnis einer erfolgreichen regionalen Vermarktungsstrategie, der es gelungen ist, einen Imagewandel vom Brennholz zum hochwertigen, für alle Teile eines Hauses gleichermaßen geeigneten Holzes zu erzeugen. Ähnliches wird seit der Zirbentagung im Jahr 2000 in Tirol mit ebenfalls schlagreifen Schutzwaldbeständen an Zirbe versucht.84 Vergleicht man, wie die beiden Holzarten als „regionaltypische Arten“ in der jeweiligen zentralen Werbekampagne präsentiert werden, wird der unterschiedliche Stellenwert deutlich, den Zeitgenössische Architektur in der öffentlichen Wahrnehmung der beiden benachbarten Bundesländer besitzt. Ihre Präsenz in Vorarlberg macht Architektur zum geeigneten Medium, die Vermarktungskampagne der regionalen Holzwirtschaft zugunsten der schlecht bewerteten Weißtanne zu stützen.85 Der folgende Abschnitt verbreitert diesen Befund einer sozialen Vermittlerrolle Zeitgenössischer Architektur vom Holz als Baustoff auf den Holzbau als Bauweise. Indem Holzbau durch seinen demonstrativen Einsatz im architektonischen Kontext eine neue gesellschaftliche Bewertung und damit eine Auszeichnung gegenüber anderen Bauweisen erfährt, erscheint er wiederum geeignet, die Neupositionierung gesellschaftlicher Anspruchsgruppen zu repräsentieren. Der dritte Abschnitt dieses Kapitels richtet den Blick auf den Holzbau als Signalgeber für außerhalb des Bauens liegende politische Weichenstellungen.

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145 3.2 Holzbau – Massivbau Es war einmal... „Ein König!“ werden sofort meine kleinen Leser sagen. Nein, Kinder, ihr habt Euch geirrt. Es war einmal ein Holzscheit.1

Mit dieser Persiflage eines klassischen Märchenanfangs läßt Carlo Collodi seinen weltberühmt gewordenen Pinocchio beginnen. Indem er das Holzscheit, aus dem gleich seine Titelfigur geschnitzt werden soll, als Gegenbild des von den Lesern erwarteten Königs vorstellt, kennzeichnet er Holz als gewöhnlichen, unedlen und profanen Stoff. Und auch wenn dieses charakterisierende Schlaglicht für einen genau umrissenen dramaturgischen Zweck geschaffen ist, nämlich die Sensation des Auftritts seiner Hauptfigur zu steigern, liefert sie über die literarische Indienststellung hinaus ein exaktes Abbild der mit den Materialien verknüpften Wertmaßstäbe in der außerhalb der Märchensphäre liegenden Welt. Deren Könige nämlich bevorzugten Stein, ersatzweise Ziegel für ihre luxuriösen Wohnsitze und deren Umfeld, die Städte. „Als Peter der Große St. Petersburg gründete und in Stein ausführen ließ, verbot er gleichzeitig dem Rest seines Reiches, in Stein zu bauen, was zur Festschreibung des ,hölzernen Rußlands‘ beitrug“2, ist dem Lexikon des künstlerischen Materials über die gegensätzliche Konnotation von Stein und Holz zu entnehmen, die den europäischen Kulturraum kennzeichnet, denn „eine umgekehrte Haltung kann man in Japan und Ozeanien feststellen, wo Holz für höchste Aufgaben reserviert und entweder seinen kultischen Zweck gerade durch seine Verrottung erfüllt oder aber durch permanente Erneuerung in demselben Material und derselben Form verewigt wird“3. Betrachten wir, versehen mit geschärftem Blick durch den fernöstlichen Vergleich, nach den aristokratischen Repräsentationsbauten nun auch die Kultbauten in der europäischen Architekturgeschichte hinsichtlich ihrer Materialwahl, so finden wir die Spuren des Holzes noch im griechischen Tempelbau, der den ursprünglichen Holzbau sowohl in seiner Konstruktion4 als auch als Bild in seinem Kanon fixiert. Bereits die römische Baukunst verdrängt jedoch die tektonische Erinnerung an den Holzbau und setzt Konstruktionen an deren Stelle, die den Stein selbst in seinen technischen Möglichkeiten, vor allem in den neuen Bogen- und Gewölbekonstruktionen, ausreizen. Seither erinnern höchstens die Pflanzenformen im Kanon, etwa der korinthischen Kapitelle, oder morphologische Verwandtschaften der Säulenkanneluren mit den Pflanzenbündelsäulen der ägyptischen Baukunst an eine 1 Carlo Collodi: Pinocchio. Die erste Buchausgabe erschien 1883 bei Paggi, Florenz. 2 Wagner, Rübel, Hackenschmidt, S. 145 3 Ebd.

4 Eine Gegenüberstellung von Holz- und Steinkonstruktion im Gebälk eines griechischen Tempels findet sich etwa in: Auguste Choisy: Histoire de l’architecture, 1899 (zit. in: Frampton, S. 4)

Baustoffwahl als Ausdruck sozialer Wertmaßstäbe

Holzbau in der Kultarchitektur Ostasiens

Holzkonstruktionen im antiken Tempelbau

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Holzkonstruktionen im Industriebau

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auch in Europa ehemals hölzerne Kultarchitektur. Beispiele hochentwickelter regionaler Traditionen hölzerner Kirchenbaukunst von den nördlichen Rändern des europäischen Kulturraums, wie sie die norwegischen Stabkirchen5 oder die russischen Holzkirchen6 repräsentieren, bestätigen als Ausnahmen, was sich ansonsten flächendeckend zeigt: Europäische Sakralarchitektur manifestiert sich durch den Stein als Baumaterial7 oder in Ziegel gebaut, jedenfalls „massiv“.8 Die Suche nach weiteren Baugattungen neben denjenigen für Aristokratie und Kirche, die rein dem Massivbau zuzuordnen wären, fördert höchstens noch im Ingenieur-, speziell dem Brückenbau, Treffer zutage und scheitert ansonsten. Sogar die Entwicklung des Industriebaus für die im Vorarlberger Rheintal seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts aufstrebende Textilindustrie zeigt, daß die Material- und Konstruktionswahl zwischen Holz- und Ziegelbau sich parallel zur steigenden sozialen Reputation entwickelt, die die neue Produktionsform, und mit ihr seine Besitzer, erfährt. Die Architektur der Fabriken bildet das Sozialprestige der Fabrikherren bereits in den frühesten Bauten der Vorarlberger Textilindustrie indirekt ab, als die neue Produktionsweise noch unter hohem Rechtfertigungsdruck gegenüber den in sie investierten Hoffnungen und Kapital steht. Sie verzichtet zu dieser Zeit auf jegliche Repräsentationsgeste und wählt folglich das Holz als verfügbaren und zweckmäßigen Baustoff.9 So berichtet Christoph Bertsch von schlichten Holzriegelbauten, die die ersten Fabriken beherbergen, die Spinnerei Juchen (Rhomberg & Lenz) in Dornbirn etwa, deren erster Bauabschnitt 1812 vollendet ist.10 Die Entwicklung von Holzbau zu Stein und Ziegel, damit von regionaler Bautradition hin zu international gültiger Repräsentationsarchitektur, mithin von einer Beschränkung auf die Zweckerfüllung hin zu bausprachlichem Ausdruckswillen, läßt im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts auch in Vorarlberg zunehmend Fassaden und Gebäudekomplexe zur Aufnahme der Spinnund Websäle der Textilfabriken entstehen, die sich an der Bautypologie der Aristokratie, an barocken und klassizistischen Schloßarchitekturen, orientieren.11 5 Herausragende erhaltene Exemplare präsentiert die dänische Zeitschrift Living Architecture in ihrer Ausgabe 19; Kopenhagen, 2004 6 Vgl. Lissenko 7 Oechslin überliefert mit der Feststellung Sigfried Giedions von 1928 „Der Begriff Architektur ist mit dem Material Stein verbunden“, daß die moderne Architekturbewegung zunächst in Zweifel zog, ob der in dieser Weise konnotierte Begriff „Architektur“ für das zeitgemäße Bauen in „Eisen und Eisenbeton“ überhaupt weiterhin brauchbar sei. Oechslin (1995), S. 64 8 Als Ausnahmen dokumentiert Swoboda zwei Holzkirchen und zahlreiche untergeordnete sakrale Bauten, wie Glockentürme und Kapellen in Holz.

9 Eine in Holz erbaute Textilfabrik in Hohenems / Vorarlberg dokumentiert Swoboda (1986): „Ein vollständig verschindelter Ständerbau mit steilem Satteldach, einer Mittagsglocke und einer Wanduhr. Ende des 19. Jahrhunderts erbaut.“ 10 Bertsch (1987/1), S. 25; vgl. auch Abschnitt Land und Ländle, Kapitel Vorarlberg, Anm. 79 11 „1831/32 wird in Nenzing die Spinnerei Getzner, Mutter & Cie. erbaut. (...) Die Anlage ist zehn Achsen lang, vier Geschosse hoch, der Mittelteil wird – zum ersten Mal in der Vorarlberger Fabrikarchitektur – von einem Dreieckgiebel betont...“ Bertsch (1987/1), S. 28 12 Bundesdenkmalamt (1983), S. XXI Vgl. auch Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus

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Holzbau – Massivbau

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Umgekehrt bildet auch das bäuerliche Bauen Vorarlbergs, auf den ersten Blick die typische Holzbau-Gattung, als solche kunsthistorisch wohlgeordnet und in fein gegliederten „Hauslandschaften“ aufgearbeitet12, diese Kopplung der Baustoffwahl an den Grad des jeweiligen Wohlstands und an materielle Voraussetzungen im buchstäblichen Sinn ab. Hans Purin schildert diesen Zusammenhang im Gespräch:

Holzbau und Bauernhaus

Das Holz war immer ein bißchen eine armselige Bauerei. Das billigere Bauen war mit Holz früher. Ja, aber die landwirtschaftlichen Bauten, die waren doch sicher immer aus Holz, oder? (...) Ja, aber wohlhabende nicht, also zum Beispiel ein großer Gutshof (...), der hat dann massiv gebaut, auch die Ställe und die Scheunen. Und hats solche Höfe in Vorarlberg gegeben, so große? Ja. Aber, wahrscheinlich eher im Rheintal dann, oder? Ja, zum Beispiel in Feldkirch, oder zu Frastanz gehörts eigentlich, der Letze, wo die Buddhisten sind, das ist ein Gutshof. (...) Es hat schon einige und das Übliche waren natürlich Holzbauten, das ist klar, Bregenzerwald, und Montafon und überall, da waren ja nur die, im Montafon habens dann nur die Küche gemauert, nur die Brandgefahr, hat man dort, äh, gesehen.13

Später im Gespräch illustriert Hans Purin die Folgen dieser „armseligen Bauerei“, als die er den traditionellen bäuerlichen Holzbau schildert. Das Gespräch umkreist an dieser Stelle die Typologie der Bregenzerwälder Bauernhäuser und die Rolle ihres „Schopfes“: Das ist diese schmale, Veranda-artige Gschicht, mit den Fenstern. Das hat zwar viele Vorteile, aber es beeinträchtigt schon die Beleuchtung der Stube natürlich. (...) Im Winter haben sie es natürlich zugemacht, damits nicht hineinschneit, jetzt haben sie Glas, das war ja früher nicht machbar, weils zu teuer gewesen wär.14

Armseliges Bauen heißt demnach, den Mangel an Alternativen zum reichlich vorhandenen Holz durch Einbußen an Komfort ertragen zu müssen, konkret infolge des hohen Glaspreises die Öffnungen mit Holzläden verschließen zu müssen und die Winterszeit mit reduziertem Tageslicht zu verbringen. Andere Zeitumstände und persönliche Motivationen ließen für dasselbe Forschungsfeld, die Bauformen der Bauernhäuser Vorarlbergs, auch ganz andere Interpretationen und Ordnungskategorien entstehen, als sie der aktuelle Dehio, das exemplarische Inventar des Bundesdenkmalamtes, uns Heutigen präsentiert. Sie zeigen die wechselnde Zuordnung des Holzbaus – einerseits als Ausdruck einer Baugattung und andererseits als Kennzeichen des regional verfügbaren Wohlstands – als Folge des vom jeweiligen Bauforscher verfolgten Dokumentationszieles. Nicht nur die Sozialgeschichte stellt neuerdings den vorherrschenden, kunsthistorisch geprägten Standpunkt in Frage, der insbesondere den bäuerlichen Holzbau als regionale „Holzbaukultur“ auffaßt, ein Blickwinkel, der den Umstand einer regionalen Materialbeschränkung zu einer quasi-künstlerischen Enscheidung umdeutet und hier als Fehlübertragung von der Interpretation „hoher“ Architektur, die immer auf Künstlerpersönlichkeiten und

Holzbaukultur und wissenschaftliche Zuschreibung

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Rezeption bäuerlicher Baukulturen Vorarlbergs im Nationalsozialismus

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ihre Entscheidungen zurückführbar ist, auf die Betrachtung regionaler, „anonymer“ Baukulturen zu betrachten ist. Eine besonders bizarre, gleichwohl folgenreiche interpretatorische Verzerrung erfuhr die Rezeption bäuerlicher Bautraditionen in der intensiven Forschungs- und Dokumentationstätigkeit des Nationalsozialismus.15 Gerade die von Künstlerpersönlichkeiten unabhängige, anonyme ländliche Baukultur schien geeignet, einen objektiven, wissenschaftlich dokumentierbaren Nachweis der rassischen Überlegenheit des deutschen Volkes zu erbringen. Großzügig interpretierte Stammesterritorien, insbesondere der „Baiern“, erlaubten, den gesamten Alpenraum in diesen kulturell begründeten Anspruch auf quasi natürliche Vorherrschaft einzuschließen. Der bäuerliche Holzbau des Bregenzerwaldes, den der „Reichslandschaftsanwalt“ und Dozent für landwirtschaftliches Bauwesen an der Münchner Technischen Universität Alwin Seifert16 in seinem Werk Das echte Haus im Gau Tirol–Vorarlberg dokumentiert, scheint mit dem nationalsozialistischen Überlegenheitsdogma nur schwer vereinbar gewesen zu sein. Darauf deuten einerseits Rechtfertigungszwänge gegenüber dem unübersehbar hochentwickelten russischen Holzbau, die im Text dieses Werkes zum Ausdruck kommen: Wir wissen heute, daß dieser jetzt überwiegend slawische Holzbau germanischen Ursprungs ist. Mag auch die urslawische Herrenschicht, von der nur noch die Sprache und ein Anteil blauer Augen und heller Haare geblieben ist, aus der nordischen Heimat einen Holzbau mitgebracht haben, so ist das Haus der grossen ostischen Massen ein Flechtwerkhaus mit Lehmbewurf geblieben...17

Kulturhistorischer Nachweis des rassischen Überlegenheitsdogmas der NS–Ideologie

In das„Alpenländische Baugesicht“, das der selbe Autor in seiner „Bibel“18, der Aufsatzsammlung Im Zeitalter des Lebendigen19, vorstellt, werden aus der Dokumentation Das echte Haus im Gau Tirol–Vorarlberg dann auch nur die in Mauerwerk aufgeführten Bauernhäuser übernommen20, so ein „Romanisch-alemannisches Bauernhaus von 1691 in Gaschurn im Montafon“21 als einziges Vorarlberger Beispiel. Wenn nicht die ihm anhaftende Armseligkeit, so war es doch zumindest die substantielle Vergänglichkeit des Holzbaus, die ihn ungeeignet erscheinen lassen mochte, den Ewigkeitsanspruch eines „Tausendjährigen Reiches“ zu repräsentieren. Die vorgestellten, in Mauerwerk aufgeführten Bauernhäuser dagegen können zwanglos Bildern trutziger Burgen und ländlicher Schlösser gegenüber13 HP: Z 813 ff 14 HP: Z 1122 ff 15 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 32 16 Nerdinger (1993), S. 101 f Zur Biographie Seiferts und seiner Rolle im NSStaat vgl. vor allem Zeller 17 Seifert (1943), S. 25 f 18 „Bauern im Erzgebirge hielten es wie eine Bibel.“ Seifert (1962), S. 135 19 Seifert (1941)

20 Die Veröffentlichungsdaten für Im Zeitalter des Lebendigen (1941) bzw. Das echte Haus im Gau TirolVorarlberg (1943) deuten auf eine umgekehrte Reihenfolge, doch ist anzunehmen, daß in den letzten Kriegsjahren keine geordnete Verlagstätigkeit mehr existierte. Daneben ist davon auszugehen, daß die publizierten Dokumentationen im Verlauf mehrerer Jahre gesammelt wurden, sodaß das Veröffentlichungsjahr der Werke keinen letztgültigen Anhaltspunkt für die Chronologie der gewonnenen Erkenntnisse darstellt.

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gestellt werden, um in der „ungegliederten Geschlossenheit der Erscheinung, die kennzeichnend ist für den gesamten ostmärkischen Raum“22, einerseits eine ungeachtet der sozialen Schicht gemeinsame „Baugesinnung“ zu suggerieren, andererseits den „Adel“ einer naturgegebenen Überlegenheit auch der anonymen „Architektur“ der alpenländischen Bauernhäuser zu unterstellen. Aus diesem Blickwinkel erst, der Rezeption „anonymer“ Bauernhäuser durch die Bauforscher des Nationalsozialismus, unter denen Alwin Seifert neben seinen Publikationen vor allem durch seine in der Nachkriegszeit wiederaufgenommene Lehrtätigkeit23 Nachwirkung erzielt24, erhält der bäuerliche Massivbau durch seine Vergleichbarkeit mit Bauten der Aristokratie das Prädikat „Architektur“ und mit diesem eine Erhebung in den Adelsstand der zeitlos gültigen Kulturzeugnisse. Dem Holzbau kommt in dieser Betrachtungsweise lediglich die Rolle einer Frühform und entwicklungsmäßigen Vorstufe des Massivbaus zu. Aus einer Warte mit entgegengesetzter Blickrichtung, der des Holzbauforschers, wird diese Charakterisierung der Bauweisen, wie sie der Spiegel ihrer gesellschaftlichen Bewertungshierarchie abbildet, bestätigt. Otto Swoboda, der in seinem dreibändigen Werk Alte Holzbaukunst in Österreich eine vollständig hölzerne bäuerlich-ländliche Baukultur einschließlich zahlreicher Vorarlberger Beispiele dokumentiert, mit dem besonderen Verdienst, neben dem Hausbau auch die gewöhnlichsten Nutzbauten wie Zäune, Trockengestelle und Lagerbehälter für Mais, Getreide und Heu oder Tierställe in den Blick zu nehmen, also die bauliche Prägung der bäuerlichen Kulturlandschaft insgesamt zu fokussieren, beklagt in seinem Nachwort zum ersten Band den Umstand, daß „die Denkmäler alter Holzbaukunst (...) weder Eingang in die österreichische Kunstgeschichte [fanden], noch (...) in den Verzeichnissen der Kunstdenkmäler unseres Landes erwähnt“ wurden.25

21 A.a.O., S. 179 22 A.a.O., S. 190 23 Nerdinger dokumentiert die Entwicklung der Lehrtätigkeit Seiferts an der Technischen Universität Münchens: „1934 wurde Seifert vom Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen Fritz Todt als ,Landschaftsanwalt‘ zum Bau der Autobahnen, der neuen ,Straßen Adolf Hitlers‘ gerufen. Todt versuchte, Seiferts Stellung auch an der Hochschule zu verbessern und eine Ernennung zum a.o. Professor (...) 1936 zu erreichen. Verliehen wurde Seifert aber zu Hitlers 50. Geburtstag wie vielen anderen nur der Professorentitel. (...) Mit der Emeritierung Hermann Bucherts 1941 übernahm Seifert das Fach Landwirtschaftliches Bauwesen (...).1943 sagte Roderich Fick angeblich Seifert den Lehrstuhl Hermann Bucherts zu, es kam aber zu keiner Berufung mehr. Alwin Seifert gab aus Ärger darüber seinen Lehrauftrag 1944

auf. Nach 1945 wurde daraus die Legende eines ihm angeblich aus politischen Gründen verweigerten Lehrstuhls. 1949 erhielt er wieder einen Lehrauftrag.“ Nerdinger (1993), S. 102 24 Wer Seiferts Zitat aus Anm. 17 „im Ohr“ hat, wird einen Widerhall dieser in Stammes- und Rassekategorien einordnenden Wahrnehmung noch in Franz Harts Baukonstruktion für Architekten (Stuttgart 1951) wiedererkennen, wenn dieser in der Einleitung des Kapitels Hölzerne Dachgerüste schreibt: „Das Sparrendach kommt aus dem holzbauenden Norden. In seiner Urform ist es Dach und Hütte zugleich. Im germanischen Holzbau setzt es sich auf die Schwelle, die den oberen Abschluß der Fachwerkwand bildet...“ Franz Hart hatte ab 1946 einen Lehrauftrag an der Technischen Universität München inne, von 1948 bis 1978 war er o. Professor für Hochbaukonstruktion. 25 Swoboda (1975), S. 211

Eine vollständig hölzerne, bäuerliche Baukultur

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150 Resozialisierung des Holzbaus durch Architektur

„Tradition“

Aufruf von Tradition zur Herstellung von Regionalität

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Die festgestellte Geringschätzung des Holzbaus, im Kontext der akademischen Architekturrezeption zum Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 formuliert, kennzeichnet als Hintergrundatmosphäre und Zeitstimmung diejenige Ausgangslage, in der die Vorarlberger Architekten der ersten Baukünstlergeneration Holzbau als „Architektur“ resozialisieren. Diese Resozialisierung ist gleichzeitig als soziale Aneignung zu betrachten, als Verschiebung der Deutungsmacht über den Holzbau vom Handwerk auf Architektur, vom agrarisch-ländlichen auf ein akademisch-städtisches Milieu. Wir haben einen solchen Prozeß von Aneignung und Umdeutung bereits mit der Rolle Friedrich Achleitners, wie er sie als Architekturhistoriker ausfüllt, in Verbindung gebracht. Achleitner hatte die Architektur der Einfamilienhäuser in Vorarlberg als gesellschaftliches Modernisierungspotential ebenso festgestellt wie als Rolle gesetzt. Daneben hatte er Handwerker ebenso wie Architekten an seinem politischen Architekturbegriff beteiligt gesehen.26 Darin ist die Einbeziehung von Handwerkern keine gleichrangige, sondern eine temporär zugelassene, wie der letzte Abschnitt dieses Kapitels an der „Differenz“ zwischen Handwerk und Architektur herausarbeiten wird. Zentral steht in diesem Umdeutungsvorgang der Begriff „Tradition“. Für den Blickwinkel der vorliegenden Arbeit ist Tradition27 ein Zivilisationszustand, der vor allem durch einen Mangel an Alternativen gekennzeichnet ist. Erst die rückwirkende Betrachtung der Zeugnisse dieses Zustands unterschiebt ihren Produzenten mit dem Begriff „Tradition“ gleichzeitig die fiktive Möglichkeit einer Wahl. Im Zeitalter universeller Verfügbarkeit gewinnt die Rekonstitution einer ortsspezifischen Unterscheidbarkeit neue ökonomische Bedeutung. In diesem Rahmen, der bestimmt ist durch die als notwendig erachtete Schaffung von Abgrenzungsmerkmalen, die Identifikation innerhalb eines Rahmens nunmehr tatsächlich gegebener Wahlmöglichkeiten erzeugen, als Mittel der Profilierung von Regionen, gewinnt Holzbau in Vorarlberg seine zeitgenössische Bedeutung und erhält Architektur ihre Funktion als Medium der Formulierung sozial und ökonomisch signifikanter Kultur- und damit Abgrenzungsmerkmale. Bereits im neunzehnten Jahrhundert war Holzbau als architektonisches Identitätsmerkmal, als „nationaler“ Baustil Österreichs entdeckt und eingesetzt worden. „Bahnhöfe und Industriebauten wurden in Fachwerk errichtet, bürgerliche Villen erhielten ein mit Brettern vorgetäuschtes Fachwerkdekor.“28 Die Gegenüberstellung von Holzbau und Massivbau zur sozialen und ökonomischen Bewertung des Holzbaus als Bauweise ist heute insofern eine Frage von „Tradition“, als diese zur kulturalen Konturierung eines spezifischen ökonomischen Profils der jeweiligen Region, als Aspekt von Regionalität, aufgerufen wird. Die Konzentration auf Ressourcen regionaler Rohstoffe, Kompetenzen und Betriebsstrukturen auf wirtschaftlicher sowie Materialien und Formen

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auf kultureller Ebene erhält erst vor dem Hintergrund ihrer Alternative, der globalen Verfügbarkeit, als marktwirtschaftliche Konkurrenzsituation spätestens seit den 1990er Jahren präsent, sowie der Auflösung von Tradition29, wie er mit dem Prozeß der Modernisierung einhergeht, ihre Rechtfertigung. Als solche gewinnt Regionalität in Förderinitiativen gesellschaftlichen Nachdruck und als verwaltungstechnisches Modell für ein zukünftiges, postnationales Europa ihre zeitgemäße politische Legitimität.30 Wir werden im Hinblick auf die zeitgenössische Holzbauarchitektur Vorarlbergs daher im Folgenden Aspekte von Regionalität herauspräparieren, wie sie in den Forschungsgesprächen angesprochen worden sind.

Regionalität als politisches Zukunftsmodell eines postnationalen Europa

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels, Holz als Baustoff, sind Vorarlberger und Schweizer Kommunalbauten vorgestellt worden, die als Signalprojekte das Prinzip kleinräumigen Wirtschaftens auf Gemeindeebene demonstrieren. Es sind Holzbauten, die gezielt regionale Rohstoffressourcen nutzen und sowohl die Gewinnung als auch die Verarbeitungskette des Baumaterials demonstrativ in das unmittelbare räumliche Umfeld der Baustelle zurückholen. Mario Nußbaumer, Gemeindesekretär in Langenegg:

Demonstration wirtschaftlicher Autonomie durch Verwendung lokaler Rohstoffe

Das ganze Holz, das in diesen Bauten verwendet ist, haben wir bei Landwirten eingekauft, ortsansässigen, also das ist aus dem Ort, dieses Holz, und das wurde dem Generalunternehmer zur Verfügung gestellt.31

Der genannte Generalunternehmer, Bertram Dragaschnig, erschließt im Gespräch weitere Aspekte kleinräumigen Wirtschaftens, darunter solche der Neudefinition von Qualität im Rahmen eines vorhandenen Materialkonvoluts. Insbesondere die Etablierung astfreier Sortierung als höchster Qualität interpretiert Dragaschnig als positive Maßnahme zugunsten regionaler Wirtschaftsförderung. „Also, das ist jetzt wieder für die Sägeindustrie sehr gut, für den Waldbesitzer sehr gut, weil er viel Holz verwertet.“32 Eine Baukonstruktion, die viel Holz enthält und mit Holz möglichst viele Anforderungen abdeckt, reduziert den Bedarf nach anderem Material. Etwa erfordert eine Massivholzwand weniger Dämmmaterial als eine Pfosten-Riegel-Wand. Betont „holzhaltige“ Konstruktionen reduzieren also Transportaufwand und wirtschaftliche Abhängigkeit und steigern regionale Autonomie. „Tradition“ wird insofern aufgerufen, als die neue Form kleinräumigen Wirtschaftens an vergangene Zeitumstände erinnert, in denen Transport von 26 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg 27 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 28 Sagmeister (1990), S. 35 29 Sagmeister verdeutlicht, daß die Traditionalisierung des Holzbaus als nationaler Baustil Österreichs mit dem Verschwinden derjenigen Lebensformen einhergeht, die die Voraussetzung der traditionellen Bauformen bildeten: „Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde der Forschung der drohende Verlust und das allmähliche Verschwinden der alten Holzbauten bewußt. Mehrere großangelegte Publika-

tionen, die heute noch zu den Standardwerken über den Holzbau zählen, erschienen um 1900: z.B. J. W. Deininger: Das Bauernhaus in Tirol und Vorarlberg, und Georg Baumeister: Das Bauernhaus des Walgaus und der walserischen Bergtäler Vorarlbergs einschließlich des Montavon.“ Ebd. 30 Zum Thema Regional Governance vgl. Anm. 47 und 68 im Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 31 MN: Z 127 ff 32 BD: Z 1001 ff

Massivholzkonstruktionen unterstützen die wirtschaftliche Autonomie waldreicher Regionen

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Handwerksbetriebe als regionsspezifische Ressource

Konkurrenzschutz

Regionalität als Marketinginstrument

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Baumaterial deshalb unterblieb, weil er technisch nicht möglich oder wirtschaftlich nicht leistbar war. Neben den Rohstoffressourcen ist der Bestand handwerklicher Betriebe eine wichtige soziale Ressource der Region. Wir werden im Kapitel Handwerk die sozialen Komponenten des „territorialisierten“ Handwerks33 näher untersuchen, seine Verwurzelung in ortsansässigen Familien sowie jene in gewachsenen Kundenbeziehungen.34 Vergleichbar der Konkurrenzsituation, den der global konstituierte Rohstoffmarkt gegenüber der lokalen Forstwirtschaft35 erzeugt, findet auch die Vergabe von Handwerkerleistungen für öffentliche Bauten mittlerweile im streng reglementierten Rahmen EU-weiter Ausschreibungen statt. Die vor allem aus politischer Sicht erwünschte36 Beteiligung ortsansässiger Handwerker an kommunalen Bauprojekten erfordert daher besondere Betreuung dieser Betriebe, insbesondere ihren Schutz vor überregionaler Konkurrenz. Mario Nußbaumer: „Wir haben alle zusammengeholt, wir haben ihnen die Ausschreibung vorgestellt und auch gesagt, sie sollen sich zusammentun, weils für einen eh zuviel ist, und gemeinsam anbieten. Und das haben sie auch gemacht.“37 Im Fall der Langenegger Gemeindebauten ist es gelungen, über die in der Generalunternehmerausschreibung beschriebenen Qualitätsanforderungen, vor allem die Vorbedingung, lokal gewonnenes Holz zu verwenden, eine Voraussetzung zu schaffen, die nur regional ansässigen Firmen lösbar erschien. Dementsprechend haben trotz EU-weiter Ausschreibung der Generalunternehmerleistungen ausschließlich Firmen aus der Region angeboten. Die Werkstätten der beteiligten Handwerksbetriebe liegen nunmehr allesamt „in Sichtweite“ der Baustelle, ihr „guter Name“ innerhalb der Region steht für qualitätvolle Arbeit.38 Von materialbezogenen und gewerblichen Ressourcen als Aspekten von Regionalität richten wir nun unser Augenmerk auf ästhetische. Im Eingangsabschnitt dieses Kapitels, Holz als Baustoff, haben wir den Architektureinsatz der Vorarlberger Forstwirtschaft39 zugunsten einer erfolgreichen regionalen Aufwertung von vordem gering bewertetem Weißtanneholz in den Blick genommen. In ähnlicher Weise stellen auch andere gewerbliche Bauherren die Kernkompetenz von Architektur, bauliche Formen zu ästhetisieren und deren Bewertung in den Kontext eines Kunstfeldes zu stellen, in den Dienst ihrer ökonomischen Interessen. 33 Vgl. Abschnitt Arbeitsform undWissensaneignung, Kapitel Handwerk, Anm. 11 ff 34 A.a.o. vor allem Anm. 10–13 35 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff dieses Kapitels, Anm. 48 ff 36 Eine solche Zielvorgabe steht im Konflikt mit einer typisch unternehmerischen, derjenigen von Baukostenminimierung. 37 MN: Z 481 ff

38 Die Familiennamen der Betriebsinhaber sind in den Handwerksbetrieben der untersuchten Region überwiegend identisch mit den Firmennamen: Dragaschnig nennt mit den erzeugten Bauteilen gleichzeitig die verantwortlichen Personen. BD: Z 14 ff und 213 ff 39 Aktionsgruppe Vorarlberg, Entwicklungsverein Natur- und Kulturerbe Vorarlberg e.V. (Hg.): Weißtanne – heimisch edel ökologisch modern; Schruns, 2004

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Jürgen Sutterlüty und seine gleichnamige Vorarlberger Supermarktkette sind bereits im ersten Abschnitt Architektur als Kunst des ersten Kapitels vorgestellt worden. Unter den Gesprächspartnern, die Beiträge für die vorliegende Arbeit geliefert haben, steht Sutterlüty im inhaltlichen Rahmen des Kapitels Holz für die Position, eine Indienstnahme von Architektur als Mittel der Marktplazierung eines Anbieters von Verbrauchsgütern mit Regionalität zu verknüpfen: Mit Hilfe der architektonischen Gestalt seiner Bauten soll seine Supermarktkette, die aus Egg im Bregenzerwald stammt, als „heimisches“ Unternehmen gegen überregionale Konkurrenten profiliert werden und demonstrieren, „daß man Bestandteil der Region sein will“40. Als Mittel hierzu dient das Supermarktgebäude in Holz. Wir sind hier in einer Holzregion, es hat natürlich auch ganz spezifisch den Zugang zum Holz. Wir haben den Auftrag gegeben, bitte, mit dem Baustoff Holz wollen wir uns intensiver auseinandersetzen.41

Sutterlüty verknüpft hier den „Wald“ seiner Unternehmensherkunft mit dem „Holz“ als repräsentativem Ausdruck hierfür. Wie könnte es anders sein, als daß der, der aus dem „Wald“ kommt, im Holzhaus „wohnt“? Der „spezifische Zugang“ ist der tagtägliche Umgang, die Kompetenz aus einer gewachsenen Vertrautheit. Der Pfarrer ist es nicht, der mit solcher Vertrautheit charakterisiert ist, auch nicht der Lehrer, nicht die Akademiker, sondern der Bauer und der Handwerker. Der Kirchbau ist nicht aus Holz, selten das Pfarrhaus. Das Schulhaus ähnelt dem Pfarrhaus, denn es braucht nicht Stall noch Scheune, ist aber bereits aus Holz, beim Bauernhaus schließlich ist Holz obligatorisch, auch beim Gasthaus, in aller Regel ein ehemaliges Bauernhaus.42 Holz markiert also ein Segment sowohl in der sozialen Hierarchie als auch in der Bautentypologie. Es grenzt das hierher Gehörige, das hier Gewachsene vom Fremden und Aufgesetzten ab, repräsentiert also nicht die Obrigkeit mit ihren gemauerten Postämtern, Gemeindeämtern, Behördenbauten, Bahnhöfen und Autobahnbrücken. In seiner Vergänglichkeit meint es auch eher das Zeitgebundene, das Kalendergebundene, das Lebensgebundene und nicht das Überzeitliche, Ewiggültige, Monumentale derjenigen Bautengattungen, die sich traditionell durch akademische Architektur repräsentieren. Sutterlütys Wortwahl „Auseinandersetzung“ und „Bestandteil sein wollen“ grenzt seinen Begriff von Regionalität vom passiven „Bestandteil der Region sein“ ab. Diese Differenzierung wird ein weiteres Mal betont, wenn von den qualifizierenden Eigenschaften des beauftragten Architekten, „der auch ein heimischer Architekt ist“, heißt, daß dieser „sich mit diesen Dingen auch intensiv auseinandersetzt“43. 40 JS: Z 120 ff 41 JS: Z 124 ff 42 Diese vereinfachende Hierarchisierung traditioneller dörflicher Gebäudetypen ist dem Dorf Thal im Vorderen Bregenzerwald entnommen, dessen Untersuchung im Kapitel Dorf dargestellt ist. Im Fall ande-

rer Dörfer und der jeweiligen Lebens- und Erwerbsform dörflicher Würdenträger kann die gesellschaftliche Hierarchie des Baustoffeinsatzes von diesem Modell abweichen. Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf, Anm. 92

Materialbezogene Hierarchie dörflicher Haustypen

Bestandteil der Region sein wollen

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Zugehörigsein ist also durch Handeln, durch Tätigsein zu erwerben und findet ihr Vorbild im Engagement für Vereine oder etwa der Freiwilligen Feuerwehr. Zugehörigsein heißt also nicht (nur) hier geboren sein oder gar nur hier wohnen, sondern mitarbeiten. Mitarbeiten aber im Sinne der Region, indem man mit der heimischen Substanz (weiter-)arbeitet und dieses vertraute Merkmal betont, anstatt etwa ein „fremdes“ Element einzubringen. Und da haben wir Vorgaben, (...) was die Wertschöpfung betrifft, in der Sutterlüty als heimisches Unternehmen sagt: Beschäftigt werden ausschließlich heimische Unternehmen und der (heimische) Werkstoff ist auch zu verwenden.45

Betonung regionaler Wertschöpfung

Im Folgenden deutet Sutterlüty die „Entwicklung von Märkten“, also die Baupolitik seines Unternehmens, als Prüfstein, an dem Kunden seine Glaubwürdigkeit in bezug auf den Regionalbezug ablesen. Diese Glaubwürdigkeit soll durch demonstratives regionales Wirtschaften erzeugt werden: „Wir bringen die Wertschöpfung zurück in die Region.“46 Indem Sutterlüty betont, die Wertschöpfung solle in die Region zurückgeholt werden, stellt er seine Praxis in Gegensatz zu einem Normalzustand, in dem die Wertschöpfung außerhalb der Region stattfindet. Seine Strategie ist, auf dem Feld der eigenen Bautätigkeit seine Solidarität mit der Region zu zeigen. Der Baustoffbedarf für seine Bauten soll nicht nur heimisches Material zeigen, sondern auch in der Region erzeugt sein.47 Auch die Baukörpertypologie seiner Supermärkte interpretiert Sutterlüty durch Kriterien von Regionalität: Wir haben, wenn wir die Objekte uns anschauen, das sind eigentlich bescheidene Baukörper, die eigentlich sehr geradlinig ausgerichtet sind, die aber im Endeffekt das Image des Unternehmens auch weitertragen sollen.48

Die „Bescheidenheit“ des Supermarktgebäudes suggieriert dem Kunden, daß hier Waren zu angemessenen Preisen verkauft werden. Das Holz als Baumaterial bringt neben dem „bescheidenen“ Baukörper noch das Natürliche und das Handwerkliche als Konnotation mit und ist für Sutterlüty damit allgemein-architektonischen Gebäudekonzepten, wie sie seine Konkurrenten 43 JS: Z 134 ff Die Wahl des heimischen Architekten ist damit Teil einer demonstrativen Haltung oder wird in diesem Sinn interpretiert. Die Architektenwahl wird Teil einer Marketingstrategie, die dem Kunden empfiehlt, das Heimische dem Nichtheimischen vorzuziehen. Im weiteren Gesprächsverlauf teilt Sutterlüty mit, der Architekt sei vor der Bearbeitung der Gewerbebauten bereits mit der Planung für das eigene Wohnhaus betraut gewesen. 44 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 45 JS: Z 257 ff 46 JS: Z 272 ff 47 Tatsächlich dürfte sich das „heimische Material“ an Sutterlütys Supermarktbauten auf unsichtbare Massivholz-Konstruktionsbauteile beschränken, denn weder Glas noch Stahl wird in Vorarlberg erzeugt

und auch die auf Holz basierenden Plattenwerkstoffe (OSB-Platten, MDF-Platten, Dreischichtplatten) der inneren Wandbekleidungen sind importierte Halbfabrikate. Nicht einmal die äußere Fassade aus Akazienbrettern, wie sie jedenfalls der erste Bau des Typs in Weiler trägt (Kapfinger 2003 /1), zeigt Holz aus regionalen Vorkommen. Die Entscheidungen zugunsten von Materialien des internationalen Baustoffhandels dürften von massiven Preisvorteilen bestimmt worden sein. Trotzdem symbolisieren sie „heimische Wertschöpfung“. Unabhängig vom hier betrachteten Einzelfall bestätigt Peter Greußing, daß die ästhetische Kategorie „heimische Bauform“ nicht zwangsläufig heimisches Material erfordert: „Das Thema ,Holz‘ (...) vermittelt auch ein bißchen den touch des Heimischen, auch wenn das Holz aus Slowenien kommt.“ (PG: Z 626 ff) 48 JS: Z 115 ff

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einsetzen49, überlegen. Holzbau wirkt in seinen Augen konkreter, spezifisch regionaler, anschaulicher, beheimatender als diese. „Bescheiden“ und „geradlinig“50, Merkmale, denen hier die Aufgabe zugewiesen ist, das Regionale zu stützen, stehen im Gegensatz zu repräsentativ, auftrumpfend, demonstrativ, formal gesehen zu gekurvt, gebaucht, verwinkelt, in referenzieller Hinsicht zu weithergeholt. Eine Umschreibung der gewünschten „Einfachheit“ könnte etwa sein „sich auf die Zweckerfüllung beschränkend“. Das verbindet das Bauwerk für den Supermarkt mit dem Heustadel eher als mit dem Pfarrhaus, stellt ihn also auf typologischer Ebene in die Kategorie der Zweck- und Bergebauten und grenzt ihn von derjenigen der Wohn- und Repräsentationsbauten ab. Auf einer abstrakteren Ebene scheidet Sutterlütys Kategorisierung aber auch akademische Architektur mit ihren komplexen Verweisen, Formzitaten und ihrer „Weltverarbeitung“ aus dem für ihn relevanten Spektrum des Regionalen aus. Schließlich könnte sich auch bereits ein autoreferenzieller Effekt hier dokumentieren: Es gibt bereits so viele „Holzkisten“ in der Architekturlandschaft von Bregenzerwald und Vorarlberger Rheintal, daß sie als regionaler Typ etabliert und somit selbst Bild und Repräsentant des zeitgenössisch Regionalen und seines ästhetisch konnotierten Begriffs von „Landschaft“51 geworden sind, wie ehemals die Heustadel für die Kulturlandschaft der Agrargesellschaft.52 Mit der Vorarlberger Holzwirtschaft, ebenso wie mit dem Unternehmen Sutterlüty, haben wir solche Bauherren als Akteure betrachtet, die Holzbauarchitektur als Argument zugunsten ihres Produktmarketings einsetzen. Mit den beteiligten Architekten tritt gleichzeitig eine Bewegung mit sozialreformerischem Impetus53 auf den Plan. Mein Gesprächspartner Peter Greußing, Geschäftsführer eines international tätigen Bau- und Bauträgerkonzerns mit Vorarlberger Wurzeln, stellt speziell auf den Bregenzerwald bezogen fest, daß deren Anliegen, einer Popularisierung moderner Form als Vorreiterin einer „zeitgemäßen“ Lebensform Vorschub zu leisten, Holz als Identifikationsmittel ideal entgegenkomme: Das ist jetzt ein Gebiet, wo das Giebeldach seine Berechtigung hat,weil alles vom Bauernhaus abstammt, und von dorther eigentlich naheliegend wäre. Wenn Sie schauen, wieviele Objekte da drinnen in gestandenen Gemeinden mit Flachdächern gemacht werden, wo ich zum Teil selber sage, das ist eigentlich schon mutig, (...) also in Verbindung mit irgendwelchen Holzgeschichten, (...) also, da stellen eben Baustoffe den Bezug zum Bestand her.54 49 Vgl. die Gegenüberstellung mit dem Architektureinsatz der Tiroler Supermarktkette M-Preis im Abschnitt Architektur als Kunst des Kapitels Architektur? 50 Wie Anm. 48 51 Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus 52 Sutterlüty könnte ja auch ein überdimensionales „Bauernhaus“ aufstellen, um seinen Supermarkt zu behausen, also die vertraute Gebäudeform als Identi-

fikationsbrücke nutzen, eine Strategie, die Hoteliers in den alpinen Touristenzentren mit Erfolg einsetzen. Ein solches „traditionelles“ Gewand finden wir auch in Münchner Brauereigaststätten. Diese kleiden ihre Kellnerinnen in „Tracht“, um die Herkunft des angebotenen Bieres aus einer regionalen Kultur zu signalisieren. 53 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg

Architektursprache des Regionalen

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156 Nutzung der Materialsprache des Holzes zur Vermittlung Zeitgenössischer Architektur

Sägerauher Weißtanneboden

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Greußing ist mit Sutterlüty darin einig, daß Holz eine Brücke vom zeitgenössischen Gebäude zum Bauernhaus und damit zur historischen Handwerkstradition des regionalen Bauens zu schlagen imstande ist. Das Holz als Fassadenoberfläche wirke hier stärker auf die Wahrnehmung als die Baukörperform. Eine solche Strategie von „Architekturvermittlung“ unterstellt, daß Laienwahrnehmung vor allem Oberflächenwahrnehmung, die Materialität der Fassadenoberfläche also wirksamer für die Urteilsbildung sei als die Baukörperform. Die architektonisch dargestellte Materialkontinuität überdecke den Bruch in der Formkontinuität, den Zeitgenössische Architektur programmatisch vollzieht, indem sie etwa Flachdächer dort einsetze, „wo das Giebeldach seine Berechtigung hat“. Es wäre jedoch eine naive Vereinfachung der im Forschungsfeld vorgefundenen Verhältnisse, anzunehmen, allein das Vorhandensein einer hölzernen Fassade am modernen Baukörper sei bereits Garant für Identifikation und Akzeptanz Zeitgenössischer Architektur im Sozialmilieu der ländlichen Bevölkerung. Tatsächlich sind die ersten „Architektenhäuser“, die seit den 1980er Jahren im Bregenzerwald auftauchen und den Holzbau als Bauweise ländlicher Wohnhäuser reanimieren, zunächst als „Städel“55 verunglimpft und damit von einer Warte der sozialen Einordnung aus beurteilt worden, für die das traditionelle bäuerliche Leben insgesamt als überholt, besser: als überwunden, galt, jedenfalls als ungeeignete Referenz für soziale Profilierung im Dorf.56 Zeitgenössische Architektur im Bregenzerwald nutzt Holz nicht nur als Identifikationsbrücke zwischen ihren Formschöpfungen und der Baukörpertypologie traditionell-bäuerlicher Holzbauten, sondern schafft mit diesem Baustoff Wohn- und Aufenthaltsumfelder, die Werte und Praxen einer traditionellen Erfahrungswelt aufrufen, die die einheimische Bevölkerung im Umgang mit Holz entwickelt hat. Als anschauliches Beispiel eines solchen Brückenschlags Zeitgenössischer Architektur in traditionelle Wohnumfelder dient uns der sägerauh belassene Holzboden aus unbehandelten Weißtanne-Dielen. Ein solcher Bodenbelag ist im 2000 eröffneten Kulturhaus der Gemeinde Hittisau erstmals im Kontext Zeitgenössischer Architektur eingesetzt57 worden. Seither erfreut er sich, zunächst vorwiegend im Bregenzerwald58, inzwischen auch als motivischer ebenso wie gegenständlicher Exportartikel59 zunehmender Verbreitung.

54 PG: Z 710 ff 55 EW 1: Z 679 56 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“ Kapitel Haus, Anm. 11 ff 57 HolzKultur Hittisau; Hittisau: 2004, S. 8 58 Verwendung in kommunalen Bauten: Volksschule Doren (Arch. Cukcrowicz /Nachbaur), Kindergarten Langenegg (Arch. Fink /Thurnherr), Musikproberaum im Kindergarten Egg (Arch. Dietrich /Untertrifaller),

Angelika-Kauffmann-Museum Schwarzenberg (Arch. Dietrich /Untertrifaller), Gemeindeamt Sulzberg (Arch. Gruber) u.a. 59 Nachdem die Dielen für die ersten Einsätze sägerauher Weißtanneböden in Bregenzerwälder Kommunalbauten noch jeweils objektspezifisch gefertigt worden sind, haben Vorarlberger Holzgroßhändler solche Dielen mittlerweile in ihr Standardsortiment aufgenommen und liefern sie nun auch nach Deutschland.

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Im hier betrachteten Kontext, dem Aufruf traditioneller Praxis im Umgang mit Holz durch Zeitgenössische Architektur, erscheint der Umstand bezeichnend, daß die Initiative zur Wahl des sägerauhen Weißtannebodens für den Kulturhaus-Neubau nicht etwa vom Architekten, sondern aus dem Hittisauer Gemeinderat gekommen war. Als Referenz dieser Empfehlung hatte die dem Kulturhaus benachbarte Pfarrkirche gedient, für deren Gestühl sich ein solcher Boden seit Generationen bewährt hatte.60 Auch in anderen Dörfern des Bregenzerwaldes ist der Holzboden der Pfarrkirche die jedem Dorfbewohner vertraute Referenz für die Robustheit roh belassener WeißtanneDielen.61 Die Führung durch den Kindergarten-Neubau in Langenegg durch Bertram Dragaschnig hatte Gelegenheit gegeben, technische, baurechtliche und soziale Hintergründe über diesen auch hier eingesetzten Boden zu erfahren. Wichtigste Qualitätsvoraussetzung sind im Riftschnitt gesägte Bretter. Die „stehenden“ Jahresringe, die diese Art des Sägens erzeugt, gewährleisten einen festen Verbund der Holzfaser im Brett und verringern das Ablösen von Spießen in der Benutzung.62 Die sägerauhe Oberfläche der Dielen, durch das quer zur Faserrichtung laufende Sägeblatt der Bandsäge strukturiert, bildet Druckstellen aus der Benutzung weit weniger auffällig ab als gehobelte Oberflächen. Die Aufrauhung betont daneben die angenehme Oberflächentemperatur von Weichholz beim Kontakt mit Hand und Fuß. So vertraut heute mediale Bilder sind, die auf dem Holzboden sitzende Schulkinder zeigen63, und so einleuchtend die Übertragung der in den Pfarrkirchen bewährten Böden in kommunale Bauten nachträglich erscheint, war doch ein umfassender Vermittlungsprozeß zur Schaffung dieser Akzeptanz nötig. Mario Nußbaumer war als Gemeindeangestellter für die behördliche Abnahme des Langenegger Kindergarten-Neubaus zuständig und weist im 60 Diesen Hinweis verdanke ich Doris Gruber und Michael Stöckler, Bregenz. Ausdrückliche Erwähnung findet der „Dielenboden im Kirchenraum“ und seine Behandlung, „Dieser Boden besteht aus heimischem Massivholz mit unbehandelter Oberfläche und wird von Zeit zu Zeit mit Bürsten auf traditionelle Art und Weise gesäubert“, in: HolzKultur Hittisau, Hittisau 2004, S. 7 61 Eine Schweizer Exkursionsgruppe, mit der ich selbst im Sommer 2006 den Kindergarten in Egg besichtigte, wurde von unserem aus dem Ort stammenden Führer auf die Pfarrkirche verwiesen, nachdem die Besucher Interesse für den sägerauhen Weißtanneboden gezeigt hatten. Der Boden der Egger Pfarrkirche war zehn Jahre zuvor renoviert und erneut mit den bewährten, hier sogar stammbreiten, konisch besäumten Weißtannebrettern ausgestattet worden. 62 Die zunächst widersinnig erscheinende Arbeitsweise, wie sie hier praktiziert wurde, das bereits auf Endmaß gehobelte Brett nachträglich durch einen

Streifschnitt mit der Bandsäge aufzurauhen, erklärt Dragaschnig mit „optischen Gründen, und die Splitterungen, die das Holz hat, die sieht man dann nicht mehr“. (BD: Z 1138 ff) Neben dieser ist die Fertigungsweise verbreitet, in doppelter Stärke getrocknete Model mit der Blockbandsäge aufzutrennen und auf diese Weise die sägerauhe Oberfläche zu erzeugen. Um die ausgerissene untere Brettkante zu versäubern, wird hier anschließend der Kamm, an der oberen Brettkante die Nut angefräst. Zum Fertigungsvorgang vgl. auch Anm. 59 im Abschnitt Holz als Baustoff dieses Kapitels 63 „Wenn man da draufsitzt, der ist warm, angenehm“ (BD: Z 338 ff). Der von Dragaschnig beschriebene Effekt wird auch in Breuß’ Publikation hervorgehoben. In der Volksschule des Nachbarorts Doren brächten die Schüler große Teile des Unterrichts auf dem dort ebenfalls sägerauhen Boden sitzend zu. Breuß (2004)

Pfarrkirche als Referenz

Riftschnitt als Voraussetzung

Neubewertung von Hygienefragen in der Genehmigungspraxis

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Gespräch auf Genehmigungshindernisse hin: „Normalerweise würden da Vorschriften entgegen stehen.“64 Auch Bertram Dragaschnig bestätigt für das selbe Objekt, daß der Einsatz des Bodens „erstmalig auch im Kindergarten“65 ursprünglich behördlichen Schutzvorstellungen entgegenstand.66 Verletzungsgefahr durch Holzspieße aus der sägerauhen Bodenoberfläche insbesondere im Bewegungsraum des Kindergartens, bestehende Hygienevorschriften und die eingeschränkte Reinigungsmöglichkeit waren dagegengehalten und den Einwänden durch Verweigerung der baubehördlichen Abnahme Gewicht verliehen worden. Daß im Gegenzug das ansonsten gebräuchliche Versiegeln der Oberflächen durch Lacke, die Definition gesundheitsfördernder Hygiene als „Abwaschbarkeit“ also, mittlerweile einen Bewertungswandel erfährt, da in den zugrundeliegenden Verfahren und Materialien weit größere Gesundheitsgefahren nachgewiesen worden sind als durch Verletzungsgefahr und Reinigungserschwernis, wie sie offene Holzoberflächen bieten, erläutert Nußbaumer an Beispielen jährlich wiederkehrender Zwangsschließungen von Schulgebäuden aufgrund festgestellter Schadstoffkonzentrationen in ihrer Raumluft. Normalerweise, wenn man zu dem Zeitpunkt der Bauphase in so ein Gebäude geht, geht man dann später mit Kopfweh heraus. Alles lackiert, alles versiegelt, Lösemittel tonnenweise. Die dann auch Jahre später in der Raumluft vorhanden sind. (...) Warten wir wieder bis zum Herbst. Im September, Oktober vergeht bei uns kein Jahr, daß irgendeine Schule, die den Sommer über saniert wurde oder neugebaut worden ist, daß es Probleme gibt mit Kopfweh, oder Übelkeit und diese Räume dann gesperrt werden und Raumluftmessungen durchgeführt werden. Das ist in jedem Jahr mindestens eine Schule, wo es in diese Richtung Probleme gibt. Die werden in den Sommerferien gerichtet, da werden die Böden neu versiegelt und lackiert. Jeden Sommer mindestens eine Schule. In Vorarlberg. Zu hohe Konzentration in der Raumluft, sei es von einem Kleber, sei es die Versiegelung von einem Parkett oder was. Und die ganzen Lösemittel, die man da draufstreicht, von einer Lackierung, oder so, haben bis zu sechs Jahren Ausdünstung. 67 Wertewandel und Fortschrittskritik

Es ist ein breites gesellschaftliches Umdenken, das Zeitgenössische Architekten hier aufgreifen und in den durchaus konflikthaltigen Konsequenzen, die Archaismen innerhalb moderner Lebensumfelder programmatisch auslösen, zur Diskussion stellen. Das Wiedergewinnen von Qualitätsstandards vormoderner Lebensumfelder erfordert, den Mechanismus der Moderne außer Kraft zu setzen, das technisch Fortschrittlichste als das jeweils Beste zu bewerten. Es setzt die Bereitschaft voraus, das Prinzip technischen Fortschritts selbst einer Kritik auszusetzen. Die Neubewertung von Gesundheitsaspekten ist nur ein Aspekt, der mit der neuentwickelten Kompetenz im Umgang mit unbehandelten Holzoberflächen verknüpft ist. Es ist auch die Eigenhändigkeit, die daran wieder aufgenommen wird und meinen Gesprächspartnern Mario Nußbaumer und Bertram Dragaschnig bemerkenswert erscheint: „Den Weißtanneboden gibts im Bregenzerwälderhaus als Dielenboden, im Schopfbereich, der wird mit Seife, mit Schmierseife und Wasser gebürstet, wenn man das da macht, dann ist der, zum ersten gehen die ganzen Fasern vom Sägen weg, dann wird der da,

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kommt auch ein Grauschimmer.“68 Die traditionelle Pflege dieses Bodens, die seiner Oberfläche erst Glätte und Härte und damit Tauglichkeit für den Wohnbereich verleiht, ist das Bürsten mit Kernseife. Im modernen Haushalt und seiner Reinigungspraxis gelten solch händische Bearbeitungstechniken längst als überholt. Erst der angesprochene neue Begriff von „Gesundheit“ führt zum Umdenken, empfiehlt, die Ungewohntheit und Komforteinbuße in Kauf zu nehmen, um damit gleichzeitig die neu bewertete Qualität des Wohnumfelds wieder in die eigene Zuständigkeit, Verantwortung und Praxis einzubeziehen. Der traditionelle Kontext gibt der Wahl des Bodens eine zusätzliche soziale Dimension: er erinnert an die Hausarbeit der Bauersfrauen, die daran geknüpfte soziale Profilierung und die ihr zugeordneten Rollenbilder. Eine junge Frau, die in Au gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Volksschullehrer des Dorfes, ein denkmalgeschütztes, von den Eltern ererbtes Bauernhaus bewohnt und regelmäßig ihren Holzboden mit Kernseife bürstet, erzählt, daß die vom Putzen sichtlich „weiße Schwelle“ ehemals im sozialen Leben des Dorfes als sichtbares Zeichen für die Tüchtigkeit der Hausfrau stand.69 Mit aller Vorsicht muß also darauf hingewiesen werden, daß das zu beobachtende Interesse an der Wiedererweckung traditioneller Oberflächen der raumbestimmenden Materialien auch eine Neubewertung traditioneller Rollenbilder innerhalb der modernen Identität der Frauen berührt.70 In solchen Erscheinungen manifestieren sich Bestrebungen, innerhalb unserer von Individualisierung, Diversifizierung, demokratischem Mitbestimmungsrecht und disparatem Nebeneinander von Lebensstilen und Kulturen, also von höchster Uneinheitlichkeit geprägten Leben die Rückkehr einer zumindest ästhetischen Vereinheitlichung zu wünschen. Die Verunsicherung, die mittlerweile aus den zunehmend auch im Alltag sich zeigenden Fehlfunktionen der Entwicklung unserer technisch geprägten Zivilisation entspringt, wirkt als Triebkraft solcher Versuche, in traditionellen Praxen eine neue Beheimatung zu finden.71 Der Umgang mit Holz im heutigen Bauen auf dem Gebiet des Bregenzerwaldes ist, parallel zu den immer auch präsenten 64 MN: Z 362 f 65 BD: Z 227 ff 66 „Wir haben den Segen der Behörde nicht bekommen.“ Ebd. 67 MN: Z 338 ff 68 BD: Z 315 69 Gespräch mit Anne-Marie Bär am 09.07.2004 70 Auch Rainer geht auf den Zusammenhang zwischen regionaler Baukultur und sozialem Verhalten ein, wenn er in seiner Dokumentation der Dörfer des Nordburgenlands, innerhalb einem im Vergleich zur Holzbaukultur des Bregenzerwaldes gänzlich steinernen baukulturellen Umfeld also, zu Beginn der 1960er Jahre eine vergleichbare, dort und zu dieser Zeit noch ursprüngliche Praxis vorfindet und beschreibt:

„Dieses Weiß [der Hausmauern] wird überdies ganz offenbar bis heute von der Bevölkerung nicht als ,Farbe‘, nicht als Architekturelement, sondern ganz einfach als Reinigungsmittel aufgefaßt. Denn jährlich zu Ostern und nach zufälligen Verunreinigungen oft mehrmals im Jahre werden die Fassaden von den Frauen selbst gekalkt, und dabei werden oft auch die Stufen, werden Teile des Pflasters, werden die Steinbänke vor dem Tor, Baumstämme, Plastiken usw. mitgeweißt, so daß sie schließlich von vielen dünnen, schützenden Häuten aus Kalk überzogen sind“ (Rainer [1961], S. 6). Die Untersuchung Rainers erscheint selbst als Teil und Merkmal des Niedergangs der traditionellen ländlichen Lebenskultur. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist sie an diesem Ort vollständig aus dem Straßenbild verschwunden.

Neubewertung traditioneller Frauenrollen

Wunsch nach Rückkehr ästhetischer Einheitlichkeit des Lebensumfeldes

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Industrialisierungs- und Marketingeinflüssen auf die Holzwirtschaft, auch von solchen Kräften geprägt, die gegen den Strom der Zeit gerichtete Haltungen entwickeln. Regionalität als Wertegemeinschaft

„Geschmack“

Holz und Stein trennt – als Grundlage materialbezogener Bauweisen genommen – ein soziales Gefälle. Dieses betrifft unsere Frage „Was ist Architektur?“ insofern, als nicht erst mit den Theoretikern der 1920er-Jahre-Architekturmoderne ebendieser gesellschaftlichen und technischen Bewertung der Materialien eine Architektur-konstituierende Eigenschaft zugeschrieben worden ist.72 Holz ist in dieser Kategorisierung sowohl von sozial hochstehenden Zwecken, allen voran dem Sakralbau 73, als auch von künstlerisch hochstehenden Werken ausgenommen worden. Daß es sich dabei um gesellschaftliche Zuschreibungen und nicht um objektivierbare Eigenschaften handelt, sollte unser Vergleich mit fernöstlichen Kulturen des Holzbaus und deren ganz anderen Materialkonnotationen illustrieren. Nicht erst, seit Bourdieu mit seinem gesellschaftlichen Kulturbegriff das profane, körperlich empfundene „Schmecken“, etwa von Speisen, und das sublimierte „Geschmacksurteil“, das zur Beurteilung der Gegenstände künstlerischen Tuns eingesetzt wird, in einer gemeinsamen Kategorie vereint hat74, müssen „Wert“, die Aufwiegbarkeit von Gegenständen in Geld, ebenso wie „kultureller Wert“ als aufeinander bezogene Produkte gesellschaftlicher Vereinbarungs- und Setzungsprozesse verstanden werden. Die Resozialisierung des Holzbaus, die Achleitner für Vorarlbergs Architekturszene ebenso festgestellt wie konstituiert hat, beschränkt sich folglich nicht auf „Empfundenes“, auf das ästhetische Urteil gegenüber vergrauenden 71 Ein vergleichbarer Prozeß wie auf dem Feld der Nahrungsmittelproduktion, ein Vorgang, der hier mit Schlagworten wie artgerechte Tierhaltung, biodynamische Nutzpflanzenkultur, Fair Trade nur angedeutet ist und längst über die „Hofläden“ einzelner Bauern hinausgewachsen ist und die Supermarktketten erreicht hat, geschieht derzeit im Baustoffsektor. Hier sind es die Dämmstoffe, vor allem aber das Bauholz, die für Marketingstrategien zugänglich sind, die das Natürliche, Gesunde und die Identität der Bestandteile betonen. Die fortschreitende Industrialisierung und Globalisierung erzeugen mit ihrer räumlichen Trennung von Gewinnung, Verarbeitung und Verwendung der Baustoffe zunehmende Verunsicherung in einer Verbraucher-, hier: Bauherrengeneration, die mit Nachrichten von Umweltskandalen großgeworden und durch den Hinweis auf Gesundheitsgefahren, etwa aus Holzschutzmitteln, aus Leimbestandteilen von Spanplatten etc., alarmiert worden ist. 72 Oechslin verweist im angesprochenen Zusammenhang auf Sigfried Giedions 1928 erschienenes Werk Bauen in Frankreich: Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton. Oechslin (1995), S. 64

73 Otto Bartnings evangelische Heilandskirche in Dornbirn (Achleitner [1980], S. 425), ein Holzbau von 1930/31, kann in dieser Hinsicht weniger als Ausnahme denn als Bestätigung des angesprochenen Prinzips genommen werden. In ihren betont bescheidenen Bauten präsentiert sich die evangelische Kirche in Vorarlberg als Minderheitenbekenntnis. Indem Bartning für seinen Kirchenbau die im Vorarlberger Rheintal traditionelle Wohnhauskonstruktion, den Fachwerkbau, verwendet, stellt er die Kirche als „Haus“ dar, und zwar nicht Gottes, sondern der Menschen, der Gemeinde. Dies markiert einen spezifisch protestantischen Zugang zum Christentum, der in Abgrenzung zum dominierenden Katholizismus Vorarlbergs besonders deutlich hervortritt. Im vorliegenden Fall dürfte jedoch die gewählte Architekturform nur eingeschränkt vom sozialen Umfeld bestimmt gewesen sein. Niederstätter (2010, S. 16) weist darauf hin, daß der Dornbirner Kirchbau „nahezu ein Duplikat“ einer 1909 vom gleichen Architekten entworfenen Bergkapelle in Schenkenhein/ Tesarov (Tschechien) sei. 74 Bourdieu (1979), S. 17 ff

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Massivholzfassaden oder ebensolchen Holzböden etwa.75 Es drückt sich ebensosehr in der geldwerten Beurteilung des Holzbaus, in Baustoff- und Bauleistungspreisen oder in Versicherungssummen und Kreditkonditionen sowie deren zugrundeliegenden Risikoabwägungen aus. Regionalität bietet uns einen Betrachtungsrahmen, der erlaubt, einen solchen gesellschaftlichen Wertewandel auf einen geographischen Gültigkeitsraum zu beziehen. Stattgefunden hat dieser Wandel, seit Gunter Wratzfeld gezwungen war, sein erstes Haus in Watzenegg „als Notlösung“ in Holz zu materialisieren. Zu der Zeit war Holzbau wesentlich billiger, als wie der Bau durch den Baumeister. (...) Ich hab ein Vorprojekt gemacht, das war ausschließlich mit Baumeisterarbeiten gedacht, und das mußte ich verwerfen, weils nicht leistbar war.76

Innerhalb der mittlerweile vergangenen vier Jahrzehnte ist Holzbau „eher teurer“77 als Massivbau geworden. Peter Greußing kann daher die heutige Situation des Holzbaus, wie er sie in Vorarlberg vorfindet, in einen Gegensatz zum angrenzenden Deutschland stellen und Vorarlberg als regionale Wertegemeinschaft auch auf dem Kapitalsektor seiner Wirtschaft darstellen. In Deutschland, [wo] so und soviel Sparkassen zum Beispiel einen Holzbau weniger finanzieren, als wie einen Massivbau. Weils Holz ist, und bei uns ist da überhaupt kein Unterschied.78

Der zeitgenössische Vorarlberger Holzbau mit den an ihn geknüpften Werten ist damit Indikator und Mittel einer fortgeschrittenen Regionalisierung Europas, Produkt und Bestandteil einer Entwicklung auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene, an deren gegenwärtigem Stand Zeitgenössische Architektur und regionales Handwerk gleichermaßen mitgewirkt haben.

„Wert“

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75 „So ist das gekommen, auf den Urgedanken zurück, weil es früher nämlich Weißtannenfassaden gegeben hat, und so sind wir jetzt wieder bei der Weißtannenfassade, man sieht es bei diesem Gebäude ganz schön, ohne Vordach wohlgemerkt, aber das haben die Architekten ganz bewußt so gewählt, und zwar richtig gewählt. Das Haus wird einheitlich grau. (BD: Z 81 ff) Beim Kindergartenbau in Langenegg ist die graue Holzfassade der architektonisch angestrebte Zustand. Daß solches nicht selbstverständliches Allgemeingut ist, zeigt der Blick über die Grenze Vorarlbergs: Anderswo sind Holzbauten mit Dickschichtlasuren oder Putzschichten „geschützt“, wird die verwitternde Fassade als Mangel, als Verfallszustand, als Zeichen mangelnder Pflege und deshalb als Anzeichen von Unmoral betrachtet. Leopoldine Eugster deutet Dementsprechendes an, wenn sie über das neue Nachbarhaus mit seiner unbehandelten Holzfassade spricht. (ALE: Z 761 ff) Generationenspezifische Aspekte dieses Wertewandels spricht Schmidinger an. (WS 1: Z 619 ff) Dragaschnigs Verweis auf den „Urgedanken“, die Fassaden alter Bauernhäuser, zeigt einerseits die Abstraktion, die das historische Vorbild in seiner „Verarbeitung“ zum Architektenentwurf erfahren hat, andererseits den Umstand, daß im vorliegenden Fall keine soziale Abgrenzung von den „einfachen Leuten“ und ihrer „armseligen Bauerei“ (Purin) mehr für nötig befunden wird. 76 GW: Z 418 ff; vgl. auch Prechter (2004)

77 BD: Z 529 78 PG: Z 586 ff Greußing spricht im Kontext mehrgeschossiger Wohnbauten in Holz die regional unterschiedlichen Bewertungen von Holz- und Massivbau an, wie sie sich im Medium von Bau- und Brandschutzvorschriften darstellen. Die Einstufung von Holzbau als brandgefährdete Bauweise ist sein traditioneller Nachteil gegenüber dem Massivbau. Aspekte der historischen Entwicklung im Forschungsfeld geben die Erörterungen zur Vereinödung im Vorderen Bregenzerwald wieder: Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitels Dorf, Anm. 113 Der Hinweis auf die Brandgefahr im Holzbau ist zentrales Argument in der aktuellen Werbekampagne der Massivbauindustrie Bau massiv. So illustriert etwa ein aus Streichhölzern mit betont roten Zündköpfen gebautes Satteldachhaus den Slogan „Feuer läßt den Massivbau kalt“. (Als ganzseitige Anzeige u.a. veröffentlicht in der Vorarlberger Gratiszeitung Wann & Wo am Sonntag, 10.05.2009, S. 72) Die Öffentlichkeitsarbeit der österreichischen Holzwirtschaft ist demgegenüber bemüht, durch technisch bestimmte Aufklärungsarbeit solche Argumente als konkurrenzbestimmtes Schüren verbreiteter Vorurteile zu entkräften. Vgl. dazu etwa die wiederkehrenden Brandschutzthemen der Holzbauzeitschrift zuschnitt, so etwa 8.2002, S. 19, das Themenheft 14.2004 „Holz brennt sicher“ oder das Sonderheft „Brandschutzvorschriften in Österreich“, März 2012.

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163 3.3 Modernisierung des Holzbaus Handwerker, Architekten und Bauherren leisten jeweils spezifische Beiträge zu derjenigen Modernisierung des Holzbaus, die Achleitner als den genuinen Kern der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs identifiziert und damit zu deren konstituierendem Thema erhoben hat.1 Der folgende Abschnitt ist solchen Beiträgen gewidmet. Als „spezifisch” werden sie verstanden, indem den Akteuren ein Gruppeninteresse unterstellt wird. Die daraus formulierte Position, ein jeweils zeitgebundenes Modell für Fortschritt, nutzt den Holzbau als Medium. Als solches eignet er sich besonders wegen seiner Fähigkeit, universelle Ansprüche zu integrieren. Insbesondere in Vorarlberg sind die traditionellen Beschränkungen des Holzbaus in einem Modernisierungsprozeß aufgehoben worden, einerseits seine soziale Beschränkung auf das ländlich-agrarische Milieu, andererseits seine technische Einschränkung gegenüber anderen Baustoffen, die ihn nun auch für vielgeschossige und weitgespannte Konstruktionen und Gebäudetypen geeignet erscheinen lassen. Neben seinen zeitgenössischen, industrialisierten Verfahrensweisen bleibt der Holzbau weiterhin vollständig handwerklich organisierbar. Für seine niedrigschwellige Zugänglichkeit steht vor allem der breitgestreute private Waldbesitz, der in Vorarlberg das Holz als Baustoff in die unmittelbare Verfügbarkeit breiter Bevölkerungsanteile stellt und den Holzbau sowohl für einzelne Bauherren, für Selbstbaugruppen, als auch im politischen Maßstab von Regionen zum Medium für Selbstversorgungsmodelle macht. In diesen Modellen demonstrieren der Holzbau und seine Praxis exemplarische Haltungen gegenüber demjenigen Fortschrittsmodell, das Zukunftsorientierung in immer stärkerer Spezialisierung der Arbeit, immer höherem Mechanisierungsgrad der Produktion, immer höherem Verfügbarkeitsgrad aller Rohstoffe und immer stärker ausgeprägter Warenhaftigkeit aller genannten Faktoren definiert: dem volkswirtschaftlichen Konsensmodell der westlichen Industrienationen. Indem dieses ökonomische Konsensmodell industriegestützt ist, erhält insbesondere die gesellschaftliche Positionierung des Handwerks politische Bedeutsamkeit als Alternative. Stärker noch als das Zimmermannshandwerk, weil institutionell ungebundener, haben Selbstbauinitiativen, die in Vorarlberg vor allem in Bauherrengemeinschaften zur Errichtung überschaubarer Wohnhausgruppen vorwiegend in den 1970er und 1980er Jahren in Erscheinung getreten sind, solche alternativen Haltungen praktiziert. Auch wenn sich ihre Modelle auf das Wohnen beschränken, liefern sie uns doch insofern bemerkenswerte Antworten auf Fragen der Produktion, der individuellen Repräsentation und der sozialen Funktion von Arbeit und ihrer Organisationsformen, weil darin die Position des Einzelnen gegenüber Gemeinschaft und Gesellschaft im Vordergrund steht.

Universalität des Holzbaus

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Architekten und Handwerker als konkurrierende Experten

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Trotz seiner Universalität ist dem zeitgenössischen Holzbau Stellvertretercharakter zu unterstellen, dessen publizistische und politische Aufmerksamkeit2 vor allem seine Funktion als Signalgeber für solche Weichenstellungen unterstreicht, die außerhalb der unmittelbaren Sphäre des Bauens liegen, denn der Anteil, den er innerhalb der österreichischen Bauwirtschaft hält, ist nach wie vor gering.3 Diesseits solcher Aspekte der Repräsentation ökonomischer Interessen, für die der Holzbau als politischer Signalgeber steht, spannt der folgende Abschnitt ein wechselwirksames Feld zwischen Handwerkern, Architekten und Bauherren in ihrem Auftreten als gesellschaftlichen Akteursgruppen auf, dessen Beobachtung Antworten auf unsere Frage „Was ist Architektur?“ gibt. Auch hier verdienen speziell die Ansprüche des Handwerks und diejenigen selbstbauender Bauherren Beachtung. So erlaubt die Modernisierung des Holzbaus, eine Entwicklung in der Beziehung zwischen Architektur und Handwerk zu beobachten, die dadurch gekennzeichnet ist, daß seitens der Architektenschaft der Gestaltungsraum des Handwerks eliminiert und dessen Position innerhalb des Bauens auf diejenige „optimierter Fertigung“ reduziert wird.4 Gerade das traditionelle Selbstverständnis des Handwerks geht jedoch von einer gegenteiligen Positionierung aus, die für sich reklamiert, den Planungs- und Bauprozeß in allen seinen Aspekten, technischen, kulturellen, ebenso wie ökonomischen, abzudecken. Gesellschaftlich gesehen tritt das Handwerk in diesem Anspruch gegen einen ebensolchen der Architekten5 und insbesondere deren „totalen“ Kontrollanspruch6 an. In wissenssoziologischer Perspektive stellt die Beziehung zwischen Handwerkern und Architekten also eine Konstellation „konkurrierender Experten“7 dar. Wenn in diesem Abschnitt von der „Differenz“ zwischen Architektur und Handwerk die Rede ist, so schafft der Rahmen, den der Baustoff Holz diesem Kapitel gibt, eine Konzentration auf Aspekte von Baupraxis und Baustelle und 1 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Anm. 6 2 Förderlich für die überproportionale Aufmerksamkeit wirkt etwa die sorgfältig gestaltete und redigierte Zeitschrift der österreichischen Holzwirtschaft zuschnitt. Auch wenn es von politischer Seite weder auf natonaler noch auf Bundeslandebene eine aktive Holzbauförderung gibt, so wirkt etwa die positive Bewertung im Punktesystem der Ökoförderung als indirekte Förderung. 3 Seitens der Konkurrenten des Holzbaus, dem Verband Österreichischer Beton- und Fertigteilwerke, wird der Anteil von Holzbau am Wohnbausektor der österreichischen Bauwirtschaft (2010) mit 20% beziffert. In der gleichen Quelle (Homepage des Verbandes) werden etwa für Finnland 80% angegeben. Pro Holz Austria, die Arbeitsgemeinschaft der österreichi-

schen Holzwirtschaft, weist 2011 den Holzbauanteil im österreichischen Wohnbau (nach Bauvorhaben) mit 40% aus. In: ProHolz Austria (2011), S. 8 4 Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk. In diesem Vorgang wird Zeitgenössische Architektur als Ressource zur Gewinnung sozialen Ansehens eingesetzt. Deutlich wird dies etwa, wenn ein exponierter Vorarlberger Architekt die „Tatsache, dass Handwerkern und Ausführenden in Vorarlberg ein hoher sozialer Status eingeräumt wird“, von deren „hohe[r] Vertrautheit mit den Essenzen der zeitgenössischen Architektur“ herleitet. In: Natter, S. 85 5 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, und Abschnitte Reform des Handwerks, Kapitel Handwerk

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deren technischen und organisatorischen Gesetzlichkeiten, wohingegen solche der sozialen Repräsentation momentan in den Hintergrund treten. So soll an dieser Stelle der Befund, daß die Differenz zwischen Architektur und Handwerk eine manifeste Komponente sozialer Schichtenzugehörigkeit aufweist, lediglich als Hinweis deponiert werden. Der Abschnitt Baukünstler des vorangegangenen Kapitels Vorarlberg hat bereits auf den Wandel in der Beziehung zum Handwerk hingewiesen, der dem generationsspezifischen Kompetenzprofil der Architekten8 und der gesellschaftlichen Neupositionierung ihrer Berufsgruppe als „Stand“ entspringt, sowie auf die Interessen, die der Staat als Akteur in diesen Wandel einspeist. Die folgenden Kapitel Haus, Dorf und Handwerk werden diese soziale Differenz im Kontext der Modernisierung des ländlichen Raumes thematisieren, einem Prozeß, der Architektur als einerseits akademisch, andererseits städtisch konnotiertem Bauen seit den 1980er Jahren nun auch für dörfliche Gesellschaften des untersuchten Raumes zum Thema werden läßt. Die Gruppe der selbstbauenden Bauherren steht im folgenden Abschnitt für die Frage nach der Position des Einzelnen in der Gesellschaft, für die sich das Bauen, und darin vor allem der Holzbau, in vielfältiger Form als Schauplatz eignet. Die Frage, ob und inwieweit der Einzelne eigenhändig imstande ist, sich selbst zu behaupten und seine Familie zu behausen, stellt sich nicht nur in agrarischen Gesellschaften9 und gegenüber den Naturkräften, sondern wiederkehrend auch als Gestaltform der Frage nach der Beziehung zwischen dem Einzelnen und seinem Staat: Je kleiner der Einzelne und sein Gestaltungsraum innerhalb des gesellschaftlichen und staatlichen Gefüges ist, in dem er lebt, desto subversiver erscheint die Rekonstitution seiner individuellen Selbstbestimmung. Beide Elemente, die elementare „Behausungsfrage“ und 6 Anhand des „Gartenhausproblems“ beschreibt Bertram Dragaschnig diesen Kontrollanspruch als räumliches Phänomen, als Zone, aus der übrigen Welt ausgegrenzt, in der besondere Gesetze, diejenigen der Architektur, herrschen. Das Spielhaus des Kindergartens Langenegg gibt den Anlaß der Erzählung. „Das hat die Gemeinde in Eigenleistung gemacht. (...) Man hat eh schon umgebaut, teilweise. (...) Das ist einfach nicht konsequent fertiggedacht. Das ist nämlich genau der Unterschied.“ (BD: Z 400 ff) Das „Gartenhausproblem“ (ebd.) tritt an der Zonengrenze auf, dort, wo die Kontrollgewalt des Architekten endet, wo Architektur und Nichtarchitektur aufeinandertreffen. Dort, wo das Gestalten innerhalb eines höheren Bezugssystems, das bedeutungsvolle Gestalten, aufhört und das bloß Zweckmäßige, das Belanglose oder der individuelle Geschmack ihr Recht behaupten. Das Gartenhaus wird zum Problem, indem es den Bezirk der Architektur durch seine Gewöhnlichkeit kontaminiert. Sein Erscheinen auf den

Fotos des architektonischen Werkes, das im Bild eine gemeinsame „Wirklichkeitsebene“ suggeriert, gilt unter Architekten als Sakrileg. Dragaschnig schlägt daher vor, Abstand zu schaffen: „Kran her und anhängen und weg. (...) Wenigstens ein Stück weit weg.“ (Ebd.) Dragaschnig macht deutlich, daß die Existenz solcher architektonisch kontrollierter Territorien auch seitens kommunaler Amtsträger als Zone besonderer Gesetze und damit als Einschränkung ihres eigenen, staatlich legitimierten Kontrollanspruchs wahrgenommen wird. Ihre Befürchtung, „dann haben wir nichts mehr (...) mitzureden“, beeinflusse als „Hauptargument“ die Entscheidung zur Durchführung von Architektenwettbewerben. (BD: Z 346 ff) Vgl. dazu die Abschnitte Architektur im Dorf und Beratung, Planung, Steuerung im Kapitel Dorf 7 Berger/Luckmann, S. 124 f 8 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg

Architekt oder Zimmermann als soziale Frage

Selbstbauende Bauherren repräsentieren den Gestaltungsraum des Einzelnen in der Gesellschaft

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diejenige der sozialen Selbstbehauptung, sind in der Selbstbaubewegung verknüpft. Nicht zufällig tritt diese als Ausdruck von Institutionenkritik10 derjenigen Generation gesellschaftlich in Erscheinung, die als erste Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs in einer Kritik der Autoritäts- und Staatshörigkeit ihrer Väter sowohl ein verbindendes Selbstverständnis als auch einen gesellschaftlichen Reformbedarf formuliert. Auch das institutionelle Wesen von Architektur wird hierbei in den Blick genommen und unter dem Stichwort „Partizipation“11 als Frage nach Rolle, Bedürfnissen und Gestaltungspotential der „Planungsbetroffenen“12 aufgeworfen. Architektur ist nicht Handwerk

Architektur ist, vom Handwerk her gesehen, etwas Hinzugefügtes.13 Bertram Dragaschnig, Bauunternehmer, Bauträger und Generalunternehmer mit Sitz in Schwarzenberg, in seinem Firmenprofil eher als „Manager“ handwerklicher Leistung denn selbst als Handwerksbetrieb einzustufen, kennzeichnet in unserem Gespräch dieses Hinzugefügte als quantifizierbaren Mehraufwand innerhalb des Planungs- und Organisationsaufwands seiner Projekte. Diese Zusammenarbeit mit einem Architekten (...) die kost’ immer mehr Geld, als wenn ich jetzt mit einem Bauträger [arbeite]. Der Anspruch vom Architekten, um den zu erfüllen, das verlangt bei uns im Büro dreißig Prozent Mehraufwand.14

Vor allem „zu verstehen, was will der Mann eigentlich“15, sei für ihn „das größte Problem“16, ein Hindernis, das es zu überwinden gilt, bevor es darangehen kann, die Architektenvorgabe baulich umzusetzen und ebendarin seine „Stärke“17 als Unternehmen zu zeigen. Dragaschnig sucht, diese Verständnishürde, die er jeweils bezogen auf einen individuellen Architekten sieht, durch Anbahnung einer längerfristigen Arbeitsbeziehung zu überwinden: „Wenn Du ein Einfamilienhaus machst, mit einem Architekten, eines, dann kennst Du den Herrn noch nicht. Aber wenn Du fünf machst, oder zehn–“18 Doch auch nach zehn Häusern mit demselben Architekten seien die Details nicht „Standard“, und ebendas ist in Dragaschnigs Augen typisch für die Zusammenarbeit mit dem Architekten, daß immer„neue G’schichten dabei“19 sind. Für sein Firmenprofil, das sich innerhalb der regionalen Bauwirtschaft über außergewöhnliche „Qualität“ positioniert, ist der Architekt deren Referenz und die Praxis der Zusammenarbeit mit ihm daher eine zentrale Kompetenz. „Qualität“ meint hier den Perfektionsgrad der Ausführung, die Genauigkeit, die durch Detailplanung ebenso wie durch Fertigungsperfektion unter 9 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 10 Vgl. Temel 11 Steger (2007/1), S. 204 ff 12 A.a.O., S. 193 13 Umgesetzt findet sich diese „Dualität“, die aus der Sicht des Handwerks zwischen Architektur und Handwerk besteht, in der Praxis der „Auer Zunft“ als

historischer Standesorganisation des Bauhandwerks. In ihren Lehrgängen importiert sie Architektur über Vorlagenbücher aus Architekturtraktaten italienischer Provenienz. Baukörper und Fassade, Grundriß und Ansicht, werden in dieser handwerklichen Architekturpraxis voneinander gelöst und, ähnlich wie die Versalien und Minuskeln unserer Schrift aus unterschiedlichen Kulturen und Herkunftstraditionen stammend

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der Kontrolle qualifizierter Bauleitung zu gewährleisten ist. Von Architektur geht für Dragaschnig eine Herausforderung für das handwerkliche Können in seiner Ausdehnung auf dessen organisatorisches Umfeld aus. Die erzielten Ergebnisse sind für ihn Indikator für die Einstufung seines Unternehmens gegenüber der regionalen Konkurrenz: „Wo lieg ich am Markt. Wie lieg ich preislich, vor allem qualitativ, ich laß mich gerne von einem Architekten (...) überprüfen. Paßt die Qualität.“20 Der Architekt kann die Rolle des Qualitätsprüfers nur einnehmen, die Zusammenarbeit mit ihm nur Prüfstein werden, wenn auch die Rahmenbedingungen und Anforderungen von diesem definiert werden, innerhalb derer Qualität zu realisieren ist. Diese Rahmenbedingungen sind demnach architektonische. Gerade in ihrer Fremdheit innerhalb des handwerklichen Feldes, auf dem sie zu realisieren sind, liegt die Herausforderung, einerseits an die Kompetenz des Handwerkers in der Detailplanung, andererseits an seine Materialbeherrschung in der Ausführung. Das gleichermaßen architektonische wie handwerkliche Kunststück am Kindergartenbau in Langenegg, daß die in engem Horizontalraster ausgeführte Lattenverkleidung der Fassade an der Stelle, wo sie, in die Eingangshalle hineingezogen, „wie selbstverständlich“ die in die Wand eingelassenen Holztritte der nach oben führenden Freitreppe aufnehmen, der Fassadenraster also gleichzeitig zum Stufenraster wird, ist ein solcher „architektonischer“ Rahmen, ein totales Formkonzept als „höheres System“, dem sich alle Teile des Bauwerks unterzuordnen haben, ein System, das Rohbau und Ausbau ebenso wie Außenfassade und Innenwand, Baukörper und Raum, als untrennbares Ganzes darstellt. In seiner Rekapitulation des komplexen Planungsablaufs für den Kindergartenbau illustriert Dragaschnig gleichzeitig seine Feststellung von Architektur als „Mehraufwand“ gegenüber handwerklich bestimmtem Bauen. Die Detailplanung war da eine ganz interessante Geschichte. Grundsätzlich hat den Detailplan der [Architekt] gemacht. Aber das ist dann so gelaufen, daß es Besprechungen gegeben hat, wo das Schema Polierplan da war, der [Mitarbeiter Dragaschnigs] dazu, und der Zimmermann. Und dann hat man das Ganze überarbeitet, diese Pläne, und nach denen wurde dann gebaut. Also, die Detailpläne wurden nocheinmal mit dem Know-how von uns, mit dem Zimmermann zusammen überarbeitet. Und das hat man dann ’baut.21

Um den Architektenentwurf baubar zu machen, geht der Ausführung eine doppelte Planung voraus, werden die Architektenpläne, mit dem Know-how des Zimmermanns angereichert, bei Dragaschnig nochmals gezeichnet.22 und weiterhin unterscheidbar, zu einer Zweckgemeinschaft neu verwoben: „Die Zunft der Zimmerleute gehört zu den ältesten und bedeutendsten Zünften. Die einzelnen Meister (...) waren nicht nur die ausführenden Handwerker, sondern auch die entwerfenden Planer und Baumeister. (...) In der Auer Zunft waren ursprünglich Maurer und Zimmerleute, später auch Steinmetze organisiert.“ Sagmeister (1990), S. 7

14 15 16 17 18 19 20 21

BD: Z BD: Z Ebd. Ebd. BD: Z BD: Z BD: Z BD: Z

844 ff 826 ff

831 844 712 254

ff ff ff ff

Architektur als Prüfstein für Ausführungskompetenz

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Daß in diesem intensiven Verschränkungsvorgang von architektonischer und handwerklicher Planung Architektur an eine primäre, Handwerk und Materialgerechtigkeit an eine sekundäre Hierarchieposition gesetzt bleibt, wird gerade im Holzbau deutlich, der in den Materialeigenschaften des Holzes ein „System“ mit mindestens ebenso komplexen Bedingungen zu beachten hat, wie es das formale System der Architektur zu schaffen imstande ist. Die „Harakirigschicht“23 der Gehrungskante, mit der die Bretter des horizontalen Innenwandtäfers aus massiven Weißtannebrettern, architektonisch als ebenso dimensions- wie eigenschaftslose Oberfläche dargestellt24, am Langenegger Kindergartenbau „um die Ecke laufen“, ist nur ein Beispiel von unzähligen in der zeitgenössischen Vorarlberger Holzbauarchitektur, die diese Dominanz von Architektur über die handwerklich „vernünftige“ und gemäß den Holzeigenschaften „richtige“ Lösung veranschaulicht25, die zugrun22 Der Einbezug des Zimmermanns und seiner Kompetenz in die Architektenplanung dient gleichzeitig dazu, „Handwerklichkeit“ als architektonisches Stilmittel nutzen zu können. 23 BD: Z 446 24 Ein vergleichbarer Fall für einen solchen Konflikt konkurrierender „Systeme“ ist gelegentlich dort zu beobachten, wo eine Schindelfassade ohne Beachtung traditionellen Verarbeitungswissens in einen architektonischen Kontext gesetzt ist. An Bauernhäusern überdauern Schindelfassaden mehr als ein Jahrhundert (BD: Z 1184 ff), sofern der Zusammenhang zwischen Wetterseite, Orientierung der Häuser und dem Fassadenmaterial beachtet ist. Die Schindeln als aufwendigstes und repräsentativstes Material erhalten im traditionellen Bauen die am besten geschützte Hausseite. Am architektonisch aufgefaßten Baukörper umkleidet die „Oberfläche“ diesen allseitig, was die Schindelfassade nicht zu leisten imstande ist, sodaß sie, sofern nicht durch ein Vordach geschützt, an der Nord- oder Wetterseite alsbald faulig zu werden droht. 25 Wolfgang Schmidinger beschreibt im Gespräch den Bau seines eigenen Hauses als Zeitpunkt, zu dem der Zimmermann sich von den bewährten Konstruktionen („Bugung“: WS 1: Z 1417 auch „Strickhüsle“: a.a.O., Z 1530 ff) bereits entfernt hat, auf dem neuen, theoriegestützten Feld („Holzbaukunstbücher“, a.a.O. Z 1419), der „Skelettbauweise“ ( a.a.O., Z 1413) jedoch noch keine Sicherheit gewonnen hat. Der Architekt ist der Impulsgeber, der den Handwerker veranlaßt, sich dem Programm „ab heute wird anders gebaut“ (a.a.O., Z 1496) anzuschließen. Radikalität und Provokation kennzeichnen die Haltung des Architekten. Schmidinger stellt diesen Wendepunkt in den Rahmen eines Generationswechsels unter den Betriebsinhabern der regionalen Zimmereien. Die Folge ist eine Spaltung der Handwerkerschaft in Konserva-

tive, „die dem Anerlernten treu bleibt“ (a.a.O., Z 1559), und Experimentierfreudige: „Ich hab auch noch nicht die Erfahrung, daß es nicht geht.“ (a.a.O., Z 1569) Vgl. auch Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus, Anm. 58 26 „Trotzdem war die Tatsache, daß sich auf einer alten handwerklichen Tradition eine innovative Holzindustrie entwickelt hatte, keine schlechte Voraussetzung für eine neue, von diesem Materialbereich geprägte Baukultur. Noch dazu kamen einige Architekten direkt aus dem Umfeld dieses Baugewerbes oder waren sogar selbst ausgebildete Zimmerleute. Man muß aber vor dem einfachen Schluß warnen, daß diese produktionstechnische Gelegenheit automatisch für eine architektonische Kultur fördern sein muß. Analog würde dies bedeuten, daß die Vorarlberger Textilindustrie selbstverständlich einen hohen Standard des Landes im Modedesign bringen müßte. Abgesehen davon gibt es genug Regionen in Österreich, die ebenfalls seit Jahrhunderten mit der Holzverarbeitung leben und keine regionale Architektur hervorgebracht haben. Ja, es ist gerade umgekehrt: Lange ansässige Produktionsbereiche neigen durch die Tradierung zur Verkrustung und Erstarrung. Man könnte im Hinblick auf das Phänomen dieser ersten Entwicklung augenzwinkernd behaupten: Obwohl es in Vorarlberg eine ausentwickelte Holzbauindustrie gegeben hat, ist eine lebendige Architektur entstanden.“ Achleitner (1993), S. 110 Ähnlich äußert sich Sigfried Giedion zum Verhältnis von Handwerk, Architektur und Kultur: „Aber Länder mit großen Holzbeständen gibt es viele, ohne daß daraus ein neuer künstlerischer Antrieb erwächst. Dafür bedarf es eines besonderen Impetus, der nicht aus dem Boden allein kommen kann. Der Mann, der in Finnland neues Leben in eine alte, primitive Tradition zu bringen verstand, war der Architekt Alvar Aalto.“ Giedion (1948), S. 549

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deliegende gesellschaftliche Hierarchie ebenso wie die bleibende Differenz zwischen Architektur und Handwerk.26 Einen Effekt dieser Differenz sieht Dragaschnig, selbst ausgebildeter Zimmermann, vor allem im Prestigegewinn der Vorarlberger Zimmereien, den diese aus der Chance beziehen, im eigenen Land in großem Umfang Architektur zu realisieren. Aus Vergleichen mit den ebenfalls holzreichen Nachbarregionen, einerseits dem Bundesland Tirol, andererseits dem Allgäu jenseits der Grenze zu Deutschland, beschreibt er den Vorarlberger Holzbau als Sondersituation: „Eigentlich müßte man für Vorarlberg eine eigene Holzbauzeitschrift machen.“27 Vor allem „wenn wir über den Arlberg rüberfahren“28, nach Tirol, dessen Holzbaubetrieben er gleichrangige technische Kompetenz bescheinigt, gehe „der Holzbau in der Hochwertigkeit ganz massiv nach unten.“29 Seine Präzisierung „von der architektonischen Hochwertigkeit“30 erhebt Architektur an dieser Grenze zum vorrangigen Unterscheidungsmerkmal, während er gegenüber den deutschen Zimmereien zusätzlich ein technisches Kompetenzgefälle sieht, das sich bereits „im Vorbeifahren“ an der Bauweise der Betriebsgebäude zeige, „wie diese Konstruktionen, allein schon, wie diese Lager ausschauen, die die haben, wie bei uns vor fünfzehn, zwanzig Jahren“.31 Mit der Gestaltung der Betriebsgebäude32 identifiziert Dragaschnig einen prägnanten Indikator für die spezifische Modernisierung des Vorarlberger Holzbaus. Architektur, obwohl durch die in den Forschungsgesprächen befragten Handwerker als vom Handwerk getrennte Sphäre gekennzeichnet, konnte in ebendiesen „fünfzehn, zwanzig Jahren“33 zum repräsentativen Ausdruck des regionalen Holzhandwerks werden, ein Vorgang, der die eigene, die handwerkliche Repräsentationssprache, und mit ihr die „Sprachkompetenz“ der Handwerker, verdrängt hat. Handwerklichkeit ist in diesem Vorgang zum architektonischen Stilmittel mutiert. Die bauliche Repräsentation der Vorarlberger Holzbaubetriebe unterliegt seither den wechselnden Moden Zeitgenössischer Architektur. Für die unmittelbare Zukunft warnt Dragaschnig vor negativen Folgen dieser Fremdbestimmung, der sich das Holzhandwerk mit seiner Kopplung an die Architektur unterworfen hat: Wobei wir da schon aufpassen müssen, das geht in Richtung an Dich, oder an Euch, als Techniker, das ist schon eine Herausforderung an das Detail, das zu lösen und umzusetzen, oder, das zu konstruieren, weil wir schon vielfach am Rande des Machbaren sind. Muß man aufpassen. Daß wir dort nicht, uns da nicht irgendwann im Holzbau ein Eigentor schießen.34 27 28 29 30 31 32 der

BD: Z 461 ff Ebd. Ebd. Ebd. BD: Z 492 ff Hans Purin und auch Rudolf Wäger weisen wieund wieder auf die Zeit vor dem Architekturboom

hin, als selbst die Zimmerer ihre eigenen Betriebsgebäude in Massivbauweise errichteten. Aus der Sicht des Architekten stellt sich die Veränderung seither als Bestätigung der Annahme dar, daß das Handwerk erst durch Architektur zu sich findet. Vgl. dazu Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, Anm. 63 33 Wie Anm. 31

Prestigegewinn der Vorarlberger Zimmereien

Architektur repräsentiert Handwerk

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„Rand des Machbaren“

Sein Appell an den Architekten als „Techniker“ impliziert gleichzeitig eine Warnung vor dem Architekten als Formalisten. Die Mißachtung der Materialeigenschaften im architektendominierten Holzbau, dessen Schadensfolgen am betrachteten Kindergartenbau noch geringfügig und als „Revisionsteile“35 und notwendiger Nachbesserungsbedarf vom Bauherrn toleriert sind, droht, bei weiterer Ablösung der architektonischen Formensprache von den Materialeigenschaften des Holzes, eine Verselbständigung, die immer korreliert mit abnehmendem Konstruktionsverständnis der Architekten36, sich als Vertrauensverlust und damit als wirtschaftlicher Einbruch des Vorarlberger Holzbaus auszuwirken.

Handwerk ist nicht Architektur

Indem Architektur Handwerk repräsentiert und als Moderne Architektur gleichzeitig diejenige historisch gewachsene Dualität des Bauens abgestreift hat, die zwischen Rohbau und Kunstbau unterschieden und den Bau in genau abgrenzbare, dem Architekten oder dem Handwerker zugeordnete Sphären gegliedert hatte, greift sie mit dem Rohbau37 und ihrem Anspruch, diesen neu zu ordnen, um ihn in dieser Ordnung selbst zum Kunstbau zu erheben, auf die zentrale Kompetenz des Handwerks zu. Ernst Wirthensohn hat diese Kompetenz im Gespräch beschrieben und in Abgrenzung von Architektur deutlich gemacht, was, in seiner Perspektive des dörflichen Architekturförderers, Handwerk „ist“. Der Zimmermann fühlt sich als Experte am Bau. Und der hat das gelernt als Lehrling, und hat so seine Bauten vor sich, und denkt sich halt ja so, werd ich, könnt man es machen.38

Prinzip des Vorbilds – Prinzip des Machens

Wirthensohns Äußerung beantwortet eine Frage nach den „Vorbildern“ des Zimmermanns, einem Stichwort, das sich durch Wirthensohns Beschreibung selbst als „Architektenkonzept“ des Fragestellers entpuppt, nämlich als Wahrnehmungssystem mittels eines Referenzprinzips, innerhalb dessen ein Gebäude auf das andere verweist, was zusammengenommen ein Netz von Bezügen ergibt, das die innerfachliche Kommunikation und Rangordnung der Architekten bestimmt. Wirthensohn macht deutlich, daß es für dieses Referenzprinzip, das ein ästhetisches ist, beim Zimmermann keine Entsprechung gibt. Nicht ein Bildgedächtnis, wie beim Architekten, stehe im Vordergrund des Bewußtseins, der Zimmermann treffe seine Entscheidungen pragmatisch, aus der Logik der Baustelle heraus. Als Referenzen habe er zwar seine eigenen Bauten parat, diese jedoch in Gestalt von Bauerfahrung und das heißt, nicht ästhetisch, als Bild, sondern als Wissen um Material, dessen Eigenschaften und Leistungsfähigkeit. Zu diesem Wissen gehört in histori34 BD: 467 ff 35 BD: Z 254 36 Vgl. die Feststellungen zum Wandel in der Beziehung zum Handwerk und damit verbunden, im Kompetenzprofil des Architekten, der die zweite von der ersten Vorarlberger Baukünstlergeneration unter-

scheidet im Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg. Vgl. auch Kapfinger (2001) 37 Zum „Rohbauargument“ vgl. Hüter (1981), S. 134, und Abschnitt Möbel und Raum, Kapitel Handwerk 38 EW 1: Z 582 ff

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scher Perspektive bereits die Gewinnung des Materials39, heute noch seine Wahl, seine Behandlung und Verwendung in der Konstruktion und Ausstattung des Bauwerks. Diesen unterschiedlichen Wissensarten, die Wirthensohn uns in seiner Gegenüberstellung von Architekt und Zimmermann vor Augen führt, sind ebenso unterschiedliche Inhalte des Begriffs „Tradition“ zugeordnet. Die die Architektenwahrnehmung spiegelnde Frage, ob das Handwerk eine traditionelle Form konserviere, beantwortet Wirthensohn mit der Feststellung, der Handwerker entscheide danach, „wie man es immer gemacht hat“.40 Der Vorstellung von Tradition als typologisch-formalem Konzept stellt Wirthensohn damit ein Prinzip gegenüber, das mit einem bildgestützten Traditionsverständnis inkompatibel ist: das Prinzip des Machens. Die Gesetzmäßigkeit des Herstellens ist primär prozeßhaft und erst sekundär ergebnisorientiert. Nicht die zu erreichende Form, gar einer typologisch gebundenen Form, sondern die Art und Weise, Materialien zu bearbeiten, sie zusammenzufügen und Schutzmaßnahmen zugunsten ihrer Dauerhaftigkeit zu schaffen, ist der rote Faden, der, Wirthensohn folgend, den Zimmermann in seinen Entscheidungen leitet. „Tradition“ bezieht sich in dessen Wissenssystem nicht auf Form, sondern auf bewährte Verarbeitungsweisen.41 Zwangsläufig erzeugt ein solches materialgestütztes Verarbeitungswissen andere Strategien und Ergebnisse als das Bildwissen des Architekten. Wirthensohn vergleicht im Gespräch den Umbau des Schulhauses in Thal, wie er bereits von einem Bautrupp örtlicher Handwerker in Angriff genommen worden war42, mit demjenigen Prozeß und seinem Ergebnis, der durch die nachträgliche Einsetzung eines Architekten schließlich zustande gekommen ist. Erstere Verfahrensweise zeichnet sich durch enge Bindung an das Vorhandene aus. Die Bausubstanz wird repariert, verbessert und verschönert. Demgegenüber ist die Herangehensweise des Architekten durch eine Loslösung vom Bestand und dessen Wahrnehmung als „Zwangsjacke“ gekennzeichnet. Ein Überspringen dieser unmittelbaren Zwänge erfordert einen Blick, den die Abstraktion der Aufgabe im Zwischenschritt des Entwurfs hervorbringt. Das trainierte Bildgedächtnis des Architekten setzt darüber hinaus das Objekt zum Archiv der kanonischen Werke 43 in Bezug. 39 „Zu den Aufgaben der Zimmerleute gehörte früher auch das Schlagen des Holzes im Wald...“ Sagmeister (1990), S. 15 40 EW 1: Z 589 ff 41 Schmidinger stellt dieses „traditionelle“ Verarbeitungswissen im Gespräch als permanent in Optimierung befindliches Wissenskonvolut dar. Als Handwerker distanziert sich Schmidinger vor allem von der Grobschlächtigkeit, in der Bauern mit Holz umgehen: Fehlende Holztrocknung, fehlender Zuschnitt, fehlende Gliederung in Friese, Überlap-

pung der Bretter kennzeichneten deren unfachmännische Holzverarbeitung und führten zu geringer Lebensdauer holzverkleideter Scheunenfassaden. Parallel zur Renaissance des „traditionellen“ Holzeinsatzes im Kontext Zeitgenössischer Architektur ist im Forschungsfeld also eine wiedergewonnene Kompetenz der qualitätvollen, weil materialgerechten Verarbeitung (Trocknung, Sortierung, Zuschnitt, konstruktiver Holzschutz) zu beobachten, die die junge Handwerkergeneration für sich in Anspruch nimmt. (WS 1: Z 647 ff)

Traditionskonzepte

Bildverhaftung gegenüber Werkstattverbundenheit

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Wenn Wirthensohn im Fall des Bauauftrages für ein Wohnhaus auch beim Zimmermann voraussetzt, daß dieser „ein bißchen“ plane, so ist diese Planung doch nicht auf skulpturale Aspekte des Bauwerks und der Referenzialität von dessen Gestalt gerichtet, sondern geschieht im Hinblick auf sein Gemachtwerden. „Machen“ ist Wirthensohns entscheidender Begriff. Den abstrakten Formgesetzen und Referenzbezügen, die das Handeln des Architekten bestimmen, stellt er in seiner Charakterisierung des Zimmermanns die Gesetze des Herstellens und der Materialbehandlung entgegen. Atelier steht gegen Werkstatt. Bild gegen Bau.44 Innenansichten außerarchitektonischer Zugänge zum Bauen

Unter den Gesprächspartnern, die für die vorliegende Arbeit gewonnen werden konnten, bieten vor allem Bertram Dragaschnig, Wolfgang Schmidinger und Norbert Mittersteiner Innenansichten außerarchitektonischer Zugänge zur Baupraxis. Dies erlaubt, im Folgenden einige Eigengesetzlichkeiten aufzuführen, die dem handwerklichen Bauen und dem Selbstbau eigen sind. Beide Sphären erlauben Rückschlüsse auf Architektur. Das war so, daß das Haus am vorderen Eck, da vorne, um einen halben Meter konisch, hinten schmäler wie vorne, und das vordere Eck war dreißig Zentimeter auf dem Nachbargrund. Das hat mein Vater in einem halben Tag alleine hinübergeschoben. Am Morgen begonnen und am Mittag wars Haus drüben. (...) Mit Steher, zum Aufdrehen, und mit drei so Eisenrohren. So langen. (...) Da haben wir die Decke betoniert, die Decke, die jetzige Betondecke, so wie sie laut Plan hingehört. Und dann wars Haus dreißig Zentimeter verschoben. Dann haben wir das Haus abgelassen, auf Rollen gestellt und hinübergeschoben.45

Die Szene, welche Bertram Dragaschnig uns hier vor Augen stellt, ist Bestandteil der Revitalisierung eines vom Verfall bedrohten, denkmalgeschütz42 „Da war schon das Material bestellt, zum Teil.“ (EW 1: Z 563 ff) 43 Vgl. Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 64 44 Indem die vorliegende Arbeit mit dem zeitgenössischen Architekturbegriff gleichzeitig dessen regionale Entwicklung über mehrere Generationen von Baukünstlern ins Auge faßt, kann festgestellt werden, daß seit Einführung des Computers als Entwurfswerkzeug, dem auf Produktionsseite computergesteuerte Fräsmaschinen u.ä. gegenüberstehen, ein Technologiesprung, der auf Mitte der 1990er Jahre zu datieren ist, die Bildhaftigkeit Zeitgenössischer Architektur sprunghaft ansteigt. Der Grad der Werkstattverbundenheit ihrer Protagonisten sinkt im gleichen Maß wie die Anschaulichkeit der Konstruktionen. Für Vorarlberg beschreiben Anton Kaufmann und Hermann Kaufmann diese Entwicklung; in: Zschokke (2001) Wie „Werkstattverbundenheit“ noch für jene „baumeisterliche“ Architektengeneration in Erscheinung getreten ist, die in Vorarlberg Hans Purin und seine Altersgenossen repräsentieren, identifiziert der Augsburger Schlossermeister Albert Pfiffner im

Habitus des Architekten Thomas Wechs. Dieser habe sich vor Beginn von Handwerkerbesprechungen regelmäßig einen Stuhl mitten in die Werkstatt stellen lassen, sich dort niedergelassen und für eine halbe Stunde jegliche Störung verbeten. Erst nach dieser rituell wiederkehrenden Meditation, der intensiven Versenkung in die Betrachtung der Werkstattarbeit, sei er zur Besprechung seiner Entwürfe mit dem Schlosser bereit gewesen. Gunter Wratzfeld, wie Purin Vertreter der ersten Vorarlberger Nachkriegs- Architektengeneration, legt im Gespräch ausdrücklich Wert auf die Kenntnisnahme seiner handwerklichen Vorbildung „als Maurer und als Zimmerer“. (GW: Z 95 ff). Währenddessen ist für Gerhard Gruber als Vertreter der „dritten“ Generation der Umstand, daß es „in Vorarlberg einige Architekten [gebe], die kein Architekturstudium abgeschlossen, [sondern] vielleicht eine Zimmermannsausbildung haben“ (GG: Z 559 ff), vor allem als Bestandteil des regionalen Geschichtsbildes, mit dem der Berufsstand seine „breite“ gesellschaftliche Verankerung begründet und als Selbstverständnis pflegt, von Relevanz. 45 BD: Z 1288 ff

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ten Strickhauses, des ehemaligen Mesnerhauses am Dorfplatz der Vorderwälder Gemeinde Lingenau.46 Dragaschnig hat das Haus in ruinösem Zustand gekauft und seine Sanierung als Bauunternehmer selbst geplant und durchgeführt. Die gewerbliche Neuwidmung als Optikerladen mit darüberliegender Augenarztordination, für deren Vermietung er in weitem Umkreis potentielle Interessenten kontaktierte, darf unter dem Gesichtspunkt einer Neuschaffung hochwertiger regionaler Nahversorgungsstrukturen als vorbildlich gelten. Um zeitgemäße, ebenerdig zum Dorfplatz liegende Ladenräume anbieten zu können, ersetzte Dragaschnig den ursprünglichen, gemauerten Keller mit seinen niedrigen Lagerräumen durch ein neues Untergeschoß. Dessen weitgespannte Stahlbetondecke erlaubt nun, die Geschäftsfläche, die wegen des Hanggrundstücks platzseitig ebenerdig erschlossen werden kann, großzügig zum Dorfplatz zu öffnen. Zum anschaulichen Beispiel eines handwerklichen Zugangs zum Bauen wird das Projekt durch seinen Umgang mit dem historischen Holzbau. Ein Konzept, wie dasjenige Dragaschnigs setzt eine selbstverständliche Vertrautheit mit der traditionellen Konstruktion voraus, die erst erlaubt, das Risiko seiner Durchführung kalkulierbar zu machen. Ein Haus aufzubocken, bis das neue Untergeschoß betoniert ist, es daraufhin auf der neuen Betondecke zu verschieben, um die historische Überschreitung der Grundstücksgrenze zu korrigieren, setzt eine planerische Herangehensweise voraus, deren Wissensfundament auf praktizierter Eigenhändigkeit beruht. In der Lässigkeit, mit der Dragaschnigs Vater schließlich als Einzelner und ohne Zuhilfenahme von Maschinenkraft das Haus bewegt, offenbart dieses Wissensfundament sein souveränes Potential. Es ist kein Bildgedächtnis, das im Hintergrund eines solchen Wissens steht, sondern ein Gedächtnis an Prozesse eigenen Tuns, an Interaktionen von Hand und Material47, sowie die Einbettung des eigenhändig Handelnden in ein soziales Milieu, das kollektive Erfahrung präsent hält. Die Teilnahme an Situationen gemeinsamer Arbeit, etwa, wenn ein gestricktes Bauernhaus, je nach zu überwindender Strecke zerlegt oder unzerlegt, innerhalb des Dorfes verschoben oder transportiert wird48, mag ebenso Grundlagen hierfür schaffen wie die Präsenz traditioneller Gebäudetypen im eigenen Lebensumfeld. In ein solches bäuerlich-handwerkliches Erfahrungs- und Wertemilieu stellt das Kaufmann Holzbauwerk in den 1980er Jahren seine zeitgemäße Weiterentwicklung des gestrickten Bauernhauses, das „Strickhüsle“. Es ist ein 46 Von einer funktionellen Erweiterung der traditionellen Fensterkonstruktion an diesem Haus, die ihren Ausgangspunkt in der handwerklichen Vertrautheit mit der traditionellen Konstruktion nimmt, wird im Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus die Rede sein. 47 Vgl. Perger, zit. in Abschnitt Holz als Werkstoff, Kapitel Handwerk, Anm. 25

48 Im Bregenzerwald sind Verschiebungen von Bauernhäusern in Erzählungen präsent. Die Dokumentation bäuerlicher Hauslandschaften aus der benachbarten Schweiz gibt Auskunft über ihre Wurzeln in ländlichen Rechtsordnungen, die das Haus der „Fahrhabe“ zuordneten. Hermann, S. 74

Eigenhändigkeit

Soziales Milieu kollektiven Erfahrungswissens

Industrialisierung des Handwerks, Industrialisierung des Bauens

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Reform des Handwerks durch seine Industrialisierung

Wettbewerbsvorteile des Vorarlberger Holzbaus

Das Kaufmann Holzbauwerk als regionales Kompetenzzentrum

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Fertighaus, das auf dem Sektor der Einfamilienhäuser als hölzernes Konkurrenzprodukt gegen die Dominanz der gemauerten „Baumeisterhäuser“50 antritt, die in dem sozialen Wandel, der den ländlichen Raum in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs prägt, die ursprünglich fast ausschließlich auf Holz beruhende ländliche Baukultur des Bregenzerwaldes zu verdrängen droht.51 Bemerkenswert erscheint das Strickhüsle nicht nur als Indikator sozialer Befindlichkeiten, als Haustyp, der dem Umstand Rechnung trägt, daß seine ländlichen Bewohner nun zwar außeragrarischen Berufen nachgehen, jedoch nach wie vor die Vertrautheit der typologisch gebundene Raumstruktur des Bauernhauses zur eigenen Beheimatung und seine baulichen Attribute zur Repräsentation suchen.52 Neben diesen sozialen Aspekten des Wohnens, Thema der folgenden Kapitel, richtet der Kontext Modernisierung des Holzbaus unser Interesse auf das Strickhüsle als Manifestation industrieller technologischer Entwicklungen innerhalb des Handwerks. Diese modernisieren die Arbeitsweise des Handwerkers gegenüber seiner „händischen“ Tradition, indem sie ihn an Maschinen und mit diesen an Industriekomponenten bindet. Daneben erlauben sie, dem Holz durch industrielle Verfahren kontrollierbare Qualitäten und technische Möglichkeiten abzugewinnen, die bisher anderen Baustoffen vorbehalten waren53, und so dem Holzbau im Wettbewerb der materialgebundenen Sparten der Bauwirtschaft, gegenüber Massivbau und Stahlbau, Vorteile verschaffen.54 Im Prozeß des Wissenstransfers aus dem Industriebetrieb Kaufmann Holzbauwerk in die regionalen Zimmereien, der diejenige Modernisierung des Zimmererhandwerks trägt, die, in Abgrenzung von ihrer händischen Tradition als seine „Mechanisierung“ bezeichnet werden könnte, nimmt das Holzbauwerk die Rolle eines regionalen Kompetenz- und Fortbildungszentrums ein. Bertram Dragaschnig illustriert diese Rolle durch seine Feststellung, daß die späteren Geschäftsführer der führenden Bregenzerwälder Zimmereibetriebe über wenigstens zwei Generationen ihren Berufsstart im Holzbauwerk genommen haben. 49 In Regionen mit Getreideanbau sind dies etwa Kornkästen, die zum Schutz vor Mäusen luftig auf Stützen und auskragende Steinplatten gestellt, in ihrer funktionsgebundenen Leistungsform das Potential der Strickbaukonstruktion demonstrieren, ohne innige Grundberührung dauerhaft standfest zu sein. 50 „Das Holzhaus und nach wie vor das Baumeisterhaus, das waren eigentlich so die Alternativen, die es gab.“ (WS 1: Z 408 ff) Die Alternative, die Schmidinger hier vorstellt, ist eine Konstruktions- und Materialalternative, nicht etwa eine Formalternative: Holz oder Ziegel. Nicht das Ungewisse liegt vor dem Häuslebauer, wenn er sich ans Werk macht, sondern das eine oder das andere steht

zur Wahl, beide Alternativen existieren als Typus, für beides gibt es einen Ansprechpartner im unmittelbaren sozialen Umfeld: den Zimmermann oder den Baumeister. 51 „Die ersten gemauerten Häuser bei uns sind erst nach dem Krieg gebaut worden. Es gibt [davor lediglich] die Kirche und es gibt die Kapelle, gemauert.“ (EW 1: Z 261 ff) Wirthensohns Hinweis auf die Zeitgebundenheit von Konstruktion und Baumaterial ist vor allem im Hinblick auf die „Allgäuerhäuser“ in Langenegg bedeutsam: Die Tradition des ausschließlichen Holzbaus endet mit dem Zweiten Weltkrieg. Mit ihm beginnt die „Ära“ des gemauerten Hauses.

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Das ausschlaggebende, daß der Vorarlberger Holzbau soweit ist, regional der Bregenzerwald sich vom Holzbau so abhebt, wurde der Grundstein vor vielen Jahren gelegt durch den Josef Kaufmann, den Gründer vom Holzbauwerk Kaufmann. Weil, gehen wir es einmal durch, Sohm Thomas, Berlinger, und eine Generation vorher Forcher, Zimmermeister, die sind alle aus dem seinen Betrieb, Holzbauwerk Kaufmann heraus entstanden. (...) Das war wirklich, eine Denk-, eine Denkzentrale da drin, für Holzbau.55

Im Hinblick auf die Frage, was Handwerk gegenwärtig „ist“, fällt auf, daß ein solcher Kompetenztransfer nicht nur die mechanisierte Fertigungsweise und die Verwendung industrieller hergestellter Holzbauteile, etwa Leimbinder, sondern auch Konzeptmerkmale industrieller Planung, insbesondere ihre Produktfixierung, auf das Zimmererhandwerk und sein modernisiertes Selbstverständnis überträgt. Wolfgang Schmidinger hat im Gespräch darauf hingewiesen, daß jedenfalls Sohm bereits im Holzbauwerk die Produktion des „Strickhüsle“ geleitet hatte.56 Sowohl Sohm als auch Berlinger bieten nun Systemhäuser aus eigener Produktion und liefern damit ein Beispiel für die aktuelle Verwischung der Unterscheidbarkeit von Industrie- und Handwerksbetrieb im modernisierten Holzbau. Die EU-Bürokratie leistet mit ihrem Begriff „Small and Mediumsized Enterprises“ (SMEs), der Handwerks- ebenso wie Industriebetriebe bezeichnet, dieser Entwicklung Vorschub, indem sie den Begriff „Handwerk“ für die europäische Wirtschaftsrealität faktisch abgeschafft hat.57

Aufhebung der Unterscheidung von Industrie- und Handwerksbetrieb

Wir haben bis hierher versucht, Handwerk durch seine Produktionsweise zu beschreiben, und festgestellt, daß ebendiese im Zuge eines Mechanisierungsprozesses, für den wiederum der „moderne“ zivilisatorische58 Fortschritt

Handwerkliche Form?

52 Vgl. Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus 53 Innerhalb der Forschungsgespräche bestätigt Peter Greußing die Expansion des Vorarlberger Holzbaus auf bisher anderen Sparten vorbehaltene Gebäudetypen, insbesondere den Hallenbau (PG: Z 625 ff). Diesem typologischen Sprung folge derzeit ein weiterer, in den mehrgeschossigen Wohn- und Verwaltungsbau (ebd.). Mit Blick auf das Kaufmann Holzbauwerk stellt Gunter Wratzfeld im Gespräch die Vorarlberger Holzbaukompetenz als ununterbrochene Kontinuität dar (GW: Z 570 ff). Seine Einschätzung zu einem funktionierenden Zimmermannshandwerk scheint im Widerspruch zur Einschätzung Hans Purins zu stehen, der das „Verschwinden“ des traditionellen Zimmermannshandwerks in der fraglichen Zeit betont. Beiden Beurteilungen liegen unterschiedliche Interessenslagen zugrunde: Purin betrachtet eher die traditionell handwerklichen, Wratzfeld eher die industriell gestützten Qualitäten, so die Vorfertigung und den Montagebau. Die Hinweise, die die Forschungsgespräche der vorliegenden Arbeit auf das Kaufmann Holzbauwerk und seine Rolle als Modernisierungsmotor des regio-

nalen Holzbaus in technischer und, mit Blick auf das erfolgreiche „Strickhüsle“, auch in sozialer Hinsicht geben, stehen im Gegensatz zum offiziellen Geschichtsbild der Vorarlberger Architektenschaft. Dieses schreibt ebendiese Reform dem Wirken der Architekten zu: „Ein Niedergang des Handwerks habe in den 1960er Jahren stattgefunden, da seien die Zimmerer aufs Aufstellen von Dachsparren beschränkt gewesen, es gab eine gewisse Abwehr gegen das Bregenzerwälderhaus – „das ewige Knarren“ –, man habe im Massivbau fast Gegenposition beziehen wollen. Der Wendepunkt sei mit den Pionieren der Vorarlberger Bauschule...“ Kaiser, S. 10 54 PG: Z 625 ff Dragaschnig weist am Kindergartenbau für Langenegg darüber hinaus darauf hin, daß der Vorarlberger Kompetenzvorsprung innerhalb des internationalen Holzbaugewerbes mittlerweile so groß sei, daß EU-weite Ausschreibungen zur Ausführung kommunaler Holzbauten ländlicher Gemeinden wegen ihrer hoch gesteckten Ausführungsanforderungen ausländische Konkurrenz von der Angebotsabgabe ab- und damit aus der Region fernhalte. Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau dieses Kapitels, Anm. 38

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den Rahmen bildet, zunehmend industrieller geworden ist. Das Strickhüsle bietet uns nun die Möglichkeit, nach der Beziehung zwischen Handwerk und Form zu fragen und damit in einer Unterscheidung von handwerklicher zu architektonischer Form nach der Unterscheidung von Handwerk und Architektur. Die Industriehaftigkeit seiner Produktionsweise, die das Kaufmann Holzbauwerk kennzeichnet, hat mit dem Strickhüsle ein Produkt erzeugt, das seine Identität nicht nur in der Fertigungsweise „das waren einfach schon verleimte Dielen, verleimte Blöcke, komplett gehobelt, (...) also Maschinenstrick“59 und dem Dienstleistungsangebot des erzeugenden Betriebes, sondern auch in Gestaltmerkmalen besitzt. Dabei handelt es sich beim Strickhüsle nicht um einen fixierten Bautyp, sondern um ein System, das im Rahmen der Produktionsmöglichkeiten Spielraum für Varianten „nach Wunsch und Größe“60 des Kundenbedarfs bietet. Indem gerade im modernisierten Zimmererhandwerk die Unterschiede zwischen Industrie- und Handwerksbetrieb verschwimmen, erscheint es zulässig, einige spezifische Merkmale handwerklicher Form an dem Industrieprodukt Strickhüsle61 herauszuarbeiten. Wolfgang Schmidinger hat dieses aus der Sicht des Handwerkers beschrieben, um dem Auftritt der „Architektenhäuser“ im Bregenzerwald, als Überwindung einer „Stagnation“ interpretiert, gerade vor dem Hintergrund von Strickhüsle und Baumeisterhaus erzählerisches Profil zu verleihen.62 Baukörper und Fassadenphysiognomie des Strickhüsle zeichnet sich Schmidinger zufolge gerade durch fehlende Originalität aus und darin, daß es den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit folgt: Übliche Fensterteilungen, Balkontüre, irgendwo so eine Loggia, oder so einen Balkonteil, ziemlich wuchtige Dächer, also, wie man einfach sich ein Haus (...) vorstellt, noch vor Jahren. Wenn man zu Euch hinausfährt, in Lindau über die Grenze geht, noch mehr sieht. (...) Wenn Du eines kennst, dann kennst Du alle.63

Das Hauptmerkmal der Wand- und Deckenoberflächen seiner Räume, das gehobelte Konstruktionsholz, prägt die Wohnatmosphäre wesentlich, ist jedoch als eine direkte Folge von Produktions- und Materialentscheidungen64

55 BD: Z 520 ff 56 WS 1: Z 362 ff 57 Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk, Anm. 12 58 Die Unterscheidung zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“, wie Adolf Loos sie in seinen Schriften trifft und Stanislaus von Moos sie interpretiert hat, ist im Abschnitt Baukünstler des Kapitels Vorarlberg als Kennzeichen einer Wiener Position des architekturgeschichtlichen Blickwinkels dargestellt, den auch Friedrich Achleitner vertritt. Vgl. ebd., Anm. 22 ff 59 WS 1: Z 378 ff 60 WS 1: Z 384 61 Das Holz-Fertighaus des Kaufmann Holzbauwerks erscheint vor allem vor dem Vergleichshinter-

grund anderer industriell produzierter Typenhäuser „handwerklich“, da es in der industriellen Fertigung nicht nur eine ehemalige Handwerkstechnik und deren konkrete Anwendung übernimmt, systematisiert und verbilligt, sondern auch den regionalen typologischen Kontext aufrechterhält. Im Kontrast dazu basiert etwa das MAN-Profilblechhaus der unmittelbaren Nachkriegszeit, von dem in Augsburg noch einige wenige Exemplare existieren, auf der genuin industriellen Technologie der Eisenbahnwaggon-Fertigung, die mit dem Fertighaus lediglich „probeweise“ auf ein anderes Produkt übertragen worden ist. 62 Vgl. dazu auch Abschnitt Landhaus im Kapitel Haus

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und nicht, wie im architektonischen Entwurf, als Ergebnis einer ästhetischen Setzung einzustufen.65 Im Hintergrund steht statt dessen der betriebswirtschaftlich geleitete Entscheidungrahmen des Handwerkers, „alles aus einer Hand“66 anzubieten, im Sinn einer weitestmöglichen Eigenproduktion also Formentscheidungen den Fertigungsmöglichkeiten der eigenen Werkstatt zu unterstellen. Der Mechanisierungsgrad der Produktion ist hierzu lediglich ein Mittel, die Unterscheidung zwischen Handwerks- und Industriebetrieb in dieser Hinsicht vor allem quantitativ, als Frage nach den bearbeitbaren Auftragsumfängen von Relevanz. Was Handwerks- und Industriebetrieb demgegenüber prägnant zu unterscheiden vermag, ist die Position des Kunden. Während der Handwerksbetrieb im direkten Auftragsverhältnis zu seinem Kunden steht und für diesen und nach dessen Wünschen produziert, steht beim Industriebetrieb ein „Markt“ an der Stelle des Kunden, mit der Folge einer Standardisierung des Fertigungsergebnisses als „Produkt“. Erst die konkrete Konstellation aus eigener Werkstatt und direktem Kundenauftrag macht also den Handwerker zum Handwerker und unterscheidet seinen Betrieb von einem Industriebetrieb. Insofern ist Handwerk vor allem als soziale Kategorie zu betrachten.67

63 WS 1: Z 395 ff und 543 ff 64 „Das Überzeugendste [der Strickbauweise] war, für die, daß das so schnell geht, dann, daß das preislich, glaub ich, in einem, in einem Rahmen war, und daß man so, daß das innen gleich fertig ist, also, das heißt, da waren Decken, der Zimmermann hat den Boden gelegt, drauf gelegt, (...) und dann war er fertig, und das hatte (...) was faszinierendes an sich, und daß das jetzt zuviel Holz, oder zuwenig Holz (...) ist, (...) die waren oft, die Leute, in einem gemauerten Haus gewohnt haben, (...) das war nicht so das Thema.“ (WS: Z 470 ff) Im Kontrast zu atmosphärischen Betrachtungsweisen, wie sie in dem Begriff „Wohnatmosphäre“ aufscheinen, schafft die Strickbauweise eine unmittelbare Nähe zu den traditionellen Bauernhäusern der Region. Nicht Form, Grundriß oder Fassade, nicht ästhetische Kriterien, sondern die materielle Substanz und Konstruktion der Hauswände wird darin aufgerufen. 65 „War alles Fichte, nicht wie heute, bei der Tanne, wo es manchmal völlig astlos sein soll, sondern da sinds schon solchen Ästen, ganz gut behagelt, also eigentlich ziemlich, ziemlich urig.“ (WS 1: Z 489 ff) Hier liefert Schmidinger ein Argument, das die „Architektenhäuser“ nicht nur als „Anderes“ um seiner selbst willen kennzeichnet: Die heute favorisierte Verwendung astfrei sortierter Weißtanne ist gegenüber dem Fichtenholz der Strickwände und Massiv-

holzdecken im „Strickhüsle“ eine Verminderung oder Vermeidung des „Urigen“. Gegenüber beiden Massivholzvarianten demonstriert Schmidingers eigenes Wohnhaus mit seiner Birkensperrholz-Täferung eine weitere Steigerung innenräumlicher Eleganz. Vom Strickhaus zum Architekten-Holzhaus gibt es also einen Niveausprung in der „Feinheit“. Auch gegenüber dem traditionellen Bauernhaus zeigt sich das Strickhaus als Rückschritt, da statt einer Täferung das sichtbare Konstruktionsholz die Wandoberfläche bildet. Das Architektenhaus mit seinem Skelettbau und dessen Zwang zur Wandverkleidung holt diesen Rückschritt wieder auf. Und stellt Fortschritt auf dem Feld der Wohnatmosphäre als einen rekonstruktiven dar. Die Rekonstruktion als eine, die einen spezifischen regionalen Kulturverlust wieder aufholt, sich damit als „Reparatur“ versteht. 66 Kirmeier stellt die Vermeidung fertigungsspezifischer Spezialisierung als zukunftsträchtigstes Kompetenzmerkmal von Handwerk gegenüber Industrie dar. Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk, Anm. 85 67 Zu dieser sozialen Definition von Handwerk gehört ein territorialer Aspekt, die Verankerung des Handwerksbetriebes am Ort durch Familie und einen gewachsenen Kundenstamm.Vgl. Abschnitt Arbeitsform und Wissensaneignung im Kapitel Handwerk. 68 Wie Anm. 60 69 WS 1: Z 448 ff

Formentscheidung als Fertigungsentscheidung

Handwerk als soziale Kategorie

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Auflösung von Handwerk als sozialer Kategorie

Handwerklichkeit als architektonisches Stilmittel

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Aus dieser Perspektive ist das Kaufmann Holzbauwerk in seiner Strickhüsle-Fertigung noch überwiegend als Handwerks- anstatt als Industriebetrieb zu identifizieren, denn es bietet das Fertighaus „nach Wunsch und Grösse“68 im Rahmen des individuellen Kundenauftrags an, eine Flexibilität, die im Einzelfall auch eine Architektenbeteiligung zuläßt.69 Die Beteiligung des Architekten als Voraussetzung hingegen, wie Architektur sie erfordert, stellt Handwerk insofern in ein neues Beziehungsgefüge, als sie den direkten Kundenbezug des Handwerkers auflöst und der Person des Architekten die zentrale Kommunikations- und Entscheidungsposition zuweist. Indem der Handwerker somit an eine nachgeordnete Position aller Entscheidungsprozesse zurückfällt, geht er nicht nur seiner Formkompetenz und damit seines individuellen Werkstattprofils als Qualitätsausweis verlustig, sondern gleichzeitig seiner Selbstbehauptung gegenüber der industrialisierten Konkurrenz. Handwerklichkeit löst sich in dieser sozialen Konstellation vom individuellen Handwerker und seiner Werkstatt ab und mutiert zum architektonischen Stilmittel, zum disponiblen Aspekt innerhalb des architektonischen Entwurfs und dessen Verpflichtung gegenüber dem formalen Referenzgefüge von Architektur. Jegliche „Reform des Handwerks“ durch Architektur oder andere akademisch gestützte Institutionen70 ist, von dieser Befundlage her betrachtet, lediglich als Wiederherstellung einer formalen oder stilistischen Handwerklichkeit zu bezeichnen, die sich so lange allein auf die erzeugten Produkte beschränken wird, als sich der Architekt als Person nicht aus dem Beziehungsgefüge zwischen Handwerker und Kunde zurückzieht und damit dem Handwerker mit dessen Entscheidungssouveränität im Kundenauftrag auch seine soziale Position zurückgibt.71 In unserer Darstellung, die in diesem Abschnitt die zeitgenössische Modernisierung des Holzbaus untersucht und mit diesem Sektor des Bauens gleichzeitig technologische und soziale Veränderungen des Handwerks in den Blick nimmt, steht die Arbeitsform, die ihre Bauherren an der Höchster Siedlung Im Fang praktiziert haben, für die Rekonstruktion eines Begriffs von Handwerk, der, um die gesuchte „Autonomie“ als Voraussetzung einer alternativen Lebensform zu bieten, zwangsläufig ein vormoderner sein muß. Bereits während meines Architekturstudiums hatte uns ein aus der Schweiz stammender Entwurfsdozent auf die Siedlung hingewiesen. Insbesondere eine „architektonische“ Interpretation des Selbstbaus hatte in seiner Erzählung zentralen Rang eingenommen: die eigenhändige Anfertigung aller 70 Der Bregenzer Publizist Hans-Joachim Gögl widmet sich in seiner Reihe Landschaft des Wissens internationalen Beispielen von Handwerksreform, die als „Entwicklungshilfe“ im Rahmen einer Rekonstitution zeitgenössischer Perspektiven für den ländlichen Raum gelten können. Im hier verhandelten Kontext

vgl. vor allem den Beitrag Von der Wissenschaft zur Genossinnenschaft; Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit (Türkei). In: Gögl (2006), S. 296 ff. 71 Vgl. auch Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk

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Ausbauteile durch die Bauherren, verbunden mit Notwendigkeit und Chance ihrer Neugestaltung. Die Fensterkonstruktion der Siedlung erhielt in dieser Darstellung den Rang eines Schlüsseldetails, ihre einfachen, sichtbar aufgeschraubten Lappenbänder, mit denen die Flügel am Stock angeschlagen sind, sowie die Kofferverschlüsse zu deren Verriegelung gerieten dem Dozenten zum formalen Manifest eines programmatischen Dilettantismus.72 Nach mehreren, über Jahre verteilten Besuchen vor Ort gab die vorliegende Arbeit schließlich den Anlaß für ein Gespräch mit dem Ehepaar Mittersteiner als am Ort verbliebenen Mitbauherren der Siedlung. Meine „Informiertheit“ in bezug auf die Fensterkonstruktion entpuppte sich als Produkt einer akademistischen Formdiskussion. An seiner Stelle erschloß die sich entspinnende Diskussion nun Einblicke in ebenjene soziale Rolle des Holzbaus, in der er imstande ist, den potentiellen Gestaltungsraum des Einzelnen gegenüber Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat als individuelle Erfahrung zu erschließen. Hierin tritt die traditionelle, auf Eigenhändigkeit beruhende Arbeitsform des Handwerks als Selbstbestimmungspotential in Erscheinung. Gegenüber der zeitgenössischen Dominanz von Industrie und Technologisierung des Alltagslebens mit ihrer Tendenz zur Entmündigung des Einzelnen und der Partikularisierung seiner Kompetenzen73 wird dieses Potential zur exemplarischen Alternative. Was wir gemacht haben ist, (...) untersucht, was sind die Voraussetzungen für ein gutes Fenster. Und zu dieser Zeit hat es das Isolierglasfenster schon gegeben, oder, mit einem K-Wert von 2,5 oder 2,8 oder 3, oder. Und wir wissen, normale Kastenfenster bringen diese Werte auch her. Aber ein normales Fenster kann man nicht mit dieser Ausrüstung bauen. Also, mit einer Kreissäge kann man das nicht machen, oder. Weil, das normale Isolierglasfenster, das heutige, oder, besteht zu einem Drittel aus Holz, das andere ist das Glas und das dritte (...) sind Beschläge, oder. (...) Also, mit dem Kastenfenster kann man Wärmedurchgangswerte erzielen, wie mit dem damaligen Isolierglasfenster. Das Isolierglas war damals auch sehr teuer. Jetzt haben wir also (...) die Technik, das Können vom Tischlermeister (...) verwendet und die (...) Schließtechnik einfach reduziert, oder. Wir hatten ja keine sehr großen Fensterflächen als bewegliche Teile. Einen Flügel mit einem Meter Höhe kann ich mit einem Verschluß zumachen und eine Türe über zwei Verschlüsse, oder. Also, das [unser] Fenster hat damals so viel gekonnt,wie das gute neue Isolierglasfenster.74

72 Für den akademischen Architekturdiskurs ist dieses Werk mehrfach codiert: Als Werk von Bauherrenpartizipation, als eigenhändiges Werk von Architekten, daneben als zeitgenössischer Kommentar zur sozialen Rolle von Architektur, als Signal eines neuen sozialen Rollenverständnisses der Architekten sowie als künstlerischer Beitrag, dessen Form- und Konstruktionslösungen durch Ready-Made-Referenzen des Kunstfeldes ihren semantischen Wert erhalten. Vgl. auch Bauer 73 Ganzheitliches Bauen heißt hier: Das Haus im Wald beginnen. Norbert Mittersteiner: „Wir haben damals einen Holzverkäufer beauftragt, (...) der hat das im Winter eingeschlagen, (...) Nordhang in Laterns, also hohe Lage, wintergeschlägert, gekauft, und wir

haben das dann einsägen lassen nach unserer Holzliste und die Teile, die einfach für Innenausbau waren, getrocknet und gehobelt. (...) Also, da hat nicht der Zimmermann irgendwas gebracht, oder, sondern wir haben das so bestellt. Wir wollten das so, und es hat auch funktioniert. Also, rechtzeitig den Holzeinschlag mit organisiert, oder.“ (RNM: Z 425 ff) Auf Massivbau übertragen, würde dieses Prinzip das eigenhändige Ziegelbrennen erfordern, die Spur der Hand im feuchten Ton, oder, nicht ganz so utopisch, den eigenhändigen Lehmbau, wie er wegen seiner „Begreifbarkeit“ in österreichischen ArchitekturSchulprojekten praktiziert wird. Vgl. auch Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus, Anm. 54

Programmatischer Dilettantismus als ästhetische Subversion

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180 Technologisches downsizing zugunsten von Eigenfertigung

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Gegenüber der verbreiteten Dilettantismus-Interpretation, für die der Architekturprofessor hier nur stellvertretend steht75, stellt Norbert Mittersteiner nun die Fensterentwicklung aus seiner Erinnerung an die fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Planungszeit als Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse der Anforderungen und einer Anpassung des Fertigungsvorgangs an die vorhandenen technischen Möglichkeiten dar. Vergleichsmaßstab ist die Leistungsfähigkeit herkömmlicher Isolierglasfenster zur Zeit des Hausbaus. Die Herausforderung besteht darin, hinsichtlich der Wärmedämmung Gleichwertiges zu erzeugen, ohne die hochspezialisierten Fräsmaschinen spezialisierter Fensterbaubetriebe zur Verfügung zu haben. Der eingeschlagene Entwurfsweg löst die mehrfache Funktionsbündelung auf, die das Isolierglasfenster darstellt, zerlegt die Industriekomponenten Verbundscheibe und Dreh-/Kippbeschlag in Einzelfunktionen, um jede einzeln „handwerklich“ zu lösen. Zugunsten eines einfachen Fertigungsprozesses werden darüber hinaus Aspekte des Reinigungskomforts (Fensterputzen von innen) und konventionelle ästhetische Ansprüche76 reduziert. Ebenso wie sich das Feld des Entwurfs als wissenschaftlich abgesichert zeigt, entpuppt sich auch der Herstellungsprozeß bei näherem Hinsehen als handwerklich fundierter. Eine Familie von Handwerkern leistet die technische ebenso wie die soziale Absicherung.77 Anstelle einer Baustelle als einzigem Ort und der Baukreissäge als einzigem Werkzeug, wie die Dilettantismuslegende überliefert, finden wir uns in einer Holzwerkstatt mit professioneller Maschinenausstattung wieder. NM Mein Schwiegervater, also ihr Vater, war Wagnermeister, (...) also Wagner und Karosseriebauer. Der hat ein technisches Verständnis, weiß, wie man Fenster und Türen baut. Und ist Holzfachmann. (...) RM Ja, und er hat natürlich die Werkstatt. (...) In der Schreinerwerkstatt mit den Spezial-, den guten Maschinen konnten wir arbeiten. NM Aber nicht wie beim Fensterbauer, mit einem Automaten, oder so, oder. Also, er war kein Fensterbauer, sondern ein Holzfachmann. RM Also nicht mit der Baukreissäge, sondern das war eine Spezial-, also gute Kreissäge.78

Selbstbau ist nicht Handwerk

Die Eigenbau-Fenster sind fünfundzwanzig Jahre nach Ihrer Herstellung noch allesamt funktionstüchtig und an ihrem Platz. „Alle, oder, außer an zwei Orten, da haben wir anstatt der Fenster eine Tür hineingemacht.“79 In dieser Situation, der nutzungsbedingten baulichen Änderung, zeigen sich die Eigenbauten als anachronistisches, de-industrialisiertes Erzeugnis. 74 RNM: Z 168 ff 75 Offensichtlich ist, daß „Dilettantismus“, als Bewertung ihres Selbstbau als ungenügendem Ergebnis verstanden, im Rahmen unseres Gesprächs nicht zum erstenmal im Raum steht. Als vorbeugende Verwahrung dagegen ist der wiederholte Hinweis beider Ehepartner auf die Hinzuziehung von „Könnern“ (RM: Z 103) bzw. von „guten Fachleuten“ (NM: Z 153) zu deuten.

76 Der zur Fensterverriegelung eingesetzte Kofferverschluß ebenso wie die primitiven Aufschraubscharniere demonstrieren Hippie-Attitüde, Häßlichkeits-Ästhetik, Ready-Made-Zitat, Formungsverweigerung. Anstelle der außer Kraft gesetzten „konventionellen“ Wertmaßstäbe gewinnt die Strategie auf dem Feld der Kunst und ihren Konventionen der ästhetischen „Subversion“ umsomehr an Wert. Vgl. dazu Bauer. Zur Referenzierung im Rahmen des

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„Da hat man natürlich andere Türen hineingemacht, oder, Isolierglastüren. Weil das macht ein Schreiner ja nicht mehr so, oder. Die können das mit diesen Automaten nicht mehr machen.“80 Die Feststellung wirft ein charakteristisches Licht auf die zeitgenössische Veränderung der handwerklichen Kompetenz: sie hat sich mittlerweile von ihrer ursprünglichen Konzentration auf die Kenntnis eines spezifischen Rohstoffs natürlichen Ursprungs hin zu einer Prägung durch Maschinenabhängigkeit verschoben. Der Handwerker: ein Automatenbediener, so stellt er sich in Reinelde Mittersteiners Wahrnehmung dar. Es ist Zeit, Auseinandersetzung und Muße, die der Selbstbauer dem Handwerker voraus hat, auch die Freiheit von Reglementierung, von Normen, Gewährleistungspflichten und berufsständischen Ordnungen. Es ist der fehlende Effektivitätsdruck, der Selbstbauer und Handwerker voneinander unterscheidet. Norbert Mittersteiners Versuch, über den Kostenvergleich gegenüber zugekauften Isolierglasfenstern für den praktizierten Selbstbau zu argumentieren, scheitert am Widerspruch seiner Ehefrau. Diese anerkennt zwar den Umstand, daß auch die Frauen der Bauherrengemeinschaft bei der Errichtung der Siedlungsbauten mitarbeiten konnten und würdigt die Wichtigkeit dieser Erfahrung, doch verweigert sie der geübten Praxis jede wirtschaftliche Relevanz. Aber, die Arbeit, die man damals gemacht hat, also, das waren viele Stunden, die man dort geschafft hat, oder, also, wenn man das zählt, ist das Fenster auch gleich teuer gekommen, wie ein Isolierglasfenster, das denke ich ganz sicher, oder. Aber wir haben die Möglichkeit gehabt, auch Frauen haben dort mitgeschafft, wir haben das selber verkittet, alle diese Sachen. Es war eine Herausforderung. Ich sehe das heute so, oder. Es war wichtig, es war ein Experiment, es war wichtig, das zu probieren, das zu machen, es war auch Ideologie, oder. Eindeutig, oder. Das sehe ich heute wirklich so. Ja, wir haben die Möglichkeit gehabt, das in dieser Werkstatt zu machen und da einfach auch mitzuschaffen, oder. Aber wenn man das zahlen hätte müssen, dann wäre das nicht dafürgestanden. Dann wäre das einfach gleich teuer, also ganz sicher, oder. 81

Der Auffassungsunterschied zwischen den Eheleuten liegt darin begründet, daß Norbert Mittersteiner die Arbeitsstunden ihrer Eigenleistung nicht als potentielle Stunden externer Erwerbsarbeit ansetzt, sondern eine Art geldloser Lebensform zur Beurteilung des Vorgangs heranzieht, ein alternatives Gesellschaftsmodell, dem am ehesten die historische bäuerliche Lebensform, deren Selbstversorgertum und die damit verbundene Selbstbestimmtheit nahekommt.

„Kunstfeldes“ vgl. auch Kapitel Architektur?, Abschnitt Architektur als Ordnung, Anm. 41 77 Die verbreitete Rezeption der Siedlung als „gebasteltem“ Werk unausgebildeter Laien darf als ideologisch verselbständigte Lesart gelten. Sie spiegelt den Wunsch, dem Einzelnen die Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung zurückzugewinnen, die ihm eine Entmündigung durch „Experten“ abgesprochen hat. Das Gefühl empfindlich beschnittener Gestaltungs-

räume, als Institutionenkritik jener Generation institutionalisiert, die in den 1980er Jahren in das Berufsleben eintritt, wird projiziert auf die Selbstbaugruppe, die spätere Cooperative, deren Selbsthilfe dabei, um als übertragbares Handlungsmodell verwertbar zu sein, als Dilettantismus unterschätzt werden muß. Nur so kann es die Illusion nähren, ohne Erlerntes, aus dem „Naturgegebenen“ heraus, bereits kompetent und handlungsfähig zu sein.

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Wer die Dinge des eigenen Bedarfs selbst erzeugt, braucht an der Lebensform des Gelderwerbs und der damit verbundenen Entfremdung vom Produkt seiner Arbeit nicht oder nur in untergeordnetem Maß teilzunehmen. Somit ist für ihn auch der Vergleich mit Erwerbsarbeit und dessen Geldwert anstelle der Arbeitsform zugunsten der Selbstversorgung nicht zutreffend, denn es ist ein Vergleich mit einer Lebensform, zu deren Inhalten seine eigene Praxis die Alternative darstellt.82 Auf unsere Frage nach Handwerk und Architektur wirft das Selbstbauexperiment der Siedlung Im Fang ein bezeichnendes Licht. Das Handwerk ist technologisch und damit in seinem Leistungsangebot den durch die Industrie vorgegebenen Standards und Konventionen gefolgt. Zeitgenössische Architektur wirkt auch in dieser Hinsicht, bezogen auf eine Neusetzung der gesellschaftlichen und ökonomischen Rolle des Handwerks, als Modernisierungsmotor. Es ist eine Modernisierung, deren soziale Effekte, wie uns das Gegenbild des Selbstbauexperiments zeigt, den Einzelnen immer größeren Abhängigkeiten und immer größeren Beschneidungen seiner Kompetenzen zur Selbstversorgung aussetzt, für die das vormoderne Handwerksmodell noch den Rahmen geboten hatte. 83 Norbert Mittersteiner bilanziert das Experiment als Zugewinn an Freiheitsgraden in der Lebensführung: 84 Durch die Möglichkeit der Finanzierung sind uns viele andere Wege offen geblieben, oder. (...) Wir wissen, daß einfach für die Wohnbauförderung, für den Kredit zahle ich mindestens das zurück, was ich aufnehme, oder, und für einen Bausparvertrag zahle ich das Doppelte zurück, oder, und für frei finanzierte Kredite damals ungefähr das Vierfache. Also, jetzt kann ich mir das aussuchen, oder, über meine Lebensarbeitszeit, welches Finanzierungsmodell wähle ich. (...) In Summe war es damals für die relativ kurze Zeit sehr viel Arbeit und nachher muß ich für die normalen Kosten auch arbeiten, also da bin ich über die ganzen Jahre sehr gut gefahren. Auch wenn es einfach für die Bauzeit eine doppelte Belastung war.85 Rollenwandel der Architektur im Modernisierungsprozeß des Vorarlberger Holzbaus

Die gedankliche Voraussetzung, den Selbstbau der Siedlung Im Fang zum Abschluß des Kapitels Holz als Aspekt ihrer Architektur zu betrachten – und dafür spricht nicht nur der Umstand ihrer umfänglichen Rezeption im Fachdiskurs der Architekten, sondern auch die Tatsache, daß die Planer unter den Bauherren großteils soeben ein Architekturstudium durchlaufen hatten –, erlaubt, dieses Modell als Station in die Rekapitulation eines Rollen78 RNM: Z 126 ff 79 RNM: Z 227 ff 80 Ebd. 81 RNM: Z 201 ff 82 Ottokar Uhl hatte ähnliche Freiheitsgrade, die Norbert Mittersteiner aus der Arbeitsform bezieht, in der individuellen Entfaltung gesehen, die „ästhetisches Handeln“ bietet, und Architektur die Rolle zugesprochen, diese Möglichkeit zu gewähren oder zu verweigern. Vgl. Anm. 11 83 Eine ganz buchstäbliche „Flexibilität“ bietet das

im Eigenbau errichtete Holzhaus im Fall gewandelter Nutzungsanforderungen. Das Holz als Baumaterial ermöglicht auch „ungelernten“ Bauherren, große Teile der Erhaltungs- und Anpassungsarbeitungen selbst durchzuführen. So teilt etwa Ernst Wirthensohn gerade Kinderzimmer ab, als ich ihn zu unserem zweiten Gespräch zu Hause abhole (EW 2: Z 1358 ff und 1528 ff). Auch das Ehepaar Mittersteiner berichtet beiläufig von mehrfachen eigenhändigen Umbauten, die ihr Haus im Lauf seiner Lebensdauer bereits erfahren habe.

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wandels zu stellen, den Architektur innerhalb der Modernisierung des Vorarlberger Holzbaus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollführt hat. Ein kontinuierliches Element im Sinn unserer Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ ist darin zu sehen, daß sie in jeder ihrer Rollen die jeweils herrschende Rationalität gesellschaftlich vermittelt. „Handwerk“ und „Industrie“ bilden in dieser Vermittlung Chiffren für Haltungen gegenüber einem jeweils gültigen Begriff von zivilisatorischem86 Fortschritt, wie er sich im Modus der Lebensform abzeichnet. Der Architekt, der den jeweiligen Zivilisationszustand demonstrativ „erleidet“, ebenso wie seine Architektur als signalhaftes „Resultat“ dieses Zustands sind untrennbare Bestandteile dessen, was Architektur als ihre gesellschaftliche Aufgabe definiert. Die „baumeisterlichen“ Architektenpersönlichkeiten der ersten Vorarlberger Baukünstlergeneration87 hatten ihre Rolle einerseits in einer Wiederherstellung der Repräsentativität hölzerner Wohnhäuser innerhalb gewandelter sozialer Strukturen und damit in einer Abstreifung des am Baustoff Holz haftenden bäuerlichen Image, andererseits in einer Öffnung des Zimmermannshandwerks hin zu zeitgemäßen industrienahen Verfahren gefunden. Als Moderator von Selbstbaugruppen88 thematisiert der Architekt im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre diejenige Bruchstelle in der Fortschrittseuphorie der Nachkriegszeit, die von zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaftlern zu einer umfassenden Kulturkritik ausgeweitet worden war. Die Rekonstruktion einer vormodernen handwerklichen Praxis verleiht innerhalb der Sphäre des Bauens einer Suche nach Alternativen zu dem zunehmenden Verlust individueller Gestaltungsspielräume Ausdruck. Ein vorübergehender Reflex streift dabei auch die institutionelle Verfaßtheit von Architektur selbst und stellt ihren kultural legitimierten Dominanzanspruch durch Versuche in Frage, Partizipationsmodelle sogar innerhalb ihrer Zentralkompetenz, dem ästhetischen Spielfeld des Entwurfs89, zuzulassen. Spätestens seit den 1990er Jahren schwingt das Pendel individueller Emanzipationsbestrebungen und der Bereitschaft traditioneller gesellschaftlicher Institutionen, diese zu fördern, wieder zurück. Der zunehmend von Wirtschaftspolitik bestimmte Staat fordert dem Einzelnen vermehrte Einordnungsbereitschaft zugunsten eines Allgemeinwohls ab, das mit ökonomischer 84 Bourdieu stellt in Der Einzige und sein Eigenheim (1998) die Schaffung von Unfreiheit durch eine Überschuldung aus Immobilienkauf als politische Strategie dar. Vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus, Anm. 32 85 RNM: Z 734 ff 86 Wie Anm. 58 87 Von Achleitner unter „Roland-Rainer-Schüler“ subsumiert, vgl. Anm. 53 und 55 im Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg 88 Diese Rolle ist auch in der Ersten Generation

der Vorarlberger Baukünstler keineswegs unumstritten. Vgl. Rudolf Wägers Abgrenzung gegen Hans Purins diesbezügliche Haltung, die er am Ende seines Interviews mit Martina Mangold äußert. Vgl. Mangold 89 Wie Anm. 11 Vgl. hierzu auch die abschließenden Erörterungen von Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf 90 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 91 Wie Anm. 34

Moderation von Selbstbaugruppen

Ästhetische Partizipation

Architektur als Visualisierung ökonomischer Standortqualitäten

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Holz

Wettbewerbsfähigkeit gleichgesetzt wird, und nimmt Architektur zu dessen Vermittlung und Visualisierung in Dienst.90 Die Beschneidung der Gestaltungskompetenz desjenigen Handwerkers, der die Zusammenarbeit mit Architekten eingeht, ist ebenso Ausdruck dieser Entwicklung wie die Feststellung der aus dem Handwerk stammenden Gesprächspartner, die gegenüber den Gesetzmäßigkeiten der Materialeigenschaften zunehmende Verselbständigung der Architekturform drohe, den erreichten gesellschaftlichen Vertrauensstandard zugunsten des regionalen Holzbaus erneut zu verspielen.91 Die folgenden Kapitel beleuchten konkrete Effekte dieser jüngsten Entwicklung auf dem Feld der individuellen Behausung, in ihren Auswirkungen auf die Modernisierung des ländlichen Raumes sowie dem gewandelten Selbstverständnis seiner Kommunen, um abschließend zum Holzhandwerk zurückzukehren. Dort wird dessen Tischlersparte und seine gegenüber den Zimmerern größeren Freiheitsgrade im Antwortspektrum der Frage ins Auge gefaßt, was zeitgemäße Modernisierung nach dem gesellschaftlichen Vertrauensverlust, den Industrialisierung, Technologisierung und Kapitalisierung seit den 1970er Jahren erlitten haben und fortgesetzt erleiden, denn sei.

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4 Haus

4.1 Bauernhaus Wüst aufs Laund foan, san nur Heisa1

Das Kapitel Haus nimmt in der vorliegenden Studie eine zentrale Stellung ein. Mit dem Haus ist derjenige Gegenstand ins Auge gefaßt, dessen Entwurf die zentrale Kompetenz des Architekten bildet und, jedenfalls aus Sicht des Berufsstandes, auch dessen gesellschaftliche Zuständigkeit und Rolle bestimmt.2 Dem gleichermaßen elitären wie objektfixierten Blick der Architekten – als sozialer Anspruchsgruppe aufgefaßt – ist im Rahmen der hier verhandelten Fragestellungen ein zweiter gegenüberzustellen, der das Haus aus größerer Distanz, als Bestandteil der Kulturlandschaft, betrachtet. Neben baulichen und raumplanerischen Aspekten treten nun soziale Konstruktionen als Ursache von Bewertung und Wandel, dem die Gestalt von Haus und Landschaft gleichermaßen unterliegt, vor unser Auge. Das Oberösterreicher Duo Attwenger formuliert solche Wirkungsweisen in seiner eingangs zitierten Liedzeile auf kürzestmögliche Weise. Lakonisch und mit dem Unterton einer Verdrossenheit, der jene „Vielen“3 repräsentiert, die für sich selbst nur geringe Gestaltungsspielräume sehen, ist hier das „Land“, die Kulturlandschaft, in seiner sozialen Eigenschaft, Allgemeingut zu sein, angesprochen und festgestellt, daß diese Eigenschaft, die bisher Zugänglichkeit geboten hatte, durch die mittlerweile omnipräsenten „Häuser“ im Verschwinden begriffen sei. Das Bauernhaus steht in seiner Beziehung zur Kulturlandschaft zu den von Attwenger angesprochenen „Häusern“ in denkbar größtem Gegensatz,

1 In: Wüst auf Attwengers Album Dog (2005) 2 Rambow umreißt das Selbstbild des Berufsstandes mit einem Auszug der Architektenkammer-Homepage des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen: „Der Architekt ist mit seinem Aufgabenspektrum in hohem Maße der Gesellschaft verpflichtet. Er steht im Schnittpunkt der Wünsche und Forderungen seiner Bauherren und der Gesellschaft. Diese miteinan-

der zu vereinbaren und die jeweils beste Lösung zu finden, ist der Anspruch, der an Architekten im Alltag gestellt wird.“ Rambow (2000), S. 11 f 3 „Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen...“, in: Ortega y Gasset: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst; zit. in Bourdieu (1979), S. 62

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Haus

indem die Kulturlandschaft hinter dem Bauernhaus nicht verschwindet, sondern mit ihm und durch die Wirtschaftsform, die es repräsentiert, überhaupt erst in Erscheinung tritt. Diejenigen Häuser, die Attwenger in ihrer Liedzeile als „Parasiten“ dieser Kulturlandschaft beschreiben, sind in diesem Kapitel durch das Merkmal Architektur und damit durch die Beteiligung berufsständisch ausgewiesener Architekten in zwei Gruppen geschieden: „Anonyme“, also ohne Architektenbeteiligung entstandene Häuser, im zweiten Abschnitt als „Landhaus“4 bezeichnet, und die tatsächlichen „Architektenhäuser“. Auf letztere beziehen sich Publikationen, die das Architekturland Vorarlberg dokumentieren, in einer Weise, als gäbe es unter den Neubauten, die im Lande entstehen, überhaupt nur solche Häuser und als seien ihre Beschaffenheit und ihre Qualitäten ausschließlich dem Wirken der beteiligten Architekten geschuldet. Auch die vorliegende Arbeit fokussiert die Architektenhäuser. Indem sie an deren Architektur nicht die autonome Kunst, die allein vom Individuum verantwortet wird, sondern eine ihr zugrundeliegende gesellschaftliche Vereinbarung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt, werden die Beziehungen sichtbar, die die Architektenhäuser mit den anderen Typen ländlicher Häuser innerhalb der regionalen Kulturlandschaft verbinden, den im Bregenzerwald immer noch landschaftsprägenden Bauernhäusern ebenso wie den zahlenmäßig dominanten Häusern anonymer Provenienz. Gefragt ist in diesem Kapitel also, welche impliziten Wissensbestände aus dem gesellschaftlichen Umgang mit dem präsenten Bauernhausbestand und der Praxis des anonymen ländlichen Hausbaus in die Zeitgenössische Architektur Vorarlbergs Eingang gefunden haben. Der Bauernhausbestand bildet für die Bewertung der modernen Haustypen ländlicher Regionen, nicht nur Vorarlbergs, nach wie vor die primäre Referenz. Die gemauerten „Landhäuser“ demonstrieren den sozialen Aufstieg ihrer Bewohner ebenso gegenüber den Bauernhäusern wie die „Architektenhäuser“ ihren Anspruch, die bäuerlich-handwerkliche Holzbautradition mit zeitgemäßen Mitteln fortzusetzen. Aufgrund dieser zentralen Position innerhalb der jeweiligen Wert- und Legitimationskonstruktionen, den das traditionelle Bauernhaus innehat, steht es am Beginn unseres Kapitels Haus. 4 Ohne Beziehung zur Bezeichnung Landhaus, mit der in Vorarlberg das Amtsgebäude von Landtag und Landesregierung in der Landeshauptstadt Bregenz bezeichnet wird. Daß Achleitner in seinem Kommentar zu diesem Bauwerk den Begriff Landhaus nicht verwendet (Achleitner 1980, S. 412), stützt die Annahme einer regionalen Sonderverwendung des Begriffs. Eine soziale Charakterisierung dieses historischen Typs, dessen Bezeichnung Haus die als Ganzes Haus tradierte, patriarchalische Organisationsform der dort zusammenlebenden sozialen Gemeinschaft faßt, gibt Schütte, S. 123

Gotthard Frühsorge verwendet in seinem Standardwerk Die Kunst des Landlebens den Begriff Landhaus für den Landsitz des Adels, architektonisch als Schloß zu beschreiben. Daß die Kunst des Landlebens im Verlauf seiner Geschichte einen sozialen „Abstieg“ durchläuft, klingt im Untertitel von Frühsorges Werk an: Vom Landschloß zum Campingplatz. So scheint es gerechtfertigt, in vorliegender Arbeit das zeitgenössische ländliche Haus in einem ebenso vordergründigen und ahistorischen Sinn als Landhaus zu bezeichnen, wie es der populäre Begriff „Landhausstil“ meint.

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Bauernhaus

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Die Landschaft, insbesondere die Konstellation Haus in der Landschaft, von der die Liedzeile Attwengers handelt, tritt je nach betrachtetem Haustyp in eigenen, charakteristischen Aspekten in Erscheinung. Beim Bauernhaus ist sie landwirtschaftliche „Nutzung“, die gleichermassen die vollzogene Verwandlung von Natur- in Kulturlandschaft repräsentiert, wie sie diese menschengemachte Ordnung gegenüber einer drohenden „Rückverwilderung“ aufrechterhält. Der „Landschaftsverbrauch“ durch massenhaften privaten oder gewerblichen Hausbau steht in Konkurrenz zur landwirtschaftlichen Nutzung, da er, rechtlich gesehen, die Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen zu Bauland voraussetzt. Weitaus deutlicher als bei landwirtschaftlich genutzten Flächen tritt bei der bebaubaren Grundparzelle der private Grundbesitz gesellschaftlich in Erscheinung. Auf das brachliegende Wohnraumreservoir des baulichen Bestandes und sein Potential, den Umwidmungsdruck zu reduzieren, dem die landwirtschaftlichen Flächen unterliegen, macht neuerdings die Initiative Alte Bausubstanz aufmerksam. Sie tritt als Schutzinstitution der agrarisch geprägten Bregenzerwälder Kulturlandschaft auf und vertritt das Anliegen, Landschaft als gemeinschaftliches Gut wieder ins gesellschaftliche Bewußtsein zu rufen.5 Während unterschiedslos sowohl „anonyme“ als auch von Architekten geplante Häuser die neu gewidmeten Bauparzellen der Dorfränder besetzen, ist eine dritte charakteristische Art der Landschaftsbeziehung fast ausschließlich den Architektenhäusern vorbehalten und unter diesen jenen gesucht formalistisch entworfenen Exemplaren, die aufgrund ihrer Medienpräsenz die gesamte Gattung öffentlich repräsentieren. Sie nutzen die Landschaft als Bild, zu dessen exklusivem Genuß jene Häuser die „Kamera“ sind, und stellen so die Landschaft symbolisch in den Dienst des Bewohners. Nach außen signalisiert eine exponierte Positionierung des Baukörpers diese individuelle Inanspruchnahme der Landschaft, die die europäische Tradition des adligen „Ansitzes“ auf einen modernen, bürgerlichen Maßstab heruntertransponiert hat.

Haus und Landschaft

Mit dem traditionellen Bauernhaus tritt uns kein einzelnes Haus entgegen, sondern das Einzelexemplar eines Typs, der innerhalb einer geographischen Region eine Einheitlichkeit aufweist, die alle strukturellen Baudetails umfaßt und lediglich in der Dekoration individuelle Nuancen erkennen läßt. Die typbildende Ordnung ist eine vor- oder überindividuelle, deren Gesetzmäßigkeiten nicht in den Gewohnheiten und kurzlebigen Wünschen der jeweiligen Bewohner begründet liegen, wie die der Architektenhäuser. Vielmehr sind es

Bauernhaus als Typ

5 Alte Bausubstanz ist der programmatische Name einer Arbeitsgruppe der REGIO Bregenzerwald unter Leitung Markus Berchtolds, initiiert vom Schwarzenberger Bürgermeister Armin Berchtold. Die Initiative ist aus dem LEADER Programm gefördert („Bran-

chenübergreifende Initiativen zur Entwicklung der ländlichen Gebiete“, LEADER ist eine seit 1991 bestehende Gemeinschaftsinitiative der Europäischen Union). Vgl. Berchtold (2008)

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Eigenschaften des verfügbaren Baumaterials, das die maximalen Deckenspannweiten bestimmt, der menschlichen Körpergröße, die die Raumhöhe vorgibt, der Wirtschaftsweise, die eine bestimmte Form, Einteilung und Anbindung des Wirtschaftsgebäudes empfiehlt, der Wetterlagen, Windrichtungen und Geländeneigungen am Ort6, an denen das Haus ausgerichtet wird. Der regionale Typ des Bauernhauses entwickelt sich über Jahrhunderte hinweg durch soziales Handeln unter naturgegebenen Bedingungen am seitens der Obrigkeit bestimmten Ort der Besiedlung. Die Lebensdauer des Bauernhauses überdauert bei weitem die Lebensspanne seiner Erbauer. Die nachgeborenen Generationen richten sich im Vorgefundenen ein7, zu dem das „Stüble“ ebenso gehört wie die seit jeher dort hausende Tante 8, oder passen das Haus neuen Gegebenheiten an, wenn ein Zubrot, häusliche Stickerei etwa, umfängliche Maschinen ins Haus bringt9, neue Wirtschaftsweisen, wie die Umstellung von Ackerbau zu Milcherzeugung10 und der Fortschritt der landwirtschaftlichen Technik11 dies erfordern. Hauslandschaften

Sobald Bauernhäuser in einem architektonischen Kontext betrachtet werden, stößt man unweigerlich auf die gleichermaßen volkskundliche wie denkmalpflegerische Kategorie der „Hauslandschaften“, zu deren Erkundung die „Hausforscher“ eigene institutionelle Arbeitskreise etabliert haben. Auch in den Forschungsgesprächen der vorliegenden Arbeit prägt die Kategorie der Hauslandschaften die Gespräche mit Architekten, sobald Bauernhäuser zur Sprache kommen. Der Begriff bezeichnet die Kategorisierung der Bauernhäuser nach der Ordnung ihrer Grundrisse, Dachformen und Baukörper zu Typen und deren Zuordnung zu den geographischen Kulturräumen ihres Auftretens. Für deren Erforschung und Beschreibung sowie ihrer Interpretation in einem stammesgeschichtlichen Rahmen, nämlich der „alemannischen Identität“, steht in Vorarlberg vor allem der Volkskundler Karl Ilg12, Verfasser der vierbändigen Landes- und Volkskunde Vorarlbergs aus den 1960er Jahren. In zahlreichen Aufsätzen zu Hauslandschaften und Bauernhaustypen des WS: Z 678 f; Die einheitliche Ausrichtung am Wetter setzt sich bis zum typologisch gebundenen Fassadenmaterial fort. Der Schindelpanzer, Kennzeichen Bregenzerwälder Bauernhäuser, seit im neunzehnten Jahrhundert erstmals industriell produzierte Eisennägel verfügbar waren, ist im Normalfall dem im Strickbau errichteten Wohnteil vorbehalten und damit als aufwendigstes und repräsentativstes Material gleichzeitig den am besten geschützten Fassadenflächen. Vgl. Peer (2006) 7 Christian Hörl verdanke ich den Hinweis darauf, daß das Bauernhaus in traditionellen agrarischen Gesellschaften kein „Lebenshaus“, sondern auf eine Bewohnung im Takt der Generationen ausgerichtet ist. Der Bauer und seine Familie bewohnt das Bau6

ernhaus, solange er den Hof bewirtschaftet. Das Elternpaar verläßt mit der Hofübergabe das Haus und zieht in den „Austrag“, sei es ein eigenes Haus auf dem Hofgrundstück oder, so im Bregenzerwald, eine seitlich an das Haus angebaute Raumschicht (Gespräch am 22. 11. 2009). 8 HP: Z 1106 f 9 EW 1: Z 359 ff 10 Die technische Voraussetzung hierfür, die Übernahme der Fettkäserei im Bregenzerwald von Appenzeller Sennen, wird im Einreichdokument an mehreren Stellen erläutert, z.B. S. 104. Vgl. auch EW 1: Z 304 ff 11 „Bauernhäuser mit einem riesigen Heustockvolumen hinten, alle schon aufgestockt, aufgeblasen auf diese modernen Anforderungen...“ (WS 1: Z 944 ff)

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Landes gilt sein Interesse vor allem derjenigen Bautradition des Vorarlberger Oberlandes, die er ursächlich mit aus der Schweiz eingewanderten Walsern verknüpft.13 Auf die Umstrittenheit des Konzepts einer „alemannischen Identität“ des Landes und seine zentrale Bedeutung für den Konflikt zwischen den Protagonisten „offizieller“ Landesgeschichtsschreibung einerseits und einer jungen Generation von Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaftlern andererseits, für die institutionell das Umfeld der Johann-August-Malin-Gesellschaft steht, wurde bereits im Kapitel Vorarlberg hingewiesen. Auch für die Entstehungsgeschichte der bäuerlichen Hauslandschaften gibt es aus diesem Kreis ein wissenschaftliches Gegenkonzept zur dominanten, stammesgeschichtlichen Interpretation Karl Ilgs und der von ihm vertretenen traditionellen Volkskunde. Markus Barnay stellt der „völkischen“ Theorie „der Übereinstimmung zwischen Rechtsverhältnissen, Ortsnamen, Bauernhausformen oder Dialekten einerseits und der Abstammung der jeweiligen Bevölkerung“14 andererseits Erkenntnisse aus der „Rheinischen Kulturraumforschung“, namentlich Franz Steinbachs aus den 1920er Jahren, gegenüber, welcher die genannten Erscheinungen „zwangloser durch natürliche, politische oder kirchliche Verkehrsräume und Verkehrsströmungen“15 erklärt. Das Nebeneinander solcher Erklärungsmodelle gibt gleichzeitig den Blick darauf frei, daß Hauslandschaften selbst Konstruktionen kulturräumlichen Denkens16 und der diesem verbundenen wissenschaftlichen Institutionen sind.17 12 Karl Ilg (1913–2000) leitete von 1949 bis 1985 das Institut für Volkskunde der Universität Innsbruck und initiierte 1958 die Gründung des Österreichischen Fachverbands für Volkskunde. www.wikipedia.org/wiki/Karl_Ilg Peter Strasser würdigt speziell die Verdienste Ilgs um das „Montafonerhaus“: „Nach 1945 prägte der aus Vorarlberg stammende (...) Karl Ilg, (...) aufbauend auf seine Habilitationsschrift über die Walser in Vorarlberg (1946), mit rund 40 Publikationen über die volkstümliche Architektur den Fortgang der Hausforschung auch im Montafon. In diese Zeit fällt auch die Festlegung des Begriffs des Montafoner Hauses.“ In: Haas, S. 8 13 Unter den befragten Architekten ist es Hans Purin, der die „Umstrittenheit“ Ilgs als Hausforscher mitteilt (HP: Z 904 f). Trotzdem ist gerade im Gespräch mit Purin festzustellen, daß Ilgs Konzept einer Verknüpfung von bäuerlicher Hauslandschaft und ethnischer Abstammung zum festen Bestandteil der Identitätskonstruktion geworden ist, die der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs zugrundeliegt. Purin: „Die Montafoner sind aus einem anderen Kulturraum bei uns eingewandert, (...) Walser, und die Montafoner sind auch Rätoromanen, und das ist einfach abstammungsmäßig.“

Hieraus leitet sich für ihn eine Hierarchie der stammesspezifischen Haustypologie ab: „Die strenge Ordnung, wie sie das Rheintalhaus, oder wie sie das Wälderhaus hat, haben sie nicht.“ (HP: Z 860 ff) Diese höchste, „strenge Ordnung“ des Wälder Bauernhauses läßt sich, etwa bei Hiesmayr, heutiger regionaler Architektur als „genetischer Code“ unterlegen. Ausgewählte Beispiele Zeitgenössischer Architektur schließt er direkt an die Analyse Bregenzerwälder Bauernhäuser an und verknüpft damit beides zu einer plausiblen Erzählkette. Hiesmayr (1995) Merz /Mätzlers Studienarbeit (1986) zeigt, daß diese Erzählung von einer Neuen Tradition bereits als vorarlbergspezifisches „Grundlagenwissen“ im Architekturstudium der Wiener Hochschulen angekommen ist. Die Konstruiertheit der „Identität“, die sich die Zeitgenössische Vorarlberger Architektur geschaffen hat, zeigt sich u.a. darin, daß andere Holzbautraditionen der Region, so der Fachwerkbau im Rheintal, eine genuin Vorarlberger Eigenart innerhalb Österreichs, außer acht gelassen werden, obwohl diese Tradition, technisch gesehen, den Skelettkonstruktionen der „Architektenhäuser“ wesentlich näher steht als der Strickbau der Bauernhäuser. Vgl. Swoboda (1986) 14 Barnay (1988), S. 16

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Vor allem zwei architektonische Konsequenzen lassen sich in den Äußerungen der befragten Architekten zum regionalen Bauernhausbestand isolieren: eine bewahrende Haltung durch Beachtung oder Erzeugung einer Stilreinheit, also eine Betonung der erkannten typologischen Eigenart18, die bis zum Versuch einer Neuschöpfung „im Geist des Alten“ reicht, wie sie Ortsbildsatzungen zumeist verkörpern.19 Mit dieser konservierenden Haltung konkurriert innerhalb der Architektenschaft eine zweite, die die Erkenntnis des Verschwindens der den Bauernhäusern zugrundeliegenden Lebensform zum Ausgangspunkt einer Forderung nach einem Neubeginn nimmt. Die Haltung, den Verfall der verbliebenen historischen Substanz als zeitnotwendigen Wandel billigend in Kauf zu nehmen, vertritt innerhalb der Forschungsgespräche Architekt Gerhard Gruber. Also wir müssen einfach so bauen, glaube ich, wie die Leute aktuell ihr Geld verdienen, ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dort müssen wir bauen, und so müssen wir bauen. Und wenn das Alte da drinnen keinen Platz mehr hat, dann tuts mir echt leid fürs Alte. Ich würde das für mich sehr radikal sehen. Diese alten Häuser haben halt das Problem, daß sie sehr groß sind, daß sie nicht gut teilbar sind, daß sie akustische Probleme haben und und und. Und wenn man sie zu sehr verändert, sind sie natürlich nicht mehr das, was sie waren, und damit stellt sich auch die Frage nicht. Gewisse werden erhalten bleiben, im Zentrum, die Wirtshäuser, und alle, die vitale Funktionen haben.20

Insbesondere den bereits vollzogenen Wandel innerhalb der landwirtschaftlichen Wirtschaftsweise macht Gruber geltend. „Daß die Landwirtschaft

15 A.a.O., S. 17 16 Bernhard Tschofen, Gespräch am 28. 11.2009 17 Heinrich Götzger thematisiert diesen Umstand als Die Frage nach der Typengliederung im gemeinsam mit Helmut Prechter verfaßten Das Bauernhaus in Bayerisch-Schwaben (1960): „Ein unausgesprochenes Wunschbild der Bauernhausforschung ist eine einfache Typenlehre. Man hat eine solche zunächst versucht, indem man bestimmte Erscheinungsformen bestimmten Volksgruppen zuordnete und also von (...) scheinbar stammesmäßig gebundenen Eigenformen sprach.Vorschub leistete dieser Auffassung das zahlenmäßig geringe Veröffentlichungsmaterial, das sich für weite Gebiete mit nur wenigen Aufnahmen begnügen mußte, die dann stellvertretend zum Typ erklärt wurden. Eine weitere Schwäche war es, daß das Augenmerk sich zunächst hauptsächlich auf architektonisch bemerkenswerte Objekte richtete. Es wurde dabei übersehen, daß solche hervorstechenden Vertreter (...) vielfach stark von der zeitgemäßen Hocharchitektur der Kloster- und Herrenbaumeister her bestimmt sind. Die Masse der Erscheinungen des bäuerlichen Bauens wurde aber damit nicht getroffen. (...) Wo (...) ärmerer Boden und engende Kleinteilung des Besitzes, Herrenanspruch und wirtschaftliche Ungunst [herrschten] (...), da kann eine weit in die Vergangenheit reichende formenstarke Entwicklung

nicht vorausgesetzt werden. Es wird dafür umso dankbarer sein, in einem solchen Gebiet (...) die laufende Entwicklung des Bauernhauses unter den Einflüssen der Gegebenheiten wie Landschaft, Klima und Wirtschaft zu verfolgen. Als sich der Begriff einer stammesmäßigen Typenfassung als unzulänglich erwies und man doch versuchen mußte, ähnliche Erscheinungen im großen zusammenzufassen, wurde der Begriff der ,Hauslandschaft‘ (eigentlich ,Hausformenlandschaft‘) geprägt. Man entdeckte für einzelne Gebiete, unabhängig meist von heutigen verwaltungsmäßigen Abgrenzungen, den Zusammenhang gleicher oder ähnlicher Hauptformen in Gehöftanlage und Grundriß, Gefüge und äußerlichem Bild. (...) R. Hoferer hat (...) für Bayern eine Reihe von Hauslandschaften herausgearbeitet. Er erkennt in ihren Grenzen teilweise Zusammenhänge mit alten Territorialgrenzen...“ Götzger/Prechter, S. 297 Zur territorial fokussierten Grundlagenforschung im Kontext bäuerlicher Hauslandschaften gehören Erkenntnisse zum Einfluß des Zentraldirigismus. Vgl. dazu Moser (1991). Die „Vereinödung“ im Vorderen Bregenzerwald, die diesem zuzuordnen ist, dokumentiert Blank (1999). Einen europäischen Vergleichsmaßstab historischer „Aneignungen“ bäuerlicher Bauformen setzt Aigner (2010)

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nichts mehr zu tun hat mit diesem idyllischen Bild von der Landschaft, das wir haben, wenn wir Heimatfilme anschauen, oder so die Häuser anschauen, sondern es ist einfach ein Gewerbebetrieb.“21 Die baulichen Folgen dieser „gewerblichen“ Neuorientierung der bäuerlichen Wirtschaftsweise stehen in seiner Darstellung für eine unaufhaltsame Modernisierung des ländlichen Kulturraums. Wenn man schaut, in der Landschaft, die radikalsten Bauten sind die neuen Landwirtschaftsbauten, oder. (...) Halt meistens im negativen Sinn, aber es sind die radikalsten Bauten, die am meisten eingreifen in die Landschaft. (...) Da gibts unglaubliche Kubaturen, die da irgendwo auf der Wiese stehen. (...) Das Gebäude ist wie eine Maschine, das dort steht und das benutzt er [der Bauer] als Produktionsmittel.22

Gruber rührt in seiner Schilderung an die ursprüngliche Bedeutung von Kultur als „Landbau“, einer Begriffsdeutung, die Landwirtschaft als Schöpferin der Kulturlandschaft mittels Rodung des Waldes und Urbarmachung des Bodens erkennt. Der Bauer dominiert noch heute die Gestaltung der Landschaft, indem er deren Bewirtschaftung den aktuellen technischen Möglichkeiten zugänglich macht. „Ganz klar, da wird drainagiert, begradigt, Bäume ausgerissen. Das sind einfach Rationalisierungsmaßnahmen.“23 Daß er mit seinem pragmatischen Zugriff, dem jede Feldhecke, jeder Bach und Tümpel ein Hindernis für die maschinelle Bearbeitung ist, innerhalb des sozialen Wandels des ländlichen Raumes, der sich neben dem von Gruber angesprochenen technischen und wirtschaftlichen Wandel vollzieht, zunehmend in Konflikt nicht nur mit dem Naturschutz24, sondern auch mit dem „romantischen“ Bild der Landschaft gerät, das dem architektonischen Hausentwurf zugrundeliegt und dessen Bewohner charakterisiert, ist ein Thema, das uns durch dieses Kapitel begleiten wird. Eine dritte Haltung zur „Hauslandschaft“ gewinnt ihre Handlungsspielräume aus der Intention, auf den Bautenbestand des ländlichen Raumes insgesamt zuzugreifen. Die bereits erwähnte Bregenzerwälder Arbeitsgruppe Alte Bausubstanz, eine Abspaltung aus jener Arbeitsgruppe, die sich rund um die – mittlerweile eingestellte – Bewerbung des Bregenzerwaldes um den Weltkulturerbestatus formiert hatte, betrachtet die gesamte Bausubstanz 18 Ein Beispiel hierfür gibt Haus Moosbrugger in Mellau, saniert 1995–97 nach einer Planung Helmut Dietrichs. Vgl. Werkraum-Zeitung Nr. 3 /2001, S. 13 19 Als Extrempunkte eines Spektrums dokumentierter Haltung zu Zeitgenössischer Architektur können die aktuellen Ortsbildsatzungen der Gemeinden Langenegg in Vorarlberg (vgl. Anm. 58, Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf) und Bad Wiessee in Oberbayern betrachtet werden. 20 GG: Z 1074 ff 21 GG: Z 1053 ff Überraschend, aber plausibel weist Gruber in seiner Analogie zum Heimatfilm darauf hin, daß auch die alten Häuser eine Art realer Zeitkapsel sind, die

aufgrund ihrer Lebensdauer, ihres Beharrungsvermögens im Strom der Zeit Spuren vergangener Lebensformen in die Gegenwart transportieren. Die Kulturlandschaft ist in diesem Sinne per se konservativ, indem sie das Vergangene bewahrt. Dieser Umstand bewirkt, daß wir, je ländlicher, desto mehr, immer in einem „historischen“ baulichen Umfeld leben. 22 GG: Z 1104 ff 23 GG: Z 1127 ff 24 Grubers Darstellung läßt den charakteristischen Naturbezug der ökologischen Bewegung aufscheinen, wie er etwa in den 1980er Jahren in Wieland /Bode / Diskos Grün kaputt – Landschaft und Gärten der Deutschen (München: Raben, 1983) formuliert wurde.

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der Region Bregenzerwald als vitales Potential.25 Mittels Aufklärung über die landschaftszerstörerischen Folgen einer fortschreitenden Zersiedelung durch Neubauten setzt sie bei der gesellschaftlichen Praxis an, Häuser wider alle ökonomische Vernunft und häufig sogar um den Preis ihres substantiellen Verfalls im Familienbesitz zu halten, eine Praxis, der eine Verknüpfung von Haus und familiärer Identität zugrundeliegt.26 Das Haus umfaßt die Identität seiner Bewohner

Das Haus als Erinnerungsbatterie

Die Ablösung vom individuellen Bedürfnis der Bewohner als Charakteristikum des historischen Hausbaus zeigt sich in der Alltagssprache dort, wo die Herkunft der Menschen mit ihrem Geburtshaus verknüpft wird und aus dem im Begriff „Elternhaus“ vereinten sozialen und lokalen Herkunftsangaben tatsächlich das Haus herauslöst und es an die Stelle der Familie setzt. „Und da hats dann einen Mann gegeben“, berichtet Gerhard Gruber, „den Sinz, Pfarrer Sinz später, und der, der kommt aus Thal, der kommt aus dem Gebäude, wo jetzt die Schule steht. Es ist nicht das gleiche Gebäude, aber das Vorläufergebäude, das ist dann umgebaut worden.“27 Pfarrer Martin Sinz und seine Leistung, der Parzelle Thal die identitätsstiftende Erhebung zur eigenen Pfarrgemeinde zu verschaffen, sowie die zeitgenössische Fortsetzung der sozialen Neukonstitution des Dorfes, als welche sich der „Selbsthifeverein Dorfgemeinschaft Thal“ versteht, wird uns als exemplarischer Fall durch das Kapitel Dorf begleiten. Gruber stellt hier Sinz’ Herkunft dar, als würde er eine Familie beschreiben, statt dessen benennt er ein Haus. Und nachdem das Haus selbst nicht mehr existiert28, verweist er in seiner Erzählung auf das Nachfolgehaus, das mit dem eigentlichen Sinz’schen Geburtshaus nur noch den bebauten Ort gemeinsam hat. Gruber schafft so in seiner Erzählung eine Herkunftskonstellation, in der das Haus an seinem Ort eine Art von Mutterrolle spielt, „aus“ der die Hauptperson der Erzählung stammt. Dasselbe Muster verwendet Ernst Wirthensohn, Bauherr des ersten „Architektenhauses“ am Ort und in dieser Rolle gleichzeitig „Architekturvermittler“. Hier spricht er als Historiker, zur Charakterisierung der selben Person: „Das ist also dieser Nachfolgebau vom Geburtshaus von Martin Sinz.“29 Im weiteren Gespräch über diesen Nachfolgebau, der die Schule des Dorfes Thal ist, taucht die den Häusern einbeschriebene Erinnerung in Gestalt sozialer Erfahrung nochmals auf, sodaß die den Häusern zugeschriebene Eigenschaft, „Erinnerungsbatterie“ zu 25 Vgl. Berchtold 2008 26 „Das Haus ist nicht zu trennen von der Hausgemeinschaft, der Familie als beständiger sozialer Gruppe, und von dem gemeinsamen Vorsatz, sie weiterzuführen. Bekanntlich verweist das Wort Haus in bestimmten, namentlich bäuerlichen und adligen Kulturtraditionen gleichzeitig auf die materielle Behausung und auf die Familie, die dort gehaust hat, haust oder hausen wird, die soziale Wesenheit, deren Transzendenz gegenüber den Einzelpersonen gerade die Tatsache bekräftigt, daß sie einen Besitzstand an

materiellen und symbolischen Gütern – insbesondere einen Namen, der oft von dem der Angehörigen abweicht – in direkter Linie zu vererben hat.“ Bourdieu (1995), S. 27 27 GG: Z 19 ff 28 Abbildung und Beschreibung von Martin Sinz’ Geburtshaus veröffentlicht Ernst Wirthensohn (1999/1), S. 60 ff. 29 EW 2: Z 3 ff 30 EW 2: Z 185 ff 31 ALE: Z 120 ff

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sein, am Beginn dieses Kapitels, das sich mit dem impliziten Wissen zu den Häusern befaßt, festgehalten werden kann. Das war nach der Machtübernahme das HJ-Zimmer. Da war die Hitlerjugend drin. Die alten Leut sagen: HJ-Zimmer.30

Auch Arno Eugster, ebenfalls Bauherr eines „ersten Architektenhauses“ an seinem Ort, der Gemeinde Langenegg, weist auf ein benachbartes Haus, diesmal um seine eigene Herkunft zu illustrieren. Das ist mein Elternhaus da drüben.31

Die Sichtverbindung macht den benennbaren Ort zum Ort, auf den man zeigen kann und dessen unübersehbare Existenz den Wahrheitsgehalt der verbalen Aussage belegt. Gleichzeitig rückt mit diesem Vorgang des Zeigens die Gestalt des sichtbaren Ortes in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Gestalt ist das Identifikationsmerkmal des Hauses, aber auch Gegenstand von Beurteilung und Einordnung, von Repräsentation. Das Haus als sichtbarer Ort stellt höhere Ansprüche, als der nur benannte Ort. Sein Aussehen wird bedeutsam, er setzt sich der visuellen Beurteilung aus, seine Gestalt wird gleichzeitig mit der Identifikation zum sozialen Auftritt.

Bau, Baugestalt und Identifikation des Ortes

Wo die Häuser aneinandergerückt sind, im Dorf oder in der „Parzelle“, dem Weiler, tritt zu den anthropomorphen und den materialimmanenten Konstituierungsbedingungen sowie der Anforderung, Schutz vor den Naturgewalten zu bieten, eine Aufeinanderbezogenheit der Bewohner mehrerer Häuser hinzu. Die Stellung der Bauernhäuser zueinander zeigt eine Gesellschaft, die einander anblickt. Wolfgang Schmidinger erläutert die Funktion des Dorfbrunnens als gemeinsamen Fixpunkt, indem er von seinen Eltern berichtet und damit stellvertretend eine Generation unter den heutigen Bewohnern charakterisiert, die dieses „einander An- und Zuschauen“, das die Häuser ermöglichen, als lebensnotwendige soziale Teilhabe verinnerlicht haben:

Beziehungen zur sozialen Gemeinschaft

Die Häuser (...), viele laufen dann wirklich so auf die Mitte zu, (...) auf die Tränke zu und es gibt irgendwie fast in jedem Haus (...) in irgend einer Form das einsichtig, dieser Platz und der Lebensraum und wenn man zufährt, (und umfährt) jedes Haus, sieht man das, weil, der (geht) dorthin, der geht dahin, der fährt dahin, das hat auch nicht mit Neugier, sondern schon in einer gewissen Form, in einer Kommunikation zu tun. Ich weiß, meine Mutter, (...) die ist einmal irgendwie in diese Ferienwohnung gezogen, für gewisse Zeit, mit meinem Vater, die (...) sieht wunderschön in den Wald, und Berge, und so weiter. Und die hat (lacht) das gar nicht ausgehalten da oben, weil einfach vorne war (...) dieses gewohnte Kommen und Gehen und Weggehen und Ankommen und Weglaufen und Kinder und, und Lkws und Berufsverkehr. Das war, das hat die, in die Richtung, gar nicht ausgehalten. Das heißt, das hat eigentlich das kleine Dorf geliefert, oder liefert das Dorf.32

Architekt Hans Purin stellt fest, daß für diese Teilnahme am sozialen Leben der Straße, die Schmidinger zufolge gleichzeitig eine Teilhabe an der jeweiligen Gesellschaft ist, die Ausrichtung der Stube selbst und innerhalb der Stube die Plazierung des Tisches in der vorderen Ecke die Voraussetzung und die Folge sind, gleichzeitig, daß das zugrundeliegende soziale Verhalten vergangen ist:

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Das Sitzen da, und der Blick, oder, daß man da immer hinausschauen kann, wenn man in der Ecke sitzt, daß man, wer kommt, wer geht. Früher war das wichtiger, heute interessiert man sich nimmer so.33

Die Ausrichtung des Hauses auf den „einsamen“, exklusiven Blick in die Landschaft, die für Schmidingers Eltern noch das Abgeschnittensein von der sozialen Gemeinschaft bedeutet hat, ist bei den Häusern, die im Gegensatz zu den Bauernhäusern tatsächlich von ihren Bewohnern erbaut werden, die Regel und vor allem in den Architektenhäusern seit den 1960er Jahren als neues soziales Ideal institutionalisiert.34 Der Abkehr vom Sichtbezug zur Dorfgemeinschaft, die diese Ausrichtung zu den Aussichtslagen bedeutet, tritt im Inneren der Häuser ein vermehrter Anspruch auf Privatheit der einzelnen Bewohner, ein Rückzug vor der Familie an die Seite. Vom Wechsel der Grundrißtypologie, der diesen Rückzugsanspruch spiegelt und ihn konkret ermöglicht, die die ihrerseits typisierten Architektenhäuser gegenüber dem regionalen Bauernhaustyp vollziehen, wird in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels die Rede sein. Stube

Trennung von Kochstelle und Ofen

Unter Forschern – und Architekten – gilt das Bregenzerwälder Bauernhaus als das höchstentwickelte Österreichs.35 Hans Purin stellt diesen Entwicklungshöhepunkt aus seiner Sicht als Architekt dar, dessen Erfahrung geprägt ist vom planerischen Umgang mit alten Bauernhäusern anläßlich ihrer Adaption an heutige Wohnbedürfnisse. Die Stube als „Herzstück“ des Bauernhauses widersetzt sich der Modernisierung am hartnäckigsten. Ihre traditionelle Form und Einrichtung stellt aus Purins Sicht einen „Endpunkt“ dar. Seine eigene Leistungsfähigkeit als Entwerfer erscheint ihm kraftlos gegenüber diesem evolutionären „Endstadium, oder, und das kann ich nicht mehr verbessern, das kann ich nur noch verschlimmbessern, wenn ich da was mache. Wird nichts mehr.“36 Die bautypologische Voraussetzung für die Stube der Bregenzerwälder Bauernhäuser ist die Errichtung einer Wand zwischen Flur und Stube, eine Maßnahme, die die Feuerstelle in den Flur verlegt.37 Obwohl weiterhin im Zentrum des Hauses gelegen, ist das entwicklungsgeschichtlich zunächst 32 WS 1: Z 1122 ff 33 HP: Z 1049 ff 34 Gunter Wratzfelds Haus Watzenegg ist ein Beispiel für diese Abwendung von der Dorfgemeinschaft zugunsten des Panoramablicks, wie die neue Besitzerin im Gespräch vom 15.11.2004 bestätigt. Ausführlicher im Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels. 35 Gnaiger /Stiller, S. 9 36 HP: Z 1092 ff 37 Mit Flur ist im Bregenzerwälder Bauernhaus der geräumige Zugangsraum bezeichnet, der sowohl die Stiege ins Obergeschoß als auch die Küche aufnimmt. In der Hausforschung wird der Haustyp als „Flurküchenhaus“ bezeichnet. Als Funktionsraum des Wohnens stellt er zusammen mit den übrigen Räumen

des Erdgeschosses eine „Matrix miteinander verbundener Räume“ und damit einen archaischen Grundrißtyp her, den Evans kultur- und vor allem sozialgeschichtlich vom „Korridorgrundriß“ unterscheidet. Vgl. ausführlicher im Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels. 38 Purin betont die bautechnische Notwendigkeit des Kaminaustritts am First, insbesondere bei Dachdeckungen aus Holzschindeln. (HP: Z 1040 ff) 39 WS 1: 513 ff 40 Purin weist auf Karl Ilgs diesbezügliche Forschungsergebnisse hin. (HP: Z 906 ff) 41 HP: Z 1063 ff 42 HP: Z 937 ff 43 HP: Z 1053 ff

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offene Feuer mit seiner Rauchentwicklung, die die Strickwände und die Holzdecke der Flurküche schwarz beizt, aus der Stube verbannt. Stubenseitig grenzt der gemauerte Ofen an den zentralen Kamin des Hauses.38 Die Feuerung des Ofens erfolgt vom Flur aus. Wolfgang Schmidinger faßt die soziale Komponente dieser Entwicklung zusammen, wenn er feststellt, die „Feuerstelle ist eine zentrale Anordnung und (...) das Raumprogramm geht drumherum“39 und damit in den rings um den Kamin gruppierten Räumen Flurküche, Stube, Gaden, noch den archaischen „Einraum“ identifiziert.40 Purin weist auf die Wärmeökonomie der Raumgruppierung um den zentralen Ofen hin. „Im Sommer, also unterm Jahr hat man den Ofen nicht geheizt, aber da war vom Herd, von der Küche, war da, ist da der Rauch, die Abgase, über so einen, gekacheltes System weggeführt worden, das hat dann die Stube ein bißchen temperiert, damit sie am Abend, hat man ja gekocht (...) und am Mittag hat man gekocht, und dann war die Stube immer ein bißchen wärmer, als die übrigen Räume.41 Der quadratische Stubengrundriß läßt sich, ausgehend vom Ofen in der inneren Raumecke, mittels einer gedachten Diagonale zur gegenüberliegenden Ecke, wo der Herrgottswinkel über den eckbankumschlossenen Tisch wacht, als zwei symmetrische Dreieckshälften beschreiben. Hans Purin: Ganz wichtig natürlich, die Stube als quadratischer Raum, (...) das ist ein symmetrischer Raum. (...) Der hat immer vier Fenster, zwei Türen, und (...) die Symmetrieachse geht über die Diagonale, die Dreiecke sind symmetrische Hälften. (...) Und wenn man das stört, das geht bis in die Einrichtung, wenn man dort irgendwas anders macht, dann stimmt der ganze Raum nimmer. Man darf kein Fenster zumachen. (...) Die Bank war eingebaut, der Tisch war frei, und das andere, es hat ein Sofa gegeben (...). (Zeichnet) Das ist halt der quadratische Raum, oder, und dann ist, da im Eck ist der Ofen, der von außen geheizt ist und der in das andere Zimmer hineinreicht und dann gibts da eine Tür und da eine Tür, dann, da ist der eingebaute Kasten, das sieht man im Bregenzerwald in jedem Gasthaus, dann ist die Eckbank mit dem Tisch und da ist die, ist die Couch, manchmal hat man noch eine Uhr eingebaut. Jetzt sieht man schon, wenn da die Diagonale durchgeht, oder, daß das – und diese vier Fenster sind halt auch sehr wichtig, oder. 42

Die Symmetrie umfaßt Fenster und Türen und auch die Möblierung in einer Weise, daß jedes traditionell an einem Ort fixierte Stück in der gegenüberliegenden Dreieckshälfte seine Entsprechung findet. Die Stube mit ihrer Ordnung, die allen Dingen des Lebens ihren Platz zugewiesen hat, bildet eine Gesellschaft ab, die diese Ordnung „lebt“. Nicht nur der Alltag spiegelt sich in dieser Ordnung der Gegenstände, auch der Lebenszyklus der Menschen. Wo es in der Elternschlafkammer neben der Stube, dem Gaden, eine Verbindungstür in den zentralen Hausflur gibt, wird diese so lange vom Kasten verstellt, bis ein Verstorbener hindurchzutragen ist. Im Schlafzimmer, das war früher der Brauch, die Türe da, da gibts ja auch eine Tür, in die Küche, in den Küchenflur raus, und die war aber immer zu, da hat man einen Schrank davorgestellt. Und da hat man, wenn jemand gestorben ist, hat man ihn da, das war dann der Totenausgang, den haben sie nicht gern durch die Stube hinausgetragen, oder, wenn man da gestorben ist, der Hausherr, oder die Hausfrau.43

Totentür

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Die räumliche Ordnung des Bauernhauses enthält damit auch Dispositionen für den Verlauf des Lebens zum Tod hin und den angestammten Platz der Lebensalter: vom Kinderbett zur Eckbank, zur Ofenbank, ins Elternbett und als Toter durch die eigens dafür reservierte Tür ins Freie, auf den Friedhof.44 Fenster

Bauweise und Gebrauchseigenschaften

Zur Stube gehört neben ihrem Wandtäfer und der Einrichtung, die bis auf die Stühle ortsfest ist, das Fenster. Es ist, wie die gesamte Einrichtung, ein Produkt des Tischlers. Das traditionelle Fenster des Wälder Bauernhauses ist möglicherweise sein anspruchsvollstes Element, eine Spitzenleistung des traditionellen Tischlerhandwerks der Region.45 Bertram Dragaschnig, aus dem Zimmererhandwerk stammender Bauunternehmer, der bereits im Kapitel Holz aufgetreten ist, vermutet, daß es heutzutage „bloß eigentlich zwei Fensterbauer [gibt], die es wirklich können“.46 Wie das Kassettentäfer, mit dem das Innere der Stube ausgestattet ist, wie der Schindelpanzer, der seit dem neunzehnten Jahrhundert die Fassade des Wohnteils schützt, sind auch die Fensterrahmen nicht lackiert, sondern aus unbehandeltem Weichholz, Fichte, Weißtanne oder Lärche. Wie das Innentäfer und der Holzboden der Stube sind sie in den Reinigungsvorgang einbezogen, der sich traditionell mit Wasser, Seife, Bürste und Stahlwolle vollzieht, sodaß die feinen Sprossen jahrzehntealter Fenster in ihrer graugelblichen Farbe und den von der Stahlwolle abgeschliffenen Kanten an von Wellengang, Sand und Kieseln bearbeitetes Treibholz erinnern. Die feinen Sprossen sind häufig vom jahrzehntelangen Bürsten so dünn gewetzt, daß nur noch das Fensterglas sie an ihrem Platz hält. Neben dieser Belastung, der Seifenlauge und den Reinigungsgeräten von innen, Regen und Schnee von außen standzuhalten, ist es vor allem ihre komplexe Beweglichkeit, die dem Fensterbauer Meisterschaft abverlangt. Um sommers herausnehmbar zu sein, sind die außenseitigen Flügel der Kastenfenster in ihrem Stock, der traditionell einen festen Mittelpfosten hat, nur mittels Sturmhaken befestigt, also unbeweglich. Die winterliche Lüftungsöffnung ermöglicht im inneren wie im äußeren Flügel das „Schieberle“, die unteren zwei Drittel der Flügelverglasung, die in einem separaten Schiebeflügel gefaßt und entlang seines Gegenstücks, der Quersprosse des Fensterflügels, der für den Schiebeflügel zum Stock wird, geführt, zur Seite zu schieben und so zu öffnen ist. Und wäre diese Beweglichkeit auf kleinstem Raum, dieses Aus- und Einhängen des Win44 Bauherr S., dessen Umbau eines denkmalgeschützten Wälderhauses in Schwarzenberg ich 2008 betreuen durfte, erzählt von Aufbahrungen verstorbener Familienmitglieder in der Stube, wenn die Besucher zu zahlreich für die Größe des Gadens (des neben der Stube gelegenen Elternschlafraums) waren. Das anschließende Waschen von Boden, Wandund Deckentäfer führt den Raum wieder der alltäglichen Verwendbarkeit zu. Vom rituellen Reinigen mit

Wasser, Seife und Bürste ist auch im Abschnitt Holz als Baustoff des Kapitels Holz die Rede. 45 Vgl. Bundesdenkmalamt (2002) 46 BD: Z 1224 ff 47 BD: Z 1352 ff 48 Ebd. 49 ALE: Z 418 ff 50 BD: Z 1222 ff 51 Ebd.

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terfensters mit seinem Schieberle, das Drehen des Hauptflügels am Eisenbeschlag des inneren Flügels, der wiederum das Schieberle zu tragen und zu führen hat, noch nicht genug Anspruch an das Holz und seine Formstabilität trotz fortgesetzten Quellens und Schrumpfens beim Naßwerden und Trocknen, erläutert Bertram Dragaschnig eine letzte Finesse, die erst zutage tritt, wenn ein Glas zerspringt. Da sind Holzdübel drinnen, das ist der Zapfen, und ein Holzdübel drinnen. (...) Ist nicht geleimt. (...) Naa, wenns geleimt wär, dann könnt mans, wenn eine Scheibe kaputt ist, nimmer auswechseln. (...) Ja, wenn es jetzt so ist, daß die Scheibe kaputt geht, schraubt man das weg, schlägt die Dübel durch, nimmt den Rahmen auseinander, setzt eine neue Scheibe ein und schiebts wieder zusammen.47

Mit seinem Nachsatz „Es braucht eine dementsprechende Holzqualität, daß der Schiebeflügel wieder geht“48 lokalisiert Dragaschnig eine Grundlegung dieser handwerklichen Spitzenleistung bereits beim Holzeinschlag im Wald. Es mutet wie Barbarei an und ist doch nur bäuerlicher Pragmatismus unter den Vorzeichen der sozialen Umwertungen, die die Nachkriegsjahrzehnte des Zweiten Weltkriegs auch dem Bregenzerwald brachten, wenn Dragaschnig erzählt, daß das von ihm sanierte Bauernhaus in Lingenau erst nach dem Freilegen des Strickbaus beim Entfernen des verwitterten Schindelpanzers seine alte Fensterteilung offenbart hatte. Um das neue Angebot billiger und größerer Isolierglasfenster nutzen zu können, waren die Vorbesitzer dem jahrhundertealten Strickbau mit der Motorsäge zuleibe gerückt. Die modernen Fenster hatten die traditionellen Kastenfenster schäbig wie die abgetragene Kleidung eines Verstorbenen aussehen lassen. Arno Eugster, als Lehrersohn in einem modernisierten Bauernhaus aufgewachsen, fügt dem Bild vom zeitgemäßen Wohnen der 1960er Jahre, dem das Bauernhaus nur noch beengende Hülle war, weitere Mosaiksteine hinzu: Ich komme eigentlich nicht von einem Bauernhof, sondern nur aus einem Bauernhaus. Das Haus, in dem ich gewohnt habe, mein Elternhaus, sieht innen ganz anders aus, das ist innen tapeziert. Da gibts eigentlich kein Holz. Das ist ein Holzhaus, aber es ist alles verkleidet. (...) Außen sind Eternitplatten drauf und innen ist alles tapeziert und Gipsdecken und so weiter, also, da sieht man kein Stückchen Holz. Nur an der Stiege vielleicht.49

Dagegen kann sich Dragaschnig, als er im Jahr 2005 fragt, „Wie saniert man, wenn man saniert?“ 50, bereits auf eine zwei Jahrzehnte währende „Resozialisierung“ des Wälder Bauernhausfensters stützen und davon ausgehen, daß seine Investition, „so ein Fenster kostet bißl mehr wie tausend Euro“51, sich durch die Vermietung an eine Arztpraxis wieder amortisiert. Den Zeitpunkt einer gesellschaftlichen Bewußtseinswende, die sich am zunächst unbedeutend scheinenden Baudetail, dem Umgang mit den traditionellen Fenstern der historischen Bauernhäuser, manifestiert und einen Bruch im Fortschrittsglauben der Industriegesellschaft markiert, hat Renate Breuß in einem Interview mit Tischlermeister Anton Mohr aus Andelsbuch rekonstruiert. Mohr stellt hier nicht die technische Problemstellung selbst, sondern die Rückkehr einer Wertschätzung gegenüber traditioneller handwerklicher

Resozialisierung des traditionellen Fensters

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Arbeit und mit ihr gegenüber dem traditionellen Bauteil am eigenen Haus, in den Mittelpunkt seiner Einschätzung. Dieser als Resozialisierung des traditionellen Handwerks (in den Erscheinungsformen Arbeitsform und Produkt) beschreibbare gesellschaftliche Wandel betrifft ihn als Handwerker und Obmann des lokalen Handwerkervereins ganz direkt. Bedeutsam ist vor allem die Freiwilligkeit dieser Rückkehr zum handwerklichen Produkt, eine „aufgeklärte“ Resozialisierung, die sich unterscheidet von der historischen Situation einer Handwerklichkeit aus Mangel an Alternativen. 1980 haben wir in Au das erste Haus mit Schiebefenster gemacht, vorher hätte man Dich ausgelacht. (...) Mein Vater hat immer wieder solche Sanierungen gemacht, also alte Fenster geflickt. Das hat sich immer nur in einem Vorsäß oder eher unbeachteten Objekten abgespielt. Daß man ein Wohnhaus wieder mit solchen Fenstern ausgestattet hat, das ist das erste Mal 1980 passiert. Vorher hat man wirklich bloß die großen Scheiben eingesetzt, also diese Fensterchen rausgeworfen und die großen Scheiben reingetan – in ein Wälderhaus.52 Funktionsbegriff des Handwerks

Die Entscheidung zwischen industriell oder handwerklich hergestelltem Fenster trifft der Bauherr. Dieser Entscheidung liegt eine gesellschaftliche Einschätzung der Tauglichkeit des Industrieprodukts zugrunde und ein technikbezogener Fortschrittsoptimismus, der offenbar zu diesem Zeitpunkt brüchig zu werden beginnt. An dieser Stelle, die mit dem Fenster der Wälder Bauernhäuser durch eine Resozialisierung eines genuin handwerklichen Bauteils markiert ist, ist auf einen Scheideweg zwischen handwerklicher Tradition und akademischer Traditionspflege hinzuweisen. Die handwerkliche Tradition ist durch eine Flexibilität gekennzeichnet, die die überlieferte Konstruktionsweise in einem bestimmten Umfang als modifizierbare Verfügungsmasse zu nutzen imstande ist. So entdeckt Dragaschnig am historischen Fenstertyp ein Potential in bezug auf die moderne Anforderung des Schallschutzes. „Akustisch ganz gut, die Fenster. Dort am Dorfplatz, wo viel Verkehr ist, ist überhaupt kein Problem.“53 So ändert er dessen Konstruktion gemäß dieser Funktionserweiterung soweit ab, daß aus dem ehemals sommers auszuhängenden „Vorfenster“ das äußere Flügelpaar eines vollwertigen Kastenfensters wird. Ich sag mal so, im Wälderhaus ist das nicht original, da war das äußere Fenster ohne Beschlag, zum Wegnehmen. (...) Ich brauche es schallmäßig. Das ganze Jahr. Und daß man es putzen kann, haben wir es als Drehflügel gemacht. Ohne daß man die Proportionen (verändert), die Proportionen sind wirklich aus dem, da gibts ein Heft vom Bundesdenkmalamt, wo das Fenster drin ist, wo die Proportionen wirklich stimmen.54

Bedingt durch ihre charakteristische, wissenschaftlich-akademische Wahrnehmung „konservieren“ die Kunsthistoriker des Bundesdenkmalamtes lediglich die Form eines als exemplarisch angesehenen Einzelstücks55, indem sie diese zur starren, weil auf die sichtbare Oberfläche reduzierten Norm erheben. Funktionalität der Bauernhäuser

Das Bauernhaus ist nicht nur ein Haus. Neben seiner typologischen Einbindung in die regionale Hauslandschaft betrifft dies auch den Funktionsbegriff, der für die Gestalt des Bauernhauses eine andere Bedeutung besitzt

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als für die des modernen Hauses. Das Bauernhaus könnte als funktionell unterdeterminiert bezeichnet werden. Es zeigt in seiner Funktionalität, besser, seinem Funktionspotential, eine große Variabilität. Das Bauernhaus ist nicht nur ein Haus, indem es gleichermaßen Arbeitswie Lebensort ist. Die Gemeinsamkeit von Leben und Arbeiten findet sich sowohl im Haus des Bauern als auch in demjenigen des Handwerkers. Häufig ist im Bregenzerwald der Fall anzutreffen, daß ein ehemaliges Bauernhaus nun Wohnung und Werkstatt eines Handwerkers beherbergt. Die offene Funktionalität des Hauses spiegelt die zwischen bäuerlichem und handwerklichem Arbeiten changierende Wirtschaftsweise der ländlichen Bevölkerung, indem sie diese einerseits ermöglicht und andererseits daraus entstanden ist.56 Auch die ältesten Schulhäuser waren zunächst Bauernhäuser57, die traditionellen Gasthäuser sind es bis heute.58 Gegenüber dem heute gebräuchlichen, modernen Funktionalitätsbegriff, der nur diejenige Form anerkennt und zuläßt, die sich der jeweiligen Zweckbestimmung möglichst eng anschmiegt und mit diesem Design andere Funktionen zugleich ausschließt, ist in der alten Hauslandschaft der Bauernhäuser ein anderer Funktionalitätsbegriff angelegt und mit ihm ein Prinzip, dasselbe Ding, das Haus, über Jahrhunderte zu nutzen, es durch geringfügige, bestandserhaltende Adaptionen den aktuellen Anforderungen anzupassen und damit in fortgesetzter Brauchbarkeit zu erhalten: größere Fenster im Fall des Schulhauses, steileres Dach bei gestiegenem Platzbedarf, Anbauten zur Aufnahme von Stickmaschinen, Vergrößerung des Wirtschaftsteils, um neuen Maschinen oder umfangreicherer Viehhaltung gerecht zu werden. Das fortgesetzte Weiterverwenden dieser Häuser – das sie eher denn als individuelles Werk als Produkt einer Gesellschaft erscheinen läßt – gibt dem Wohnen darin eine Atmosphäre, die wesentlich durch die präsenten Spuren der Vorbewohner geprägt ist. Bauernhäuser sind im Untersuchungsgebiet noch allgegenwärtig. Sie treten heute in den Gesprächen mit Bauherren vor allem als alte, zunehmend verfallende Häuser in Erscheinung. Noch sind sie bewohnbar und stehen, sofern von den eigenen Bewohnern bereits verlassen, Feriengästen zur Verfügung, aber auch denjenigen Familien, die, weil ohne eigenen Hausbesitz, dauerhaft zur Miete wohnen. Leopoldine Eugster berichtet von einer solchen typischen Situation im Nachbarhaus: „Das ist sicher schon... zweihundert Jahre. Das stand jetzt zwanzig Jahre unbewohnt. Also, nur mit Gästen. Und seit einem Jahr wohnt eine Frau drinnen. Auch eine Lehrerin. Die ist jetzt da eingezogen.“59 52 53 54 55 56

Breuß/Metzler (2001), S.10 f BD: Z 1239 ff BD: Z 1340 ff Vgl. Anm. 41 WS 2: Z 104 ff

57 GG: Z 1269 ff 58 „Und (nachdem) über den Kirchenbau offensichtlich soviel Umtrieb war, haben beide dann eine Wirtschaft gemacht, beide Bauern. Daraus sind diese Gasthäuser entstanden.“ (EW 2: Z 496 ff)

Erfahrungen mit dem Leben im Bauernhaus

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Die Wohnerfahrung im Bauernhaus ist in der Generation der befragten Bauherren und Architekten als implizites Wissen noch präsent. Im Gespräch mit dem Ehepaar Eugster etwa kommt zum Vorschein, daß beide Eheleute in Bauernhäusern aufgewachsen sind. So prägt diese eigene Wohnerfahrung auch das Wohnen im neuen Haus auf vielfältige Weise60, ebenso wie der Bestand der Bauernhäuser in den ästhetischen Normen der Gesellschaft präsent bleibt. „Jedes Bauernhaus hat außen unbehandelte Schindeln. Und die werden mit der Zeit grau (weist auf ein altes Bauernhaus in der Nachbarschaft hin, das vom Fenster aus zu sehen ist).“61 Auch Norbert Mittersteiner, wie Bertram Dragaschnig bereits im Kapitel Holz vertreten, ist im Bauernhaus aufgewachsen. „Das war eigentlich verfallen, also alt, und man hat nie was gemacht, wir waren da in Miete.“ Trotz seiner Bewertung des Zustandes, „eine Bude, also wirklich, man würde jetzt sagen, also schlimmstes Ghetto (lacht), irgendwie, weil das so alt war und schlecht und ungepflegt“62, hat er später mit der eigenen Familie erneut ein Bauernhaus zur Miete bewohnt, in dem er ähnliche Zustände vorfindet. Das war irgendwie abgewohnt, und da war kein gescheites Klo, und kein Bad war drin, und die Verhältnisse, der Besitzer hat gesagt, die Spritzer an der Decke, die sind noch von unseren Kindern. Die Budel, also von der Flasche. Aber die Kinder waren fünf Jahre jünger als wir. Also, sehr heimelig.63

Seine Bewertung fällt positiv aus, denn er findet im Bauernhaus eine Atmosphäre und Potentiale vor, die Begegnungen erleichtern, indem sie undeterminierten Raum, im Gegensatz zum als Privatsphäre determinierten Raum der Architektenhäuser64, bereitstellt und so die Erfahrung gemeinschaftlichen Lebens ermöglicht. Das war die Mutter, die Beziehungen, es war immer ein offenes Haus, ich hab immer Freunde, und Freundinnen, und alles, es war immer sehr beengt, oder, aber man hat immer in dem Haus Kontakt pflegen können und dürfen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.65

Auch Gespräche mit eigenen Bauherren bestätigen die soziale Grunderfahrung, die darauf beruht, daß die Stube im Bauernhaus der allgemeine Aufenthaltsort war. Zwar zogen sich die Kinder „zum Lernen“ in die Schlafkammern zurück, doch hielt man sich dort, wegen mangelhafter Heizmöglichkeit, nicht länger als nötig auf.66 Für Norbert Mittersteiner bildet das Leben im Bauernhaus nicht nur den Hintergrund für erste soziale Erfahrungen, sondern auch für die Erkenntnis, daß eigenhändige Arbeit die Lebensdauer des Hauses verlängert. In der Siedlung Im Fang67 ist die Ordnung der Hausgemeinschaft, der zusammen 59 60 61 62 63 64 65 66

ALE: Z 767 ff Vgl. Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels ALE: Z 763 ff RNM: Z 1171 ff RNM: Z 1195 ff Vgl. Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels RNM: Z 1184 ff Gespräch mit Frau E., 28.09. 2009

67 Neben den eigenen Forschungsgesprächen mit dem Ehepaar Mittersteiner finden sich Interviews mit den Bewohnern der Siedlung Im Fang in: Mayr (1997). 68 RNM: Z 345 ff 69 RNM: Z 410 ff 70 Der Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, thematisiert diesen Aspekt.

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wohnenden fünf Familien, Bestandteil der „Architektur“ der Siedlung. Ausgehend vom erlebten Verfall durch unzureichende Verantwortlichkeit und mangelnde Pflege, die er in den gemieteten Bauernhäusern kennengelernt hatte, betont Mittersteiner die Verantwortlichkeit und Verpflichtung zur eigenhändigen Erhaltung, die als Bestandteil jener Hausordnung institutionalisiert ist.68 Weil die Wertschätzung wirkt sich einfach sehr stark aus in der Haltbarkeit, oder.69

Es ist ein Widerschein des Lebens im Bauernhaus innerhalb der modernen Sphäre, die die Architektenhäuser der 1980er Jahre bilden.70

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4.2 Landhaus Das Landhaus repräsentiert den neuen Bewohnertyp des Dorfes

Solange das traditionelle Bauernhaus seine Allgegenwart im ländlichen Kulturraum bewahrt, bildet es den Bezugspunkt für die gesamte Baupraxis dieses Raumes. Das Bauernhaus stellt darin das präsente Gegenüber für ein vielgestaltiges Spektrum formaler Abgrenzungen und Annäherungen dar, auch dort, wo es sich bei den Neubauten um reine Wohnhäuser handelt. Dabei muß gerade der massenhafte Bau solcher reiner Wohnhäuser, von Häusern also, die nicht gleichzeitig Arbeitsstätte sind, wie es das Haus des Bauern oder dasjenige des Handwerkers war, als Indikator eines radikalen Wandels der ländlichen Gesellschaft verstanden werden, einer Gesellschaft, deren Geschlossenheit einst den einheitlichen Bauernhaustyp hervorgebracht hat. Dieser grundlegende soziale Wandel, der eine Neubewertung ländlicher Räume erforderlich werden läßt, nimmt im Verlauf der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs je nach Region einen unterschiedlichen Verlauf. Seine extremen Ausprägungen können als Umwandlung der ehemaligen Bauerndörfer zu Pendlerwohnorten und damit „Vororten“ naher Städte oder zur Bildung stadtähnlicher Agglomerationen, wie sie etwa das Vorarlberger Rheintal darstellt, beobachtet werden. In stadtfernen Regionen tritt derselbe Prozeß als Entvölkerung der Dörfer und Verödung der Kulturlandschaft in Erscheinung. Beiden Extremen ist gemeinsam, daß der ländliche Raum und seine Gesellschaft, parallel zum wirtschaftlichen und sozialen Bedeutungsverlust, den die Landwirtschaft im gleichen Zeitraum erfährt1, seine ehemalige wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit verliert.2 Das ländliche Einfamilienhaus, sowohl das „anonyme“ als auch das „Architektenhaus“, ist ein zentraler Indikator für diesen Prozeß, da es einen neuen Bewohnertyp der Dörfer repräsentiert. Dieser erwirtschaftet sein Einkommen nicht mehr ausdrücklich oder nur noch zufällig im und für das Dorf. Er nutzt das Dorf nur noch als Wohnort.3

Das Ende des Wälderhauses

Bislang gibt es keine Institution, die der Frage nachgeht, wann das letzte traditionelle Bregenzerwälder Bauernhaus gebaut worden ist. Die Kunstgeschichte, in Gestalt des Denkmalschutzes am ehesten für die Erforschung der 1 Krammer/Scheer widmen sich dem stufenweisen Abbau der Vorrangstellung von Landwirtschaft, die diese als bestimmende Lebens- und Wirtschaftsform des ländlichen Raumes „seit der Aufhebung der feudalen Herrschaftsordnung“ innegehabt habe. „Erst sehr spät zerbrach diese Form der ländlichen Arbeitsund Lebenswelt endgültig, als ab ca. 1950 industrielle Formen der Technik in der Landwirtschaft verstärkt Fuß faßten.“ Krammer /Scheer (1977), S. 111 2 Der angedeutete Prozeß einer beschleunigten Verstädterung des ländlichen Raumes manifestiert sich etwa in der groß angelegten Analyse „Die Schweiz –

Ein städtebauliches Porträt“, durchgeführt vom ETHStudio Basel und 2006 publiziert. Ausführlicheres dazu im Kapitel Dorf. 3 Die sinkende Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes macht ihn von Subventionen abhängig und damit zum Gegenstand einer ökonomischen Rentabilitätsbeurteilung im politischen Rahmen. Vgl. Klingholz (2009), der für seine Analyse die ländlichen Regionen der „neuen Bundesländer“ Deutschlands, das Gebiet der ehemaligen DDR, ins Auge faßt. Die vorliegende Studie widmet sich im Kapitel Dorf ausführlicher dem Thema.

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„Hauslandschaften“ zuständig, findet ihre Attraktionen eher im ältesten statt im jüngsten Baudatum.4 Die Architektenschaft reduziert die Frage auf den baulichen Typ des Bauernhauses, wiederum, ohne sich die dahinterliegende soziale Konstruktion zu vergegenwärtigen, ein romantischer und genuin akademischer Ansatz, der gegen Ende dieses Abschnitts unter dem Stichwort Chalets nochmals aufgegriffen werden wird.5 Wer sich der Frage nach dem Ende des Wälderhauses widmet, müßte wohl zunächst Anlässe für den Neubau eines Bauernhauses unterscheiden: Den Ersatz nach Zerstörung, etwa durch Brand, am alten Ort oder die neue Hofgründung am neuen Platz.6 Nachdem das Land längst verteilt ist, ist letzteres nur durch Teilung eines vorhandenen Grundbesitzes denkbar, und hier strebt die Vereinödung7 seit dem achtzehnten Jahrhundert, verstärkt unter bayerischer Herrschaft zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts betrieben, bereits in die Gegenrichtung, zur Vergrößerung der bereits bis zur Gefährdung der Existenzsicherung zerstückelten Gründe. Meine wichtigsten Gesprächspartner für diesen und die nachfolgenden Abschnitte dieses Kapitels sind Leopoldine und Arno Eugster, ein Lehrerehepaar in der Vorderwälder Gemeinde Langenegg. Arno Eugster, Hauptschuldirektor in der Nachbargemeinde Doren, stellt das Ende des Wälderhauses indirekt als Ende des diesem zugeordneten sozialen Standes und dessen traditioneller Lebensform dar. Es hat alte Bauernhäuser gegeben. Und neue Bauernhäuser hat niemand gebaut, höchstens nur ein Teilbereich wurde erneuert. Und alle, auch solche, die alte Bauernhäuser erneuert haben, haben dann vorne, vor das Bauernhaus, oder hinten am Wirtschaftstrakt, ein Allgäuerhaus hingestellt. Solche Balkone! Kein einziges Bauernhaus hat zum Beispiel Balkone. Und die neuen Bauernhäuser haben dann alle vorne und hinten Balkone gehabt.8

Die geschilderte bauliche Collage, die durch das Anstückeln des Wirtschaftsteiles eines Bauernhauses mit einem „Allgäuerhaus“ zustande kommt, eines gemauerten, weiß verputzten Hauses mit Balkon, verwischt die Grenze zwischen dem Bautyp des Bauernhauses und dem reinen Wohnhaus, das dieses „Allgäuerhaus“ ansonsten darstellt.9 Hinter dieser Verwischung der Bautypen tritt eine gesellschaftliche Verwischung ins Blickfeld, die die 4 Im Gespräch mit der für den Bregenzerwald zuständigen Denkmalschutzbeauftragten (25. 06. 2009) wurde deutlich, daß der Schutz des substantiellen Originals die denkmalpflegerischen Kräfte vollständig bindet. Das Inventar der denkmalgeschützten Objekte ist nicht öffentlich zugänglich, um die geschützten oder zum Schutz vorgesehenen Häuser und Ensembles nicht zum Gegenstand von Verwertungsinteressen zu machen. Im Dehio Vorarlberg sind lediglich Ausschnitte aus diesem Inventar verzeichnet, dessen letzte Auflage 1983 ist jahrzehntealt. Das Grundbuch bietet außerhalb der internen Unterlagen

des Bundesdenkmalamts den einzigen „Überblick“ aller denkmalgeschützten Objekte eines Raumes. 5 Das Wochenendhaus Hämmerle auf dem Bödele, 1932 von Architekt Alfons Fritz geplant, ist eines derjenigen Häuser, die unter Architekten als „Letztes Wälderhaus“ gehandelt werden. Abgebildet in: Sagmeister (1990), S. 37 6 Zu den Bedingungen neuer Hofgründungen im Alpenraum vgl. Werner Meyers Aufsätze zum Schweizer „Landesausbau“, auch als „Binnenkolonisation“ bezeichnet. Historisches Lexikon der Schweiz, OnlineAusgabe

Verwischung baulicher Typen

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traditionellen Grenzen zwischen den Berufen bzw. sozialen Ständen auflöst, im konkreten Fall demjenigen des Bauern gegenüber dem Industriearbeiter oder, umfassender, demjenigen, der „das Land“ nur mehr bewohnt und nicht mehr bewirtschaftet.

Auflösung der Tradition

Eine durchgehende Zäsur, ein datierbares „Ende des Wälderhauses“ ist für die untersuchte Region demnach nicht feststellbar und erschiene in seiner Beschränkung auf den baulichen Typ auch als naive Wahrnehmungsverengung, sobald der parallel stattfindende soziale Wandel als Ursache zur Kenntnis genommen ist. Vielmehr findet um 1980 ein wenigstens zwei Jahrhunderte zurückreichender und mit den zentralen Modernisierungsfaktoren der mitteleuropäischen Gesellschaften, für die hier zunächst die Begriffe Aufklärung und Industrialisierung nur schlagworthaft stehen sollen, vielfach verflochtener Prozeß seinen Höhepunkt, der die Auflösung dessen bewirkt hat, was der kunsthistorisch geschulte Blick als Tradition ansieht. Er bewirkt die Auflösung einer durch Alternativlosigkeit gekennzeichneten Lebensform, mit ihrer im Mangel begründeten Verfeinerung der Selbstversorgung, durch Hinzutreten von Wahlmöglichkeiten, die als Folge steigender individueller Mobilität nun auch im ländlichen Raum verfügbar werden. André Gorz weist darauf hin, daß mit diesem Prozeß eine tiefgreifende Desorientierung des Einzelnen verbunden ist, dem das intuitive Verständnis seiner Lebenswelt abhanden kommt.10 Gorz ortet in diesem Verlusterlebnis den ursprünglichen Gründungsanlaß der ökologischen Bewegung. Mit dem undatierbaren „Ende des Wälderhauses“ geht eine soziale Epoche zu Ende, die durch eine Dominanz des Bauernstandes in der ländlichen Gesellschaft gekennzeichnet war. Die dieser Lebensform zugeordnete Wirtschaftsweise hat im Charakter unserer Kulturlandschaft ein bis heute sichtbares Nachbild hinterlassen. An deren Stelle tritt eine soziale Mischung, ermöglicht vor allem durch die gestiegene individuelle Mobilität, die die ehemalige räumliche Segregation von städtischer und ländlicher Gesellschaft aufgelöst hat. Im untersuchten Feld tritt vor allem der zunehmend selbstbewußte Auftritt einer Akademikerschicht in der ländlichen Gesellschaft prägnant in Erscheinung.11 Der Lehrer ist derjenige Akademiker, der neben dem Pfarrer eine etablierte soziale Position im Dorf besitzt. Mit dem Ausbau des Schulsystems im ländlichen Raum und dem damit einhergehenden Bau von Hauptschulen und Gymnasien12, nimmt die Zahl der Lehrer, die im Dorf leben, zu.

7 Vgl. etwa Blank (1999) 8 ALE: Z 705 ff 9 Die klar unterscheidbare bauliche Typologie, wie sie die Kunstgeschichte erzeugt hat, erscheint bereits für das traditionelle Bauernhaus als besonders unpassend. Insbesondere die universelle Funktionalität,

die den selben baulichen Grundtyp als Bauernhaus, als Gasthaus, als Handwerkerhaus und als Schulhaus brauchbar macht, spricht gegen eine solche einseitig an formalen Kriterien orientierte Kategorisierung. 10 André Gorz: Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung; in: Gorz, S. 31 ff

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Daneben schreitet der Trennungsprozeß von Wohn-und Arbeitsort fort. Pendlersiedlungen entstehen, die keine einheitliche bauliche Identität mehr aufweisen, deren Häuser vielmehr als beziehungslose Summe der vertretenen Individualitäten in Erscheinung treten. Der ländliche Raum, seine soziale Identität, seine wirtschaftliche Zukunft, seine formale Gestalt, wird neu „konstruiert“. Das ländliche Einfamilienhaus ist ein Medium in diesem Verhandlungsprozeß. Um den Einfluß von Architektur auf dieses Medium zu beurteilen, ist dem Bauherrn eine weit höhere Wirkmacht zuzuschreiben als dem Architekten. Der Bauherr ist derjenige, der den Architeken wählt, ihn ins Dorf holt, um sich selbst im sozialen Umfeld neu zu positionieren. Erst durch den Bauherrn wird Architektur, hier das substantielle Haus mit seinen hinterlegten sozialen Signalen, zur „sozialen Konstruktion“.

Trennung von Wohn- und Arbeitsort

Im ländlichen Hausbau ist die prägnanteste Neuerung der Massivbau, der in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs neben den Holzbau tritt. Bis dahin hatte der Holzbau als traditionelle, das örtliche Material verarbeitende Bauweise den Bau der Wohn- und Wirtschaftsgebäude ausschließlich beherrscht. Als Form von Armut und Mangel, als „armselige Bauerei“13 und keineswegs als freie, gar formal bestimmte Entscheidung, interpretiert Hans Purin den bäuerlichen Hausbau in Holz. Neben den Gutshöfen des Rheintals, die er nennt, sind es vor allem die in Mauerwerk aufgeführten Kirchenbauten, die als signifikante Ausnahmen in der historischen Holzbaupraxis vom Wohlstand ihrer Bauherren künden. Wenn hier formuliert wird, daß der Massivbau neben den Holzbau tritt und nicht an seine Stelle, so ist damit ein weiteres Mal die charakteristische Sondersituation des Bregenzerwaldes angesprochen. Denn auch der Holzbau dieser Region durchläuft in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs eine eigene, industriell geprägte Modernisierungsphase, für die das Kaufmann Holzbauwerk in Reuthe steht. Maschinenstrick als technische Neuerung und Strickhüsle, Fertighäuser in Form verkleinerter Bauernhäuser14, leben weiter, auch wenn das gemauerte, das Baumeisterhaus, quantitativ bald weit überwiegt. Das Verbreitungsgebiet der Strickhüsle, deren Zahl Wolfgang Schmidinger auf zweihundert schätzt15, ist nicht systematisch untersucht. Die Forschungsgespräche der vorliegenden Studie deuten lediglich den Umstand an, daß die Strickhüsle vor allem im Innerbregenzerwald, also im unmittelbaren Umkreis ihrer Produktionsstätte, dem Kaufmann Holzbauwerk, gebaut worden sind.

Technische Modernisierung des Hausbaus

11 ALE: Z 198 ff 12 Achleitner (1980) nennt für den Neubau der Hauptschule Egg (Jakob Albrecht, Karl Büsel) die Baujahre 1961 /62; etwa zehn Jahre später erhielt die selbe Gemeinde ein Gymnasium, das zum Ausgangsort der Wäldertage wurde. Weitere Neugründungen

weiterführender Schulen entstanden im selben Zeitraum (für den Bregenzerwald) in Doren, Lingenau und Bezau. 13 HP: Z 817 14 WS 1: Z 358 ff 15 WS 1: Z 405

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Anonymes Bauen

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Die angedeutete technische Modernisierung des ländlichen Hausbaus, für den das Baumeisterhaus und das Strickhüsle als sein Pendant aus dem Zimmermannshandwerk steht, liegt in der Hand der Bauhandwerker und findet ohne Architektenbeteiligung statt. Beginnend mit den Lehrern ländlicher Schulen gewinnt seit den 1980er Jahren eine neue, akademisch gebildete soziale Schicht in den Dörfern des Bregenzerwaldes an Einfluß. Dieser Gesellschaftsschicht entstammen die Bauherren, die den Architekten und seinen Entwurf dazu nutzen, ihrer sozialen Rolle erstmals einen sichtbaren Auftritt zu geben. Sobald der bauliche Hintergrund, vor dem die „Architektenhäuser“ auftreten, nicht mehr lediglich als „anonymes Bauen“16 subsumiert, sondern sein Zustandekommen gesellschaftlich analysiert wird, kann ein ähnlicher Wandel, wie er für die Bauherren innerhalb der Dorfbevölkerung beschreibbar ist, auch innerhalb der Bauwirtschaft festgestellt werden: die Bauhandwerker, die ländlichen Zimmerer und Baumeister, verlieren ihre bis dahin unangefochtene Souveränität als Designer-Maker, als Planer und Ausführende in Personalunion, an ein neues arbeitsteiliges Prinzip. In dessen Folge wird die Form des Hauses aus dem handwerklichen Produktionsprozeß ausgelagert und ihr Entwurf an einen akademisch gebildeten Formspezialisten, den Architekten, vergeben. Der Handwerker wird auf die Rolle des Herstellers reduziert.17 Dem Ehepaar Eugster zufolge werden in ihrem Wohnort Langenegg, einer Vorderwälder Gemeinde, während der gesamten Nachkriegszeit bis zum 16 Die unter Kunsthistorikern und Architekten verbreitete Bezeichnung Anonymes Bauen, synonym Naive Architektur, kann als Verweigerung einer Namensnennung seitens derjenigen interpretiert werden, die einerseits alle Zugänge zum Archiv verwalten, andererseits nur ihresgleichen als legitime Autoren anerkennen. Daß die Nichtnennung des Autorennamens für das handwerkliche Bauen auf ein Nichtbekanntsein des Namens zurückführbar ist, sollte als Hindernis nicht gelten dürfen. Eher scheint eine Hierarchisierung der Art der Leistung nach vorzuliegen, die im einen Fall, in dem eine geistige Leistung, wie im Architektenentwurf, vorliegt, anerkannt und durch Verzeichnung im Archiv gewürdigt wird, im anderen Fall, wo eine Leistung des Machens vorliegt, die für Handwerker typisch ist, und die in besonderen Fällen, etwa den komplexen Zimmermannskonstruktionen für Dachstühle und Brücken, die denen der Architekten (sofern sie als Ingenieure verstanden werden) nicht nachstehen, nicht anerkannt und nicht verzeichnet wird. Gerade der Fall der handwerklichen Konstruktionen scheint einen Hinweis darauf zu geben, daß als legitime geistige und damit archivwürdige Leistung

vor allem eine Formerfindung gelten darf, und, wiederum gemessen an dem, was als Naive Architektur subsumiert wird, eine Formerfindung, die sich ausdrücklich und kenntnisreich, also nicht etwa lediglich intuitiv, wie es ländliche Handwerker tun, wenn sie Rocaillen auf Bauernschränke oder „die Stirn der Totenschädel“ (Döllgast 1951 /2) malen, auf einen historischen Formkanon beruft, indem sie diesen zitiert und variiert. Der Scheidung zwischen legitimer und illegitimer Kunstfertigkeit, zwischen namentlich genannten Autoren und der Masse der Anonymen dient also die Institution der Akademie. Einzig sie verleiht das Privileg, legitimes geistiges Eigentum, als einzig dauerhaft gültiges, für sich beanspruchen zu dürfen. Auch hier wird der Sonderweg der zeitgenössischen Vorarlberger Architektur deutlich, der, wenigstens in seinen Anfangsjahrzehnten, ebendiese Scheidung zwischen akademischen und handwerklichen „Architekten“ verweigerte. Dies könnte als Widerstand aufgefaßt werden, den eine ländliche Gesellschaft gegen ein von der städtischen Gesellschaft etabliertes Herrschaftsprinzip leistete, das Prinzip der klassifizierenden Macht der Akademie.

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Bau ihres eigenen Hauses 1984 ausschließlich gemauerte Häuser, „Allgäuerhäuser“, gebaut. Ihr Kennzeichen, das sie von den Bauernhäusern des Bregenzerwaldes18 abhebt, ist der geschnitzte Zierbalkon, ein Attribut, das Leopoldine Eugster vor allem als soziales Signal, als Statussymbol, deutet. Es war aber auch ein Zeichen nach außen von Reichtum. Der Balkon mußte wahnsinnig mit einem aufwendigen Geländer verkleidet sein. Geschnitzt, vor allem geschnitzt. Aber ohne Funktion. Da konnte man nicht einmal einen Liegestuhl hinausstellen oder Wäsche aufhängen.19

Auf meine Nachfrage hin beschreibt Arno Eugster die „Allgäuerhäuser“ genauer, nennt ihre Indifferenz bezüglich Standort, Himmelsrichtung und Einfügung, Merkmale, die für ihn Folge eines planerischen Schematismus sind. Das war ein möglichst billiger Plan. Weil der mußte nicht abgewandelt werden, das wurde einfach irgendwo hingebaut. Ob das Richtung Süden gestanden ist, oder nicht, hat überhaupt keine Rolle gespielt. Sondern es konnte einfach irgendwo hingebaut werden. Und wenns so nicht ging, hat man es einfach gedreht. Damits gepaßt hat, und die Garage an der Straße steht, und nicht irgendwo, im Freien.20

Personifiziert wird die formale Uniformität der „Allgäuerhäuser“ in ihrem alleinigen Planer, dem Gemeindesekretär.21 Arno Eugster macht deutlich, daß in dessen Planungspraxis der Rechtsakt im Mittelpunkt steht, der im Vorgang der Baugenehmigung den behördlich genehmigten Plan zur amtlichen Urkunde stempelt. Bis hierher konnte dargestellt werden, daß das erstmalige Auftreten reiner Wohnhäuser ein Indikator für den tiefgreifenden sozialen Wandel des ländlichen Raumes ist. Sobald dieser neue Haustyp den neu auftretenden sozialen Schichten zur Profilierung dient, wird er zum Medium in diesem Umstrukturierungsprozeß. Insbesondere die von den neuen dörflichen Bauherren, zumeist Akademikern, beauftragten Architekten verdrängen sowohl die nebenberuflichen Planer, so den erwähnten Gemeindesekretär, als auch den bis dahin souveränen ländlichen Bauhandwerker aus seiner umfassenden Zuständigkeit für den Hausbau. 17 Vom Haus des Zimmermanns spricht u.a. Ernst Wirthensohn in EW 1: Z 595 ff. Ein zu diesem Bedeutungsverlust des Bauhandwerks vergleichbarer Prozeß ist im Forschungsraum auch in anderen Handwerkssparten festzustellen. Vgl. Abschnitte Reform des Handwerks, Kapitel Handwerk 18 Die Gemeinde Langenegg liegt im Überschneidungsgebiet zweier bäuerlicher Hauslandschaften. Die traditionellen Bauernhöfe des Dorfes, wie auch der Nachbardörfer Krumbach und Doren, folgen entweder dem Vorbild des Innerbregenzerwaldes, das durch den Zugang durch den traufseitigen Schopf gekennzeichnet ist, oder dem vom Allgäu her kommenden Mittelflurtyp mit seinem giebelseitigen Zugang. „Nördlich der Subersach, im Vorderen Bregenzerwald, beginnt das Verbreitungsgebiet des Vorderwälder Einhofes, der, ob seiner Ähnlichkeit mit den Höfen jenseits der Grenze, auch Allgäuerhaus genannt wird“, vermerkt dazu der „Dehio“ für Vorarlberg

(1983), S. XXV; tatsächlich weist dieser Bauernhaustyp, im Gegensatz zu dem des Innerbregenzerwaldes, gelegentlich einen giebelseitigen Balkon im Dachgeschoß auf. An den älteren Exemplaren der von Eugster Allgäuerhäuser genannten gemauerten Wohnhäusern ist zu beobachten, daß mittels holzverkleideter Dachgeschoßfassaden und mittig in der Giebelfront plazierter Balkone zunächst das Bild des Vorderwälder, vom Allgäu beeinflußten Bauernhaustyps übernommen worden ist. Spätere Exemplare weisen dann „freiere“ Anordnungen derselben Attribute auf. Auffällig an diesen „Weiterentwicklungen“ sind vor allem die verlängerten, asymmetrisch die Hausecke umgreifenden oder dreiseitig umlaufenden Balkone. 19 ALE: Z 721 ff 20 ALE: Z 735 ff 21 ALE: Z 172 ff 22 PN: Z 490 ff

Planungsmonopol des Gemeindesekretärs

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Im Abschnitt Architektenhaus werden gesellschaftliche Funktion und Programm des titelgebenden Haustyps eingehender untersucht werden. Um seinen sozialen Ort möglichst genau zu treffen, muß die Gegenüberstellung Handwerkerhaus – Architektenhaus jedoch zunächst durch eine Differenzierung des letzteren ergänzt werden, auf die Peter Nußbaumer, Bürgermeister von Langenegg, im Gespräch hinweist. Nußbaumer hat sein Haus gleichzeitig mit dem Ehepaar Eugster gebaut. Seine Erzählung verdeutlicht, daß die heute im Untersuchungsgebiet verallgemeinerte und bereits für Eugsters gültige Zuordnung von Architektur mit moderner und betont schlichter Form die tatsächlichen Verhältnisse unzulässig vereinfacht. Architektur und Architektenhaus kann und konnte gleichermaßen rustikal und schmuckreich heißen: Die Architekten haben unterschiedliche Epochen, oder? Ich habe ein Haus zuhause, das hat ein Riesenvordach, das würde man heute nicht mehr machen, Tiroler Baustil, das hat auch ein Architekt geplant, aus dem Walsertal. Ein Riesenbalkon, 36 Laufmeter. Ich habe jedem gesagt, du kannst von mir sofort 30 Laufmeter Balkon kaufen, das Geländer, brauch ich nicht. Aber: Baustil siebziger Jahre.22

Der Haustyp, den Nußbaumer hier beschreibt, insbesondere sein ausladendes Vordach23 und der Balkon als hervorgehobenes Merkmal, rückt ihn zunächst dem „Allgäuerhaus“ an die Seite. Seiner kulturgeographischen Herkunftsbezeichnung „Tiroler Baustil“ zufolge nimmt er formale Anleihen bei traditionellen Bauernhäusern und überträgt diese auf ein reines Wohnhaus. Bezogen auf die geographische Lage des konkreten Bauplatzes, der Gemeinde Langenegg, läßt sich jedoch das rustikale24 „Tirolerhaus“ vom ebenso rustikalen „Allgäuerhaus“ durch die Entfernung unterscheiden, die die jeweils kennzeichnenden Attribute von ihrem Ursprungsort trennen, also durch deren kulturelle wie soziale Exotik. Daß das „Allgäuerhaus“ ein „einheimisches“ Haus ist und sein soll, läßt sich sowohl durch die an seiner Produktion Beteiligten begründen, zu denen 23 Im Forschungsraum gebräuchlicher Ausdruck für Dachüberstand. 24 Im Begriff „rustikal“, der besonders häufig in Immobilienanzeigen Verwendung findet, ist die Herablassung des Städters gegenüber der „bäurischen“ Lebensart und ihrem, aus seiner Sicht, ungehobelten Ausdruck eingeschlossen. Je mehr die bäuerliche Lebenswelt zum Thema wird, das sich im „rustikalen“ Ambiente abbildet, umso mehr dient dieses Bild in der gesuchten Grobheit seiner Zeichnung gleichzeitig der Aufwertung des einen zu Lasten des anderen gesellschaftlichen Standes. Sein kulturhistorischer Vorläufer ist in den vielfältigen „Darstellungen“ des ländlichen Lebens als baulicher Staffage des räumlichen Umfeldes der historischen adligen Landhäuser zu finden, wie sie etwa Frühsorge in den Cottages dokumentiert, die im Umfeld englischer Herrenhäuser den Bediensteten Behausung, aber gleichzeitig, als Bestandteil einer to-

talen landschaftsarchitektonischen Schöpfung, ihrer Herrschaft den Anblick „idealer“ dörflicher Baulichkeiten bot. In: Frühsorge, S. 107 f Auch das höfische Leben des französischen Adels weist mit den „Schäferhütten“ im Schloßpark von Versailles solche bildlichen wie erlebnismäßigen Aneignungen ländlicher „Primitivität“ auf. Vergleichbar im Rahmen einer Begriffsbestimmung des „Rustikalen“ ist diese Erscheinungsform durch das Phänomen des sozialen Sprungs, dem der bäuerliche Haustyp mit seiner Delokalisierung unterzogen wird.Vergleichbar ist wohl auch der durch den sozialen Sprung ausgelöste Kitzel, den das Erlebnis des Exotischen und Primitiven, als Ursprüngliches rezipiert, bei den Adressaten des Vorgangs, den aristokratischen Teilnehmern am höfischen „Schäferspiel“ ebenso, wie den städtisch-bürgerlichen Bewohnern der rustikalen, also die bäuerliche Lebenswelt abbildenden „Chalets“ während ihres Landaufenthalts auslöst.

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der Gemeindesekretär ebenso gehört wie die lokalen Handwerker, als auch durch die charakteristischen formalen Anleihen bei den Bauernhäusern seines unmittelbaren Umfeldes, des Vorderen Bregenzerwaldes. Die Bezeichnung „Allgäuerhaus“ deutet dabei weniger auf ein im Allgäu beheimatetes Vorbild als vielmehr auf die Tatsache, daß der Vorderwald vom Allgäu her besiedelt worden ist, mit der Folge, daß der Bauernhaustyp mit Mittelflur und giebelseitigem Balkon diesseits wie jenseits der Landesgrenze anzutreffen ist. Ganz anders liegen die Verhältnisse beim „Tirolerhaus“. Bürgermeister Nußbaumer und sein am Gespräch teilnehmender Gemeindesekretär (MN) verbinden dessen Auftreten zunächst mit einer spezifischen Form des Tourismus. In den siebziger und achtziger Jahren hat man ganz stark einen Tiroler oder Bayerischen Baustil gebaut, rustikal, also großer Balkon, viel Holz... MN Schnitzereien... (...) PN War von siebzig bis zwotausend relativ stark vertreten. Es gibt jetzt auch einen anderen Tourismus mittlerweile. Der Tourist, der nach Österreich, oder der in unsere Gegend kommt, ist ein nachhaltigerer Tourist, der die Landschaft liebt, der das Natürliche liebt und der die alten Häuser auch liebt. Es ist nicht dieser Event-Tourismus.25

Die Erklärung setzt als selbstverständlich voraus, daß das Selbstbild der einheimischen Bauherren vom Fremdbild ihrer Besucher und deren Erwartungshaltung geprägt ist. Voraussetzung für diese Erwartungshaltung ist die Delokalisierung und Durchmischung derjenigen formalen Anleihen, die die ländlichen Wohnhäuser alpinen Bauernhaustypen entnehmen, um sie einem formal diffusen „Alpinen Stil“26 einzuverleiben. Indizien für den Beginn einer solchen „Delokalisierung“, dem Loslösen des regionalen bäuerlichen Haustyps von seinem angestammten geographischen und sozialen Ort finden sich bereits bei der Vorarlberger Landesausstellung von 1887: Gezeigt wurde dort ein „Montavonerhaus“, das der Präsentation von Parkettböden diente und das nach der Ausstellung verkauft wurde.27 Peter Strasser28 stellt dieses Ereignis in eine weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichende Praxis, „Musterhäuser“ und „ursprünglich“ wirkende Gebäudeensembles bei Welt-, Landes- und Gewerbeausstellungen zu präsentieren.29 Als Folgen dieser Praxis beklagt Adolf Loos30 1914 in seinem Essay Heimatkunst ästhetische Anbiederungen, die das nichtbäuerliche Bauen seit den 1870er Jahren auf dem Lande unternehme. Seinem Urteil liegt die Erkenntnis eines Wandels der ländlichen Sozialstruktur unausgesprochen zugrunde, 25 PN: Z 563 ff 26 Vgl. Achleitner (1996), S. 20 f, zit. in Abschnitt Rustikalproduktion im Bregenzerwald, Kapitel Handwerk, Anm. 58 Vgl. außerdem Tschofen (2004) 27 Sagmeister (1990), S. 35 28 Peter Strasser publiziert regelmäßig kulturgeschichtliche Aufsätze im thematischen Umfeld der

Architektur, vorwiegend für das Vorarlberger Oberland. 29 „Das Ethnographische Dorf mit einem Vorarlberger Bauernhaus bei der Wiener Weltausstellung 1873, das Dörfli bei den Schweizer Landesausstellungen in Genf 1896, Bern 1914 und in Zürich 1939 sowie der Schweizer Pavillon und das Village Suisse bei der Weltausstellung in Paris 1900.“ Strasser in: Haas (2001).

„Alpiner Stil“

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da er die Architekten als Verursacher nennt und diese in seiner Darstellung den Handwerksmeistern gegenüberstellt. Diese naivtuerei, dieses absichtliche zurückschrauben auf einen anderen kulturzustand ist würdelos und lächerlich und war daher den alten meistern fremd, die nie würdelos und lächerlich waren, (...) während die kindischen versuche der architekten in den letzten vierzig jahren, der natur mit steilen dächern, erkern und anderem rustikalen gejodel entgegen zu kommen, schmählich gescheitert sind.31 „Chalets“

Kurt W. Forster32 hat die Geschichte dieser Affinität, die den Berufsstand der Architekten mit der „anonymen volkstümlichen Architektur“ verbindet, bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichend rekonstruiert. Die bloße Vorstellung einer anonymen volkstümlichen Architektur beruht auf einer Reihe von Bauten, die, wie die Generationen einer Familie, von einem fernen Ursprung herstammen, ohne je die Kennzeichen dieser Herkunft ganz zu verlieren. Obwohl ihre Baumeister unbekannt blieben, lassen die erhaltenen Bauten bezüglich ihres Zwecks und Charakters nichts zu wünschen übrig. Sie weckten das Interesse der Architektenzunft, noch bevor sie zum Gegenstand der Historiker wurden. Der Berliner Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) zeichnete ländliche Bauten im Tirol, in der Schweiz, in Italien und England und pries ihre robusten Formen in seinen Kommentaren, etwa wenn er sie mit den Monumenten der klassischen Antike vergleicht: Die Alphütte, sowohl die kleine unbedeutende, als die zierlichste große Wohnung eines Patriziers eines kleinen Ortes, ist ein classisches architektonisches Werk, wie ein altgriechischer Tempel, und gewiss war sie zu Perikles’ Zeit schon ganz ebenso gebaut. Schinkels Wertschätzung war nicht nur eine Sache der persönlichen Vorliebe, sondern bildete schon bald den Ansatz für eine Reihe von „Schweizerhäusern“, wie sie genannt wurden, die in Berlin und andernorts entstanden, gefolgt von einer Welle von Chaletbauten in vielen Ländern, die bis weit ins 20. Jahrhundert anhielt. Diese Häuser von größtenteils fiktivem alpinen Ursprung fanden sogar bei den Schweizern selbst Anklang, die nun ihrerseits begannen, Chalets zu bauen. Die Wirkung solch synthetischer Bautypen liegt gerade darin, daß sie sich nicht nur weit verbreiteten, sondern selber den Platz der Originale einnehmen, die zu sein sie beanspruchen.33

Schinkels Rezeptionsakt, Bauernhäuser mit antiken Kultbauten zu vergleichen und damit mit diesen auf eine gemeinsame kulturelle Stufe zu stellen, macht das traditionelle ländliche und genuin bäuerlich-handwerkliche Bauen einer akademisch geprägten Wahrnehmung und Wertschätzung zugänglich. Handwerk wird in diesem Akt zu Architektur erklärt. Diese Umetikettierung erstreckt sich jedoch nicht auf ihre Urheber, die ländlichen Handwerksmeister in ihrer Eigenschaft als Erbauer und Planer und deren etwaiger sozialer Aufwertung, sondern ausschließlich auf den formalen Kanon ihrer Werke. Die Unterscheidung der sozialen Herkunft von Handwerk und Architektur sowie 30 Die ausführliche Bezugnahme der vorliegenden Studie auf Adolf Loos’ Schriften bliebe einseitig ohne Kennzeichnung Loos’ als Figur, dessen Lebenswandel, nachweislich im Alter, als moralisch verwerflich angesehen werden muß. Loos’ Verurteilung wegen wiederholter sexueller Handlungen mit minderjährigen Mädchen rief jüngst Otto Brusatti in Die Presse anläßlich von Loos’ siebzigstem Todestag in Erinnerung und interpretiert diesen Umstand als eigentlichen Grund ausbleibender „offizieller“ Würdigung Loos’ in Österreich.

Trotzdem halten wir Loos’ essayistisches Werk, im vorliegenden Kontext insbesondere seine Schriften zu Handwerk und Architektur, wegen der gedanklichen Schärfe seiner Analysen, der Differenziertheit seiner Darstellungen und der historisch-sozialen Lagerung seiner Wahrnehmungsperspektive als theoretischen Bezugspunkt zur Diskussion der Architekturmoderne Österreichs für unverzichtbar. Mit dem „Fall Loos“ befaßt sich ausführlich Klaralinda Ma in: Podbrecky /Franz (Hg.), S. 161 ff 31 Adolf Loos: Heimatkunst; in: Loos, S. 336 f

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die Verwurzelung und Gründung der handwerklich erzeugten, traditionellen Formen in der lokalen Gesellschaft werden in diesem Vorgang ignoriert, um den Formenschatz plündern und dem akademischen Fundus der Architektur, allgemeiner, der Kunst, zugänglich machen zu können.34 Ein in die Vorarlberger Architektenszene hineinwirkender Fall einer solchen Aneignung sind die Untersuchungen an Tessiner Dörfern aus den 1970er Jahren, deren Aufzeichnungen, Sammlungen von Grundrißaufnahmen und Fassaden der dort vorgefundenen Häuser am Lehrstuhl Aldo Rossis an der ETH Zürich zu Haustypen systematisiert und in diesem Abstraktionsvorgang, der die sozialen, herstellungs- und materialspezifischen Kontexte neutralisierte, der architektonischen Formenlehre inkorporiert wurden.35 Im „Landhaus“ des Forschungsgebietes vermischen sich also wenigstens zwei Phänomene unterschiedlicher sozialer Herkunft. Die soeben nachgezeichnete Einverleibung des volkstümlichen, genauer, ländlich-handwerklichen Formenschatzes in die akademische Architektur, die als zweite Traditionslinie im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts neben den klassischen Formenkanon tritt. Ausgehend von der englischen Arts & Crafts-Bewegung etabliert sich auf dieser Basis eine „romantische“ Fraktion innerhalb der Architektenschaft, die nicht nur die im Entstehen begriffene Moderne Architektur wesentlich mitbestimmt, sondern auch als Heimatschutzbewegung eine akademische Gegenposition zu dieser herausbildet. Neben dieser akademischen ist eine aus dem Bauhandwerk kommende Praxis auszumachen. Diese modernisiert den ländlichen Hausbau zunächst in technischer Hinsicht mittels eines Wechsels vom Holzbau zum Massivbau bzw. eines Ersatzes der handwerklichen Einzelanfertigung zur industriellen Vorfabrikation. Ihre formale Orientierung an den lokalen Bauernhäusern beschränkt sich auf äußerliche Attribute, die die modernisierten Wohnhäuser ihrer baulichen Umgebung wieder einzugliedern und sie kompatibel zu den Wohngewohnheiten und Repräsentationsbedürfnissen der Bauherren zu machen suchen. Im Untersuchungsgebiet sind diese beiden Praxen des rustikalen Landhausbaus exemplarisch durch das „Tirolerhaus“ des Montafoner Architekten bzw. das „Letzte Wälderhaus“ des Architekten Alfons Fritz sowie, andererseits, durch die „Allgäuerhäuser“ vom Zeichentisch des Langenegger Gemeindesekretärs bzw. die „Strickhüsle“ aus dem Kaufmann Holzbauwerk repräsentiert. Gemeinsam formen sie den Hintergrund, vor dem mit Beginn der 1980er Jahre auch im Bregenzerwald diejenige Architektengeneration tätig wird, deren Hausentwürfe heute als Zeitgenössische Vorarlberger Architektur subsumiert werden.

Praxen des rustikalen Landhausbaus

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32 Kurt W. Forster, geb. 1935 in Zürich, unterrichtete an den Universitäten Yale und Stanford sowie am MIT und an der ETH Zürich. Daneben stand er u.a. als Direktor der Accademia di architettura in Mendrisio vor. 33 Forster, S. 349 34 Interpretationen der Bauform des Bauernhauses im Kontext antiker Tempelbauten finden sich u.a. bei Seifert (ausführlich in Abschnitt Holzbau–Massivbau, Kapitel Holz), in zeitgenössischen Schriften zur Vorarlberger Architektur etwa bei Hiesmayr. Dieser kom-

mentiert die Bauaufnahmen von Wälder Bauernhäusern und Alphütten durch architekturgeschichtliche Herleitungen ihrer Bauform, etwa des „klassischen Giebel[s]“ (S. 136) und Dekoration: „Der klassische Zahnschnitt ist bewußt dekorativ eingesetzt, vom Bauherrn und Zimmermann vor Baubeginn entschieden. Der Zahnschnitt ist ein Erbe des vorchristlichen Tempelbaues...“ Hiesmayr (1995), S. 118 Achleitner (1996) bestätigt die angesprochene Rolle der Akademien und Kunsthochschulen. 35 Reichlin, Steinmann (1977), S. 49 ff

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213 4.3 „Ein anderes Haus“ Im sozialen Wandel des ländlichen Raumes, den bereits die massenhaft auftretenden „Landhäuser“ anzeigen, sucht speziell die wachsende Schicht der Akademiker ihren Einfluß innerhalb der dörflichen Bevölkerung auszubauen. Das moderne Architektenhaus schafft diesem sozialen Konflikt, der den Bregenzerwald um die Wende der 1970er zu den 80er Jahren1 erreicht, ein Austragungsfeld2, das der Langenegger Bürgermeister Peter Nußbaumer am Beispiel des „Mordswirbels“ um das erste Exemplar dieses Typs in seinem Dorf schildert: „Dann hat man eine Baueinstellung gemacht (...) und ein Riesenverfahren. In der Folge hat das Haus im Jahr darauf den Staatspreis für Architektur bekommen.“3 Bemerkenswert erscheint dieser Vorgang deshalb, weil die Begründung des Preises vor allem die „überzeugende Einfügung“ des Hauses „in ein bäuerliches Ensemble“4 würdigt und damit ebenjene Eigenschaft, die die lokale Baubehörde in Abrede gestellt und die Gemeindevertreter veranlaßt hatte, in dem „Riesenverfahren“ bis zum behördlichen Abbruchbescheid zu gehen. Offensichtlich stellen diese beiden Haltungen gegenüber demselben Objekt einen Fall konfligierender Plausibilitäten dar, gegensätzlicher Ansichten darüber, was für den öffentlichen Auftritt der Bewohner, den ein Haus immer darstellt, angemessen und zulässig sei. Der Analyse dieser unterschiedlichen Bewertungen desselben Gegenstandes, des Wohnhauses, das das Ehepaar Eugster 1982–84 nach Plänen seines Architekten in Langenegg gebaut hat, dient der folgende Abschnitt. Dem Blickwinkel der Bauherren kommt hierbei das Hauptgewicht zu, um den Akt der Positionierung innerhalb des sozialen Umfelds deutlich zu machen, der im Bau jedes Hauses liegt. Der Architekt tritt nur mittelbar auf, er ist Randfigur des Konflikts vor Ort. Speziell die ersten Exemplare der modernen Architektenhäuser im Bregenzerwald, als statement ihrer Bauherren betrachtet, das sich an die unmittelbare soziale Umgebung, die Bevölkerung des Dorfes richtet, sind innerhalb der Umstände ihrer Entstehungszeit eine eingehendere Betrachtung wert. Ihre „Fremdheit“ erlaubt, das erzieherische Selbstverständnis gegenüber der Gesellschaft gleichsam in Reinform wahrzunehmen, das ihre Architekten, 1 Die Wäldertage, 1973–79 ausgehend vom damals neu gegründeten Gymnasium Egg, können mit ihrer betont kritischen Positionierung gegenüber der etablierten ländlichen Gesellschaft als Indikator dieses sozialen Konflikts betrachtet werden. Vgl. Schall, S. 117 ff 2 Einen Anhaltspunkt zum Umfang dieses sozialen „Umbaus“ gibt der Vorsitzende der österreichischen Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, Georg Pendl, in seinem Beitrag anläßlich des 40-jährigen Bestehens der Fakultät für Bauingenieurwesen und Architektur an der Universität Innsbruck

in konstruktiv 273/2009, S. 26: Nachdem in den 1960er Jahren „Tirol noch nicht einmal ein Hoffnungsgebiet der Architektur“ gewesen sei, sei die Architektenzahl während des mittlerweile 40 Jahre währenden Bestehens der Architekturfakultät Innsbruck, Tirol und Vorarlberg zusammengenommen, etwa auf das Zehnfache gewachsen, sodaß „heute über 400 Kollegen (...) ein Auskommen“ hätten. 3 PN: Z 444 ff 4 Originaltext des Preises der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs von 1985, deren gerahmte Urkunde im Haus Eugster hängt. (ALE: Z 356 ff)

Angemessenheit des öffentlichen Auftritts

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deren Formbegriff und seine Verankerung im akademischen Kunstkontext charakterisiert. In den drei Jahrzehnten seither hat die soziale Etablierung und zahlenmäßige Verbreitung das moderne Architektenhaus im Bregenzerwald zum dörflichen „Normalfall“ werden lassen, der in den Anfängen noch deutlich spürbare Anspruch einer Ästhetischen Erziehung der dörflichen Gesellschaft ist, folgt man den Selbstinterpretationen der regionalen Architektenschaft, einer „Kultur der Kooperation“ zwischen den am Bau beteiligten Institutionen und Berufsgruppen und einer sozialen Integration gewichen.5 Es darf jedoch bezweifelt werden, daß der Umstand, daß Architektenhäuser in Vorarlberg keine offenen Feindseligkeiten mehr auslösen, tatsächlich darauf hindeutet, daß Architektur in der breiten Bevölkerung mittlerweile als die bessere Alternative erkannt worden ist. Die Forschungsgespräche der vorliegenden Arbeit deuten vielmehr darauf hin, daß die sozialen Konflikte, in denen das Provokationspotential von Architektur als „Argument“ zugunsten des Umbaus der ländlichen Gesellschaft instrumentiert wurde, mittlerweile zugunsten derjenigen sozialen Schicht entschieden werden konnten, deren Repräsentationsrepertoire Architektur angehört und die inzwischen die fraglichen Institutionen auch des ländlichen Raumes dominiert.6 Mir selbst erschloß sich beim Besuch des Eugster-Hauses in Langenegg zunächst nicht einmal ansatzweise dessen revolutionäres Potential, wie es mir Bürgermeister Nußbaumer zuvor eindrücklich geschildert hatte. Das Holz der Fassade ist inzwischen stark gedunkelt, sodaß sich das Rot der Decklatten kaum mehr von deren Grundton abhebt. Von der Straße aus sieht man zunächst die Garage, die frei neben dem Wohnhaus steht und diesem in Fassaden- und Dachausbildung verwandt ist. Neben dem Garagentor stellt eine überdachte Brücke den Zugang zur Haustür her. Ein rautenförmiger Glasausschnitt zeigt Spitzengardinen, die auch die anderen Fenster zieren. Mit einem Druck am Türgriff stehe ich in einem verglasten Windfang, werde von Frau Eugster begrüßt, die Treppe hinuntergeführt, wo der Hausherr wartet. Wir stehen in einer zweigeschoßigen, holzgetäferten Halle, an die sich der Wintergarten anschließt. Sofort beginnt das Ehepaar zu erzählen, wie schlecht dieser funktioniere, im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt für Pflanzen sei und vor allem Arbeit mit Putzen der Glasscheiben verursache. Herr Eugster führt mich ums Haus herum und durch alle Räume, bevor wir 5 Das Selbstverständnis dieser „Kultur der Kooperation“ formuliert aus Architektensicht etwa Wolfgang Ritsch als Vorsitzender des Vorarlberger Architekturinstituts in seinem Beitrag Ganzheitliches Bauen. In: Kapfinger (2003), S. 4 6 Vgl. Kapitel Dorf 7 Sagmeister (1990). In: Kontinuität und Bruch, S. 37, nochmals in Der neue Holzbau, S. 43 8 ALE: Z 706 f

9 Ebd. 10 Peter Greußing bestätigt diese Legitimationsstrategie, speziell im Bregenzerwald, „das ist jetzt ein Gebiet, wo das Giebeldach seine Berechtigung hat, weil alles (...) vom Bauernhaus abstammt“, Flachdachbauten mittels Holzfassade in die von den hölzernen Bauernhäusern dominierte bauliche Umgebung einzufügen, „da stellen eben Baustoffe den Bezug zum Bestand her“. PG: Z 713 ff

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uns im Wohnzimmer zum Gespräch über die bewegte Baugeschichte des Hauses niederlassen. Versehen mit der Bildunterschrift „Der Neubau fügt sich selbstbewußt in das Ensemble bestehender Bregenzerwälder Bauernhöfe ein“, zeigt Sagmeisters Holzbaukunst in Vorarlberg7 ein winterliches Farbfoto des Eugster-Hauses, an dem die frische Holzfarbe darauf schließen läßt, daß es kurz nach Fertigstellung aufgenommen ist. Das Bild ist von der Talseite mit einem starken Teleobjektiv fotografiert, das die umliegenden Bauernhäuser nah an den Neubau heranrückt. Es zeigt einen langgestreckten Baukörper mit eineinhalb Vollgeschossen, denn das obere Geschoß wird bereits vom Dach angeschnitten. Das ziegelgedeckte, flachgeneigte Satteldach, weder durch Gaupen noch durch Dachfenster unterbrochen, sitzt mit deutlichen Überständen an Traufe und Ortgang auf dem Baukörper, auf einer Seite deutlich verlängert, um die giebelseitig angebaute Holzterrasse im Obergeschoß zu überdecken. Die Fassade ist als senkrechter, unbehandelter Bretterschirm mit roten Deckleisten ausgeführt. Nach Süden, an die talseitige Traufseite angebaut, bildet der Wintergarten das markanteste von mehreren angefügten Elementen, an seinem Fassadenanschluß von einem mehrteiligen Fenster mit einem auffälligen Segmentbogenabschluß umrahmt. Daneben zeigt die Südfassade drei weitere hochrechtekkige Fenster mit Quersprosse und einen liegenden Schlitz, das Küchenfenster, einen kleinen vorspringenden Balkon und eine Stahltreppe, die von dieser Seite aus die Terrasse mit dem Garten verbindet. Die der gedeckten Terrasse gegenüberliegende Giebelfassade ist streng symmetrisch auf beiden Geschossen von je zwei hochformatigen Fenstern durchbrochen, ein Motiv, das zusammen mit der flachen Dachneigung eine Erinnerung an klassische Architekturformen wachruft und das Haus stilistisch der in den 1980er Jahren architektonisch dominierenden Postmoderne zuordnet. Arno Eugster begründet seine Wahl, in Holz zu bauen, sowohl als Abgrenzung von den gemauerten „Allgäuerhäusern“ als auch als Wiederaufnahme der abgebrochenen Traditionslinie der Bauernhäuser: „Neue Bauernhäuser hat niemand gebaut.“8 Wenn alte Bauernhäuser modernisiert oder vergrößert worden seien, dann durch Zubau eines „Allgäuerhauses“, eines gemauerten, weiß verputzten Hauses mit Balkon.9 Als erstes neues Holzhaus am Ort appelliert sein eigenes Haus demgegenüber daran, die einheimische Bautradition zu reanimieren. Die Merkmale dieses „neuen Bauernhauses“ in Gestalt eines Wohnhauses sind die Holzfassade in Kombination mit Farbe, der Verzicht auf den repräsentativen Schnitzbalkon der Allgäuerhäuser und die Einfügung des Hauses in das natürliche Gelände. Der Architekt, so berichtet das Ehepaar Eugster, argumentierte zugunsten einer Verwendung des Holzes aus dem Wald der Bauherrenfamilie ebenfalls mit den Holzkonstruktionen der umliegenden Bauernhäuser.10 Über die Brücke des Materials waren aus seiner

Das Bauernhaus als Wahrnehmungsreferenz

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Sicht sowohl eine Identifikation mit dem Haus seitens der Bauherren als auch eine Bindung an die lokale Bautradition herstellbar.

Das Architektenhaus als „Stadel“

Auch dem sozialen Umfeld der Bauherren dienen die traditionellen Bauernhäuser als primäre Referenz der Wahrnehmung. Dies wurde bereits für die rustikalen Landhäuser dokumentiert, deren weiß geputztes Mauerwerk den sozialen Aufstieg ihrer Bauherren gegenüber der in den hölzernen Bauernhäusern verkörperten Lebensform demonstriert. Ebenso gilt es für die Bewertung der modernen Architektenhäuser und deren Anspruch, die Bautradition der Bauernhäuser fortzusetzen. Die kritische Prüfung dieses Anspruchs seitens der Dorfbevölkerung ist in Form von Kommentaren erzählerisch überliefert. Ihre Beurteilung sieht von allen Abstraktionen akademisch geprägten Denkens ab, wie sie Bauherr und Architekt selbstverständlich pflegen, um das konkret Sichtbare am wahrgenommenen Neuen in Kategorien der eigenen Erfahrung einzuordnen, Kategorien, die im vorliegenden Fall aus einer genauen Kenntnis der substantiellen Beschaffenheit der lokalen Bauernhäuser und ihrer traditionellen Bauweise hervorgegangen sind. Aus dieser Warte, die sich allein auf das Sichtbare stützt, erscheint das Architektenhaus, der Skelettbau seiner Wände ebenso wie der Bretterschirm der Fassade, als minderwertige Bauweise. Der holzsparende Ständerbau war traditionell den Feldstadeln und dem Wirtschaftsteil des Bregenzerwälder Bauernhauses vorbehalten, während dessen „gestrickten“ Wohnteil sowohl die hochwertigere Konstruktion als auch die hochwertigere, die geschindelte, Fassade auszeichnete. In einem solchen Vergleich mit dem traditionellen Bauernhaus also erscheint die Errichtung eines Wohnhauses im Ständerbau als Abstieg vom Haus zum Stadel, der in etwa bedeutet, sein Bett im Heu aufzuschlagen. Daß einer nicht mehr baut als ein Bauernhaus, sondern weniger, dafür hatte Arno Eugsters Nachbarschaft nur Spott übrig. Als die Balken gestanden sind, haben viele Leute gesagt, „der baut ja nur einen Stadel, kann man da im Winter überhaupt wohnen? Da kann man doch gar nicht wohnen.“11

Eine solche Reaktion der Dorfbevölkerung ist kein Einzelfall. Wolfgang Schmidinger überliefert für die abgemagerten, weil statisch optimierten Holzskelette, als die die Rohbauten der ersten modernen Architektenhäuser in der Landschaft standen, die landläufige Bezeichnung „Zahnstocherhäuser (...), daß man irgendwie dachte, hoffentlich hält das überhaupt“12, eine Einschätzung, die die Landbevölkerung in der Überzeugung einte, „das sind keine Häuser“13. Wie das Haus des Ehepaars Eugster mit einem Bretterschirm verkleidet, wird auch das Holzhaus Ernst Wirthensohns von der Bewohnerschaft seines Dorfes, Thal bei Sulzberg, mit Geringschätzung quittiert: Manche empfinden es als Stadel. (...) Also, es fängt einmal schon so an, daß nur noch Stadelbauten so geschirmt werden. Also, verputzt ist repräsentativ. Dann, daß es nicht gemalt ist. Daß man es vergrauen läßt. Das ist wieder ein Zeichen der Städel.14

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Die Einschätzung der Langenegger Nachbarschaft des Ehepaars Eugster, ebenso wie jener Thaler Dorfbewohner, die das Holzhaus der Wirthensohns als „Stadel“ bezeichnen, läßt einen Rückschluß auf jene zu, die diese Einschätzung äußern.15 Ernst Wirthensohn zufolge suchen die Wünsche der Dorfbewohner, die ohne Architekt bauen, vor allem die Repräsentativität der Massivbauweise in Kombination mit ungewöhnlichen Fenster- und Baukörperformen und aufwendigem Dach, das sich durch „möglichst viele Giebel“16 auszeichnet. Die Vermutung, die die Attribute der „Landhäuser“ zunächst nahelegt, ihre Bewohner würden traditionelle Häuser bevorzugen, läßt sich nach deren Einschätzung der Architektenhäuser nicht mehr aufrechterhalten. Offenbar wird statt dessen erstrebt, eine Verbesserung gegenüber dem Traditionellen zu erzielen. Es ist anzunehmen, daß jene soziale Schicht, die im Baumeister oder Zimmermann den Fachmann für den Hausbau einschließlich seines Entwurfs findet, mit dem Traditionellen noch die präsente Erinnerung an die Ärmlichkeit des bäuerlichen Lebens und die Härte seiner Arbeitsbedingungen verknüpft. Hier ist das Bauernhaus, und umsomehr das in den Architektenhäusern identifizierte Bild des „Stadels“, eindeutig als zu Überwindendes und nicht als Erstrebenswertes besetzt. Ernst Wirthensohn, befragt, was denn gegenüber den Architektenhäusern die „Formvorstellung“ der bauenden Handwerker sei, lenkt mit seiner Antwort weg von den oberflächenfixierten Formkategorien der Architektenhäuser. Ein Wohnhaus? (...) Halt ein vereinfachtes, modernisiertes, angeblich herpassendes Haus. Aber, da wirds wirklich schwierig. Also, ich glaube, daß die Vorstellungen da ziemlich vage sind.17

Das „modernisierte, angeblich herpassende“ Haus ist das komfortable, den technischen Möglichkeiten und räumlichen Ansprüchen der Zeit entsprechende Haus. Sein „Hausgesicht“ spiegelt selbstverständlich die gelebte Kultur seiner Erbauer. Architektur setzt demgegenüber die Anerkennung von Kunst und aus dieser insbesondere diejenige der Form als ebenso notwendigen Lebensbestandteil voraus wie die Technik. Die Atmosphäre und die Bekleidung als ebenso notwendig wie die Wärmequelle, den Regenschutz, die Öffnung für das Tageslicht. Gerade jedoch diese voneinander abweichenden Definitionen des Notwendigen und Schönen offenbaren den sozial klassifizierenden Effekt von Kultur aufgrund ihrer Wurzeln in Bildung und Herkunft.18 Bauen verschafft diesen Unterschieden jene Öffentlichkeit, die sie zum Herd sozialer Konflikte werden lassen.19 11 ALE: Z 555 ff 12 WS 1: Z 582 ff 13 WS 1: Z 330 14 EW 1: Z 679 ff 15 „Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede,

die sie zwischen schön und häßlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrrät.“ Bourdieu (1987), S. 25 16 EW 1: Z 683 ff 17 EW 1: Z 607 ff 18 Vgl. Bourdieu (1970)

Handwerkerhaus

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Aus den Erzählungen der Bauherren geht hervor, daß die Geringschätzung, mit der die neuen Architektenhäuser noch quittiert wurden, solange lediglich ihre Rohbauskelette zahnstocherdünn in der Landschaft standen, bald wütender Ablehnung wich, sobald mit den Fassaden die neuen „Hausgesichter“ erkennbar wurden. Wolfgang Schmidinger, der hier mit seinem Tischlereiumbau in Schwarzenberg und dem benachbarten Neubau seines Wohnhauses die Pionierphase der modernen Architektur für den Innerbregenzerwald vertritt, interpretiert mit seiner Feststellung, daß nächtens der verglaste First seines Hauses zwar kein Licht mehr einlasse, wohl aber durch diesen Dachschlitz Licht nach außen dringe, sein Haus als Laterne.20 Verbunden mit dem Hinweis, daß sein Haus diejenige erste Generation der modernen Bregenzerwälder Architektenhäuser repräsentiert, die erstmals „andersartige“ Fensterformen hatten, „Bullaugen“21, „eigenwillige Glasstreifen“22, „die ersten Schlitze“23, kann das Entsetzen imaginiert werden, das die Grimassen, die diese neuen Fassaden nicht nur bei Tage schnitten, sondern auch nachts, zähnefletschenden Halloweenkürbissen gleich, in der Landbevölkerung auslösen. Anders als jene Spukgestalten verschwinden die neuen Architektenhäuser nicht einfach wieder, sondern beanspruchen, als dauerhafter Bestandteil der allen gemeinsamen Kulturlandschaft auch, diese mitzuprägen. In den langwierigen Auseinandersetzungen um sein Haus in Langenegg, das Arno Eugster zufolge „sowieso schon spektakulär war und es lange gedauert hat, bis wir es ohne Änderungen bauen konnten, da waren alle schon am Limit im Bauausschuß, wirklich am Limit“24, löst das Finish, das der Bauherr eigenhändig seiner Hausfassade verleiht, indem er den Deckleisten des Bretterschirms einen roten Anstrich gibt, die endgültige Eskalation des Streits um die Baugenehmigung aus. Dieser Farbanstrich spielt in allen Erzählungen über die dramatischen Vorgänge, die den Bau des Hauses begleitet haben, die Hauptrolle. Angesichts des heute gedunkelten Zustands der Fassade ist das Provozierende dieser Maßnahme nicht mehr unmittelbar nachzuvollziehen. Erschwerend kommt hinzu, daß der Bauherr zu ihrer Begründung zunächst mit der Wiederaufnahme einer lokalen Tradition argumentiert, indem er sich auf die farbigen Fensterläden der Bauernhäuser bezieht. Also, wir haben keine Läden. Alle Bauernhäuser haben Läden, das da drüben hat grüne, das andere hat blaue, das andere hat rote (...). Also haben wir gedacht, machen wir die Deckleisten rot.25

19 Alain de Botton dokumentiert die Rolle ästhetischer Beheimatung, wie sie sich einerseits aus der Warte ihrer Anbieter, andererseits aus jener der Betroffenen darstellt, am Beispiel der ästhetischen Aneignung von LeCorbusiers Arbeiterhäusern im französischen Pessac durch ihre Bewohner (Botton, S. 164 ff). Anita Aigner stellt die Rückeroberung der Originalgestalt jener Architekturikonen, wie sie die staat-

liche Denkmalbehörde intendiert, in den Kontext gesellschaftlicher Einflußsphären. (Vortrag Vernacularization and back. Appropriation and Preservation of Modernist Social Housing – Case Study Pessac. Tagung „Alltagsarchitektur“ am 13. 05. 2011 TU Wien) 20 WS 1: Z 15 21 WS 1: Z 240 22 WS 1: Z 346

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Leopoldine Eugster ist es, die im Gesprächsverlauf die provokante Erscheinung des Hauses kurz nach seiner Fertigstellung erwähnt. Es war natürlich viel auffälliger, als es jetzt ist. Jetzt ist es ja abgewittert. (...) Es war eben ein kräftiges Rot. Und dadurch, daß die Latten eng aneinander sind, hat man, wenn man schräg hineinschaut, nur rot gesehen.26

Der von ihr beschriebene Eindruck prägt offensichtlich auch Bürgermeister Nußbaumers Erinnerung, wenn er vom „roten Holzschirm“27 des Hauses erzählt. Sein Gemeindesekretär insistiert zwar sofort, „nur die Decklatten (...), die schmalen, hat er rot, also in roter Farbe...“, wie auch Herr Eugster seiner Frau gleich ins Wort gefallen war, „aber ein Haus schaut man gerade an, und nicht aus einem bestimmten Winkel“28, doch ist davon auszugehen, daß die Langenegger Bevölkerung und ihr Bauausschuß mit einem „roten Haus“ inmitten des Dorfes konfrontiert gewesen ist. Farbe taucht in Eingabeplänen nicht auf, sie dienen primär der Prüfung technischer Aspekte eines Hausentwurfs, seine Erschließung, den Brandschutz und die Statik betreffend, und erst nachgeordnet dessen formaler Beurteilung.29 Individualisierung durch Farbe war demnach für die „jungen Wilden“ der frühen 1980er Jahre, zu denen Bürgermeister Nußbaumer Eugsters Architekt zählt30, ein probates Mittel, die genehmigungsrechtlichen Möglichkeiten der Baubehörden, auf die Gestaltung eines neuen Hauses Einfluß zu nehmen, zu unterlaufen. Wenige Jahre zuvor hatte die Cooperative ihr Erstlingswerk, die Siedlung Im Fang in Höchst31, in einem ebenfalls strittigen Baugenehmigungsverfahren bereits mit einem nachträglich rot gestrichenen Eternitdach der behördlichen Kritik entzogen und es mit dieser bewußten Verhäßlichung32 – Norbert Mittersteiner:„Das war natürlich wahnsinnig grausig“33 – gleichzeitig höchst wirkungsvoll in einem „antibürgerlichen“ Kunstkontext in Szene gesetzt.34 Bereits Bürgermeister Nußbaumers Bemerkung, „das Land war sehr konservativ“35, hatte darauf schließen lassen, daß der Hausstreit keine reine Ästhetikdebatte dargestellt, sondern eine politische Dimension enthalten hatte, daß Rot also im Langenegger Fall auch als politisch besetzte Signalfarbe gedeutet werden darf. Dabei ist nicht anzunehmen, daß das Rot eine Solidarisierung der akademisch sozialisierten Bauherren mit den Nöten eines 23 WS 1: Z 336 24 ALE: Z 213 ff 25 ALE: Z 229 ff Am Ort gibt es neben den farbigen Fensterläden der Bauernhäuser eine weitere Referenz für traditionellen Einsatz von Farbe, ein historisches, denkmalgeschütztes Haus an der Hauptstraße, das durch seinen roten Fassadenanstrich auffällt. Eugster datiert dessen Restaurierung lang nach dem Bau des eigenen Hauses. „Ja, das ist viel später gemacht worden. (...) Das ist Stierblut.“ (ALE: Z 243 ff) 26 ALE: Z 261 ff 27 PN: Z 440 28 ALE: Z 267 ff

29 „Also, es war in der Baubeschreibung nicht drin. Nicht rot gezeichnet.“ ALE: Z 269 ff 30 PN: Z 435 31 Die Siedlung Im Fang in Höchst wurde 1978–79 von ihren Planern und deren Lebensgefährten mit großem Selbstbauanteil errichtet, vgl. das Gespräch mit Ehepaar Mittersteiner. 32 Zum Häßlichen als ästhetischer Strategie der Kunst vgl. u.a. Klemm (2006) 33 RNM: Z 1010 f 34 Norbert Mittersteiner führt Friedrich Achleitners Bestätigung des baukulturellen Werts der Siedlung als ausschlaggebend für den Erfolg im Genehmigungsverfahren an. RNM: Z 838 ff

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Farbe als antikonservatives Signal

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Proletariats signalisiert, sondern daß gegenüber demselben Gegner wie jenem der Arbeiterbewegung, dem ländlich-konservativen, bäuerlich und kirchlich dominierten Milieu, Stellung bezogen wird.36 Arno Eugsters Charakterisierung der baulichen Umgebung, in die er sein rotes Haus setzt, läßt die Farblosigkeit der Allgäuerhäuser als Stellvertreter einer überlebten Weltanschauung erscheinen. „Weil alle außen Mauern gehabt haben, und mit einem Weißputz verputzt. Es hat auch niemanden gegeben, der einen rosaroten Putz oder einen gelben Putz verwendet hätte. Oder einen grauen.“37 Den deutlichsten Hinweis darauf, daß ebendiese als Unbeweglichkeit erlebte Haltung durch das „Farbe ins Spiel bringen“38 aufzubrechen war, daß also Farbe bereits per se als antikonservatives Signal gelten darf, gibt Dieter Macek in einem Podiumsgespräch, das die Vorgänge rund um die Wäldertage der 1970er Jahre in Erinnerung ruft.39 Die Wäldertage und ihre Rolle, für den Bregenzerwald erstmals ein Forum für Kritik an den etablierten Werten der ländlichen Gesellschaft zu bieten, werden weiter unten in diesem Abschnitt nochmals zur Sprache kommen. Hier soll jedoch erwähnt werden, daß Macek, Egger Bahnhofsvorstand und zentraler Aktivist dieser Veranstaltungsreihe, durch seine betont bunt zusammengewürfelte Alltagskleidung eine ebenso ausdrücklich antikonventionelle Rolle eingenommen hatte wie Arno Eugster mit dem roten Fassadenanstrich seines Hauses. Maceks Erzählung ist zu entnehmen, daß einem bestimmten Einsatz von Farbe wenigstens ein Jahrzehnt vor dem Bau des Eugster-Hauses bereits seine provokante Konnotation gegenüber der etablierten konservativen Gesellschaftsschicht des Bregenzerwaldes verliehen worden war. Im Rückgriff auf die lokale Farbtradition, die farbigen Fensterläden der Bauernhäuser, bleibt zu fragen, was genau die provokante Wirkung ausgelöst hat, anders formuliert, welcher Einsatz von Farbe als Traditionselement, welcher als Provokationssignal funktioniert. Der Wunsch nach Schmuck verbindet Eugsters Farbeinsatz mit den gleichzeitig gebauten rustikalen Häusern und ihren Schnitzereien am Balkongeländer. Im Gegensatz zu diesen, die ihr Vorbild aus der lokalen Bautradition lediglich üppiger wiedergeben, tritt Farbe am Ort in dieser Verwendungsform nicht auf. Als Abstraktion einer lokalen Tradition werden statt dessen die mehrfarbigen Bretterschirme von Holzhäusern aus anderen Kulturkreisen, etwa den Holzbautraditionen Skandinaviens und Osteuropas, auch vorstädtischen ländlichen Villen der Jahrhundertwende, die im Wiener Umland und in Fremdenverkehrsorten Innerösterreichs zu finden sind, als Referenzen ins ländliche Vorarlberg importiert.40 Entscheidend für die Wahrnehmung durch das soziale Umfeld ist die Flächigkeit der Farbwirkung gegenüber dem üblichen punktuellen Farbeinsatz, wie er von den Fensterläden der Bauernhäuser an den ansonsten unfarbigen, durch den natürlichen Holzton ihrer Schindelpanzer geprägten Fassaden vertraut ist. Doch auch das flächige Rot könnte auf ein traditionelles Motiv bezogen werden, den Ochsenblutanstrich derjenigen Fassaden, die im

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neunzehnten Jahrhundert keinen Schindelpanzer erhalten hatten41 und deren gestrickten Außenwänden der rostrote Anstrich einen Witterungsschutz bot.42 Als Auslöser der Provokation bleibt demnach lediglich die neue, verfremdende Zusammensetzung bekannt erscheinender Elemente, die Collage als Gestaltungsprinzip, das vor allem demjenigen vertraut ist, dem auch ein Denken und Identitätskonstruktionen, die auf punktuellem Verankern in verschiedenartigen, teils fernliegenden Feldern beruhen, die erst durch Bildung zugänglich und verknüpfbar werden, vertraut ist. Bourdieu sieht gerade im Motiv des Spielerischen, der assoziativen Sprünge, der Zitate und dem Prinzip der Abstraktion dasjenige kulturelle Signal, welches sein Gegenüber, dem die Referenzen zum Lesen der gewählten Formensprache unvertraut und unzugänglich sind, als ungebildet bloßstellt und damit sozial ausschließt.43 Arno Eugster bestätigt diese Auslegung in seiner Beantwortung der Frage, warum gerade den modernen Architektenhäusern, und nicht etwa den „Tirolerhäusern“ als den anderen Exoten im ländlichen Vorarlberg jener Zeit, solcher Widerstand entgegenschlägt. Es ist ihr Impetus, „besser“ zu sein als ihre Umgebung. Ich würde sagen, der wichtigste Grund war eigentlich der Neid. Neid worauf? Daß jemand ein anderes Haus hat als alle anderen. Das besser ins Grüne paßt, und man (ins Grüne) auch wirklich einen direkten Zugang hat. Und das mit einfachen Mitteln, wir sind keine Millionäre. Daß man mit genau gleichviel Geld auch ein ganz anderes Haus bauen kann. Das funktional wirklich ins Gelände paßt.44

Mit dem modernen Architektenhaus wird eine neue Qualität ins Dorf eingeschleppt, die das bisher Genügende schlagartig als Minderwertiges „entlarvt“. Das Haus verkörpert gerade durch seine demonstrative Bescheidenheit45, die vor allem mit der Wahl des Holzbaus den baulichen Fortschritt der umgebenden gemauerten Neubauten wieder rückgängig macht, jene 35 PN: Z 460 36 Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Vorarlberg vgl. Greussing (1984) 37 ALE: Z 781 ff 38 Ebd. 39 Eigene Aufzeichnungen zur Podiumsveranstaltung am 27. 04.2007 im Domizil in Egg. 40 „Architekten und Baumeister reagierten auf die Nachfrage mit einem Laubsägestil, der sich vom Semmering bis St. Moritz mit Elan an die Ausbeutung bäuerlicher Motive machte, wobei der Gesichtskreis bis England und in die Türkei erweitert wurde.“ Achleitner erwähnt in seinem Aufsatz Über das Verhältnis von Bauen und Landschaft, aus dem hier zitiert ist, nicht die dazugehörige kräftige Farbigkeit. In: Achleitner (1977), S. 64 41 Peer (2006) weist darauf hin, daß erst die Verfügbarkeit industriell produzierter Nägel im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts die Voraussetzung für die

Verkleidung der Strickbaufassaden mit Holzschindeln geboten hatte. 42 Zum Ochsenblutanstrich vgl. Peer, ebd. 43 „Tatsächlich scheint alles dafür zu sprechen, daß die ,populäre Ästhetik‘ (...) auf dem Postulat eines bruchlosen Zusammenhangs von Kunst und Leben gründet, (...) gegen jede Art formalen Experimentierens und gegen alle Effekte, die dadurch, daß sie gegenüber den einschlägigen Konventionen (...) eine Distanz einführen, auch zum [Betrachter, orig. ,Zuschauer oder Leser‘] auf Distanz gehen...“ Bourdieu (1987), S. 23 44 ALE: Z 538 ff 45 Auch Ernst Wirthensohn zeigt eine solche betont bescheidene Haltung in der Beantwortung meiner Frage nach seinem Wunsch an den Architekten, die erst in der Zusammenschau mit der erzielten Wirkung den dahinterstehenden Erziehungsimpetus sichtbar werden läßt. (EW 1: Z 693)

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höhere Ebene von Ansprüchen, die seine Bewohner gegenüber ihrer Umgebung in eine erzieherische Position setzen. Eugster verwendet zur Charakterisierung dieser Haltung den Begriff des „Anderen“, der bereits Adolf Loos als Titel seiner eigenen Zeitschrift gedient hatte, eines Organs, das mittels polemischer Traktate die Kultur seiner Wiener Umgebung als rückständig gegeißelt und die „Einführung der abendländischen Kultur in Österreich“ gefordert hatte.46 Provokation durch Einbeziehung eines Architekten

Doch lange vor dem abschließenden Fassadenanstrich hatten die Bauherren eine Übertretung begangen, in der Arno Eugster die eigentliche Wurzel des Widerstands gegen das Haus identifiziert. AE Daß überhaupt ein Architekt beteiligt war. LE Es gab ja in Langenegg keinen. AE Daß überhaupt ein Architekt beteiligt war!47

Während seine Frau die Hinzuziehung eines Architekten eher als Notwendigkeit aufgrund eines fachlichen Mangels vor Ort darstellt, betont Arno Eugster die soziale Konfrontation dieses Akts. Dort, wo kein Architekt erwünscht ist, weil lokale Zuständigkeiten existieren, taucht erstmals ein solcher auf. Wo man bisher alles unter sich regelte, indem „der Gemeindesekretär (...) alle Pläne gezeichnet hat“48, führt plötzlich ein Bauherr aus der Mitte der Dorfgesellschaft den Blickwinkel von außen ein. Die bis dahin praktizierte Autarkie und Selbstzufriedenheit ist damit exponiert, die eingespielten Verfahren sind auf eine Bühne gezerrt, die sie Vergleich und externem Urteil aussetzt. Erst im Zusammenwirken mit der formalen Abweichung, die der Hausentwurf darstellt, erhält die Verfahrensabweichung, „einen Architekten zu nehmen“, Dauerhaftigkeit. „Den damaligen Konflikt gibts immer noch, zwischen dem damaligen Bauausschuß, und diesem Bauherrn“49, kennzeichnet Bürgermeister Nußbaumer die mittlerweile drei Jahrzehnte währende Auseinandersetzung. Obwohl als Lehrer am Ort angesehen, erstrecken sich die Sanktionen der Dorfbevölkerung sogar auf Arno Eugsters Vater: Leute, mit denen mein Vater zum Beispiel ziemlich gut ausgekommen ist, die haben nicht mehr geredet mit ihm. Nie mehr. (...) Er war vierzig Jahre lang Lehrer in Langenegg. Der Bauausschuß und die Gemeindevertreter sind alle bei ihm in die Schule gegangen. Sie haben nicht mehr mit ihm geredet.50 Konvention und Abweichung

Was aber bedeutet der Umstand, daß die Dorfgemeinschaft mit faktischem Ausschluß reagiert, für die Bedeutung eines Hausbaus innerhalb des Dorfes? Zunächst, daß das einzelne Haus immer auch das Dorf und den herrschenden sozialen Konsens repräsentiert, in dem jeder Einzelne für die Gemeinschaft steht. Der Abweichler begibt sich zwangsläufig der sozialen Unterstützung. Solidarität der Dorfgemeinschaft ist nur unter der Bedingung der Anerkennung ihrer Konventionen zu erwarten. Indem der Konventionsbruch in Form eines Hausbaus geschieht, setzt der Konventionsbrecher den Maßnahmen des Ausschlusses seinen Widerstand durch Beharren am und im Ort entgegen. Er zwingt sein Umfeld, mit der Abweichung zu leben, fordert Toleranz, Akzeptanz des Abweichenden

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neben dem Konsens oder Assimilation, Aufnahme des Abweichenden in den Konsens durch Erweiterung desselben.51 In Erzählungen stößt man jedoch auch auf solche Fälle, in denen eine solche Herausforderung der Dorfgemeinschaft mit dem Anzünden des „abweichenden“ Hauses im Bauzustand quittiert worden ist.52 Im Vergleich zu den lebenslangen Folgen für die Bauherrenfamilie ist der Architekt von dieser sozialen Auseinandersetzung, in der sein Entwurf als Streitgegenstand die Rolle des Mediums einnimmt, wenig betroffen. Standesintern steigt sein Prestige sogar durch solche Auseinandersetzungen, die ihn als kompromißlosen Kämpfer für „die Sache der Architektur“ ausweisen.53 Die Pose des Revolutionärs, die Arno Eugster gegenüber seinem Umfeld einnimmt, hält er auch nach Jahren noch aufrecht. Die Pose ist nicht nur durch den Architektenentwurf zugewiesen, sondern auch angenommen und durch ihn als Akteur bestätigt. Das Haus hat ihm eine exponierte soziale Rolle verschafft, die er gerne beibehält. LE Aber ich kann mich doch erinnern, der Bürgermeister war doch da, der alte, und da haben wir versprechen müssen, daß wir die Latten, wenn wir die erneuern, daß die nicht mehr rot gemalt werden. Das hast Du doch versprechen müssen. AE Ja, aber ich habe sie inzwischen schon einmal nachgemalt.54

Auch andere Gespräche mit Bauherren weisen darauf hin, daß vor allem sie und nicht der Architekt 55 es sind, die das Provokationspotential von Architektur gezielt einsetzen. So erwähnt Wolfgang Schmidinger „ein paar offene Jugendgeschichten, wo es darum geht, zu sagen, ich steig jetzt grad aus Provokation auch auf diese Dinge ein.“ 56 Andere Bauherren vermeiden ebenso bewußt solche Auseinandersetzungen, wie Jürgen Sutterlüty, in dessen Architektureinsatz die Akzeptanz seiner Supermarktbauten aus Kundensicht im Vordergrund steht.57 46 Dem Herausgeber von Loos’ nachgelassenen Schriften, Franz Glück zufolge, erschienen von das andere lediglich zwei Ausgaben. Loos, S. 465 47 ALE: Z 195 ff 48 ALE: Z 185 ff 49 PN: Z 504 ff 50 ALE: Z 518 ff 51 LE: Er empfindet es natürlich viel ärger als ich, weil er ist Langenegger. Ich bin keine Langeneggerin und für mich war das nicht so schlimm. AE: Du hast einfach die Leute nicht so gekannt. Was zum Beispiel der Bürgermeister gesagt hat, der jetzige. (ALE: Z 563 ff) Frau Eugster, die aus dem Nachbarort Doren stammt, ist von den Anfeindungen wesentlich weniger betroffen als ihr Ehemann, der im Ort aufgewachsen ist, dem die Nachbarn gleichzeitig die Kindheitsfreunde sind. Dieses Prinzip der räumlichen Nähe, die erst das eigene Handeln zum sozialen Handeln macht, zum Verhalten also, das das Beobachtetwerden einbezieht, indem es die soziale Wirkung des eigenen Verhaltens mitkalkuliert, gilt auch in umgekehrter

Richtung. Das Beharren auf den roten Deckleisten als Auflehnungsgeste funktioniert nur in einem Umfeld, das die Auflehnung entsprechend „quittiert“. 52 Notiz zum Gespräch mit D., ein Wäger-Haus in Lustenau betreffend. 53 Georg Pendl (vgl. Anm. 2) formuliert diese Haltung als kulturelle Verantwortung des Architektenstandes gegenüber der Gesellschaft: „Nicht alles zu machen, was verlangt wird oder Geld bringt, sondern eben etwas tun, was vertreten werden kann, wohinter Frau und Mann stehen können. Dadurch entsteht wohl doch etwas wie ein kultureller Druck auf die Gesellschaft insgesamt und auf die Bauherrschaft, die Politik, die Beamtenschaft, Entscheidungsträger und Investoren oder wie sie alle heißen mögen im Besonderen. Dieser kulturelle Druck führt letztlich zu einer Veränderung der kulturellen Landschaft.“ 54 ALE: Z 591 ff 55 ...wie die Fachliteratur mit ihrer Fixierung auf die Person des Architekten suggeriert... 56 WS 1: Z 326 ff

Das Haus verleiht dem Bauherrn die Rolle eines Revolutionärs

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Es gibt damit ebensoviele Motive zu solcher Provokation wie Bauherrenbiographien, was die Möglichkeiten, allgemeingültige Aussagen daraus abzuleiten, zunächst verstellt. Erst die räumliche Zusammenschau und die Feststellung einer zeitlichen Übereinstimmung der individuellen Profilierungen lassen aus den Einzelereignissen eine „Bewegung“58, eine soziale Zeiterscheinung am besonderen Ort werden und erlauben, Zeitgenössische Architektur als Mittel wahrzunehmen, solche Profilierungen zu befördern. Reaktionsfeld Familie

Sowohl bei Eugsters als auch bei Wolfgang Schmidinger bietet neben dem weiteren sozialen Umfeld der Nachbarschaft und des Dorfes die eigene Familie das unmittelbare Reaktionsfeld für den Konflikt. Bei Eugsters bewirkt der Konflikt um das Haus ein spürbares Zusammenrücken der Familie. Konkret wird von einer Festigung der Beziehung des Sohnes zu seinem Vater durch dessen Solidarisierung berichtet, als der Sohn mit der Dorfgemeinschaft in Konflikt gerät, sowie von einem Geltendmachen des väterlichen Einflusses im Gemeinderat. Der Schwiegervater wird durch die Wertschätzung einbezogen, die seine Holzspende und seine Kenntnisse in deren Verarbeitung beim Bau des Hauses erfahren. Schmidinger hingegen nutzt seine Baumaßnahme für eine Emanzipation innerhalb der Famile. Für ihn sind die sozialen Vorgänge der 1980er Jahre, die sich am Auftauchen der ersten Architektenhäuser kristallisieren, als Anlaß willkommen, einen Generationenkonflikt auszutragen. Der Dachgeschoßausbau im Elternhaus bietet Wolfgang Schmidinger die Chance, innerhalb der Großfamilie, die in dem Haus, das auch die Tischlerei beherbergt, zusammenlebt und arbeitet, für sich einen abgrenzbaren Raum zu gewinnen.59 Die Umsetzung erfolgt schrittweise über sechs Jahre hinweg und verleiht seiner Persönlichkeitsprofilierung innerhalb des Familienverbandes sichtbaren Ausdruck. Sein erster Schritt, der Bau eines Lifts, schafft eine direkte Verbindung vom Erdgeschoß ins Dach. Entscheidend scheint hierbei, auf dem Weg in sein zukünftiges Büro nicht jedesmal die Wohnungen von Onkel und Eltern durchqueren zu müssen. Zusätzlich zementiert die Besetzung des vorhandenen Transportschachts durch den Lift den persönlichen Anspruch auf den Dachraum, indem sie jede Wiederaufnahme der ehemaligen Holztrocknung dort blockiert. Nachdruck und inhaltliche Kontur gibt Schmidinger seiner in57 JS: Z 360 ff, vgl. auch Abschnitt Architektur als Kunst im Kapitel Architektur? 58 „Nicht zuletzt wird dabei sichtbar, wie derartige Ausstellungen [ Konstruktive Provokation im Bregenzer Kunsthaus] selber zur Genese und Konsolidierung solcher ,Baukulturen‘ beitragen. Im Medium der Ausstellung versammelt sich, was eigentlich nur als Nebeneinander disparater Kräfte und Gruppierungen einst wirksam war. Das Unterfangen dieser Ausstellung, neues Bauen im Vorarlberg vorzuführen, ist in-

sofern architekturpolitischer Natur – es macht aus dem Sammelsurium nunmehr ein ,Netzwerk‘ zusammengehörender Akteure. Treffend spricht Otto Kapfinger in der zur Ausstellung erschienenen Broschüre von der ,Entstehung und Wirkung einer Schule, die nie eine war‘. Das Postulat einer herrschenden ,Baukultur‘ ist insofern immer auch (architektonische) Selbst-Behauptung innerhalb eines heterogenen gesellschaftlichen Umfelds.“ Roesler, S. 70 59 WS 1: Z 203 ff

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nerfamiliären Emanzipation, indem er sich mit derjenigen Bauherrenfraktion solidarisiert, von deren Existenz bereits das Ehepaar Eugster berichtet hatte: einer über die Dörfer des Bregenzerwaldes verstreuten Interessensgemeinschaft. AE Die anderen Bürgermeister im Bregenzerwald haben sich zusammengetan und überlegt, wie sie so etwas in ihren Gemeinden verhindern können. Und andere Leute, die bauen wollten, sind zu uns gekommen und haben gefragt: „wie habt ihr das gemacht, daß das durchgegangen ist?“ LE Ja, es sind viele jüngere Leute gekommen, die ähnlich bauen wollten, zum Anschauen. AE Und haben gefragt: „Wie geht das, daß man so etwas durchbringt?“ Also, es hat unheimlich Aufruhr erregt in der ganzen Region, das stimmt.60

In dem „Aufruhr“, den die Vorgänge um das Eugster-Haus in der Region auslösen, kristallisieren sich zwei Gruppen mit gegensätzlichem Interesse heraus. Die Bürgermeister als lokale Baubehörde solidarisieren sich, um Strategien zu entwickeln, vergleichbare Abweichungen in ihrem Einflußbereich zu verhindern, vor allem, um die sichtbar gewordenen Lücken im baurechtlichen Instrumentarium zu schließen. Arno Eugster berichtet etwa von gerichtlich vereidigten Sachverständigen als neuen Spezialisten im baurechtlichen Verfahren61, Bürgermeister Nußbaumer von der Bestellung eines Gestaltungsbeirats für den Bauausschuß.62 Die andere Gruppe sind Bauwillige. Diese interessieren sich für Strategien der Subversion, dafür, wie man es anstellt, ein „anderes“ Haus genehmigen zu lassen. Leopoldine Eugsters Wahrnehmung der Ereignisse konzentriert sich nicht auf den Konflikt, sondern auf das Entstehen einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Die Interessierten sind „junge Leute“ wie sie selbst, mit ähnlichen Interessen. Vergleichbar ihrer eigenen Situation auf der Suche nach Vorbildern für das Wohnen kommen diese „zum Anschauen“. Arno Eugster ergänzt die Erzählung seiner Frau sogleich wieder um den Konfliktaspekt. Für ihn ist die Wirkung ihres Hauses in der Region vor allem „Aufruhr“. Seine eigene Rolle, aus dieser Wahrnehmung abgeleitet, ist die eines Auslösers, wenn nicht Anführers des Aufruhrs63, die exponierte Rolle eines Einzelkämpfers gegen die soziale Norm: „Und wenn ich nicht so stur wäre, wären die jetzt hier nicht rot.“64

Genese der „Bewegung“

Bereits Arno Eugsters Selbsteinschätzung, mit dem Bau seines Hauses in gewisser Weise die Bautradition der regionalen Bauernhäuser reanimiert zu haben, deutet darauf hin, daß der Aufruhr in der Region nicht einfach als Widerstand einer konservativen Landbevölkerung gegen „moderne“ Einflüsse zu interpretieren ist. Auch Wolfgang Schmidingers Erzählung läßt eine Schizophrenie zwischen den Kategorien des Neuen und des Revolutionären

Neues Bauen als konservative Revolution

60 ALE: Z 599 ff 61 ALE: Z 311 ff 62 PN: Z 459 ff, ausführlich im Kapitel Dorf 63 Vgl. die Ausdrücklichkeit, mit der Arno Eugster feststellt, daß ihr Haus tatsächlich das erste seiner

Art in der Region war. (ALE: Z 50 ff) 64 ALE: Z 626 ff; Bürgermeister Nußbaumer bestätigt diese Interpretation von Arno Eugsters Selbstwahrnehmung: „Das ist heute noch eine Genugtuung für ihn.“ (PN: Z 504 ff)

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erkennen. Seine Darstellung einer Podiumsdiskussion in Bezau anläßlich der ersten modernen Häuser im Umfeld stellt ihren Architekten, den Schmidinger im Anschluß selbst beauftragt hatte, in den Brennpunkt öffentlicher Kritik. Das war, glaub ich, zu der Zeit grad der Friseur in Bezau, (...) und was ich nicht ganz sicher weiß, ob der Gemeindesaal Hittisau als erstes öffentliches Gebäude bereits, gestanden hat. (...) Beides war (...) in aller Munde, und ist viel geschimpft worden drüber und hat Bürgerversammlungen gegeben, und gab anläßlich von dieser Handwerksausstellung in Bezau eine Podiumsdiskussion mit schlimmen Beschimpfungen vom Architekten, (...) und (...) die Rebellion, die so irgendwie gegen dieses Neue losging, das hat mich fast noch ein bißchen bestärkt, (...) vielleicht hatte ich da noch ein paar offene Jugendgeschichten, wo es darum geht, zu sagen, ich steig jetzt grad aus Provokation auch auf diese Dinge ein.65

Schmidinger schildert die soziale Reaktion auf das Entstehen der Neuen Architektur als „Rebellion gegen das Neue“. Rebellisch seien die Verhinderer, nicht die Schöpfer des Neuen. Seine Reaktion, „auch auf diese Dinge“ einzusteigen, bedeute Provokation gegenüber der Rebellion der gesellschaftlichen Mehrheitsfraktion. Seine Diskussion mit dem Vater anläßlich der Umbauten am Elternhaus, die mit dem Dachgeschoßumbau begannen, klärt den scheinbaren Widerspruch auf. Vorne (...), da war ein Blumenbalkon, in Beton, draußen, den galts, irgendwie herunterzusägen, (...) hier war eine Eternitfassade, hält zweihundert Jahre, hat man gesagt, und vorher war Schindel, (...) und als so das irgendwie kam, hier soll wieder ein Holz angebracht werden, war einfach total die alten Muster da, daß die sagen, „ich mein, wir sind ja nicht blöd, irgendwie, wir hatten Schindeln, die sind alle faul geworden, und jetzt, seit der Eternit oben ist, ist Ruhe, mit dem Ding, und du kommst jetzt, und möchtest uns weismachen, daß auf die Wetters-, Westseite, daß da eine Holzfassade hinauf soll“. Und das war schon eine (lacht) ein, ziemlicher, nicht nur ein Dialog, sondern ein Kampf (...) und heftige Diskussionen.66

In diesen Umbauten, für die Schmidinger bei seinem Architekten Entwürfe bestellt hatte, stellt sich das Neue als eigentlich konservative, als traditionserneuernde Position dar, als Rückbau einer bereits durchgeführten Modernisierung. „Tradition“ wird hier die Rolle zugesprochen, das Neue zu legitimieren. Wir finden eine vergleichbare Argumentation in Arno Eugsters Anspruch, das Konfliktpotential seines eigenen Hauses liege im Wiedereinführen von Merkmalen, die „ganz was Altes“67 seien. Es mag eine Rolle spielen, daß die Generation Schmidinger und Eugster inzwischen erfahren mußte, daß die Industriematerialien Eternit und Beton die Erwartungen an Dauerhaftigkeit nicht erfüllen, die die Vätergeneration ihnen noch zugetraut hatte. 68 Festzustellen ist jedenfalls, daß die „soziale Revolution“, die sich im Bregenzerwald am Auftreten der modernen Architektenhäuser zeigt, inhaltlich an eine zu dieser Zeit bereits etablierte Gesellschaftskritik der ökologischen Bewegung69 anschließt. Etablierung neuer Werte

Der provokante Auftritt der neuen Häuser läßt zusammen mit den Selbstauskünften ihrer Bauherren, soweit sie dem akademischen Milieu entstammen, einen erzieherischen Impetus gegenüber ihrem dörflichen Umfeld erkennen.

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Erziehung setzt einen Vorsprung des Erziehers vor seinem Zögling voraus, sodaß zu fragen ist, woraus die Bauherren – und ihre Architekten – die Legitimation zu jenem Erziehungsimpetus ableiten, der in der Form ihrer Häuser, ihrem provokativen Anderssein, zum Ausdruck kommt. Die Literatur zur Geschichte der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs bietet dazu als Erklärung an, daß die Bauherren der ersten Architektengeneration neben Graphikern und Künstlern vor allem Lehrer gewesen seien70, die mehrheitlich bei Professor Franz Bertel an der Pädagogischen Akademie in Feldkirch ausgebildet und durch diesen mit den Grundlagen der modernen Architektur vertraut gemacht worden seien.71 Diese Interpretation, die etwa Arno Eugster, während seiner Lehrerausbildung selbst Schüler Bertels, für seine Person ausdrücklich bestreitet72, beantwortet nicht die Frage nach der Wurzel des Erziehungsimpetus, sondern setzt die erzieherische Wirkung Moderner Architektur als eine Art natürlicher Überlegenheit „inmitten der traditionellen, dekorativen Bauweise“73 einfach voraus. In dem Versuch der vorliegenden Studie, den Auftritt Zeitgenössischer Architektur weniger als kulturellen Fortschritt denn als Indikator eines sozialen Wandels zu interpretieren, spielen die komplexen Modernisierungseffekte, dem die ländliche Gesellschaft unterworfen ist und die in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs mit steigender Geschwindigkeit unübersehbar werden, eine zentrale Rolle. Stichworte für diese Modernisierung sind zuvörderst der Statusverlust der Landwirtschaft als dominierender Existenzform des ländlichen Raumes74, einem sozialen und wirtschaftlichen Abstieg, dem das ländliche Handwerk folgt, bevor dieses, zumindest was das Tischlerhandwerk Vorarlbergs betrifft, im Export in die Nachbarländer Schweiz und Liechtenstein, neue Absatzmärkte erschließt.75 Die heute typischen, täglichen oder wöchentlichen Pendlerbewegungen zwischen Stadt als Arbeits- und dem Land als Wohnort sind Folgen der steigenden individuellen Mobilität, die erst erlaubt hat, Lebens- und Arbeitsort zu trennen. Das Wohnen verselbständigt sich durch diese Trennung, die sowohl beim Handwerker als auch, stärker noch, beim Bauern, der kein „Wohnzimmer“ kennt, noch vereint waren.76 Die staatliche Bildungspolitik beschert dem ländlichen Raum eine flächendeckende Ausstattung mit höheren Schulen77, wodurch sowohl die Zuzügler mit den aus der Stadt gewohnten 65 WS 1: Z 303 ff 66 WS 1: Z 616 ff 67 ALE: Z 701 68 WS 1: Z 620 69 Zu den Entstehungsbedingungen der ökologischen Bewegung vgl. André Gorz: Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung; in: Gorz (2009), S. 31 70 Vgl. etwa Kapfinger (2003), S. 9 71 Nora Vorderwinkler widmet sich in ihrem Aufsatz Zwei Wegbereiter, ein Exkurs ausführlich der Dar-

stellung von Franz Bertels „zentrale[r] Rolle für die Verbreitung moderner Baugedanken in Vorarlberg“. Vorderwinkler (2003), S. 25 72 ALE: Z 433 ff 73 Strasser (2004), S. 77 74 „Hier leben weniger Vollerwerbsbauern als in Wien“, erwähnt etwa Kapfinger in seiner Einleitung zum Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980 (1999). 75 Vgl. Abschnitt Rustikalproduktion im Bregenzerwald, Kapitel Handwerk

Wandel der ländlichen Gesellschaft

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Standards versorgt werden als auch der ländlichen Bevölkerung selbst zu ihrer landwirtschaftlichen oder handwerklichen Existenzform die Alternative „akademische Bildung“ nahegelegt wird.78 Die infolgedessen wachsende Bildungsschicht innerhalb der ländlichen Gesellschaft gerät, den Bregenzerwald betreffend, seit den 1970er Jahren zunehmend in Konflikt mit den traditionell etablierten Werten und Institutionen. Die „Wäldertage“79, ausgehend vom neugegründeten Gymnasium in Egg, schaffen dieser Kritik erstmals ein öffentliches Forum. Bisher als „normal“ geltende, in der ländlichen Gesellschaft etablierte Verhaltensformen – etwa gewalttätige Erziehungspraktiken80, Tabuthemen wie Jugendsexualität81, aber auch Repräsentationsformen wie die rustikale Architektur des ländlichen Tourismus82 – werden dort als „Landprobleme“83 thematisiert. Die bisher tonangebende und mit Gestaltungsautonomie ausgestattete Gesellschaftsschicht findet ihren Habitus damit als personifiziertes „Problem“ an den Pranger gestellt. Lehrer als Exponenten des sozialen Wandels

Lehrer sind diejenigen Exponenten des Wandels, die die Werte der Gebildeten im ländlichen Milieu sowohl vermitteln als auch in ihrer Lebensweise verkörpern. Daß diese Doppelrolle traditionell zur Figur des Dorflehrers gehört, wird aus einer Erzählung Ernst Wirthensohns deutlich, der den reformpädagogischen Unterrichtsmethoden seines eigenen Lehrers Wilhelm Fritz in Thal nachträgliche Wertschätzung entgegenbringt und die Überzeugungskraft dieser pädagogischen Praxis nicht zuletzt auf die betont „alternative“ Lebensweise Fritz’ zurückführt.84 Das „Wohnen“ ist ein Bestandteil des Alltagslebens, der sowohl dem Bauern als auch dem Handwerker fremd ist. Es gehört, zusammen mit der Architektur als Fachdisziplin eines ästhetisierten Wohnens, statt dessen zum Habitus der Gebildeten.85 Das „andere Haus“ des Lehrerehepaars Eugster 76 Vgl. Selle (1993) 77 Statistische Zahlen für Vorarlberg seit Ende der 1960er Jahre dokumentiert Schall, S. 9: „Ein wesentlicher Faktor für das Entstehen kritischer Kulturund Politikinitiativen war auch in Vorarlberg die Expansion des Systems höherer Schulen...“ 78 Vgl. dazu Schmidingers Schilderung der Berufslaufbahn seines Bruders. Dieser sei zum Studieren nach Wien gegangen, während die Generation des Vaters noch vollzählig ihr Auskommen im Umfeld des Familienbetriebes gefunden habe. (WS 2: Z 621) 79 Vgl. Schall, S. 117 ff 80 Dieter Macek berichtet etwa von Jugendlichen, die von ihren Eltern blutig geschlagen worden waren. Eigene Notizen zur Podiumsveranstaltung am 27.04.2007 im Domizil in Egg. 81 Wäldertage 1974, vgl. Schall, S. 124 82 Friedrich Achleitner hält bereits bei den ersten Wäldertagen, 1973, einen Vortrag zum Bauen im

ländlichen Raum, den die Neue am 29.10.1973 resümiert: „Das bauliche Jodlertum, jenes entsetzliche, plakative Klischee des Alpinen Bauens, sollte der Vergangenheit angehören.“ Schall, S. 121 f 83 Eine im Frühjahr 1973 in Egg gegründete Arbeitsgruppe Landprobleme fungierte als Gründungsinitiative der Wäldertage. Schall, S. 119 84 EW 2: Z 240 ff 85 „Nichts hebt stärker ab, klassifiziert nachdrücklicher, ist distinguierter als das Vermögen, beliebige oder gar vulgäre (weil oft zu ästhetischen Zwecken vom Vulgären angeeignete) Objekte zu ästhetisieren, als die Fähigkeit, in den gewöhnlichsten Entscheidungen des Alltags – dort, wo es um Küche, Kleidung oder Inneneinrichtung geht – und in vollkommener Umkehrung der populären Einstellung die Prinzipien einer ,reinen‘ Ästhetik spielen zu lassen.“ Bourdieu (1987), S. 25 86 ALE: Z 203 ff

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gewinnt vor allem aus diesem Kontext heraus seine Bedeutung eines Indikators für den skizzierten sozialen Wandel des ländlichen Raumes. Arno Eugsters Ablehnung, seine Lehrerexistenz als Erklärung seines „revolutionären“ Hausbaus gelten zu lassen, rückt statt dessen sein Akademikertum in den Mittelpunkt: In Langenegg gabs sowieso nur ganz, ganz wenige Akademiker. (...) Alle waren eigentlich Handwerker.86

Wirksam wird die Existenz beider Ehepartner als Lehrer vor allem, indem sie ihre private Lebenspraxis zum Vorbild für ihre Schüler erheben und damit selbst als Multiplikatoren für den Habitus der Gebildeten wirken. Zunächst hatte Arno Eugster jene Frage, die sich auf die Auswirkung seines Hauses auf die Lehrertätigkeit richtet, rundheraus abgelehnt.87 Außer in Gesprächen mit Kollegen komme das Haus in der Schule nicht vor. Bekräftigend weist seine Frau auf den räumlichen Abstand zwischen Schule und Haus hin: „Doren ist dort und Langenegg ist da.“88 Dann aber ereignet sich ein Dialog zwischen den Eheleuten, der schließlich beider spontan geäußerte Ablehnung einer pädagogischen Demonstration durch das Haus in ihr Gegenteil kehrt. LE Wenn jetzt Schüler (...) vorbei kommen, dann sagen sie immer am nächsten Tag, „Mensch, Fräulein, haben Sie ein tolles Haus!“ Das gefällt also, den jetzigen Kindern gefällt das. Grad heuer wieder sind sie für die Schiwoche (mit dem Bus gekommen und haben mich) geholt. Ein paar Tage später haben sie gesagt: „Sie wohnen in einem tollen Haus“ (lacht). AE Also, das ist schon typisch, wenn ich jedes Jahr zur (Schiwoche) fahre, dann lasse ich mich mit dem Bus da her bringen, da steig ich aus, dann sehen sie es, immer die Drittklässler. Und alle sagen mir eigentlich jedes Jahr dasselbe, auch jetzt noch. Das sagt eigentlich doch, daß es was Besonderes sein muß, das Haus. Da steht nirgends eines, das so ähnlich ausschaut.89

Architektur gewinnt ihre Bedeutung und Brauchbarkeit für die angesprochenen sozialen Auseinandersetzungen aus dem Ansehen, das ihr durch das Herkommen aus der Sphäre der Kunst und der gesellschaftlichen Rolle des Künstlers erwächst. Kunst nämlich, so hat es bereits Friedrich Schiller 1795 in seinen Briefen Zur ästhetischen Erziehung des Menschen90 formuliert, diene dazu, die ungebildeten Menschen mit Werken zu umgeben, die sie zu Höherem, zu einer Existenzform als selbstbestimmte Individuen, erziehen. 87 Arno Eugster bezieht die statistische Feststellung, daß unter den Bauherren jener Generation überproportional viele Lehrer gewesen seien, offensichtlich auf seine mit dem Hausbau verbundene Absicht. Und lehnt die Unterstellung, er habe aufgrund seines Lehrerberufs ein „Architektenhaus“ als pädagogische Demonstration gebaut, vehement ab. Seine späteren Äußerungen zu diesem Kontext (Stichwort „Bertel“, ALE: Z 428 ff) lassen vermuten, daß er vor allem ablehnt, für die Sache der Architektur „vor den Karren gespannt worden zu sein“. Bildungskanon und Lehrplan entlasten den Lehrer von der Verant-

wortung für die Inhalte seiner Lehre. Offensichtlich möchte Eugster jedoch der Verantwortung für sein Haus nicht entbunden werden, es statt dessen als Individuum verantworten. 88 ALE: Z 659 ff Diese Bemerkung Leopoldine Eugsters illustriert die Kleinräumigkeit der lokalen Gesellschaftsstruktur: Doren und Langenegg sind Nachbarorte, vom Haus der Eugsters besteht Sichtverbindung zur Hauptschule in Doren. 89 ALE: Z 664 ff 90 Schiller, S. 305 ff

Ästhetische Erziehung

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Dieses Prinzip einer sozialen Funktion der Kunst, während der Spätaufklärung und damit vor dem Hintergrund der Französischen Revolution formuliert91, das eine bis in die Moderne hinein gültige Legitimation für den moralischen Vorsprung des Künstlers innerhalb seiner Gesellschaft darstellt92, dieses Prinzip, das für Schiller eine Idealform des Staates zu erstreben hat, damit bereits politisch aufgeladen ist und in den staatlichen und kirchlichen Autoritäten seine natürlichen Gegner identifiziert93, trägt in sich die Legitimation des unangepaßten und provokanten, gar revolutionären Habitus des Künstlers, höchst brauchbar zur Instrumentierung in sozialen Auseinandersetzungen, von denen hier die Rede ist, sowohl auf der Ebene der Familie als auch des Dorfes.94 Insbesondere die Form und weniger der Inhalt ist, Schiller zufolge, das Mittel, das der Kunst zum Zweck der Erziehung verfügbar ist.95 Die Form, als klassische vom Griechentum her legitimiert96 und als solche nicht kontaminierbar durch zeitgemäße, kurzlebige Inhalte, ist die eigentliche Botschaft des Kunstwerks, hier des architektonisch formulierten Hauses, das in seinem „Anderssein“ seine Normalform als Ausdruck des skizzierten Selbstverständnisses von Künstlertum gefunden hat, eines Künstlertums, das für unseren Kulturkreis auch der sozialen Rolle von Architektur ihre Legitimation und ihren Vertretern den standesgemäß unangepaßten Habitus verleiht:97 Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben. (...) Denke sie dir, wie sie sein sollten, wenn du auf sie zu wirken hast, aber denke sie dir wie sie sind, wenn du für sie zu handeln versucht wirst. (...) Wo du sie findest, umgib sie mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen, schließe sie ringsum mit den Symbolen des Vortrefflichen ein, bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet.98

91 Antje Büssgen interpretiert die von Schiller geforderte Sittlichkeit als Gegensatz zu der realen Barbarei, die dieser im eskalierenden Revolutionsgeschehen des Nachbarlandes wahrgenommen hatte. Büssgen, S. 2 ff 92 So Martin Heidegger in seiner Freiburger Vorlesungsreihe 1936 /37 zu Schillers Briefe[n] zur ästhetischen Erziehung des Menschen, S. 12 ff. 93 „Der zahlreichere Teil der Menschen wird durch den Kampf mit der Not viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrtum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priestertum für diesen Fall in Bereitschaft halten.“ Schiller, a.a.O., Achter Brief, S. 327 f 94 Die nächsthöhere Ebene, die des Staates, speziell der sowjetkommunistischen Staatsform, und der „Kunst als Waffe“ gegen die während der 1920er Jahre europaweit aufkeimenden Faschismen thematisiert

Robert Cohen in Exil der frechen Frauen, Berlin: Rotbuch, 2009 95 Bourdieu identifiziert in der „ausschließlichen Aufmerksamkeit für die Form“ sowohl die Wurzel für den sozial klassifizierenden Effekt des Umgangs mit Kunst als auch die Basis ihrer Funktionalisierung für Zwecke der Erziehung. Bourdieu (1987), S. 21 ff 96 „Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.“ Schiller, a.a.O., Neunter Brief, S. 329 f 97 Ein Nebenaspekt dieser Legitimation ist das Traditionsbewahrende, das der Kunst aufgetragen ist, während das Utopische eher zur Rolle der Technik gehört, was Kunst und Technik zu Opponenten macht. 98 Schiller, a.a.O., Neunter Brief, S. 331 f

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231 4.4 Architektenhaus Der gesellschaftliche Wettbewerb um Einflußsphären im ländlichen Raum bestimmt auch in diesem Abschnitt unsere Betrachtung des Auftritts Zeitgenössischer Architektur. In der bisherigen Gegenüberstellung exemplarischer Sichtweisen der konkurrierenden Bildungsschichten ist deutlich geworden, daß die „bodenständige“ Position des Handwerks technisch gesehen die fortschrittlichere ist, während die „weltfremde“ der akademisch sozialisierten neuen Bewohner des Dorfes im Vergleich dazu romantisch, konservativ und bestandserhaltend auftritt. Die akademische Position, die sich durch Architektur repräsentiert, achtet das „handwerkliche Erbe“ so sehr, daß sie dieses gegen die Handwerker selbst verteidigt und es gegen den Strom der Zeit rekonstruiert. Der selbstverständliche Umgang mit Material und Werkzeug ist für den Akademiker eine zutiefst fremde Welt1, zu der er vor allem mittels betrachtender Reflexion ihrer Artefakte als material culture2 Zugang sucht, während seine eigentliche Heimat immateriell ist, die geistige Tradition, der Fortschritt der Ideen. Das Idealbild ihrer Verwirklichung ist eine dinglich konservative, „authentische“ Umgebung. Die Lebenswirklichkeit des Bauern und Handwerkers jedoch, denen der Neon-Ring als Wohnküchenlicht genügt und deren Leben Arbeit und nicht Wohnen ist, widerspricht eklatant dem Bild, das die neuen Bewohner stadtnaher Dörfer mit Landleben verbinden. Architektur tritt aus dem Blickwinkel unserer Studie als Mittel in Erscheinung, das Dorf diesem Bild anzunähern.3 Es sind Blicke aus zwei unterschiedlichen Wahrnehmungstraditionen auf dieselbe Welt, die hier aufeinandertreffen. Charles Rennie Mackintosh, einer der Gründerväter der Architekturmoderne, setzte noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts steinerne „schottische Burgfassaden“ gegen die technisch modernen Gußeisenbauten der Industrie- und Handelsstadt Glasgow und reklamierte für sich, „zeitgemäß“ zu bauen.4

1 Der finnische Architekt Juhani Pallasmaa spiegelt diesen Gegensatz der Habitusformen von Handwerkern und „Geistesarbeitern“ auf die Spaltung zwischen Kopf und Hand im Körperbezug des Einzelnen und analysiert die gesellschaftliche Bedingtheit der jeweils eigenen Körperbeziehung am Begriff embodied knowledge. Vgl. Pallasmaa (2009), mit Dank an Oliver Lowenstein für diese Quelle Zum Thema des Körperbezugs von Wissensformen vgl. auch den Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf. 2 Material culture bezeichnet einen Forschungsbereich der Kulturwissenschaft, der insbesondere in der akademischen Tradition des angelsächsischen Sprachraum beheimatet ist. Deutsche Übersetzungen sind

etwa Dingkultur. Der museumsgerechten Sammlung von Dingen und ihrer Auswertung zum Verständnis fremder Völker oder vergangener Zeiten entspringend, wie sie das neunzehnte Jahrhundert pflegte und in den ersten Weltausstellungen auf die Repräsentation der Gegenwart übertrug, interessiert sich die zeitgenössische Forschung zur material culture für den Zusammenhang zwischen Dingen und gesellschaftlichem Leben, also für die Frage, wie sich Gesellschaften in ihrer Dingkultur abbilden. Victor Buchli faßt als wissenschaftlicher Leiter der Material Culture Group at University College London deren Forschungsstand im Material Culture Reader (Oxford 2002) zusammen. Vgl. auch Düllo (2008) 3 Vgl. Abschnitt Architektur im Dorf, Kap. Dorf

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Definitionsmacht über das Zeitgemäße

Vergleichbare Konflikte um die Definitionsmacht über das Zeitgemäße sind es, die die vorliegende Studie betrachtet. Innerhalb ihres Forschungsfeldes drückt sich in ebendiesen Konflikten eine soziale Veränderung des Dorfes aus. Neben den Bauern und Handwerkern, die am Wohnort produzieren oder ihrem Gewerbe nachgehen, wird das Dorf zunehmend Nur-Wohnort, Pendler-Wohnort. In dieser Umschichtung, die neben Zuzug mit einem bildungsmäßigen Aufstieg der jüngeren Generation der Einheimischen einhergeht, wird eine neue Bewohnerschicht etabliert, die anderen Lebensmodellen, Vorbildern und Werten folgt als die ursprünglichen Dorfbewohner. Der Architekt gehört zu den Folgeerscheinungen dieses Wandels in der Sozialstruktur des ländlichen Raumes. Architektur erscheint aus dieser Perspektive als Zivilisationskrankheit, als Degenerationserscheinung des traditionellen Dorfes. Der nachfolgende Abschnitt ist der Perspektive des Architekten vorbehalten. Es soll danach gefragt werden, welches historisch gewachsene Wissen, welche impliziten Denkweisen und welches Selbstverständnis dem Architekten in seiner Ausbildung eingepflanzt werden, anders formuliert, wie der Architekt systematisch programmiert ist und welche dieser Systemeigenschaften von Architektur sich als Habitus dieser Disziplin im Architektenhaus dokumentieren, insbesondere demjenigen im ländlichen Raum, das für Vorarlberg charakteristisch ist. Das typologische Denken der Architekten, der Naturbezug und schließlich die Wohnlichkeit der von ihnen entworfenen Häuser sind inhaltliche Eckpunkte der Erörterung.

Typologie

Typologie ist eine genuin akademische Wahrnehmungsform. Sie entspringt einer Wissenschaftlichkeit, die Ordnungen bildet und Gesetzmäßigkeiten konstruiert, indem sie Vorgefundenes „aufgrund einer umfassenden Ganzheit von Merkmalen, die den Typ kennzeichnen“ 5 zu Gruppen ordnet. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 6 weist neben dieser Einbettung in die Wissenschaft auf eine Beziehung zur Technik hin. Nicht nur, daß sprachgeschichtlich die Bildung der Kurzform Typ aus Typus mit dem Auftreten der industriellen Serienfertigung zusammenfällt.7 Der Begriff Typ erhält auch mit seiner Ableitung aus einer fabrikmäßigen Produktionsweise einen Gehalt, der mehr als die nachträgliche Zuordnung, wie sie der Wissenschaft eignet, das Vorgestaltet-Einheitliche der sprachgeschichtli4 Gemeint ist hier das ehemalige Glasgow Herald Building, heute als Lighthouse Sitz eines international renommierten Architektur- und Designmuseums. Dieses zeigte 2008 eine Ausstellung mit dem Titel Building Biographies, die Architecture in Scotland 2006–2008 zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Architekturen, u.a. aus Vorarlberg, gegenüberstellte. Dem Ansatz des Kurators Oliver Lowenstein, einen Zusammenhang zwischen ländlicher Architektur und lokaler Handwerkskultur herzustellen, wurde in

der britischen Fachpresse „Romantizismus“ vorgeworfen (Mitteilung Lowenstein). Eine Monographie zu Mackintoshs Leben und Werk liegt u.a. von Alan Crawford vor: Charles Rennie Mackintosh; London: Thames & Hudson, 1995/2002 5 Duden, Großes Fremdwörterbuch, 3. Auflage; Mannheim: Dudenverlag, 2003 6 Leipzig: Hirzel, 1952; Bd. 22 7 „Besonders geläufig wurde die kurzform typ als wort der modernen technik, die besondere bauart (mo-

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chen Wurzel Gepräge bzw. Schlag, vom „Schlagen“ der Münzen herkommend, ausdrückt, einem Akt, der Herrschaft repräsentiert und als solcher den Typ gegenüber dem Individuum auszeichnet, eine Bedeutung, die dann begrifflich auf die nach einheitlicher Matrize gegossenen Bleilettern, die Typen, übertragen wird.8 Typologisches Denken kann damit neben dem Kategorisieren von Vorgefundenem aufgrund erkannter Gemeinsamkeiten, Kennzeichen eines wissenschaftlichen Habitus, auch in der Vorgestaltung von Mustern zur Herstellung von Serien, grundlegendes Kennzeichen einer mechanisierten Produktionsweise, beobachtet werden. Die Entwurfstechniken, derer sich Architekten bedienen, sind in hohem Maß von typologischen Denkweisen gekennzeichnet, eine Folge der akademischen Architekturlehre, die der Architektur eine scharfe Abgrenzung gegenüber allem nichtakademischen, vor allem dem handwerklichen Bauen, verschafft. Typologisches Denken kann dem architektonischen Entwurf unterschiedliche Ordnungskategorien von Typen zugrundelegen. So erwähnt mein Gesprächspartner Hans Purin den Gegensatz zwischen freistehendem Haus und Atriumhaus, der ihn im Wettbewerb um das Evangelische Pfarrhaus auf dem Bregenzer Ölrain beschäftigt habe. Purin erzählt, sein Konkurrent habe „einen freistehenden Bau gemacht, der war relativ mitten im Grundstück drinnen, (...) ein mehrgeschossiger Bau, mit Balkonen“9, wohingegen sein eigener Entwurf, der schließlich den Zuschlag erhielt, gegenüber dieser „konventionellen“ Lösung bei der Einschätzung der spezifischen Arbeitsbedingungen eines Pfarrers ansetze. Ich habe (...) angeregt, man sollte ein introvertiertes Haus machen, der Pfarrer hat sehr viel mit Menschen zu tun, und sollte in freien Stunden in einer abgeschiedenen, nicht daß, wenn man im Garten sitzt, daß einen die ganze Umgebung schon sieht, (...) ein Atriumhaus.10

Der Haustyp, den Purin wählt, ist historisch und funktionell konnotiert, indem er auf das Stadthaus der Antike sowie auf den Bautyp des Klosters verweist. So kann Purin, trotz moderner Bauweise, über den architekturgeschichtlich kanonisierten Typus eine Bezugnahme zur Geschichte des Bauplatzes, dem Areal der Bregenzer Römerstadt, herstellen. Purin unterlegt dem Ergebnis seiner funktionellen Überlegungen, die das berufstypische dellform) serienmäszig hergestellter fabrikate aller art bezeichnend.“ A.a.O., S. 1963 8 Daß nicht nur Münzen und die Träger von Uniformen, sondern auch Schrifttypen die Rolle nationaler Repräsentation übernehmen können und die Formen dieser Repräsentation wiederum dem Wandel wissenschaftlicher Erkenntnisse unterworfen sind, kam im Deutschland der NS-Zeit in der zunächst ausschließlichen Verwendung von Frakturschriften für amtliche Druckwerke zum Ausdruck. „So absurd

es klingen mag, diese zur deutschen Schrift deklarierten Lettern bezeichnete man wenige Jahre später zu Beginn des Zweiten Weltkriegs als Schwabacher Judenlettern und verbietet 1941 ihre weitere Verwendung. Zur Normalschrift im gesamten Schrifttum einschließlich der schulmäßigen Schreibschrift wird statt dessen die nichtarische Antiqua erklärt.“ Stiebner/ Leonhard (Hg.): Bruckmann’s Handbuch der Schrift; München: Bruckmann, 1977; S. 57 9 HP: Z 47 ff

Typologie und die Entwurfstechnik der Architekten

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Bedürfnis des Bauherrn nach einem privaten Rückzugsbereich ebenso umfassen wie ökonomische Erwägungen, „weil ich bin immer ein bißl sparsam mit dem Grund, und war der Meinung, man sollte das so anordnen, daß möglichst viel Freifläche bleibt“11, damit eine „Lesart“, deren Vokabular, die architektonische Typenlehre, sich den „Gebildeten“ nicht nur erschließt, sondern deren soziale Schicht im Vorgang des Erkennens bekannter Formen auch als Gruppe Eingeweihter gegenüber allen Nichteingeweihten auszeichnet.12 Während Purins Entwurfspraxis ein weitgefaßtes Verständnis vorbildgebender Typen sichtbar werden läßt13, das den von der Antike her entwickelten Kanon der Kunstgeschichte als Referenzraum nutzt und damit Architektur mittels Anlehnung an die Kategorien der Kunstgeschichte mit der akademischen Denktradition verknüpft, legt Architekt Gunter Wratzfeld eine Ebene engerer typologischer Bezüge frei, solche, die die kanonbildende Ordnungsmethode der Kunstgeschichte selbst auf die Architekturmoderne überträgt und diese damit als autoreferenzielles Binnenbezugssystem innerhalb eines kunstgeschichtlichen Rahmens erkennbar werden läßt. Wratzfeld „erklärt“ das konstruktive Konzept seines ersten nach dem Studium realisierten Entwurfs, dem Wohnhaus für seinen Bruder im Dornbirner Ortsteil Watzenegg von 1965, einer auf ein Betonskelett aufgeständerten „Holzschachtel“, indem er „sehr frühe Skizzen von Mies van der Rohe, wie er ein Haus an den Hang stellt“14, anführt und unterbricht das gemeinsame Gespräch so lange, bis er dieses „Beweisstück“ in einem Buch seiner Bibliothek findet: „Ältere Geschichte, aber bitte.“15 Im Vorgang des Aufprägens dieses Musters nobilitiert sein Entwurf das „billige Haus“ als kanonische Architektur. Indem Wratzfeld ferner seine verbürgte, wenngleich verborgene Quelle namentlich macht, stellt er sich selbst in die Nachfolge ihres Urhebers, eines Gründervaters der Architekturmoderne. Die Auskünfte beider Architekten lassen typologisches Denken in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen, des Nutzens wissenschaftlicher Ordnungskategorien wie des Aufprägens vorgestalteter Muster, als zentrale Kategorie sowohl der Wahrnehmung als auch ihrer Entwurfspraxis erkennen. Diese zentrale Rolle der Typologie kann als Indikator herangezogen werden, architektonisches von nichtarchitektonischem Bauen zu unterscheiden. 10 HP: Z 59 ff 11 HP: Z 49 ff 12 Bourdieu zitiert Ortega y Gassets Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst: „Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit...“, vgl. Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur?, Anm. 37 13 Purin hält das typologische Konzept des Pfarrhauses auch für eine gänzlich andere Funktion, als Betreutes Wohnen, für geeignet. Sein Folgeentwurf

sah vor, den Haustyp, in Form einer kleinen Siedlung vervielfältigt, an das Pfarrhaus anzuschließen. Die vom Typus ausgehende Denkweise, eine Kompetenz, die wiederum typisch für den Berufsstand der Architekten ist, trägt in sich offenbar die Tendenz zur Wiederholung, zur Bildung von Serien (HP: Z 164 ff). Vgl. die Wortherkunft, Anm. 7 14 GW: Z 500 ff 15 Ebd. 16 GG: Z 1093 ff 17 Ebd.

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Aus der zentralen Rolle typologischen Denkens erschließt sich, diesmal aus Architektensicht, ein weiterer Aspekt derjenigen Argumentationsposition, die die Architektenhäuser als die legitimen Erben der Bauernhäuser einsetzt, einer Position, der wir bei der Betrachtung des Eugster-Hauses bereits als Anspruch des Bauherrn begegnet sind. In meinem Gespräch mit Architekt Gerhard Gruber über Bezüge zwischen den traditionellen Bauernhäusern und der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs ist es für ihn „ganz klar, daß (...) diese kistige Vorarlberger Architektur“ aus „dieser knappen Form der traditionellen Architektur“16 herkomme. Ebenso selbstverständlich nimmt er als Voraussetzung seiner Genealogie, die „traditionelle Architektur“, die der Bauernhäuser nämlich, überhaupt als Architektur wahrzunehmen und damit das traditionelle handwerkliche Bauen, dem die Bauernhäuser entstammen, der Architektur als Referenzraum einzuverleiben. Gruber fährt fort, indem er nicht nur die „kistige“ Kontur der modernen Baukörper, sondern auch deren Konstruiertheit von der Bauweise der Bauernhäuser herleitet.

Architektenhäuser als legitime Erben der Bauernhäuser

Und grade dieses Konstruktive, das die Vorarlberger Architektur hat, kommt ja aus der Tradition des Holzbaus. Man weiß ja, daß man einen Holzbau konstruieren muß, und nicht einfach planen kann. Da gehts um Spannweiten und um Dimensionen, das ist in einem anderen Material viel weniger ein Thema.17

Im Gegensatz zur Wahrnehmung der Langenegger Dorfbewohner, die zur Beurteilung des Eugster-Hauses zwischen Stadel- und Wohnhauskonstruktion differenziert und in dieser Unterscheidung eine Hierarchie zwischen Arbeitsund Wohnhaus aufgestellt hatten, die gleichzeitig Tier- und Menschenhaus unterscheidet, spielen in Grubers Wahrnehmung die Maßstäbe dieser Differenzierung, die auf dem Wertegerüst der agrarischen ländlichen Gesellschaft beruht, keine Rolle. „Das Konstruktive“, der Umstand, daß im Holzbau gemäß den Materialeigenschaften des Baustoffs Holz entworfen, also „konstruiert“ werden muß, ist für ihn bereits gültiges Verbindungsglied und weiterer Nachweis einer legitimen Erbfolge zwischen Bauernhäusern und der Zeitgenössischen Architektur des Landes. Das typologische Denken, Voraussetzung einer folgenreichen Argumentationsstrategie, die nicht nur die Anwesenheit, sondern letztlich die beanspruchte Vorrangstellung von Architektenhäusern im ländlichen Raum legitimiert, offenbart sich gerade im Vergleich mit den von der ländlichen Bevölkerung geäußerten Bewertungen als Kategorie, die sich ausschließlich auf Aspekte der Form bezieht und zugunsten dieses Primats der Form alle anderen Ansprüche zurückweist. Solche Ansprüche sind etwa die der Funktion, die das Bauernhaus als Verbindung von Wohn- und Wirtschaftshaus vom reinen Wohnhaus, das das Architektenhaus ist, unterscheidet, oder jegliche soziale Tradition, die etwa die „Allgäuerhäuser“ zu den legitimen Nachfolgern der Bauernhäuser erklären könnte, da deren Bauherren die soziale Schicht der ursprünglichen ländlichen Bevölkerung repräsentieren.18 Der soziale Konflikt, mit dem das Auftreten der Architektenhäuser im Bregenzerwald einhergeht und der spätestens mit dem Einsetzen von

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Gestaltungsbeiräten in den meisten Bauausschüssen der Dörfer zugunsten der neuen Bewohner und deren ästhetischen Kriterien entschieden wird19, könnte eine Eigenart der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs erklären, die sich im Bregenzerwald besonders deutlich zeigt: ihre Einheitlichkeit. Gerade im Vergleich mit zeitgenössischen architektonischen Kulturen anderer ländlicher Regionen präsentieren sich die Exemplare derjenigen Vorarlbergs als untereinander besonders ähnlich. Die fast durchgängig Satteldächer über langgestrecktem Baukörper tragenden Häuser weisen in ihren Fassaden eine extrem reduzierte Variationsbreite durchwegs unbehandelter Holzverkleidungen auf: senkrechte oder waagrechte Bretter- oder Lattenschirme sowie Schindeln. Gelegentlich findet sich in diesen neuen Holzfassaden noch die Teilung der Bauernhäuser in Vorder- und Hinterhaus zitiert, wobei im Raumprogramm des Einfamilienhauses kaum adäquate Nutzungen zu finden sind, die an die Stelle des Wirtschaftstrakts eines Bauernhauses treten könnten.20 Die Lakonik dieser Ästhetik, ihr simpler formaler Code, erlaubt gerade im Einfamilienhausbau, dessen Planung sich die Architekten mit einer Fülle von Planungsbüros mit mehr oder weniger großer Nähe zu den ausführenden Zimmereien teilen, die „Einbürgerung“ und Vervielfältigung der ursprünglich akademisch eingeführten neuen Form und damit ihre Metamorphose zu einem verbindlichen Typus. In neu ausgewiesenen Baugebieten vermischen sich mittlerweile die holzverkleideten Einfamilienhäuser architektonischer und handwerklicher Provenienz zu einem ununterscheidbaren nachbarschaftlichen Gesamtbild.21 Das „Zusammenrücken“der Architektenhäuser zu einer gemeinsam identifizierbaren Gruppe, zu dessen Erklärung hier ihre Positionierung als soziale Repräsentanten in der Nachfolge der Bauernhäuser und deren Bewohnern herangezogen worden ist, rückt gerade die formalen Probleme, die aus dem Einlösen der beanspruchten Nachfolge entspringen, einer Nachfolge, die immer öfter auch eine substantielle ist, wenn zugunsten eines Neubaus ein altes Bauernhaus abgebrochen wird, in unseren Gesichtskreis. Wolfgang Schmidinger benennt mit der Bewältigung der Größenunterschiede zwischen den traditionellen Bauernhäusern und den neuen ländlichen 18 Bourdieus Hinweis, daß das Primat der Form ein Hauptmerkmal von Kultur in ihrer Funktion als Mittel der sozialen Abgrenzung ist, gewinnt hier an Kontur. Sowohl das von Sagmeister veröffentlichte Foto des Eugster-Haus als auch die Begründung des Architekturpreises für das Eugster-Haus begründen die „gelungene Einfügung“ ausschließlich mit der äußeren Form des Hauses. 19 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 20 Beim Umbau des Gasthauses Krone in Thal, ei-

nem ehemaligen Bauernhaus, hatte die an der Stelle des Wirtschaftstrakts neuerrichtete Haushälfte den Architekten vor das Problem gestellt, den Charakter eines Wirtschaftstrakts zu wahren und trotz dessen typischer Fensterlosigkeit Erschließungs- und Lichtöffnungen für die neuen Nutzungen, zu denen ein erdgeschossiges Banklokal gehört, zu schaffen. 21 So etwa in der Parzelle Itter der Bregenzerwälder Gemeinde Andelsbuch. 22 WS 1: Z 945 ff 23 Ebd. 24 Ebd.

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Häusern, die reine Wohnhäuser sind, das augenfälligste dieser „Formprobleme“. Sein eigenes Haus bildet zusammen mit einem von einer Verwandten und deren Familie bewohnten Neubau, seiner Tischlerei und einigen alten Bauernhäusern, einen Weiler am Rand der Gemeinde Schwarzenberg. Der Weiler als Siedlungsform eines Bautenensembles schafft hier, zusammen mit der erhöhten Betrachtungsposition, die die oberhalb vorbeiführende Hauptstraße herstellt, die übergeordnete Wahrnehmungskategorie, die die Baukörpergröße sowohl der Bauernhäuser, „mit einem riesigen Heustockvolumen hinten, alle schon aufgestockt, aufgeblasen auf diese modernen Anforderungen“22, wie auch der Einfamilienhäuser, und ihr Verhältnis in Größe und Stellung zueinander, in den Vordergrund rückt. Die Frage, wie das Volumen der neuen Häuser über das eigentliche Raumprogramm hinaus zu vergrößern und damit im Zuge einer erstrebten Einheitlichkeit zwischen Alt und Neu an das der benachbarten Bauernhäuser anzunähern ist, wird an dieser Stelle als prototypisches architektonisches Problem erkennbar. Neben der Plazierung der beiden Neubauten im Vordergrund der Bauernhausgruppe war die Einbeziehung der Garage sowie einer Terrasse auf deren Dach in den Baukörper eines der beiden Neubauten die Lösung des Formproblems, „das mickrige Einfamilienhaus“ gegenüber dem „Bauernhaus, das sind ja riesigen Kisten“, in eine „Verhältnismäßigkeit“23 zu bringen. Der Unüblichkeit der Anforderung, ein Haus über sein Raumprogramm hinaus zu vergrößern, ist sich Schmidinger bewußt, sodaß er ausdrücklich die Lösung nicht als „Prestigebau“ oder Folge eines „architektonischen Verständnis[ses]“24 der Bauaufgabe interpretiert wissen will, sondern als Maßnahme zur Einhaltung ortsplanerischer Maßstäblichkeit. Von den Formproblemen, den der selbstähnliche25 Typus des Bregenzerwälder Architektenhauses mit sich bringt, haben wir bis hierher die Behandlung der Fassade und deren Material, ihre zitathafte Zweigeteiltheit und den Baukörper, seine Größe, Proportion und Stellung, angesprochen. Der Bezugsrahmen unserer Betrachtung des Architektenhauses bleibt auch beim dritten Aspekt, seinem Grundriß, das traditionelle Bauernhaus der Region. Wieder ist es Wolfgang Schmidinger, der die typischen Grundrisse der Architektenhäuser als Bruch mit der Tradition einer in der regionalen Wohnpraxis26 überlieferten Raumkonstellation des Hauses darstellt. Die typischen Grundrißorganisation der Architektenhäuser, der Notwendigkeit ihrer zugunsten der Länge betont schmalen Baukörper folgend, grenzt er von der traditionellen Raumkonstellation der Bauernhäuser ab, indem er den „Erschließungsflur auf die ganze Länge, (...) nordseitig“ als neues Grundrißelement nennt, an dem „südseitig die ganzen Zimmer angeordnet“ sind, „in einer Reihe“27. 25 Der hier verwendete Begriff der Selbstähnlichkeit entstammt einem Hinweis Groneggers auf Goethes naturwissenschaftliche Schriften, die ein besonderes Augenmerk auf dieses Merkmal legen.

26 Soweit zur Charakterisierung des bäuerlichen Daseins der Begriff „Wohnen“ angebracht ist. 27 WS 1: Z 521 ff 28 WS 1: Z 513 ff

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Noch in den „Strickhüsle“ aus dem Kaufmann Holzbauwerk, ebenso wie in den Baumeisterhäusern, hatte man die Raumkonstellation der regionalen Bauernhäuser aufrechterhalten, „die alte Geschichte, Feuerstelle ist eine zentrale Anordnung, und das Raumprogramm geht drumherum“28, und sich damit eine vertraute Geborgenheit im familiären Lebensumfeld bewahrt, die das Erwerbsleben jener „Häuslebauer“ mit dem Abstreifen des bäuerlichen oder handwerklichen Daseins der Vätergeneration verloren hatte. Du bist darin aufgewachsen, und hast, eine Raumaufteilung, und ein Raumkonzept, einfach übernommen, in der Form, wie Du das so kennst. (...) Das war aber dabei sehr wenig angelernt, sondern das war eher instinktiv. Oder einfach nie anders gesehen.29

Die Architektenhäuser brechen mit dieser über Jahrhunderte hinweg bis in die 1980er Jahre von der regionalen Gesellschaft „instinktiv“ bewahrten Anordnung der Räume zueinander und ersetzen sie durch ihr „modernes“ Konzept. Die Erfindung der Privatheit

Der britische Architekturhistoriker Robin Evans30 hat nachgewiesen, daß ebendieses Ersetzen solcher älterer Hausgrundrisse, die durch untereinander verbundene Räume charakterisiert sind, durch „Korridorgrundrisse“ kein lokales Phänomen darstellt. Im Hinblick auf das im Grundriß des Hauses angelegte soziale Potential interpretiert Evans diesen Fortschritt, indem er den „Gesamteffekt der Architektur der letzten beiden Jahrhunderte“ gleichsetzt mit einer „allgemeinen Lobotomie, vorgenommen an der Gesellschaft insgesamt, wodurch weite Teile der gesellschaftlichen Erfahrung ausgelöscht worden sind“31. Die Neuerung der Korridorgrundrisse, die hier für den Bregenzerwald festgestellt wird, ist an diesem Ort als verspäteter Ableger einer kulturhistorisch zu fassenden Entwicklung der europäischen Architektur angekommen. Zu deren Ursprung in einer religiös geprägten Vorgestaltung des Alltagslebens legt Ernst Wirthensohn die Spur. „Fast wie ein Kloster da oben“32, charakterisiert er die Atmosphäre des Obergeschosses seines eigenen Architektenhauses mit seinen Einzelzimmern. 29 Ebd. 30 Robin Evans wurde 1944 in Ilford geboren. Er studierte an der Architectural Association und an der University of Essex, wo er 1975 über das Thema Frühgeschichte der Gefängnisarchitektur promovierte. Er lehrte an der AA und verschiedenen amerikanische Universitäten. Eine Sammlung seiner Aufsätze Translations from Drawing to Building and Other Essays (1970–1990) ist 1996 in London erschienen. 31 Evans (1996, S. 97) spielt hier auf „einen chirurgischen Eingriff in das Gehirn eines Menschen“ an, „bei dem die Nervenbahnen zwischen dem Thalamus und dem Stirnhirn zusammen mit Teilen der grauen Substanz zerstört werden. Bei diesem gleichermaßen

recht schnell und einfach durchzuführenden und andererseits irreversibel tiefen Eingriff kommt es zu einer Veränderung der Persönlichkeit bei gleichzeitiger Vernichtung der Emotionalität und jeglichen Antriebs.“ http://tamagothi.wordpress.com/2009/08/09/lobotomie/ Wikipedia (Stand 10.09.2009) läßt wissen, daß zwischen den 1940er und den 1980er Jahren weltweit etwa eine Million Menschen lobotomiert wurden. Stanley Kubrick thematisiert diese vor allem in den angelsächsichen Ländern geübte Praxis in seinem Film A Clockwork Orange (Drehbuch Anthony Burgess, Großbritannien, 1971). 32 EW 2: Z 1512

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Es ist die soziale Erfindung der Privatheit, die den Deutungshintergrund für jenen Bruch in der Grundrißtypologie liefert, den das akademische Bauen der Architektenhäuser mit sich bringt und der dieses einmal mehr als Bauen für eine neue soziale Schicht darstellt. Diese neue Schicht, gebildeter und städtischer orientiert als das soziale Umfeld, das sie an ihrem neuen Wohnort, den Dörfern, vorfindet, bringt ein neues Verhältnis zum Wohnen in der Landschaft mit, zu dem die solitärhaften Baukörper der Architektenhäuser ebenso gehören wie die inszenierten Ausblicke in die Landschaft aus deren Innerem. Vom Bruch mit der sozialen Gemeinschaft des Dorfes, den die Architektenhäuser durch ihre Abwendung vom Dorfzentrum inszenieren, und dem Vorzug, den ihre Bauherren bei der Bauplatzwahl den Aussichtslagen geben, war bereits im Abschnitt „Bauernhaus“ die Rede. In den linear organisierten Flurgrundrissen dieser Häuser tritt dieser Haltung eine Vereinzelung innerhalb der Familien hinzu. Beiden Maßnahmen gemeinsam ist, daß anstelle der gesuchten Nähe zur sozialen Gemeinschaft, die noch die Situierung der Bauernhäuser innerhalb der Dörfer ebenso wie deren Grundrißorganisation geprägt hatte, dem nunmehr in seine „Zelle“ zurückgezogenen Bewohner statt dessen ein neues Gegenüber angeboten wird: die Landschaft. Gotthard Frühsorge33 hat nachverfolgt, daß für die Lebensform des ländlichen Adels seit dem siebzehnten Jahrhundert ein spezifischer Naturbezug charakteristisch und als kollektive Kulturtechnik dieser sozialen Elite eng und in wechselseitiger Steigerung mit der Entwicklung eines Formenkanons ländlicher Architektur verknüpft ist. Das „Landleben“ tritt darin vor allem als Rückzugsort gegenüber der städtischen Gesellschaft in Erscheinung, das die ländliche Architektur zu „einer neuen Bauaufgabe der Privatheit“34 werden läßt, ein soziales Programm, das wiederum der akademischen Architekturtheorie einverleibt und damit der Architekturlehre zugänglich gemacht wird.35 Als solcher, als Kanon, geht dieser ehemals den ländlichen Adel kennzeichnende, betrachtende Naturbezug, dessen architektonischer Vollzug die Natur in eine bewohnte Landschaft überführt, noch als habitueller, unbeobachteter Entwurfsreflex in die heutige Architektur ländlicher Häuser ein – und 33 Gotthard Frühsorge, Jahrgang 1936, lehrte zuletzt Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Eine der wenigen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen des deutschsprachigen Raums, die sich bisher der Architektur als einer „sozialen Praxis“ gewidmet hat, ist seine Arbeit Die Kunst des Landlebens. Indem der Autor hier den Adel als isolierbare soziale Schicht und speziell dessen ästhetisierte und spezifisch ländliche Lebensform ins Auge faßt, gewinnt die Architektur, die jene Schicht beauftragt, die Kontur eines Speichermediums sozial wirksamer Formen, ein Gedanke, den auch die vorliegende Studie verfolgt.

Frühsorges aus der kulturhistorischen Untersuchung gewonnener Begriff von „Architektur“ trennt streng zwischen dieser und allem nichtarchitektonischen Bauen. So kann, ohne die kategorialen Verwirrungen, die Begriffe wie Naive Architektur etc. hinterlassen, tatsächlich die Akademie als Ort einer Kanonbildung und ihre Wirkung auf den „Input“, den der Architekt seinem Entwurf mitgibt, identifiziert werden. 34 Frühsorge, S. 142 35 Frühsorge führt etwa „das in ganz Europa immer wieder zitierte Musterbuch dieses Bauprogramms“ auf, Jacques François Blondels Lehrwerk De la Distribution des Maisons de Plaisance von 1737/38. Frühsorge, S. 142 f

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in Vorarlberg ist, schon wegen des allgegenwärtigen Berg- und Seepanoramas, fast jede Architektur in diesem Sinne „landschaftlich“. Das Korsett seiner ursprünglichen sozialen Exklusivität sprengend, gewinnt diese „soziale Konstruktion der Natur“ durch ihre Spiegelung in den regionalen Architektenhäusern den Rang einer allgemeingültigen, wertebildenden Norm. Naturbezug

Bereits die Bauherren des Eugster-Hauses in Langenegg hatten den Neid, den das Haus in der Nachbarschaft erregt hatte, mit der Neuerung begründet, daß ihr Haus gegenüber den „Allgäuerhäusern“ des Dorfes, „ins Grüne (...) wirklich einen direkten Zugang“ biete. Arno Eugster stellt diese Neuerung als spezifisch „architektonische“ Eigenschaft seines Hauses dar: Der Zugang zum Grünen (...), so wie er es bei uns ist überall, sogar bei den Kindern, so kann man ohne Architekt eigentlich nicht bauen.36

Mit seiner Bewertung dieses Unterschieds, „daß man mit genau gleichviel Geld auch ein ganz anderes Haus bauen kann. Das funktional wirklich ins Gelände paßt“37, bestätigt er nicht nur, daß der Neid der Nachbarn im höheren „Wert“ seines eigenen Hauses einen würdigen Gegenstand findet, sondern interpretiert den Naturbezug seines Hauses als dessen zentrale „Funktion“.38 Ähnlich äußert sich Ernst Wirthensohn über sein Haus. Ich glaube, die vier Außenplätze sind überhaupt das Beste im ganzen Haus. Ich kenne kaum Häuser, die das so schön, neue Häuser, die das so schön gelöst haben.39 Das Haus als Plattform zur Naturbetrachtung

Natürlich kann man sich auch ohne Haus in die Wiese setzen. Doch offensichtlich ist es eine besondere Qualität, dazu über eine gebaute Plattform zu verfügen. Eine noch höhere, diese Plattform auch zu bewohnen. Innerhalb dieser Wertehierarchie gewinnt Architektur ihre Qualität aus ihrer Entgegensetzung zur Natur. Erst in Entgegensetzung zur Natur kann durch Architektur das „Wesen“ eines Hauses als Gebautes dargestellt werden.40 Erst das Bauwerk wiederum fokussiert die Wahrnehmung der Natur dergestalt, daß sie zur Landschaft wird. Ernst Wirthensohn konkretisiert diese Wechselbeziehung der ästhetischen Konstruktionen in der Erläuterung seines Bauplatzes. „Die Geländekante hier, das ist alles natürlich. Und drum ist das auch ein schöner 36 ALE: Z 500 ff 37 ALE: Z 544 ff 38 Roland Rainer, einflußreicher Hochschullehrer wichtiger Vorarlberger Architekten, bringt in seiner 1948 erschienenen Schrift Ebenerdiges Wohnen das in der Architekturmoderne angelegte Bild des „Stadtmenschen“ zum Ausdruck, der sich „immer mehr zu jenem Freiluftwesen wandeln will, das er ursprünglich einmal gewesen ist.“ Rainer (1948), S. 13 39 EW 2: Z 1295 ff 40 Elisabeth von Samsonow verdeutlicht in ihrem Vortrag Herstellung eines Nabels – Eine mnemotechnische Operation, ausgeführt von einem Architekten, daß die Entgegensetzung zur Natur mittels Hausbau bereits in demjenigen Zivilisationsschritt vorwegge-

nommen wird, in dem der Rückzug der vorgeschichtlichen Jagdgesellschaft aus der freien Savanne in den Schutz einer Höhle geschieht. Die Autorin nennt die damit verbundene zivilisatorische Errungenschaft die „hypnotische Revolution“ (S. 66). Erst die Höhle nämlich schaffe die Voraussetzung jenes Sicherheitsgefühls, das die Herausbildung des „lang anhaltenden Tiefschlaf[s]“ und des „mit ihm zusammenhängenden Traumbewusstsein[s]“ ermögliche, das wiederum Voraussetzung sei zur Herausbildung einer „magischen“ Sphäre innerhalb der menschlichen Existenzerfahrung. Von Anfang an spalte sich auf dieser Grundlage das Bauen in sakrale und profane Räume. In: Tausch (2003) 41 EW 2: Z 1255 ff

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Platz. Ein bißchen abgehoben.“41 Erst das Haus, das die Geländekante zugunsten einer abgehobenen Lage nutzt, markiert diese vordem unauffällige geologische Bruchkante im Terrain als „schönen Platz“. Daß am „Wie“ dieses Naturbezugs des Hauses das gesellschaftliche Ansehen seiner Bewohner gemessen wird, kommt nicht nur im Neid zum Ausdruck, mit dem das Architektenhaus im Dorf bedacht wird, sondern bereits im Widerstand, der seinen Bauherren in dessen Entstehungszeit begegnet. So berichtet Wolfgang Schmidinger von Auseinandersetzungen mit dem Bauausschuß der Gemeinde Schwarzenberg, die sich an der vom Architekten vorgeschlagenen Stellung des Hauses innerhalb der Topographie des Bauplatzes, einem über die Länge des Hauses „ungefähr vom obersten [Punkt des Hauses] bis da runter einmeterfünfzig (...) abfallende[m]“42 Hang und vor allem dem Umstand entzündeten, das Haus in dessen Kontur einzufügen, ohne zuvor ein Plateau auszubilden. Die Forderung der Genehmigungsbehörde, „da vorne einen Hügel an[zu]schütten, daß das nicht so, dieser Keller nicht so herauskommt“43, deutet auf ein gesellschaftliches Schönheitsideal, das gleichzeitig das „Normale“ definiert. Das normale, gesellschaftskonforme Haus verfügt über einen ebenen Haussockel, denn es steht auf ebenem Grund und nicht am Hang. Diese historisch gewachsene Bewertungskategorie deutet auf die Besiedlungsgeschichte zurück, in der für das Dorf der ebene Siedlungsgrund gewählt worden ist. Der ebene Talgrund ist der Platz für die Gemeinschaft. Am Hang stehen folglich die Häuser der Einzelgänger und der Zuspätgekommenen.44 Dieser traditionellen Regel von der Wahl eines Bauplatzes hat die Architekturmoderne Bilder entgegengesetzt, die das vereinzelte Haus als neues Ideal propagieren, bevorzugt in unberührt erscheinender, wildromantischer Natur errichtet. Frank Lloyd Wrights Haus Kaufmann von 1935–39, nach seinem Bauplatz über einem pittoresken Wasserfall als „Fallingwater“ zu Weltruhm gelangt45, mag hierfür als Archetyp gelten. Auch unser Untersuchungsgebiet bietet in den Gebirgsgegenden Vorarlbergs solche in unwegsam scheinende Natur hineinkomponierte Häuser. Eines davon, das Haus, das Gunter Wratzfeld für die hoch über dem Rheintal gelegene Hangkante in Watzenegg entworfen hat, wurde hier bereits vorgestellt. Dessen neue Bewohner sind sich bewußt, daß das Abwenden von der Gemeinschaft der Preis ist, den der Ausblick kostet, den man als Einzelner, Einsamer, genießt und für 42 WS 1: Z 1385 ff 43 Ebd. 44 Der Bregenzerwald bietet kaum ebenes Bauland. „90% der Landesfläche Vorarlbergs ist Berggebiet“ (Kapfinger [2003], S. 116). Nach der Besiedlung des weiten Talgrundes, in dem das Dorf Andelsbuch „als herrschaftliches Zentrum der Besiedlung“ des Bregenzerwaldes liegt, bedeutete die erste „frühe Aus-

baustufe“ der Besiedlung, zu der die Gründung von Schwarzenberg gehört, bereits ein Ausweichen der Siedlungsflächen in die Hanglagen (Einreichdokument, S. 121). Das einzeln stehende Bauernhaus am Hang ist in vielen Gemeinden „Normalfall“. Im Vorderwald ist diese Siedlungsform Folge einer staatlichen Maßnahme, der Vereinödung. Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf, Anm. 111

Der ebene Haussockel

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sich als Privileg beanspruchen kann.46 Als Privileg auch deshalb, weil das Hausinnere und die gebauten Terrassen, der Privatraum also, der einzig ebene Grund ist. Außerhalb des Hauses ist steiler Hang, unwegsames Gelände. Hereinholen der Natur ins Haus

Wintergarten

Deutlicher noch als durch das „Markieren“ der Naturumgebung durch das Haus selbst, das die Natur zur Landschaft transformiert, vollzieht sich die Aneignung der Natur im Wunsch, sie ins Haus hereinzuholen. Frühsorge markiert diesen Schritt der kulturellen Praxis für die soziale Schicht des Adels historisch mit dem erstmaligen „Bewohnen“ der Orangerien, die im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts fester Bestandteil der adligen Landsitze und etabliertes Statussymbol ihrer Besitzer geworden waren.47 Frank Lloyd Wright hat mit seinen Pflanztrögen, mit denen er die Wohnräume seiner Prairiehouses entlang der Außenfassaden ausstattete, diese Domestizierung der Natur für die architektonische Moderne erstmals erprobt.48 Seine Nachfolger in Europa, die Architekten prototypischer Villen, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, wie Mies van der Rohe mit dem Haus Tugendhat, 1930 in Brünn gebaut, oder Egon Eiermann mit seinem eigenen Wohnhaus in Berlin49 zeigten Architekten wie Bauherren nicht nur, daß in städtischer Lage der dem Wohnraum angelagerte Wintergarten die Naturumgebung ersetzen kann, sondern auch, daß dieser, im neunzehnten Jahrhundert bereits als Element großbürgerlicher Architektur etabliert, auch in die ästhetische Welt der europäischen Architekturmoderne paßt. Vor diesem Hintergrund kann mein Gesprächspartner Norbert Mittersteiner, Baukünstler und einziger am Ort verbliebener Gründungsbauherr der für die Zweite Generation der Vorarlberger Architektenszene konstituierend gewordenen Siedlung Im Fang in Höchst, die charakteristischen Wintergärten der Siedlung als architektonisches Element vorstellen, das auf der Zeichenebene Kontinuität eher als Experiment symbolisiert. „Es hat natürlich in abgewandelter Form diesen Wintergarten immer schon gegeben. Oder, das gibts bei den Stadthäusern.“50 Mittersteiner verharrt in seiner Argumentation nicht auf der spezifisch architektonischen Ebene der visuellen Zeichen, sondern erschließt einen Erfahrungszugang, den er auf eine breite soziale Basis stellt, indem er die bäuerliche Bevölkerung ebenso wie die Bewohner 45 Dieses Bild von Fallingwater (House for Edgar J. Kaufmann, Bear Run, Pennsylvania, 1935–1939) ist vor allem aus einer einzigen fotografischen Perspektive, damit umso einprägsamer, verbreitet worden. Trotz des Umstandes, daß seine Lage, die USA, keine direkte Beziehung zum Untersuchungsgebiet zu besitzen scheint, weist etwa Wratzfelds Bezugnahme auf Mies van der Rohe dorthin. Dem Untersuchungsgebiet geographisch näher liegen pittoreske Architektenhäuser im Alpenraum, etwa Haus Böhler in Oberalpina nahe dem Schweizerischen St. Moritz (1916–18) von Heinrich Tessenow.

In Österreich trägt vor allem Lois Welzenbacher die 1920er-Jahre-Moderne in malerische Gebirgslagen. Vgl. Reichlin (1996) 46 Gespräch mit Ehepaar G., den heutigen Besitzern von Wratzfelds Haus Watzenegg, am 15.11. 2004 47 Frühsorge widmet den Orangerien und Palmenhäusern ein eigenes Kapitel. (S. 49 ff) 48 Dort, neben Frank Lloyd Wright selbst, vor allem durch den österreichischen Emigranten Richard Neutra weitergepflegt. Das Foto eines Neutra-Hauses von 1947 ziert den Umschlag von Roland Rainers Ebenerdige Wohn-

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der kurz zuvor errichteten Bregenzer Sozialwohnsiedlung An der Ach als Zeugen aufruft. Man kennt die Erfahrung, man setzt sich gerne in den Wintergarten. Es gibt auch beim Bauernhaus den Schopf, oder, das Löble, (...) also den überdeckten Bereich, früher mit der Klappe zum Zumachen. (...) Das hats auch in der Siedlung an der Ach, für die einzelnen Wohnungen, Wintergärten, Veranden, (...) das Element hat man dort schon überlegt.51

Die dargestellte Universalität dieser Wohnerfahrung legitimiert das eigentliche architektonische Experiment der Siedlung Im Fang, den Wintergarten von seiner bisherigen, räumlich peripheren Position erstmals ins Zentrum eines Einfamilienhauses zu stellen. Mittersteiner: „So genau wußten wir nicht, wie sich das Ganze in der Wohnpraxis bewährt.“52 Die architektonische Notwendigkeit dieses Positionswechsels ergibt sich aus der Konstellation der in der Siedlung neben- und übereinander geschachtelten fünf Häuser. Der in jedem Haus zentral positionierte Wintergarten reduziert die Notwendigkeit, die Außenfassaden mit Fenstern zu versehen, da er ähnlich einem Atrium den angrenzenden Wohnräumen Belichtung und Belüftung bietet und so erst die dichte Packung ermöglicht, die die fünf Häuser der Siedlung zu einem gemeinsamen Gebäudekomplex zusammenwachsen läßt. Indem der Wintergarten die Wohnräume mit Licht und Luft versorgt, somit zum notwendigen und unentrinnbaren Funktionselement der Wohnpraxis erhoben wird, tritt der zeittypische Charakter dieses Experiments in der Naturbeziehung zutage, in welche er den Bewohner setzt. Der zentral positionierte Wintergarten hebt die Abschirmungswirkung des Hauses gegenüber der Natur so weit auf, daß der Bewohner erneut in eine handelnde Position gegenüber ihren Kräften eingesetzt wird. Mittersteiner: Das ist wie die Schuhe wechseln, oder. Wenns kalt ist, muß man halt wärmere Schuhe anziehen, oder. Und wenns naß ist, andere, oder. Und das muß man halt handhaben.53

Diese Handhabung setzt die Bereitschaft voraus, sich einem solchen Einfluß auszusetzen und auf die Impulse der ins Haus hereinwirkenden Naturkräfte aktiv zu reagieren, zugunsten einer Freiheit zu handeln, die Notwendigkeit zu handeln, anzuerkennen: Sonnenschutz rauf/runter, Klappen unten, Klappen oben auf/zu, Innentüren, Außentüren auf/zu. häuser. In Rainers Kommentar zu dieser Bildwahl tritt neben einer Übernahme eines ehemals aristokratischen Habitus des naturnahen Wohnens durch das Bürgertum der innerakademische Konflikt zwischen der modernen und der heimatschützerischen Architektenfraktion in Erscheinung, die beide gleichermaßen die Definitionsmacht über die legitime Naturbeziehung ihrer Formensprache für sich beanspruchen: „Der ebenerdige Palast des reichen Mannes von heute; mit allen Mitteln moderner Technik ist die Grenze zwischen Haus und Garten aufgehoben, damit man buchstäblich in der Natur wohnen kann. So

wird in fast abstrakter Konsequenz das heutige Wohnideal greifbar gemacht und gleichzeitig dem bekannten Begriff des ,landschaftsgebundenen‘ Bauens bewußt eine andere Art von Harmonie zwischen Haus und Umgebung gegenübergestellt.“ (S. 62) 49 Rainer bildet das Haus in Ebenerdige Wohnhäuser (S. 59) ab: „Der vom Haus umschlossene Raum unter freiem Himmel und der wie ein Garten gestaltete Flur des Hauses demonstrieren die Gleichwertigkeit äußerer und innerer Wohnräume.“ 50 RNM: Z 541 ff 51 Ebd.

Zeittypische Form der Naturbeziehung

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Also, das funktioniert, oder. Aber es ist natürlich klar, wenn man den Wintergarten zu hat, oder, und die Klappen zu sind, dann kriegt er eine Temperatur von sechzig Grad, oder. Aber drum muß man das einfach handhaben, oder. Also, das ist nicht automatisiert, genauso, wenn die Sonne scheint, das ist ja das Tolle, in der Übergangszeit, macht man halt die Türen nach innen auf und dann kommt die Wärme in den Raum herein.54

Der Vergleich mit dem existentiellen Interagieren mit den Naturkräften, das etwa der Bauer oder seine städtische Schrumpfform, der Schrebergärtner, vollzieht, läßt die Handhabung des Wintergartens als symbolisches Handeln erkennen. Es erhält aus der Bezugswelt jener Bewohner und Bauherren seine generations- und bildungsspezifische Kontur, die, aufgeschreckt, politisiert und zu Protesten animiert durch den globalen Lagebericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“55, in Zusammenschlüssen wie derjenigen der Atomkraftgegner und der ökologischen Bewegung eine eigenverantwortlich handelnde Position gegenüber dem Technizismus der westlichen Industrienationen und ihren politischen Entscheidungsträgern zurückzugewinnen sucht. Der Widerstand gegen diese Zerstörung der Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen (...) steht am Ursprung spezifischer Teile der ökologischen Bewegung: Netzwerke gegenseitiger Hilfe für Kranke, Bewegungen zugunsten alternativer Medizinen, Bewegung für das Recht auf Abtreibung, Bewegung für das Recht, in Würde zu sterben, Bewegungen zum Schutz der Sprachen, Kulturen und Regionen usw. Die tiefe Motivation ist immer, die Lebenswelt zu schützen: vor der Herrschaft der Experten, vor der Quantifizierung und der monetären Bewertung, vor der Ersetzung der Autonomie- und Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen durch Beziehungen des Marktes, der Klientel, der Abhängigkeit.56 Symbolik der Naturbeziehung

Als für das Forschungsfeld charakteristische Form einer Bewegung innerhalb des Spektrums, das Gorz hier aufspannt, können die zahlreichen Vorarlberger Selbstbauinitiativen genannt werden, denen auch die hier betrachtete Siedlung Im Fang ihre Entstehung verdankt. Diese darf als Sonderfall gelten, da es sich bei den selbstbauenden Bauherren mehrheitlich um Architekten und deren Lebensgefährten gehandelt hatte. Die avantgardistische Architektur der frühen 1980er Jahre, die in Vorarlberg mit dem Eintritt einer „Zweiten Generation“ von Baukünstlern ins Berufsleben zusammenfällt, konstruiert Elemente, die einer „kritischen“ Generation und Bildungsschicht erlaubt, sich in eine symbolisch aufgeladene, gleichermaßen handelnde wie „leidende“ Naturbeziehung zu stellen. Doch auch vor dem Hintergrund der zeittypischen Kritik an einer die Natur ausbeutenden Hochtechnologie geben sich die architektonischen Mittel hierzu als Produkt einer technisch-wissenschaftlichen Ingenieursausbildung zu erkennen. Ihr Geist, ihre Konstruiertheit, entstammt derselben Rationalität, und, im Blick auf die technischen Hochschulen, denselben Orten der 52 RNM: Z 558 ff 53 RNM: Z 701 ff 54 RNM: Z 655 ff 55 Der Vorläufer von Die Grenzen des Wachstums ist 1972 der Bericht einer Gruppe britischer Wissenschaftler Blueprint for Survival. Gorz (2009), S. 39

56 André Gorz: Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung, in: Gorz (2009), S. 38 57 RNM: Z 638 ff 58 WS 1: Z 1441 ff 59 WS 1: Z 586

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Wissensvermittlung wie diejenigen Gegenstände, die die Position der erklärten weltanschaulichen Gegner markieren, ihre Autos, Atomkraftwerke und Rüstungsgüter. Wir wissen ja, daß jeder Wintergarten, jeder Raum, wo also starke Sonneneinstrahlung ist, daß da einfach, die sind immer über zwei Geschosse, das heißt, es ist einfach eine Thermik möglich, wir haben unten eine Zuluft und oben eine Abluft. Und, das ist unterschiedlich gelöst, aber im Prinzip, die Abluft geht über das Unterdach vom Dachstuhl, oder, wird das abgelüftet über den First, oder. Wir haben also wirklich eine sechs, sieben Meter hohe Temperatursäule, abfallende, oder, damit die Thermik wirklich funktioniert. Und die Abschattung haben wir, das ist auch ein unbedingtes Muß, daß Wintergärten, insbesondere die Dachverglasungen, beschattet werden müssen, und die Beschattungen haben wir innen gemacht, oder. Nachdem einfach die warme Luft nach oben weggeht, war es möglich, daß das Temperaturpolster zwischen Sonnenschutz (und Dachverglasung) einfach abgefahren werden kann. Also, das funktioniert.57

Mittersteiners hier wiedergegebene druckreife Erläuterung des dem Wintergarten zugrundeliegenden bauphysikalischen Prinzips läßt an der wissenschaftlichen Stichhaltigkeit des architektonischen Konzepts keinen Zweifel aufkommen. Der Unterschied, das Andere, das die Architektenhäuser jener Zeit auszeichnet, ist, und das wird gerade an ihrer Naturbeziehung deutlich, nicht ein grundsätzliches Infragestellen der technischen Zivilisation und ihrer rationalen Werkzeuge, deren Produkt ja die Architektur aus ihrer Ingenieurstradition selbst ist, sondern lediglich die experimentelle Bestimmung neuer Grenzen, innerhalb derer die Erscheinung der Natur zugelassen wird. Daß der Aspekt der Naturbeziehung geeignet ist, die Architektenhäuser der 1980er Jahre zu charakterisieren und sie gegen die Dominanz der rustikalen „Landhäuser“ abzugrenzen, zeigt neben dem neuen architektonischen Element der Wintergärten auch die Bauweise der „Zahnstocherhäuser“. Ein solches frühes Exemplar der als Skelett konstruierten neuen Holzhäuser, die in ihrer sozialen Konnotation als „Stadel“ bereits thematisiert wurden, ließ sich neben dem Ehepaar Eugster aus Langenegg auch Wolfgang Schmidinger planen. Bereits der Begriff „Zahnstocherhaus“ als Reflexion des traditionell geprägten gesellschaftlichen Blicks, des Außenblicks, der sich der Nachbarschaft bot, rückt die Verschiebung der Grenze, die das gesellschaftlich zulässige Maß für die Einwirkungen der Naturkräfte auf das Haus erfährt, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diesmal sind es nicht die Temperatur, die Niederschläge und das Wetter, wie am Bauelement des Wintergartens, sondern Schwerkraft und Wind, jene Naturkräfte also, denen sich das Haus mittels seiner Standfestigkeit entgegenstellt. Auffällig unterscheiden sich für Schmidinger die neuen Architektenkonstruktionen von den traditionell handwerklich gefertigten Holzhäusern durch die reduzierten Holzquerschnitte, „also, eine Bauweise, wo, (...) was vorher bei jedem Zimmermann 16/16 im Querschnitt war, (...) war das 12/12“.58 Das Neue und Überlegene der Bearbeitung durch die Architekten liegt darin, die Holzkonstruktion „statisch durchzurechnen“59. Dem Bewährten mit seinen Materialreserven wird eine Haltung

„Zahnstocherhäuser“

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entgegengesetzt, mittels objektivierbarer Berechnungen „an die Grenzen zu gehen“ und so nicht nur den Materialeinsatz zu optimieren, sondern vor allem eine neue Ästhetik zu erzeugen.60 Den summarischen Außeneindruck, „daß man irgendwie dachte, hoffentlich hält das überhaupt“61, Resultat der festgestellten statischen Abmagerung, illustriert Schmidinger mit der Schilderung des eigenen Wohnerlebnisses. Es gibt für mich (lacht) für mich gibts nichts Schlimmeres, wie einen starken Wind, weils, wenns extrem windet, dann seh ich heute noch diese Spargel da stehen, von Konstruktion, und von Ding, wo ich einfach jetzt heute sagen würde, dieser Minimalismus ging halt einfach da in eine Richtung, einfach auch eher eine Spur zu weit.62 Infragestellung der Standfestigkeit des Hauses

Die neue Eigenschaft des Zerbrechlichen stellt sich konträr gegen die Grundeigenschaft des Soliden und Behäbigen der herkömmlichen Häuser, in gewisser Weise sogar gegen die Uranforderung an ein jedes Haus, zuverlässigen Schutz vor der Unbill der Witterung zu bieten. Das Architektenhaus setzt den Bewohner wieder den Gefahren des Wetters aus, wenn auch nur in symbolischer Form, als Rest des romantischen Bedürfnisses zivilisierter Menschen, sich von den Naturgewalten berühren und aus der Fassung bringen zu lassen. Natürlich liegt im Bestehen der provozierten Gefahr auch immer der Überlegenheitsbeweis des demonstrierten Konzepts. In Schmidingers kritischer Bewertung, daß „dieser Minimalismus (...) eher eine Spur zu weit“63 gegangen sei, zeigt sich sowohl die Genauigkeit seiner Beobachtung als auch seine spezifische Wahrnehmungsperspektive. Als Handwerker ist er ein denkbar untypischer Bauherr für ein Architektenhaus, da die Architektenbeauftragung für ihn sowohl den Wechsel in eine fremde Werteumgebung darstellt als auch Distanz zur eigenen sozialen Rolle und fachlichen Kompetenz schafft. Der geschärfte Blick für die Eigengesetzlichkeiten des Machens bleibt ihm in diesem Rollenwechsel erhalten. So kann er feststellen, daß die Rationalität des architektonischen Konzepts für sein Haus nicht nur die Naturkräfte neu darstellt, sondern auch als genuin akademisches Konzept dort an Grenzen stößt, wo die Planbarkeit, und mit ihr die Sphäre des Architekten, endet, und eine unscharf konturierte Sphäre, die der handwerklichen Umsetzung, und damit die Kompetenz seines eigenen Standes, beginnt. 60 Historisch belegte Bauwerkseinstürze als Folge „überzogener“ architektonischer Formexperimente gehören zum Grundbestand des kollektiven Gedächtnisses des Berufsstandes, an den akademischen Ausbildungsinstituten bewahrt und jeder neuen Architektengeneration als Ansporn weitergegeben. 61 WS 1: Z 593 ff 62 WS 1: Z 1453 ff 63 Ebd. 64 WS 1: Z 1515 ff 65 „Es ist wesentlich dieser Rückzug auf die Innenwelt [im Wien der Jahrhundertwende], das Erforschen und Kultivieren der Subjektivität und des Individu-

ellen, die auch das Bedürfnis nach neuen Wahrnehmungsformen des architektonischen Raums befördern und Werte wie Wohnatmosphäre und Raumstimmung thematisieren, die von einer individuellen Wahrnehmungsfähigkeit und Befindlichkeit her gedacht waren. (...) Loos macht in seinen Ausführungen zur Bekleidungstheorie fast programmatisch klar, wie er den Raum von innen heraus denkt und daß er diesen aus einer individuellen Wahrnehmung heraus gestaltet, denn: Die Architektur weckt Stimmungen im Menschen; die Aufgabe des Architekten ist es daher, diese Stimmungen zu präzisieren.“ Lustenberger (1995)

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Schmidinger stellt fest, daß den Eigengesetzlichkeiten dieser seiner Sphäre im konkreten Fall des architektonisch zelebrierten Minimalismus, auch wenn gerade diese Zumessung den Anspruch erhebt, als übergeordnete Ordnungsebene die handwerkliche Kompetenzsphäre zu integrieren, ein zu geringer Raum zugedacht worden ist. Und da muß der Elektriker in den nächsten Raum. Und der kommt auf die Idee, und bohrt vier zwanziger Löcher, für zwanziger Schläuche, also achtzehner Schläuche, bohrt der, durch diese, durch diese sechs Meter lange, zwölf mal zwölf Säule, bohrt der vier- (lacht), das sind natürlich die Experimente, wo du einfach siehst, solche Details, die da, die kommen dir natürlich dann in den Sinn, wenn dann irgendwie richtig Sturm am Haus ist (lacht).64

Schmidingers Bemerkung ist einer jener Markierungspunkte, an denen Architektur überraschend deutlich als Konzept in Erscheinung tritt, dessen spezifische Rationalität zunächst lediglich für eine eng begrenzte soziale Gruppe Gültigkeit besitzt und keineswegs die ganze Gesellschaft repräsentiert. Erst über seine Durchsetzung und die ihm zuwachsenden Machtressourcen wird ihr Anspruch der universellen Gültigkeit gesellschaftliche Wirklichkeit. In der Frage, wie wohnlich die Architektenhäuser seien oder, allgemeiner, ob die Architektenhäuser in ihrer Wohnlichkeit Gemeinsamkeiten aufweisen, die als Merkmal Zeitgenössischer Architektur gelten dürfen, stoßen wir auf eine unmittelbare Kontakt- oder Reibungsfläche zwischen Architektur und dem einzelnen Menschen dort, wo dieser am empfindlichsten ist, im eigenen Heim, seinem Rückzugsort vor der Öffentlichkeit. Daß die Ausgestaltung dieser privaten und intimen Sphäre durchaus als architektonisches, damit als kulturelles und wiederum gesellschaftliches Terrain beansprucht wird, finden wir gerade in Österreich, dem Heimatland Sigmund Freuds65, neben den Werken auch in den Schriften exponierter Architekten bestätigt.66 Bereits in unserem Vergleich der Grundrißtypologie zwischen Architektenhäusern einerseits und den Bauernhäusern sowie deren typologischen Nachfolgern im handwerklichen Bauen des ländlichen Raumes andererseits ist deutlich geworden, daß ein wesentlicher Akt, den der Architekt beim Entwurf vollzieht, darin besteht, eine Konfiguration der Räume zueinander zu schaffen.67 Vermöge seines Repertoires, das wesentlich durch die Wissenschaftstradition seiner Ausbildungsinstitution, der (meist technisch orientierten) 66 Vgl. u.a. Loos: Von einem armen reichen Manne, in: Loos, S. 201; Roland Rainer: Individualität des Wohnens, in: Rainer (1948), S. 37 Sowohl Loos als auch Rainer nehmen in ihren Schriften kritische Distanz zum Eingriff des Architekten in das private Wohnumfeld. Posener weist jedoch darauf hin, daß die Entwurfspraxis zumindest des ersteren dieser Zurückhaltung eklatant widerspricht: „Er läßt den Architekten in seiner Geschichte vom armen reichen Manne sagen: Dann versuchen

Sie doch, ein neues Bild irgendwo aufzuhängen. Sehen Sie sich Loosens Herrenzimmer im Hause Müller in Prag an, und versuchen Sie, da irgendein Bild aufzuhängen!“ Julius Posener: Adolf Loos I – Die Schriften; Arch+ 53/1980, S. 26 67 Daß diese Konfiguration, als „Bild“ betrachtet, im fachinternen Architekturdiskurs gleichzeitig die „Signatur“ des Hauses darstellt, verdeutlichte bereits der Abschnitt Architektur als Ordnung unseres ersten Kapitels Architektur?.

Wohnlichkeit

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Hochschule geprägt ist, obliegt dem Architekten in diesem primären Entwurfsakt die Entscheidung zwischen mehreren Typen solcher Grundriß- und Erschließungslösungen. Er trifft damit unbewußt, jedenfalls was die psychologische Wirkung betrifft68, eine Wahl, die das Sozialverhalten der späteren Bewohner durch die Programmierung ihrer Wege, ihrer Begegnungs- und Rückzugsorte und damit des Grades ihrer sozialen Reibungsfläche in hohem Maße präfiguriert. Robin Evans beurteilt den sozialen Effekt, mit dem die von der Architektur vorgegebene Raum- und Wegekonfiguration das Verhalten beeinflußt, historisch gesehen eher im Verhindern, der Prävention, als im Ermöglichen. Sicher wäre es naiv zu glauben, irgend etwas in einem Grundriß könne die Menschen dazu zwingen, sich auf diese oder jene Weise zueinander zu verhalten, oder gar ein tagtägliches Regime geselliger Sinnlichkeit durchzusetzen. Allerdings wäre es noch viel naiver zu glauben, ein Grundriß könne Menschen nicht daran hindern, sich auf eine bestimmte Weise zu benehmen, oder es ihnen zumindest erschweren. (...) Architektur wird immer häufiger als Präventivmaßnahme eingesetzt: Sie ist eine Agentur für Frieden, Sicherheit und Isolierung geworden, die den Erfahrungshorizont automatisch einengt, indem sie Geräuschübertragung herabsetzt, Bewegungsmuster ausdifferenziert, Geruchsbildung unterdrückt, Vandalismus eindämmt, Schmutzentwicklung einschränkt, Krankheitsausbreitung erschwert, Peinliches verschleiert, Unanständiges wegsperrt und Unnötiges abschafft, und, so ganz nebenbei, das tägliche Leben auf ein privates Schattenspiel reduziert.69

Während Evans mit seiner Beurteilung primär den Niederschlag moralischer Werte religiöser Provenienz in der akademischen Architekturlehre und damit eine sozialhistorische Entwicklung verfolgt, nehmen Kuhnert und Schnell in den Reglementierungen, die architektonisch formulierte Grundrisse an ihren Bewohnern vornehmen, nationale Eigenarten wahr. Vornehmlich österreichische Architekten haben aus früheren Zeiten Erfahrung mit dem partizipatorischen Bauen. (...) Sie entwerfen Grundrisse, die mehrere Optionen der Nutzbarkeit, der Schaltbarkeit oder der Erschließung zulassen (im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus). Und das ist etwas anderes, als alles festzulegen oder alles offen zu lassen. Schließlich müssen die Optionen nicht wahrgenommen werden. Es handelt sich aber um einen Schritt aus der Uniformität und der festgelegten Welt standardisierter Regeln im Wohnungsbau hinaus.70

Der folgende Abschnitt dieses Kapitels, der sich dem gewerblichen Wohnbau widmet, wird ein Vorarlberger Exemplar eines solchen Wohnbaus mit „offenen Nutzungsoptionen“ dokumentieren. Daneben wird dort mit der Person des Bauträgers ein Gegenüber des Architekten vorgestellt, der ein spezifisches, wirtschaftlich geprägtes Interesse an den Grundrissen der von ihm erstellten Wohnungen vertritt. Sein Augenmerk richtet sich aus dem 68 „Architekten haben die phantastische Fähigkeit, ausgiebig über Gesellschaft zu reden und ausschließlich ihre Architektur zu meinen. Erfahrungsgemäß sind sie unter diesen Bedingungen gegenüber soziologischen oder psychologischen Belehrungen und Herausforderungen vollkommen resistent.“ HoffmannAxthelm, S. 8 ff (zit. nach Rambow, S. 17). Der Autor schließt sich mit seiner Bemerkung einer Kritik an,

die seit den 1970er Jahren von prominenten Sozialpsychologen, allen voran Alexander Mitscherlich, vertreten wird. 69 Evans (1996), S. 97 70 Kuhnert/Schnell in einem Interview mit Häußermann /Siebel, den Autoren von Soziologie des Wohnens (Weinheim 1996) in: Arch+ 134 /135, S. 14 71 ALE: Z 400 ff

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Blickwinkel des Wohnungsmarktes auf den späteren Bewohner. Die Definition eines „funktionellen“ Grundrisses, wie sie der Bauträger vornimmt, ist gleichzusetzen mit einem günstigen Verhältnis zwischen Erschließungs- und Wohnraumfläche, das einen Indikator für die rentable Vermarktbarkeit der Wohnung darstellt. Ganz im Gegensatz zu dem Rechtfertigungsdruck bezüglich der von ihm entworfenen Grundrisse, dem der Architekt in der Zusammenarbeit mit dem Bauträger ausgesetzt ist, überläßt der typische Bauherr eines Einfamilienhauses, wie er mir in meinen Gesprächen begegnet ist, seinem Architekten dieses Feld weitgehend. Wir haben nur die Zimmer innen festgelegt. Was wir für Zimmer haben wollen. Wie die Anordnung der Zimmer ist, oder wie das Haus ausschaut, das war Architektensache.71

So schildert Arno Eugster seine Entscheidung zur Aufgabenverteilung zwischen ihm als Bauherrn und seinem Architekten72, eine Entscheidung, der die Einschätzung eines gleichsam „objektiven“ Funktionierens der architektonisch entworfenen Raumkonstellation zugrundeliegt. Evans dagegen weist nach, daß der Architekt keineswegs „frei“ handelt, sondern vielmehr, vermittelt durch die akademische Verankerung seines Metiers, in seinem Entwurf ein sozial konstruiertes Wertgefüge abbildet, das Architektur, als Lehr- und Verhaltenskodex verstanden, inkorporiert hat.73 Insbesondere meine weiblichen Gesprächspartner, die Bauherrinnen, richten mein Augenmerk darüber hinaus auf eine Rolle des Architekten, die über die Determinierung des Sozialverhaltens der Bewohner mittels Festlegung einer Raumkonstellation hinausgeht: Der Architekt als in seinem Werk präsente Instanz zur Bewertung ihres Wohnverhaltens und eines Umgangs mit dem Haus im Sinn seines Entwurfes. Den Umstand, daß ein Haus geschlechtsspezifische Sphären umfaßt, hatte bereits Hans Purin in unserem Gespräch über sein Atriumhaus am Bregenzer Ölrain angedeutet, als er der Bauherrin mit der Gartenpflege einerseits eine eigene Rolle, andererseits einen ihr verfügbaren Gestaltungsraum zuschrieb. 72 Mit seiner Stellungnahme „Also, das sogenannte klassische Bauen, das dünne Vordach, mit so einer Stahleinfassung zum Beispiel, das ist nicht unbedingt, was das Wohnen lebenswert macht“ (RNM: Z 1427 ff), widersetzt sich Norbert Mittersteiner der typischen Architektenrolle, wie sie Arno Eugster darstellt, und führt eine soziale Definition der Architektur ein. Diese Sichtweise, die seinem eigenen, nichtakademischen Zugang zur Architektur Profil verleiht, wird im Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, thematisiert werden. 73 „Es fällt schwer, im üblichen Grundriß eines zeitgenössischen Hauses etwas anderes zu sehen als eine von kühler Vernunft diktierte Manifestation des Nützlichen und Selbstverständlichen, und deshalb neigen

wir zu der Ansicht, daß eine Sache von so offensichtlicher Plausibilität ein unmittelbarer Ausdruck grundlegender menschlicher Bedürfnisse sein muß. (...) Doch das ist eine Täuschung, und eine folgenschwere dazu, denn sie verdeckt die Macht, die die gewohnte Gliederung des häuslichen Raums auf unser Leben ausübt, und gleichzeitig verdrängt sie die Tatsache, daß dieses Arrangement einen Ursprung und einen Zweck hat. Das Streben nach Privatsphäre, Komfort und Unabhängigkeit mittels Architektur ist relativ neu, und auch wenn diese Begriffe zum erstenmal in Zusammenhang mit Dingen des Haushalts auftauchen, unterschied sich ihre Bedeutung in mancher Hinsicht von der, die wir heute damit verbinden.“ Evans (1996), S. 85

Frauenrollen

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Die Pfarrerin, die hat damals einiges übrig gehabt für den Garten, und das war gepflegt, und schön, und so war das.74

Dem Garten steht in jenem Haus das Arbeitszimmer, an der öffentlichen, dem Kirchplatz zugewandten Seite des Hauses plaziert, als Ort des Mannes gegenüber.75 Eine solche Einräumung eines Gestaltungsraumes für die Frau gehört jedoch, Leopoldine Eugster zufolge, durchaus nicht zum generellen Bestand zeitgenössischer architektonischer Entwürfe. Inzwischen ist ja alles so grün, voller Blumen und Bäume. Wenn der Architekt jetzt kommen würde, er würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Weil, der war immer dagegen, wenn ich Blumen, Balkonblumen gemacht habe.76

Textilien

In all ihren Beiträgen, die Erscheinung des Hauses mitzugestalten, teils einem traditionellen sozialen Rollenverständnis entspringend, teils aus individuellem Aneignungsbedürfnis gegenüber dem eigenen Wohnumfeld, weiß sie sich in Opposition zu der einzigen Rolle, in die ihr Architekt sie in seinem Entwurf eingesetzt hat: Putzfrau seines Werkes zu sein. „Er wollte alles ganz kahl. Bei Fototerminen ist ihm am liebsten gewesen, wenn dann der Staubsauger irgendwo gestanden ist. Weil, dann sieht man, daß man da wohnt.“77 Die vom Architekten bevorzugte „Kahlheit“ richtet sich insbesondere gegen alle Arten von Textilien. LE Ja, er wollte keine Teppiche, und so. AE Keine Vorhänge! LE Keine Vorhänge, nichts. Wenn er es jetzt sehen würde, würde er wahrscheinlich... wir hätten jetzt viel zu viele Sachen herinnen.78

Dem Architektenargument, den Naturbezug seines Hausentwurfs zu stören, „er hat gesagt, warum sollen wir da Vorhänge hintun, wenn wir ins Grüne schauen wollen“79, steht gerade im Bregenzerwald ein traditionelles Sozialverhalten gegenüber, das dazu dient, dem Haus einen Ausdruck geordneter Verhältnisse zu geben. Und zwar hat man Spitzen gehäkelt. Da habe ich Tage, Monate fast, gehäkelt, bis überall so ein „Spitz“ war, also da herinnen. (lacht) Das war irgendwo, einfach, als gute Hausfrau mußte man das machen.80

Leopoldine Eugster vollzieht in ihrem habituellen Akt, die kunsthandwerkliche Tradition des textilen Hausschmucks81 vom elterlichen Bauernhaus auf 74 HP: Z 366 ff 75 Ich weise hier auf diese Übereinstimmung zwischen archaischem Haustypus und ebenso archaischer Verteilung der Geschlechterrollen hin, ohne auf den Geltungsumfang dieses Phänomens im vorliegenden Fall näher eingehen zu können. Es ist denkbar, daß in der arabischen Welt, wo der Typus des Atriumhauses sowohl als Stadthaus wie auch als ländliches Hofhaus fortlebt, dieser architektonische Typus auch geschlechterspezifische Aufenthaltssphären beinhaltet, deren Konstellation zueinander die Geschlechterrollen jener Gesellschaften abbildet. 76 ALE: Z 958 ff 77 Ebd.

78 Ebd. 79 ALE: Z 982 ff 80 ALE: Z 1019 ff 81 Eva Maria Feurstein dokumentiert sowohl die im Bregenzerwald bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichende Tradition dieses textilen Hausschmucks (ihre Fotos zeigen durchwegs alte Häuser), als auch dessen gegenwärtige Löschung aus der gesellschaftlichen Praxis: „Leider sind die heutigen vielseitigen Freizeitmöglichkeiten und die moderne Holzarchitektur mit großflächigen Fenstern dem ,Kunsthandwerk Häkeln‘ nicht förderlich. Trotzdem ist die Begeisterung der Beschauer bis auf den heutigen Tag geblieben.“ Feurstein Eva Maria, S. 3

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ihr Architektenhaus zu übertragen, die Ablösung der alten durch eine neue Kulturform des Wohnens ebenso direkt wie unspektakulär. Demgegenüber wirkt die Architektenforderung nach „Kahlheit“ als kultureller Kahlschlag: Neben der architektonischen Kulturleistung darf es nichts geben. Architektur tritt hier „reformatorisch“, mit Bilderverbot und einem puristischen Repräsentationskodex in Erscheinung, als sei das Haus ein Tempel zur Verehrung von Architektur. Auch darin unterscheidet sich das Architektenhaus vom Entwurf des Gemeindesekretärs und demjenigen des planenden Handwerkers: Mit dem Architekten holt sich der Bauherr den Repräsentanten einer auf Ästhetik beruhenden Institution ins Haus, eine unsichtbare Gegenwart, die fortan mit allen Wohnbedürfnissen in permanentem Konflikt stehen wird.82 Der „Schutz“, dem die Institution Architektur das Haus unterstellt, degradiert seine Besitzer zu temporären Bewohnern, zu anwesend Abwesenden, deren verborgene Existenz sich höchstens durch einen Staubsauger zeigen darf. Dabei hatte Gottfried Semper, Vordenker der Moderne inmitten des Historismus, die Wand seiner „Urhütte“ noch als Flechtwerk unter einem Dach auf Stützen imaginiert. Er gab damit der Architekturfassade, ebenso wie der architektonischen Bekleidung der Innenseite des Rohbaus, genuin textilen Charakter.83 Und auch die Anfänge moderner Architektur in der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung bezogen von Jane Morris über Margaret Mackintosh Textilien – und ihre Gestalterinnen – als unverzichtbaren Teil des Raumentwurfs ausdrücklich ein, eine Auffassung von Gesamtkunstwerk, die in der Webwerkstatt am Bauhaus84, den Häusern Eileen Grays und der Designwerkstatt des Ehepaars Eames eine Fortschreibung bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein fand. In der zeitgenössischen Architekturdoktrin ist davon nur die harte Substanz des Bauwerks selbst übriggeblieben. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht erscheint daran vor allem bemerkenswert, daß dieses „Rohbauargument“, die „im konstruktiven Gerüst gegebene Gestalt auch architektonisch anzunehmen“85, den Kreis derjenigen, die Architektur als Ausübende von Ästhetik in ihren Gesellschaftsentwurf einbezieht, radikal verengt. Die Konsequenzen, die dem Handwerk aus dieser Entwicklung erwachsen, werden im letzten Kapitel der vorliegenden Studie angesprochen werden. An dieser Stelle kann zunächst festgestellt werden, daß der aktuellen Entwicklung des Architekturbegriffs hin zu einer Rohbauästhetik auch eine geschlechterspezifische Komponente innewohnt. Mit ihren spezifisch maskulinen Aspekten, insbesondere der Betonung einer technischen Konstruiertheit des Bauwerks, verschließt sich diese Ästhetik gleichzeitig nicht nur jeder Integration kunsthandwerklicher Ausstattung, sondern eliminiert nebenbei auch die Beteiligung der Frau an der „legitimen“ Kulturform des Wohnens.86

Genderaspekte der zeitgenössischen Architekturästhetik

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82 In aktuellen Wettbewerbsauslobungen für Wohnanlagen der gehobenen Preisklasse in der benachbarten Ostschweiz wird diese Hierarchie des Bedarfs bereits gelegentlich in Form von Persönlichkeits- und Sozialprofilen potentieller Käufer vorgegeben: „Ihre Ansprüche an das Design und die Architektur sind oftmals höher als ihre Ansprüche an die Wohnlichkeit.“ Gemeinde Trogen, S. 13 83 Friedrich Kurrent schlägt eine gedankliche Brükke zwischen Sempers „Textil-Theorie“ und der im Forschungsraum für den Holzblockbau gebräuchlichen Bezeichnung „g’strickte Hüser“. Brief vom 29.05.2011 84 „In Europa waren die hochangesehenen Meister der mittelalterlichen Zünfte ausschließlich Männer (...). Frauen war es gesetzlich verboten, sich einer Zunft, sei es der der Weber oder der Schneider, anzuschließen. Mit dem aufkommenden Kapitalismus und der Einführung des mechanischen Webstuhls im neunzehnten Jahrhundert drängten Frauen in nie dagewesenem Maße auf den Arbeitsmarkt und ersetzten die gutausgebildeten männlichen Weber – jedoch nicht als Facharbeiterinnen, sondern als ungelernte Fabrikarbeiterinnen. Als eine Folge der industriellen Revolution wurde der gesamte Bereich des Handwerks und des Designs von der Arts-and-Crafts-Bewegung mit ihrer nostalgischen Schwärmerei für ein vorindustrielles, ja mittelalterliches Utopia verein-

nahmt. Wie Anthea Callen belegt, spielten Frauen in dieser Bewegung eine wichtige Rolle, wenn auch nur wenige als autonome, finanziell unabhängige Kunsthandwerkerinnen. (...) Als Zugangsvoraussetzung für das Bauhaus war festgeschrieben worden, daß ,jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, deren Vorbildung vom Meisterrat des Bauhauses als ausreichend erachtet wird, auf genommen wird, soweit es der Raum zuläßt.‘ Doch (...) Gropius hatte den Wunsch von Frauen, am Bauhaus zu studieren, gewaltig unterschätzt und war bestürzt über den hohen Prozentsatz weiblicher Bewerberinnen. Und so richtete der Meisterrat fast von Beginn an eine eigene Frauenabteilung ein, offenbar auf den Wunsch der Studenten. (...) Die Töpferwerkstatt indes war wenig erpicht darauf, weibliche Studenten aufzunehmen. (...) Als die Buchbinderei 1922 aufgelöst wurde, blieb den Frauen nur noch die Möglichkeit, in die Webwerkstatt einzutreten.“ Wortmann-Weltge, S. 41 85 Hüter (1981), S. 134 86 Genderspezifische Beiträge zum regionalen Selbstverständnis Zeitgenössischer Architektur wurden im Forschungsfeld zuletzt im Verlauf der 1980er Jahre formuliert. Vgl. etwa den Sammelband Frauenzimmer des Vorarlberger Autorenverbands (1984). Zum hier angesprochenen Themenfeld vgl. darin die Beiträge von Walter Holzmüller, Elisabeth JuenRohner und Elisabeth Rüdisser.

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253 4.5 Gewerblicher Wohnbau Wohnbau nimmt seinem Volumen nach den weitaus größten Anteil der Bauwirtschaft ein.1 Als gewerblicher Wohnbau wird hier derjenige Sektor des Wohnbaus bezeichnet, der nicht direkt vom späteren Bewohner als individuellem Bauherrn beauftragt wird. Statt dessen wird das Objekt, Wohnung oder Einfamilienhaus, gewerblich als Produkt erzeugt, um über einen Markt, den Wohnungs- oder Immobilienmarkt, verkauft oder vermietet zu werden. Der folgende Abschnitt untersucht, wie sich die Voraussetzung einer marktgängigen Wohnungsproduktion auf die Beziehung auswirkt, die die marktbestimmenden Unternehmen, die Bauträger, mit dem Berufsstand der Architekten eingehen, anders gesagt, nach welchen – und wessen – Gesetzen die für Vorarlberg charakteristische Integration avancierter Architektur in die regionale Wohnbauwirtschaft funktioniert. Indem festgestellt wird, daß mit der Wahl der Wohnung zugleich ein Platz auf der Skala sozialen Ansehens zugewiesen wird, kann im Folgenden untersucht werden, welche Beiträge Architektur zu dieser Sozialstruktur des Wohnungsmarktes leistet. Ein aktuelles Ereignis wirft ein Schlaglicht auf das Thema. 2003 fand in Bregenz ein geladener Architekturwettbewerb für eine Sozialwohnanlage statt.2 Die Preisträger, eine Projektgemeinschaft junger Architekten, hatten die Jury durch die gelungene Plazierung des geforderten Bauvolumens auf dem schwierig geschnittenen, langgestreckten Hanggrundstück überzeugt. Die Empfehlung zur Realisierung des Entwurfs wurde jedoch vom vorsitzenden Architekten nur unter Vorbehalt, mit der Auflage einer gravierenden Änderung der Fassaden, ausgesprochen. Den komplexen Umstand, daß der Gegenwert beim Wohnungskauf nicht nur in substantiellem Wohnraum, sondern auch in sozialem Kapital besteht, faßte er dazu in den prägnanten Satz: „Wie soll der S. [ein etablierter Bauträger für das gehobene Preissegment] noch seine Wohnungen verkaufen, wenn jetzt schon Sozialwohnungen so aussehen dürfen?“3 Die Begleitumstände dieser mustergültigen Interpretation von Architektur als Schöpferin sozial relevanten Kapitals demonstrieren darüber hinaus den Vorgang ihrer fortgesetzten „gesellschaftlichen Konstruktion“, da alle Beteiligten sich der ausgesprochenen Empfehlung fügten. Die Bewohner beziehen jetzt Häuser, die sich nach außen nicht mehr mit den mondänen Attributen tiefer Mauerleibungen und sonnensegelüberspannter Loggien schmücken, die noch die Wettbewerbsillustrationen geziert hatten. Statt dessen vermitteln die Fassaden mit ihren farbigen Holzverkleidungen nun den Charme idyllischer 1 GW: Z 1353 ff 2 Auf den Umstand, daß die Träger des sozialen Wohnbaus in Vorarlberg in großem Umfang Architekturbüros einbinden, anstatt sich auf Eigenplanungen zu beschränken, weist Architekt Gunter Wratzfeld in

unserem Gespräch hin und begründet damit gleichzeitig einen Qualitätsvorsprung gegenüber dem Sozialen Wohnbau in Wien, der „viel banaler“ sei. GW: Z 1309 ff 3 Mitgeteilt durch die betroffenen Architekten

Wohnung als soziales Kapital

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Schrebergartenlauben und weisen damit den Bewohnern einen ihrer sozialen Klasse offenbar gemäßeren Rahmen zu.4 Als erfolgreiche Abwehr einer Fehlzuweisung architektonischer Privilegien betont die Korrektur den Status der kritisierten Attribute des Wettbewerbsentwurfes als sozial klassifizierende Signale. Bauträger und Bauunternehmer

Mit Bezugnahme auf den selben Bauträger wie der Juryvorsitzende charakterisiert Bertram Dragaschnig in unserem Gespräch die reguläre Geschäftspraxis dieses Unternehmenstyps: Wenn heute ein Bauunternehmer ein (...) Grundstück kauft, bebaut, was interessiert den dann? Zuerst einmal die Kosten, wie hoch liegen die Erschließungskosten, so, und dann die Baunutzzahl. Und dann pflastere ich da drauf, soviel wie nur irgendwie möglich.5

Bauträger als Handwerksbetrieb

Dragaschnigs Gleichsetzung von Bauträger und Bauunternehmer enthält ein Bündel von Hinweisen auf den „genetischen Code“ dieses Unternehmensmodells. Zunächst, und diese Interpretation schließt an die Erkenntnisse des vorangegangenen Kapitels Holz an, ordnet sie den gewerblichen Wohnbau gemäß dem verarbeiteten mineralischen Baustoff dem „Massivbau“ zu. Bauträger sind zu einem überwiegenden Anteil ehemalige Bauunternehmer oder Geschäftsbereiche größerer Bauunternehmen, die ihre Wohnanlagen bevorzugt im eigenen Material, dem Mauerwerks- und Stahlbetonbau, errichten.6 Die Erweiterung, die den Bauträger gegenüber dem Angebotsspektrums herkömmlicher Baufirmen auszeichnet, besteht in der Bauausführung in eigenem Auftrag, indem auf zuvor gekauften Grundstücken Einzel- oder Reihenhäuser, heute vor allem aber Geschoßwohnanlagen errichtet und anschließend verkauft werden. Solange die Größenordnung moderat bleibt, liegen die erforderlichen Planungsleistungen innerhalb der Kompetenz und Befugnis des Berufsstandes eines Baumeisters bzw. seines deutschen Pendants, des Maurermeisters.7 Diese Selbständigkeit des Bauträgers auf dem Feld der Planungsregie bestimmt wesentlich sein Verhältnis zum Berufsstand der Architekten, wie zu zeigen sein wird. Neben diese material- und herstellungsbasierte Einordnung ist eine sozialökonomische zu stellen, die den Bauunternehmer, der sich als Bauträger betätigt, als Handwerksbetrieb betrachtet. Vor allem im Vergleich zum akademisch-künstlerisch dominierten Selbstverständnis des Architektenstandes stellt sich die charakteristische Kunden- bzw. Käuferorientiertheit des Bau4 Ein Essay im Standard über die mittels neuer Kommunikationsmedien gegebene permanente berufliche Präsenz Selbständiger kam 2009 zu dem Schluß, der „Feierabend“ sei mittlerweile ein „Unterschichten-Phänomen“ geworden. 5 BD: Z 780 ff Dragaschnig nutzt die hier zitierte Charakterisierung zu einem Vergleich von Bauunternehmen aus

dem Vorarlberger Rheintal mit solchen aus dem Bregenzerwald hinsichtlich ihrer Problemlösungskompetenz. Hierbei komme den Firmen des Rheintals eine letztlich nachteilige, einseitige Renditeorientierung zu. In ähnliche Richtung weisen die Selbstauskünfte von Bregenzerwälder Landwirten für den Agrarsektor. 6 In Greußings ironischer Schilderung des „Sponso-

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Gewerblicher Wohnbau

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trägers als notwendiger Bestandteil der Wirtschaftsform des Handwerks dar. Indem der Bauträger bestrebt ist, marktgerecht zu bauen, orientiert er seinen Qualitätsbegriff am Blickwinkel des zukünftigen Käufers und Nutzers seines Produkts, folgt also herrschenden sozialen Rahmenbedingungen und Wertvorstellungen seiner Kunden, anstatt aufklärerisch oder gar provokant im Sinn einer künstlerischen Avantgarde zu handeln, wie es die Berufsethik des Architektenstandes verlangt. Innerhalb des Wohnungsmarkts bedient der Bauträger einen abgrenzbaren Sektor, den des Wohneigentums, das einer entsprechend wohlhabenden sozialen Mittelschicht angeboten wird. Mein wichtigster Gesprächspartner für diesen Abschnitt ist Peter Greußing, Geschäftsführer der Wohnbauabteilung im international agierenden Bregenzer Baukonzern Rhomberg. Der bauliche Typ, in dem das Wohneigentum, Haus oder Wohnung, angeboten wird, folgt laut Greußing der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Preisen8 und dem Einkommen jener Schicht, die er als seine Kunden ins Auge faßt. Gegenwärtig werde der Preissektor, also Grundstücks- und Errichtungskosten, vor allem durch Aufwendungen zugunsten ökologischer Bauweisen in die Höhe getrieben.

Bauträger und Wohnungsmarkt

Weil der Wohnungserwerb einfach in der absoluten Größenordnung für jeden einzelnen an der Grenze steht... Folglich hat man sich vom Einfamilienhaus eh schon lange verabschiedet, auch das Reihenhaus... er braucht einfach eine 3-Zimmer-Wohnung, weil er eine gewisse Familienplanung hat.9

Oberhalb der sozialen Schicht, die den Kundenstamm der Bauträger bilden, sind die Bauherren der individuell geplanten und bevorzugt an exponierten Standorten errichteten Villen, die in städtischen Lagen die Gestalt von penthouses oder exklusiven Dachausbauten annehmen, einzuordnen. Unterhalb der Schicht der Bauträgerkunden bilden der Mietwohnungsmarkt und der Soziale Wohnbau einen breiten Sockel, letzterer in Händen gemeinnütziger Siedlungsgesellschaften unter der Trägerschaft von Kommunen, Landes- oder Bundesbehörden.10 Die Eigenschaft des Wohnungsmarktes, als Medium gesellschaftlicher Verortung zu wirken, erlaubt dem Einzelnen umsomehr Selbstverortung, je größer seine Gestaltungsspielräume, Wahlmöglichkeiten und das einsetzbare finanzielle Kapital werden. Die Eigentumswohnung ist daher weit geeigneter zur sozialen Profilierung als die Mietwohnung, die „Villa“ wiederum geeigneter ring“, das seine Firma zugunsten der unkalkuliert hohen Qualität der Sichtbetonflächen des Bregenzer Kunsthauses zu leisten hatte, scheint die Vorliebe des Bauunternehmers für den Stahlbeton auf. Sein Fazit: „Es ist heute noch für uns ein Herzeigeobjekt, und den Ärger, den wir da gehabt haben, an den kann sich bald niemand mehr erinnern.“ PG: Z 1357 ff; 7 Damit ist das Geschäftsmodell des Bauträgers

im Berufsbild des „Baumeisters“ ausdrücklich vorgesehen, im Berufsbild des Architekten jedoch ebenso ausdrücklich ausgeschlossen. Vgl. Berufsordnungen 8 PG: Z 85 ff 9 PG: Z 96 ff 10 Vgl. die Entstehungsgeschichte der Vorarlberger Siedlungsgesellschaft Vogewosi im Abschnitt Genossenschaftlicher Wohnbau, Kapitel Vorarlberg

Sozialstruktur des Wohnungsmarkts

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Selbstgestaltung – Fremdgestaltung

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als die Eigentumswohnung. Diejenigen Wohnformen, die dem Einzelnen die größte Identifizierbarkeit bieten, bergen auch das größte soziale Kapital in Form individuellen Ansehens. Zwangsläufig steht der Stufenleiter wachsender Möglichkeiten zur Selbstgestaltung eine abwärts weisende Treppe der Fremdgestaltung oder des Gestaltetwerdens zur Seite. Mangelnde Möglichkeit zur Selbstgestaltung bedeutet in modernen Gesellschaften unseres Kulturkreises nicht, in Gestaltlosigkeit, Chaos und Unordnung zu verharren, sondern die staatlich verordnete Zuweisung einer fremdbestimmt gestalteten Umgebung. Der Einzelne hat sein individuelles Wohl in solchen zugewiesenen Ordnungen den Zielen eines Gemeinwohls unterzuordnen. Für den Wohnbau ist festzustellen, daß dort, wo städtebauliche landmarks gewünscht werden, häufig Sozialwohnungen das „Material“ der Wahl sind. Die überlangen „Riegel“, die „Superblöcke“ und „Wohntürme“, die von Stadtplanern gerne als „Stadtkanten“ oder „stadträumliche Dominanten“ eingesetzt werden, wegen ihrer Unübersehbarkeit bei Architekten gleichermaßen beliebt, da sie versprechen, in den Annalen der Architekturgeschichte als einsam ragende Solitäre verzeichnet zu werden, sind als formal verselbständigte, avantgardistische Bauskulpturen nur deshalb rentabel realisierbar, weil ihre späteren Bewohner als stumme Dispositionsmasse in die zugrundeliegende Rechnung eingesetzt werden können.11 Greußings Darstellung des Wohnbaus als „in der Masse (...) sehr konservatives Geschäft“12, schlägt die Brücke vom Sozialwohnbau zurück zum Wohneigentum. Der identifizierbare Bewohner als potentieller Käufer und seine an sozialen Normen orientierten Erwartungen aktivieren den genuin handwerklichen Anspruch der Bauträger, diese zu bedienen und in diesem Sinn Grundversorgung jener sozialen Schicht zu leisten. Die Geltung des Begriffs „konservativ“ als gleichermaßen formale, wirtschaftliche wie politische Kategorie ist geeignet, die ambivalente Rolle oder, historisch verstanden, Deplaziertheit Zeitgenössischer Architektur im Marktsegment des Wohneigentums zu erschließen. Zeitgenössische Architektur, wie sie etwa in Vorarlberg praktiziert wird, setzt in ihrem Selbstverständnis eine Tradition fort, die von der europäischen Architekturmoderne der 1920er Jahre begründet worden ist.13 Vor allem in Deutschland und Österreich strebte jene „Klassische Moderne“ ausdrücklich eine Verbindung von künstlerischer Avantgarde mit den Bedürfnissen und der Lebenswelt des Proletariats an, ein Programm, das fest mit sozialistischen, also dem Konservatismus entgegengerichteten, Gesellschaftsmodellen verknüpft war und im Sozialen Wohnbau und der Gestaltung 11 Mitscherlich, vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? Anm. 26 12 PG: Z 770 ff 13 „In der Schweiz war ja die kontinuierliche Entwicklung aus der Tradition der Bauhaus-Architektur

in den dreißiger Jahren, und die ist ja fortgesetzt worden, und wir sind an diesem grenznahen Raum gewesen (...) und das hat Vorarlberg im Gesamten doch sehr stark beeinflußt.“ GW: Z 58 ff 14 Vgl. Ottillinger (2009)

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der idealen Arbeiterwohnung14 sein zentrales Betätigungsfeld fand.15 In den 1920er Jahren ging diese Überzeugung sowohl im „Roten Wien“ als dem Zentrum der Österreichischen Architekturentwicklung als auch in den Großstädten des benachbarten Deutschland, vor allem Frankfurts und Berlins, konform mit den dominierenden politischen Kräften in den kommunalen Bauverwaltungen und ihren städtebaulichen und architektonischen Entwicklungszielen.16 Im Abschnitt Genossenschaftlicher Wohnbau, Kapitel Architektur? wurde darauf hingewiesen, daß diese sozialistisch konnotierte Wohnbaumoderne der 1920er Jahre in Vorarlberg, weil politisch unerwünscht, kein markantes Ergebnis gezeitigt hat17, das mit den Wohnhöfen Wiens oder dem Siedlungsbau Frankfurts oder Berlins auch nur annähernd vergleichbar wäre.18 Die vom Arbeiterwohnbau der 1920er Jahre andernorts geprägte moderne Architekturform weckt damit innerhalb Vorarlbergs nicht, oder nur in vergleichsweise geringem Maße, Assoziationen zu „linkem“ Gedankengut.19 Der Exkurs in die Geschichte des modernen Wohnbaus sollte das auffälligste Merkmal des Vorarlberger Bauträger-Wohnbaus, zumindest versuchsweise, erklären: Die Architekturform dieses „konservativen“, weil vermarkteten 15 Diese Konzentration auf den Wohnbau zeigt sich nicht nur im quantitativen Übergewicht, den die realisierten „modernen“ Wohnsiedlungen gegenüber anderen Baugattungen bilden, sondern auch in den Bauausstellungen der nationalen Werkbundsektionen, die während der 1920er Jahre allesamt ausschließlich exemplarische Wohnbauten zeigten. 16 Dieser Aspekt der Modernen Bewegung wurde rückblickend vor allem von den Kunsthistorikern der Ostblockländer herausgearbeitet. Vgl. etwa die Dokumentation des Wohnungsbaus in Magdeburg unter Bruno Taut als Stadtbaumeister durch Karl-Heinz Hüter, die Beiträge Ferdinand Kramers über „Funktionelles Wohnen“ oder Kurt Junghanns’ über „Arbeitermöbel“, allesamt in der DDR-Designzeitschrift form+zweck erschienen und als Sammelband „Das Schicksal der Dinge“ neu herausgegeben. Lüder (1989) Daneben finden sich Belege in zeitgenössischen Periodika, etwa in Das Neue Frankfurt (1926–1933 erschienen, gegründet und herausgegeben vom Frankfurter Stadtbaurat Ernst May). Als Motto der ihnen zugrundegelegten sozialistischen Gesellschaftsutopien sind auch die Namen der Wiener Wohnhöfe aus den 1920er Jahren, allen voran Karl-Marx-Hof, zu lesen. Vgl. dazu Schütte-Lihotzky: Volkswohnbau in Wien, in: Lüder (1989), S. 96 ff Eine eindrucksvolle atmosphärische Schilderung der zeittypischen Verquickung von künstlerischer Avantgarde und Kommunismus gibt Robert Cohen in seinem dokumentarischen Roman Exil der frechen Frauen; Berlin: Rotbuch, 2009

17 Vgl. Dietrich (1985) 18 Achleitner (1980) führt für Vorarlberg ein einziges Beispiel für einen mit Wien vergleichbaren Wohnhof auf, den Illrainhof Bludenz, 1925 /26. (S. 405) 19 Daß diese Verknüpfung auch in Vorarlberg nicht vollständig aus dem gesellschaftlichen Architekturdiskurs ausgeblendet ist, wurde zuletzt im Rahmen des Montafoner Architekturstreits deutlich, als das polemische Wort vom „Kistenhaus“, der „Rache der Achtundsechziger“, fiel. Dieser Begriff faßt in komprimierter Form die hier skizzierte architekturhistorische Gegebenheit, daß die politisch konservative Politik der Verhinderung einer 1920er-Jahre-Moderne in Vorarlberg geradezu ermöglicht hat, daß die Nachfahren dieser Moderne jetzt „unbelastet“ auftreten können, während anderswo dem unter sozialdemokratischen Kommunalregierungen der 1920er Jahre entstandenen, architektonisch „modernen“ Sozialwohnbau die Kontamination seiner gesellschaftlichen Utopien durch die Entwicklung des Sozialismus in den stalinistischen Terror und den in seinem Gefolge entstehenden „realsozialistischen“ Unterdrückungsregimen entgegengehalten werden kann. Der zitierten Polemik folgend würde also, im Symbol des heute allgegenwärtigen Flachdachs, die Unterdrückung gerächt, die den politischen Vorfahren der heutigen Vorarlberger Architekturmoderne während der 1920er Jahre im Land widerfahren ist. (Vgl. Leserbrief von Oswin Wachter, Bludenz, in: Das Kleine Blatt, 07.06.2005)

Vorarlberg und Deutschland

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Gesellschaftliche Bewertung der Hochhäuser

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Wohnbaus ist landesweit unverkennbar modern und genießt als solche neben stabiler Käufernachfrage sowohl politische Rückendeckung als auch das Wohlwollen der Genehmigungsbehörden. Speziell der signifikant moderne Bautyp der Hochhäuser, in Deutschland, soweit als Wohnbau genutzt, gern als „Legebatterie“ verunglimpft20, ist in Vorarlberg mehrheitlich als Eigentumswohnanlage konzipiert. So fehlt dem Bautyp des modernen Wohnhochhauses das Stigma der sozialen Verwahrlosung von Miet- und Sozialwohnungen, das ihm in Deutschland anhaftet. Der privilegierte See- oder Bergblick aus den Bregenzer Hochhäusern nimmt ihnen von vornherein den Ghetto-Touch deutscher Trabantenstädte und macht sie, in Verbindung mit ihrer obligatorischen Lifterschließung aller Etagen, zu beliebten Wohnorten speziell älterer Generationen. Greußing beschreibt bezüglich der Gesamtzahl der Wohnungen eines Hauses eine mehrstufige Entwicklung seit dem Hochhausboom der 1970er Jahre hin zu kleineren, individuelleren Einheiten. Bei uns sagt der Verkauf schon heute, wenns fünfundzwanzig sind, das ist ein Ghetto, die Leute wollen das nicht, oder, [aber] ein Haus mit sechs, zwölf Wohnungen pro Wohnobjekt, sag ich, das ist einfach nicht wirtschaftlich, oder.21

Architekturmoderne und Wohnungsmarkt

Parallel zur Verkleinerung der Anlagen beobachtet er eine formale Entwicklung: vom Flachdach der 1970er Jahre zum Satteldach der achtziger und wieder zurück zum Flachdach der Gegenwart. Um ebendieses Phänomen einer sozial etablierten Architekturmoderne, die sich in Greußings Schilderung der letzten drei bis vier Jahrzehnte als ReModernisierung darstellt, als Vorarlberger Besonderheit und Bestandteil der zeitgenössischen Landesidentität zu würdigen, werde ich von meinen Gesprächspartnern immer wieder auf den Unterschied, vor allem zu Deutschland, hingewiesen. Peter Greußing führt vor allem seine Erfahrung gescheiterter Versuche an, die Erfolgsrezepte des Vorarlberger Wohnbaus in das Nachbarland zu verpflanzen. Das ist schon bei uns über der Grenze. Die Häuser, die (...) in der Gemeinde Lochau, oder Hörbranz, das sind Grenzgemeinden, gefragt und gut verkäuflich sind, die sind auf der anderen Seite, in Lindau, unverkäuflich (...), die werden auch nicht gewollt. (...) Wir haben das versucht, wir sind auch im süddeutschen Raum tätig. Und fahren Sie einmal hinunter, am Bodensee entlang, alle Häuser mit Giebel, Vorsprünge, kompliziert, aufwendig, kostet ein Schweinegeld, auch wenn die Wohnungen spottbillig sind, in der Herstellung sind die teuer. Also, irgendjemand verbrät da Geld, auf sinnlose Art und Weise, weil man eben noch so aufwendig baut.22 20 „Umbaute Kubikmeter werden auf Kubikmeter getürmt. (...) In der spätbürgerlichen Poetik, die sich der Armenviertel annahm, hätte man von einem versteinerten Albtraum gesprochen.“ Mitscherlich (1965), S. 28 21 PG: Z 686 ff 22 PG: Z 571 ff 23 PG: Z 650 f 24 Überraschend lokalisiert Greußing den Kern des deutschen Bauträger-Kitsches „in den Köpfen“ der Ar-

chitekten. „Also ich würde mich jetzt auf die Schnelle schwer tun, einen deutschen Architekten zu finden, dem ich sage, er muß mir da irgendwo was planen, mit einem Flachdach... dann sagt der, na, des kann man nicht, und das geht nicht, und das, das, das tue ich nicht, und weiß ich, was alles. Bei uns ist das Flachdach wieder zurückgekommen. Eine Zeitlang wars verpönt, aus verschiedensten Gründen, oder“ (PG: Z 642 ff). Seine Erfahrung mit deutschen Architekten ist, daß erst deren „Berufsethos“ das unter

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Greußings Analyse dringt hinter die Fassaden, in die betriebswirtschaftlichen Konsequenzen der jeweiligen Architekturformen. In Deutschland, stellt er fest, werde aufwendig gebaut und billig verkauft. „Türmchen und Giebel, und Vorsprung und Rücksprung“23 sei Kundenwunsch und Verkaufsvoraussetzung. Greußing schließt gleichzeitig aus, daß diese an „komplizierten“ Bauweisen orientierte Wertbestimmung des durchschnittlichen deutschen Wohnungskäufers24 auf Vorarlberg übertragbar sei:

Flachdach als bauliche Vereinfachung

So, wie in Deutschland gebaut wird, das wäre bei uns beinahe unverkäuflich. Ich will jetzt nicht sagen unverkäuflich, aber das müßten Sie dann über den Preis verkaufen.25

Die Dokumentation der baukulturellen Unterschiede zwischen Vorarlberg und seinem Nachbarland Deutschland, genauer, dem an Vorarlberg angrenzenden südwestdeutschen Hinterland, hat mitten in die Frage danach geführt, was gesellschaftlich gesehen Qualität bedeutet. Offensichtlich unterliegen diejenigen Aspekte von Qualität, die die ästhetische Erscheinung betreffen, in hohem Maß sozialen Konstruktionen, Vereinbarungen darüber, welche Attribute in der jeweiligen Gesellschaft als „wertvoll“ gelten dürfen. Gerade für den Bauträger, der für seine Wohnungen mit dem „Gesicht“ des Hauses, seiner Fassade, wirbt, gewinnen die ästhetischen Qualitäten gegenüber den „unsichtbaren“, zu denen etwa der Grundriß zählt, noch zusätzlich an Bedeutung. Für die augenscheinliche Attraktivität der Wohnanlage tritt innerhalb der Bauträgerfirma vor allem der durch seine Provision auf kurzfristigen Erfolg geeichte Verkäufer ein. Greußing schildert die permanente Einflußnahme dieser Berufsgruppe, „die da sagen, (...) ich muß mein Projekt heute verkaufen, maximal morgen (...) und darum will ich das serviert haben“26, auf die Gestalt der Wohnanlagen, zu der neben ihrer Größe, der Anzahl der Wohnungen pro Haus, vor allem die Fassade gehört. Seit Energieaspekte zunehmend kostenbestimmend werden, tritt daneben die Baukörperform in das Blickfeld des Bauträgers. Sie sollte aus Energiespargründen möglichst kubisch und kompakt sein. Die in Vorarlberg mittlerweile etablierte „Einfachheit“ schafft nunmehr die Voraussetzung, daß Investitionen in andere, „unsichtbare“ Qualitätsaspekte ins Auge gefaßt werden können.27 Wie bereits im Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? festgestellt, kommt unter diesen dem Grundriß vorrangige Bedeutung zu, da er nicht nur den Bewegungsraum der Bewohner, sondern auch Bauträgern durchaus beliebte Flachdach zur „Bausünde“ stempelt. 25 PG: Z 795 ff 26 PG: Z 441 ff 27 „Kosten, Qualitätsmanagement, Städtebau, Geomantie, Architektur, Bewußtes Planen, Marketing, Rechtliche Rahmenbedingungen, eben, was muß man rechtlich ändern, wenn man diese Dinge alle durchziehen will, Alternative Finanzierungsformen, (...) die Ver- und Entsorgung, Baubiologie, Dienstleistungen,

IKT, also Informations- und Kommunikationstechnik, ganzheitliche Mobilität, also Carsharing zum Beispiel, das in der Schweiz (...) durchaus angenommen wird, bei uns überhaupt nicht, also daß Facilitymanagement in einer anderen Form gemacht wird, also daß man technologisch das alles auf einem Display steuern und ablesen kann...“ (PG: Z 439 ff). Es fällt auf, daß „Architektur“, ehemals Medium mit universellem Anspruch, in Greußings Liste zum Attribut abgesunken ist.

Qualität

Fassade als „Hausgesicht“

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Flexibilität

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die Funktionalität der Wohnräume im Sinne ihrer Nutzungspotentiale bestimmt. Greußing faßt unter dem Stichwort „Flexibilität“ das gewandelte Anforderungsprofil an Wohnungsgrundrisse gegenüber der Standardwohnung mit ihren monofunktionalen Räumen zusammen und zeigt sich mit seiner Darstellung auf der Höhe der aktuellen Wohnbaudebatte28, die in Vorarlberg mit dem „Wohnbauforum“ einen institutionellen Rahmen besitzt.29 In einem gleichsam kulturhistorischen Rückgriff setzt seine Bestimmung des Begriffs „Flexibilität“ bei denjenigen architektonischen Experimenten der frühen 1980er Jahre an, die neue Formen des familienübergreifenden Zusammenlebens erprobt hatten.30 Diesen zu ihrer Zeit revolutionären Sozialmodellen stehen nach Greussings Ansicht heute verstärkte Anforderungen nach individueller räumlicher Beweglichkeit entgegen, die jene als überlebt erscheinen lassen: Und jetzt, die Flexibilität ist aber immer noch ein Thema, viel stärker, als wie früher, weil einfach der Mensch beweglicher sein muß, in jeder Hinsicht, sei es Beruf, Familie, oder was auch immer. (...) Aber, eingeschränkt auf sich alleine bezogen. Oder. Er (...) will sich nimmer in Zusammenhang mit drei oder vier anderen sehen, weils dann noch einmal komplizierter wird, und, und, auf Dauer vielleicht mehr Einschränkung, als Flexibilität mit sich bringt, so daß er sagt, wenn ich allein entscheidungsfähig bin, (...) wäre es eigentlich ideal.31

Wohneigentum macht unflexibel

Die steigenden Anforderungen an Mobilität und Flexibilität, der die potentiellen Wohnungskäufer aktuell ausgesetzt sind, führt in Greußings Analyse in die soziale Vereinzelung.32 Generell richtet sich diese Zeitströmung gegen die Bauträger und ihr Produkt.33 Wenn die Wohnung auch nicht „mobil“ gemacht werden kann, um der Ortsveränderung zu folgen, dann soll ihr Grundriß wenigstens „flexibel“ sein, um sich den Folgeerscheinungen der in Auflösung begriffenen traditionellen Sozialmodelle, vorrangig der Familie, anpassen zu können. Die demographische Tatsache einer „vergreisenden Gesellschaft“ verleiht dieser Forderung zusätzlichen Nachdruck. Es gibt aber zunehmend auch den Lebensabschnitt von fünfundsiebzig bis hundert, sage ich einmal, in den nächsten zwanzig Jahren. (...) Die Flexibilität müßte eigentlich bis zum Lebensende gewährleistet sein (...), daß, wenn der jetzt hundertdreißig Quadratmeter hat und sagt, jetzt bin ich achtzig, ich brauch die hundertdreißig nimmer, daß er die dann auch verkaufen kann und sagen, ich wohne jetzt nur noch auf sechzig Quadratmeter, den Rest geb ich her. Da spielen also rechtliche Probleme hinein, in punkto Parifizierung und Grundbucheintragung und so weiter, die das Ganze erschwe-

28 Das Wohnbausymposium 2002 hat sich in mehreren Beiträgen mit flexibel nutzbaren Wohnungsgrundrissen befaßt. Vgl. Tagungsband 29 Wohnbauforum ist ein vorläufig auf drei Jahre angelegtes, gemeinsames Projekt der Wohnbauförderungsstelle des Landes Vorarlberg, der Vorarlberger Raiffeisenbanken und des Vorarlberger Architekturinstituts. 2002, 2003 und 2004 fand jeweils ein Wohnbausymposium statt, zu dem vom Vorarlberger Architekturinstitut Tagungsbände herausgegeben wurden. Vgl. Gemeinnützige Vorarlberger Architektur Dienstleistung GmbH (2003)

30 Zu den Experimenten mit familienübergreifendem Zusammenleben vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf. 31 PG: Z 991 ff 32 Ebd. 33 Bourdieu (1998) dokumentiert die soziale Verfestigung dieser Unflexibilität. Die Förderung massenhafter finanzieller Überschuldung, verursacht durch eine Idealisierung von Wohneigentum, wird als politische Strategie eines sozialen Liberalismus interpretiert, „Bindung an die bestehende Ordnung durch die Bande des Eigentums“ (S. 18) herzustellen.

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ren. Bautechnisch könnte man sowas in den Griff kriegen, aber rechtlich ist man noch nicht so weit. In diese Richtung wird man denken müssen.34

Eine Wohnanlage in Dornbirn, von Greußings Unternehmen erstellt, hat eine Möglichkeit der radikalen Flexibilisierung in Form eines „Lofthauses“ erfolgreich realisiert.35 Der Erfolg des Konzepts kam gleichermaßen den Bewohnern, die „diesen Wohnraum sicher sehr günstig erwerben“36 konnten, als auch dem Bauträger zugute, für den „wirklich alle Faktoren in optimaler Weise zusammengepaßt“37 haben. Die Wohnanlage aus zwei Häusern zu je zwölf Wohnungen bietet „Lofts“, ungeteilte Wohnungsflächen einheitlicher Größe, die jeder Käufer nach eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen in Zimmer unterteilen konnte. Notwendiger Bestandteil des Systems war eine Fassade aus wahlweise geschlossenen, voll- oder brüstungshoch verglasten Modulen. Die nachhaltige Qualität des Prinzips liegt in seiner bleibenden Veränderbarkeit. Die nach dem Verkauf an die späteren Bewohner gesetzten Raumtrennwände können bei einem Wandel der Lebensumstände wieder versetzt und damit die Größe und Anzahl der Räume innerhalb der eigenen Wohnfläche angepaßt werden.38 Daß dieses Modell bisher ein Einzelfall geblieben ist, führt Greußing vor allem auf die in der Vorarlberger Gesellschaft dominierenden „kleinbürgerlichen Denkungsweisen“39 zurück. Sie konservieren die bestehenden Standards des Wohnungsmarkts und stehen einer notwendigen Flexibilisierung der Wohnungstypologien im Wege. „Daß man sagt, wenn ich verheiratet bin, das hält für ewig und zwei Kinder habe ich geplant und auf das lege ich alles an. Daß das im dritten Jahr nach der Hochzeit unter Umständen schon anders sein kann, wird einfach nicht bedacht.“40 Die Lofthäuser hatten nicht nur in ihrem Wohnungsangebot, sondern auch in der Form der Zusammenarbeit zwischen Bauträger und Architekt Ungewöhnliches geboten. Insbesondere der Umstand, daß die Initiative, „sowas einmal zu versuchen“41, bei den Architekten lag und nicht seitens des Bauträgers den „Wünschen“ des Wohnungsmarkts abgelauscht und als Konzept vorgegeben wurde, wird von Greußing hervorgehoben. „Entwickelt hat man es dann gemeinsam. War eigentlich ganz sinnvoll so.“42

Flexibler Grundriß

Sowohl innerhalb Österreichs als auch im Vergleich mit Deutschland ist die Beteiligungsquote freier Architekten am Bauträgerwohnbau nirgends so hoch wie in Vorarlberg.43 Anderswo sind Bauträger und Architekt Protagonisten einer sprichwörtlichen Hund- und- Katz- Beziehung. Gründe hierfür, die

Bauträger und Architekt

34 PG: Z 280 ff 35 Der Besuch bei einer Bewohnerin des Hauses weckte mein Interesse an dieser exemplarischen Anlage und gab den Anlaß für das Gespräch mit Peter Greußing. 36 PG: Z 138 ff 37 PG: Z 127 ff 38 Zur Dokumentation der höchst unterschiedlichen

Wohnformen, die in den einheitlich großen „Lofts“ der Wohnanlage praktiziert werden, haben die Architekten eine Broschüre herausgegeben: Haus 1. Novaron Architekten, Diepoldsau (CH) o.J. 39 PG: Z 270 40 PG: Z 264 ff 41 PG: Z 173 ff 42 Ebd.

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im jeweiligen Berufsbild liegen, sind bis hierher vor allem für den Bauträger, ausgehend von dessen Verwurzelung im Handwerk, entwickelt worden. Dieser Hintergrund schafft unterschiedliche referenzielle Kategorien, die Bauträger und Architekt zur Qualitätsbeurteilung heranziehen, und ist verantwortlich für die jeweils typische Kundenbeziehung der beiden Berufsstände. Der Priorität, die das Handwerk dem Machen zumißt, steht das Argumentieren auf Architektenseite als Folge seiner akademischen Sozialisation gegenüber. Der wortreiche, engagierte Vortrag ist für Greußing feststehendes Motiv eines Architektentyps, der in der Zurückgezogenheit seines Ateliers entwirft, eine einzige Entwurfslösung präsentiert und solange verteidigt, bis, im konkreten Fall, „der Projektleiter klein beigegeben hat“.44 Das Umfeld des Bauträgers, gekennzeichnet durch eine pragmatische Herangehensweise an das Bauen, läßt den Architekten als Theoretiker erscheinen. „Horcht sich alles gut an und mit Handskizzen vom Architekt laßt sich das gut darstellen und gibt einen interessanten Vortrag.“45 Sobald dessen Vorschläge baukonstruktiv neue Wege einschlagen, stoßen sie jedoch zunächst auf die Skepsis derjenigen, die das Bewährte den Unsicherheiten aller Experimente vorziehen. Innerhalb ihres Horizonts des Machens liegt erfahrungsgemäß das Scheitern „im Detail (...), weil da so viele Probleme entstehen“.46 Der Architekt tritt in Greußings Darstellung daher primär als Vereinfacher auf, der durch rhetorische Kunstgriffe die Bedingungen, die Baupraxis und Wohnungsmarkt dem Bauträger bieten, dem Bild seines Entwurfs anzupassen sucht. Bauträger und Wettbewerbe

Der Einfluß des Bauträgers auf den Architekten wird umso geringer, je nachdrücklicher die Architektenposition institutionell gestützt wird. Am deutlichsten tritt dieser Effekt bei Projekten in Erscheinung, in denen die Architektenwahl durch einen Wettbewerb zustande kommt, denn „der Architekt sagt dann nachher, ja Moment einmal, ich bin der Wettbewerbssieger, ihr müßt mein Projekt umsetzen, und verwendet seine ganze Energie, um uns zu erklären, daß sein Projekt gut ist“.47 Nachteilig stellt sich aus Greußings Sicht vor allem die institutionelle Konstellation der Architektenwettbewerbe dar: Da braucht man eine prominente Jurybesetzung, die fachjurylastig ist, das wollen die Architekten, sonst tun sie beim Architektenwettbewerb gar nicht mit, oder, und ein 43 GW: Z 1276 ff 44 PG: Z 531 f 45 PG: Z 350 ff 46 Ebd. 47 PG: Z 1163 ff 48 PG: Z 1145 ff 49 PG: Z 1120 f 50 PG: Z 1124 ff 51 PG: Z 1137 ff 52 „Am Anfang (...) hats erhebliche Differenzen mit der Architektenkammer gegeben, oder, die dann protestiert haben, (...) selbst die teilnehmenden Architek-

ten haben schon die Architektenkammer mobilisiert, und gesagt, tuts dann ja das nicht, und jenes nicht, das hat dann (...) zu einer ganz vernünftigen Praxis geführt, daß die Architektenkammer irgend einen Zuständigen im Land hat für Wettbewerbe, der selber Architekt ist, und der diese Probleme halt einfach kennt, und sie auch nicht verschweigen kann und mit dem hat man dann (...) versucht, das so zu regeln, (...) daß das in der Architektenkammer zu keinem Problem führt.“ PG: Z 1179 ff 53 Im April 2008 erlangte eine Debatte um die Kostensituation im geförderten Wohnbau und die Rolle

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guter Vorsitzender bringt alle so hin, wie er es braucht, und dann entscheidet auf einmal der Herr Architekt XY aus Zürich, oder äh Trier, oder Wien, daß das Projekt aus irgendeinem Grund das beste ist, und wir sagen, unter Umständen, daß der zwanzig Prozent nordseitige Wohnungen eingeplant hat, das beurteilt der nicht, weil er sagt, architektonisch und städtebaulich ist das tiptop und drum muß das so sein. Also, Architektenwettbewerbe werden von uns nicht wahnsinnig geliebt.48

Die Qualitätskriterien des Architektenstands, wie Greußing sie erlebt, liegen konträr zu seinen eigenen. An der Unterscheidung zwischen Sozial- und Eigentumswohnanlagen wurden bereits ähnliche Diskrepanzen zwischen Architekturqualität und Wohnqualität diskutiert, die eine Gegenüberstellung von ästhetischer und nutzungsorientierter Perspektive nahelegen. Im Gegensatz zum typischen Ersteller der Sozialwohnanlagen, den gemeinnützigen Siedlungsgesellschaften, denen die Bewohner per kommunalem Verteilungsschlüssel „zugewiesen“ werden, steht der Bauträger seinem Kunden und dessen Wünschen persönlich gegenüber und handelt nach Abschluß des Kaufvertrags in dessen Auftrag. Greußings Fazit „Wir versuchen, jedem Wettbewerb auszuweichen“49, bekräftigt daher sein Selbstverständnis als Dienstleister. Vor allem Wirtschaftlichkeitsanreize sind es wiederum, die ihn veranlassen, Ausnahmen von dieser Regel zuzulassen. Insbesondere eine Erhöhung der zulässigen Überbauungsdichte ist für ihn attraktiv, da diese den Anteil des Grundstückswertes am Wohnungspreis senkt. „Die Behörden sagen oft (...), wenn ihr einen Wettbewerb macht, kriegt ihr eine höhere. Oder. Aber da wollen wir sehen, was herauskommt.“50 In einem solchen Fall „kriegen die Architekten so starke Vorgaben, daß wir schon die Wohnungsgrößen hineinschreiben, weil sonst kommt oft etwas Unbrauchbares heraus.“51 Voraussetzung einer solchen frühzeitigen Einflußnahme auf Architektenwettbewerbe ist, den regionalen Einfluß der Architektenkammer zurückzudrängen.52 Anders als in Deutschland oder anderen österreichischen Bundesländern hat sich die Vorarlberger Architektenschaft nicht durch ausgeprägtes Standesbewußtsein aus den quantitativ dominierenden Bereichen des Baugeschehens ausgeschlossen, zu denen der Wohnungsbau durch Bauträger gehört.53 So kann Greußing die Praxis, sich auf Eigenplanungen zu beschränken, ein Gegenmodell zur Kooperation mit freien Architekten, das dem Bauträger als der Architekten darin öffentliche Aufmerksamkeit, ausgelöst durch Interviewaussagen des Obmanns des österreichischen Verbandes gemeinnütziger Bauvereinigungen, Karl Wurm. Unter dem Titel „Die Extrawurst der Architekten“ (in: Der Standard, 12./13.04. 2008) teilte er mit, die „Extrawünsche der Architekten“ trieben die Baukosten gerade im geförderten Wohnbau in alarmierender Weise in die Höhe: „In letzter Zeit häufen sich die Projekte, wo Architektur zu aufwändiger Spielerei an der Fassade verkommt. (...) Planungen, die sich auf die äußere Erscheinung des Gebäudes beziehen, bringen in der Regel keine

Verbesserung für die Bewohner...“. Diese Stellungnahme löste heftige Reaktionen in der Architektenschaft aus. So meldete sich u.a. der Architekt und Hochschulprofessor Wolf D. Prix („Coop Himmelb[l]au“) zu Wort: „Für Österreich, das sich selbst stets als ,Kulturnation‘ darstellt, sollte Architektur mehr sein als lediglich ein gebautes Abbild der diversen Hochbaurichtlinien. Das Horrorszenario einer billigen Bauindustrie-Landschaft würde unsere Städte und ihre soziale, öffentliche Kultur zunichte machen...“; in: Der Standard, 25.04. 2008 54 PG: Z 1229 ff

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Bauunternehmer offensteht, auf das benachbarte Deutschland projizieren: „Das Projekt (...) schaut ähnlich aus, wie das letzte schon gebaut, (...) wir finden jemand, der uns das planlich umsetzt, und der Architekt hat dann zwangsläufig nicht mehr die Bedeutung.“ 54 Die Selbstgewißheit des Bauträgers, im Wohnbaubereich „die Architektur beeinflussen und beauftragen“ 55 zu können, prägt folglich seine Geschäftsbeziehung zum Architekten. Die Bauträger sind zum großen Teil die Auftraggeber für die Architekten, und wenn die Architekten da die potentiellen Kunden vermiesen, werden sie mit denen nie ins Geschäft kommen. (...) Es gibt schon ein paar so Etablierte, die auf sehr hohem Roß sitzen und die leben dann halt von öffentlichen Aufträgen, oder auch Wettbewerben, die sie gewinnen, die aber vielleicht nicht umgesetzt (...) werden.56

„Auftrag“ und „Einfluß“ sind in der Geschäftspraxis des Bauträgers so zwingend miteinander verknüpft, daß eine Autonomie von Architektur und damit jede Architektur als Kunst in seinem Weltbild keinen Sinn ergeben. Soweit der Architekt als Künstler wahrgenommen wird, werden Verhältnisse beschrieben, die den Auftragskünstler der Vormoderne selbstverständlich in die Gegenwart transferieren. „Daß ein Architekt gewisse Leistungen auf Risiko machen muß“57, die Bereitschaft zu kostenlosen Entwurfsleistungen also, ist selbstverständliche Voraussetzung, die Greußing „in der Architektenfindung“58 verlangt. Sie ist fixer Bestandteil der firmeninternen Kalkulation des Bauträgers, auch wenn solches Verhalten im Berufsstand der Architekten verpönt ist, da es der Intention ihrer Honorarordnung, ruinösen Wettbewerb unter den Standesmitgliedern zu unterbinden, eklatant widerspricht.59 Einer, der von Anfang an sagt, „wissen sie, bevor ich den ersten Strich mache, möchte ich die Honorarvereinbarung haben, und wenns dann nichts wird, müssen sie mir pauschal soundsoviel tausend Euro überweisen“, mit dem werden wir nicht lang zusammenarbeiten. Weil, da hätten wir zuviel Kosten im Vorlaufbereich, weil man das immer wieder braucht, einen Architekt, wo wir sagen, „mach mir schnell einmal eine Überlegung“.60 Unentgeltliche Entwurfsleistung

Im Geschäftsmodell der Bauträgerfirma wird die konzeptionelle Kompetenz der Architekten bereits in den ersten Schritten einer Projektentwicklung zur Bewertung von Grundstücken im Hinblick auf ihre bauliche Nutzbarkeit eingesetzt. „Dann rechnen wir raus, rechnet sich das, soviel Nutzfläche kommt heraus, umgelegt, Grundstückskosten, erscheint möglich, oder erscheint nicht möglich, dann tut man den nächsten Schritt, wenn man sagt (...), das wird sich nie rechnen, dann wars halt umsonst.“61 55 PG: Z 4 ff 56 PG: Z 1207 ff 57 PG: Z 1067 ff 58 PG: Z 1061 59 „Der Ziviltechniker darf seine Leistung nur zu einem Honorar, auch zu einem Pauschalhonorar, anbieten, beziehungsweise dieses nur in einem Ausmaß vereinbaren, daß es – an der für diese Leistung angemessenen Entlohnung (...) gemessen – nicht zu einem

offensichtlichen Mißverhältnis zum Wert des Gegenstandes, zur voraussichtlichen Leistung oder zum angestrebten Ergebnis steht.“ In: Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (Hg.): Standesregeln der Ziviltechniker, Pkt. 1.4. „Allgemeine Pflichten“; Auflage 2000, S. 4 60 PG: Z 1075 ff 61 PG: Z 1092 ff 62 PG: Z 1110 ff

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Dem Architekten bleibt die vage Aussicht, die erfolgreich entwickelten unter den bearbeiteten Projekten anschließend weiter betreuen zu dürfen. „Wenn ich einmal an einem Grundstück mit einem Architekt begonnen habe, und der mir irgendwelche Vorschläge gemacht hat, und das wird dann weggeschmissen, und zehn Jahre später realisiere ich das Projekt, dann mache ich das mit dem Architekt. Also, da hat jeder von mir die Zusage: ,Wenns dann irgendwann einmal kommt, dann mach ich das mit dir.‘ Und da sind oft zehn Jahre dazwischen.“62 Diese in die Zukunft verlegte Entlohnungsaussicht für sein zunächst kostenlos zur Verfügung gestelltes geistiges Eigentum bedeutet für den Architekten einerseits die Notwendigkeit einer anderweitigen Existenzsicherung, andererseits eine vollständige Abhängigkeit vom Wohlwollen des Bauträgers.63 Aus der Perspektive seines Geschäftsprinzips sind für Greußing drei Kategorien von Architekten identifizierbar: „Prominente“, „Bewährte“ und „Junge“. Eingespielte Arbeitsverhältnisse mit Architekten, die Kategorie der „Bewährten“ also, garantieren nach seiner Erfahrung die höchste Qualität, „was die Umsetzung betrifft“.62 Von diesen Idealvoraussetzungen ist er gelegentlich bereit, Abstriche in Kauf zu nehmen, indem er statt dessen „gewisse Architekten, die vom Namen her prominent sind“65, beauftragt. „Auch wenn man weiß, daß die Qualität unten nicht dieselbe ist wie mit dem, äh, mit dem mittleren Segment.“66 Ähnlich wie bei der Kategorie der Bewährten hält er auch bei den Jungen, den „ganz Neuen, die wir überhaupt nicht kennen, die immer wieder zur Tür hereinkommen und sich empfehlen“67, die Qualität der persönlichen Beziehung für eine ausschlaggebende Voraussetzung der Zusammenarbeit. „Wenn einer einen kennt, sei es ein Junger, und sagt, du, der würd gern einmal, (...) dann hat er eher eine Chance, als wenn man ihn überhaupt nicht kennt.“68 Diese Haltung, in der Wahl der Partner die Qualität des Arbeitsprozesses und die Ebene der persönlichen Beziehung ins Auge zu fassen, kann ebenso auf den „handwerklichen“ Hintergrund des Bauträgers zurückgeführt werden wie seine Orientierung an den persönlichen Wünschen des Kunden. Deutlich wird diese Haltung vor allem gegenüber der „akademischen“ Methode der Auftragsanbahnung über Architektenwettbewerbe, in deren anonymisierten Verfahren allein die formale Entwurfslösung entscheidet und anstelle des individuellen Bewohners eine „Gesellschaft“ ins Auge gefaßt wird, zu deren Gunsten eine „Kulturleistung“ zu erbringen ist. 63 Wratzfeld zufolge ist das einzige „Machtmittel“ des Architekten seine Verweigerung, ein Akt, der jedoch gleichzeitig die Existenzsicherung bedrohe. „Wenn der Bauherr sagt, Du mußt das Dach als Fundament machen, und das Fundament zum Dach machen, dann mußt´ das machen. Oder sagen, ich machs nicht. Dann hast einen Auftrag weniger.“

GW: Z 1261 ff 64 PG: Z 1038 f 65 PG: Z 1040 ff 66 Ebd. 67 PG: Z 1048 ff 68 Ebd. 69 PG: Z 95

Kategorisierung der Architekten

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Die Vorarlberger Sondersituation zeichnet sich auf dem Feld des gewerblichen Wohnbaus durch eine Integration von Architektur in die Bauträgerpraxis aus. Die Bedingungen, der die Architekten innerhalb dieser Integration ausgesetzt sind, konnten exemplarisch gezeigt werden. Die Methode der Integration spiegelt das auf Bauträgerseite gewonnene Erfahrungswissen zu Architektur und zählt als solche zu den zentralen Befunden der vorliegenden Studie. Für Greußing stellt sich die Frage, wie Architektur methodisch in den Entwicklungs- und Herstellungsprozeß so zu integrieren ist, daß sein Produkt „einfach in diese Kurve“69, die wirtschaftliche Umsetzung, gesteuert werden kann. Als methodischer Fehler erscheint es ihm, den Architektenentwurf als gesetzte Form an den Anfang einer Projektentwicklung zu stellen. „In dem Moment, wo die Architektur vorgegeben ist, wird der Bewegungsspielraum sehr sehr eng, weil (...) die Architektur sehr kostenbestimmend ist.“70 Um die Zwänge der „aufgesetzten“ Form zu vermeiden, die vorzeitig einen Kostenrahmen für die Realisierung fixiert, muß der Bauträger in seiner Kommunikation mit dem Architekten „gewisse Kennwerte, die auf eine Wirtschaftlichkeit bei einem Objekt hindeuten“71 in dessen „Sprache“ übersetzen. Weil viele Architekten einfach nicht wissen, was etwas kostet, beziehungsweise falsche Vorstellungen haben. Deshalb geben wir beispielsweise das Verhältnis von Grundfläche und Fassadenoberfläche vor, oder die Anzahl von Wohnungen, die an einem Stiegenhaus oder an einem Lift hängen, manchmal sagen wir, es geht nur über einen Laubengang in die Wohnung, wir geben die Wohnungsgrößen vor...72

Außerhalb dieses Steuerungsverfahrens, das Greußing seiner Projektentwicklung zugrundelegt, um das Kostenminimum für den marktgängigen Qualitätsstandard zu erreichen, zeigen realisierte Beispiele, daß Architekten, trotz des ihrem Berufsstand anhaftenden Vorurteils fehlenden Kostenbewußtseins, neue wirtschaftliche Lösungen finden können, indem sie sich dem gesellschaftlichen Bedarf von einer überraschenden Seite her annähern. Das „einmalig“ erfolgreiche Lofthauskonzept repräsentiert ein solches Experiment. Bei diesem Projekt haben die Architekten keinen Grundriß, sondern ein auf Wirtschaftlichkeit getrimmtes Konstruktions- und Fassadenkonzept vorgelegt und die Gestaltung des Wohnungsgrundrisses den Bewohnern überantwortet. Das Konzept von Novaron ist kein formales Fassadenbild und auch kein Grundrißkonzept, sondern ein räumlich-konstruktives Prinzip, das sein innovatives Potential vor allem im Schnitt durch das Gebäude offenbart.73 Über das Medium des Wohnungsmarkts stellt der Bauträger zwischen Architektur und den gesellschaftlichen Wertvorstellungen einen Kurzschluß 70 PG: Z 375 ff 71 PG: Z 68 f 72 PG: Z 73 ff 73 Hans Purin, ein Architektenleben lang mit kostengünstigem Bauen befaßt, bestätigt im Gespräch diesen „blinden Fleck“, der bezüglich radikal verein-

fachter Konstruktionsstandards in der auf „Bewährtes“ geeichten Wahrnehmung von Bauträgern existiere. Vgl. Besuch bei Hans Purin, 29. 06.2006, in: Prechter (2012), S. 114 74 PG: Z 888 ff 75 Vgl. Münz (2003)

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her. Er nutzt die gesellschaftlichen Wertvorstellungen als Gestaltungsvorgabe und gestaltet die gesellschaftlichen Werte selbst langfristig durch seine Angebote und die Präsenz der realisierten Bauten mit. Daß Architektur mittlerweile im Wertgefüge der Vorarlberger Gesellschaft einen festen Platz einnimmt, steht für Greußing außer Zweifel, wobei sein Zitat eines typischen Wohnungskäufers: „Ich zahle ein bißchen mehr, dafür habe ich Architektur“74, nahelegt, „Architektur“ der Kundenseite vor allem als Stilbedürfnis zu unterstellen. Bei aller Kritik, die an der tendenziell ruinösen Honorarpolitik der Bauträger angebracht erscheint und der die Aussetzung der HOA seit Jahresende 2006 zusätzlichen Vorschub leistet, bietet ihre Integration in die Praxis der Vorarlberger Bauträger Zeitgenössischer Architektur ein einzigartiges „Labor“. Es stellt die Gültigkeit der traditionellen Ansprüche von Architektur gegenüber den gesellschaftlichen Wertvorstellungen unter den Praxisbedingungen des Marktes fortgesetzt auf die Probe. Zu diesen Wertvorstellungen zählen Ansprüche der Bewohner an eine ihrer sozialen Stellung gemäßen Adresse im Äußeren ebenso wie an die Wohnlichkeit im Inneren der Häuser. In diesem Labor wird entschieden werden, ob Architektur der Stilfalle entkommt und sowohl für die prognostizierte demographische Entwicklung75 als auch für die erforderlichen Flexibilisierungen Antworten bereitstellen kann oder ob der notwendige Wandel, wie in der Energiepolitik bereits geschehen, per politisch gesetzter Verordnung als einheitlicher und entsprechend unflexibler Rahmen installiert werden wird.

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5.1 Was ist ein Dorf? Dann sind sie nach der Kirche am Kirchplatz gestanden und haben nicht gewußt, wo hingehen. Und dann hat der Pfarrer eine Kiste Bier aus dem Keller geholt und dann sind sie auf der Kirchenstiege gesessen und haben Bier getrunken dort.1

Architekt Gerhard Gruber schildert in dieser Szene die „Gründungsminute“ des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal, einem basisdemokratisch agierenden Zusammenschluß der Dorfbewohner, der die Geschicke Thals zu einem Zeitpunkt in eigene Hände nimmt, als das Dorf „praktisch vorm Kippen steht“.2 Soeben ist mit der Schließung des letzten Gasthauses auch der Ort des gewohnten Stammtisches unzugänglich geworden. Die umfassende Krise der traditionell agrarischen Sozial- und Wirtschaftsstruktur des ländlichen Raumes, die jede hochentwickelte Industriegesellschaft erzeugt3, schlägt zu diesem Zeitpunkt4 auf die Sonntagsrituale der Dorfbewohner Thals durch. Was aus volkswirtschaftlicher Warte als Kontinuität eines „ländlichen Strukturwandels“ und damit als notwendige Anpassungsleistung an wirtschaftspolitische Prioritäten, vor allem aber an globale Marktgesetzlichkeiten ausgedeutet wird, tritt für den konkreten Einzelnen, den Gruber in seiner Darstellung mit einer Bierflasche ausstattet und auf der Stiege seiner Kirche sitzend zeigt, als Entwicklungstiefpunkt der eigenen Lebenswirklichkeit in Erscheinung. Analyse und fortgesetzte Bewältigung dieser Krise durch Rekonstruktion der Eckpfeiler eines Dorfes, die der Thaler Selbsthilfeverein unternimmt, interessieren uns zunächst als modellhafte Handlungspraxis, die zeitgemäße Antworten auf die Titelfrage dieses Abschnitts formuliert. Warum das Dorf in der vorliegenden Studie zu einem jener Hauptthemen wird, an denen ein zeitgemäßer, gesellschaftlich definierter Architekturbegriff zu entwickeln ist, bedarf angesichts avancierter Studien zu Gegenwart und 1 GG: Z 174 ff 2 EW 1: Z 30 3 Die Attraktivität, die die Lohnarbeit als junge Arbeitsform gegenüber älteren, insbesondere der landwirtschaftlichen, besitzt, kommentiert etwa Bergmann, S. 79 ff; zur weitgehend geldlosen Wirtschafts-

form der traditionellen ländlichen Arbeitsteilung vgl. Krammer, S. 111 4 Ein Postwurf vom 10. 03.1990 „an alle Thaler Haushalte“ erlaubt eine Datierung dieses Ereignisses auf Sommer 1988 (Abdruck in: Dorfgemeinschaft Thal – Selbsthilfeverein, Thal: Eigenverlag, 1990).

Ökonomische und soziale Bewertung des Dorfes

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Zukunft des ländlichen Raumes5, die das Dorf zum „Auslaufmodell“ und statt dessen die Agglomeration zur zukunftsfähigen Siedlungsform außerhalb der Städte erklären6, der Rechtfertigung. Gerhard Violand, Mitglied des Proponentenkomitees des Thaler Selbsthilfevereins, gibt uns ein erstes Stichwort. Das Dorf ist nicht nur eine Siedlungseinheit, das Dorf (...) ist eine Lebensform. 7

Sein Satz stellt in seiner kämpferisch behaupteten Gegenwärtigkeit solche Versuche, das Dorf auf ein historisches Abstellgleis zu drängen, in Frage. Die Gespräche, die die Forschungsgrundlage der vorliegenden Studie bilden, bestätigen die Präsenz dieser Haltung innerhalb des Forschungsfeldes. Sie liefern eine so hohe Dichte von Bezugnahmen auf das Dorf, daß seine Aktualität, jedenfalls als zentrale Referenzkategorie in der habituellen Orientierung der Gesprächspartner, außer Frage steht.8 Violand und seine Mitstreiter können sich an jenem Maitag des Jahres 1989, an dem der Satz ausgesprochen wird, dem Gründungstag des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal 9, bereits auf eine breite gesellschaftliche Rückbesinnung und einen Trend zur Umkehrung laufender Dorfzerstörungskampagnen stützen10, der, jedenfalls für das akademisch-architektonische Feld, mit der Postmoderne eng verknüpft ist.11 Erst die Postmoderne hat das Dorf für Architekten, innerhalb des Untersuchungsfelds vor allem auf 5 Insbesondere Österreichs an Vorarlberg grenzendes Nachbarland Schweiz befaßt sich intensiv mit der wirtschaftlichen, sozialen und ästhetischen Zukunft des ländlichen Raums und deutet damit seine „neutrale“, außerhalb der EU verharrende Außenseiterposition zum europäischen Zukunftslabor um (vgl. Eisinger, S. 4). Für die vorliegende Studie sind insbesondere die Veröffentlichungen des ETH Studio Basel (Diener u.a., 2006) sowie jene des think tanks Avenir Suisse von Interesse, darunter vor allem Eisinger (2003) und Rentsch (2006). 6 So stellt Eisinger in der Avenir-Suisse-Studie Stadtland Schweiz fest: „Die Begriffe ,Stadt‘ und ihr Gegenpol ,Land‘ gehören, wie man in Anlehnung an Roland Barthes sagen könnte – zu den Mythen unserer Gesellschaft (Barthes 1964). Sie operieren als ,Mitteilungssysteme‘, die Wissen diffus vermitteln und Kausalitäten vereinfachend festschreiben. Ihre Verwendung erhellt einiges, verdeckt aber anderes und banalisiert so unbewußt die zur Diskussion stehende Wirklichkeit.“ (S. 13) 7 Referat von Gerhard Violand anläßlich der Bürgerversammlung am 3. Mai 1989; in: Wirthensohn, Jb. 1990 8 Wie aktuell das Modell Dorf für die Identitätsbildung der Gemeinden Vorarlbergs außerhalb der habituellen Orientierung der befragten Bewohner ist, ist auf der Materialbasis der vorliegenden Studie nicht zu beantworten. Jedoch kann festgestellt werden, daß das Modell Dorf, als Chiffre für Subsistenz-

wirtschaft, vor allem dort favorisiert wird, wo die fortschreitende Globalisierung der Wirtschaft bereits negative Auswirkungen zeigt. Zeitgemäße Ansätze für eine Reanimation des Modells Dorf finden sich gegenwärtig also vor allem im Umfeld der organisierten Globalisierungskritiker. „Dort, in den Dörfern, müssen Lösungen gefunden werden“, schließt etwa Elmar Altvater mit Hinweis auf die „immer mächtiger werdende(n) bäuerliche(n) Graswurzelbewegung Via Campesina“ seinen Leitartikel „Stoßt den Dollar vom Thron“ über den G8-Gipfel in Italien (der freitag, 09.07.2009, S. 1). La Via Campesina („Der [klein-]bäuerliche Weg“) ist eine internationale Bewegung von Kleinbauern und Landarbeitern, gegründet 1993. Sie vertritt das Konzept der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft. Die Österreichische Bergbauernvereinigung (ÖBV), gegründet 1974, wurde 2005 in ÖBV – Via Campesina Austria umbenannt. Vgl. www.viacampesina.at Daneben sind Einzelpersönlichkeiten wie der Schweizer Architekt und ETH-Professor Gion Caminada zu nennen, der, neben seinem Lebenswerk, der Entwicklung des Graubündner Bergdorfes Vrin, mit dem langfristig angelegten Forschungsprojekt „Orte schaffen“ nach einer positiven Neubestimmung einer spezifisch „dörflichen“ Lebensform sucht. Früher noch als Caminada hat der Architekt Luigi Snozzi, ebenfalls Schweizer, mit dem langfristig angelegten Revitalisierungsprozeß eines Dorfes, Monte Carasso im Kanton Tessin, Zeitgenössische Architek-

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die „Zweite Generation“12 der Vorarlberger Baukünstler zu beziehen, neben einer Ressource formaler Inspiration auch als Profilierungsfeld attraktiv werden lassen.13 Für unser Vorhaben der sozialen Bestimmung eines zeitgemäßen Architekturbegriffs bietet die innige Verknüpfung von sozialen, baulichen und wirtschaftlichen Kategorien14, die der Begriff „Dorf“ bietet, eine besonders geeignete Voraussetzung, im Gegensatz etwa zum Verwaltungsbegriff „Gemeinde“, der lediglich die politische Identität des zugehörigen Siedlungsgebiets faßt. Im Hinblick auf den Gegenstand der Untersuchung, die Architektur, läßt eine Auseinandersetzung mit dem Dorf, insbesondere gegenüber der Stadtforschung15, einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn erwarten, der aus dem Kontrast des Gegenstands zum „fremden Umfeld“ resultiert. Zentrale, städtisch-akademische Konnotationen von Architektur werden erst vor dem Hintergrund des Dorfes wahrnehmbar. Gegenüber der Geschichte des Eugster-Hauses in Langenegg, die das Kapitel Haus durchzog, tritt im Reanimationsprozeß des Dorfes Thal der Architekt als Person weit stärker vor Ort in Erscheinung. Der Bregenzer Architekt Gerhard Gruber ist seit dem Umbau der Thaler Schule16 Ansprechpartner des Selbsthilfevereins in baulichen Belangen. Der Umbau der „Krone“ und tur als geeigneten „Motor“ positioniert, umfassende Revitalisierungsprozesse von Dörfern anzuleiten. (Vgl. Wirthensohns Parallelsetzung von Thal und Monte Carasso in seinem „Positionspapier“ 1997.) Die Tessiner Architektenszene darf als vorbildgebend für die gesellschaftliche Selbstpositionierung der „Zweiten Generation“ der Vorarlberger Baukünstler angesehen werden. Dieser Position stehen Institutionen gegenüber, die von der Voraussetzung positiv gedeuteter Agglomerationssituationen aus argumentieren. Für eine Verbindung aus architektonisch, städtebaulich, volkswirtschaftlich und kulturell orientierten Interessensvertretern steht in Vorarlberg etwa die Studie Vision Rheintal, die sich zur existierenden Agglomeration in der Rheinebene bekennt und deren Identität positiv zu bestimmen sucht. Nach der Einbeziehung in diese Studie kann rund ein Drittel der Vorarlberger Gemeinden dieser Agglomeration zugerechnet werden. Auch Avenir Suisse argumentiert zugunsten einer weltmarktorientierten Agrarpolitik und damit gegen das Modell Dorf. Für die gegenwärtige ländliche Identitätsbildung außerhalb der Agglomeration stellt Avenir Suisse etwa in Stadtland Schweiz fest: „Bauerndörfer wurden in einen ökonomischen, sozialen und siedlungsästhetischen Schwebezustand amorpher Identitäten katapultiert, aus welchem sie seither nicht herausgefunden haben.“ (Eisinger, S. 11) 9 Wirthensohn, Jb. 1990

10 „Die Maßnahme der Dorfsanierung hat sich von einer Modernisierung und teilweisen Beseitigung des Dorfkerns in eine Erhaltungsmaßnahme gewandelt“, stellt Baldenhofer unter dem Stichwort Dorferneuerung (S. 127) fest. 11 So etwa Aldo Rossis typologische Studien in Tessiner Dörfern im Rahmen seiner Architekturlehre an der ETH Zürich, interpretiert im Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus, Anm. 35; vgl. Reichlin / Steinmann 12 Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?, Anm. 27 13 Im Rahmen einer touristischen Präsentation und Ausstattung der Dörfer hat in den 1970er Jahren bereits eine, auf das Untersuchungsfeld bezogen, „tirolerische“ Architektengeneration ihre Spuren in den Dörfern, vor allem der Skigebiete des Vorarlberger Oberlandes, hinterlassen. Diese Voraussetzung läßt die Profilierung der „Zweiten Generation“ der Vorarlberger Baukünstler auf dörflichem Feld auch als „Wiederaneignung“ innerhalb eines innerarchitektonischen Streits um territoriale Deutungshoheit erscheinen. 14 Vergleichbar dem Begriff Bauernhof „als Familienbetrieb mit der Einheit von Land, Familie, Haushalt und Gebäuden“ (den Rentsch in seiner Darstellung als „überholtes Idealbild“ bezeichnet). Rentsch (2006), S. 342 15 Die derzeit sich herausbildende Architektursoziologie sieht in der Stadtforschung ihr zentrales Forschungsfeld. Vgl. Delitz, S. 115

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der daran anschließende Neubau, das „Gemeinschaftshaus“, sind sein Hauptwerk im Dorf.17 Als zweiter wichtiger Gesprächspartner für die auf Thal bezogenen Abschnitte dieses Kapitels tritt Ernst Wirthensohn auf, Geschichtslehrer an einem Bregenzer Gymnasium und daneben als Verfasser des Thaler Dorfkalenders Chronist des dörflichen Lebens. Sein Interesse an Architektur als Medium der Dorfentwicklung ist geprägt durch seine Rolle als Bauherr des ersten Architektenhauses in Thal, eines Doppelhauses am später entstandenen Dorfplatz, für dessen Planung er Ende der 1980er Jahre einen Exponenten der zweiten Baukünstlergeneration beauftragt und diesen damit als lokalen Akteur ins Spiel gebracht hat.18 Landwirtschaft

Einige Kontexte, die das Auftreten von Architektur in ländlichen Gemeinden plausibel erscheinen lassen, konnten bereits im Kapitel Haus identifiziert werden. Der erweiterte Betrachtungsrahmen, den das Dorf uns nun bietet, rückt zusätzlich zum sozialen Umbau des ländlichen Raumes19, den im Bregenzerwald seit den 1980er Jahren das moderne ländliche Architektenhaus markiert, einen umfassenden wirtschaftlichen Umbau ins Blickfeld. Dessen wesentlichstes Kennzeichen ist die Auflösung der bis dahin gültigen Gleichsetzung von ländlichem Kulturraum und Agrarraum. Der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft als derjeniger Kulturform, die den ländlichen Raum als Siedlungsraum geschaffen und ihn bis zur einsetzenden Industria16 Umbau und Erweiterung der Volksschule Thal bearbeitete Gruber noch als Partner Gnaigers. GG: Z 272 ff 17 GG: Z 289 ff 18 Vgl. Wirthensohns Positionspapier, 1997 19 „Ländliche Gemeinden, die durch den Zugang von Familien der Mittelklasse zum Hauserwerb und den sich dadurch ausbreitenden Einfamilienhausbau baulich und sozial umgestaltet wurden.“ Eisinger, S. 76 20 Ernst Wirthensohn illustriert diesen Prozeß, indem er die wirtschaftliche Situation der Thaler Bevölkerung schildert: „Wie siehts mit der Einkommenssituation aus? Wovon leben die Thaler? Gibts noch Landwirtschaft? Klein, alles nur noch klein. Im Grund eine Pendlergemeinde. Rheintal großteils, Deutschland, ein paar sogar in die Schweiz. Aber der Großteil Rheintal. Und wieviele Thaler sind berufstätig? Hundertfünfzig wahrscheinlich. Und in Thal selber haben vielleicht, die zehn Bauern, die es noch gibt, mit den Frauen, die meisten haben keine Frauen mehr, die jungen der Reihe nach nicht, ein Problem, das überall ist. (...) Das sind vielleicht insgesamt dreißig Leute, die hier in Thal noch Existenz haben. Von hundertfünfzig.“ (EW 1: Z 1052 ff) 21 „Der politische Prozeß in der Schweiz hat unübersehbar an Dynamik gewonnen, auch dank Avenir Suisse“, urteilt etwa Lukas Egli in brand eins (Hamburg), 11/09, S. 89.

Die Veröffentlichungen von Avenir Suisse zur Entwicklung der Landwirtschaft betonen, daß die Schweizer Agrarpolitik Vorreiter für Entwicklungen sei, die anschließend von den angrenzenden EU-Ländern, darunter Österreich, übernommen werden. Österreich bietet wegen der geographischen Ähnlichkeit seiner Agrarflächen zur Schweiz, dem hohen Bergbauernanteil unter seinen Landwirten und der ähnlichen Größe der Gesamtbevölkerungen ideale Voraussetzungen für wissenschaftliche Vergleiche und konkrete Übernahmen der Resultate. Vgl. Rentsch (2006), S. 32 22 Der Begriff „genetische Vorrangstellung“ meint hier diejenige Gestaltungskraft der Landwirtschaft für die ländliche Lebensform, die ihre Legitimität aus dem „Schöpfungsakt“ der Überführung von Natur- in Kulturlandschaft bezieht. 23 Rentsch (2006), S. 122 24 „Landflucht“ ist ein Effekt des Bedeutungsverlustes der Landwirtschaft, der sich, vor allem in bergbäuerlichen Siedlungsgebieten, bis zur vollständigen Entvölkerung steigern kann. Die Bewertung dieses Phänomens ist umstritten: Der Position, durch gezielte staatliche Bergbauernförderung eine flächendekkende Mindestbesiedlung aufrechtzuerhalten, steht seit der Veröffentlichung von Die Schweiz - ein städtebauliches Porträt (Diener u.a., ETH-Studio Basel 2006) der Vorschlag gegenüber, die Entvölkerung zuzulassen und die ehemaligen agrarischen Grenzer-

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lisierung als konkurrenzlose Wirtschafts- und Sozialform geprägt hat20, ist das folgenreichste Ereignis in diesem Prozeß. Heute schätzt Avenir Suisse, Schweizer think tank und als solcher Impulsgeber für wirtschaftspolitische Weichenstellungen21 nicht nur der Schweiz, sondern auch EU-Europas, die genetische Vorrangstellung22 der Landwirtschaft als überholt ein: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Lebensfähigkeit ländlicher Regionen (...) in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht zentral mit der Situation der Landwirtschaft verknüpft.“23 Konkret stützt sich Avenir Suisse auf den Nachweis, daß seit 1970 keine Abnahme der ländlichen Bevölkerung mehr zu verzeichnen ist, daß also die „Landflucht“24 mittlerweile durch eine „Stadtflucht“ abgelöst sei.25 Die Landwirtschaft, als Wirtschaftssektor betrachtet, erfährt nach einer Phase der bäuerlichen Selbstorganisation in Verwertungsgenossenschaften26 im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert seit den 1920er Jahren zunehmende wirtschaftliche Eingriffe in Form staatlicher Preisstützungen27, die seit den 1990er Jahren, wiederum ausgehend von der Schweiz, durch Direktzahlungen an die Landwirte ersetzt worden sind.28 Der Fortbestand dieser Stützungsleistungen als gesellschaftlich zunehmend schwerer vermittelbare Agrarsubventionen29 wird gegenwärtig hinterfragt, ein Konflikt, der in einer Definition „neuer gesellschaftlicher Aufgaben“ der Landwirtschaft30, als „Multifunktionalität“31 kategorisiert, einer Lösung zugeführt werden soll. Aus tragsregionen in touristisch genutzte „Resorts“ umzuwandeln oder aber zu „Brachen“ werden zu lassen. 25 Rentsch (2006), S. 121 26 Für den Bregenzerwald sind vor allem Käsereigenossenschaften zu nennen, die die vormalige Dominanz der „Käsebarone“ brechen. Vgl. Bilgeri, Bd. IV, S. 438 ff, für Vorarlberg, Rentsch (2006), S. 46, für die Schweiz 27 Beispiele sind der Milch- und Fleischpreis, subventionierte Futtermittel- und Treibstoffpreise. 28 Die Schweiz hat 1992 als europaweiter Vorreiter Preisstützungen für Agrarprodukte durch Direktzahlungen an die Landwirte abgelöst. Vgl. Eisinger, S. 133 29 „Agrarförderungen werden in der Gesellschaft (...) immer weniger akzeptiert“, stellen etwa Salomon und Kugler in einem Interview mit dem österreichischen Umweltminister Berlakovich (ÖVP) fest. Die Presse, 09.01.2010, S. 4 30 Eine heutige soziale Neupositionierung der Landwirtschaft ist etwa in ihrer aktuellen Rolle als „erzieherisches“ Modell zu sehen. Als „Agrotourismus“ liegt darin eine erhebliche ökonomische Wertschöpfung. Der Zug ÖBB EC 660 Bregenz–Wien Westbhf. trägt den Markennamen Urlaub am Bauernhof täglich quer durch Österreich. Der Landwirtschaftsweg, den die Schweizer Berggemeinde Urnäsch (AR) den Gästen ihres REKA-Feriendorfs bietet, ist eine Form der Vermittlung und

ökonomischen Aktivierung dieser neuen gesellschaftlichen Bedeutung der Landwirtschaft. Vor allem im Rahmen systematischer Kontaktaufnahme der Landwirtschaft mit akademisch sozialisierten Konsumenten wird Architektur für die Landwirtschaft interessant, wie Vorarlberger Beispiele architektonisch gestalteter Bauernhöfe erkennen lassen. Als zusätzliche Funktionen bieten diese etwa Seminarsaal und Hofladen sowie Veranstaltungsprogramme, etwa ein Angebot für Kindergeburtstage. Wo diese Neuausrichtung fehlt und Bauern ihren Hof primär als „Gewerbebetrieb“ sähen, bestünde in deren Augen auch keine Notwendigkeit, „für Planung Geld auszugeben“, wie Gerhard Gruber aus eigener Erfahrung mit solchen Planungsaufgaben mitteilt. (GG: Z 1044 ff) Aus der Bewertung des ländlichen Raumes als Wirtschaftsstandort in Kombination mit dem Nachweis, der Beitrag der jeweils nationalen Landwirtschaft zur Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung sei in der öffentlichen Meinung überbewertet, beziehen etwa Hofreither (für Österreich) und Avenir Suisse (für die Schweiz) ihre Empfehlung, der Landwirtschaft ihren volkswirtschaftlichen Sonderstatus abzuerkennen und sie künftig einem Leistungswettbewerb mit „nichtagrarischen Anbietern“ solcher Dienstleistungen, wie der „Landschaftspflege“, auszusetzen. Hofreither, wie Anm. 30 31 Vgl. Hofreither, S. 55

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der Perspektive der vorliegenden Studie ist an diesem Prozeß vor allem die Widmung ländlicher Räume als Siedlungsgebiet und darüber hinaus ihre gesellschaftliche Wahrnehmung als Kulturraum von Interesse32, eine Neuorientierung, die durch das Nutzungs- und Deutungsvakuum, das der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft hinterlassen hat, erst möglich und notwendig geworden ist. Ort als Standort

Der gegenwärtige Umbau des ländlichen Raumes greift auf das Dorf über, indem sich dessen Außenwahrnehmung „vom Ort zum Standort“33 verschiebt, ein Prozeß, der aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als Zugriff neuer sozialer Eliten zu verstehen ist. Im Vorgang einer zeitgemäßen, weil global vernetzten Ökonomisierung des ländlichen Raumes erhält der Auftritt von Architektur im Dorf eine Plausibilität, die über die im Kapitel Haus herausgearbeiteten sozialen Prägungen und individuellen Profilierungen der Bauherren und Architekten hinausgeht. Architektur ist imstande, die Effekte der ansonsten nur indirekt wahrnehmbaren sozialen und wirtschaftlichen Umstrukturierungsvorgänge zu „visualisieren“ und damit einer Bewertung zugänglich zu machen, deren Kategorien diejenigen eines globalen Standortwettbewerbs34 innerhalb einer „vollständig ökonomisierten Lebenswelt“35 sind. Selbst normative Institution, wirkt Architektur darüber hinaus als „Modernisierungsmotor“ des ländlichen Raumes, wie zu zeigen sein wird. Thal, am Südufer der Rotach, unmittelbar an der Staatsgrenze Österreichs zu Deutschland gelegen, besitzt keine eigene Verwaltung, sondern ist eine „Fraktion“36 Sulzbergs im Vorderen Bregenzerwald.37 Insofern ist Thal ein Dorf, ohne gleichzeitig Gemeinde zu sein. Die Antworten auf die bis hierher 32 Für eine Verknüpfung von ländlichem Siedlungsraum, seiner agrarischen Widmung und einem daraus abgeleiteten Kulturbegriff steht besonders der Nationalsozialismus Deutschlands und Österreichs und der italienische Faschismus. Deren totalitäre Verwaltungssysteme haben großangelegte Kampagnen zur Neugründung von Bauernhöfen durchgeführt sowie Umsiedlungskampagnen bäuerlicher Gesellschaften geplant und teilweise realisiert, die, wie die Umsiedlung der Südtiroler, in das Forschungsgebiet der vorliegenden Studie hineinwirken. Die intensive wissenschaftliche Erforschung agrarischer Sozial- und Kulturformen, die zur Zeit des Nationalsozialismus stattfand, bezog sich auf diese Siedlungs- und Raumordnungsvorhaben. So etwa Ferdinand Ulmer: Die Bergbauernfrage; Innsbruck 1942, zweite Auflage 1958. Ulmer erwähnt im Vorwort zur zweiten Auflage parallele Forschungskampagnen im faschistischen Italien: „Damals [1940] hatte das Instituto nazionale di economia agraria ein siebenbändiges Werk über die Gebirgsentvölkerung in Italien herausgegeben.“ In Deutschland fand die staatszentralistische,

agrarisch konnotierte Siedlungspolitik des Nationalsozialismus eine Fortsetzung in der landwirtschaftlichen Boden- und Betriebsreform der DDR. Unter dem Motto „Junkerland in Bauernhand“ wurden zunächst Großgrundbesitzer enteignet, anschließend die landwirtschaftlichen Flächen parzelliert und neben der Schaffung „volkseigener Güter“ (VEG) Einzelhöfe gebildet, später diese wiederum zu „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“ (LPG) zusammengeschlossen. Vgl. Baldinger, S. 104 f 33 Eisinger, S. 13 34 „Die Kosten für die Raumüberwindung haben in den vergangenen Jahrzehnten laufend abgenommen. (...) Im gleichen Zeitraum wurden die Hemmnisse für den Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Arbeit, Kapital und Wissen im Zuge der europäischen Integration sowie durch GATT und WTO immer weiter abgebaut. Diese veränderten Rahmenbedingungen führten zur Vergrösserung von Marktgebieten, zum Abbau regionaler Monopole, zur Verschärfung der Konkurrenz zwischen Unternehmen sowie zu Märkten und Produktionsformen, welche Länder und Re-

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nur angedeutete Krise werden im wesentlichen durch seinen Selbsthilfeverein artikuliert. Weitere Modellsituationen verbreitern die Basis der Befunde dieses Kapitels, so der Bau des neuen Ortszentrums in Langenegg, eine Initiative, die 2009 mit dem soeben gegründeten Baukulturgemeindepreis gewürdigt wurde38, der Nachvollzug einer privaten Entwicklungsinitiative in der Schwarzenberger Parzelle Stangenach sowie eine erneute Befassung mit der Siedlung Im Fang in Höchst, diesmal ihrer Haus- und Gemeinschaftsordnung, die einen Versuch darstellt, dörfliche Lebensformen auf ein außerdörfliches Umfeld, eine in der Agglomeration Rheintal gelegene Siedlung, zu übertragen. Indem solchermaßen das Spektrum derjenigen Verflechtungen zwischen Dorf und Architektur angerissen wird, die für Vorarlberg charakteristisch sind, wird im Fortgang des Kapitels Dorf die gesellschaftliche Voraussetzung anschaulich, unter der die Gestaltungsbeiräte etabliert werden konnten, die in Vorarlberg mittlerweile ein Drittel der rund einhundert Kommunen des Landes in Baugenehmigungsverfahren beraten und auf der Verwaltungsebene der Gemeinden das architektonische Urteil zu Fragen der baulichen Entwicklung in einem Umfang politisch institutionalisiert haben, der österreichweit einzigartig ist.39 Die systematische Gegenüberstellung des aufs Bauliche fixierten Architektenblicks mit dem Blick auf das menschliche Handeln wird das gesamte Kapitel durchziehen, denn erst in dieser Gegenüberstellung wird der Vorgang der architektonischen Ästhetisierung40 identifizierbar, den das Baugeschehen im ländlichen Raum Vorarlbergs gegenwärtig durchläuft. Deutlich zu machen ist, daß das Primat des Ästhetischen, das in der systematischen Installation dörflicher Gestaltungsbeiräte in Vorarlberg seinen rechtspolitischen Ausdruck gionen zunehmend voneinander abhängig werden liessen. Der weltweite Prozess der wachsenden volkswirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen, touristischen, technischen und kommunikativen Vernetzung wird auch als Globalisierung verstanden.“ Eisinger, S. 87 35 Vgl. Habermas (1981) 36 Ein „Fraktionsvorsteher“ vertritt die „Fraktion“ Thal innerhalb der Verwaltungsgemeinde Sulzberg. Daneben erlaubt eine „Thaler Liste“, zwei Gemeinderatssitze zugunsten Thals zu besetzen. Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens dieses Kapitels 37 „Der Bregenzerwald war frei. Und wir waren Untertanen von Bregenz. Mehrerau. Arme, bäuerliche Untertanen. (...) Der Sulzbergstock hat nichts mit dem Bregenzerwald zu tun. Jetzt, für den Fremdenverkehr, drucken sie Bregenzerwald [auf ihre Prospekte].“ (EW 2: Z 992 ff) 38 Langenegg war unter den acht von 24 Einreichungen aus ganz Österreich, die als „LandLuft Baukulturgemeinden 2009“ ausgezeichnet wurden (pressetext austria vom 10.11.2009).

39 Paul Raspotnig hat Ende 2007 an der TU Wien eine Dissertation Planungsbegutachtung durch Gestaltungsbeiräte vorgelegt. Seine aktuellen Daten sind österreichweit erhoben und erlauben damit, die Vorarlberger Situation quantitativ einzuordnen. 40 „Ästhetisierung“: Ersatz des ländlichen Lebens durch dessen Darstellung für diejenigen, die nicht daran teilnehmen /teilhaben. Bereits in der modernen Architekturform, die in den ländlichen Bautenkontext gesetzt wird, geschieht eine solche „Musealisierung“ des Umfelds, das mit dem „abstrakten“ Bauwerk ein neues Gegenüber erhält. Eine temporäre Ästhetisierung stellt die Inszenierung der Ausstellung Handwerk+Form (vgl. Abschnitt Reform des Handwerks: Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk) als Musealisierung des Dorfes Andelsbuch dar – insbesondere deutlich im Vergleich zum zwei Wochen später stattfindenden Pferde- und Geißenmarkt, der die Hauptsache lakonisch abhandelt und das Volksfest sowie die Verpflegung der Besucher zum Vordergrund macht.

Rolle der Gestaltungsbeiräte

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findet, Ergebnis einer Richtungsentscheidung und nicht „natürliche“ Konsequenz einer Modernisierung der „Lebensform Dorf“ ist. Andere Regionen, etwa im Schweizer Nachbarland, reagieren auf vergleichbare Krisenszenarien anders, belassen die Entwicklung der Gestalt des Dorfes stärker beim einzelnen Bauherrn und konzentrieren dörfliche Entwicklungsarbeit auf die soziale Vernetzung der Bevölkerung, indem sie Identifikation über handlungsorientierte Prozesse herstellen.41 Die baulichen Aktivitäten des Thaler Selbsthilfevereins, die vor allem prozeß- anstatt ergebnisorientiert und damit primär als Mittel der Selbstbehauptung anzusehen sind, indem sie das Bauen in Form einer in den Vereinsstatuten festgeschriebenen Selbstverpflichtung zu „Fronarbeit“42 organisieren, sind daher, wie der nächste Abschnitt dieses Kapitels verdeutlichen wird, ebenfalls unter die Gegenmodelle zur architektonischen Ästhetisierung zu zählen. Bauten und soziale Institutionen

Grubers eingangs zitierte Darstellung repräsentiert den durch seine Profession geprägten Blick eines Architekten, indem sie das sonntägliche Leben des Dorfes entlang seiner räumlichen Stationen und dinglichen Repräsentanten43 beschreibt, zu denen Kirche und Kirchplatz ebenso gehören wie das Gasthaus mit seinem Stammtisch, das hier, weil unzugänglich geworden, in der Kirchenstiege und dem Kasten Bier aus dem Vorrat des Pfarrers einen improvisierten Ersatz finden muß. Ernst Wirthensohn füllt die Dingkulisse der Architektenwahrnehmung mit handelnden Personen und ergänzt so das baulich bestimmte Dorf durch das Dorf der Persönlichkeiten und der sozialen Institutionen als den eigentlichen Bewegern des gesellschaftlichen Lebens. Es ging bergab mit der Landwirtschaft, es ging bergab, daß Betriebe zugemacht haben, und 88 dann die ganz große Krise, als das letzte Gasthaus, eben die „Krone“,

41 Gion Caminada, Architekt und langjähriger Gemeindepräsident seines Heimatdorfes Vrin im Schweizer Kanton Graubünden inszeniert, 2009 in der Vriner Turnhalle die Geschichte des Dorfes als Theaterstück. Die Gemeinde Urnäsch im Kanton AppenzellAusserrhoden bietet Beispiele, die in der Würdigung zum Dorferneuerungspreis genannt sind. Daneben ist die intensive Bürgerbeteiligung in politischen Entscheidungsfindungen zu nennen, gegründet im basisdemokratisch geprägten Schweizer Politikverständnis, das den Gemeinden eine weitreichende Souveränität einräumt. 42 Art.3 Mittel zur Erreichung des Vereinszwecks nennt unter Punkt. 2 u.a. „Fronleistungen der Vereinsmitglieder“; in: Wirthensohn, Jb. 1992 43 Thomas Düllo grenzt in seinem Habilitationsvortrag Material Culture – zur Neubestimmung eines zentralen Aufgaben- und Lernfelds für die Angewand-

te Kulturwissenschaft den Begriff Ding gegenüber Objekten und Sachen ab: Dinge seien alle materiellen Gegenstände, also alle berührbaren und sichtbaren Dinge, die den Menschen umgeben, wobei der Umgang mit diesen Dingen eine herausragende Rolle spielt. Objekte seien vergleichbar mit einem Fenster, durch das man die Welt betrachtet, um zu erfahren, was sie uns über Geschichte, Gesellschaft, Natur und Kultur zu sagen haben. Sachen seien dagegen nur die vom Menschen geschaffenen Objekte, also Artefakte. 44 EW 1: Z 32 ff 45 Ebendiese Kombination aus Landwirtschaft und „außerlandwirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten“ ist für periphere Regionen des ländlichen Raums, die aufgrund von Erschwernissen der agrarischen Bewirtschaftung lediglich eine Nebenerwerbslandwirtschaft zulassen, typisch. Hofreither in: Rentsch (2006), S. 118 46 Wirthensohn, Jb. 1990

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kurz vor dem Schließen war. Kein Gasthaus mehr, kein Lebensmittelgeschäft mehr, die Schule im Schwanken, ob man sie überhaupt weiterführt, Kindergarten gabs noch keinen damals. Also praktisch, die wichtigsten Institutionen des Dorfes waren am Ende, oder kurz vor dem Ende. Und da war das Problem da, daß der Wirt, der ein alleinstehender Mann war, der den Betrieb da einigermaßen geführt hat, das Haus war sehr desolat, aber immerhin noch geführt hat, auch den Laden noch geführt hat, daß der einen Hirnschlag gehabt hat, und praktisch von einem Tag auf den anderen die ganze Bude hier zu war. Und dann, natürlich haben sie Alarm gegeben, die Leute. Und dann wars so schlimm, daß man gesagt hat, da muß man sofort was im Dorf machen. Da haben sich dann ein paar Leute zusammengetan und haben diesen Verein, diese Vereinsidee, gegründet.44

Wirthensohn hinterlegt seine Feststellung, daß Thal in seinem Fortbestand bedroht sei, mit einem komplexen Ursachenbündel, das im krankheitsbedingten Ausfall eines einzelnen Mannes, des Wirts der Krone, kulminiert. Neben solchen inneren Faktoren, die außer der Schließung des Gasthauses auch jene des vom Wirt mitbetriebenen Ladens umfassen, führt Wirthensohn eine von außen bestimmte Krise an, die die wirtschaftliche Existenzsicherung der Dorfbewohner bedroht und sich als Niedergang der Landwirtschaft und in Betriebsschließungen manifestiert.45 Die Existenzgefährdung der Schule und das Fehlen eines Kindergartens illustrieren indirekte, demographische Folgen für die Bewohner des Dorfes, wie Abwanderung, Geburtenrückgang und Überalterung. Alle Problembereiche erscheinen zunächst gleichermaßen unzugänglich und unveränderbar. Der am 3. Mai 1989 formell gegründete Selbsthilfeverein Dorfgemeinschaft Thal wird zum Mittel des Zugriffs auf die inneren Faktoren der Krise.46 Der Verein erwirbt das Gasthaus Krone und organisiert dessen kurzfristige Instandsetzung sowie längerfristig den Neubau seines Wirtschaftsteiles. Im fertiggestellten Zustand47 finden in dem Gebäude, jetzt Gemeinschaftshaus48 genannt, neben Gastwirtschaft und Dorfladen ein Jugendraum, ein Zimmer für den wöchentlichen Arztbesuch, das auch als Wahllokal genutzt wird49, der Proberaum für die Blaskapelle, ein Banklokal der Raiffeisenbank sowie die Bühne für den im Obergeschoß des Altbaus liegenden Festsaal ihren Platz. Auf dem Höhepunkt der Krise helfen die auf der Kirchenstiege versammelten Männer also zunächst ihrer „Heimatlosigkeit“ ab und schaffen mit dem Gasthaus ihren50 Ort des Austauschs neu, dem Ort, der neben der inneren Kommunikation und Versorgung auch dorfinternen Geschäftsabschlüssen 47 Der Saal, als letzter Bauabschnitt des „Gemeinschaftshauses“, wird im Herbst 2007, nahezu zwei Jahrzehnte nach Gründung des Vereins, fertiggestellt. Der neue Thalsaal; in: Wirthensohn, Jb. 2007 48 Erstmals in: Referat von Gerhard Violand anläßlich der Bürgerversammlung am 3. Mai 1989; in: Wirthensohn, Jb. 1990 49 EW 2: Z 1030 ff 50 Ernst Wirthensohn erinnert in seiner Schilderung des Dorflehrers Alfons Fritz an dessen eindringliche Stellungnahmen gegen den Genuß von Alkohol

und Nikotin. Das Gasthaus erscheint aus dieser Perspektive als öffentlicher Ort, der einen anderen sozialen Habitus als den der dörflichen Akademiker, Lehrer und Pfarrer, repräsentiert. Wirthensohn über Fritz: „Und war halt hier neben dem Pfarrer der ungekrönte Kaiser hier im Dorf. Wie es überall war. (...) Das war ein ganz eigener Mensch im Dorf, ich kann mich nicht erinnern, daß der einmal im Gasthaus war.“ (EW 2: Z 258 ff) 51 EW 1: Z 637 ff

Gasthaus als Ort des Austauschs

Ort der Männergesellschaft, Ort der Frauengesellschaft des Dorfes

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dient.51 Ohne daß in den Gesprächen mit Wirthensohn und Gruber davon ausdrücklich die Rede ist, darf aus deren auf Männer fixierten Bestimmung des Sozialen geschlossen werden, daß auch die Frauen ihren gemeinsamen Ort besitzen. Die Doppelfunktion des Kronenwirts, der neben dem Gasthaus auch den Laden betrieben hat, läßt annehmen, daß der Laden für die weibliche Dorfbevölkerung ähnliche soziale Funktionen erfüllt, nämlich informelle Begegnung und Austausch ermöglicht, wie das Gasthaus für die Männer.52 Das wiedereröffnete Gasthaus gibt dem Dorf neben seiner internen Funktion ein Fenster nach draußen. Der neue Pächter, ein engagierter Koch, verschafft dem Gasthaus einen weitum gerühmten Ruf und macht es zum beliebten Ausflugsziel, ein Magnet, der gleichzeitig dem Selbsthilfeverein ein überörtliches Forum gibt.53 Organisation der Dorfbevölkerung

Wirthensohn schildert die Gründung des Selbsthilfevereins als „teilnehmender Beobachter“ der dörflichen Gesellschaft. Selbst einer Thaler Familie entstammend, erlebt er die Organisationsstruktur, die ein Verein bietet, als Selbstverständlichkeit. Die implizite Ebene seines Berichts liefert uns erste Anhaltspunkte zur sozialen Struktur des Dorfes. Es waren vier oder fünf Leute, vier, fünf Männer aus dem Dorfraum so, die das in den Griff genommen haben. Vereinsvorstände, und so weiter.54

„Leute“ setzt Wirthensohn hier mit „Männer“ gleich. Das In-den-Griff-Nehmen, die Restrukturierung des Dorfes, ist Männersache. Wirthensohn präzisiert: Vereinsvorstände seien dies vor allem gewesen. Demnach strukturieren Vereine die Dorfbevölkerung, deren Segmente durch die Vereinsvorstände vertreten werden. Nicht jeder einzelne Dorfbewohner ist Mitglied im neugegründeten Selbsthilfeverein, doch sind Wirthensohn zufolge „nahezu alle Familien vertreten“.55 Der Ebene der Vereine vorgeordnet, ist also die Familie als primäre Organisationsform der Dorfbevölkerung anzusehen. Wirthensohn unterscheidet die Thaler Familien anhand ihrer Kraft zur Initiative. Wenn man historisch das erarbeitet, man stößt immer wieder auf Familien, wo das so irgendwie durchgeht. Wo sich das fortpflanzt. So initiative Familien, die für uns auch wichtig sind. (Damals gabs) ein paar und sind auch jetzt ein paar einfach wichtige, die sehr initiativ sind.56 Familien als Speicherort für Erfahrung

Initiative Familien sind solche, zu deren Erfahrung es gehört, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen, etwas zu bewegen. Die Familie ist der Speicherort für diese Erfahrung, zumal die Großfamilie, in der mehrere Generationen zusammenleben und hierdurch lebendige Erfahrung aus einem ganzen Jahrhundert oder sogar einem noch längeren Zeitraum präsent gehalten werden kann.57 52 Wirthensohn berichtet in seinem Lebensbild der verstorbenen Judith Flatz von „um den Küchentisch“ versammelten Frauenrunden, Hostube genannt. In seiner Regelmäßigkeit, „jeden Sonntag nach der Messe“, bildet diese das Pendant zum „Frühschoppen“ der Männer, dessen Ort das Gasthaus, oder aber „seiner-

zeit, als die Groschen knapp saßen“, die „Mesnerhausstube“ gewesen sei. Wirthensohn, Jb. 1994/1995 53 GG: Z 503 ff 54 EW 1: Z 58 ff 55 EW 1: Z 75 56 EW 1: Z 450 ff

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Die Siedlungsstruktur des Bregenzerwaldes mit seinen verstreuten „Parzellen“, Weilern mit eigener Identität, die jeweils ursprünglich auf den Hof einer Siedlerfamilie zurückgehen58, verstärkt den familiären Zusammenhalt noch dadurch, daß sie der Familie und ihrem Haus einen identifizierbaren Ort in der Landschaft zuweist. Daß diese enge Verknüpfung von Parzelle und Familie noch heute spürbar ist, bestätigt neben Ernst Wirthensohn auch Wolfgang Schmidinger, Tischlermeister in Schwarzenberg, der bereits im Abschnitt Architektenhaus als Bauherr in Erscheinung getreten ist. Seine Schilderung soll hier eingeschoben werden, da sie einen Fall beschreibt, der eine aktuelle Fortschreibung der traditionellen Siedlungsstruktur aufgrund der Konnotation der Parzelle als „Familiendorf“ darstellt und damit Wirthensohns implizite Gleichsetzung der Begriffe „Parzelle“ und „Familie“ zu illustrieren geeignet ist. Schmidinger baut in den Jahren 1992–94 neben dem bestehenden Elternhaus in der Schwarzenberger Parzelle Stangenach, dessen Anbau die Tischlerei beherbergt, sein Wohnhaus.59 Auf den Wunsch seiner Cousine nach einem eigenen Bauplatz hin gibt er bei seinem Architekten einen Parzellierungsplan in Auftrag, der ausdrücklich die Weiterentwicklung der Siedlungsfigur der Parzelle berücksichtigen soll.60 Die in dem Vorschlag fixierte Rundgruppierung der Häuser nimmt für ihn „diese Kernsache“61, den Typ der für Schwarzenberg charakteristischen „Kernparzelle“ auf62. Konstituierend für diese Siedlungsform ist der Brunnen, die ursprünglich einzige Wasserversorgung der rundum gruppierten Häuser in einer Gegend, in der fehlendes Grundwasser eigene Hausbrunnen verunmöglicht. Die Bauern organisierten sich zu genossenschaftlichen Brunnengemeinschaften, die Wasserleitungen von oberhalb liegenden Quellen in die Parzelle legten.64 Die Versorgung mit Trinkwasser ist ein gemeinsamer Akt, der wiederum Gemeinschaft bildet und Nähe erfordert. Der Weg und der Zugang zum Brunnen werden ebenso zum räumlichen Ausdruck der sozialen Gemeinschaft des Weilers wie die rundgruppierte Anordnung ihrer Häuser. Schmidingers Darstellung des Brunnens als zentrumsbildender „Tränkstelle“65 verknüpft die Siedlungsfigur der Parzelle mit dem Bild einer Viehherde.66 Die Häuser stehen um den Brunnen, wie vom Brunnen trinkendes Vieh. 57 Wirthensohn erwähnt in einigen seiner Lebensbilder über „Die Verstorbenen von Thal“ aus den 1990er Jahren (u.a.Wirthensohn, Jb. 1991/ 1992) das in diesen Biographien und Familiengeschichten präsente „Jahrhundert Napoleons und Goethes“, oder „die Goethezeit“. 58 Vgl. Niederstätter (2005), S. 4 59 Vgl. auch Architektenhaus im Kapitel Haus 60 WS 1: Z 812 ff 61 WS 1: Z 743 62 Daneben gibt es, wie Schmidinger erläutert, in

den Talebenen des Bregenzerwaldes, etwa in Andelsbuch, das „Straßendorf“ als weiteren prägenden Typ für die Siedlungsstruktur des Bregenzerwaldes. (WS 1: Z 743 ff) 64 WS 1: Z 760 ff 65 WS 1: Z 758 66 Die etymologisch gegebene Verknüpfung zwischen den Kulturtätigkeiten des Einhegens, des Bauens und den Bewegungen, die die Herde auf der Weide vollführt, wurde bereits im Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? erwähnt.

Parzelle und Familie

Herstellung der Wasserversorgung als gemeinschaftsbildender Akt

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Wegestruktur und Siedlungsfigur konservieren die soziale Gestalt des Weilers

Der Brunnen hat seine ursprüngliche Funktion als Wasserversorgung der Häuser verloren, seit jedes Haus über einen eigenen Wasseranschluß verfügt. Die Wegestruktur der Parzelle, vom Brunnen als zentralem Zielpunkt präfiguriert, existiert aber fort. Weiterhin läuft der gesamte Anrainerverkehr über den zentralen Platz und erhält diesem die Funktion einer sozialen Bühne. Um diese soziale Raumbestimmung zu veranschaulichen, bedient sich Schmidinger der Perspektive seiner alten Eltern, deren einzig verbliebene Form der Teilhabe am sozialen Leben der Blick aus dem Fenster auf diesen Platz ist. Ihre „Kommunikation“67 ist der Blick auf das Kommen und Gehen. Schmidinger schildert seine am Fenster sitzende Mutter, wohl weil sich der Vater bis ins hohe Alter in der Tischlerwerkstatt aufhält. Die Reaktion der Passanten mag aus einem Winken oder einem kurzen Gespräch am Fenster bestehen. Demgegenüber ist der Ausblick in die Landschaft, nach den Maßstäben der Generation Schmidingers ein erstrebenswertes Gut, für die unbeweglichen alten Leute wertlos, ein Abgeschnittensein von der Teilhabe am sozialen Leben. Die Wertschätzung des Landschaftsausblicks, zentrales Kriterium heutiger Hausplazierungen, setzt voraus, daß deren Bewohner entweder ausreichend mobil sind, um soziale Gemeinschaften aufzusuchen, oder aber bereitwillig die physische Präsenz von Gesellschaft durch Telefon und TV ersetzen.68

Parzelle als Familienbastion

Drei der Häuser der Parzelle Stangenach werden nun von Familie und Verwandtschaft bewohnt. Die rundgruppierte Parzellenanordnung der Häuser steht hier also nicht nur für die funktionelle Gemeinschaft, die der Brunnen symbolisiert, sondern zusätzlich für den „Kreis der Familie“, eine Sichtweise, die im Gespräch die Frage aufwirft, wer zu dieser gehört und wodurch der Zugang zu dieser ermöglicht wird. Schmidinger beschreibt seine Beziehung zur Parzelle Stangenach als „Heimat“, die so sehr „Selbstverständlichkeit“ ist, daß er zwischen „innen“ und „außen“ nicht mehr unterscheiden kann, also die Distanz nicht herzustellen imstande ist, diese Heimat aus der Sicht eines Außenstehenden zu beschreiben: „Wie ist es, ja.“69 Zu den Außenstehenden zählt er bereits seine Ehefrau, die aus einem Nachbardorf stammt.70 Was einen solchermaßen Außenstehenden nach dem „Hereinziehen“ zugehörig macht, vollzieht sich in seiner Diktion als „Wachstum“: „Man wächst da mit hinein.“71 Indem Schmidinger sein Haus gesetzt und mit dem Parzellierungsplan Kriterien für „sein Dorf“72 gesetzt hat, wacht er aufmerksam über die Bereitschaft jedes potentiellen neuen Nachbarn, diese Kriterien zu respektieren und den ihm gewährten Platz einzuhalten. Im Fall eines Interessenten für das einzig noch freie Baugrundstück der Parzelle, etwas zurückgesetzt zwischen seinem Wohnhaus und der Tischlerei gelegen, bietet das zu gewährende Wegerecht Schmidinger die Handhabe, durchzusetzen, daß dieser „nicht ausufert mit seinem Ding“.73

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Ich hab dem gesagt, (...) Du kannst da ohne weiteres meinen Weg benutzen und drüberfahren, aber bevor ich dem zuwillige, möchte ich den Plan sehen.74

Der Familienaspekt, die Konnotation der Parzelle Stangenach als „Familienkreis“, verleiht der folgenden Eingliederungsdebatte mit dem potentiellen Nachbarn eine Note, die dessen Wunsch nach räumlicher Distanz75 zu diesem Familienkreis nachvollziehbar macht, letztlich aber den Wechsel des Bauwerbers auf ein Grundstück am gegenüberliegenden Ende Schwarzenbergs erzwingt. Die Parzelle Stangenach ist, dem Familienkonzept folgend, noch intakt, weil die der Baustruktur zugrundeliegende Gemeinschaft ungestört ist. Schmidinger: Ich weiß nicht, wie lange es dauern würde, bis mich das nicht mehr stört, das würd auf Lebenszeit, würd das so sein, wenn ich einen Nachbarn hätte, und irgendwie, der ufert da aus mit seinem Ding, und hätt da überhaupt nicht das Verständnis dafür, das würd mich (lacht), das würd mich brutal stören.76

Die ästhetischen Anforderungen, die Schmidinger nennt, deuten auf eine Verfeinerung seiner eigenen Wahrnehmung hin, die er seiner eigenen Erfahrung mit dem Betriebsumbau, seinem eigenen Architektenhaus und dem vom Architekten entworfenen Siedlungsplan abgewinnt und die sich nun ausdrücklich abgrenzt von all jenen, die mit überdimensionalen Fahrzeugen umgehen und damit die neu gesetzten baulichen Maßstäbe, die implizit eine Lebensform zum Maßstab erheben, sprengen. Und der kam dann mit dem Plan, und ah, das ist ein bißchen andere, das sind Leute, junge Leute, bei denen ich, denen ich überhaupt keinen Vorwurf machen will, aber es waren, behaupte ich, einfach stockkonservativ, und äh, ohne es zu werten, aber mit Planen, und mit Architektur, und mit solchen Dingen, einfach überhaupt keinen Bezug, und keine Sensibilität: „Und unser Haus und das wollen wir und die Garage muß drei Meter hoch sein, weil es kann sein, daß ich irgendwann einen Traktor habe und dann fahre ich da in die Garage hinein und mit dem Lastwagen, den ich, wenn ich Frächter bin, da muß auch sein, daß die Garage drei Meter hoch ist, als Eingang.“ 77

Innerhalb eines weitgehend sich selbst organisierenden Gefüges, wie es Vorarlbergs ländlicher Raum vielerorts noch darstellt, werden Architektur und Raumordnung zu zeitgemäßen Werkzeugen, um individuelle Befindlichkeiten auf Spielfeldern sozialer Konflikte zu regeln. Wo objektivierbare Rechtsverhältnisse fehlen78, geben Alteingesessene die Kriterien vor, in denen sich später Hinzugekommene einzurichten haben. Deren Selbstbestimmungsrecht ist begrenzt durch den Rahmen, den das Gewohnheitsrecht der Alteingesessenen gewährt.79

67 WS 1: Z 1130 68 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 69 WS 1: Z 1344 70 Eine vergleichbare Situation unterschiedlicher sozialer Integration in das Dorf bietet das Ehepaar Eugster. Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus. 71 WS 1: Z 1341 72 WS 1: Z 1316

73 WS 1: Z 1321 74 WS 1: Z 860 ff 75 WS 1: Z 845 ff 76 WS 1: Z 1318 ff 77 WS 1: Z 863 ff 78 „Wo setzt man das hin?“ (WS 1: Z 1217) Wo die „Plazierung“ nicht als behördlicher Akt besetzt ist (Bebauungsplan), bleibt sie verfügbar als Ausdrucksmittel sozialer Verhältnisse.

Familie und Nachbarschaft

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Schmidingers Streit mit dem nachbarlichen Bauwerber zeigt, daß die Argumente in solchen Auseinandersetzungen um eine zeitgemäße Form des Zusammenlebens zunehmend den Gestaltnormen Zeitgenössischer Architektur entlehnt werden, daß also Architektur, je größer ihre soziale Präsenz ist, umso mehr selbst normierend und damit gesellschaftsformend wirkt.80 Schmidinger sieht sich durch seinen Kampf um den „Erhalt“ seiner Parzelle selbst in diese Rolle des Gestalters gestellt: Das Beispielhafte kann, kann dann doch ein bißchen eine Sogwirkung haben.81

Gemeinschaftsbildung als Kulturleistung

Schmidingers Deutung der Parzelle Stangenach verbindet ebenso wie Wirthensohns begriffliche Verknüpfung von Familie und Parzelle die Sozialstruktur mit der räumlichen Struktur des Dorfes. Zur Beobachtung dieser „sozialen Form“ des Dorfes kehren wir nach Thal zurück. Die Strategie des Thaler Selbsthilfevereins, mit den Familien gleichzeitig „alle Parzellen einzubinden, damit praktisch überall so Leute sind, die es weitertransportieren“82, deckt gleichzeitig mit der sozialen die räumliche Ausdehnung des Dorfes ab. Die ausgeprägte räumliche Separierung der Familien voneinander, die in der Parzellenstruktur des untersuchten Siedlungsraumes ihren deutlichsten Ausdruck findet, macht das „Sich-zusammentun“ zu einer wählbaren Möglichkeit neben der anderen, für sich zu bleiben. In einer Sozial- und Raumstruktur wie der beschriebenen scheint die Unabhängigkeit voneinander eine durchaus ernstzunehmende Alternative, die Gemeinschaftsbildung alles andere als selbstverständlich zu sein. Die Gemeinschaftsbildung, die die soziale Struktur eines Dorfes entstehen läßt, ist in diesem Sinn Kulturleistung, die aus dem „Naturzustand“ der Familie heraus entwickelt ist. In Thals wiederholter sozialer und architektonischer Restrukturierung schaffen sich die Einzelfamilien jeweils zeitgemäße Organisationsformen und Repräsentationsinstitutionen als Plattformen zur Vermittlung der Einzelinteressen untereinander und nach außen, deren aktuelle der Selbsthilfeverein ist. Gerade Thal, dem politische Eigenständigkeit und damit eine kontinuierliche Verwaltungsidentität fehlt83, unterliegt verstärkt der Notwendigkeit, seine Organisationsform den jeweiligen Zeitumständen anzupassen. Wirthensohn rekapituliert den Wandel, dem das Verhältnis zwischen Dorf, Haus und Familie unterliegt, indem er Bevölkerungszahlen nennt: Thal war vor hundert Jahren bevölkerungsreicher als jetzt. Jetzt haben wir so 360 Einwohner. Und damals waren so 400. Wobei inzwischen viel Zuzug war. Also damals waren zum Teil viel größere Familien. Also es waren viel weniger Häuser, aber mehr Einwohner.84

Haus und Familie

Das traditionelle Bauernhaus steht in dieser Darstellung für Großfamilie, das heutige Haus dagegen für Kleinfamilie. Was Wirthensohn hier unter den Begriff „Bevölkerungsentwicklung“ stellt, erzählt gleichzeitig vom Wandel der Sozialstruktur Thals. „Viel Zuzug“ macht sich baulich bemerkbar, indem neben den Bauernhäusern heute Fertighäuser stehen. Diesen Effekt lediglich als Abbruch einer „gewachsenen“ traditionellen Baukultur zu interpretieren,

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macht die Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Baukultur unkenntlich. Wie bereits im Kapitel Haus angesprochen, ist parallel zur Ausbreitung der Industrialisierung ein Bedeutungsverlust der der traditionellen Baukultur übergeordneten Lebensform und Erwerbsstruktur, der Landwirtschaft, festzustellen. Ermöglicht durch die sinkende Integrationskraft der agrarischen Lebensform ziehen „neue Leute“ ins Dorf, Angestellte, Industriearbeiter, die ganz selbstverständlich auch ihre „eigenen“ Häuser mitbringen. Was der ästhetisch fixierte Blick als „bauliche Unkultur“ wahrnimmt, ist ursächlich im Totalumbau der dörflichen Gesellschaftsstruktur begründet. Die Entwicklung geht hin zu immer mehr Häusern mit immer weniger Menschen darin. Die Menschen, die in diesen Häusern wohnen, sind tagsüber abwesend, in der Stadt, zum Arbeiten. Thal ist mittlerweile „im Grunde eine Pendlergemeinde“.85 Gemessen an der Anzahl der Bauernhäuser war die Zahl der Bauten einer „sozialen“ Infrastruktur, Schule, Kirche, Gasthäuser, zur Zeit von Sinz’ Kirchenbau erheblich. Durch diese verstreute Siedlungsform hats ja in so einem Gemeindegebiet fünfzehn Schulen gegeben. Wenn Du genauer schaust, erkennst Du sie noch, es gibt noch ein paar. Höheres Erdgeschoß, höhere Fenster. (...) Die Bauern hatten ja früher zehn Kinder. Für fünf Bauernhöfe hat es ja schon eine Schule gebraucht.86

So illustriert Gerhard Gruber die bauliche Erscheinungsform dessen, was Wirthensohn aus der Warte des Lehrers und Historikers als staatliche „Institution Schule“ wahrnimmt. Wirthensohns Bericht verdeutlicht daneben den Einfluß, den der Staat von einem fixierbaren historischen Zeitpunkt an über die neugeschaffene „Volks“-Schule im Dorf ausübt. 79 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“ Kapitel Haus 80 „Daß ich da, irgendwie meine Macht aus-, in dem Fall die verfügbare Macht ausgenutzt habe, um zu sagen, ich bin Verhinderer. (...) Manchmal ist (...) verhindern auch eine Lösung. Dort, Dorfkern Schwarzenberg ist das beste Beispiel dafür. (...) Zwanzig Jahre hat es gedauert, bis die Straße durchs Dorf gemacht worden ist, und die ist heute wirklich schlank und rank, und die Friedhofsmauer ist stehengeblieben, und das, was heute Schwarzenberg ausmacht, nicht die (...) Blechlawine durchs Dorf durch, wie in allen anderen Gemeinden, sondern, es waren zwei Verhinderer von achtzehn Gemeinderäten. Die irgendwie komplottiert haben, und die verhindert haben und die gesagt haben: ,nein, das geht jetzt nicht und wir sprengen das und wir-‘, also, das sieht man auch wieder, das ist halt, ja, auch eine Portion von so, schicksalhaft (lacht).“ (WS 1: Z 1081 ff) Schmidinger reklamiert mit der von ihm propagierten Siedlungsgestalt dieselbe Legitimation für sich, mit der ehemals die Erhaltung der alten Friedhofsmauer im Dorfkern vertreten worden bzw. deren Abbruch verhindert worden war.

Seine Verhinderung des nachbarlichen Neubaues bezieht seine Legitimität aus zwei Argumenten: daß die Architektenhäuser legitime Nachfolger der alten Bauernhäuser seien und daß die planliche Komplettierung der Rundanordnung der Parzelle einen der Erhaltung des alten Dorfkerns analogen Gültigkeitsanspruch besitze. Beides sind Ideenkonstrukte mit metaphorischem Charakter ähnlich jenen, die Hiesmayr in Eine neue Tradition zwischen die Dokumentationen historischer Bauernhäuser und Almen unvermittelt Neubauten im Dorfkern Bizaus plazieren läßt. 81 WS 1: Z 1015 ff 82 EW 1: Z 190 ff 83 Bernhard Tschofen verdanke ich hierfür den Begriff „prekäres Dorf“. (28. 11. 2009) 84 EW 1: Z 327 ff 85 EW 1: Z 1054 86 GG: Z 1269 ff Wirthensohn gibt für das Gemeindegebiet Sulzberg die Zahl der Schulen mit sechs an. (EW 2: Z 19) 87 EW 2: Z 10 ff 88 GG: Z 16 ff

Die bauliche Struktur des Dorfes wandelt sich mit seiner Bewohnerstruktur

Soziale Infrastruktur

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Zu Maria Theresias Zeiten hat man ja die Schule eingeführt, bei uns. Also, so um 1770 herum. (...) Die Schulpflicht eingeführt und hat damals auch mehrere Schulhäuser eröffnet. Es gab damals ein Gesetz, ich kenns nicht genau, aber die Kinder sollten also nicht weiter als eine halbe Stunde oder höchstens eine Stunde laufen und so waren überall, Sulzberg ist ja sehr weitläufig, ringsum waren Schulen verteilt.87 Schule als Bauwerk, Schule als Institution

Neben der Ergänzung der „Pfeiler“ eines Dorfes, die uns diese Erzählung liefert, tritt in der Gegenüberstellung der beiden Gesprächspartner ein weiteres Mal eine jeweils berufsspezifische Wahrnehmung vor unser Auge, die im Zusammenhang mit unserer zentralen Frage „Was ist Architektur?“, die die soziale Wirklichkeit von Architektur im Habitus der Akteure zu beschreiben sucht, fortwährend interessiert. Während der Architekt das Gebäude meint, wenn er „Schule“ sagt und die Schulbauten aufgrund typischer Merkmale von den Bauernhäusern unterscheidet, beschreibt der Historiker die „Institution Schule“, spricht von der Dauer, die das Kind, zu Fuß unterwegs, für seinen Schulweg benötigt, und identifiziert darin ein Kriterium für die räumliche Verteilung der Schulbauten im Gemeindegebiet.

Architektur schafft gemeinsamen Ausdruck

Gerade seine späte Konstituierung und deren Umstände liefern Aspekte, die Thal, als Prototyp eines Dorfes genommen, für uns besonders anschaulich machen. Erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hat Thal mit seinem Kirchenbau gewissermaßen eine zweite Gründung erfahren. Früher war das einfach eine Ansammlung von Bauernhöfen. Es hat sicher ein paar Gasthäuser gegeben, aber ohne gemeinsamen Ausdruck.88

Gerhard Gruber rückt hier Architektur in den Mittelpunkt eines Vorgangs, der das Vorhandene, die jahrhundertealte „informelle“ Ansiedlung89, umdeutet und mit dem „gemeinsamen Ausdruck“ auch ein neues Selbstbewußtsein der Bewohner als sozialer Gemeinschaft markiert. Die gesellschaftliche Rolle von Architektur in einem solchen Prozeß liegt offenbar darin, Symbol zu sein für die freiwillige, die gewährte Dorfgemeinschaft, die der Eigenständigkeit der Familien abgerungen ist, ein Symbol, das den Mehrwert der größeren gegenüber der kleineren Gemeinschaft zu verkörpern hat. Die tragende Figur dieses Gründungsaktes, der aus Thal stammende Pfarrer Martin Sinz, „hat einen Basler Architekten geholt und hat in Thal eine 89 „Hagen, wo das Geburtshaus [Martin Sinz’] stand, war damals eine von mehreren bescheidenen Bauernparzellen unten im ,Thal‘, im ,Auszehrerloch‘, wie die Sulzberger das weitab gelegene, verhauene, ungesunde Gebiet spöttisch nannten.“ In: Pfarrer Martin Sinz (1830–1911) Lebensbild; Wirthensohn (Jb. 2000 /2001) 90 GG: Z 31 ff 91 EW 1: Z 250 ff 92 Wirthensohn verlebendigt in seiner Erzählung seinen alten Thaler Volksschullehrer Wilhelm Fritz. Dieser repräsentiert den Typ des städtisch orientierten Intellektuellen, „das war ein früher Ökotyp, (...) der hat sein Brot nicht von hier gehabt, sondern der ist oft nach Bregenz mit dem Koffer, immer Vollkorn-

produkte, damals schon“ (EW 2: Z 270 ff). Fritz praktiziert neben seiner eigenen, betont gesunden und enthaltsamen Lebensform in seiner Dorfschule reformpädagogisches Gedankengut und schlägt damit von Thal aus die Brücke zu dem, was die Moderne „ganzheitlich“, lebensreformerisch, zu realisieren versucht hat. Ein weiteres Mal wird deutlich, daß „Reform“ immer städtisch geprägt ist, ein Umstand, für den in Wirthensohns Erzählung zeichenhaft das aus der Stadt geholte Vollkornbrot steht. Wilhelm Fritz repräsentiert exemplarisch die Rolle des Lehrers als Reformator des ländlichen Lebens im Bregenzerwald. Währenddessen gibt es in anderen ländlichen Gesellschaften durchaus andere, selbstwirtschaftende Lehrertypen. „Lehrer und Landwirt“ etwa ist als Be-

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Kirche gebaut, ein Mesnerhaus gebaut, ein Pfarrhaus gebaut“.90 Wirthensohn führt für Grubers Interpretation des „gemeinsamen Ausdrucks“ Beispiele in Gestalt eines neuen Haustyps an, den Sinz’ Basler Architekt mit den Häusern für Pfarrer und Mesner etabliert hat. Es ist ein Holzhaus. Mit einem gemauerten Sockel. Einem gemauerten Keller. Und dann ein gestricktes Haus. Geschindelt. Mit ganz schönen regelmäßigen Rahmen. Fensterrahmen. Symmetrisch. Und einem zentralen Aufgang. Die Haustür in der Mitte. (...) Traufseitig ist der Eingang.91

Das Pfarrhaus kann innerhalb der Formideale des neunzehnten Jahrhunderts nur symmetrisch sein, weil es ein reines Wohnhaus ist, also keinen Wirtschaftsteil mitumfaßt. Diese funktionelle Präfiguration entspringt der Andersartigkeit des Erwerbs, die Pfarrer und Mesner, den Lehrer auch, aus der dörflichen Gesellschaft heraushebt, Rollenträger, die von der Kirche, vom Staat, von der Gemeinschaft mitversorgt werden und damit, im Gegensatz zu den Bauern, nicht selbst wirtschaften müssen.92 Statt dessen kommen ihnen Repräsentationsaufgaben zu, die sie als Stellvertreter ihrer Institutionen ausweisen. Im Kontext der dörflichen Gesellschaft stellt die architektonische Symmetrie ihrer Häuser ihr Gegenüber, den Einzelnen der bäuerlichen Dorfgesellschaft, in eine „höhere“ Ordnung, weist ihm seinen Platz innerhalb jener höheren Ordnung zu, die Pfarrhaus und Schule repräsentieren.93 Die anderen Häuser des Dorfes sind Bauernhäuser. Auch die Gasthäuser waren ehemals Bauernhäuser. Das Bregenzerwälder Bauernhaus ist nicht symmetrisch.94 Wirthensohn braucht im übersichtlichen Dorfkern Thals nur um sich zu deuten, um die neue soziale Hierarchie zu erläutern, die gleichzeitig mit der Konstitution der Pfarrei in Thal entsteht und durch den neuen Haustyp visualisiert wird. „Das Haus gegenüber da (...) und auch die Schule. (...) Es war genau derselbe Haustyp wie das Pfarrhaus.“95 „Zentriert“ wird das Dorf seither von denjenigen Bauten, die der Religionsausübung dienen.96 Diese stellen das Dorfzentrum als spirituelles Zentrum dar, gebildet vom Tempel und den Häusern der Tempeldiener inmitten der rufsbezeichnung in bergbäuerlichen Regionen der Schweiz mehrfach zu finden. Vgl. Verzeichnis der Ausschußmitglieder; in: 25 Jahre Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Bergbauern SAB; Brugg, 1969; S. 16 93 Das Walmdach als soziale Würdeform des Hauses, das einer privilegierten Elite vorbehalten ist, gehört in diesen Kontext. 94 Freilich liegt Thal nicht mehr im Verbreitungsgebiet des durch seinen traufseitigen Zugang betont asymmetrischen Bauernhaustyps des Innerbregenzerwaldes. Statt dessen dominiert hier bereits das bäuerliche „Allgäuerhaus“ mit seinem giebelseitigen Zugang, ein Mittelflurtyp, der die Asymmetrie seines Grundrisses mit einer symmetrischen Öffnungsanordnung der Giebelfassade überdeckt.

Auch wenn die vorliegende Studie das Bauernhaus aus ihrem Begriff von „Architektur“ ausnimmt, erscheint ein Vergleich mit dem Bauernhaus für die Diskussion der architektonischen Achsensymmetrie zulässig. Niederstätter weist für den Wiederaufbau der 1755 durch Brand zerstörten Bauten der Schwarzenberger Parzelle Hof, dem heutigen Dorfkern, auf eine Orientierung der wirtschaftlich potenten, mit weitreichenden Handelsbeziehungen versehenen Bauherren an städtischen Vorbildern hin. Dort ist zu beobachten, daß auch im Bereich des asymmetrischen „Wälderhauses“ die bäuerlichen Eliten ihr Haus zunehmend auf eine Achse „zentrieren“ und sich damit der Architektur der Obrigkeitsbauten annähern (wie Anm. 58, S. 7).

Architektonische Symmetrie stellt ihr Gegenüber in eine „höhere Ordnung“

Das Dorf als spirituelle Gemeinschaft

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Der Herrgottswinkel stellt den Alltag in einen religiösen Kontext

Der Friedhof verbildlicht eine soziale Vision

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Siedlung. Ist die Gesellschaft des Dorfes demnach eine spirituelle Gemeinschaft? In Thal jedenfalls gelingt es der Institution Kirche zunächst, die vordem informelle Ansiedlung so, in ihrem Sinn, umzudeuten und normensetzend für seine Gesellschaft zu werden.97 Mein Gespräch mit Hans Purin über die Stube des Bregenzerwälder Bauernhauses, insbesondere sein Hinweis auf deren diagonale Symmetrieachse98, im Abschnitt Bauernhaus des Kapitels Haus erwähnt, erlaubt, eine Parallelerscheinung zu dieser kirchlich dominierten Siedlungsordnung in der symbolischen Ordnung der traditionellen Bauernstube wahrzunehmen. Wird ihre Symmetrieachse, die am Ofen, im Zentrum des Hauses, entspringt, als Richtungspfeil genommen, dann ist die Position des „Herrgottswinkels“, der die äußere Stubenecke einnimmt, ganz „vorn“. Herrgottswinkel und Eßtisch erinnern damit an die Konfiguration von Tabernakel und Altar in der traditionellen Einrichtung katholischer Kirchen. Die Stube erscheint demgemäß als „kleine Kirche“, die das Mahl als „Abendmahl“, das Leben als „Gottesdienst“ darstellt. Der die Thaler Kirche umgebende Friedhof mit seinen für Vorarlberg einmaligen, einheitlich schwarzen Holzkreuzen verbildlicht bis heute das, was Wirthensohn als Vision des Gründungpfarrers von einer dörflichen Lebensgemeinschaft deutet.99 Geht auch auf Sinz zurück. Aus theologischen Motiven. Alle sollen gleich sein. Nur er ist anders (weist lachend auf das steinerne Grabmal von Pfarrer Sinz an der Außenwand der Kirche). (...) Unter ihm gabs nur die schwarzen Kreuze. 100

Es sind aber nicht nur symbolische Ordnungen zur Transzendierung des Erdenlebens, die die Kirche der traditionellen Dorfgemeinschaft bietet, son95 EW 1: Z 231 ff 96 Moosbrugger stellt in einem aktuellen Aufsatz zur „Etablierung institutioneller Kirchlichkeit im Hinteren Bregenzerwald“ die Kirche vor allem als Grundherrn und politische Institution heraus, betont also neben dem sprituell-religiösen den administrativen Aspekt von „Kirchlichkeit“. Der Kirchturm markiert darin vor allem die Inbesitznahme des Landes durch den Eigner desselben, sei es Papst oder Kaiser. Vgl. Moosbrugger, S. 163 ff 97 Über die verschiedenen sozialen Rollen des Thaler Pfarrers berichtet Wirthensohn in EW 2: Z 542 ff. Die Lebensbilder in Wirthensohns Jahresberichten erwähnen an verschiedenen Stellen biographische Auswirkungen der kirchlichen Normsetzungen, so im Lebensbild Richard Schneiders: „Wer sich nicht an die katholische Ordnung hielt, wurde sozial degradiert.“ Wirthensohn, Jb. 1998/1999 Daß das Kirchdorf Thal auch politisch gesehen eine konservative Bastion bildete, filtert Wirthensohn aus Sinz’ Diktion in dessen Thaler Pfarrchronik: „In den politischen Wertungen wird deutlich, dass Sinz

wie seine Kollegen im Priesterseminar Brixen zu einem scharfen Gegner des Liberalismus und gewiss auch des Sozialismus ausgebildet worden war. (...) Das Adjektiv ,liberal‘ wird von ihm mehrfach abschätzig verwendet; der Begriff ,Sozialdemokrat‘ (...) [dient Sinz] zur abwertenden Charakterisierung einer inferioren Person.“ Wirthensohn (1999), S. 70 98 HP: Z 1045 ff, vgl. auch Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus. 99 Der Selbsthilfeverein aktiviert neben den Beziehungen der Bewohner zu ihrem Dorf noch weitere Unterstützer außerhalb des Dorfes, „viele ehemalige Thaler, die irgendwo im Umkreis sind“. Das Zugehörigkeitsgefühl zum Dorf bleibt offenbar auch bei solchen Thalern bestehen, die nicht mehr im Dorf wohnen. Indem diese Solidarität, Ausdruck einer mit dem Geburtsort verknüpften Identität, fortbesteht, gewinnt das Dorf, als Gesellschaftsform verstanden, im Krisenfall externe Außenposten, Exklaven, die Hilfestellung leisten. Um die Verbindung zu den „auswärtigen Freunden und Alt-Thalern“ (Vorwort des Obmanns Günther

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dern auch vielfältige „diesseitige“ funktionelle Rollen. Sinz’ Arbeitsbeschaffung zur Errichtung der kirchlichen Bauten, die sicherlich mittels Fronleistungen der Dorfbewohner vonstatten ging, gehört in diesen Kontext, indem es ein Programm darstellt, das Sinn und Rollen stiftet. Daß die Kirche der dörflichen Gesellschaft auch nach Fertigstellung ihrer Bauten institutionalisierte soziale Rollen bietet, läßt schon die Errichtung eines Mesnerhauses erkennen. Weitere findet Ernst Wirthensohn in seiner Familiengeschichte. Mein Großvater kam da von Doren, von unserem nächsten Dorf. Und Martin Sinz hat jemanden gebraucht, der ihm die Orgel spielt und in Thal war niemand, und er hat immer geschaut, und da gabs in Doren eben einen, den hat er sich gleich hergeholt. Hat ihm angeblich dann gleich eine Frau vermittelt, daß er nicht mehr geht. Das war mein Großvater. Und dann hat der sich natürlich die Frage gestellt, was mache ich hier in Thal. Ich kann ja nicht nur Organist sein, am Sonntag. Und hat dann wohl eine kleine Landwirtschaft gekauft. Aber, gut, arm leben hätt man können von der Landwirtschaft, mit drei Kühen, es war nicht sehr viel. (Und dann hat er angefangen) mit der Stickerei, ist damit, kann man sagen, reich geworden. Und im ersten Weltkrieg hat er das Ganze wieder verloren. Durch die Inflation.101

Was hier mit dem gewaltsamen Abbruch einer Erfolgsgeschichte endet, beginnt mit der Besetzung einer sozialen Rolle, die die Kirche und ihr „religiöses Leben“ geschaffen hat. Wie in der Entwicklungsgeschichte von Wirthensohns Großvater kirchliche und soziale Rollen ineinander greifen, so hat Emile Durkheim die Rolle von Religion selbst gedeutet: Weniger als Mittel zur Transzendierung des Alltags, als vielmehr als Mittel zu dessen Bewältigung mittels eines gesellschaftlichen Rahmens.102 Wer aber übernimmt diese zentrierende und gemeinschaftsstiftende Aufgabe heute, da die Bedeutung der Kirche abnimmt und damit ihre traditionelle Repräsentations- und Integrationsfunktion für die dörfliche Gesellschaft

Wirthensohn) zu stärken, gibt Ernst Wirthensohn ein Kalendarium als Jahresrückblick heraus. (Erstmals in: Wirthensohn, Jb. 1991–92) In Wirthensohns Schilderung bleibt der Geburtsort lebenslang Identifikationsort. Im Vergleich zur Eindeutigkeit der ortsbezogenen Geburt ist der spätere Wohnort unbestimmt, beliebig fast, „irgendwo“ oder „draußen“: „Es gibt einen Alt-Thaler, der draußen in Fußach ist“ (EW 2: Z 726 ff), berichtet Wirthensohn während seiner Dorfführung und bezeichnet damit den Tischler, der die Kreuze für den Friedhof macht. Alt-Thaler zu sein hebt ihn aus der Masse der Tischler heraus und prädestiniert ihn für die fortgesetzte Herstellung der traditionellen Friedhofsausstattung. 100 EW 2: Z 597 ff Das Thaler Grab besteht neben dem mannshohen, schwarzen Eibenholzkreuz aus einer einheitlichen, in einem Stück gefertigten Grabeinfassung aus Kunststein. Das Kreuz ist mit einer Christusfigur aus Metallguß versehen, Emailletafeln tragen die Namen der Verstorbenen. Die Schlichtheit der Gräber

betont zusammen mit ihrer Einheitlichkeit die existentielle Gemeinschaft der Dorfbewohner, eine Atmosphäre, die sonst Klosterfriedhöfe prägt. Inschrift des Grabmals von Martin Sinz: / Christliches Denkmal / für den hochwürdigen Herrn / Martin Sinz / Gründer dieser Pfarrei / Ehrenbürger von Sulzberg-Thal / Inhaber d. gold. Verdienstkreuzes m. d. Krone / fürstb. geistl. Rat u. 33 Jahre Pfarrer dahier / geb. in Thal 30. Okt. 1830 / zum Priester geweiht 26. Juli 1868 / gest. 9. April 1911 / R.I.P. / Was du jetzt bist, das war ich auch, / Was ich jetzt bin, das wirst du auch. / Drum denke öfters an dein Ende; / Auch mir dein fromm Gebet zuwende! / Das sind meine letzten bittend Worte, / An diesem ernsten stillen Orte! / (Eigene Abschrift, 22.08.2004) 101 EW 1: Z 401 ff 102 „Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist“ (Durkheim, S. 561). Durkheims religionssoziologisches Hauptwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens ist 1912 in Paris erschienen.

Religion dient der gemeinschaftlichen Bewältigung des Alltags

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schwindet?103 Wirthensohn schildert Erscheinungsformen eines gegenwärtig rapide verfallenden kirchlichen Auftritts. Der Pfarrer war früher eigentlich nebenberuflich nur Pfarrer, der war Religionsinspektor, der war Religionslehrer, hat total sein Refugium gehabt. Jetzt ist er in Pension und jetzt muß er Langen dazunehmen, was natürlich schlecht war für Thal. (...) Die Kirche ist renoviert worden vor fünfundzwanzig Jahren. Die Kirche war ausgemalt davor, von einem zumindestens regional bedeutenden Maler. Der ganze Verputz war schlecht beieinander. (In eine Sanierung der Deckengemälde) wollte man nicht investieren. (Deshalb ist er mitsamt den Deckengemälden abgeschlagen worden. Heute sind die Felder einfarbig ausgemalt, mit ornamentierten Rahmungen.) 104 Niedergang des kirchlichen Einflusses

Die Entfernung des Pfarrers aus Thal, der seinen Wohnsitz jetzt in der größeren Nachbargemeinde Langen hat, dokumentiert ebenso wie das Abschlagen der Figurenmalerei im Zuge einer kostensparenden Putzsanierung am Deckengewölbe des Kirchenschiffs den Niedergang des kirchlichen Einflusses. Gemeinsam ist den Erscheinungsformen ein Verlust an Greifbarkeit, ein Effekt, der die Religionsausübung zunehmend abstrakt werden läßt. Pfarrhaus und Mesnerhaus, infolge des Figurenverlustes im kirchlichen Auftritt mittlerweile verwaist, erinnern nur noch in der Weiterverwendung ihrer traditionellen Benennung an die ursprünglichen Träger religiösen Lebens. Als leergefallene Raumhüllen sind sie heute vermietet und dienen als „Startwohnungen“ für junge Familien. Wirthensohn resümiert das „rückläufige“ kirchliche Leben als „Brennspiegel in vielen Bereichen“, der den gegenwärtigen Zustand der dörflichen Gesellschaft in Thal „wie überall sonst“105 repräsentiert. Wir werden uns im Abschnitt Architektur im Dorf dem Umstand zuwenden, daß Architektur nun in gewissem Ausmaß selbst die Sinnstiftung übernimmt, die ehemals von der Kirche geleistet worden ist.

Landwirtschaft und Industrie

Wirtschaftlich verschafft Sinz dem Dorf eine Zwitterrolle, die dem als Pfarrei neu konstituierten Dorf ein Abbild desjenigen Umbruchs inkorporiert, welche die Industrialisierung im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts dem ländlichen Raum Vorarlbergs gebracht hat. Thal bietet uns damit auch ein Modell für diejenige Verschränkung von Landwirtschaft, europaweit vernetzter Marktwirtschaft und Industrieproduktion, die nicht nur typisch für das kleinräumige Vorarlberg ist, sondern daneben exemplarische Problemlagen zeigt, die den ländlichen Raum innerhalb des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Modernisierungsprozesses der Gegenwart zum Umbau drängen, ein Vorgang, dessen Vorzeichen Wirthensohn bereits im achtzehnten Jahrhundert identifiziert, wie er weiter unten berichten wird. Erste Beweggründe, die den Gründungspfarrer veranlaßt haben mögen, sich dieser Krise von europäischem Format zu stellen und lokale Antworten darauf zu geben, identifiziert Ernst Wirthensohn in dessen Familiengeschichte. Der Vater vom Martin Sinz (...) war ein Maurer. Ein ganz armer Maurer, der hat meistens keine Arbeit gehabt. Das beschreibt der Sohn in seiner Pfarrchronik. (...) Wenn einer ein Haus gebaut hat, aber sonst hat ein Maurer nicht allzu viel Arbeit gehabt.106

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Sinz behebt dieser Schilderung zufolge mit seinem Kirchenbau zunächst die unmittelbare familiäre, die berufliche Not des Vaters als Familienernährer. Die Überlebensfähigkeit des einzelnen Handwerkers am Ort erscheint hier zugleich als Indikator für den Wohlstand des Dorfes insgesamt. Handwerkeraufträge existieren dort, wo investiert wird, wo Optimismus darüber herrscht, daß der Lebensort fortbesteht. Während sich die Muttergemeinde Sulzberg ihre prächtige „Negrellikirche“107 baut, bietet Thals Wirtschaftslage keinerlei Anlaß zu vergleichbarem Optimismus. Thal war extrem arm. (...) Bei uns gabs diesen Spott, stellenweise gibts ihn immer noch, den Begriff „Auszehrerloch“. Thal war das Auszehrerloch. Auszehrung war TBC.108

Auch der mentalen Situation der Dorfgesellschaft also, die Wirthensohn als Widerschein ihrer wirtschaftlichen Notlage schildert, setzt Pfarrer Sinz, durch Schweizer Spenden ermöglicht, seinen Kirchbau entgegen. Der Sinz ist ja jahrelang auf Bettelreisen gegangen, um die Kirche zu bauen, die Häuser, das hat er alles zusammengebettelt, das hat er alles selber finanziert. Und war sehr viel in der Schweiz, hat dort sehr viel in Städten Geld gekriegt, hat dort die Stickerei kennengelernt und (bringt die) Stickerei dann hierher.109

Thals Orientierung am Schweizer Nachbarland taucht in Wirthensohns Erzählung wiederholt auf, chronologisch zuerst dort, wo er einen „unglaublich langen Strukturwandel“110 der Landwirtschaft seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rekapituliert, „an den kein Mensch mehr denkt, heutzutage“. Um 1720 werden Thals verstreute Landwirtschaftsflächen arrondiert, „vereinödet“.111 Der Einfluß eines Zentraldirigismus auf die Gestalt des Bauernhauses ist bereits im Kapitel Haus angesprochen worden. Mit der Vereinödung sehen wir uns nun einem konkreten planerischen Eingriff gegenüber, den der Staat setzt, indem er Gesetze erläßt und Landvermesser zu deren Exekution in die Dörfer sendet. Die bewirkte Veränderung ist tiefgreifender als die Verheerungen, die Kriege hinterlassen, denn sie betreffen diejenigen Ordnungslinien, denen ansonsten das größte Beharrungsvermögen innewohnt: die Grundstücksgrenzen.112 Der sichtbare Effekt dieses planerischen Eingriffs ist bloß die Folge der Neuparzellierung: eine nahezu vollständige Erneuerung des baulichen Bestandes, seinen Ort, die Siedlungsform 113 und schließlich auch den Bautyp betreffend. Wirthensohn führt uns vor Augen, 103 Moosbrugger zieht in seinem Aufsatz über die mittelalterliche Besiedlungsgeschichte des Bregenzerwaldes ausdrücklich eine Parallele zum gegenwärtigen sozialen Bedeutungsverlust der Kirche. Vgl. Moosbrugger, S. 163 104 EW 2: Z 542 ff 105 EW 1: Z 1050 106 EW 1: Z 277 ff 107 Negrelli, Alois, Ritter von Moldelbe, *23. 1.1799, +1. 10.1858, östr. Bauingenieur; verdient um das Verkehrswesen, ab 1856 Generalinspektor der östr. Eisenbahnen; plante den Suezkanal (Duden Lexikon, 6. Auflage 1976). An Negrelli erinnert eine Bronzetafel

am Haus Kornmarktstraße 16, Bregenz (heute Hotel Messmer): / In diesem Hause wohnte / in den Jahren 1829–1832 / Alois Negrelli / 1799–1858 / Als großartiger Ingenieur baute / er Straßen, Wasserwege, Brücken / und Eisenbahnlinien in ganz Europa / Als Planer des Suez-Kanals ist / er in die Geschichte eingegangen / (Eigene Abschrift) 108 EW 1: Z 287 ff 1960 starb in Thal eines der letzten Opfer der TBC, wie Wirthensohn im Lebensbild Rupert Rupp über Blandina Rupp mitteilt (Jb. 2002/ 2003). 109 EW 1: Z 343 ff 110 EW 1: Z 314

„Vereinödung“ als Form von Zentraldirigismus

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daß neben der planerischen Neustrukturierung der baulichen Landschaft eine ebenso tiefgreifende in der Agrarlandschaft durchgeführt wird. In der Zeit noch hats nur Getreide gegeben, wenig Vieh. Die Umstellung kommt erst so Mitte neunzehntes Jahrhundert bei uns, auf Milch-Landwirtschaft. (...) Aus Ungarn und anderen Reichsgebieten, kommt billiges Getreide. Da haben die Bauern bei uns umgestellt. Und die Fettkäserei haben wir von den Schweizern gelernt. Das kommt vom Emmental zu uns her. Waren auch die ersten Käser vom Emmental bei uns da.114 Globalisierungseffekte im neunzehnten Jahrhundert

Das heutige Landschaftsbild des Bregenzerwaldes ist modern

Jener Strukturwandel in der Landwirtschaft ist durch Effekte bedingt, die mit jenen der heutigen „Globalisierung“ verglichen werden können. Am anderen Ende des k.u.k.-Großreiches wird das Getreide billiger produziert, also von dort importiert, was nicht nur die lokale Produktion verdrängt, sondern auch wesentlich dazu beiträgt, die bäuerliche Wirtschaftsweise von der Selbstversorgung (Subsistenzwirtschaft)115 zu einer marktwirtschaftlichen Produktion umzustellen. Das heutige Landschaftsbild des Bregenzerwaldes, die allgegenwärtigen grünen Matten, entsteht aus dieser marktwirtschaftlich bedingten Verdrängung des Ackerbaus, ist also keineswegs natürlich, auch nicht Ausdruck der landwirtschaftlichen Lebensform der ursprünglichen Siedler. Als moderne Monokultur ist sie vielmehr als Folge einer wirtschaftlichen Entwicklung im europäischen Maßstab anzusehen und als solche nicht nur in ihrer Gleichzeitigkeit eine Parallelerscheinung zur Industrialisierung des Vorarlberger Rheintals im neunzehnten Jahrhundert. Die Modernisierung der Landwirtschaft verändert zwar die Kulturlandschaft des Bregenzerwaldes ebenso gravierend wie die Folgeerscheinungen der industriellen Textilproduktion das Vorarlber111 „Bis ins 18. Jahrhundert war die Erzeugung von landwirtschaftlichen Gütern weitgehend auf die Versorgung der bäuerlichen Familie ausgerichtet. Der Anbau von Feldfrüchten war von Bedeutung, die Erträge blieben jedoch bescheiden und verschlechterten sich zuzeiten zusätzlich durch Klimaveränderungen. Daher wurde immer wieder von neuem der Übergang zur Viehwirtschaft angestrebt. Die enorme Zerstückelung des Bodens und die gemeinsamen Viehweiden erwiesen sich dabei jedoch als große Hindernisse. Erst die Vereinödung brachte eine Möglichkeit, das Problem zu lösen und die Viehwirtschaft rentabler zu gestalten. (...) Bekannt wurde dieses Reformmodell vom benachbarten Allgäu her (...) und Kaiserin Maria Theresia, die damals in Österreich regierte, hat sie sogar per Gesetz angeordnet, damit man das Programm auch gegen Widerspenstige durchsetzen konnte. (...) Die Neuaufteilung der Güter geschah (...) nach einem vom Feldmesser ersonnenen und entworfenen Grundstücksplan. (...) Fast immer war es notwendig, auf den so entstandenen Güterkomplexen neue Häuser zu errichten. (...) Dieser Vorgang spiegelt sich heute noch in der Landschaft wider, wo die Häuser kaum älter sind als 200 Jahre und das hochgiebelige Allgäuerhaus mit dem Mittelflur und der imponierenden

Stirnseite, das damals aufkam, ganz auffallend vorherrscht. (...) Nach der Vereinödung ging der Anbau von Feldfrüchten zugunsten der Vieh- und Milchwirtschaft immer mehr zurück, und der Gesamtertrag der Güter verdreifachte sich in kurzer Zeit. Die damals geschaffenen Höfe hielten weit überwiegend durch nahezu 200 Jahre der Entwicklung stand. Teilungen in Erbfällen kamen wesentlich seltener vor als in jenen Gebieten, in denen die Vereinödung nicht durchgeführt wurde. Das alles zeigt die umwälzende Bedeutung der Strukturveränderung, die man die Vereinödung nennt.“ Blank, S. 46 f Zur Vereinödung im benachbarten Allgäu vgl. Gebhard, Frei (Hg.), S. 385 112 Vgl. Architektur als Ordnung, Kap. Architektur? 113 „Was die übrigen Teile der Reform, die Zusammenlegung der zerstückelten Felder und die (teilweise) Auflösung der Weilersiedlung, betrifft, wurde argumentiert, dass beim bestehenden Zustand der Ertrag der Güter so gering sei, dass sich eine Familie davon nicht mehr ernähren könne, und dass das zu nahe Beieinanderstehen der Häuser in den Weilern Feuersbrünste begünstige.“ Blank, S. 46 114 EW 1: Z 304 ff 115 Vgl. Anm. 109

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ger Rheintal, ihr Produkt, die grünen Bergwiesen und damit das gegenwärtige „Landschaftsbild“, wird aber gesellschaftlich gänzlich anders wahrgenommen, nämlich als „öffentliches Gut“ bewertet.116 Industrialisierung und Wandel der landwirtschaftlichen Produktion, der gleichzeitig Wandel der bäuerlichen Lebensform und Wandel der gesellschaftlichen Zweckbestimmung des ländlichen Raums bedeutet, ist auf komplexe Weise ineinander verschränkt. Ihre jeweils isolierte Betrachtung als Wirtschaftssektoren verdeckt ihre Gemeinsamkeit, Erscheinungsformen einer umfassenden Modernisierung zu sein. Aus Barnays und Greussings Darstellungen der Arbeiterbewegung Vorarlbergs etwa geht hervor, daß die Textilindustriellen des neunzehnten Jahrhunderts ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung einer Nebenerwerbslandwirtschaft ihrer Arbeiter hatten, also die Landwirtschaft, wenn nicht förderten, so doch zumindest ihren Fortbestand sicherten. Eine solche Situation, die als erwünschtes Nebenprodukt eine politische Formierung der Vorarlberger Arbeiterschaft und damit eine Etablierung der Sozialdemokratie im Land wirksam verhinderte117, bot den Fabrikherren während konjunktureller Engpässe die Möglichkeit, radikale Lohnkürzungen vorzunehmen118, ohne gleichzeitig die Obsorge für ihre Arbeiter und deren Familien übernehmen zu müssen. Die Existenzsicherung der Arbeiterschaft konnte während der wiederkehrenden Krisen, der die Textilindustrie ausgesetzt war, an deren bäuerliche Parallelwirtschaft delegiert werden. Vom umgekehrten Fall zu diesem Hineinwirken der Landwirtschaft in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Organisation der Fabrikarbeit berichtet Wirthensohn. Die „Stickerei“ als neue Nebenerwerbsform, die Pfarrer Sinz seiner Pfarrgemeinde aus der Schweiz mitgebracht hatte, bescherte Thal erstmalig eine „wirtschaftliche Blüte“119. Keineswegs ist hier von traditioneller bäuerlicher Heimarbeit die Rede, wie wir sie aus Schilderungen des bäuerlichen Hauswesens, etwa Franz Mi116 Hofreither weist darauf hin, daß heute neben der „Produktionsfunktion in Form einer ausreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln (...) darüber hinausgehende weitere Funktionen der Landwirtschaft wie Regenerations-, Schutz- und Ausgleichsfunktionen zunehmend an Bedeutung für die Gesellschaft“ gewinnen. „Ökonomisch betrachtet, übt die Landwirtschaft damit (...) einen Einfluss auf die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Landschaftsbild, Ressourcenschutz oder Biodiversität aus, die durch komplexe Interaktionen gekennzeichnet sind. (...) Damit dürften langfristig betrachtet Direktzahlungen, die mit landschaftspflegerischen, ökologischen oder ethologischen Argumenten legitimiert sind, in Europa eine der wenigen, politisch ,nachhaltigen‘ Formen von Budgettransfers an die Landwirtschaft darstellen.“ Multifunktionalität zwischen Effizienz und Emotion; in: Rentsch (2006), S. 99 ff

Eine „Öffnung von Programmen mit multifunktionalen Zielsetzungen für nicht-agrarische Anbieter, um damit den Stellenwert der Marktkräfte zu betonen“, gehört jedoch für Hofreither zu den „erforderlichen Anpassungen“, um auf „handelspolitischer Ebene“ auch künftig die „für benachteiligte Regionen essentiellen“ Honorierungen multifunktionaler Leistungen der Landwirtschaft gewährleisten zu können. Hofreither (2005), S. 67 117 Als weiteren Faktor, mit der Nebenerwerbslandwirtschaft in Zusammenhang stehend, nennt Greussing die Aufspaltung der Vorarlberger Arbeiterschaft einerseits in zugewanderte und einheimische, andererseits in eine sozialdemokratische und eine (stärkere) christlich-soziale Arbeiterbewegung. Greussing (1984), S. 10 118 Barnay (1988), S. 311 119 EW 1: Z 338

Landwirtschaftlicher Wandel und Industrialisierung sind miteinander verschränkt

Stickerei

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chael Felders120, kennen, vielmehr handelt es sich um eine manufakturartige Produktion in einem Ausmaß, das das Raumangebot des Bauernhauses sprengt und den beteiligten Bauern erhebliche Investitionen121 abnötigt. Es gab die kleinen Maschinen, wie so eine Nähmaschine sieht das aus, manche stehen noch in den Häusern herum, und es gab die ganz großen Maschinen, wo man eigene Anbauten gemacht hat. (...) Ich würde sagen, das waren sicher zehn Häuser, die so riesige Maschinen gehabt haben. Und dazu hat man in nahezu jedem Haus Handstickmaschinen gehabt. (...) Das war maschinell, alles maschinell.122

Von derjenigen „Heimarbeit“, deren Produkte die Heimatmuseen des Landes füllen, wo die gehäkelten und gestickten Spitzendecken und Vorhänge die idealisiert ausgestatteten „historischen“ Interieurs prägen, unterscheidet die Stickerei auch der Umstand, daß Formentscheidung, also „Entwurf“ seitens des bäuerlichen Produzenten, nicht gefragt ist. Die dem Bauern in seiner Nebenrolle als Heimarbeiter ausschließlich zugedachte Aufgabe ist, die Maschine zu betreiben und zu bedienen, deren Mustererzeugung wir uns, je nach Stand der Technik, als Nachvollzug vorgedruckter Muster, in einem fortschrittlicheren Stadium als Lochkartensteuerung vorstellen müssen. Auch der Weiterverkauf der Erzeugnisse lag nicht in der Hand der Bauern, sondern wurde von einem eigenen Berufsstand, den „Ferggern“, betrieben. Der in die Schweiz fährt, die Stoffe holt, der Anleitungen mitbringt, (...) der die ganzen Dinge im ganzen Ort verteilt, der die Löhne auszahlt, der schaut, daß die Qualität stimmt. (...) Schwierig auch, zum Teil. Den Preis auszuhandeln, für das, was die Leute gemacht haben.123

Wirthensohns Großvater, der hier bereits als Organist Pfarrer Sinz’ Erwähnung fand, stieg in dieses Geschäft ein und wurde reich damit. „Die Ware ist dann von der Schweiz aus wieder weiterverkauft worden. (...) Also, es kamen die Drucke, wurden hier veredelt. Schweizer Fabrikanten aus dem St. Galler Land haben das dann als Luxusware, nach Frankreich und weiß Gott, wohin (verkauft).“124 Der Vergleich mit anderen ländlichen Regionen Europas, etwa Schottlands, zeigt, daß die Bregenzerwälder Stickerei keineswegs einzigartig 120 „Nach dem Tischgebete wurden wassergefüllte Glaskugeln um das Licht herum gestellt, bei deren Schein nun die Mädchen zu sticken begannen...“ Felder, S. 168 121 Beim Ankauf von Stickereimaschinen durch die Bauern findet wohl auch die Raiffeisenbank in Thal ihren Platz, ebenfalls eine Gründung auf Veranlassung Martin Sinz’. 122 EW 1: Z 360 ff 123 EW 1: Z 379 ff 124 EW 1: Z 388 ff 125 „Periphere Gebiete sind nicht selten auch durch ungünstige Bedingungen für die Agrarproduktion gekennzeichnet, was sich in einem überproportionalen Anteil an Nebenerwerbsbetrieben äußert. Definitionsgemäß ist diese Form der Landwirtschaft auf das Vorhandensein ausserlandwirtschaftlicher Beschäftigungsmöglichkeiten angewiesen.“

Hofreither in: Rentsch (2006), S. 118 126 Ein weiterer wichtiger Modernisierungsbaustein des ländlichen Raumes ist, neben der Verzahnung mit der Industrieproduktion und der Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktionsweise selbst, in der Kapitalisierung der Landwirtschaft um die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert zu sehen. Dieser Aspekt kann aus den Forschungsgesprächen dort belegt werden, wo Wirthensohns Führung durch Thal in der örtlichen Raiffeisenbank halt macht. Der Filialleiter begründet die Gründung der Raiffeisenkasse Thal für das Jahr 1910, „weil dazumal die Landwirte einfach Kapital gebraucht haben“. EW 2: Z 1074 ff Krammer/Scheer stellen den niedrigen Geldbedarf heraus, der die davorliegende Entwicklungsphase der Ökonomie des ländlichen Raumes, die bäuerliche Selbsthilfe, kennzeichnet. Krammer/Scheer, S. 111

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Was ist ein Dorf?

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ist, sondern sowohl für die sich konsolidierende Industrie als auch für eine kleinbäuerliche Landwirtschaft eher typisch.125 Offenbar kann es rentabel sein, Teile der Produktion als „Heimarbeit“ aus der Fabrik auszulagern. Thal läßt erkennen, daß es auch von seiten der Landwirtschaft attraktiv erscheint, die Lücken in der saisonal unterschiedlich intensiven bäuerlichen Arbeit mit Maschinenarbeit zu füllen.126 Landwirtschaft, Handwerk und Industrie ergänzen einander seit dem neunzehnten Jahrhundert zu hybriden Arbeits- und Produktionsformen.127 Wirtschaftliche Globalisierungseffekte erzeugen jedoch Abhängigkeiten und vermindern die Autonomie des Dorfes. Das Getreide aus Ungarn steht nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zur Verfügung, die Spitzen können nicht mehr nach Frankreich verkauft werden, der Rhein trennt nun zwei Staaten, deren Wohlstandsgefälle zueinander durch den Ausgang des Weltkriegs steil geworden ist. Während die Schweiz aus Rücksicht auf ihre frankophone Bevölkerung versuchen muß, die latente Solidarität, die sie während des Weltkriegs gegenüber Deutschland und Österreich zeigte, zu verwischen128, ist Österreich um den Fortbestand seines verbliebenen Rumpflandes bemüht. Zeichenhaft fast, stirbt Pfarrer Sinz kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Was das neunzehnte Jahrhundert unter ökonomischen Vorzeichen grenzübergreifend vernetzt hat, ist durch die Nationalismen des zwanzigsten Jahrhunderts wieder gekappt und zerstückelt worden. Das Dorf Thal findet sich infolge dieser Weichenstellungen im europäischen Maßstab seit den 1920er Jahren auf einen wirtschaftlichen Zustand zurückgeworfen, der an jenen erinnert, den es hundert Jahre zuvor erreicht hatte.

Hybride Arbeitsund Produktionsformen zwischen Industrie und Landwirtschaft

Die Zwischenkriegszeit war arm, (auch) die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. (...) War bäuerlich, (...) nur bäuerlich.129

Nach Wegfall der industriellen Heimarbeit bleibt den Bewohnern Thals immerhin ihre Landwirtschaft, die die Selbstversorgung sichert. Die bäuerliche Selbsthilfe, die in Thal für das ausgehende neunzehnte Jahrhundert mit Pfarrer Sinz ihren Mentor gefunden hatte, weicht nun neben Thal auch in anderen, strukturell vergleichbaren, bergbäuerlich geprägten Regionen, wie der benachbarten Schweiz, jener Phase zunehmender staatlicher Eingriffe in die Landwirtschaft, die wir zu Beginn dieses Abschnitts bereits skizziert haben. In der Gegenüberstellung von Industrieproduktion und Landwirtschaft, letztere in Verbindung mit Agrarpolitik130 betrachtet, tritt eine Geplantheit beider Wirtschaftssektoren vor unser Auge, die wir zunächst mit Landwirtschaft nicht in Verbindung bringen.131 Diese Wahrnehmung von Planung innerhalb der landwirtschaftlichen Sphäre und die Feststellung ihrer Verschränkung mit der industriellen Produktion schlägt für uns diejenige Brücke zu Architektur (im Sinn einer Entsprechung der Methoden und einer Dominanz fachlich konditionierter Wahrnehmung), die uns in diesem Kapitel eine analytische Annäherung an die Rolle von Architektur im aktuellen Umbau des ländlichen Raumes und aus dieser Rollenbestimmung einen Rückschluß auf ihre gegenwärtige soziale Verfaßtheit erlaubt.

Geplantheit von Landwirtschaft und Architektur

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127 Was gegenwärtig als Folge der digitalen Revolution als „Heimarbeit“ neu entsteht, ist mit diesen hybriden Arbeits- und Produktionsformen vergleichbar. Zwischenzeitlich festgefügte Arbeitsverhältnisse, in denen der Status des Arbeitnehmers und der Ort der Produktion klar aufeinander bezogen organisiert waren, werden aufgeweicht, einerseits durch outsourcing seitens der Arbeitgeber, andererseits durch eine Auflösung der flankierenden Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum „Sozialstaat“. 128 Dreier /Pichler, S. 79 129 EW 1: Z 429 ff 130 Das Dritte Reich schafft in Deutschland und Österreich diejenigen Verwaltungsstrukturen, die die genossenschaftliche Phase der bäuerlichen „Selbsthilfe“ ablöst und eine systematische politische Lenkung

der Landwirtschaft durch gezielte finanzielle Förderung sowie die Schaffung rechtlicher Schutzbestimmungen, etwa im Boden- und Pachtrecht, einleitet, die bis heute andauert. Im Rahmen des gegenwärtigen Rückzugs des Staates aus seinem Selbstverständnis als Versorger wird diese Haltung erstmals in Frage gestellt. Zukünftig soll der „Sozialvertrag zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft“ (Rentsch (2006), S. 134) zugunsten eines stärkeren Leistungswettbewerbs, sowohl landwirtschaftsintern als auch mit nichtagrarischen Leistungsanbietern, den Marktkräften zu stärkerer Wirksamkeit verhelfen. 131 Avenir Suisse nutzt dieses Wahrnehmungsdefizit, indem das Institut seine jüngste Studie zur Schweizer Agrarpolitik als Aufklärungsschrift „Landwirtschaftliche Mythen“ deklariert. Rentsch (2008)

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295 5.2 Strukturen des Gemeinschaftslebens Der erste Abschnitt dieses Kapitels hat zur Beantwortung seiner Titelfrage „Was ist ein Dorf?“ zentrale Institutionen herausgestellt, die ein Dorf gesellschaftlich konstituieren: Familie, Vereine, Pfarrgemeinde. Sie schaffen, strukturieren und tragen das Gemeinschaftsleben und ergänzen das bauliche Dorf, die materielle Gestalt von Boden, Haus und Siedlung, zu einer „Lebensform“.1 Es sind vor allem Krisensituationen, wie das dargestellte „Kippen“ des Dorfes Thal, die wahrnehmen lassen, daß oberhalb der dörflichen Gesellschaft und der Gestalt seiner Bauten Organisationsstrukturen existieren, die Voraussetzungen für die Existenz des Dorfes schaffen, ohne in der unmittelbaren2 Verfügungsgewalt seiner Bewohner zu stehen: der Staat und seine Verwaltung, Kirche, Kapital und Wirtschaft, Eigentumsverhältnisse. Zum Fokus des Kapitels Dorf, der auf der Ästhetisierung des baulichen Bestandes der Dörfer liegt und die aktuelle Ökonomisierung des ländlichen Raumes unter den Voraussetzungen einer globalisierten Wirtschaft zu dieser Ästhetisierung in Beziehung setzt, bildet dieser Abschnitt ein Gegengewicht. Hier sollen diejenigen Bewegkräfte beschrieben werden, die neben der materiellen Gestalt des Dorfes existieren und damit zunächst außerhalb der Sphäre des Architektonischen liegen: Kommunikationsmedien und Begegnungsformen, Wissensarten, Praxen der Meinungsbildung und Beschlußfassung. Der breite Raum, der den außerarchitektonischen Bestandteilen dörflicher Lebenskultur damit eingeräumt wird, erscheint gerechtfertigt, indem er deutlich macht, daß Architektur nur ein gesellschaftlicher Anspruch unter anderen ist und, wie bereits im Kapitel Haus herausgestellt wurde, insbesondere im ländlichen Raum ein vergleichsweise junger. Der Anspruch auf totale Geltung ihrer Kategorien, den die stake holders der Architektur erheben und ihr Erfolg, ablesbar in der aktuellen, forcierten Verselbständigung der Ästhetisierung ländlicher Räume3, verdeutlicht daher vor allem, wohin und zu wessen Gunsten sich die gesellschaftlichen Kräfte auf den überdörflichen Organisationsebenen gegenwärtig verschieben und weniger, in welcher Weise sich die Ansprüche der Dorfbewohner „weiterentwickeln“. Architektur aus der Warte der sozialen Institutionen wahrzunehmen, erlaubt, ihre Indienststellung zugunsten sozialer Bedürfnisse ihrer Absolutstellung als Kunst gegenüberzustellen. Kunst jedoch verliert ihre „Unschuld“4 in dem Maß, 1 Vgl. Referat von Gerhard Violand, in: Wirthensohn, Jb. 1990 2 Der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt hat am Beispiel der Bayerischen „Räterepublik“ im Anschluß an den Ersten Weltkrieg mit dem Begriff der rechtlichen „Unmittelbarkeit“ diejenigen Situationen ge-

kennzeichnet, in denen das Volk gewaltsam die Verfügungsgewalt über solche Strukturen erobert. Schmitt ist später als „Kronjurist“ des Nationalsozialismus hervorgetreten. Vgl. Reinhard Mehring: Carl Schmitt – Aufstieg und Fall; München: Beck, 2009

Das Dorf als Lebensform

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296 Ansprüche an Architektur im ländlichen Raum

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in dem sie als Code für ökonomischen Wert in Dienst genommen wird.5 Die soziale Analyse des Dorfes grundiert den Befund, daß Architektur im ländlichen Raum gegenwärtig im Schnittpunkt konträr gerichteter Ansprüche steht: Dem Bemühen der Dorfbewohner um Aufrechterhaltung ihrer traditionellen Autonomie6 stehen übernationale Wirtschaftsinteressen an einer Entwicklung des ländlichen Raums zum global konkurrenzfähigen „Standort“ gegenüber.7 Beide Ansprüche manifestieren sich im Untersuchungsraum als Zeitgenössische Architektur in je eigener Gestalt, Gestalt sowohl als dingliche Form als auch als sozialer Auftritt ihrer Protagonisten verstanden. Drei Fälle liefern konkretes Material für die Analyse: Nach einer eingehenderen Befassung mit der Praxis des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal wenden wir uns ein weiteres Mal der Siedlung Im Fang in Höchst zu, um nach der Analyse ihrer architektonischen Form im Kapitel Haus nun die soziale Verfassung der Siedlung, als deren institutioneller Teil die „Haus- und Gemeinschaftsordnung“ jüngst aktualisiert worden ist, zu betrachten. Das Dorf Langenegg, bereits im Hintergrund der Geschichte des Eugster-Hauses aufgetaucht, ist 2009 durch den Landluft Baukultur-Gemeindepreis gewürdigt worden. Daß den nun prämierten Bauten eine soziale Präfiguration zugrundeliegt, erläutert Bürgermeister Peter Nußbaumer in unserem Interview.

Das Dorf der sozialen Institutionen

Um das Dorf der sozialen Institutionen näher zu bestimmen, kehren wir zurück zu der bildhaften Situation, die die Initiative zur Gründung des Selbsthilfevereins Thals markiert: Die Männer des Dorfes sitzen nach dem Sonntagsgottesdienst auf der Kirchenstiege und sprechen über ihre „Heimatlosigkeit“. Innerhalb der Konzentration auf die sozialen Institutionen, die diesen Abschnitt charakterisiert, wirft die Situation zunächst ein Licht auf die Rolle der Kirche, die diese im Dorf Thal noch in den 1980er Jahren innehat. Neben den Familien ist die Kirche, hier die katholische, diejenige Organisationsstruk-

3 Ablesbar ist diese Entwicklung etwa an einer Schwerpunktverschiebung der Kriterien für Dorferneuerungpreise zugunsten architektonischer Baukultur. Vgl. die folgenden Abschnitte dieses Kapitels. 4 „Von allem, was positiv ist und was menschliche Conventionen einführten, ist die Kunst, wie die Wissenschaft losgesprochen, und beide erfreuen sich einer ausgesprochenen Immunität von der Willkür der Menschen. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht.“ Friedrich Schiller: Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen 5 Vgl. Dillemuth (2006) Ein Symbol für den Zusammenhang bietet die Abbildung von Werken Zeitgenössischer Architektur auf Geldscheinen, etwa dem Schweizer 10-FrankenSchein, der LeCorbusier als Schweizer präsentiert.

6 Autonomie meint hier nicht das Fehlen von Abhängigkeiten (vgl. die Ausführungen zum Zentraldirigismus im Abschnitt Bauernhaus des Kapitels Haus), sondern die Fähigkeit, selbständig, kraft eigenhändigem Schaffen der dinglichen Lebensgrundlagen, zu (über)leben. 7 Vgl. die Analysen und Empfehlungen des Schweizer think tanks Avenir Suisse zur Entwicklung der Landwirtschaft und dem Umgang mit dem ländlichen Raum, etwa in: Eisinger 8 Durkheim definiert Religion und ihr Verhältnis zur Kirche wie folgt: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das

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tur, die den Einzelnen in dieser Situation des Zerfalls der gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen Anteile seiner Lebenswelt eine überindividuelle, verbindende Identität verleiht.8 Von der Kirchenstiege aus, dem Ort, der diese identitätsstiftende Funktion auf der dinglichen Ebene verkörpert, wird der gemeinsame dörfliche Lebensraum durch die versammelten Männer in den Blick genommen und gedanklich neu strukturiert. Ihr Ziel ist, die Handlungsfähigkeit der dörflichen Gemeinschaft wiederherzustellen. Die Gesamtsituation, die dieser Moment darstellt, ist aus Emile Durkheims Analyse der Elementaren Formen des religiösen Lebens 9 als archaische soziale Handlung zu deuten. Durkheim hat Religion als Medium analysiert, das dem Einzelnen überindividuelle Kräfte zuwachsen läßt, indem sie ihn des Rückhalts der Gemeinschaft versichert.10 Wenn die Männer Thals für ihren Beschluß, das Dorf zu reorganisieren, den Boden der Kirche wählen, nutzen sie intuitiv diese ursprüngliche Quelle des Gesellschaftlichen, das Religion Durkheim zufolge ist, ihre „stärkende“ Wirkung ebenso wie ihren inhärenten Lösungsansatz, der Gefährdung des Individuums in der Welt durch Gemeinschaftsbildung zu begegnen.

Soziale Rolle der Kirche

Religion als gemeinschaftsbildendes Medium

Auf der Methodenebene wird zur Bewältigung der Restrukturierungsaufgabe auf bewährte, naheliegende Organisationsformen des dörflichen Lebens zurückgegriffen. Wirthensohn: Bei uns [ist] im Grund alles vereinsmäßig organisiert, also, in dem kleinen Dorf gibts fünfzehn Vereine. Die Idee war im Grunde, einen Überverein über alle Vereine zu machen, und die Vereine auch einzubinden.11

Das Vorgehen der Thaler, mit ihrer großangelegten Restrukturierungskampagne bei den Vereinen des Dorfes12 anzusetzen, ist kein Einzelfall. Die in den Forschungsgesprächen dokumentierten Situationen weisen eine methodische Parallele im wenige Kilometer entfernten Dorf Langenegg auf. Um dem historisch bedingten Fehlen einer markanten Ortsmitte13 abzuhelfen,

zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig, als das erste; denn wenn man zeigt, daß die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, daß die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.“ Durkheim, S. 75 9 So der deutsche Titel seines religionssoziologischen Standardwerks Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912. 10 „So kann man die überragende Rolle des Kults in allen Religionen erklären, welche es auch seien. Die Gesellschaft kann ihren Einfluß nicht fühlbar machen, außer sie ist in Aktion; und dies ist sie nur, wenn die Individuen, die sie bilden, versammelt sind und gemeinsam handeln. Durch die gemeinsame Tat wird sie sich ihrer bewußt und realisiert sie sich: sie ist vor allem aktive Kooperation...“ Durkheim, S. 560

11 EW 1: Z 98 ff 12 Das erste veröffentlichte Mitgliederverzeichnis im Jahresbericht 1990 nennt folgende Thaler Vereine: Freiwillige Feuerwehr, Kameradschaftsbund, Kirchenchor, Kulturverein, Musikverein Alpenklänge, Sportverein, Turnerinnenclub, Viehzuchtverein. 13 Langenegg verdankt seine heutige Gestalt der Zusammenlegung zweier Dörfer, Ober- und Unterlangenegg. Die öffentlichen Funktionen Gemeindeamt, Schule, Raiffeisenbank und Altersheim haben sich im ehemaligen Oberlangenegg angesiedelt, „die Kirche ist draußen geblieben“ (PN: Z 97 ff). Die Möglichkeit, den Ort in der Landschaft durch den Kirchturm zu markieren und die Legitimität des Dorfes aus einem „historischen Zentrum“ (MN: Z 3 ff) abzuleiten, ist also in Langenegg verstellt.

Vereine organisieren die Dorfbevölkerung

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startet die dortige Gemeindeverwaltung in den Jahren um die Jahrtausendwende eine Bedarfserhebung unter den Dorfbewohnern.14 Das Ergebnis wird einerseits durch drei öffentlich genutzte Neubauten, Kindergarten mit Vereinsräumen15, Café16 und Einzelhandelsgeschäft17, realisiert, einer 2009 mit dem Landluft Baukultur-Gemeindepreis ausgezeichneten Gebäudegruppe, die unter dem Motto Stopp in Langenegg18 der bestehenden Durchgangsstraße einen baulich nachverdichteten Ortskern abgewinnt. Als mindestens ebenso wichtig wie die architektonische Maßnahme bezeichnet Bürgermeister Nußbaumer die gleichzeitig erfolgte räumliche Neupositionierung der dörflichen Vereine in dieser neuen Ortsmitte. Der konzeptionelle Prozeß, mit der Idee zur Errichtung einer Architekturgeste19 mit vorrangig symbolischer Bedeutung begonnen, hat schließlich in der konkreten Verdichtung des sozialen Lebens ein Ergebnis gefunden, das in der neugewonnenen, sichtbaren Belebtheit des Ortskerns auf einen selbstverstärkenden Effekt vertraut. Warum sollen die Leute bei uns stehenbleiben, solange die Bürger des eigenen Ortes nicht im Zentrum sind. (...) Wir holen die Jugend zurück ins Zentrum. Diese Einrichtungen werden komplettiert durch einen Kunstrasenspielplatz für Fußball und einen Volleyballplatz. Café, Jugendräume und die ganzen Vereinsräume sind jetzt im Zentrum. (...) Beim Kindergarten, da ist ein Musikprobelokal (...) und ist auch der Jugendraum im Keller. (...) Wir haben den Fußballclub im Ort, durch den Kunstrasenplatz und den Beachvolleyballplatz. (...) Die Feuerwehr, die haben wir schon da, also das heißt, wir haben dann alle Vereine, die irgendwie publikumswirksam sind, im Zentrum.20

Soziale Kompetenzen werden in Vereinen eingeübt

Ebenso wie Bürgermeister Nußbaumer für Langenegg, macht Ernst Wirthensohn für das Dorf Thal deutlich, daß die Organisationsstruktur, die ein Verein bietet, eine allen Dorfbewohnern vertraute, soziale Kompetenz verkörpert. Die Praxis der Meinungsbildung und daraus resultierender, von allen getragener Beschlußfassung wird in Vereinen eingeübt. „Es war immer so, daß wir auch einmal Bürgerversammlungen gehabt haben, oder bei den Vereinen auch gestritten worden ist, bis man zu einer Lösung gekommen ist.“21 Der Weg der Meinungsbildung beinhaltet das werbende Vorbringen der indi14 Eine Studentengruppe bearbeitet öffentlich die Aufgabe Ortszentrum. „Von der Universität Innsbruck, und von der Fachhochschule Liechtenstein. Die waren vierzehn Tage im Ort, haben vorab an Haushalte Fragebogen ausgeschickt, Befragungen gemacht, waren in jedem Gebäude, haben das Wohnzimmer fotografiert, damit sie eben mit den Leuten auch ins Gespräch kommen und haben abgefragt ,Was gefällt Ihnen in Langenegg, was gefällt Ihnen nicht?‘ (...) Und was sollte man aus ihrer Sicht, also aus der Sicht der Bevölkerung, machen, oder wie sollte man es machen, welche Gebäude werden gebraucht und wo sollte man sie situieren.“ (MN: Z 67 ff) Gemeindesekretär Mario Nußbaumer erläutert den weiteren Verlauf der Bürgerbeteiligung. „Die ganze Bevölkerung hat sich lange Zeit damit ausein-

andergesetzt. Und da hat es gemeinsame Auftaktveranstaltungen, Informationsveranstaltungen gegeben und auch in der Gemeindezeitung wurde immer darüber berichtet.“ (MN: Z ca. 596 ff) Die Gemeindeverwaltung stellt sich hinter die Studenten, indem es das Obergeschoß des Gemeindeamts zwei Wochen lang als Planungswerkstatt freigibt. Ermöglicht der Einwohnerschaft freien Zugang zu diesem Atelier. Stellt Identifikationsmöglichkeit mit dem Planungsprozeß her, der dann als Ergebnis das Programm für den anschließenden Architektenwettbewerb erbringt (PN: Z 194 ff). 15 Für die Gemeinde Langenegg ist die Blaskapelle so wichtig, daß im Untergeschoß des neuen Kindergartens ein umfänglicher Übungssaal gebaut wurde. Auch Sulzbergs neues Gemeindeamt bietet im Unter-

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viduellen, voneinander unterschiedlichen Meinungen der Anwesenden und die Abwägung und Gewichtung der Argumente in der Diskussion, ein zeitaufwendiger Prozeß, wie Wirthensohn beklagt, ein Prozeß, der jedoch, wenn er zu Ende gebracht ist, Solidarität und Identifikation gewährleistet. Die gemeinschaftliche Problemdiskussion droht zu stocken, sobald sie zu wenig zielgerichtet ist. Eine Zielorientierung allerdings ist vom Kollektiv allein nicht zu leisten, ist sogar antikollektiv. Die Problemstrukturierung muß vom Einzelnen vorformuliert, der Gemeinschaft unterscheidbare Handlungsalternativen zur Beschlußfassung vorgelegt werden.22 Gerhard Gruber schätzt das Selbstbewußtsein der Thaler Dorfbewohner so stark ein, daß an einer breiten Diskussion kein Weg vorbeiführt. „Also, das heißt, es gibt einen Vorstand in diesem Verein, aber das heißt nicht, daß das, was der Vorstand beschließt, das wird dann nocheinmal lang und breit diskutiert. Und dann wirds irgendwann gemacht.“23 Gerhard Grubers Wahrnehmung als Architekt, der nicht nur für den Selbsthilfeverein Dorfgemeinschaft Thal, sondern über Thal hinaus auch in den umliegenden Gemeinden des Vorderen Bregenzerwaldes tätig ist, läßt uns diese Praxis der dörflichen Meinungsbildung als regionsspezifische Praxis der innerdörflichen, handlungsleitenden Beschlußfassung wahrnehmen. Wenn der Selbsthilfeverein der Bauherr ist, dann ist das meistens schon sehr kompliziert. Weil in so einem Dorf, da kann man nicht autoritär regieren, die sind einfach abhängig voneinander, das wissen die auch. (...) Also sie stellen niemand in die Ecke, oder an die Wand, und da darf jeder sich zu Wort melden. Und es wird schon ziemlich lange geredet, bevor dann etwas angepackt wird, damit man auch sicher ist, daß da kein Unmut oder eine Spaltung im Dorf ist. Es scheint aber in dieser Gegend insgesamt so zu sein. Weil, ich mache jetzt in Sulzberg einen Bau, also für die Gemeinde. Und da habe ich mitgekriegt, daß es üblich ist, in Sulzberg alle Gemeinderatsbeschlüsse einstimmig zu fassen. Und das funktioniert fast immer. Und es wird auch so lange geredet und getan, daß das möglich ist.24

Gerade Thal, das „prekäre“ Dorf, ist geeignet, die Organisation seiner Gesellschaft als Konstruktion ineinander verschränkter Identitäten wahrzunehmen und elementare soziale Grundstrukturen festzustellen, die auch geschoß einen Blasmusik-Übungssaal.Weitere Beispiele finden sich in nahezu jedem Bregenzerwälder Dorf. 16 Gemeindesekretär Mario Nußbaumer zufolge ist sowohl die Jugendgruppe des Dorfes als auch das Café als Verein organisiert. „Der hat derzeit knapp fünfzig Mitglieder, da kann sich jeder um tausend Euro einen Anteil kaufen, und dann ist er Mitbesitzer des Cafés. Damit ist für denjenigen, der das Café betreibt, das Risiko minimal, denn mit den Tausend-Euro-Anteilen wird die Einrichtung finanziert.“ MN: Z 523 ff 17 Auch das Einzelhandelsgeschäft, für welches 2009 ein Neubau errichtet wurde, ist in Langenegg als Verein organisiert. 18 PN: Z 161 19 PN: Z 142 ff; ausführlicher im Abschnitt Architektur im Dorf dieses Kapitels

20 PN: Z 208 ff 21 EW 1: Z 154 ff 22 Ernst Wirthensohn stellt in der Darstellung seiner und seines Bruders, des Fraktionsvorstehers Mentalität, zwei Extreme einander gegenüber: „Mein Bruder (...) wollte immer alle einbinden und deshalb waren die Diskussionen unglaublich lang und mühsam. (...) Ich bin also einer, der da immer trommelt, trommelt, trommelt, trommelt, für Ideen, oder, und dann hat man noch immer den Wunsch, Mensch, es muß ein bißchen vorwärts gehen. Und dann manchmal hat man aber Durststrecken, wo ein Jahr oder eineinhalb überhaupt nichts geschehen ist. Und die Diskussion gestockt ist, total.“ (EW 1: Z 177 ff) 23 GG: Z 423 ff 24 GG: Z 384 ff

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Politische Identität Thals

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stabileren Dörfern zugrundeliegen, dort jedoch, weil althergebracht, gegenwärtig ungefährdet und durch komplexere Sozialstrukturen überformt, weit weniger deutlich wahrnehmbar sind. Später noch als zu einer kirchlichen Identität, die der vormals „informellen“ Siedlung erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in ihrer Erhebung zur eigenständigen Pfarrei zugewachsen ist, findet das Dorf auch zu einer gewissen politischen Eigenständigkeit und Identität. Formell hat Thal als Fraktion Sulzbergs einen Platz in einem festgefügten politischen System inne. Gruber beschreibt dessen Wirkungsweise, die ursprünglich einer Entmündigung Thals gleichkommt, anläßlich des Wahlverhaltens der Gesamtgemeinde und dessen Niederschlag in der Zusammensetzung des Sulzberger Gemeinderats. Ein Sulzberger hat nie einen Thaler gewählt, oder es war eher unwahrscheinlich. (...) Die Thaler haben den Bürgermeister mit gewählt und damit war das erledigt.25

„Thaler Liste“

Zur generationenalten Erfahrung der Dorfbewohner gehört es demnach, daß ihre Existenzerhaltung von der traditionellen politischen Struktur nur unzureichend gewährleistet wird. Wirthensohn bekräftigt Grubers Einschätzung: „Die Heimatgemeinde ist zehn Kilometer weg, sehr weit. Die wirkliche Gemeindepolitik hat sich nie hier in Thal abgespielt.“26 Sulzberg als „Fremdenverkehrsgemeinde“ schaut zuerst auf sich und seine „Fremdenverkehrsprojekte“27, und erst in untergeordneter Linie auch auf seine kleine Parzelle Thal. Die Thaler gewinnen jedoch aus ihrer Reorganisation als Selbsthilfeverein eine dörfliche Solidarität, aus der gewohnten Situation ein neues Recht zur Selbstbehauptung abzuleiten, auch wenn diese Haltung erfordert, ihre historische „Opposition zu Sulzberg“28 in die Zukunft zu verlängern. „Die Thaler haben immer gewußt: Wenn man was erreichen will, dann muß man es erstens selber machen, und zweitens, man muß es noch erkämpfen.“29 Das erforderliche Selbstbewußtsein stützt sich auf jeden einzelnen Dorfbewohner, der so zum verantwortlichen Mitträger einer dörflichen Solidargemeinschaft wird. Wahlbeteiligung hieß für die Thaler bisher, Befugnisse zu übertragen, ohne vertreten zu werden, die Selbstbestimmung damit aus der eigenen Hand zu geben. Der Weg zur eigenen politischen Identität ist nun, innerhalb des kommunalen Gefüges der Gemeinde Sulzberg „sich selbst“ zu wählen. Eine Thaler Liste ermöglicht, eine eigene Interessensvertretung innerhalb des Sulzberger Gemeinderats zu etablieren und so den politischen Prozeß erstmals mitzubestimmen. Gruber: Sie haben sich mehr oder weniger darauf verständigt, daß alle Thaler die Thaler Liste wählen. (...) Mittlerweile haben die Thaler zwei Gemeinderäte in Sulzberg. Was vorher nie möglich war, weil natürlich alles so zersplittert war. (...) Und jetzt haben die ein Gewicht in Sulzberg, ein politisches Gewicht.30

Wirthensohn ist sich jedoch gerade im politischen Bereich der Grenzen bewußt, die der Selbsthilfe gesetzt sind. Thaler Liste und Selbsthilfeverein können das Überleben des Dorfes nicht in allen Aspekten gewährleisten.

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Dem Trend der Zeit zur Kinderlosigkeit und Kleinfamilie und der davon ausgelösten Bestandsgefährdung von Kindergarten und Schule etwa kann nur unzureichend entgegengesteuert werden, solange Thal nicht die Befugnisse eines eigenen Gemeinderats besitzt. [Erst] wenn die Schule wieder in Gefahr ist, wird halt wieder was passieren. Und die Schülerzahlen sinken noch viel mehr. (...) Es gibt wirklich nur mehr ganz wenige Kinder im Ort, die zwischen einem und vier Jahre alt sind.31

Indem Thals Heimatgemeinde Sulzberg für sein Kerngebiet Baugründe ausgewiesen und auf diese Weise „viele junge Familien gekriegt“32 hat, ist ein möglicher Weg aufgezeigt, wie auf der politischen Verwaltungsebene der Dörfer den Auswirkungen rückläufiger Bevölkerungsentwicklung entgegengesteuert werden kann. Für Thals basisdemokratischen Selbsthilfeverein schätzt Wirthensohn die Initiative zu solchen Maßnahmen pessimistisch ein, da die Mobilisierungshürde zur Überzeugung der Dorfbewohner unüberwindbar hoch erscheint.

Schulerhalt durch Ausweisung von Baugründen

Wir haben das auch schon debattiert... aber das ist nur belächelt worden...was der für einen Käs daherredet... er soll doch die Kinder selber machen.33

Auch auf einem anderen Sektor der Versorgungspolitik, der Aufrechterhaltung der gefährdeten Anbindung des abgelegenen Dorfes an den öffentlichen Nahverkehr, ist der Selbsthilfeverein konkret gefordert. Die neuen „Landhäuser“ der Pendler und ihre auf Mobilität basierenden Arbeitsverhältnisse benötigen vermehrt Infrastruktur in Form von Straßen und Parkplätzen, alternativ öffentliche Busverbindungen. Bereits der Gründungspfarrer hatte um die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert erkannt, daß die Mobilität der Dorfbewohner ebenso wie die räumliche Verbindung des Dorfgebiets nach draußen zu den Überlebensvoraussetzungen eines zeitgemäß organisierten Dorfes gehört. Gruber: „Martin Sinz hat auch eine Brücke zum Beispiel gebaut.“34 Auch auf diesem Sektor der Versorgung sieht sich der Selbsthilfeverein nun in seiner Nachfolge.

Aufrechterhaltung der Verkehrsanbindung

Es gibt zum Beispiel Überlegungen, daß dieser Verein wesentlich mehr infrastrukturelle Aufgaben übernimmt, also es gibt momentan im Bregenzerwald so Probleme mit den Bussen. (...) Es ist nicht sicher, daß diese Anbindung von Thal an die Hauptlinie Vorderwald – Hittisau – Doren – Bregenz, so gut weiter funktionieren kann. Es gibt aber Überlegungen, daß der Selbsthilfeverein das irgendwann übernehmen wird, die Verbindung von Thal zur Hauptlinie nach Doren. Also, das geht über die Versorgungsfunktion durch den Laden hinaus.35

In den Gesprächen mit Wirthensohn und Gruber über die politische Ebene der Selbsthilfe tritt deutlich zutage, daß mittels der Organisationsform des Selbsthilfevereins vor allem solche Probleme lösbar sind, deren unmittelbarer Zusammenhang mit der Lebenswelt der Dorfbewohner erkennbar ist. 25 26 27 28 29

GG: Z 138 ff EW 1: Z 117 ff „Das Geld geht (...) dorthin.“ (EW 1: Z 123 ff) EW 1: Z 122 EW 1: Z 128 ff

30 31 32 33 34

GG: Z 132 ff EW 1: Z 1137 ff EW 1: Z 1123 EW 1: Z 1143 ff GG: Z 38 ff

Unzugänglichkeit abstrakter Problemstellungen

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Je „abstrakter“, je weniger erkennbar der Zusammenhang mit den Lebensbedingungen der Dorfgesellschaft ist, desto unzugänglicher werden die Aufgabenstellungen für die Praxis der basisdemokratischen Beschlußfassung und Umsetzung.36 Einmal haben wir schon so etwas gemacht, da gings also darum, eine Vision „Thal in zwanzig Jahren“. Was wollen wir bis dorthin, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Da gabs vier, fünf Veranstaltungen. Gemeindeentwicklung, oder so in die Richtung, Leitbild. (...) Es gab zum Schluß dann das Plakat, wir wollen das und das, und das war ziemlich theoretisch. (...) Energie mobilisieren kann man nur immer dann, wenn es um etwas Konkretes geht. Wenn die Leute wieder anpacken können. Vor allem, wenn sie was selber machen können. Und hier haben die Leute 10.000 Stunden gearbeitet, in dem [Gemeinschafts-]Haus, gratis. Das bringt irgendwie dann das Gemeinschaftserlebnis, einen gewissen Stolz, eine gewisse Zufriedenheit, Freude daran. Immer dann, wenn ein konkretes Projekt gemeinsam erarbeitet wird.37 Unterscheidung intellektueller Orientierungsweisen sozialer Schichten

Prozeßorientierung des Bauens

Wirthensohn unterscheidet hier zwei intellektuelle Orientierungswelten38, deren Angehörigen der Selbsthilfeverein ein gemeinsames Dach bietet. Diejenigen, denen gedankliche Strukturierung und theoretische Vorausschau, also Planung, bereits ein Anliegen an sich und der Plan ein Ergebnis ist, und diejenigen, die gegenüber dieser spekulativen Sphäre die substantielle Welt als ihre Heimat betrachten bzw. durch Bearbeitung von materieller Substanz sich unmittelbar Heimat schaffen. Offensichtlich gelingt es dem Verein, für das Dorf Thal ein soziales System zu schaffen, in dem beide Mentalitäten als gleichwertige Kompetenzen interagieren und am gemeinsamen Lebensraum mitgestalten können, ohne diejenige Dominanz der akademischen Bewohnerschicht über die bäuerlichhandwerkliche entstehen zu lassen, die wir im letzten Kapitel als generelle Tendenz der gegenwärtigen Entwicklung des ländlichen Raums angesprochen haben. Indem sich die Dorfgemeinschaft Thal als weitgehend autonomer sozialer Raum begreift, gewinnt gerade die in komplexer organisierten kommunalen Gesellschaften hierarchisch untergeordnete Kompetenz, Bauen weniger ergebnisorientiert denn prozeßorientiert wahrzunehmen, Ausdruck und Spielraum. Eine solche Sinngebung des Bauens ist durch einen architektonisch bestimmten Begriff des Bauens nicht zu fassen. Durch die Definitionshoheit der Architektenvertreter über den Begriff Bauen wird seine unmittelbar soziale, prozeßhafte Bestimmung so vollständig verdrängt, daß sie aus dem 35 GG: Z 855 ff 36 Auf die Unterschiede der intellektuellen Orientierung, die zwischen sozialen Schichten bestehen, wurde bereits im Abschnitt „Ein anderes Haus“ des Kapitels Haus hingewiesen. Ebendieser Unterschied tritt im basisdemokratischen Meinungsbildungsprozeß des Selbsthilfevereins zutage und bestimmt hier die handlungsleitenden Entscheidungen. Ein Denken und Identitätskonstruktionen, die auf punktuellem Verankern in verschiedenartigen, teils fernliegenden Feldern beruhen, die erst durch

Bildung zugänglich und verknüpfbar werden, kennzeichnet vor allem Akademiker. 37 EW 1: Z 999 ff 38 Der Begriff „intellektuell“ ist an dieser Stelle ohne seine schichtenspezifische Konnotation verwendet und meint, Durkheim folgend, diejenige Orientierung, die vom Denken bestimmt ist. Vgl. Durkheim, S. 23 39 Steger weist auf die Aktualität hin, die das Modell der „Baugruppen“ zunehmend in der städtischen Immobilienpolitik gewinnt, indem mittlerweile in Großstädten wie Wien, Berlin, Hamburg, Tübingen

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gesellschaftlichen Diskurs zu verschwinden droht. Daß der prozeßhaft definierte Begriff des Bauens in der Selbstbaubewegung der 1970er bis 1980er Jahre gerade in Vorarlberg auch in den Kreisen junger Akademiker lebenspraktisch erprobt worden war, bestätigt jedoch, daß es sich um ein Phänomen handelt, dem als gegenwartsnahes Lebensmodell Beachtung gebührt.39 Wir werden anschließend auf ein „überlebendes“ Exemplar einer solchen Selbstbaugruppe zu sprechen kommen. In der einfach strukturierten Gesellschaft, die die Dorfgemeinschaft Thal in ihrer Organisationsform als Selbsthilfeverein verkörpert, wird Bauen ebenso wie seine Produkte, Haus und Raum, noch unmittelbar aus dem Sozialen bestimmt. Bauen dient der Abhilfe eines Mangels oder der Schaffung einer substantiellen Struktur durch gemeinsame, unmittelbar eigenhändige Aktivität. Deren Sinn liegt wenigstens ebensosehr im gemeinsam erlebten Prozeß wie im erzeugten Resultat. Eine dauerhafte Verankerung findet diese unakademische, innerhalb der autonomen 40 bäuerlich-handwerklichen Lebenswelt der vormodernen Dorfgesellschaften entwickelte Konnotation von Bauen in der Verfassung des Selbsthilfevereins.41 Wirthensohn grenzt dessen Zielhorizont auf ein Arbeiten „von Projekt zu Projekt“ ein, „das nächste Ziel ist zum Beispiel der Dorfsaal“42, und rekapituliert die Aktivitätsgeschichte des Vereins als Reihe von Bauprojekten, die mit dem Erwerb des Gasthofs Krone ihren Anfang nimmt: Wiedereröffnung Gasthaus, Wiedereröffnung Laden, das Ganze in Betrieb halten, schauen, daß man Pächter hat, schauen, daß man das ganze Haus renovieren kann, das haben wir so Stück für Stück gemacht, das waren immer wieder die nächsten Ziele. Das machen, das machen, das machen. Ja, und das ganz große Ziel war natürlich, diesen Anbau zu machen, diesen Neubau. Die alte Diskussion. Wer kommt da hinein, wer macht mit, kommt die Feuerwehr hinein, oder nicht, zum Beispiel. Und der zentrale Mieter ist die Bank? Ja, und der gemeindliche Musikverein. Dann haben wir das Projekt „Dorfplatz“ gemacht. Und jetzt das Projekt „Saal“. Und zwischendurch die Schule. Die Schule war eine Gemeindesache. Da war der Selbsthilfeverein kaum damit, ja, in der Diskussion schon, doch. Also in der Diskussion, was kommt in die Schule hinein und was kommt hier? (...) Machen wir zuerst eine Mehrzweckturnhalle in der Schule, oder renovieren wir den Saal? Machen wir den Musikproberaum in der Schule, oder kommt er hier herein? Also, es war schon eng verquickt.43

und Freiburg ausdrücklich Grundstücke aus städtischem Besitz für Bauprojekte solcher Gemeinschaften bereitgestellt und so dem „freien Markt“ und seinen negativen Auswirkungen auf die Sozialstruktur innerstädtischer Areale entzogen werden. 40 Moser arbeitet in seinen Befunden zum „Zentraldirigismus“ heraus, daß sich die historisch nachweisbaren Einwirkungen staatlich-städtischer Verwaltungsstrukturen auf das „vernakuläre Bauen“ im Wesentlichen auf „Waldschutz und Holzersparnis sowie Brandverhütung neben gewissen einfachsten hygieni-

schen Rücksichten“ beschränkte, jedoch die „treffliche formale Lösung etwa in den Bauproportionen und der äußere Schmuckaufwand am Bauernhaus ureigenste Leistung sowohl der Bauhandwerker wie auch der Bauherren selbst gewesen ist“. Moser, S. 16 Wenn hier eine „Autonomie“ des ländlich-handwerklichen Bauens betont wird, ist neben Mosers Befunden vor allem ein ökonomischer Aspekt angesprochen, der sich etwa auf lokale Materialvorkommen und auf eine Technik konzentriert, die in der Verfügungsgewalt der jeweiligen Dorfgemeinschaft liegen.

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Reorganisation des Dorfes durch Plazierung seiner gesellschaftlichen Institutionen

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Es gibt demnach kein abstraktes Ziel des Vereins, sondern ein konkretes, den Prozeß der Selbstorganisation Thals aufrechtzuerhalten. Und obwohl der Prozeß sehr stark entlang der aufeinanderfolgenden Bauprojekte verläuft, ist nicht „Bauen“ das Ziel. Eher ist Bauen eine Entsprechung des Dorf(über-) lebens auf der Handlungsebene. Der Selbsthilfeverein arbeitet also nicht für das Bauen, sondern indem er baut. Zu diesem Prozeß gehören neben den eigentlichen Bauaktionen eine Fülle von Diskussionen zur Meinungsbildung und Interessenabwägung, die so lange dauern, bis das Bauprogramm erarbeitet und darin der zukünftige Platz der Institutionen festgelegt ist. Vor allem hierin findet der Prozeß der Organisation des Dorflebens seine Zielorientierung: im Bestreben, für die verschiedenen Institutionen und Vereine räumliche und soziale Orte zu schaffen. Indem die Sektoren der Dorfgesellschaft, die Vereine, räumlich plaziert werden, wird das Dorfleben neu geordnet. Auch in Projekten, deren Bauherr nicht der Verein ist, wie der Schule, tritt der Verein als Organisationsstruktur auf, die einzig imstande ist, die Bedürfnisse des Dorfes zu ermitteln und als Ergebnis zu formulieren. Um die spezifische Bestimmung des Begriffs Bauen zusammenzufassen, die der Selbsthilfeverein Thal programmatisch praktiziert, greifen wir hier nochmals auf Durkheims Bestimmung von Religion und darin speziell diejenige des Kultes zurück: Demzufolge dient der religiöse Kult primär dazu, ein Institut für vitales Gemeinschaftsgefühl als Kraftquelle für den Einzelnen zu etablieren.44 Vergleichbares finden wir im Begriff Bauen der Praxis des Selbsthilfevereins, da auch hier, im prozeßhaften Bauen, ein fortgesetztes Erlebnis konstituiert wird, das dem Einzelnen Zutrauen in die Überlebenskraft als Gemeinschaft vermittelt, ihn aktiviert und in den Stand versetzt, überindividuelle Kräfte und damit Widerstandsvermögen gegen ihn bedrängende Gefahrenmomente zu entwickeln. Notwendiger Bestandteil dieser Praxis ist die Selbstbestimmung des Dorfes als weitgehend autonome Gesellschaft. „Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen“45, formuliert Wirthensohn deren Leitprinzip. Dieses Prinzip gilt nicht nur für das politische Selbstverständnis, sondern in besonderem Maß auch für die Praxis des Bauens. Das Selbstbild als autonome Gesell41 Vgl. Satzung des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal, insbesondere Art. 3.2. Materielle Mittel zur Erreichung des Vereinszwecks: „Fronleistungen der Vereinsmitglieder“; in: Wirthensohn, Jb. 1991–92 42 EW 1: Z 956 f 43 Ebd. 44 Durkheim, S. 558 ff 45 EW 1: Z 489 f 46 Gruber verdeutlicht im Gespräch, daß weit mehr als die abstrakte Zahl der Betriebe die konkret sichtbare Präsenz des Handwerks im Dorf die Identität der dörflichen Gesellschaft als gemeinschaftliche Lebensform stärkt. Ganz entgegen betriebswirtschaftli-

chen und städtisch-modernen Konzepten, die eine funktionelle Trennung der Bauten für Wohnen und Arbeiten propagieren, produziert die Schlosserei wieder direkt am Dorfplatz (wo sicherlich keine optimalen Produktionsbedingungen herrschen, was Lärm, Platzbedarf und Anlieferungsmöglichkeiten angeht) und verbindet Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. „Der Sohn (...), der hat jetzt dieses Haus saniert, wo die Schlosserei unten drin ist, die Werkstatt, und er wohnt jetzt obendrüber wieder. Also es passiert langsam durch diese Vereinsaktivitäten, kommt auch im Zentrum wieder mehr Leben.“ (GG: Z 1181 ff)

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schaft gründet in der individuellen handwerklichen Kompetenz, die für seine Mitglieder bestimmend bleibt, obwohl die Zahl der Handwerksbetriebe im Dorf mittlerweile auf wenige zusammengeschrumpft ist.46 Es gibt [neben der Schlosserei am Dorfplatz] nur noch eine Schreinerei. Aber es gibt irgendwie die Tradition, man muß die Dinge können. Und es gibt sehr viele, die einfach sehr viel können, handwerklich. (...) Das ist für Bauern schon in gewisser Weise typisch, aber es ist auch typisch für die bürgerlichen Leute. Man hat ja früher alles selber gemacht. Man hat doch nie irgendwo einen Handwerker geholt (von) außerhalb des Dorfes. Das war undenkbar. (...) Aus finanziellen [Gründen], und aus Tradition. (...) Aus Selbstbewußtsein.47

„Sich helfen können“ ist als embodied knowledge48 zunächst diejenige Wissensart, die die Überlebensvoraussetzung für die praktizierte Selbständigkeit gewährleistet. Wirthensohns Schilderung verdeutlich daneben, daß „sich helfen können“ auch als Demonstration von Kompetenz wirksam ist. „Sich helfen können“ besitzt demnach als Bestandteil des Selbstbewußtseins und der Ehre seine zugehörige Repräsentationsform. Damit ist gesagt, daß jene nichtintellektuelle Wissensart des inkorporierten Wissens, zu der handwerkliche Kompetenz gehört, sich durchaus äußert, jedoch nonverbal, und damit eine Ausdrucksform nutzt, die vorzugsweise innerhalb einer dörflichen Gesellschaft rezipiert wird. Das wachsende Hierarchiegefälle zwischen „Machen(-können)“ und „Planen(-können)“, das die vorliegende Arbeit in Gestalt von handwerklichem und architektonischem Bauen gegenüberstellt, findet eine Erklärung in den zugeordneten Äußerungsformen: Nur wer imstande ist, über seine Kompetenz nicht nur zu verfügen, sondern auch zu sprechen, findet in der zunehmend intellektualisierten Gesellschaft Vorarlbergs und ihrem einseitig intellektuell geprägten, modernen Bildungsbegriff Wahrnehmung und Förderung.49 Alles selbst machen zu können heißt, außer dem Mangel unmittelbar abhelfen zu können, gleichzeitig, über das Gemachte bestimmen, die eigenen Lebensbedingungen auf der Ebene der konkreten, materiellen Beschaffenheit von Haus, Hof und deren Einrichtung gestalten zu können. Aus einem solchen Verständnis heraus heißt „unabhängig sein“ nicht nur, nicht abhängig von anderen, sondern „fähig zu überleben“ in einem umfassenden, positiv verstandenen Sinn50, einem Sinn, dem, auf das Dorf bezogen, das Handwerk 47 EW 1: Z 464 ff 48 In der Wissenstheorie bezeichnet embodied knowledge oder inkorporiertes Wissen ein implizit vorhandenes Wissen, das an einen Körper gebunden ist und durch dessen Disziplinierung zur Wirkung gelangt. 49 Vgl. etwa die gegenwärtigen Diskussionen um die Reform der Regelschule (dessen argumentative Eckpunkte für Österreich etwa im „Grünen Bildungsprogramm“ 2009 formuliert sind), in dem ausschließlich über intellektuelles Wissen und seine Vermittlung gesprochen wird. Diese Einseitigkeit tritt umso auffälliger in Erscheinung, als die reformpädagogi-

schen Praxisformen seit den 1920er Jahren, die Reformschulen, erfolgreich auf eine Vernetzung von „inkorporiertem“ und „intellektuellem“ Wissen setzen. 50 Diese Haltung lebt als traditionelle Werkstattautonomie in Handwerksbetrieben fort. Eine solche Definition von Handwerk grenzt dieses deutlich ab von seiner unspezifischen EU-Definition als „small and medium-sized Enterprises (SMEs)“, die aus einer ausschließlichen Produktorientiertheit heraus den Handwerker von seiner sozialen Erfahrungsgeschichte abtrennt. Vgl. Abschnitt Reform des Handwerks: Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk

„Sich helfen können“ als embodied knowledge

Gesellschaftliche Hierarchie der Wissensarten

Handwerklichbäuerliche Wissensbestände als Grundlage dörflicher Autonomie

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Kulturbegriff der Selbstbaubewegung

Bauen als Gemeinschaftserlebnis

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als Kompetenz zur gebrauchsgerechten Umformung der naturgegebenen Substanzen und Stoffe, ebenso wie die bäuerliche Bearbeitung des Bodens, als archaische Kulturkompetenzen zugrundeliegen. Bei ebendiesem, einem vormodernen Landleben zugeschriebenen Kulturbegriff51, als Sehnsuchtsziel eines vollständigen Menschseins aufgefaßt, setzt die Selbstbaubewegung der 1970er und 80er Jahre an52 und entwikkelt aus einer Kritik an der Komplexität der modernen Lebensbedingungen, die als Wurzel von Entfremdung und Ausgeliefertsein interpretiert werden53, ein alternatives Lebensmodell. Vergleichbar der Haltung des Thaler Selbsthilfevereins, dessen spezifisch dörfliches, aus einer bäuerlich-handwerklichen Praxis der Eigenhändigkeit kommendes Verständnis von Selbständigkeit sich in einem sozial bestimmten Begriff von Bauen niederschlägt, versteht auch die Selbstbaubewegung, deren Protagonisten mehrheitlich einer jungen Akademikergeneration54 entstammen (was sie wesentlich von jeder traditionellen dörflichen Gesellschaft unterscheidet), Bauen als konkretes, eigenhändiges Schaffen der materiellen und räumlichen Voraussetzungen eines alternativen Lebensstils und damit als Erlebnis- und Repräsentationsmedium praktizierter Unabhängigkeit.55 Der Zeitpunkt meines Gespräches mit Norbert und Reinelde Mittersteiner fiel zusammen mit dem fünfundzwanzigjährigen Bestehen56 ihres Hauses, Teil der Siedlung Im Fang in Höchst, zu deren Gründungsbauherren das Ehepaar gehört. Der kürzlich abgeschlossene Verkauf eines der fünf Häuser an eine junge Familie hatte Anlaß gegeben, die Haus- und Gemeinschaftsordnung der Siedlung auf ihre Aktualität hin zu überprüfen und neu zu fassen. Es war erforderlich gewesen, die Bedingungen des Zusammenlebens zu reflektieren und neu zu formulieren. Das intensive Interesse an der sozialen Konstruktion der Siedlung, das der Verkauf des Hauses gezeigt hatte, hatte diese Anstrengung rückwirkend bestätigt. Reinelde Mittersteiner: „Die Siedlung kommt in Trend wieder (lacht). (...) Das sind jetzt junge Leute und die sind einfach total begeistert davon.“57 Diese Vorbereitung hatte unser Gespräch thematisch bestimmt. Aus Norbert Mittersteiners rückblickender Betonung der Prozeßhaftigkeit, die der „Baugeschichte“ der Siedlung „einen wichtigen Wert“58 gegeben habe, wird deutlich, daß die Zielorientierung des gemeinsamen Bauens, die Erzeugung des Hauses, in einer Weise organisiert war, die ein Gemeinschaftserlebnis als erwünschtes Nebenprodukt kultiviert hatte. Beginn war gemeinsame Arbeit, da haben wir jedes Wochenende miteinander gearbeitet (...) und da waren wir ständig im Kontakt. Nach dem Bezug waren immer noch einige Arbeiten offen, oder... da gabs sogar einen gemeinsamen Mittagstisch, da hat man gemeinsam zu Mittag gegessen hier im Haus, bis die Gruppe dann zu groß wurde, oder.59

Die „gemeinsame Arbeit“ des Hausbaus und die heutigen institutionalisierten Bewohnertreffen stehen in seiner Darstellung für unterschiedliche Formen der Gemeinschaft. Der „ständige Kontakt“ des Beginns, gekennzeichnet durch den familienartigen gemeinsamen Mittagstisch, ist punktuellen

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Sitzungen viermal pro Jahr gewichen. Seit dem Beginn ist ein Vierteljahrhundert vergangen, geprägt durch die heranwachsenden Kinder, die, jedenfalls für Norbert Mittersteiner, einen Hauptanlaß für den Einstieg in das soziale Experiment der Siedlung gegeben hatten und heute von ihm als eigentlicher Grund für den intensiven sozialen Verbund der fünf Familien bewertet werden. „Bei allen Mühen für uns Alten, für die Jungen habe ich da schon sehr große Chancen gesehen.“60 Vor allem für Reinelde Mittersteiner stand von Beginn an die Notwendigkeit fest, den Bedingungen des Gemeinschaftslebens eine verbindliche Regel zu geben und eine Haus- und Gemeinschaftsordnung zu formulieren.

Zusammenschluß von Kleinfamilien zugunsten ihrer Kinder

Wir sind am Anfang ganz unterschiedlicher Meinung gewesen, ob eine Gemeinschaftsordnung notwendig ist, oder nicht, oder. Ob man das schriftlich fassen soll, ob das verbindlich ist, oder. Und dann waren wir der Meinung, daß das ganz notwendig ist, daß man das in guten Zeiten machen muß, daß ein Haus auch verkauft werden kann, und daß die Bedingungen einer Familie verschieden werden kann, daß man finanzielle Schwierigkeiten haben kann, oder daß jemand ganz viel Geld hat und null Interesse hat, da überhaupt mitzuschaffen, oder. (...) Also, um das einfach auch festzulegen, oder, wie man umgeht miteinander, oder. Und auch, wie man mit dem Gebäude umgeht, oder. (...) Also, das heißt, welche individuelle Bewegungsfreiheit der einzelne Bewohner innerhalb der Gemeinschaft hat. Und da haben Sie sich ziemlich zu Anfang eine – wie nennen Sie das – Hausordnung? RM Haus- und Gemeinschaftsordnung. Die haben wir mit einem Juristen gemacht. Und die haben wir jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, erneuert. Haben wir die neu gemacht. Also, da ist jetzt ein Haus verkauft worden in dem Jahr, und da war das wichtig, daß das vorher nochmal geklärt wird, also auch mit dem alten Besitzer. Und daß das Haus einfach auch mit den neuen Bedingungen verkauft wird, oder.61

Frau Mittersteiner betont hier diejenigen Fälle, die als Folgen einer Dysfunktion der Bewohnergemeinschaft auftreten: Wenn ein Haus verkauft werden soll, wenn eine Familie zerbricht, wenn Bewohner in finanzielle Schwierigkeiten geraten, wenn kein Interesse an gemeinschaftlicher Arbeit vorhanden ist. Die Ordnung schützt die Gemeinschaft vor dem Zerbrechen, wenn Gemeinschaftsmitglieder ausfallen oder quertreiben. Die Ordnung definiert die Bedingungen der Gemeinschaftszugehörigkeit, schafft Selbstvergewisserung, eröffnet aber auch Ausstiegsszenarien, die etwa den aktuellen Hausverkauf ermöglicht haben.62 51 Vgl. Frühsorge 52 In dieser Zielvorgabe trifft sich die Kapitalismuskritik des politisch rechten mit der des linken Randes und schafft die zunächst skurril wirkende personelle Allianz aus Ökobauern und studentischen Straßenkämpfern, die die Anfangszeit der Grünen Parteien, zumindest Deutschlands, bestimmt hat. 53 Gorz, S. 31 ff 54 Vgl. Norbert Mittersteiner, wie Anm. 69 55 Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz 56 Das Bewußtsein um die Wichtigkeit einer Auf-

rechterhaltung des sozialen Experiments erfährt eine Verstärkung durch das intensive Interesse von außen, das der Hausgruppe und ihrer Bewohnergemeinschaft entgegengebracht wird und sie als beispielgebend darstellt, so etwa in einer ORF-Fernsehsendung zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Siedlung. 57 RNM: Z 298 ff 58 RNM: Z 1335 59 RNM: Z 35 ff 60 RNM: Z 1322 ff 61 RNM: Z 52 ff 62 RNM: Z 82 ff

Schutz der Gemeinschaft in Krisensituationen

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Wiedervereinigung von Wohnen und Arbeiten im Haus

Akademiker als typische Protagonisten von Baugruppen

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Neben diesem Krisenmanagement beschreibt das Ehepaar die Notwendigkeit, auch diejenigen Situationen zu regeln, die die Qualität des gemeinschaftlichen Zusammenlebens bestimmen, so das Verhältnis von Leben und Arbeiten im Haus. Wie Norbert Mittersteiner selbst, betrieb auch sein Nachbar zeitweise ein eigenes Büro im Haus. „Das war eigentlich immer eine Arbeitsstätte auch da, unter anderem.“63 In der Definition dessen, welchen Anteil des Lebens das Haus beherbergen soll, findet sich eine Erweiterung des modernen Wohnbegriffs, insbesondere seiner Beschränktheit auf die „Freizeit“64, indem auf eine archaische Praxis der Einheit von Wohnen und Arbeiten unter demselben Dach und damit auf eine soziale Definition von Haus zurückgegriffen wird, die im ungetrennten Haushalt der Bauern und Handwerker65 oder dem „Ganzen Haus“ des Landadels66, jedenfalls im vormodernen Leben, ihr kulturelles Vorbild findet. Freilich müssen die Ausbreitungsbereiche der jeweiligen, unter das selbe Dach zurückgebrachten Lebensbereiche definiert werden und etwa Lärmemissionen „durch Maschinen und so“67 ebenso bedacht werden wie diejenigen der bis zu vierzehn Kinder, die ehemals die gemeinschaftliche Wohnhalle der Siedlung bevölkert hatten. Entscheidend an Norbert Mittersteiners Lösungsvorschlag für solche Konflikte, „dann müßte man das diskutieren, oder, dann müßten die Kinder raus, oder das Büro“68, erscheint hier der Aspekt, daß sich die Gemeinschaft aus fünf Familien solchen Diskussionen aussetzt, ja, solche Diskussionen und damit die soziale Konstruktion eines alternativ strukturierten Gemeinschaftslebens, zur lebensprägenden Aufgabe erhoben hat. Mittersteiner kennzeichnet diese Praxis der permanenten Aushandlung der gemeinsamen Lebensordnung durch Diskussion als Habitus einer intellektuell gebildeten Gesellschaftsschicht. Er selbst fühlt sich dieser anfangs nicht zugehörig und begründet diese Einschätzung mit seiner ausbildungs- und berufsbedingten Herkunft, die ihm ein anderes Erfahrungswissen zum zwischenmenschlichen Umgang vermittelt hat als seinen akademisch sozialisierten Mitbewohnern. 63 RNM: Z 6 ff 64 Aus der Sicht einer linken Kapitalismuskritik wird dieses „Freizeitwohnen“ als Bestandteil einer Unterordnung des gesamten Lebens unter das Diktat entfremdeter Arbeit interpretiert. 65 Vgl. Abschnitt Arbeitsform und Wissensaneignung, Kapitel Handwerk 66 Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus 67 RNM: Z 12 68 RNM: Z 28 f 69 RNM: Z 1302 ff 70 RNM: Z 821 ff

Für die Bauherrengruppe war die bauliche Verdichtung notwendiger Teil des „zusammengerückten“ Wohnkonzepts. Mit Verdichtung nennt Norbert Mittersteiner ein Schlagwort für das ökologisch motivierte Anliegen, den Landverbrauch beim Hausbau auf ein notwendiges Maß zu reduzieren und insbesondere Alternativen zum freistehenden Einfamilienhaus aufzuzeigen. Zur Bauzeit der Häuser war dieser Aspekt des Bauens, der in der „Zersiedlung“ der Landschaft seinen sichtbaren und der Umwidmung von Agrar- zu Bauland seinen rechtlichen Ausdruck findet, noch nicht im Bewußtsein der Öffentlichkeit präsent, son-

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Ich bin ja auch kein Psychologe, oder. Ich komme ja vom Bau, oder. Ich bin ja gelernter Maurer, und die ersten Fremdarbeiter oder Gastarbeiter damals waren aus Kärnten oder Steiermark und Heimatvertriebene zum Teil – und Alkoholiker; und der Umgang damals auf der Baustelle war (...) ein bißchen anders, eine andere Umgangsform, als ein Lehrer zum Beispiel hat. Und ich war, also mit dreißig Jahren haben wir das gemacht, und ich war auch schon zu alt eigentlich für solche Prozesse. Irgendwie, ich komme nicht ... aus einem Diskussionsforum. Und ich habs immer als Chance für die Kinder gesehen, oder. Und da bin ich der Meinung, das ist aufgegangen.69

Mittersteiners Sichtweise läßt erkennen, daß das soziale Experiment, welches die Siedlung darstellt, nicht nur einen räumlichen Verdichtungsprozeß darstellt70, der durch das Zusammenrücken der fünf Familien entsteht, sondern auch einen Versuch, Schichtengrenzen zu überbrücken, indem die schichtenspezifischen gesellschaftlichen Habitusformen in der Haus- und Gemeinschaftsordnung ein verbindendes kulturelles „Dach“ erhalten.71 Gemeinsames Bauen in Kombination mit dem Diskussionsforum stellt diejenige Melange des Erfahrungswissens dar, das die Mitglieder aus ihrer jeweiligen Sozialisation einbringen.

Schichtenübergreifende soziale Interaktion

Das gemeinsame Bauen, wiewohl mit der Fertigstellung der Häuser zunächst abgeschlossen und damit aus der alltäglichen Erlebniswelt der Siedlungsgemeinschaft herausgefallen, hat in der substantiellen Erhaltung der Häuser durch eigenhändige Arbeit eine Form der Fortsetzung gefunden, der in der Haus- und Gemeinschaftsordnung ein zentraler Stellenwert zugesprochen wird.72 Der Umstand, daß die für Renovierungsarbeiten aufgewendete Zeit im Vergleich zu dem Arbeitseinsatz, den die Bauzeit gefordert hatte, rudimentär ist, nämlich pro Jahr lediglich „sechzehn Stunden pro Haus“73 beträgt, betont den Ritualcharakter74 dieser Praxis eigenhändiger gemeinschaftlicher Arbeit. Der hohe symbolische Rang, den die Fortsetzung des gemeinsamen Bauens durch Festschreibung in der Haus- und Gemeinschaftsordnung erhält, erklärt sich aus seiner sozialen Funktion für die Siedlungsgemeinschaft, der erkannten Notwendigkeit, ihr Gemeinschaftsgefühl regelmäßig zu erneuern. Unter den Voraussetzungen, die die fünf Häuser der Siedlung seit fünfundzwanzig Jahren zum Vehikel sozialer Interaktion werden lassen, sticht insbesondere die Wechselwirkung zwischen der Substanz der Häuser und dem Umgang mit dieser Substanz hervor. Die Häuser sind so gemacht, daß

Bestandserhaltung als Fortsetzung gemeinsamen Bauens

dern Avantgarde-Anliegen. Lediglich durch Bauträger wurde Verdichtung praktiziert, jedoch aus ökonomischen Gründen. (RNM: Z 914 ff; vgl. dazu auch den Abschnitt Gewerblicher Wohnbau des Kapitels Haus.) Als historisches typologisches Vorbild für verdichteten Wohnbau in Vorarlberg nennt Mittersteiner die Südtirolersiedlungen der NS-Zeit. Als Parallelerscheinung zur überindividuellen Verantwortung für den Landverbrauch, die die Planer der Siedlung Im Fang für sich reklamieren, übersteigt das Projekt auf der rechtlichen Ebene die Genehmigungskompetenz der Gemeinde. Statt ihrer tritt die Bezirkshauptmannschaft

als übergeordnete Genehmigungsinstanz in Erscheinung. 71 Bourdieu interpretiert die individuelle Erfahrung von Sympathie und Antipathie als Folge einer „Affinität der Habitusformen“. Bourdieu (1984), S. 33 72 Reinelde Mittersteiner betont, daß beim jüngst vollzogenen Verkauf eines der fünf Häuser der Siedlung die Bereitschaft der Interessenten, sich dieser Regel zu unterstellen, ein zentrales Kriterium bildete: „Jemand anderer hätte es auch nicht fein, oder.“ (RNM: Z 397) 73 RNM: Z 374

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sie Zuwendung ermöglichen, aber auch brauchen. Norbert Mittersteiner erklärt dies aus der Beschaffenheit eines Holzhauses gegenüber dem Massivhaus. Es ist einfach ein Haus, das nicht einfach betoniert ist und Standard und hundert Jahre hält und so bleibt, sondern es verändert sich und lebt und wird abgenutzt, und da muß man selber dazuschauen.75 Holzhaus braucht und erlaubt Zuwendung

Für ihn ergibt sich aus dem Zusammenhang, der zwischen der Entscheidung zum Holzhaus und dem damit akzeptierten beschleunigten Substanzverfall gegenüber dem „betonierten Haus“ besteht, ein Eigentumsbegriff, der von gelebter Verantwortung in Gestalt praktizierter eigenhändiger Substanzerhaltung geprägt ist. Die Wertschätzung wirkt sich einfach sehr stark aus in der Haltbarkeit, oder.76

Die Alternative dieser Lebensform, die in Mittersteiners Formel appellhaft gefaßt ist, richtet sich gleichermaßen gegen fehlende soziale Sorgfalt, durch die Anonymität, Beziehungslosigkeit und Egoismus vorherrschen, wie gegen fehlende Verantwortung für die materielle Lebensumgebung. Mittersteiner kommt im weiteren Gesprächsverlauf wiederholt auf die soziale Funktion gemeinsamer Arbeit zurück. Da ist einfach die Kommunikation, das gemeinsame Arbeiten, das sind ja nur Möglichkeiten, daß man überhaupt sich trifft.77

Seine Sichtweise konnotiert Arbeit primär als Gelegenheit zur Kommunikation und formuliert damit auch zu dem materialistischen „Fleiß“ ein Gegenkonzept, der mit dem im Forschungsraum Vorarlberg allgegenwärtigen Motto „Schaffe, schaffe, Hüsle baue“78 ein spezifisch „alemannisches“ Lebensgefühl behauptet. Gemeinschaftliche Arbeit als Medium praktizierter Kommunikation

Auch hierin bietet sich eine Parallelsetzung zwischen der Hausgemeinschaft der Siedlung Im Fang und dem Thaler Selbsthilfeverein an: daß mit dem Prinzip des eigenhändigen Bauens die Identifikation mit dem so Geschaffenen zwangsläufig verbunden und daß im gemeinschaftlichen, eigenhändigen Bauen ein Medium gefunden ist, das die Kommunikation, die Gemeinschaft selbst, stützt und aufrechterhält. Bereits im Abschnitt Bauernhaus des Kapitels Haus ist erwähnt worden, daß Norbert Mittersteiner die eigene Kindheitserfahrung eines Lebens im Bauernhaus heranzieht, wenn er zu den Quellen seiner Prinzipien sozialen Lebens befragt wird.79 Und dann haben wir später, als wir geheiratet haben, (...) auch in der Umgebung, war ein Bauernhaus frei. (...) Und es war faszinierend, für unsere Freunde und so, was man aus dem Haus, das hat man ja kaum gekannt, die alten Bauernhäuser, und wie es einfach gemütlich war.80

Raumerfahrungen aus dem Bauernhaus

So ist der Vergleich der vorstädtischen Siedlung Im Fang zum bäuerlichen Dorf nicht nur eine analytische Parallelsetzung ähnlich erscheinender Sozialstrukturen innerhalb der Organisationspraxis von Bauprozessen, sondern fußt auf einer ausdrücklichen Übertragung eigener Erfahrungen der handelnden Protagonisten, Erfahrungen, denen das Bauernhaus und das Dorf, als soziale Räume erlebt, zugrundeliegen.

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Bis hierher ist vor allem über soziale Strukturen gesprochen worden, die in der Praxis des Herstellens und Erhaltens der baulichen Substanz der Häuser zu beobachten sind. Auf das Wohnen und seine gemeinschaftliche Konnotation ist lediglich in Bezug auf dessen Verhältnis zum Arbeiten unter dem gleichen Dach eingegangen worden. Im Rahmen der architekturbezogenen Fragestellungen, die die vorliegende Arbeit bestimmen, interessieren daher die Wechselwirkungen, die das bauliche Ergebnis mit seinen räumlichen Bedingungen und der Lebenspraxis der Bewohner erzeugen. Ein vorrangiger Stellenwert kommt hierbei dem Umstand zu, daß sich das Selbstverständnis der Siedlungsgemeinschaft als „alternative“ Lebensform wesentlich aus der Abgrenzung ihrer Wohnpraxis von derjenigen speist, die das freistehende Einfamilienhaus repräsentiert. Wir erinnern in diesen Zusammenhang an unsere Feststellung, daß die Typologie der ländlichen „Architektenhäuser“ sowohl in ihrer Stellung zum Dorf als auch in ihrem vorherrschenden Grundrißtyp weit mehr die Vereinzelung ihrer Bewohner fördert als deren Gemeinschaftsleben.81 Unser Anknüpfungspunkt ist Mittersteiners Praxis der Übertragung von Erfahrungsräumen und Atmosphären vom Bauernhaus und dessen dörflicher Umgebung auf die neuerrichtete Hausgruppe, ihre Situierung und ihr räumliches Angebot. Mittersteiner erzählt von seinem Leben im Bauernhaus unmittelbar vor dem Bau der Siedlung und aus seiner eigenen Kindheit. Und auch, das haben wir ja gesehen da, die Bank vor dem Haus,also das war kein Vorplatz, aber eine Bank hat Platz gehabt. Und da ist man gesessen. Und ein kleiner Brunnen war da und es war noch nicht so viel Verkehr, und die Kinder über der Strasse, da hat was funktioniert, passieren können. Das haben wir mitgenommen, oder. (...) Oder ich denke, auch von der Umgebung her, als Kinder waren wir immer im Wald, als Buben, oder. Die nahe, oder ein bißchen weitere Umgebung, was fußläufig erreichbar ist, ein Kindergarten, Geschäfte, oder, ein Graben, wie bei uns da, da hat sich was abspielen können. Wo die Eltern nicht immer so direkt dazusehen, oder...82

Mittersteiner beschreibt das eigene Wohnen in Abgrenzung vom Normaltyp, dem Typ des freistehenden Einfamilienhauses, und beruft sich darin auf eine bewußt getroffene Lebensentscheidung. „Ich hätte genauso ein Einfamilienhaus bauen können, ich hätte genug Möglichkeiten gehabt, oder.“83 Ohne auf die räumlichen Annehmlichkeiten verzichten zu müssen, die das typische Einfamilienhaus bietet („Wir haben einen eigenen Garten“84), bietet ihm die Siedlung ein soziales Umfeld, das über die eigene Familie hinaus alltägliche soziale Kontakte zu den Nachbarn innerhalb der Siedlung bietet: „Ich kann zu jemand einfach ,guten Morgen‘ sagen.“85 Um demgegenüber 74 Der Begriff nimmt in dieser Verwendung Bezug auf Durkheims soziale Bestimmung von Religion. 75 RNM: Z 406 ff 76 RNM: Z 410 f 77 RNM: Z 1241 ff 78 So etwa Kapfinger an prominenter Stelle, seiner Einleitung zum Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980; Kapfinger (1999), S. 11

79 80 81 82 83 84 85 86

RNM: Z 1184 ff RNM: Z 1191 ff Vgl. Evans, S. 85 ff RNM: Z 1204 ff RNM: Z 1263 ff Ebd. Ebd. Ebd.

Abgrenzung vom Einfamilienhaus

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die typgebundene Präfiguration des Einfamilienhauses als sozial distanziert zu kennzeichnen, weist er während unseres Gesprächs auf die andere Straßenseite. „Die Nachbarn da drüben, gutes Verhältnis, aber das ist halt so, oder“ (winkt hinüber).86 Die soziale Atmosphäre, in der man lebt, ist für ihn wesentlich durch die Beschaffenheit der Wohnumgebung bestimmt. Deren „Gemachtheit“ verknüpft Qualitätsaspekte mit der eigenen Verantwortung. Das Prinzip der Eigenhändigkeit und Gemeinschaftlichkeit hat das Ergebnis für jeden Einzelnen in eine Erreichbarkeit gestellt. Kommunikation muß man herausfordern, oder. Provozieren. Man muß sich was Gemeinsames machen, Ziele setzen, überall. Wie man sich ein wirtschaftliches Ziel setzt.87

Begegnungsräume schaffen

Auch die begünstigende räumliche Umgebung, die die Siedlung bietet, fordert vom Einzelnen Initiative zu sozialen Kontakten und die Bereitschaft, diese auch zu pflegen: „Es ist nicht immer einfach, mit fünf fremden Familien.“88 Die Architektur der Siedlung bietet mit ihrer zentralen Wohnhalle, in die alle Hauseingänge münden und dem gemeinsamen Garten dahinter vielfältige Gelegenheiten zu Begegnungen. Solche Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, ist bewußt gestalteter Bestandteil nicht nur der Hausordnung, sondern auch der Siedlungsarchitektur. Daß daneben jedem Bewohner großzügige räumliche Angebote zur Verfügung stehen, die erst aus der Gemeinschaftsnutzung ihre Rentabilität gewinnen, so etwa, „daß man eine Werkstatt hat“89, ist ein Nebeneffekt, der sich wie von selbst ergibt, sobald im Gemeinschafteigentum nicht das Konfliktpotential, wie in Bauträger-Wohnanlagen, sondern eine Chance gesehen wird. Mittersteiner schildert, wie räumliches Angebot und initiatives Sozialverhalten im Siedlungsalltag ineinandergreifen. Wir haben einen gemeinsamen Platz hinten. (...) Und mit dem Hans zum Beispiel, der vorher reingeschaut hat, der setzt sich, der hat auch einen eigenen Platz, aber der setzt sich auch einmal hinten hin und raucht eine Zigarre, allein, oder. Und wenn er ein Gläsle Wein hat, dann kann ich dazusitzen, oder, und sag, du, hast noch ein Gläsle, oder soll ich was mitbringen. Das sind eigentlich Sternstunden. Das ist nicht einfach so, sondern das muß man sich machen. Oder. Man muß sich dort hinsetzen, wo man sich treffen kann. Und das ist das, was heute rundherum überall fehlt, oder.90

Mittersteiners Erzählung mündet in eine Analyse des Siedlungsprojekts, die dessen architektonische und soziale Gestalten einander gegenüberstellt. Sein Fazit ist, das soziale Projekt, das gegenseitige Kennenlernen und Akzeptieren der individuellen Eigenheiten, das das Bauen mitumfaßt und sich dann im Wohnen fortsetzt, sei das Wichtigere gewesen. Bestätigt sieht er sich darin vor allem durch die Sozialkompetenz seiner Kinder, die in der Siedlung aufgewachsen sind. Also, wenn ich die ganzen Kinder so anschaue, habe ich immer das Gefühl, die sind kommunikationsfähig. Und zwar überall, wo sie jetzt stehen.91

Als wichtige architektonische Voraussetzung hebt er neben den Gemeinschaftsbereichen das zugängliche Nebeneinander der individuellen Lebenssti-

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le hervor. Aus Sicht der Kinder, die von Haus zu Haus springen, wird dieses Nebeneinander unterschiedlicher Alltagspraxen erlebbar und vergleichbar. Weil einfach in jedem Haushalt funktionierts anders. Und die Grenzen sind anders. Und die Möglichkeiten sind anders. Und von Haus zu Haus wird das wie mit dem Schalter umgelegt und jedes Haus haben die Kinder die Eigenheiten einfach akzeptiert, oder... Und über die Jahre hats immer funktioniert, mit allen Kinderstreitigkeiten, und so weiter, das hats natürlich auch gegeben, aber sie haben sehr viel gelernt.92

Daß diese Qualität eine architektonische Voraussetzung braucht, deren zentrales Kriterium eine bewußte Reduzierung von Distanz ist, stellt Mittersteiner nochmals durch den Verweis auf das gegenüberliegende Einfamilienhaus heraus: „Das ist ja [hier] viel einfacher, da kann man wirklich raus und rein gehen. Die (Beziehung) über die Straße, ins nächste Haus, ist ganz eine andere.“93 Aus seiner fachlichen Sicht als selbständiger Planer ist Norbert Mittersteiner imstande, die Voraussetzungen und die Folgen der von ihm vertretenen gemeinschaftsfördernden Architektur zu überblicken und zu benennen: im städtebaulichen Maßstab den Aspekt der Verdichtung, im Eigentumsrecht die Frage des Gemeinschaftseigentums, im Bauprozeß das Prinzip der Eigenhändigkeit. Die Beobachtung, daß die gesellschaftliche Praxis in Vorarlberg gegenteilige Prinzipien etabliert hat, Absicherung von Privatsphäre durch räumliche Distanz, säuberliche eigentumsrechtliche Trennung, Reduzierung gemeinschaftlicher Aufgaben und Delegierung körperlicher Arbeit an den „Hausmeisterservice“, läßt seine Haltung als Alternative von bleibender Aktualität erscheinen. Im Fachdiskurs, sowohl der Architekten94 als auch der Bauwirtschaft95, wird diese Haltung als „zeitrichtiges Experiment“ der 1980er Jahre subsumiert, für die Gegenwart damit als „überholt“ bewertet. Es sind jedoch neuerdings die kommunalen Bauverwaltungen der Großstädte, die für solche Erkenntnisse, wie sie Mittersteiner vertritt, ein offenes Ohr zeigen und konkrete Weichenstellungen veranlassen, die erlauben, das Experiment einer gemeinschaftlich konnotierten Wohnarchitektur in größerem Maßstab fortzusetzen.96 Das Modell einer Verknüpfung von Eigenhändigkeit und Gemeinschaftlichkeit, das im Bauen sein Medium findet und im traditionellen Dorf wurzelt, erfährt in diesem Prozeß gleichzeitig eine räumliche Verpflanzung vom Land in die Stadt wie eine soziale Transformation vom bäuerlich-handwerklichen in ein akademisches Gesellschaftsmilieu. Mittersteiner ist nicht nur in seiner eigenen Lebenspraxis als Bauherr und Bewohner der Siedlung Im Fang eine Schlüsselfigur für gemeinschaftliche 87 88 89 90 91 92 93

RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z

1272 ff 1238 ff 311 1275 ff 1316 ff 1325 ff 1379 f

94 Kapfinger (1999), S. 3/7 95 Peter Greußing zeigt sich in unserem Gespräch interessiert und bis in Details hinein informiert über die Bau- und Wohnpraxis der Vorarlberger Selbstbaugruppen und Bauherrengemeinschaften. Seine gegenwartsbezogene Bewertung fällt jedoch negativ aus. Vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus

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Aspekte des Wohnens, sondern auch als Planer. Innerhalb der Vorarlberger Architektenschaft verkörpert er, neben anderen, etwa Rudolf Wäger, insofern einen Sondertyp, als er seine fachliche Ausbildung und berufliche Sozialisation nicht aus einer akademischen, sondern einer handwerklichen Sphäre bezieht. Indem Mittersteiner als Randfigur der Architektenszene97 auch seine Positionierung innerhalb dieser Szene durch seine Arbeit wahrnimmt, ist sein Kommentar auch als Beitrag zu der Frage zu werten, welche Form oder welcher Grad von Gemeinschaftlichkeit innerhalb der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs fachlich „denkbar“ ist, also bedacht, gewünscht und als soziale Wirklichkeit etabliert wird. Mittersteiners Kritik an den Einfamilienhäusern der akademischen Architekten fußt auf einem Qualitätsbegriff, der den Bewohner und dessen Zugang zur Gemeinschaft im Blick hat. Das Wohnen in der Siedlung Im Fang bietet seiner Beurteilung der etablierten Architekten und ihrer Produkte den Erfahrungshintergrund. Ja, modern heißt, ich würde nie so ein Kistle bauen, zum Beispiel. Also, das sogenannte klassische Bauen, das dünne Vordach, mit so einer Stahleinfassung zum Beispiel, das ist nicht unbedingt, was das Wohnen lebenswert macht. (...) Also, was die Bauherrnzeitung bringt, oder, die prämierten Ergebnisse der letzten Jahre, da war ich nicht dabei. (...) Ja, da bin ich einfach nicht dabei. Das schaut irgendwie alles gleich aus, ein bißchen länger, ein bißchen kürzer, ein bißchen höher, oder. So berate ich die Leute auch nicht. Also, denke, daß die Leute eher, also wenn die auch ein kleines Grundstück haben, irgendwo sollten sie ein bißchen Platz haben zum (Rückzug), weil das Ganze ist nicht einfach genormt, und fertig.98

Vorarlbergs gemeinschaftlich konnotierter Architekturbegriff

Die preiswürdige „Glaskiste“ ist ihm aus mehreren Gründen suspekt. Mittersteiner erwähnt die Einheitlichkeit der prämierten Entwürfe untereinander, was, zusammen mit dem Umstand seines Ausschlusses davon, das Bild eines sozial etablierten, elitären Stils ergibt. Inhaltlich kritisiert er diesen Stil deshalb, weil seine Ausprägung als „Kistle“, auf das Grundstück gestellt, keine „Nische“ im Außenraum bietet, hermetisch nach außen ist, keine Verzahnung mit dem Außenraum zuläßt und, als räumliche Vorgabe für soziales Leben betrachtet, Abschottung und Verkapselung bewirkt. Gleichzeitig resümiert seine Stellungnahme die eigene Position im gegenwärtigen Zustand der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs. Die Architektengeneration der 1980er Jahre, die mit Selbstbauprojekten wie der Siedlung Im Fang in das Berufsleben gestartet ist, hat ihren Ansatz, Architektur fundamental neu zu definieren, indem der akademisch-formalistische Ansatz mit dörflich-sozialen Aspekten ausbalanciert wurde, zusammen mit der Nichtunterscheidung zwischen akademischem und nichtakademischem Architektentum längst hinter sich gelassen und gleichzeitig mit dem Größensprung der Büros und ihren überregionalen Engagements die traditionellen sozialen 96 Vgl. Steger (2006) 97 Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?, Anm. 5 98 RNM: Z 1434 ff

99 Vgl. Anm. 8 100 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, 1784/2, S. 481 ff

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Schranken innerhalb des Berufsstandes wiedererrichtet. Der Versuch, in einem Vorarlberger Sonderweg einen erweiterten Architekturbegriff zu etablieren, der gemeinschaftsfördernde Strukturen mitumfaßt, ist kurzlebige Episode geblieben. Gerade die hier angestellte Gegenüberstellung mit dem Selbsthilfeverein Thal erlaubt, diese Entwicklung aus einem Wandel der gesellschaftlichen Triebkräfte zu deuten. Es wurde festgestellt, daß der Selbsthilfeverein eine Praxis neu institutionalisiert, die ehemals durch die Kirche verkörpert worden ist.99 Im unakademischen, handwerklichen Zugang zum Bauen steht das Gemeinschaftserlebnis des Bauprozesses im Vordergrund. Die Kompetenz der eigenhändigen, unmittelbaren Selbsthilfe ist die Voraussetzung, die der Einzelne zur Teilnahme an diesem Prozeß mitbringt. Demgegenüber steht im akademischen Bauen das erzielte Ergebnis im Vordergrund. Schiller hat die Funktion dieses Ergebnisses, des Bauwerks, als Belehrendes herausgestellt. Der Prozeß zu seiner Erzeugung erhält als individueller und individualisierender Prozeß, als einsames Ringen des Künstlers, seine Bestimmung, ein Modell, das im Selbstbild des Architektenstandes zentral steht. Die Machtverschiebung in der Deutungshoheit über das Gemeinschaftliche im Gesellschaftlichen von der Religion und ihrer Institution, der Kirche, zur Kunst, die in der Säkularisation vollzogen wird, wird flankiert vom Menschenbild der Aufklärung, Kants Prinzip der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“100 des Einzelnen. Wenn von diesen historisch skizzierten sozialen wie philosophischen Modernisierungen im europäischen Maßstab der Sprung zurück ins Forschungsfeld gewagt wird, dann deshalb, weil die Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ den Vergleich zwischen Religion und Kunst in deren jeweiliger Rolle als Stichwortgeber im Gesellschaftlichen nahelegt. Die innerhalb Vorarlbergs mehrfach festgestellte Tendenz akademischer Architektur, in einer verselbständigten Ästhetisierung Aspekte der sozialen Vereinzelung anstelle des Gemeinschaftlichen zu fördern, kann auf diesen Machtwechsel rückbezogen werden, der um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert zwischen Religion und Kunst stattgefunden hat und der das implizite Selbstverständnis von Architektur als gesellschaftsprägendem Medium bis heute maßgeblich bestimmt.

Religion und Kunst als soziale Medien

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5.3 Architektur im Dorf Ein letztes Mal kehren wir zum Eingangsbild dieses Kapitels zurück, das uns die Männer des Dorfes auf der Kirchenstiege versammelt zeigt.1 Zur Erschließung der Rolle, die Architektur in der folgenden „dritten Gründung“ Thals erhält, besitzt diese Situation, die uns Gerhard Gruber überliefert hat, den Status einer Schlüsselszene. Die Voraussetzungen derjenigen Krise, die den Männern nunmehr den Kirchplatz als provisorischen Versammlungsraum und die Steinstufen der Kirche als Sitzgelegenheit aufnötigen, haben wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels rekonstruiert. Das Dorf ist „unter der Hand“ ein anderes geworden. Zuvörderst ist dafür der Einbruch der Landwirtschaft verantwortlich zu machen. Seit diese kein Wertschöpfer mehr ist2, hat sie auch ihre soziale Prägekraft verloren. Diejenigen familiären Strukturen, die noch die traditionelle Landwirtschaft getragen haben, existieren nicht mehr, die heutige Familie ist eine Kleinfamilie.3 Der leistungsfähige Nachwuchs wandert ab, die am Ort verbliebenen Bauern finden keine Ehefrauen mehr. In Folge des Bedeutungsverlustes der Landwirtschaft ist auch das flankierende Handwerk verschwunden.4 Thal ist mittlerweile „im Grunde eine Pendlergemeinde“5. Auch der Versammlungsort, den die Männer des Dorfes in der Krise wählen, die Kirchenstiege, hat seine Integrationskraft verloren. Die Kirche repräsentiert zum Zeitpunkt dieser Versammlung gerade noch zehn bis fünfzehn Prozent der Dorfbevölkerung.6 Diese Randbedingungen machen den Neubeginn erforderlich, von dem bereits die Rede war, und erfordern gleichzeitig eine neue Plattform, die imstande ist, die gewandelten Voraussetzungen zu repräsentieren. Das Abstoßen zum Neubeginn geschieht wohl zum letztenmal von der Kirchenstiege aus. Kirchplatz und Dorfplatz

Die Thaler Dorfgemeinschaft vollzieht den Schritt von der kirchlichen zu einer säkularen Plattform bildhaft, in Form der Neuschaffung eines Dorfplatzes. Dieser neue Dorfplatz ist die „materielle“ Grundlage des Neubeginns. Der Kirchplatz bleibt zwar erhalten, ist sogar neu gepflastert, bietet aber keinen adäquaten Sozialraum mehr.7 1 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf? dieses Kapitels 2 Rentsch (2006), S. 122 3 EW 1: Z 1137 ff 4 Krammer/Scheer stellen Landwirtschaft und ländliches Handwerk als urprünglich symbiotisch verbundene Wirtschaftssektoren dar, bis „das Eindringen der industriellen Technologie und ihrer Entwicklungsgesetzmäßigkeiten die ländlichen, d.h. die handwerklichen, dezentralisierten und selbstorganisierten Formen der Produktionsmittelerzeugung und -instandhaltung sowie die Veredelung und Vermark-

tung von landwirtschaftlichen Rohprodukten innerhalb kürzester Zeit durch industrielle Formen ersetzte.“ (Hervorhebungen im Original) S. 112 5 EW 1: Z 1054 6 „Die Sonntagsmessen werden gerade noch von 10–15% der Bevölkerung besucht...“, schreibt Wirthensohn in „Neue Plätze für Thal“ im Jb. 2002–2003. 7 Ebd.: „Wollte man heute die politischen und privaten Gespräche am Kirchplatz abhandeln, so müsste sich der Großteil der Leute vom öffentlichen Leben ausgeschlossen fühlen...“

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Indem er seine vitale Zweckbestimmung verliert, gehört der Kirchplatz für das „neue Dorf“, zusammen mit dem Kirchbau selbst, zum ebenso schutzwürdigen wie schutzbedürftigen dinglichen Bestand einer dörflichen Baugestalt, die als „historisches Ensemble“ eine neue Legitimation zugesprochen bekommt8 und wiederum legitimierend auf das „neue Dorf“ zurückwirkt. In dieser neuen symbolischen Funktion trägt es gleichzeitig wesentlich zur atmosphärischen Ausstattung des gegenwärtigen, des „neuen Dorfes“ bei. Wirthensohn: Das Pfarrhaus (muß man) jetzt auch schön machen. Das wird man sicher demnächst in Angriff nehmen. Dann wird das Ensemble noch schöner.9

Der Übergang von der kirchlichen zur säkularen Identitätsplattform weist also zunächst eine bildlich-materielle Schicht auf, dem Bau eines Dorfplatzes. Für Gruber steht die Schaffung dieser neuen räumlichen Situation synonym für einen sozialen Prozeß, der zweiten Dorfwerdung Thals durch den Selbsthilfeverein: „Das war so der erste Schritt Richtung Dorf. Mit dem Haus und mit dem Platz.“10 Der Vorgang vollzieht sich als Aufschüttung etlicher Lastwagenladungen Kies aus der nahegelegenen Rotach auf der ehemaligen Hangfläche zwischen Schmiede und Gasthaus, die durch das Doppelhaus von Wirthensohn und Lang eine talseitige Stützmauer erhalten hatte.11 Die personelle Ebene des Übergangsprozesses ist die Formierung einer neuen sozialen Elite, für die die Gründung des Selbsthilfevereins den organisatorischen Rahmen bildet.12 Diesem sozialen Vorgang ist der Auftritt von Architektur im Dorf zuzuordnen. Gerade Thal bietet diesem Auftritt mit dem zu kompensierenden Sinnvakuum, das aus dem Niedergang des kirchlichen Einflusses zurückgeblieben war, einen Hintergrund, der uns wahrzunehmen erlaubt, daß Architektur dieses Sinnvakuum teilweise zu füllen imstande ist, ein Vorgang, der wiederum nur verständlich ist, wenn der gleichzeitig stattfindende Wechsel der dörflichen Elite in die Betrachtung einbezogen wird. Erst die neue Dominanz der Akademiker im Dorf, bereits im Kapitel Haus thematisiert, schafft den sozialen Rahmen, in dem Architektur, als Kunst, zum sinnstiftenden Medium einer Gemeinschaft werden kann.13 8 Vgl. dazu auch das Stichwort Dorferneuerung im letzten Abschnitt dieses Kapitels. 9 EW 2: Z 756 ff 10 GG: Z 235 ff 11 In seinem Beitrag „Neue Plätze für Thal“ im Jb. 2002–2003 dokumentiert Wirthensohn minuziös die Entstehung des Platzes. 12 Zentrales Artikulationsmedium der neuen dörflichen stake holders Thals sind Wirthensohns Jahresberichte. In dieser Eigenschaft verdienen neben den redaktionellen Beiträgen auch die Anzeigen Beachtung. So annonciert die lokale Raiffeisenkasse in allen Ausgaben. Die Anzeigentexte heben vor allem Gestal-

tungsbeiträge der Auftraggeber hervor und betonen so deren Gestaltungsanspruch. So teilt die Raiffeisenkasse auf der Umschlagsrückseite des Jb.1996–97 mit: „Mit einer 10-jährigen Mietvorauszahlung werden dem SHV-Dorfgemeinschaft Thal wichtige Mittel für die Erweiterung des Dorfzentrums zur Verfügung gestellt.“ 13 In den meisten Vorarlberger Gemeinden sind mittlerweile in zeitgenössischer Architektursprache errichtete Kommunalbauten in einer Weise um neugestaltete Dorfplätze arrangiert, daß diese Ensembles, gerade in der Parallelsetzung zum Kirchdorf Thal, einen Wandel der gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen zur Darstellung bringen.

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Bürgschaften und Vermittler

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Eine Befassung mit der Rolle von Architektur innerhalb kommunaler Bauprozesse läßt in unterschiedlichen Gemeinden und ihren individuellen Projektvoraussetzungen immer wieder ein ähnliches Grundmuster erkennen: Architektur ist als eigene und keineswegs zwangsläufig vorhandene Ebene eines komplexen sozialen Prozesses isolierbar. Gegenüber der organisatorisch relativ unkomplizierten, direkten Auftragsbeziehung zwischen dem Architekten und dem normalerweise akademisch sozialisierten Bauherren, die die soziale Grundkonstellation ländlicher Architektenhäuser bildet, bedarf die Arbeitsbeziehung zwischen Architekt und solchen kommunalen Gremien, die die Bauherrenfunktion für ein Dorf wahrnehmen, einer intensiven und kontinuierlichen vermittelnden Begleitung. Im Fall des Dorfes Thal leistet Ernst Wirthensohn, legitimiert durch seine Herkunft aus einer Thaler Familie14, den Hauptteil dieser Vermittlungsarbeit. Andernorts sind es die Familien der Architekten, die im Dorf für ihre Söhne und deren Arbeit bürgen15 und so eine Sozialisierung Zeitgenössischer Architektur innerhalb der alteingesessenen Familien des Dorfes, an der Basis der dörflichen Gesellschaft, befördern. Mein Gesprächspartner Wolfgang Schmidinger gelangt aus der Verknüpfung von etablierter sozialer Stellung und angestammter Funktion, die ihn als jungen Betriebsinhaber zum Mitglied des dörflichen Bauausschusses werden läßt, in die Position, anläßlich der Baueingabe für sein eigenes Haus dem Ausschuß „zu erklären, was da Sache ist“.16 Es gelingt ihm, die ursprüngliche Erwartungshaltung eines rollenkonformen Verhaltens („jemand, der im Bauausschuß sitzt, der kann doch nicht so ein, so ein Haus bauen“17) aufzubrechen und die Möglichkeit, „argumentieren zu können“18, für einen günstigen Ausgang des Entscheidungsprozesses einzusetzen. Dabei kommt ihm zu Hilfe, daß keine gesetzliche Grundlage für eine Ablehnung seines Baugesuchs gefunden werden kann.19 Die zweite Instanz neben dem Gesetz, das „Übliche“ als gesellschaftlicher Konsens, den der Bauausschuß neben der Wahrung des gesetzlichen Rahmens gleichzeitig schützt, unterläuft Schmidinger durch seine Doppelrolle, 14 Vgl. die Selbstvorstellung in Wirthensohns Jahresbericht 2002–2003: V. Neue Plätze für Thal 15 Wolfgang Schmidinger überliefert eine solche Bregenzerwälder „Sozialisierungsgeschichte“ aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre am Beispiel seines Architekten: „Zu der Zeit hat der H., hat bei seinen Eltern das Elternhaus gebaut. Das war eines der ersten auffälligen Beispiele. Sein Bruder, der M., hat das gebaut, und das haben die zur damaligen Zeit schon gezeigt und präsentiert an der Bregenzerwälder Handwerksausstellung.“ (WS 1: Z 225 ff) Der Architekt entwirft das dörfliche Elternhaus, sein Bruder, der Zimmerer, baut es, dann wird es bei der Bregenzerwälder Handwerksausstellung präsentiert. Im Gegensatz zum Medium Architekturmagazin,

bei dem die Fachkollegen das Gegenüber und damit ein akademischer Wahrnehmungsrahmen gesetzt ist, ist hier die regionale Einwohnerschaft, die Nachbarschaft, das bewertende Gremium. Unterstützend für die Akzeptanz wirkt die Vermittlung durch das lokale Handwerk, hier gleichzeitig Familie. Daß zugunsten einer solchen „Architekturvermittlung“ zunächst das soziale Prestige aufs Spiel gesetzt wird, ist Inhalt von Anekdoten, die darstellen, daß solche frühen privaten Auftraggeber für Architekten „beim Kirchgang nicht mehr gegrüßt“ worden seien (Architekt Leopold Kaufmann in seinem Werkbericht bei der Vorarlberger ZV am 05.10.2006). Wolfgang Schmidinger bewog die zunehmende Integration in den sozialen Konsens, die er an der Re-

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als etabliertes Mitglied der dörflichen Genehmigungsinstanz gleichzeitig Vermittler Zeitgenössischer Architektur zu sein. „In irgend einer Form ist es dann einfach einmal genehmigt worden.“20 Daß der Auftritt von Architektur im Dorf die Notwendigkeit einer Vermittlung unterschiedlicher Wahrnehmungswelten auslöst, zeigt sich bereits an den Beschreibungen derselben Situationen, die Gerhard Gruber und Ernst Wirthensohn, beides Akademiker, im Gespräch abgegeben und die wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels einander gegenübergestellt haben. Eine weitere, davon fundamental unterschiedliche Wahrnehmungswelt muß jedenfalls der nichtakademischen Dorfbevölkerung zugeordnet werden. Für Thal gibt Wirthensohn davon einen Eindruck, wenn er von den Schwierigkeiten berichtet, Abstimmungsmehrheiten für die Baumaßnahmen des Selbsthilfevereins zu gewinnen. Verschiedentlich21 ist bereits angesprochen worden, daß Architektur selbst22 in den angesprochenen sozialen Funktionen die Nachfolge von Religion und Kirche antritt. Der Betrachtungsrahmen, den das Dorf Thal uns bietet, liefert weitere Anhaltspunkte für diese Feststellung. Wirthensohn deutet den Bau seines eigenen Hauses und mit ihm den Auftritt von Architektur im Dorf, als Kristallisationskern für den aktuellen Aufschwung Thals und damit als Parallelereignis zu Pfarrer Sinz’ Kirchenbau. Und, die ganze Architekturgeschichte fängt rein mit dem Haus an. Vorher war nix. Es hat kein Architekturhaus da gegeben. (...) Also, bis auf die Zeit vor hundert Jahren. Als die Kirche gebaut worden ist, und da das Dorfzentrum gebaut worden ist, mit diesem Basler Architekten.23

In beiden Fällen, die Wirthensohn hier aufeinander bezieht, wird erstmals ein Architekt ins Dorf geholt. Pfarrer Sinz kann in der von ihm initiierten „zweiten Gründung“ Thals Architektur, vertreten durch seinen (namenlosen) Basler Architekten, noch zur Darstellung derjenigen Würdeformen24 einsetzen, die der Institution Kirche Sichtbarkeit verleihen. Sinz kann also stellvertretend für die Institution Kirche handeln und die neue Dorfidentität in deren Rahmen stellen.25 Eine solche etablierte soziale Institution steht bei der „dritten zeption der Frühwerke seines zukünftigen Architekten beobachtet, nach einer Beobachtungsphase von mehreren Jahren schließlich dazu, diesen auch mit dem Entwurf des eigenen Hauses zu beauftragen. (WS 1: Z 295 ff) 16 WS 1: Z 1376 17 WS 1: Z 1382 18 WS 1: Z 1395 f 19 WS 1: Z 1401 f 20 WS 1: Z 1408 f 21 So etwa im Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur? 22 In ihrer institutionellen Verfaßtheit: historisch legitimiert, gegenwartsschaffend, zukunftsdeutend. 23 EW 1: Z 219 ff

24 Ein Begriff, der in den Diskussionen um die Sanierung des Berliner Reichstags, speziell seiner neuzuerrichtenden Kuppel, verwendet wurde und dort zur Kennzeichnung einer Profanisierung diente, die jene „Würdeform Kuppel“ durch den Architektenentwurf einer spiralförmig ansteigenden Aussichtsrampe im Inneren der nach außen verglasten Kuppelkonstruktion erfahre. 25 Die Kirche gewährte den Schutz, den ein solcher Rahmen bietet, keineswegs kostenlos. Die Kosten für „das nötige Benefizium, die Pfarrpfründe“, für die „Bischof Amberg in Feldkirch (...) die hohe Summe von 10.000 Gulden festlegte“, ließ „fürs Erste alle Hoffnungen auf das Vorhaben“ einer Pfarreigründung schwinden. Wirthensohn (1999), S. 70

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Architektur tritt in ehemals kirchliche Rollen ein

Architektur als kulturaler Code des Zusammenlebens

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Gründung“ Thals, das sich nun als Selbsthilfeverein26 organisiert, nicht mehr zur Verfügung. In dieser Situation wechselt nun Architektur selbst ihre Rolle, um als soziale Institution in Erscheinung zu treten. Sie beansprucht nun nicht nur, wie es noch unter Sinz ihrem historischen Selbstverständnis als Auftragskunst entsprach, das soziale Prestige ihrer personellen Bauherren zu visualisieren, sondern auch, die Würde ihrer ehemaligen institutionellen Auftraggeber selbst zu verkörpern, selbst sinnstiftend zu wirken. Im konkreten Fall heißt das, der Dorfgemeinschaft selbst eine zeitgemäße Identität verleihen zu können. Die praktischen Belange des Bauens werden in diesem Vorgang transzendiert. Indem das zeitgenössisch-architektonisch ästhetisierte Bauwerk sich auf die Gesamtheit der architektonischen Werke, als sinnstiftende (Vor-)Bilder verstanden, bezieht, bildet es die Wertbegriffe derjenigen gesellschaftlichen Kräfte27 ab, die gegenwärtig beanspruchen, zukunftsweisend zu sein.28 In ebendiesem normativen Anspruch beerbt Architektur dort, wo sie eine breite gesellschaftliche Basis auf sich vereint, die Religion, und deren Institution, die Kirche. Architektenbauten profaner Funktionskategorien sind demnach als zentrierende Symbolträger einer säkularisierten und individualisierten gegenwärtigen Gesellschaft anzusehen. Für das heutige Vorarlberg kann vielfältig belegt werden29, daß Architektur eine solche identitätsstiftende Funktion in seiner Gesellschaft übernommen hat. Durkheims soziofunktionelle Deutung von Religion zugrundegelegt, liegt es daher nahe, Zeitgenössische Architektur als symbolische Sinnwelt dieser säkularen Gesellschaft anzusehen. Im Vergleich zum Thaler Kirchenbau des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts mit seinem kanonisierten historistischen Programm allgemein lesbarer Zeichen „spricht“ jedoch Zeitgenössische Architektur weit weniger direkt zur Gesellschaft30, ein Umstand, der den „Architekturvermittler“ notwendig macht. Wirthensohn verschafft die erklärungsbedürftige Architektursprache seines Hauses, deren sozialen Effekt wir im letzten Kapitel mit dem Begriff des klassifizierenden „Anderen“ beschrieben haben, die Rolle, „Prophet im eigenen Dorf“ zu sein. Und das ist immer schwierig. Aber ich denke, daß letztendlich dann doch irgendwas hängenbleibt. Und es ist ja, (da können wir) jetzt zum Sinz zurückgehen, predigen, predigen, predigen, predigen... krankhaftes Predigen (lacht).31 26 Selbsthilfe steht statt dessen zeichenhaft für den Verlust übergeordneter Instutionen und Sinnsysteme. 27 Solche Wertbegriffe sind Ökologie, Marktwirtschaft, Regionalität etc. 28 Es handelt sich also nach wie vor um eine Visualisierung außerhalb der Architektur liegender sinnstiftender Kräfte, nur ist der Zusammenhang mit diesen und damit der weiterbestehende Umstand einer Dienstbarkeit verwischt, indem die Verbindung nun in der Verantwortung, der „künstlerischen Individua-

lität“, des einzelnen Architekten und nicht mehr im kollektiven Selbstverständnis des Berufsstandes liegt. Die Entwicklung der Dorferneuerungspreise, im letzten Abschnitt dieses Kapitels angesprochen, offenbaren solche verdeckten Indienstnahmen von Architektur, in diesem Fall als Marketinginstrument von Standortentwicklern. 29 Die Landesregierung Vorarlbergs weist in ihren Aussendung regelmäßig auf die Zeitgenössische Architektur des Landes hin und stellt diese damit in die

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Wenngleich durch den Begriff „krankhafter Prediger“ selbstironisch gebrochen, stellt Wirthensohn seine Rolle für das Dorf unmißverständlich in die Nachfolge Pfarrer Sinz’. Das bessere Leben, zu dem er die Dorfbewohner veranlassen will, fußt in seinem Fall, weit stärker als noch bei Sinz, auf der Sonderstellung desjenigen, der erstmals einen Architekten ins Dorf geholt hat. Zusätzlich zu denjenigen architektonischen Qualitäten, die die individuelle Lebensform betreffen, unter denen im Kapitel Haus zuvörderst der Naturbezug herausgestellt worden ist, sind im Rahmen des im Reanimationsprozeß befindlichen Dorfes nun solche zu identifizieren, die die dörfliche Gesellschaft und ihr Zusammenleben betreffen. Wirthensohn, der „Prophet“ führt die Inhalte, die er „predigt“, auf „zahllose Gespräche“32 mit Architekten zurück. Diese treten hier als Inhaltgeber, als Wissende in Erscheinung. Offensichtlich geht es bei diesem Wissen um einen kulturalen Code, der das Zusammenleben betrifft, aus dessen Wissenskern Wirthensohn selbst jedoch, als „reiner Laie auf dem Gebiet“33, dauerhaft ausgeschlossen bleibt. Sein Habitus als Ausgeschlossener, wenngleich Akademiker und Intellektueller, liefert unserer bisherigen sozialen Zuordnung von Architektur, die vor allem durch eine Unterscheidung gegenüber der nichtakademischen Baukunst bestimmt worden ist, eine weitere Differenzierung. Die Analogie zur Religion wirft ein Licht auf Architektur, das sie als Disziplin für Initiierte darstellt und ihre Praxis damit in die Nähe eines Kultes rückt.34 Was vertreten die Architekten? Mit dem Kultbegriff ist Architektur zunächst als etwas „Großes“ gekennzeichnet, das zwar durch den einzelnen Architekten vertreten und über seine Person vermittelt wird, jedoch nur durch die Gemeinschaft aller Architekten existieren kann. Was, außer zeitgemäßen formalen Regeln, wird in der im „Fachdiskurs“ aufeinander bezogenen Expertengemeinschaft der Architekten verhandelt? Wir finden Vergleichbares in anderen Gattungen der Kunst. Was vertritt der Schriftsteller, wenn er von Literatur spricht, was der Komponist, wenn er von Musik spricht? Jeweils die Gesamtheit der legitimen Werke, damit auch deren Abgrenzung gegen die nicht zum Kanon gehörigen, die Nicht-Werke. Die Experten für Kunst definieren damit gleichzeitig Nichtkunst und verleihen dem Legitimen damit die Rolle des Legitimierenden. Zur Diskussion des Kultbegriffs im vorliegenden Zusammenhang und Rolle eines kulturellen Repräsentanten des Bundeslandes. 30 „Die allmähliche Bildung eines relativ autonomen intellektuellen Kräftefeldes vollzieht sich in Zusammenhang mit der Explikation und Systematisierung der Prinzipien einer spezifisch ästhetischen Legitimität: Der Vorrang des „wie man etwas sagt“ vor dem „was man sagt“, der Primat der Form über die Funktion, die feierliche Bestätigung des vordem der unmittelbaren Nachfrage unterworfenen Subjekts, das

nun ins Zentrum eines reinen Spiels der Farben, Nuancen und Formen rückt, führt schließlich dazu, die Unerklärbarkeit und Unersetzlichkeit des Schaffenden zu bestätigen, indem man den Akzent auf den hermetischen und einzigartigen Aspekt des Produktionsaktes legt.“ Bourdieu (1970), S. 162 31 EW 1: Z 784 ff 32 EW 1: Z 817 33 Ebd.

Architekten als Wissensgemeinschaft

Archiv der legitimen und legitimierenden Werke

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Kunst stiftet Sinn im Dasein

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seiner Ein- und Ausschlußfunktion erscheint zunächst der Vergleich mit einer „Qualitätsgemeinschaft“ hilfreich. Die Webergemeinschaft der schottischen Insel Harris entscheidet souverän, was echten Harris-Tweed ausmacht, welche Rolle Tweed den Stempel erhält und damit ihren Marktwert und welche nicht.35 Der Rückbezug auf einen historischen Kanon deutet demgegenüber darauf hin, daß die Künstler aller Gattungen mehr vertreten als einen Marktwert. Denn sie sind gleichzeitig Traditionswahrer und Bewahrer des Archivs der legitimen und legitimierenden Werke. In ihrem Selbstverständnis halten sie damit einen Begriff des Menschen als Kulturwesen aufrecht36, dem wir im Abschnitt „Ein anderes Haus“ des Kapitels Haus bereits in Schillers „Briefe(n) zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ begegnet sind. Diese „Briefe“, die ausdrücklich den gesellschaftlichen Leitanspruch der Kunst postulieren, sind innerhalb jenes Wertewandels entstanden, der die Säkularisierung vorbereitet hat, die Entmachtung der Kirche durch den Staat. Die seither durch Kunst vermittelte Vorstellung vom Menschen als Kulturwesen hat selbst durchaus religionshafte Anmutung, denn sie stiftet Sinn im Dasein37, überträgt damit die ehemalige sinnstiftende Rolle der Religion auf die Kunst. Als deren leitende Gattung tritt das gesamte neunzehnte Jahrhundert hindurch und noch im Bauhaus-Manifest von 1919 die Architektur auf. Ihren Führungsanspruch demonstriert sie durch Verweis auf das Gesamtkunstwerk der mittelalterlichen Kathedrale, bei deren Errichtung der Baukunst unter allen Künsten das Primat zukommt. Lionel Feiningers Titelholzschnitt des Bauhaus-Manifests Die sozialistische Kathedrale38 erneuert diesen Anspruch für das zwanzigste Jahrhundert. Wie aber setzt der einzelne Architekt diesen Anspruch von Architektur, die neue gesellschaftliche und gesellschaftsbildende Leitkultur zu sein, vor Ort um, zumal gegenüber der durch Bauern und Handwerker dominierten Gesellschaft eines Dorfes? „Der war ja für viele nahezu der Teufel persönlich, durch seine Fernsehsendung, die er gemacht hat, wo er Architektur kritisiert hat“39, schildert Wirthensohn hier den „Abstand“ zwischen dem soeben beauftragten Architekten seines Hauses und der Dorfgemeinschaft. Hergestellt wurde dieser Abstand, als die Gültigkeit des architektonischen Urteils gegenüber der Vorarlberger Gesellschaft erstmals öffentlich eingefor34 Vgl. Jan Tschicholds Äußerung, zit. in Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 32 35 Vgl. Gisela Vogler: A Harris Way of Life – Marion Campbell (1909–1996); Tarbert: Harris Voluntary Service, 2002 36 Susan Sontag in Brief an Borges: „Lieber Borges, (...) Sie haben gesagt, daß wir der Literatur alles schulden, was wir sind und was wir gewesen sind. Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls ver-

schwinden. Bücher sind nicht nur beliebige Summe unserer Träume und unser Gedächtnis. Sie bieten uns auch das Vorbild für Selbsttranszendenz...“ (New York, 13. Juni 1996), in: Worauf es ankommt. Essays; München: Hanser, 2005 37 Architekt Hans Purin kleidet seine Überzeugung von der Existenz dieses Zusammenhangs in den Satz „Architektur und Liturgie (...) steckt ineinander drin“, HP: Z 698 f 38 Hüter (1976), S. 65

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dert wurde, in den 170 Folgen der Sendung PlusMinus40, die das lokale ORFFernsehen in den Jahren 1985–97 ausstrahlte.41 Während in Wirthensohns Beschreibung des Habitus seines Architekten, der sich als öffentlicher Kritiker exponiert hatte, „er hat so ein bißchen was dozierendes, so was priesterhaftes nahezu“42, noch der Anspruch auf eine die Kirche beerbende Würde einschließlich der zugehörigen Überindividualität des Urteils mitschwingt, kann dessen Nachfolger Gerhard Gruber bereits auf eine mittlerweile etablierte Stellung Zeitgenössicher Architektur im Dorf aufbauen.43 Entscheidend für den Etablierungsprozeß wirkte, daß das erste „Stück Architektur“ im Dorf externe Aufmerksamkeit erregen konnte. „Die Wende kam dann, wo ein paarmal so Busse gekommen sind und das Haus angeschaut haben.“44 Der Widerstand gegenüber dem Bauwerk, „das Haus, das war für viele schlecht, teuer, gehört nicht hierher, paßt nicht, und so weiter“, besteht so lange, wie die Bewohner des Dorfes sich weigern, „sich das Haus ein bißchen erklären“ zu lassen, vor allem, hineinzugehen.45 Das Vorbild durch ein Architekturpublikum von außen, das mit Bussen anreist, um den Neubau zu besichtigen, trägt wesentlich dazu bei, den Widerstand der Dorfbevölkerung aufzuweichen. Vor den Fremden, die offensichtlich wertschätzen, was dort Neues zu sehen ist, will man selbst nicht zurückstehen. Und wiederum mit viel Mühe ist dann gelungen, den Schulumbau, wieder durch die zwei Leute (...) [bearbeiten zu lassen]. Ich habe mich damals massiv eingesetzt, daß die das kriegen. War ein langes Hin und Her mit der Gemeinde, schon ein anderer beauftragt. Und die Schule war dann das ganz wichtige Projekt, wo die Leute gemerkt haben, hoppla... Und von dort ab war der Gerhard Gruber akzeptiert. 46

Mit der Kirche hat das heutige Dorf, und das zeigt sich gerade an Thal, das als „Kirchdorf“ gegründet worden ist, seinen ehemals zentralen stake holder47 verloren. Wir haben festgestellt, daß im Vorgang der Neugründung als Selbsthilfeverein neue Anspruchsgruppen auftreten. Unsere Gegenüberstellung von Religion und Architektur konnte zeigen, daß Architektur für diese einen ihrer Wertordnung gemäßen Sinn stiftet. Indem die neue Sinnkonstruktion handlungsleitend wirksam wird, ist der Sinnverlust ausgeglichen, den der Niedergang des kirchlichen Einflusses zunächst hinterlassen hatte. Neben der Einsetzung von Architektur als sinnstiftendem und normativem Medium, mit dem sich vor allem die neuen dörflichen Eliten Ausdruck verschaffen, geben die Forschungsgespräche auch Anhaltspunkte für solche 39 EW 1: Z 497 ff 40 Die Vorarlberger Landesbibliothek verwahrt eine vollständige Sammlung von Aufzeichnungen der Fernsehsendung. 41 „Wie der Wetterbericht wurden diese ständigen, kontroversiellen Impulse landesweit rezipiert und diskutiert und haben wesentlich mitgeholfen, den Boden für eine sachliche Diskussion in Baufragen zu verbessern.“ Kapfinger (1999), Einleitung „Und fallweise habe ich mich mit der von mir ge-

stalteten Fernsehserie (...) auch gerächt.“ Gnaiger (2009/2), S. 10 42 EW 1: Z 518 ff 43 EW 1: Z 515 ff 44 EW 1: Z 505 ff 45 Ebd.; offensichtlich erschließt sich Architektur nicht dem äußeren Augenschein, sondern erfordert Hinwendung und Nachvollzug eines „inneren“ Konzepts. Der Innenraum ist für Wirthensohn der Schlüssel, nicht die Außenansicht.

Ausgleich des Sinnverlustes aus dem Niedergang des kirchlichen Einflusses

Architektenschaft als dörflicher stake holder

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Aspekte, die die Beteiligung von Architektur an der sozialen Konstruktion des „neuen Dorfes“ aus Sicht der Architektenschaft plausibel machen. Also, wir haben uns das Haus da gebaut und dann hat der jetztige Fraktionsvorsteher, (...) der hat mit dem K. [Architektenname] hier ein Haus gebaut. Das war dann das nächste. 48 Wirtschaftsfaktor Planungsleistung

Städtebau im kleinen Maßstab

Wirthensohns Wohnhausbau hat den privaten Wohnhausbau als neues Betätigungsfeld für Architekten im Dorf erschlossen, ein ökonomisches Feld, das in den folgenden Jahren mit dem Neubau kommunaler Bauten nochmals eine Erweiterung erfährt.49 Betrachtet man Thal als exemplarischen Fall für Vorarlbergs rund einhundert Gemeinden, so wird deutlich, daß sich hier für die Architektenschaft ein Betätigungsfeld von erheblicher Ausdehnung eröffnet, daß Planung für den ländlichen Raum ein Wirtschaftsfaktor ist.50 Die Möglichkeit, „Städtebau“ im kleinen Maßstab zu betreiben, „daß man als Architekt nicht nur ein Haus planen darf, sondern daß man planen darf, wo steht das Haus und wie steht es und sogar über diesen Ortsraum von Grund auf denken darf“51 ist, Gerhard Gruber zufolge, „ganz, wie man es sich wünscht“52, gehört damit wesentlich zur ideellen Erfüllung eines Architektendaseins. Die Möglichkeit, Städtebau und Architektur zu verknüpfen, besteht in Vorarlberg noch vielerorts, überall dort, wo Dorfzentren baulich erneuert werden, ein Potential, das das Land, das Bundesland Vorarlberg ebenso wie seinen ländlichen Raum, für Architekten attraktiv macht. Die ehemaligen dörflichen Eliten erleben diesen Vorgang, der gleichzeitig ein personeller Wechsel und ein Wandel der Sinnkonstruktionen ist, als Verlust ihres persönlichen Einflusses auf die Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes, als Entfremdung dieses Umfeldes53 und damit als Verlust der Selbstbestimmung, dem ehemals zentralen Identitätselement des Lebens im ländlichen Raum.54 So ist erklärbar, daß in den Auskünften, die die Gesprächspartner in den Forschungsgesprächen der vorliegenden Studie geben, der Auftritt von Archi46 EW 1: Z 508 ff 47 Der in Sozial- wie Wirtschaftswissenschaften gebräuchliche Begriff „stake holder(s)“ ist mit „Anspruchsgruppe(n)“ zu übersetzen und repräsentiert einen „Akteur“ innerhalb eines „dezentralen Systems“. René L. Frey, Universität Basel: „Für das dezentrale System ist charakteristisch, dass die Anspruchsgruppen so lange partnerschaftlich miteinander verhandeln, bis sie Lösungen gefunden haben (Win-winSituationen). Diese auf Wettbewerb beruhende Koordination liegt der Marktwirtschaft zugrunde, findet sich aber auch in (...) der Demokratie (Parteienwettbewerb) oder dem Föderalismus (Wettbewerb zwischen Gliedstaaten). Sie bildet auch die Grundlage der Regional Governance. (...) [Deren Grundidee] ist (...), Steuerungsstrukturen von Gebietskörperschaften zu implementieren, „die

auf der Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Akteuren beruhen, aber auch hierarchische Regulierung und Politikwettbewerb zulassen“ oder, anders formuliert, die „horizontale Kooperation zwischen einem variablen Kreis von Akteuren“ ermöglichen (Benz, 2001: S. 55). Wichtig ist dabei, dass gute Instrumente für die Verhandlungen zwischen den Stakeholdern zur Verfügung stehen...“ Hansjörg Blöchinger, Head of Unit im Departement Regionalentwicklung der OECD in Paris, ergänzt den Hinweis auf einen „allgemeinen Trend zur Dezentralisierung“, den „praktisch alle Staaten in der OECD (...) durchlaufen, um föderale Strukturen zu schaffen: In Skandinavien sind zahlreiche Regionalisierungsprozesse zu beobachten. Italien ist unlängst offiziell ein föderaler Staat geworden, in Spanien findet seit 15 Jahren ein Dezentralisierungsprozess statt (...). Frankreich hat eine Dezentralisierungsdis-

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tektur im Dorf vor allem dort mit diesem Erlebnis eines Verlustes der Selbstbestimmung verknüpft wird, wo von kommunalen Beschlußfassungen die Rede ist. Bertram Dragaschnig, der die Neubauten des Ortszentrums in Langenegg als Generalunternehmer erstellt hat, bezeichnet diesen Effekt als typischen Konflikt aktueller dörflicher „Innenpolitik“, einen Konflikt, dessen Austragungsort die Gemeinderatssitzungen sind, jenes Forum, in dem sich alte und neue stake holders gegenübersitzen: Man braucht (...) als Gemeinde den Mut, einen Architektenwettbewerb zu machen, ist ja vielmals schon in den Gemeinden ein politischer Kleinkrieg „dann haben wir nichts mehr zu sagen, mitzureden“, oder, ist das Hauptargument, oder.55

Ernst Wirthensohn macht mit seiner Beschreibung der autonomieerhaltenden Kompetenz des Selber-Machens, des Prinzips des GemeinschaftlichEigenhändigen, diese alten und neuen stake holders als „Handwerker“ und „Architekten“ namentlich56, spricht ersteren keineswegs ihr Qualitätsbewußtsein ab, verdeutlicht jedoch, daß das Kriterium handwerklicher Qualität allein als Wertmaßstab im „neuen Dorf“ nicht mehr ausreicht: Man hat doch nie irgendwo einen Handwerker geholt (von) außerhalb des Dorfes. Das war undenkbar. (...) Aus Selbstbewußtsein. Was natürlich für die Architektur ein großes Problem ist. Denn man macht die Dinge selber. Ich habe so gekämpft dafür, daß das auf architektonisch ordentliches Niveau kommt. (...) Die hätten schon das gemacht, aber die hätten das alles selber gemacht. Die Handwerker. Das wäre zum Teil wahrscheinlich gar nicht so schlecht geworden, aber architektonisch wäre nichts herausgekommen. Weil diese Tradition ist, wir können das selber und wir machen das selber. Und ein Architekt wird zuerst einmal beargwöhnt. Weil er von außen kommt. Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen.57

Eine Gemeinschaft, die nicht einmal einen Handwerker „von außen“ holt, stößt beim Vorgang der Architektenbeauftragung auf eine doppelte Barriere im eigenen Selbstverständnis. Gegenüber dem Architekten bestehen zusätzlich zu seinem Hereinkommen „von außen“ die Schwelle gegenüber dem Akademiker sowie der unzugängliche Bezugsrahmen der architektonischen Bedeutungskonstruktionen. kussion eröffnet und will das Prinzip der lokalen Autonomie in der Verfassung verankern. Auch Grossbritannien hat kürzlich weit reichende Kompetenzen an seine Regionen (...) übertragen. Mit der Dezentralisierung sind neue Akteure auf den Plan getreten, die sich koordinieren beziehungsweise die koordiniert werden müssen. In den meisten Staaten läuft diese Koordination unter dem Etikett Territorial Governance.“ Eisinger (2003), S. 78 48 EW 1: Z 644 ff 49 Allein für Thal: Schulhauserweiterung, Gemeinschaftshaus, Feuerwehrhaus 50 Georg Pendl, Vorsitzender der österreichischen Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, nennt, „Tirol und Vorarlberg zusammengenommen“, eine Verzehnfachung der Architekturbüros im Zeitraum der letzten vier Jahrzehnte. Wie Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus, Anm. 2

51 GG: Z 769 ff 52 Ebd. 53 Den Gedanken, daß diese Entfremdung des Bewohners von seinem Umfeld ein Leitprinzip der modernen Architektur geworden ist, im hier durchgeführten Argumentationsgang ein Nebenaspekt, greift der Abschnitt Möbel und Raum des Kapitels Handwerk ausführlicher auf. Aktuelle Rezeptionen Zeitgenössischer Architektenhäuser erneuern regelmäßig diesen Topos der Fremdheit als Qualität von Architektur. 54 Vgl. den vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels 55 BD: Z 346 ff 56 Die Darstellung der Architekten als „Gegenpartei“ zu den lokalen Handwerkern bleibt unvollständig, solange die lokalen Auftraggeber der Architekten ungenannt bleiben.

Verlust der Selbstbestimmung

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Handwerk ist nicht Architektur

Daß ein handwerklich gut gemachtes Haus nicht „Architektur“ ist, nimmt Wirthensohn hier als Selbstverständlichkeit. Dem Haus vom Handwerker fehlt der geistig-kulturelle Bezugsrahmen, ein entscheidendes Element, das nur dem Architekten zugänglich ist und mit ihm den akademisch gebildeten58 Gesellschaftsschichten. Das „neue Dorf“ repräsentiert gegenüber dem traditionellen Dorf eine gänzlich gewandelte kulturelle Orientierung seiner Eliten. In Thal führt dies zu jahrelangen Auseinandersetzungen um die zukünftige Nutzung des Dorfsaales und seine bauliche Adaptierung. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen.

Neue wirtschaftliche Grundlage, neue ökonomische Sinngebung des Dorfes

Mit der Ablösung der traditionellen dörflichen stake holders, vor allem Bauernschaft und Kirche, geht ein Wandel der Problemstellung einher, dem sich die neue Elite in ihrer Lokalpolitik zu stellen hat. Das Dorf benötigt eine neue wirtschaftliche Grundlage und damit neben der kulturellen auch in ökonomischer Hinsicht eine neue Sinngebung. Mit dem Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, einerseits als Lebensform, andererseits als Erwerbsform, hat das Dorf seinen primären59 ortsfesten Wirtschaftsfaktor60, nämlich die Fruchtbarkeit seines Bodens, verloren. Was Sinz noch versucht hatte, nämlich die Phase der lokal autonomen wirtschaftlichen Existenzsicherung des agrarisch begründeten „alten Dorfes“ durch Ansiedlung einer Fabrik61 in die postagrarische Moderne hinein zu verlängern, ist in Zeiten der individuellen Mobilität, wie sie die 1960er Jahre bringen, endgültig obsolet geworden – die Entfernung zu den „Arbeitsplatzanbietern“ in der Agglomeration Rheintal oder im Allgäu bildet keine Hürde mehr, der Raum, der die wirtschaftliche Existenz seiner Bewohner sichert, hat sich vom Dorf zur Region ausgeweitet.62 57 EW 1: Z 472 ff 58 Die hier unhinterfragt auftretende Hierarchie der akademischen über jede nichtakademische Bildung wurde in den 1970er und 80er Jahren auch in Vorarlberg durchaus in Frage gestellt. Neben denjenigen „kritischen“ Gruppierungen, die im vorhergehenden Abschnitt erwähnt wurden, existierten weitere, mit geringerer Durchsetzungsmacht gegenüber dem „common sense“, die sich als „alternative“ gesellschaftliche Enklaven abkapselten. Ein Beispiel hierfür ist der Höchster „Lichtheimat Ashram“, eine Gruppierung, die hier deshalb von Interesse ist, weil sie u.a. traditionell „dörfliches“ Wissen rekonstruierte und in Form von Anleitungsbüchern herausgab. So existieren etwa ein Kochbuch und ein Buch über Handweberei einschließlich einer Bauanleitung für die benötigten Gerätschaften. Die im Kochbuch wiedergegebenen Rezepte und die angegebenen Verfahrensweisen zum Haltbarmachen von Speisen und Naturalien ähneln jenen, die in Thal beim „Fest für Martin Sinz“ zum 90. Todestag des Dorfgründers (gefeiert am 6. Mai 2001) nachvoll-

zogen sowie zu diesem Anlaß als Veröffentlichung in Erinnerung gebracht wurden. (Cornelia OberbichlerVögel: „Alte Thaler Kost“, in: Wirthensohn, Jb. 2000– 2001) 59 Unter den agrarischen Bodenerträgen Thals findet lediglich der auf Sinz zurückgehende „Pfarrwald“ im Zusammenhang mit erzielten Einnahmen aus Holzverkäufen, aber auch mit Bauholzspenden in Wirthensohns Jahresberichten positive Erwähnung. 60 Im ländlichen Raum ist es vor allem der Bergbau, der neben der Landwirtschaft eine ähnlich ortsfeste, aus der Existenzsicherung erwachsende Bindung und Identität schafft, für Vorarlberg in den historischen Bergbaugebieten des Montafon (Silbertal) nachzuvollziehen. Während jedoch der Bedeutungsverlust des Bergbaus direkt mit der Erschöpfung der lokal vorkommenden Bodenschätze zusammenhängt, ist der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft ein indirekter, weil marktbestimmter und damit „erzeugter“. Zentral wirkt hierfür die Einführung von Geldwirtschaft in einen Raum, der noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu geldfrei funktioniert

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Auch wenn die unmittelbare Notwendigkeit zur direkten wirtschaftlichen Versorgung der Dorfbewohner durch deren individuelle Mobilität entfallen ist, so besteht doch für die Gemeinden unvermindert die Notwendigkeit, Einnahmen zu erzielen. Eigene Einnnahmen sichern die Unabhängigkeit ihrer Investitionspolitik und gewähren über die notwendige Aufrechterhaltung der gemeindlichen Infrastruktur hinaus Gestaltungsfreiheit. Eine Möglichkeit der Schaffung neuer lokaler Wirtschaftskraft63 liegt in der Ansiedlung von Gewerbebetrieben, die neben der Schaffung lokaler Arbeitsplätze vor allem Gewerbesteuereinnahmen ermöglichen. Die Gemeinde Langenegg etwa läßt sich zur Steigerung ihrer Attraktivität in den 1990er Jahren einen „Auftritt nach außen“ entwickeln: Wir haben ein Grafikbüro beauftragt, (...) das war ein Auswärtiger, (...) der hat ein Logo entwickelt für uns, (...) alle Vereine haben das selbe Logo, die Gemeinde hat das Logo, die Gemeindeeinrichtungen haben das Logo...64

In einer globalisierten Welt, in der die Identifizierbarkeit in elektronischen Medien gewährleistet sein muß, genügt es den dörflichen Repräsentationsansprüchen nicht mehr, einen hohen Kirchturm zu besitzen, der weithin in der Landschaft sichtbar ist. Derselbe Grafiker, der das Langenegger „L“ entworfen hatte, wird 1998 beauftragt, nun ein architektonisches Zeichen vorzuschlagen, und liefert einen Entwurf, dessen Realisierung zwar unterbleibt, aber als Initialzündung für die spätere architektonische Neuformulierung des Ortskerns wirkt, wie Bürgermeister Nußbaumer erzählt.65 Der sollte sich irgendetwas überlegen, was wir machen können. Man sieht ja landläufig die Strohballen, die sieht man ja in Deutschland auch, daß man sagt, Erntedank. Also, das wollten wir eigentlich nicht, solche Dinge. (...) Dann gabs ein futuristisches Projekt, ein Riesenzeltdach über dem Ortskern, wie das Münchner Olympiastadion,

hat (vgl. Krammer/Scheer). Erst die Einführung von Geld erlaubt, einen weltweit vergleichbaren Marktpreis für landwirtschaftliche Produkte zu erzeugen und mit der Lokalproduktion in Konkurrenz zu setzen. Ein weiterer Konkurrenzeffekt dieser Kapitalisierung des ländlichen Raumes liegt in der Entstehung eines Wettbewerbs der Lebensformen zwischen der agrarischen Selbstversorgergesellschaft des traditionellen Dorfes und der konsum- und stadtorientierten „modernen“ Gesellschaft. Daß zu den Sinz’schen Modernisierungsmaßnahmen Thals die Gründung einer eigenen Raiffeisenbank gehört, illustriert diesen neuen Einfluß der Geldwirtschaft im Dorf. Die Bank gehört seither zu den dörflichen stake holders und demonstriert diesen Anspruch vielfältig: Durch Anzeigen in den Jahresberichten des Selbsthilfevereins, durch Sponsoring kultureller Veranstaltungen und nicht zuletzt durch architektonische Präsenz im neuerrichteten Gemeinschaftshaus. Im Gespräch verdeutlicht der Leiter der Thaler Bankfiliale, daß Architektur für ihn primär als In-

vestition in Erscheinung tritt, die finanziert werden muß (EW 2: Z 1153 ff). Sein zeitgemäß erneuerter Status als dörflicher stake holder, der nun nicht mehr gegenüber den in die Mechanisierung ihrer „Betriebe“ investierenden Landwirten, sondern als „Nahversorger“ einer Pendlergesellschaft zu repräsentieren hat, bildet den Gegenwert für diese Investition. 61 Ernst Wirthensohn: Pfarrer Martin Sinz (1830– 1911) Lebensbild; in: Wirthensohn: Jb 2000–2001 62 Die Entwicklung zu einer vermehrten „Selbstbestimmung der Regionen“ als Regierungsform regional oder territorial governance ist das politische Pendant zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung. Vgl. Anm. 47 63 Das im Bregenzerwald stark vertretene Handwerk und die Modernisierungsbereitschaft seiner Institutionen (vgl. die Abschnitte Reform des Handwerks, Kapitel Handwerk) ist im hier betrachteten Kontext auch als Folge der Auflösung einer Symbiose von Handwerk und Landwirtschaft zu sehen. 64 PN: Z 121 ff 65 Zu diesem Prozeß vgl. den Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens dieses Kapitels.

Wandel vom Arbeitsort zum Wohnort

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und nachdem wir eine energieeffiziente Gemeinde sind auch, bestückt mit Photovoltaikanlagen und mit Werbeflächen. Und daß man dieses Zelt im Ortskern auch nützen könnte für Veranstaltungen im Ort.66 Dorf als Firma

Der Schwarzenberger Bürgermeister Armin Berchtold stellt das neue Selbstbild der Dörfer noch ausdrücklicher in den Kontext einer globalen Ökonomie, wenn er sich im Gmoundsblättle an die Dorfbewohner wendet, um die Umdeutung des Dorfes zu einer „Marke“ zu propagieren: Man muß kein Marketing Fachmann sein, um zu wissen, daß Schwarzenberg eine hervorragende Marke innerhalb der Dachmarke Bregenzerwald darstellt. Vom Antrag zum Welterbe bis zu unzähligen Werbefilmen, Werbefotos und Berichten zu Natur, Architektur und Kultur hat Schwarzenberg einen Namen, der ohne zu übertreiben einen weltweiten Ruf besitzt.67

Die Ökonomisierung des ländlichen Raums geht einher mit der Umdeutung von Dorf- und Landschaftsnamen zu Markennamen, die mittels verbaler Attribute wie im Biosphärenpark Großes Walsertal etwa touristische Nutzungen („Park“) anbieten. Die Verbildlichung und graphische Verdichtung dieser brands zu logos signalisiert Standortqualitäten für das Regionalmarketing auf der neuen globalen Plattform. Avenir Suisse: Im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft etabliert sich eine verstärkte Standortkonkurrenz. Regionen und grössere Agglomerationsräume konkurrieren international um die Gunst von Kapital und Humanressourcen.68 Konkurrenz zwischen Nachbardörfern

Auch Thals heutiges Existenzproblem ist wesentlich ein ökonomisches: Anreize sind zu schaffen, die seine Bevölkerung zum „Dableiben“ motivieren, Zuwanderung schaffen und möglichst auch Gewerbebetriebe anziehen.69 Den Dorfbewohnern ermöglicht ihre Beweglichkeit erstmals70 direkten Vergleich und damit, aus dem Sozialverhalten auszuscheren, das die traditionel66 PN: Z 142 ff Das Münchner Olympiastadiondach gilt dem Langenegger Gemeindevorstand als Prototyp des architektonischen „Branding“, an dem neben dem „Futuristischen“ auch das „Ökologische“ gesehen und geschätzt wird. Nach einem regionalen Bezug wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefragt, die unwillkürlich gewählte Formensprache ist internationalistisch. Zur Diskussion von internationalistischen bzw. nationalistischen Konnotationen deutscher Olympiabauten vgl. Prechter (2000) 67 Schwarzenberger Gemeindeblatt, Dez. 2008, S. 5 68 Eisinger, S. 155 69 „Thal braucht wirtschaftliche Anziehungskraft; aus der Erkenntnis, dass es nicht genügt, einmal erfolgreich gewesen zu sein, folgt, dass es zunächst gilt, die geschaffenen Einrichtungen zu stärken und in der Zukunft die Anziehungskraft für neue wirtschaftliche Aktivitäten zu verstärken. Das heißt nichts Geringeres als „Dorfmarketing“ zu betreiben, zum Beispiel nach dem Motto Dorf im Einzugsbereich des Rheintals empfiehlt sich als Platz zum Wohnen und für Dienstleister, die von der ausgezeichneten Lebensund Umgebungsqualität profitieren wollen. Dass

dafür zunächst noch Voraussetzungen, wie verfügbare Grundflächen in raumplanerisch vertretbarer Lage, geschaffen werden müssen, ist klar.“ Fraktionsvorsteher Dipl. Ing. Walter Vögel: Thal im neuen Jahrzehnt; Wirthensohn: Jb. 1999–2000 Thals Nachbargemeinde Langenegg hat einen Zulieferer für die Automobilindustrie gewonnen, der Kurbelwellen und Pleuelstangen produziert und der größte Arbeitgeber im Dorf ist, wie Gemeindesekretär Mario Nußbaumer betont: „Wir hatten vor fünf, sechs, sieben Jahren 70 Arbeitsplätze, und jetzt haben wir sicher um die 200. Die Firma (...) hat allein 45 Arbeitsplätze.“ (MN: Z 57 ff) Der Fall zeigt, daß der ländliche Raum als Wirtschaftsraum für die gegenwärtig typische dezentralisierte Produktionsstrategie der Großindustrie attraktiv geworden ist. Die nächste Automobilfabrik dürfte im Stuttgarter Raum des Nachbarlandes Deutschland, ca. 200 km von Langenegg entfernt, sein. 70 Wirthensohns „Lebensbilder“ sprechen wiederholt von der räumlichen Unbeweglichkeit derjenigen Generation Thals, die noch primär von der Landwirtschaft lebte. 71 EW 1: Z 1128 f

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le Bindung an den Geburtsort vorgibt. Alle im Rahmen des Forschungsprojekts befragten Bauherren von Einfamilienhäusern jedoch haben noch am Geburtsort oder auf Grundstücken aus dem Familienbesitz gebaut. Mit der aktuellen, ökonomischen Restrukturierung der Dörfer treten diese mit der Ausweisung frei verkäuflicher Bauplätze als neuem „Argument“ zueinander in Konkurrenz, eine Entwicklung, die auf Landesebene seit den 1970er Jahren neue Planungsinstrumente entstehen ließ und den Gemeinden die Raumordnungsstelle als Planungsinstanz übergeordnet hat. Wir werden im folgenden Abschnitt näher darauf eingehen. Zu den konkurrierenden Gemeinden gehört im Fall Thals bereits die eigene Muttergemeinde Sulzberg.71 Zum Angebot an Bauplätzen tritt in dieser Konkurrenz um Bauwerber der Schlüsselbegriff „Atmosphäre“ als Gradmesser für Attraktivität, ein neuer Maßstab, der in dieser Konkurrenz für einen ökonomischen Wert steht. Das Stichwort „Nahversorgung“72 faßt darüber hinaus die infrastrukturellen Maßnahmen zusammen, die Thals neue Identität als attraktiver Wohn- und Wirtschaftsort bestimmen. In diesem Wandel kann vor allem derjenige unter die neuen dörflichen stake holders aufsteigen, der einen spezifischen Beitrag zur neuen Identität des Dorfes zu leisten imstande ist.73 Die Diskussionen innerhalb des Selbsthilfevereins um die Belegung von Thals Gemeinschaftshaus und das jahrelange Ringen um die funktionelle Ausrichtung des Dorfsaals spiegeln den Vorgang der sozialen Neuplazierung der dörflichen Anspruchsgruppen, einerseits als ortsräumliche Anordnung von Institutionen, andererseits als Kräftemessen um Einflußsphären, um Gestaltungsmacht im „neuen Dorf“. Wolfgang Schmidinger delegiert die Aufrechterhaltung der „Atmosphäre“, die bis hierher als neuer Gradmesser für Attraktivität und damit als ökonomischer Wert identifiziert wurde, an die Architektenschaft und leitet die Dringlichkeit dieser Aufgabe aus der „Schädigung“ ab, die der ländliche Raum durch seine fortgesetzte Bebauung mit Wohnhäusern erfährt. „Also da sind, behaupte ich, neun von zehn Weilern (...) geschädigt worden.“74 Schmidinger führt dazu „Ensemble“ als neuen Begriff in unser Gespräch ein. Gegenüber den ortsräumlichen Kategorien, die traditionell die Orientierung der Dorfgemeinschaft geleitet und geprägt haben, also „Gemeinde“ und „Fraktion“ aus 72 Wirthensohns Jb. 2001–2002 trägt den Titel „Schwerpunkt Nahversorgung“ 73 Von der sozialen Neuplazierung des Thaler Musikvereins wird im Kontext des Dorfsaals noch die Rede sein. Als weiterer traditionsreicher Verein plaziert sich die Feuerwehr im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends mit einem architektonisch avancierten Neubau am (bzw. als) Dorfeingang. Zur Raiffeisenbank, die vom Kreditgeber an die Bauern im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft nun zum Nahversorger mutiert ist, vgl. Anm. 60. Als weiterer wichtiger Nahver-

sorger tritt der Einzelhandel in Erscheinung. Im Nachbarort Langenegg spielen Sozialdienstleister eine wichtige Rolle. Daß die Architektenschaft selbst als dörflicher stake holder auftritt, wurde bereits angesprochen und wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels nochmals thematisiert werden. Das Handwerk, als Regionalverbund „Werkraum Bregenzerwald“ organisiert, betreibt mit dem zukünftigen Zumthor-Bau in Andelsbuch als architektonischem Signal, das als wertschaffendes Zeichen globale Wirksamkeit zu entfalten verspricht, klassisches branding, vgl. Kap. Handwerk.

Atmosphäre

Nahversorgung

Ensembles schaffen

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dem verwaltungstechnischen und „Parzelle“ bzw. „Weiler“ aus dem soziofunktionellen Bereich, bildet „Ensemble“ eine Wahrnehmungskategorie, die ausschließlich die Form der Gebäude, das Material ihrer Außenhaut und ihre Stellung zueinander, also die Siedlungs-„Figur“, betrachtet und von allen übrigen, insbesondere den sozialen, Kategorien absieht. Indem Schmidinger den Architekten eine ihnen gemäße Aufgabe zuordnet und damit deren berufsspezifische Kompetenz beschreibt, kennzeichnet er gleichzeitig ein Spezialistentum mit charakteristischer déformation professionelle. Wir haben bereits festgestellt, daß die Ausstattung der Gemeinden mit Gestaltungsbeiräten in Vorarlberg österreichweit die höchste Dichte erreicht. Schmidingers Definition einer architektengerechten Aufgabe, nämlich der Arbeit an baulichen Ensembles, läßt eine langfristige „Umformung“ der baulichen Kulturlandschaft, eine Ästhetisierung im kulturlandschaftlichen Maßstab erwarten. Eine solche ist in Vorarlberg bereits durch baurechtliche Instrumente legalisiert und institutionalisiert. Die Feststellung, daß Architektur Gesellschaft bildet, also die soziale Praxis formt, erhält aus dieser Perspektive eine Dimension, die eine Umformung der Beziehung des einzelnen Menschen zu seinen Sinnen fordert. Sie beschreibt eine Umschichtung der sozialen Hierarchie der menschlichen Sinne von einer taktilen zur visuellen Orientierung, einer Abwertung der Hand zugunsten einer Aufwertung des Auges.75 Kritik an der Architektur der Solitäre

Schmidingers „Auftrag“ an die Architekten, Ensembles zu entwerfen, impliziert gleichzeitig eine Kritik an der Praxis der Architekten, in der mediengerechten Selbstvermarktung die eigene Leistung vor allem als Schaffung formal autonomer Einzelobjekte darzustellen.76 Seine Aufgabenstellung definiert er dabei als rekonstruktive: Das verlorene Ensemble soll wiedergewonnen werden. Neben den Ortskernen „wie beispielsweise Krumbach“77, richtet Schmidinger unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die ästhetische Schädigung der Weiler, deren Wurzel er im „Verwirklichungsdrang“ einzelner Bauherren identifiziert. Wenn die jetzt sagen, wir bauen dieses Haus und wir streichen das einfach rot, (...) den Verwirklichungs- äh -drang, sich, seine Hütte, der Umwelt aufzudrängen, dann kannst auch nichts machen.78

Mit dem „roten Haus“ kennzeichnet Schmidinger einen prototypischen Fall als Negativbeispiel, den wir im Kapitel Haus als Bestandteil einer archi74 75 76 77 78 79 ten 80

WS 1: Z 981 ff Vgl. Crary, S. 14 f WS 1: Z 1055 ff Ebd. WS 1: Z 993 ff Schmidinger bezieht sich hier auf einen konkreFall im Gemeindegebiet Schwarzenberg. WS 1: Z 869

81 Schmidinger verknüpft hier die Größe der mit dem Hausbau getätigten Investition mit einem daraus abgeleiteten Recht zur Selbstdarstellung. 82 WS 1: Z 1035 ff 83 Ebd. 84 Solche Kriterien sind in kommunalen Gestaltungsrichtlinien oder Ortsbildsatzungen gefaßt. Vgl. die Wiedergabe der „Planungsempfehlungen“ der

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tektonischen Strategie beobachtet und festgestellt haben, daß eben jener rote Fassadenanstrich zwanzig Jahre zuvor architektonisch legitimiertes Mittel zur Durchsetzung eines Gestaltungsanspruchs für eine neue gesellschaftliche Schicht im Dorf gewesen ist. Sein Vorschlag eines Rollenwechsels der Architekten zielt darauf ab, solch individualistische Exponierungen sowohl auf Architekten- als auch auf auf Bauherrenseite, ebenso wie ensembleschädigende Baulandausweisungen seitens der Gemeinden79, künftig zu unterbinden. Solange die wünschenswerte „Bezugnahme“ und „Sensibilität“80 bei den Bauherren nicht hergestellt ist81, schlägt er Interventionen seitens der Gemeinden vor. Fachleute, Architekten, sollten im voraus schützenswerte Ensembles benennen und anhand von Qualitätsvergleichen die Gemeinden, speziell deren Bauausschuß, sensibilisieren.82 In sensiblen Lagen sollte mit dem Verkauf des Bauplatzes darauf geachtet werden, „was man da hinstellen wird“.83 Zwei entscheidende Konsequenzen erwachsen aus seinem Vorschlag: eine Änderung der gemeindlichen Genehmigungspraxis durch Erweiterung des Anforderungskatalogs um ästhetische Faktoren, etwa siedlungseinheitlicher Formensprache und Materialwahl 84, und der Rollenwechsel der Architeken vom „Anwalt“85 des Bauherrn zum Berater der Gemeinde. Dieser Rollenwechsel gehört, ebenso wie die Umstände seines Zustandekommens, zu den zentralen Befunden der vorliegenen Studie, denn es handelt sich um eine gesellschaftliche Neusetzung der Architektenrolle. Die „Selbstkonstruktion“ von Gesellschaft86 wird in diesem Vorgang ebenso sichtbar, wie sich Architektur als gesellschaftliche Praxis zeigt. Mittels Architektur wird die Beziehung der Mitglieder sozialer Gemeinschaften zueinander, der Grad der dem Einzelnen zukommenden Exposition regelbar, jedem Mitglied der dörflichen Gemeinschaft kann ein ihm „gebührender“ Platz zugewiesen werden. Architektur wird in dieser gesellschaftlichen Funktion einer Rechtsordnung vergleichbar. Die Gestaltungsbeiräte, Thema des folgenden Abschnitts, sind eine Erscheinungsform dieser sozialen Neupositionierung von Architektur. Eine Rückkehr nach Thal bietet uns mit der Rolle, die Gerhard Gruber, durch den Selbsthilfeverein eingesetzt, gegenüber der Dorfgemeinschaft einnimmt, einen im Vergleich zu einem institutionalisierten Gestaltungsbeirat weit Gemeinde Langenegg in Anm. 58 des folgenden Abschnitts dieses Kapitels. 85 Der Begriff „Anwalt“ beschreibt lediglich die Situation der Interessensvertretung des Bauherrn, die durch dessen Auftragserteilung an den Architekten geschaffen wird. Das Rollenverständnis des Anwalts trifft die Selbsteinschätzung des Architektenstandes insofern

nur ungenau, als dem „vollständigen Verschwinden der Persönlichkeit des Anwalts hinter den Interessen des Mandanten“ (Mehring: Schmitt) beim Architekten die seiner Rolle ausdrücklich eingeschriebene „Künstlerpersönlichkeit“ entgegensteht. 86 Ein Gesellschaftsmodell, das Delitz als Grundlage einer „Architektursoziologie“ vorschlägt und sich dabei auf Castoriadis beruft.

Kritik am Verwirklichungsdrang einzelner Bauherren

Ensembleschutz

Architektur regelt individuelle Expositionen

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Beispiel Bayern: Gestaltung durch Bebauungspläne

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informeller angelegten Fall. Um seine Rolle zu beschreiben, grenzt Gruber zunächst das Potential, das Thal bietet, von solchen Situationen ab, die sich durch besonders enge individuelle Spielräume auszeichnen. Im benachbarten deutschen Bundesland Bayern sind Bebauungspläne die Voraussetzung jedes Bauens außerhalb der „im Zusammenhang bebauten“ Ortskerne.87 Solche Bauleitpläne präfigurieren präzise die Stellung des Hauses auf dem Grundstück, seine Außenkontur, zumeist auch die Materialien seiner Fassade sowie Form und Neigung der Dachflächen und verhindern damit ausdrücklich eine gesellschaftliche Aneignung von Architektur als Medium sozialer Positionierung. „Da gibts Pläne, und fertig, und dann geht nix mehr. Und es ist völlig klar, was jeder darf. Und das ist hier nicht so.“88 Die Frage, ob Gestaltungsrichtlinien für das private Bauen in Thal ein wünschenswertes Ergebnis seiner Zusammenarbeit mit dem Selbsthilfeverein wären, verneint Gruber als „nicht realistisch“. Also, ich bewege mich jetzt in Thal in einem Kreis von fünfzehn bis zwanzig Leuten. Und von denen sind vielleicht die Hälfte so weit, daß so etwas möglich wäre. Aber die anderen 320 oder 330 Leute, (...) die haben gar nichts am Hut mit solchen Überlegungen. (...) Eigentlich gehts drum, daß die Leute dort leben und gute Lebensbedingungen haben.89

Beispiel Salzburg: Museales Gesamtbild

Das Beispiel eines musealen Ensembles, wie es die Salzburger Altstadt bietet, dient ihm zur Abgrenzung der Thaler Situation von einem solchen „Wahnsinnszwang“90, wie ihn strenge Gestaltungsauflagen zur Sicherung eines geschlossenen Gesamtbildes dem Einzelnen auferlegen. Grubers Verhältnis zu „dem Kontext vom Bauen da draußen“91, das er, von seinem Büro in der Stadt Bregenz aus gesprochen, durch die Wendung „da draußen“ implizit als außerarchitektonisches Milieu kennzeichnet, ist für ihn ein Dienstleistungverhältnis zum Selbsthilfeverein, innerhalb dessen er gestalterische Einzelleistungen liefert. Und alles, was gut ist, holt sich auch gute Dienstleister. Es gibt im Land fünfzig Architekten, die das mindestens so gut können wie ich. Aber sie haben sich einen von den fünfzig geholt. Und das ist ein Zeichen dafür, daß sie richtig unterwegs sind. Und wenn ihre Idee nicht gut wäre, dann hätten sie auch keinen guten Architekten. Das bedingt sich einfach.92

Gestalterische Dienstleistung

Sowohl für den Umstand, daß der Selbsthilfeverein sich solche externe Dienstleister holt, als auch für deren Qualität gelte weiterhin die Meßlatte, die Pfarrer Sinz gelegt habe, sagt Gruber. Das, was viele Dorfbewohner damals als überzogen empfunden haben dürften, nämlich einen Architekten aus Basel nach Thal zu holen, sei auch im Rahmen der dörflichen Neukonstitution als Selbsthilfeverein wieder die Maßgabe für den eigenen Anspruch. „Also groß denken. Es muß in diesem gleichen Qualitätsanspruch eigentlich weitergehen.“93 Für die Rolle der Architektur heißt das, Gruber zufolge, daß sie geholt werden muß, daß sie auf die soziale „Idee“ ihres Auftraggebers angewiesen ist, daß sie aber unter diesen Voraussetzungen fähig ist, einem „großen Denken“ Gestalt zu geben.

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Neben diesem Fall, der Gemeinschaftsbauten in den Blick nimmt, sieht Gruber wie Schmidinger eine wichtige Aufgabe darin, Bewußtsein dafür zu bilden, daß die Gestalt des privaten Bauens eine Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit impliziert.

Der sozialen Idee Gestalt geben

Aber das ist ja für einen Großteil der Bevölkerung überhaupt nicht nachvollziehbar. Daß sie, wenn sie ein Haus bauen, daß das irgendwie für den Nachbarn eine Bewandtnis hat, wie sein Haus ausschaut.94

In einer solchen Bewußtseinsbildung, wie schon in Schmidingers Begriff „Ensemble“, ist also die Etablierung eines neuen sozialen Ordnungsmediums im privaten Wohnhausbau angesprochen, das auf einem visuell wahrnehmbaren Ausdruck beruht. Erst mit einem solchen sozial verankerten Bewußtsein wird Architektur zu einer der Qualitäten, die, in Grubers Diktion, eine gute „Lebensgrundlage“95 sichern. Die in Vorarlberg häufig genannte Verknüpfung von „Lebensqualität“ und Architekturleistung96 betrifft im Fall des Dorfes Thal Bautenkategorien mit jeweils unterschiedlicher individueller Bezogenheit. Die ästhetische Qualität des „Dorfensembles“ ist vor allem als intellektuelles Vergnügen einzelner erlebbar. Diesem steht das gemeinschaftliche Lebensgefühl gegenüber, das entstanden ist, seit die Thaler wieder Bauten haben, mit denen sie sich und ihr Dorf identifizieren können: Gasthaus, Schule, Gemeinschaftshaus. Diese bilden tatsächlich einen kollektiven Besitz und repräsentieren damit ein wiedererstarktes, selbstbewußtes In-der-Welt-Stehen als Gemeinschaft. Zwischen diesen beiden Kategorien ist zu differenzieren, wenn festgestellt werden soll, inwiefern Lebensqualität und Architektur zusammenhängen. Um die erreichbare gesellschaftliche „Durchdringung“ zu bestimmen, unterscheidet Gruber unterschiedliche Kategorien von Auftraggebern.

„Lebensqualität“

Mit der Gemeinde Sulzberg, oder mit dem Selbsthilfeverein als Auftraggeber (umzugehen), ist also relativ einfach, würd ich sagen. Zäh ist einfach das Dorf insgesamt, also das anonyme Bauen sozusagen. Also das durchdringt man nicht.97

Der von Gruber so bezeichnete „Kontext vom Bauen da draußen“98 beschreibt die Haltung einer Gesellschaft, die gewohnt ist, Architektur als Qualität öffentlicher Bauten zu sehen und demgegenüber die Gestaltung des Wohnens als Privatangelegenheit zu betrachten. Wirthensohn charakterisiert 87 Das Bauplanungsrecht (auch: Städtebaurecht) in Deutschland ist Bundesrecht. Flächennutzungspläne ebenso wie Bebauungspläne sind durch das Baugesetzbuch (BauGB) geregelt. Die Baunutzungsverordnung (BauNVO) bildet die Rechtsgrundlage für die Festsetzung bestimmter Nutzungen auf den beplanten Flächen. Der Bebauungsplan, aufgestellt durch die Gemeinde, erhält den Status einer rechtsverbindlichen Satzung. Die jeweiligen Landesbauordnungen bilden dabei die rechtliche Grundlage für weitergehende gestalterische Vorschriften (Festsetzungen) in den Bebauungsplänen.

88 GG: Z 681 ff 89 GG: Z 790 ff 90 Ebd. 91 GG: Z 687 f 92 GG: Z 899 ff 93 GG: Z 910 ff 94 GG: Z 706 ff 95 GG: Z 896 96 An exponierter Stelle etwa bei Wolfgang Ritsch: Ganzheitliches Bauen; in: Kapfinger (2003), S. 4 97 GG: Z 736 ff 98 GG: Z 687 f

Visuelle Sensibilisierung

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diese Gesellschaft im Rahmen seiner „Lebensbilder“ jüngst verstorbener Thaler99 damit, daß die soziale Leistungsfähigkeit des Einzelnen unabhängig von dessen Stand existiert. Eigenes Bauen kommt in diesen Lebensbildern lediglich als Ausnahmefall vor. Durch die traditionelle Verknüpfung von Haus und landwirtschaftlichem Grund gab es für solche, die sich neu in Thal ansiedelten, nur die Möglichkeit, freigewordene Bauernhöfe zu kaufen. Es ist anzunehmen, daß sich in einer solchen Gesellschaft der soziale Rang weit mehr in Größe und Ertrag des eigenen Bodens als in Größe und Gestalt des Hauses ausdrückt. Den Weg zu einer visuellen Sensibilisierung beschreibt Gruber als utopisches Ziel, nämlich als permanente Erziehungsleistung. „Und das ist, im theoretischen Fall, nur denkbar, wenn man ständig dran ist, wenn die Leute ständig damit konfrontiert werden, wenn sie das einfach als Lebensteil miterleben.“100 Offensichtlich, und das bestätigt auch Schmidinger101, ist „Seherfahrung“ die Voraussetzung für die geforderte visuelle Orientierungs- und Klassifizierungsfähigkeit, ein Kriterium, das die dörfliche Gesellschaft zerfallen läßt in solche, die sie besitzen, und die anderen, die sie nicht besitzen. Nicht zufällig ist es Ernst Wirthensohn, der „draußen“ gewesen ist, dort die Seherfahrung gesammelt hat und nach Thal zurückgekehrt ist102, den Gruber als wichtigsten lokalen Geistesverwandten nennt. Der Ernst Wirthensohn, der das wirklich versteht und interessiert ist an Gestaltung, der nimmt es sicher als Architektur wahr. Und der nimmt es auch als Architekturleistung wahr, daß es in Thal jetzt wieder eine bessere Lebensqualität gibt. Und der schätzt es auch sehr, dort zu leben. Aber ob das jetzt ein Durchschnittsthaler realisiert, also da bin ich mir nicht sicher.103 Neue Darstellung sozialer Hierarchien im postagrarischen Dorf

Grubers Ziel der Bewußtseinsbildung ist, die soziale Hierarchie der neuen, postagrarischen dörflichen Gesellschaft visuell darzustellen. „Die Frage nach der Angemessenheit, wo die Leute kein Gefühl haben dafür“ ist, die Gestalt der Wohnhäuser gemäß dem gesellschaftlichen Stand einzusetzen. „Das sind die schlimmsten Beispiele, die mir am meisten wehtun, wenn ich das Gefühl habe, das ist bei weitem nicht mehr angemessen, bei weitem überzogen, für die Inhalte, für dem seinen sozialen Stand, oder was auch immer.“104 Dieses Programm ist ein von außen hereingetragenes. Architektur als Medium des Sozialen einzuschränken auf die Gestalt und diese als moralische Kategorie zu nehmen, nämlich als äußeres Zeichen für „Angemessenheit“ und „gezügelte“ Individualität, ist ein intellektuelles Erziehungsprogramm, und als solches identifiziert Gruber es auch. 99 In fast allen der mittlerweile (2010) siebzehn Jahrgänge des Jahresberichts Selbsthilfeverein Dorfgemeinschaft Thal hat Ernst Wirthensohn Lebensbilder kürzlich verstorbener Thaler veröffentlicht. 100 GG: Z 703 ff 101 Schmidinger berichtet von Bildungsreisen mit dem Architekten Helmut Galler. (WS 3: Z 353 ff) Den Begriff „Schule des Sehens“ verwendet der

niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll, um die Zielsetzung des Dorferneuerungspreises seines Bundeslandes zu charakterisieren. Vgl. Anm. 99 im letzten Abschnitt dieses Kapitels. 102 Vgl. Wirthensohn Jb. 2002–2003: V. Neue Plätze für Thal 103 GG: Z 604 ff 104 GG: Z 690 ff

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Und es passieren auch immer wieder Dinge dann so im Bau-, was sie so bauen, wenn ich halt nicht dabei bin, die sind ganz furchtbar. Und zwischendurch denkt man sich, jetzt haben sie was verstanden und es ist fein mit denen zu arbeiten und dann machen sie wieder selber irgend etwas, also man kann sie (...) nicht alleine lassen, was Gestaltung betrifft.105

Gruber setzt auf seine eigene Sozialisation als Vertrauter der Dorfgemeinschaft und findet dort „ganz schöne Ansätze“, wo er nach gestalterischen Ratschlägen für alltägliche bauliche Ergänzungen gefragt wird: „Der Kapellmeister hat mich mal angerufen, er müßt bei seinem Haus einen Unterstellplatz fürs Auto machen, ob ich nicht einmal vorbeikommen könnte. Dann redet man mal eine halbe Stunde. Das kommt vor.“106 Gleichzeitig läßt er keinen Zweifel daran aufkommen, daß solche Situationen als Ausnahmen zu werten sind. Auch der zehnjährige Prozeß habe nicht dazu geführt, daß mehr als eine Handvoll Thaler „viel mitgekriegt haben, was Gestaltung betrifft“107. Die Präsenz von Architektur kennzeichnet Gruber nach wie vor als Einzelerscheinung im ländlichen Raum, den Versuch ihrer Vermehrung als permanentes soziales Konfliktfeld. Gerade diesem Provozieren permanenter sozialer Auseinandersetzung, die aus dem Streben nach Durchdringung sämtlicher ländlicher Bauaufgaben mit Architektur als umfassender Ästhetisierung entspringt, muß sozialer Sinn unterstellt werden, etwa, im gesellschaftlichen Konflikt gleichzeitig ein Verhandlungsfeld zu schaffen, das die Notwendigkeit zur Modernisierung dort plaziert, wo sie jeden Einzelnen erreicht: im Wohnen. Ebendort konfrontiert sie die „eingefleischten“ Gewohnheiten mit neuen Umgebungen und stellt so das inkorporierte Wissen in Frage, das in der dörflichen Gesellschaft noch von der agrarischen Lebensform geprägt ist. Das Familienleben findet nun in neuartigen Raumkonstellationen, das nachbarliche Zusammenleben innerhalb neuer Gebäudefigurationen statt. Die sinnliche Orientierung innerhalb der materiellen Umwelt setzt stärker als bisher auf das Auge, während die ehemals vor allem „handgreifliche“ Selbstbehauptung immer weniger Spielräume findet. Für die eigene Repräsentation schließlich ist eine neue Bildsprache zu erlernen.108 Architektur im Dorf tritt uns damit als Vermittlerin neuer Sinnsysteme entgegen, Sinnsysteme, zu denen bereits „dörfliche Lebensform“ selbst gehört, seit diese durch neue dörfliche Eliten eine Umdeutung erfahren hat. In den Forschungsgesprächen fällt auf, daß das permanente Zeigen und Führen, das Bewohnern, Nutzern und Bauherren durch das internationale 105 GG: Z 611 ff 106 GG: Z 627 ff 107 GG: Z 639 ff 108 „Natürlich gabs auch manche Villen, (...) aber oft warens so die klassischen (...) Baumeisterhäuser.“ (WS 2: Z 887 ff) Zu Schmidingers gewohnter Orientierung in der baulichen Umgebung gehört, daß innerhalb der Mas-

se der „Baumeisterhäuser“, gemauerter, vom Baumeister geplanter Häuser, einzelne „Villen“, von Architekten entworfene Häuser, auftreten. Die architektonisch geprägte, totale Ästhetisierung hebt diese traditionelle soziale Unterscheidung auf und verallgemeinert die Kriterien der akademischen Architektur für die individuelle Repräsentation aller gesellschaftlichen Schichten.

Architektur schafft Verhandlungsräume für gesellschaftliche Modernisierung

Vermittlung neuer Sinnsysteme

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Interesse, das die Vorarlberger Szene genießt, abverlangt wird, auch deren Blick auf das Eigene evolutionär verändert, daß das Eigene dadurch zum Demonstrativen und Exemplarischen wird. Den Effekt, im Außen ein neues Forum zu gewinnen, das im nunmehr notwendigen Dorfmarketing angesprochen werden kann, schreibt Wirthensohn zuallererst der Architektur, als ebenfalls von außen geholter Qualität, zu. Und ein Architekt wird zuerst einmal beargwöhnt. Weil er von außen kommt. Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen. Bis (...) dann wieder Leute von außen kommen und sagen, „was habt ihr Tolles“. Erst dann kommt das Aha-Erlebnis, „holla, der hat uns geholfen“.109 Ein neues Forum für das Dorf, neue Bewertungsmaßstäbe für die Kulturlandschaft

Zur Einflußnahme „von außen“, die mit der Architektenbeauftragung einhergeht, tritt die Bestätigung von außen. Architektur stellt mittels der angezogenen „Besucher“ ihre Wirksamkeit, dörfliche Belange nach außen zu kommunizieren, unter Beweis. Daß es sich in diesem Vorgang um die Etablierung fundamental neuer Bewertungs- und räumlicher Orientierungsmaßstäbe handelt, wird am Bedeutungswandel des Begriffs „Kulturlandschaft“ deutlich. „Kultur“ meint in einer agrarischen Gesellschaft vor allem die Bearbeitung des Bodens und die Nutzung seiner Fruchtbarkeit. Demgegenüber erscheint die neue, ausschließlich auf Landschaftsbild und Baugestalt gerichtete Bedeutung zunächst voller Fremdheit für die ländliche Bevölkerung. Dementsprechend didaktisch angelegt sind die Maßnahmen, die die Umdeutung begleiten. Der Langenegger Gemeindesekretär Mario Nußbaumer stellt eine Broschüre vor, die an alle Bewohner seines Dorfes verteilt worden ist.110 Und hier haben wir im Jahr 2000 von einem Diplomingenieur die Kulturlandschaften von Langenegg dokumentieren lassen. (...) Da ging es darum, zu schauen, was vom Alten noch da ist. Man hat das einige Jahr früher schon gemacht und jetzt wollte man schauen, was noch da ist und was in der Zwischenzeit alles verschwunden ist. Man hat das gemacht, um die Bevölkerung zu sensibilisieren, damit das Alte nicht einfach alles abgerissen wird und neu gebaut wird. Daß sie einfach sehen, was ein Fachmann dazu sagt, was erhaltenswert und schützenswert ist. Was gut gemacht wurde in den letzten Jahren oder welche Bauten oder Eingriffe eher schlechter waren, und das eben auch in der Bevölkerung ein wenig zu vertiefen.111

Die Broschüre Kulturlandschaft Gemeinde Langenegg112 vermittelt der Dorfbevölkerung, was von nun an „Kulturlandschaft“ heißen soll. Der Bogen der Dokumentation spannt sich von Naturdenkmälern und Landschaftsformen bis hin zu den Bauten, einschließlich neuerer Architektur.113 Den breitesten Raum nimmt die Dokumentation der Bauernhöfe ein, denen damit der wichtigste Anteil am Begriff „Kulturlandschaft“ zugesprochen wird, eine Kon109 EW 1: Z 487 ff 110 Wirthensohn berichtet in seinem Jahresbericht 2008, daß auch im Gemeindegebiet Sulzberg eine solche Erhebung durchgeführt worden sei, in der Thal besondere Berücksichtigung gefunden habe: VI. Thal in der Sicht des Kulturhistorikers: Johann Peers „Dokumentation der Kulturlandschaft Sulzberg“ 111 MN: Z 203 ff

112 Vgl. Peer (2002) 113 So ist etwa Haus Eugster nun unter den „Beispiele[n] von Wohnbauten aus jüngster Zeit, die sich in Materialwahl und Maßstäblichkeit gut in die Landschaft und Baukultur einfügen“ vorgestellt, was gegenüber dem gemeindlichen Abbruchbescheid von 1984 / 85 (vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus) eine vollständig gewandelte Werteumgebung dokumentiert.

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notation, die sich durch die parallel laufende Bewerbung des Bregenzerwaldes um den Weltkulturerbestatus114 als konkrete Inwertsetzung darstellt. Die didaktische Absicht der Dokumentation ist unterstrichen, indem auch Mißgriffe bei Bautenrenovierungen als solche benannt sind. Die Dorfbevölkerung wird dahingehend sensibilisiert, daß die Kulturlandschaft durch Abbrüche von Bauernhäusern an Qualität verliert und Nachfolgebauten qualitätloser sind als jene. Der akademisch als Dipl. Ing. ausgewiesene Fachmann ist die vermittelnde Persönlichkeit, die Autorität, deren Urteil man sich unterwirft. Sein Blickwinkel trägt zur Konservierung der agrarischen Bauten und der ebenfalls agrarisch geformten Vegetation des Bregenzerwaldes als bildhafter „Folie“ bei. Der Vorgang erhält seinen Sinn aus einer räumlichen Neuordnung des Landes. Für die postagrarische Gesellschaft Vorarlbergs wird der Bregenzerwald erst durch diese Folie zur attraktiven „Wohnlandschaft“. Diese Neugliederung Vorarlbergs in „Funktionslandschaften“ verlangt seinen Bewohnern eine neue räumliche Orientierung ab. Noch ordnet Ernst Wirthensohn die Beauftragung von Architekten, als habituelles Verhalten verstanden, das eine lokale Gesellschaft kennzeichnet, dem „Rheintal“ und „vorstädtischen Bereich“ zu. „Da nimmt man den Architekten, weils schick ist, oder?“115 Doch der Bürgermeister Langeneggs, Peter Nußbaumer, vergleicht seine ortsplanerischen Maßnahmen bereits mit diesem „vorstädtischen Bereich“, wenn er das architektonisch aufgewertete Ortszentrum von Lochau, einer Vorortgemeinde der Landeshauptstadt Bregenz, als präsenten Vergleich heranzieht. „In dieser Art, wie in Lochau, aber wir haben nicht soviel Platz wie in Lochau, aber so ähnlich.“116 In der Wahrnehmung Nußbaumers hat Architektur bereits ihre Exklusivität als „städtische“ Qualität abgelegt. Architektonische Referenzbauten und architektonisch geprägte Ortsräume sind für ihn etablierte Vergleichsmedien117, an denen der eigene Bedarf relativiert, bauliche und ortsräumliche Situationen landesweit verglichen und die Tauglichkeit von Lösungen bewertet werden kann. Architektur als „Vergleichsmedium“ eines Entwicklungszustandes wahrzunehmen, stellt einen Ist-Zustand in den Fokus der Wahrnehmung und schreibt Architektur damit die passive Rolle eines baulichen „Bestandes“ zu. Wir haben bis hierher vor allem untersucht, wie dieser Zustand entstanden ist, besser: geschaffen wurde. Indem Gesellschaft ein dynamisches, sich permanent selbst konstituierendes Gefüge ist118, erscheint es legitim, zu fragen, 114 Die Bewerbung ist mittlerweile abgebrochen. Sie setzte vor allem auf die Darstellung einer intakten Dreistufenbewirtschaftung, also auf einen agrarischen Begriff von „Kultur“, flankiert durch ein „intaktes“ Landschaftsbild. Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz. 115 EW 1: Z 849 ff

116 PN: Z 235 ff 117 So auch für Schmidinger, der Bauten durch Verknüpfung mit dem Namen des entwerfenden Architekten kennzeichnet, um dörfliche Raumsituationen zu beschreiben. (WS 2: Z 197 ff) 118 Vgl. Anm. 86 119 HK: Z 816 ff

Funktionslandschaften

Architektur als Referenzmedium

Welche Ordnungen?

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wohin die gesellschaftliche Entwicklung deutet, innerhalb der Architektur nunmehr als gültiger Bewertungsmaßstab, zumindest auf der Verwaltungsebene der Gemeinden, akzeptiert und etabliert ist. In anderen Worten: Welche Ordnungen und Werte dieses Medium mit sich bringt und aktiv in den gesellschaftlichen Konstitutionsprozeß einspeist.

Ordnung schaffen ist gestaltbildend

„Toleranz“

Helmut Kuess gehört zu denjenigen Architekten, die Mitte der 1980er Jahre die ersten Gestaltungsbeiräte in Vorarlberger Gemeinden begründet haben. Seine Darstellung dieser Institutionsgeschichte ist die Grundlage des folgenden, letzten Abschnitts dieses Kapitels. Zunächst ist vor allem sein Statement zu den Ordnungen von Interesse, mit dem er meine Feststellung beantwortet hat, das im deutschen Baugesetz verankerte Prinzip der verpflichtenden Bebauungspläne führe zu schematischen „Ordnungen“, etwa siedlungseinheitlichen Gebäudeproportionen, Dachformen und Dachneigungen. „Das ist die niedrigste Stufe des Ordnungsbegriffs, glaub ich.“119 Kuess verdeutlicht, daß die Praxis, mittels derer das Bauen geordnet wird, einen wesentlichen Einfluß auf das Ergebnis ausübt, daß also die Gestalt der entstehenden Ordnung eine Funktion ihrer erzeugenden Praxis ist. Neben der Formulierung von Gesetzen tritt hier ihre Umsetzung in der Bauverwaltung als ordnungsstiftende Kraft in Erscheinung. „Das hat man bei uns schon früh so gehandhabt, daß (...) einfach auch diese Gegensätzlichkeiten eine Qualität ausmachen.“120 Indem im Gespräch mit Kuess die deutsche bzw. bayerische mit der Vorarlberger Bauordnungspraxis verglichen wird, tritt die Tendenz zur Vereinheitlichung auf der einen, eine Akzeptanz von Gegensätzlichem als Ordnungsprinzip der anderen Seite, Homogenität gegenüber Heterogenität, vor unser Auge.121 Mit der Entscheidung zugunsten solcher Idealgestalten von Ordnung geht immer auch eine Entscheidung zur Praxis ihrer Erzeugung einher. Wir erinnern an Grubers Charakterisierung dieser Praxis im deutschen Baurecht. „Da gibts Pläne, und fertig, (...) und es ist völlig klar, was jeder darf.“122 120 Ebd. 121 Zur Entstehung dieser Gegensätzlichkeit mögen Ordungstraditionen eine Rolle spielen, sowohl Erfahrungen mit Ordnung als auch Ideale von Ordnung. Natürlich treten auf der deutschen Seite Stichworte vom „Deutschen Volkskörper“ und von der „Reinheit“ desselben ins Bewußtsein, also eine Vorbestimmung des Begriffs „Ordnung“ als etwas Ungemischtem, deren fatalen Konsequenzen, einem praktizierten Rassismus, die Besatzungsmächte, vor allem die amerikanische, nach dem Krieg einen Föderalismus, der Kulturpolitik als Ländersache verankert hat, als „Kur“ verordnet haben. Achleitners Formulierung „Alldeutsches Biedermeier“ impliziert, daß ebendieser während des Nationalsozialismus deutschlandweit gepflegte Stil des staatlichen Siedlungsbaus einen antiregionalen Ord-

nungsbegriff ebenso verkörpert wie realisiert. (Achleitner [1980], S. 415) Demgegenüber steht in Vorarlberg einerseits die österreichische Donaumonarchie als Grunderfahrung eines heterogenen Vielvölkerstaates auf der einen und die Schweiz mit ihrer Kantons- und Gemeindesouveränität innerhalb der Eidgenossenschaft auf der anderen Seite, beides Ordnungstraditionen, die vom Belassen, wenn nicht Bestätigen der Einzelglieder eines staatlichen Gefüges in ihrer Eigengesetzlichkeit ausgehen. Die ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung bekennt sich, als (nieder-)österreichische Gründung, ausdrücklich zu „Vielfalt“ als „Wert an sich“. (Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa, III; vgl. auch den folgenden Abschnitt dieses Kapitels). 122 GG: Z 681 ff

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Sobald, wie Kuess für Vorarlberg feststellt, „Gegensätzlichkeiten eine Qualität ausmachen“123, ist gleichzeitig notwendig, eine Praxis zu etablieren, die diese Qualität zuläßt. Es ist eine Verhandlungspraxis, die die nachbarliche Auseinandersetzung mit behördlicher Moderation, die Bauverhandlung, als zentralem Element des Genehmigungsverfahrens institutionalisiert hat.124 Neben solchen Präfigurationen, die unterschiedlichen Praxen des verwaltungstechnischen Ordnungsschaffens innewohnen, fragt die vorliegende Studie vor allem nach den Eigengesetzlichkeiten des akademisch geprägten, professionalisierten „Architektenblicks“. Auf den Umstand, daß architektonische Ordnungen regionsspezifische Unterscheidungen herstellen, hat bereits der Abschnitt Architektur als Ordnung des Kapitels Architektur? hingewiesen. Neben dieser Verknüpfung von Geographie und Kultur durch die jeweilige Gesellschaft zu einem ortsfesten Begriff von „Heimat“125 ist ein zeitbezogener Effekt architektonischen Ordnungsschaffens festzustellen, eine Interpretation der Gegenwart durch die gewählte Gestalt der Bauten als vergangenheits- oder zukunftsbezogenem Moment. Architekt Hans Purin benennt am Beispiel der Nachbarschaft seines Pfarrhauses, eines Ensembles weiterer kirchlicher Bauten rund um die Bregenzer evangelische Kirche am Ölrain, Dachform und Fassade als Merkmale, die den Grad von Fortschrittlichkeit eines Bauwerks und damit eine Haltung der eigenen Zeit gegenüber signalisieren. Das „konservative“ Walmdach der Aussegnungskapelle des Friedhofs gegenüber dem „reinen Betonbau“, der Pfarrbüro und Mesnerwohnung beherbergt, gibt nicht das tatsächliche Baujahr an, sondern die Orientierung gegenwärtiger Architektur auf einer Zeitachse, ihre Vergangenheits- oder Zukunftsbezogenheit.126 Durch diese historische Interpretation der Gegenwart schafft Architektur in ihrer Baugestalt und den Atmosphären ihrer Bauten jeweils zeitgemäße Ordnungen.127 Das gesellschaftsbezogene Interesse der vorliegenden Studie legt die Frage nahe, wessen Ordnungen es sind, die Zeitgenössiche Architektur herstellt, und wessen „Entfaltung“ diese Ordnungen in ihrer konkreten Materialität, als Räume, begünstigen. Deutlich zu machen ist einmal mehr, daß Architektur gesellschaftliche Verhältnisse nicht einfach abbildet, sondern sie wesentlich mitgestaltet. Thal bietet uns mit der Auseinandersetzung um die 123 HK: Z 816 ff 124 Die Bauverhandlung als mündliche Verhandlung ist im Österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetz (1991) unter §§ 40–44 geregelt. 125 Die Konstruktion und Gestaltung des Kirchturms leitet Hans Purin aus der jeweils konfessionsspezifischen Praxis des Glockenläutens ab: „Man kann ja auch läuten, ohne daß man die Glocke bewegt, oder, wie die orthodoxen Griechen, die haben ein Seil unten und tun nur den Klöppel hin und her... beuteln.“ (HP: Z 754 ff)

126 Der Betonbau von C4 ist älter als Purins mit Mauerwerk ausgefachter Holzskelettbau. Innerhalb des klassisch-modernen Vokabulars bleibend, ist Purins späterer Bau also der konservativere, eher dem Regionalen zugeneigte. Indem er jedoch, auf ehemals römischem Stadtgrund stehend, den archaischen Bautyp des Atriumhauses aufgreift, demonstriert er gleichzeitig das Überzeitliche von Architektur. Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?

„Kultur“

„Tradition“

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Ausgestaltung seines Dorfsaales einen aktuellen Fall, der gleichzeitig Aufschluß über die „zeitgemäße“ Einordnung historischer dörflicher Bausubstanz in das neue Gesellschaftsmodell „Dorf“ gibt. Raumgestalt und Sozialverhalten

Kulturformen repräsentieren soziale Gruppen

Ernst Wirthensohn stellt bei seiner Dorfführung den Saal, der das Obergeschoß des Gasthauses einnimmt, als Raum dar, dessen Bestandteile seinen Benutzern konkrete Verhaltensweisen nahelegen. „Es gab die Bank ringsum, die man teilweise noch sieht. Das Sims oben ist zum Getränke hinstellen. Und sonst war nichts, kein Möbel, gar nichts.“128 Solche dinglichen Ausstattungselemente ergeben in Summe eine soziale Präfiguration. Indem sie den Raum in seiner sozialen Funktion konkretisieren, schließen sie gleichzeitig andere Funktionen aus: „Also, es war ein reiner Tanzsaal.“129 Architekt Gerhard Gruber schildert die Auseinandersetzung um die zukünftige Funktion des Dorfsaales, die auf der Ebene der Materialität eine Frage nach dessen „Form“ aufwirft, als Streit um Einflußsphären zwischen maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen des Dorfes. Der Vorstand vom Verein ist sich sehr klar, daß sie den Saal in der Kontur behalten wollen, auch mit der Oberfläche, (...) und jetzt geht es einfach noch darum, mit der Musik halt, die haben sehr viele Mitglieder, von den 350 Einwohnern haben sie über dreißig Mitglieder. Und die sind ein richtig großes Gewicht. Und da muß man eben jetzt sehr lang reden und tun, bis das geht, daß man es anders macht, als die es sich eigentlich wünschen. (...) Die Musik, die würde dort einfach halt Konzerte machen. Und der Saal sollte aber meiner Meinung nach mehr sein, als etwas für die Blasmusik. Und wenn man das akustisch sehr gut macht, dann eignet er sich nicht mehr für die anderen Nutzungen. (...) Das Volumen ist dann kein angenehmes mehr. Und es gibt Bestrebungen, und das könnte erfolgreich sein, also vom Ernst Wirthensohn, der möchte das als Kleinkunst- oder überhaupt als Kunststandort etablieren.130

Grubers Wahrnehmung dieses Saales abstrahiert von dieser sozialen De127 Architekt Hans Purin positioniert Architektur gesellschaftlich außerhalb eines demokratischen Zugriffs und legitimiert die beanspruchte Souveränität des Architekten ein weiteres Mal durch seinen Rang als Künstler. „In solchen Sachen kann man nicht das Volk abstimmen lassen. Es wurde über zwei Dinge abgestimmt, die beide nicht abstimmbar sind, oder. Das ist das eine mal, über Kunst kann ich nicht abstimmen, außer es sind Superfachleute, da kann man sich, da geht sowas, in einem Wettbewerb, oder, aber ich kann nicht Krethi und Plethi, einen ganzen Ort fragen, und das andere, theologische Fragen und liturgische Fragen. Und es ist einfach, Architektur und Liturgie, die steckt ineinander drin, und das sollt man eigentlich nicht...“ (HP: Z 690 ff) Kunst und liturgische Fragen, also Ritual, sind nicht durch die Allgemeinheit, das laienhafte Volk abstimmbar, sondern Expertensache, Sache von Individuen statt von Kollektivität. Hier, in der Kunst, tritt also der Einzelne in seiner Individualität der Gesellschaft als „der Allgemeinheit“ gegenüber. Die auf das Soziale bezogene Konnotation von Kunst als das her-

auspräparierte Individuelle kommt hier zum Vorschein. Das zwar in jedem Mitglied der Gesellschaft angelegt, jedoch nicht nicht verallgemeinerbar ist. In dem Fall, den Purin hier schildert, hat eine dörfliche Gesellschaft zwischen dem Schutz des bestehenden Werks und seiner Veränderung entschieden. Der Schutz des Werks gilt so lange, bis die Gesellschaft diesen aufhebt. Der öffentliche Bau offenbart in diesem Vorgang seine Rolle als Kulturgut, Gesellschaft die ihre als Kultursouverän. Identitätsbestandteil des „Kulturgutes“ ist, daß seine Wahrung im Augenblick der „Übergabe“ vom Schöpfer in die Hände der Allgemeinheit übergeht. Zur Identität eines „Kulturvolkes“ gehört, daß Zerstörung oder Beschädigung eines Architekturwerks durch Einzelne „Vandalismus“, seine Zerstörung durch die Allgemeinheit oder deren legitimierte Vertreter jedoch „kultureller Wandel“ ist. Vgl. dazu auch Anm. 53, Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? 128 EW 2: Z 907 ff 129 Ebd. 130 GG: Z 471 ff

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termination.131 Seine Bewertung zielt auf einen Schutz der vorgefundenen Atmosphäre. „Als Gesamterscheinung ist es witzig und interessant. (...) Mir gefällt sehr gut die Proportion (...) es ist ein sehr schöner Raum.“132 Als Schutzvorhaben deklariert, findet sein Entwurf einen gewichtigen Fürsprecher im Landesdenkmalamt. Dessen Gutachten ist durch das behördliche Anliegen motiviert, landesweit die erhaltenen Wirtshaussäle zu bewahren.133 Was hier auf der Ebene der materiellen Substanz verhandelt wird, stellt sich aus einem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel als Auseinandersetzung um lokale Gestaltungsmacht und damit um die zukünftige Repräsentativität schichten- und gruppenspezifischer Kulturformen für das „neue Dorf“ dar. Was in diesem Streit als Frage der Erhaltung, wenn nicht Rekonstruktion historisch bedeutsamer materieller Substanz argumentiert wird, betrifft sozial gesehen im einen wie im anderen Fall radikale Umnutzungen. Betroffen davon sind diejenigen Bauten und Räume, die nun das „historische Ensemble“ des Dorfes bilden und als solches den ursprünglichen Schutz verloren haben, den ihnen seine ehemaligen Nutzer, die sozialen Anspruchsgruppen des traditionellen Dorfes und ihre gemeinschaftlichen Lebensformen, geboten hatten. So rückt Wirthensohn auch die Dorfkirche, „die ein sehr schöner Konzertraum ist“134, in den Rahmen künftiger Umnutzung, ein Zugriff, der erst durch die Einbuße an gesellschaftlichem Einfluß möglich geworden ist, den die Kirche, als ehemals zentralem dörflichem stake holder, erlitten hat. Wirthensohn verknüpft diesen sozialen Wandel, zu dessen Beobachtung das Dorf Thal gleichsam eine Laborsituation bietet, mit einem Wandel der Kulturformen ländlicher Räume. Dem ländlichen Raum werden mit seiner zunehmend städtisch geprägten Gesellschaft135 nun auch städtische, und das 131 GG: Z 465 ff 132 GG: Z 456 ff 133 Wirthensohn, Jb. 2002–2003 134 EW 2: Z 964 ff 135 In einer für den Forschungsraum als zukunftsweisend anzusehenden, aktuellen (2010) Wettbewerbsausschreibung für Wohnanlagen auf zwei exponierten Grundstücken einer ländlichen Gemeinde im Umland der Ostschweizer Stadt St. Gallen wird „Urbaner Lebensstil“ (S. 13) bereits als Bestandteil des kollektiven Persönlichkeitsprofils der anvisierten neuen Dorfbewohner vorgegeben: „Die Bewohnerschaft der Standorte (...) ist eher homogen, d.h. es sind Menschen, die ähnliche Lebenshaltungen und Werte aufweisen. Sie sind aktiv, suchen aber den Rückzug am Wohnort, sind Geniesser, haben ausgefallene Hobbys und sehen den Ort als Lebens- und teilweise als Arbeitsmittelpunkt. Sie schätzen Gemeinschaft wie auch Privatsphäre und engagieren sich für das Gemeinwohl. Sie verbinden oftmals Wohnen und Arbeiten. Der Urbane Lebensstil: Wohnen für Menschen, die aktiv und engagiert

in der Berufswelt integriert sind und zur Regeneration die Ruhe auf dem Lande suchen. Wissenspioniere (...), Unternehmensberater sowie Wirtschaftsverantwortliche finden hier ihren Wohnort. Diese Menschen sind auf Bequemlichkeit und Komfort bedacht, sind auch öfters abwesend und haben oftmals Gäste. Ihre Ansprüche an das Design und die Architektur sind oftmals höher als ihre Ansprüche an die Wohnlichkeit. Vorseniorenalter 50+ Wohnen für Menschen im mittleren Alter oder im Vorseniorenalter. Diese sind meist kinderlos oder haben die Familienphase bereits hinter sich. Sie gehören oftmals zu der Gruppe der Doppelverdiener. Zeitgeist-Lebensstile Wohnen für Menschen mit ausgeprägter Individualisierung. (...) Der Wohnungstyp „Loft“ entspricht dieser Lebensform und orientiert sich eher an stadtorientierten Menschen. Familienwohnen Familien zählen zur künftigen Bewohnerschaft (...). Vorausgesetzt sind gute ökonomische Verhältnisse...“ Gemeinde Trogen, S. 13/14 136 EW 1: Z 1242 ff

Umnutzung historischer Bauten

Implantation städtischer Kulturformen

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heißt im hier betrachteten Fall, einer akademisch gebildeten Gesellschaftsschicht zugehörige Kulturformen implantiert: „Es gibt ja Dinge, die nicht nur typisch ländlich sind, sondern die ja auch wieder aus den Städten kommen, oder.“136 Deutlich wird an diesem Fall, daß die Implantation des städtisch geprägten Kulturbegriffs, einer Kulturauffassung, die stark vom aufklärerischen Impetus eines intellektuellen Kunstbegriffs geprägt ist, zu Lasten der ländlichen „Eigenkultur“ geht, eine Werteverschiebung, die die „Selbstversorgung“ des Dorfes weiter reduziert. Die getroffene Entscheidung verdrängt eine lokal praktizierte „ländliche“ Kulturform an die dörfliche Peripherie, verdrängt auch lokales Publikum zugunsten der Anziehung auswärtiger Gäste.137 Der Blasmusik verbleiben vor allem diejenigen Räume für ihre konzertanten Aufführungen, die die traditionellen stake holders des Dorfes, Landwirtschaft und Kirche, anbieten, seit der Saal, „Wohnzimmer des Dorfes“138, einer sozial höherstehenden Kulturform zugesprochen ist.139 Im Frühjahr haben sie ein Konzert gemacht, wo die Landmaschinenwerkstätte ist, wo normal die Traktoren drinstehen. (...) Eine Notlösung. Oder man macht halt gar nichts.140 Historische Bausubstanz als atmosphärisches Ausstattungselement

Im Fall des Thaler Dorfsaales wird die kulturelle Umnutzung in das Argument einer „Bewahrung“ historischer Bausubstanz gekleidet. Der Blickwinkel der vorliegenden Studie stellt den Vorgang jedoch als architektonische Neuschöpfung historischer Baugestalt dar.141 Der Dorfsaal wird dabei zu einem weiteren, primär atmosphärisch bedeutsamen Ausstattungselement, wie wir es bereits als neue Rolle des Kirchenbauwerks identifiziert haben. In Summe erlauben solche Elemente erst, das neue soziale Gebilde ländlichen Lebens143, das mit der Gründung des Selbsthilfevereins in Thal entsteht, wiederum als „Dorf“ zu benennen. Architektur erschließt das Dorf neu als Ort zeitgemäßen Wohnens, für dessen Wert seine Atmosphäre eine zentrale Qualität darstellt. Wir konnten zeigen, 137 Vgl. Wirthensohns Rezensionen der ersten Gastspiele im Dorfsaal, z.B. Wiener Melange; in: Wirthensohn, Jb. 2003–2004 138 GG: Z 469 ff 139 Der Vorgang erlaubt, zu beobachten, wie aus traditioneller ländlicher Kultur Folklore wird. 140 EW 2: Z 965 ff 141 Grubers Stellungnahme für eine „traditionelle“ Lösung trägt zur Schaffung eines romantischen, eines „Bilderbuch-Dorfes“ bei. Der Architekt als Schöpfer der Atmosphären, in der Aktivitäten stattfinden, interpretiert damit gleichzeitig dieses „Leben“. Erst die alte Saaldecke macht die darunter stattfindende Hochzeitsfeier zu einer „Dorfhochzeit“: „Bei dem Saal (...) da geht es irgendwie um diese Stimmung in dem Raum. Diese Oberfläche vom Holz macht eine ganz eigene Stimmung, und darum gehts.“ (GG: Z 985 ff)

Gruber ist sich seiner Sache so sicher, daß er mit seiner Lösung gegen eine starke Gegnerschaft anzutreten wagt. Es ist die Architektur als Konvolut referenzieller Werke, die seinen Argumenten Gewicht gibt, ihm in einem anderen Fall auch erlaubt, einen neuen Ausgang des Gastraumes an derjenigen Stelle durchzusetzen, an der der Stammtisch steht: „Und das war blöderweise so, daß diese Stelle, wo diese Tür hingehört, daß dort der Stammtisch gestanden ist. Und das hat dann fünf, sechs Jahre gedauert, bis wir das haben realisieren können. Das ist dreimal im Vorstand beschlossen worden, daß man es umsetzt, drei Jahre hintereinander. Und sie haben es aber nie gemacht, weil es einfach nicht gegangen ist. Und irgendwannhat man dann einfach eine Lösung gefunden, daß sie es gemacht haben und jetzt sind sie eh ganz zufrieden.“ (GG: Z 437 ff)

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daß diese Atmosphäre vor allem den gebildeten Schichten der neuen dörflichen Gesellschaft zur Orientierung dient und gemäß deren sozialem Gewicht zum handlungsleitenden Maßstab wird. Indem die dörfliche Gesellschaft ihre ehemalige Geschlossenheit verloren hat, ist auch die Homogenität ihrer kulturellen Repräsentation zerfallen. Wir konnten diesen Umstand am Beispiel des Thaler Dorfsaals beobachten. Mario Nußbaumer, Gemeindesekretär in Langenegg, nennt neue „Werte“, mittels derer die neuen dörflichen Gesellschaften innerhalb des ländlichen Raumes eine neue, verbindende Identität zu gewinnen suchen. Jede Gemeinde hat so einen Schwerpunkt, die einen haben Kultur, die anderen haben Tourismus, das ist bei uns nicht so der Fall. Bei uns schaut man sehr stark auf Nachhaltigkeit und auf natürliche Entwicklung.144

Wo Kultur und Tourismus als Medien der Außenrepräsentation fehlen, also keine überörtlich wirksamen Alleinstellungsmerkmale vorhanden sind, muß sich die Gemeinde statt dessen auf Attraktivität nach innen, den eigenen Bewohnern gegenüber, konzentrieren, um Bindung zu schaffen. Ökologie bietet hierfür ein Profilierungsfeld, das Identität schafft, wie Mario Nußbaumer selbstbewußt mitteilt: Wir sind eine energieeffiziente Gemeinde, eine sogenannte E5-Gemeinde. (...) Dafür sind wir zertifiziert und wir müssen uns jetzt alle drei Jahre zertifizieren lassen. Wir sind jetzt die erste Gemeinde Österreichs, die diese fünf „E“ erreicht hat. Das ist also die höchste Stufe, ähnlich zu sehen wie die fünf Hauben in einer Gastronomie.145

Externe Zertifizierung verschafft der Gemeinde überregionale Vergleichbarkeit, macht die „Qualität“ der Gemeinde überregional publik146 und schafft damit aus dem ideellen Wert Ökologie einen ökonomischen Wert.147 Bertram Dragaschnig, Generalunternehmer für die neuen Gemeindebauten Langeneggs, stellt diese zeitgemäße Identität als Leistung des Gemeindevorstands heraus: „Das ist heute noch nicht in jeder Gemeinde möglich. (...) Das ist die Führungscrew in der Gemeinde. (...) Das muß die Grundeinstellung sein, sonst baut man (nicht so) und es kostet ja auch mehr, oder.“148 143 Durch ihre eigene akademische Einbettung ist Zeitgenössische Architektur prädestiniert, diesen Wandel der Kulturformen durch die Gestaltung öffentlicher Bauten zu unterstützen, ein Wandel, dessen wesentliche Wurzel eine Verhältnisänderung des „Sozialen Gewichts“ ist, den die einzelnen stake holders der dörflichen Gesellschaft aufzubringen imstande sind. (Auch: ein Wandel, der durch die Schillersche Konnotation von Kunst als aufklärerischem Medium positiv vorbestimmt ist.) 144 MN: Z 114 ff 145 MN: Z 113 ff 146 Architekturpreise etc. operieren mit ähnlichen Mitteln, um Qualitätsanstrengungen zu fördern. Die Gastronomie-Initiative, die Mario Nußbaumer hier als Vergleich heranzieht, fungierte offensichtlich als Qualitätsvorreiter mit breiter Wirkung in der Region

und wird als solcher auch von Schmidinger (WS 3) erwähnt. 147 Dieser wertet die Gemeinde als „Standort“ unmittelbar auf. Während ich im Gemeindeamt Langenegg auf Bürgermeister Nußbaumer warte, führt dieser den Geschäftsführer des größten Betriebes am Ort, einen Zulieferer für die Automobilindustrie, durch die neuen Gemeindebauten. Nußbaumer weist im anschließenden Gespräch auf den Kontrast hin, den die neue Selbstdarstellung der Gemeinde mittels Zeitgenössischer Architektur gegenüber dem Bild darstellt, das der (deutsche) Fabrikant sich bisher von Österreich schuf: „Dem [Name] hat unser neuer Kindergarten so gut gefallen. Und wenn du bei dem daheim bist, der hat im Keller unten eine Bar mit Vorhängen und Balkonblumen, künstlichen, eine Alphütte. In Deutschland. In Mössingen.“ (PN: Z 567 ff)

Neue Werte: Beispiel Ökologie

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Mario Nußbaumers Darstellung der umfassenden Verhaltensänderung, die diese „Grundeinstellung“ nach sich zieht, vermittelt, daß Ökologie der ländlichen Gesellschaft ein neues Gefühl von Zusammengehörigkeit aus dem Bewußtsein um die „Wirksamkeit“ ihres Alltagshandelns verschafft. Wir beziehen für alle Gebäude Ökostrom, wir kaufen nur noch Elektrogeräte mit Energieklasse A. Wir haben Kriterien, wenn wir Gemeindegrundstücke verkaufen, dann muß der Käufer zwingend ein Öko-1-Haus bauen. Also, wir geben da auch privatrechtliche Kriterien vor. Er verpflichtet sich beim Kauf, das zu bauen, wenn er es nicht macht, dann muß er im Prinzip eine Strafe bezahlen. Wir haben da unten, (...) dieses Wasserrückhaltebecken [gemacht]. Da wird von diesem ganzen Baugebiet das Regenwasser gesammelt und zur Versickerung gebracht. Nur der Überlauf wird abgeleitet, in den nächsten Bach. (...) Und da gibts einen ganzen Katalog. Das hat mit Raumplanung zu tun, das hat mit interner Organisation zu tun, mit eigenen Bauten zu tun, diese Kriterien für „E5“.149

Ökologie ist im Forschungsgebiet zu einem zeitgemäßen moralischen System geworden, das breite soziale Zustimmung erhält. Architektur visualisiert diesen neuen „Wert“ ländlichen Lebens, indem sie hierfür neue ästhetische Konventionen schafft.150 Sie gewährleistet daneben im Entwurfs- und Bauablauf die ordnungsgemäße Durchführung aktueller technischer Standards151, bindet das Bauen in ein Rechtssystem ein und vermittelt Anreize durch finanzielle Förderungen. Typologische Modernisierung

Verdichtung

Eng verknüpft mit der Schaffung neuer Sinnsysteme oder Werte, die die Neuschaffung einer dörflichen Lebensform unter vollständig gewandelten wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen erlauben, ist die Notwendigkeit einer Modernisierung der ländlichen Wohnhaustypologie gegenüber demjenigen Zustand, den die Nachkriegszeit dem ländlichen Raum mit der Einführung der Einfamilienhäuser gebracht hat.152 Langeneggs Bürgermeister Peter Nußbaumer verweist zur Rechtfertigung der Existenz eines Mehrfamilienhauses im Dorf, einem typologischen Fremdkörper, auf steigende Baulandpreise und damit auf einen Effekt, der als zentraler Indikator für die aktuelle wirtschaftliche Aufwertung des ländlichen Raumes Vorarlbergs gelten darf.153 Auch vor Thal, dem ehemaligen Armenhaus des Vorderen Bregenzerwaldes, macht dieser Effekt einer Aufwertung des ländlichen Raumes durch seine Umnutzung in eine regionale Wohnlandschaft nicht halt. Bereits die erste architektonische Intervention im „neuen“ Dorf hatte mit dem Doppelhaus für Wirthensohn und Lang eine typologische Modernisierung mit der Folge einer Verdichtung gebracht. 148 BD: Z 534 ff 149 MN: Z 154 ff 150 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz 151 Beim Wettbewerb um das neue Thaler Feuerwehrhaus 2007/08 ist ein Katalog ökologischer Maßnahmen bereits Teil der Ausschreibungsbedingungen für die Teilnahme. (Vgl. Ökologisches Programm im Ausschreibungs-

text Wettbewerb für Planungsleistungen Architektur: Neubau Feuerwehrhaus Sulzberg Thal; Gemeinde Sulzberg Immobilienverwaltungs GmbH & Co, 2007; S. 14) 152 Signifikant hierfür ist der für die Schweiz festgestellte Landverbrauch für Siedlungsflächen von einem Quadratmeter pro Sekunde. Rentsch (2006), S. 280 153 PN: Z 24 ff

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Sonst baut man bei uns kein Doppelhaus. Weil die Leute sagen, das haben uns alle gesagt, „tut das ja nicht, da habt ihr doch sofort Streit und das gibt nur Schwierigkeiten“, und so weiter. Also, die Einfamilienhaus-Ideologie ist ganz enorm bei uns.155

Ernst Wirthensohn spricht seinem Architekten hierfür die Initiative zu. „Der (...) hat sofort gesagt ‚da kommt nur ein Doppelhaus in Frage‘. (...) Mir hats eigentlich gleich gut gefallen. Ich habe mit dem Theo Lang schon zusammen gewohnt im Mesnerhaus, wir haben die Vorteile gesehen.“156 Das Architektenargument für das Doppelhaus könnte einerseits das größere Hausvolumen gewesen sein, das eine Annäherung der Kubatur an den ortsüblichen Bauernhaustyp, den Einfirsthof, ermöglicht, der in einem einzigen großen Baukörper Wohnhaus, Stall und Heustadel umfaßt, ein ortsplanerisches Argument, das gestützt wird durch das bereits dokumentierte „Mitdenken“ eines zukünftigen Dorfplatzes im Entwurf dieses Hauses. Andererseits bietet der neue Haustyp im Vergleich zum freistehenden Einfamilienhaus das Potential eines ökonomischeren Umgangs mit dem Baugrund, eine Notwendigkeit, auf die bereits Bürgermeister Nußbaumer im Gespräch verwiesen hatte. Gerhard Gruber, Nachfolger von Wirthensohns Architekt, führt dessen Überlegungen zur typologischen Modernisierung des Dorfes fort. Es gibt auch Überlegungen, (...) daß der nächste Schritt nach dem Saal eigentlich ein Wohnbau wäre in Thal. Weil natürlich auch nach Thal diese Entwicklung kommt, daß nicht jeder ein Haus haben kann. Und daß man zumindest ein Reihenhaus, oder irgend einen ähnlich verdichteten Bau auch in Thal verwirklichen möchte.(...) Es ist wahrscheinlich ein nächster logischer Schritt, daß man diese Qualität noch schafft.157

Die Thaler Schule mit ihrer bedrohlich niedrigen Schülerzahl ist ein Indikator dafür, daß sich die dörfliche Gesellschaft permanent verjüngen muß, um überleben zu können. Der Mehrfamilien-Wohnbau ist Gruber zufolge das Mittel, die neue „Qualität“ im Dorf, seine bauliche Anpassung an die ökonomischen und sozialen Bedingungen der Gegenwart, zu schaffen. Architektur empfiehlt sich für diesen Vorgang durch ihren Wissensvorsprung, ihr systematisches Typenreservoir und ein spezialisiertes Organisations- und Planungsdenken.158 Die Eigengesetzlichkeit dieses spezialisierten Denkens zeigt sich gerade in solchen Lösungsansätzen, städtische Wohnformen in das „neue Dorf“ hineinzutragen. Parallel zu diesem ordnenden Zugriff, der mit dem Anspruch einhergeht, „über diesen Ortsraum insgesamt nachzudenken“159, wandelt sich die Gestalt des Dorfes von einer Kollektivleistung160 zu einer architektonischen 154 Wohnraum Alpen lautet der Titel einer „alpenübergreifenden Architektur-Wanderausstellung“, die am 14.05. 2010 in Meran eröffnet wurde. Das doppelseitige Foto der Einladungskarte zeigt den Fensterausblick auf eine alpine Herbstlandschaft. Die raumhohe Panoramascheibe des als Zeitgenössische Architektur erkennbaren Wohnraumes inszeniert den Ausblick als wandfüllendes Landschaftsbild. Für die Ausstellung zeichnen kunst Meran und die Stiftung der Kammer der Architekten der Provinz Bozen ver-

antwortlich. Als kooperierende Institution ist u.a. das Institut für Regionalentwicklung und Standortmanagement der Europäischen Akademie Bozen genannt. 155 EW 1: Z 736 ff 156 Ebd. 157 GG: Z 834 ff 158 Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? 159 GG: Z 769 ff 160 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus

Ästhetisierung

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Architektur inszeniert sich als Nichtarchitektur

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Inszenierung. Wir konnten bereits am Umbau des Dorfsaales zeigen, daß der gewünschte Eindruck einer Bewahrung historischer Baugestalt, entscheidendes atmosphärisches Element zur Legitimierung des neuen sozialen Gebildes als „Dorf“, durch Neuschöpfung einer historisierenden Gestalt entsteht. Wir bezeichnen diesen Vorgang als Ästhetisierung und ordnen ihn damit denjenigen Modernisierungseffekten zu, mit denen wir im Kapitel Haus bereits den Auftritt der Architektenhäuser im ländlichen Raum und den damit verbundenen neuen, visuellen Landschaftsbezug erklärt haben. Das Dorf stellt den Architekten vor eine gänzlich andere Aufgabe als die direkte Beauftragung durch einen privaten Bauherrn, indem nicht die Skulptur des Einzelbauwerks zu schaffen, sondern ein Ensemble bestehender Bauten weiterzuentwickeln ist. Hier gilt es, eine Ästhetik zu realisieren, die nicht als Entwurf, sondern als Gewordenes161 in Erscheinung treten soll. Dieses Konzept stellt die Dorfbevölkerung als Statisten in die ästhetische Inszenierung und schließt sie gleichzeitig als Handelnde so vollständig wie möglich aus einer Gestaltungsbeteiligung aus.162 Gruber erläutert dieses Ziel für seinen Entwurf des Thaler Dorfplatzes. Bei dessen Betrachtung „müßte man das Gefühl haben, der Platz, den haben die Dorfbewohner selber gemacht“.163 Der Architekt setzt sich hier durch sein Werk nicht als Künstler in Szene, sondern schafft ein – nicht minder sorgfältig komponiertes – Bild eines Dorflebens, das ebenso „architekturfrei“ wirken164 wie es frei von Zeugnissen „schlechten Geschmacks“ sein soll. So unsichtbar er sich als Gestalter macht, so präsent ist er statt dessen als Rezipient, als Angehöriger derjenigen gesellschaftlichen Gruppe, die solchermaßen inszenierte Räume zur eigenen Erholung in Anspruch nimmt und damit aus einer Konsumentenrolle heraus einen neuen ästhetischen Standard dörflicher Gestaltung fordert.165 An einem Sonnentag, wenn man hinkommt, wenn der Gastgarten offen ist, ist es eine ganz ansprechende Situation, wo ich einfach, wenn ich Thal nicht kennen würde, auch stehenbleiben würde und was trinken würde.166

Gerade die Nähe zwischen Architekt und denjenigen Dorfbewohnern, die, zugespitzt formuliert, als „Statisten“ in der purifizierten neudörflichen Ästhe161 Vergleichbare Wahrnehmungskategorien gelten für die kunsthistorisch geprägte Rezeption der Bauernhäuser in der Hausforschung, die sich in Begriffen wie „Anonyme Architektur“ ausdrücken. Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 162 „Man hat einen Brunnen gemacht, der (...) unglücklich ist. Weil, da hats (...) einen privaten Sponsor gegeben, der den dann ausgesucht hat. (...) Und jetzt sind neue Wirtsleute gekommen und die haben Blumentröge mitgebracht, so Waschbeton, die haben sie dann einfach gestellt. Da habe ich mit dem Ernst neulich schon überlegt, ob wir die mit Stahl verkleiden (lacht).“ (GG: Z 1206 ff) Der „unglückliche“ Brunnen wird auch in Wirthensohns Jahresbericht erwähnt. Außerdem ist dort

verzeichnet, daß die seitens der Brauerei zur Verfügung gestellten Gastgartenmöbel Anlaß zu einem Wechsel der Brauerei gaben. (V. Neue Plätze für Thal in: Wirthensohn: Jb. 2002–2003) 163 GG: Z 1215 ff 164 „Es wäre (...) wirklich schlimm für mich, wenn einer sagt: ,Was hat denn da einer wieder gemacht?‘ “ GG: Z 1221 ff 165 Vgl. die Dokumentation der gewandelten Kriterien für Dorferneuerungspreise im letzten Abschnitt dieses Kapitels Beratung, Planung, Steuerung. 166 GG: Z 1229 ff 167 Genauer müßte formuliert werden, daß ästhetische Orientierung diejenige kulturelle Orientierung ist, die akademisch gebildete Gesellschaftsschichten

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tik plaziert werden, läßt die Unvermittelbarkeit ästhetischer Maßstäbe erkennen, die durch deren gesellschaftliche Gebundenheit entsteht. Indem ästhetische Orientierung gleichzeitig gesellschaftliche Orientierung ist167, kann es keine Veränderung ästhetisch gekennzeichneter Umgebungen geben, ohne gleichzeitig in soziale „Heimaten“ einzugreifen. Die strategische Lösung dieses Konflikts liegt für Gruber in einer Vermeidung jeglicher Ästhetikdiskussion im sozial gemischten Forum des Selbsthilfevereins. Statt über „Gestaltung“ spricht er über „Funktion“. In den Projekten, die, bedingt durch ihre Organisationsform als Selbstbauaktion des Selbsthilfevereins, ihn als Planer in diffuse Hierarchieverhältnisse einbinden, ist das erreichbare Ergebnis, als architektonischer Wert gemessen, zwangsläufig gemindert, ein ästhetischer Kompromiß, der gleichzeitig ein genaues Abbild der systematischen sozialen Mischung der an der Entscheidung Beteiligten ist.168 Ich habe natürlich auch immer versucht, die Gestaltung durch funktionale Aspekte zu hinterlegen und dann wars eigentlich nie ein Problem, sie sind mir immer gefolgt. Also bis auf kleine Sachen, wie beim Zubau von der „Krone“, ist es darum gegangen, wieviel Vordach das Haus auf der Stirnseite bekommen soll. Ich war der Meinung, aus gewissen Überlegungen, daß das kein Vordach haben sollte. Über das haben wir länger diskutiert und sie haben dann entgegen meiner Pläne ein bißl eins gemacht (lacht). Also da ist halt der Günther auf der Baustelle gestanden und hat zum Zimmermann gesagt: „Ein Stückl mehr“ (lacht). (...) Nicht, daß es ihnen nicht gefallen hätte, sondern, daß sie gefürchtet haben, daß das die Wetterseite ist und daß das Vordach da notwendig ist. Und deshalb ist das jetzt so ein Kompromißvordach (...) und das ist ein bißchen komisch. Ich hätte es gern so ganz präzis abgeschnitten gehabt.169

Grubers „funktionales“ Argumentieren stellt den Versuch dar, eigene gestalterischer Erwägungen auf eine unterstellte Verständnisebene seines Gegenübers zu transponieren. Die in Grubers Wirklichkeit vorhandenen skulpturalen Aspekte („präzis abgeschnitten“) werden gegenüber dem Bauherrn nicht thematisiert. So nimmt dieser ganz selbstverständlich an, daß keine formale Entscheidung vorliegt170 und fühlt sich frei, an der Baustelle ein skulptural bedeutsames Detail171 abzuändern, um den funktionalen Mangel „Wetterschutz“, den er an dieser Stelle identifiziert, zu beheben. In der Bedeutsamkeit, die Gruber diesem Konfliktfall beimißt, wird deutlich, daß seine Rolle als „Dienstleister“ des Selbsthilfevereins, auf dessen auszeichnet. Im vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels konnte bereits gezeigt werden, daß handwerklich oder landwirtschaftlich sozialisierte Gesellschaftsgruppen verstärkt „arbeitsförmige“, händisch orientierte Formen von Gemeinschaftsstrukturen pflegen. 168 Dieser partizipative Sonderfall bildet in den Vorarlberger Selbstbaugruppen der 1970er und 1980er Jahre eine eigene Institution. In das Selbstbild des Architektenstandes ist dieser Fall kaum dauerhaft integrierbar, wie aus der rückblickenden Bewertung deutlich wird, die die Architekten Dietmar Eberle und Carlo Baumschlager ihrer „Baukünstler-Vergangenheit“ zumessen. Vgl. Waechter-Böhm (2000), S. 125 ff 169 GG: Z 578 ff

170 Günther Wirthensohn in „15 Jahre Ortsvorsteher von Thal“, Jb. 1999–2000: „Fast parallel zum Schulumbau konnte dann der Neubau des baufälligen Hintergebäudes beim Gasthaus in Angriff genommen werden. Nach Plänen von Architekt Gerhard Gruber aus Bregenz wurde der funktionelle Anbau großteils in Holzfertigbauweise errichtet.“ 171 Wirthensohn bestätigt in unseren Gesprächen die Bedeutsamkeit, die diesem Vorfall für Grubers Positionierung gegenüber dem Selbsthilfeverein innewohnt. 172 GG: Z 563 ff 173 GG: Z 429 ff 174 GG: Z 574 ff 175 GG: Z 805 ff

Funktionales Argumentieren als Strategie

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348 Rollenkonflikt professioneller Architekten

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Vertrauen er Wert legt172, gleichzeitig seine professionelle Identität, seinen sozialen Rang innerhalb des eigenen Berufsstands in Frage stellt. Der soziale Druck, dem sich Gruber durch diesen Rollenkonflikt ausgesetzt sieht, kommt im Gespräch mehrfach zum Ausdruck. Ich bin ja auch kein spleeniger Architekt, der da jetzt futuristische Architektur bauen will in Thal...173 Wenn ich jetzt natürlich sehr expressiv planen würde, dann müßte ich vielleicht expressiver argumentieren, aber bei den Sachen, die ich so mache, ist das immer wahnsinnig unkompliziert gegangen.174 Also man könnte sicher eine schneidigere Architektur machen, als alles das, was ich dort mache (...) und vielleicht will ich es dort gar nicht.175

Grubers Rechtfertigungen lassen einen Druck erkennbar werden, für den der Interviewer als Fachkollege nur der Vermittler ist. Der implizit präsente professionelle Anspruch, der sich als Selbstverständnis des Berufsstandes formuliert, hat Avantgarde und Provokation, systematische Unangepaßtheit also, zum zwingenden Verhaltenskodex seiner Mitglieder erhoben. Damit ist jegliche soziale Integration professionalisierter Architektur, die eine Rückwirkung auf die architektonische Form zulassen und damit ihre Autarkie schmälern würde, tabuisiert. Mit der Autonomie ihrer Form schützt Architektur ihren gesellschaftlichen Status als normative Institution.

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349 5.4 Beratung, Planung, Steuerung Die Beantwortung unserer Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ hat sich bis hierher vor allem auf das implizite Anwenderwissen der Auftraggeber von Architektur gestützt. Konkrete Fallbetrachtungen bildeten hierzu den Rahmen. In der Wahrnehmung Jürgen Sutterlütys etwa dient Architektur der Verbesserung seiner Betriebsorganisation und der Schaffung animierender Atmosphäre im Inneren seiner Supermärkte.1 Das Ehepaar Eugster beauftragt ihren Architekten, um eine offene Wohnatmosphäre als Voraussetzung eines modernen Lebensstils zu erhalten. Die Beauftragung des Architekten bewirkt daneben ihre soziale Neuplazierung als Akademiker im Heimatdorf.2 Überregionale Aufmerksamkeit auf das Dorf zu richten, ist ein willkommener Effekt der Architektenbeauftragung durch den Selbsthilfeverein Thal. Die Überzeugungskraft dieser externen Wertschätzung verschiebt die Gewichte im internen Abstimmungsprozeß der Dorfgesellschaft derart, daß es den neuen dörflichen Eliten gelingt, im bestehenden Dorf ein „neues Dorf“ zu errichten, Ausdruck ihrer städtisch konnotierten Bedürfnisstruktur und akademisch geprägten Werthaltung.3 Architektur tritt in all diesen „Anwendungen“ als eigensinniges Medium, als Institution mit ausgeprägtem Charakter und explizitem Interesse seiner Protagonisten in Erscheinung. Indem parallel zur Berücksichtigung ihrer institutionellen Verfaßtheit rekonstruiert werden konnte, wozu und mit welchem Effekt Architektur in Vorarlberg eingesetzt wird, indem also ihre „Brauchbarkeit“ in der sozialen Praxis des Bauens untersucht wurde, konnte auf Aspekte ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfaßtheit rückgeschlossen werden. An verschiedenen Stellen unserer Studie wurden bereits Berührungspunkte zwischen Architektur und den Interessen des Staates und seiner Organe festgestellt.4 Frühformen staatlicher Eingriffe in ländliches Baugeschehen sind innerhalb des Forschungsfeldes vor allem in solchen zentraldirigistischen Interventionen und Institutionen5 zu finden, die das Bestreben des Staates erkennen lassen, agrarische Bewirtschaftung und bäuerliche Besiedlung des Landes durch verbindliche Regelungen sowohl zu optimieren als auch zu vereinheitlichen. Beispielhaft haben wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels die Vereinödung im Vorderen Bregenzerwald vorgestellt. 1 Vgl. Architektur als Kunst, Kapitel Architektur? 2 Vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus 3 Vgl. vorhergehenden Abschnitt 4 Auf der Materialebene ist die Nähe zwischen Architektur und Staat in den Bauten des Staates (Eisenbahn, Rathaus, Schulhaus) präsent: Der Staat repräsentiert, gerade im ländlichen Raum, inmitten der „Nichtarchitektur“ der Bauernhäuser, mittels Architektur. Diese Architekturpräsenz als dem Staat vorbehaltene Repräsentationsform ist im Bregenzerwald

bis in die 1960er Jahre feststellbar. Vgl. Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? 5 Moser nennt für die Bundesländer seines Forschungsraums die Errichtung von Landbauämtern. Vgl. Moser. Die Vereinödung des Vorderen Bregenzerwaldes wurde gegenüber solchen ortsfesten Institutionen von „mobilen“ Staatsorganen, den „Feldmessern“, exekutiert. (Diese gehören zu jenen Berufen, denen im neunzehnten Jahrhundert die Privilegien von „Ziviltechnikern“ zuerkannt werden.) Vgl. Blank

Architektur als Interessenfeld des Staates

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Eine systematische Betrachtung heutiger Instrumente und Institutionen zur Planung und Steuerung des Baugeschehens in Vorarlberg und der Rolle, die Architektur aktuell darin einnimmt, ist Thema dieses letzten Abschnitts des Kapitels Dorf. Wir richten unser Augenmerk vor allem auf die Gestaltungsbeiräte, freischaffende Architeken, die den kommunalen Baubehörden als beratendes Gremium zur Seite gestellt sind. Im österreichweiten Vergleich sind Gestaltungsbeiräte eine speziell in Vorarlberg hochgradig etablierte Institution, die innerhalb des Planungsgeschehens im Schnittpunkt staatlicher Interessen, der Interessen privater Bauwerber und nicht zuletzt der berufsständischen Interessen des Architektenstandes angesiedelt ist. Der Umstand, daß wenigstens ein Drittel der Vorarlberger Gemeindeverwaltungen mittlerweile Gestaltungsbeiräte installiert hat, steht in der folgenden Darstellung weniger für einen weit fortgeschrittenen gesellschaftlichen Lernprozeß der Vorarlberger Bevölkerung in puncto ästhetische Bildung, als vielmehr für einen hohen Grad staatlich geförderter Ästhetisierung der baulichen Landschaft als Mittel einer zeitgemäßen, marktwirtschaftlich bestimmten Standortpolitik mit globalem Vergleichsmaßstab. Dementsprechend umkreist der folgende Abschnitt die Gestaltungsbeiräte, indem, der Chronologie ihrer Entstehung folgend, zunächst ihre Einbindung in die Landesraumplanung, anschließend ihre Rolle im Baugenehmigungsverfahren der Gemeinden und schließlich ihre Verzahnung mit den Interessen des Berufsstandes der Architekten betrachtet wird. Während die Parallelsetzung von Architektur und Religion im vorausgegangenen Abschnitt dieses Kapitels den gesellschaftsbildenden Anspruch von Architektur in ihrer „Religionshaftigkeit“ verdeutlichte, ist es nunmehr die Nahbeziehung zwischen Architektur und den gesellschaftlichen Institutionen von Recht und Gesetz, die dieser Studie in der „Rechtsförmigkeit“ von Architektur einen abschließenden Baustein zur Darstellung Zeitgenössischer Architektur als normativer Institution liefert. 6 Peter Greußing weist in unserem Gespräch auf den großen Stellenwert der Raumplanung im Architekturstudium hin, das die neugeschaffene Architekturfakultät der Innsbrucker Universität von Anfang an auszeichnet, und erwähnt ausdrücklich Helmut Kuess, dessen fachlicher Horizont durch diesen Studienschwerpunkt geprägt worden sei. (PG: Z 864 ff) 7 HK: Z 174 ff; Kuess repräsentiert als einer der zentralen Akteure das Prinzip der wenigen Initiatoren, die vieles verantworten. Es mag eine Zeitströmung gewesen sein, die das „Vorarlberger Architekturwunder“ begünstigt hat, aber es waren Persönlichkeiten, die ihm Kontur verliehen haben. 8 Die zentrale Quelle zur Entwicklungsgeschichte der österreichischen Gestaltungsbeiräte ist die Dissertation Paul Raspotnigs (TU Wien, 2007). 9 Ebd. S. 10 ff

10 Kuess weist im Gespräch über den Bregenzer Gestaltungsbeirat darauf hin, daß es sich beim „Salzburger Modell“ um ein Gremium externer, einer anderen Region oder Nation entstammender Architekten handelt (HK: Z 583 ff). Ähnlich sind Jurys von Architektenwettbewerben besetzt. Dahinter steht eine Auffassung, die Architektur als etwas Objektives, überregional Gültiges, überregional Bewertbares betrachtet, das ohne Kenntnis des regionalen Kontextes bewertbar ist. Ein solcher Architekturbegriff konnotiert Architektur ausdrücklich antiregionalistisch. Mit der Übertragung auf Vorarlberg (Lustenau 1985) erhält die Institution Gestaltungsbeirat eine neue Schwerpunktsetzung. Indem regionale Architekten Gestaltungsbeiräte bilden, wird ein regionales Selbstbewußtsein prägend für die Institution „Gestaltungsbeirat“.

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Als zentraler Auskunftgeber für diesen Abschnitt konnte der Bregenzer Architekt Helmut Kuess gewonnen werden. Kuess, Jahrgang 1952, Absolvent der Innsbrucker Architekturfakultät in den späten 1970er Jahren6, ist bis heute Mitglied des ältesten Vorarlberger Gestaltungsbeirats, der 1985 in der Rheintalgemeinde Lustenau installiert wird. Neben diesem ist Kuess gleichzeitig in bis zu acht weiteren Beiräten im Land vertreten.7 Die Idee der Institution Gestaltungsbeirat geht in Österreich auf einen einzigen, ersten Beirat zurück, der 1983, zwei Jahre vor seinem ersten Vorarlberger Nachfolger in Lustenau, in der Stadt Salzburg errichtet wird.8 Im Gegensatz zu den „städtischen“ Problemstellungen9, die mit der Errichtung des Salzburger Gestaltungsbeirats beantwortet werden, führt Kuess die Vorarlberger Adaption dieses Grundmodells10 auf eine spezifisch ländliche Aufgabenstellung zurück. Der Gesetzgeber beginnt zu diesem Zeitpunkt in bisher ungeregelte Gestaltungsbereiche des Sozialen, in die Sphäre des mit dem individuellen Grundbesitz bis dahin verbundenen „Naturrechts“, auf eigenem Land uneingeschränkt zu bauen, einzugreifen.11 Ich hab mit dem Wolf Reith damals, das war ’78, im Kleinen Walsertal, begonnen, Raumplanung zu machen. Das hat kein Mensch verstanden, wieso jetzt da jemand kommt und sagt „So, da darf man bauen, da ist kein Bauland“, (...) man kann überall bauen, oder, das war das Selbstverständnis. (...) Das war der Lernprozeß, daß das jetzt Allgemeingut ist, (...) [daß es] Bauland gibt einfach, und es gibt auch Nichtbauland, oder. Es gibt eine Grünzone, (...) vollkommen klar, selbstverständlich, aber damals wars nicht so.12

Der steigende private Wohlstand der Gesellschaften Mitteleuropas13 führt in der Nachkriegszeit, spürbar seit den 1970er Jahren, zu massenhafter „Stadtflucht“, der Aufgabe der städtischen Familienwohnung zugunsten des eigenen Einfamilienhauses „auf dem Land“. Daneben verlangt eine weitere wohlstandsbedingte Zeiterscheinung, die nunmehr auch mittleren und unteren Einkommensschichten zugängliche „Urlaubsreise“14, zunehmend nach baulicher Infrastruktur im ländlichen Raum, die in den 1970er Jahren in Großprojekten des regionalen Tourismusgewerbes einen ersten Höhepunkt Das „Prinzip des Einzelfalls“, von Kuess zur Charakterisierung derArbeitsweise des Gestaltungsbeirats anführt, darf auch als dessen Konstruktionsprinzip gelten. Indem jede Gemeinde andere Kräfteverhältnisse repräsentiert, muß sich auch jeder Gestaltungsbeirat ortsspezifisch positionieren, sich auf die bestimmenden Persönlichkeiten (Bauamtsleiter, Bürgermeister) und deren jeweiliges Amtsverständnis einstellen. (HK: Z 552 ff) Erst nach zwanzig Jahren „informeller“ Beratungstätigkeit gibt sich der Lustenauer Gestaltungsbeirat erstmals ein Statut (HK: Z 121 ff). Charakteristisch erscheint hier ebendiese Reihenfolge: daß die Beratungspraxis über eine lange Dauer ihre Form und Position findet und diese erst dann in ein Statut gefaßt wird. Im Gespräch grenzt Kuess die Situation der Gemeinde Lustenau von einer völlig anders gela-

gerten der Stadt Feldkirch ab: „Feldkirch hat einen sehr straff organisierten, mit Statuten, und allem, Gestaltungsbeirat“ (HK: Z 566 ff). Es sind solche Individualitäten, die die Vorarlberger „Verhandlungs-“ oder „Diskurskultur“ von einer „Verordnungskultur“ abgrenzen,wie sie Deutschland zugeordnet werden kann. 11 Rudolf Wäger, Protagonist der „Ersten Generation“ der Vorarlberger Baukünstler, rechtfertigt im Gespräch mit Marina Mangold den Eingriff ins Privatrecht, den die Raumplanung vollführt. Er schlägt vor, zugunsten einer Effektivitätssteigerung Grundstücksenteignungen gesetzlich zu legitimieren. Mangold, S. 96 12 HK: Z 875 ff 13 Die Interferenzen zwischen sozialen Auswirkungen dieser Entwicklung und ihrer politischen Steuerung hat Bourdieu (1998) für Frankreich untersucht.

Gestaltungsbeirat und Raumordnung

Raumplanung ist Einschränkung des souveränen Besitzrechts

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erreicht. Nachdem beide Effekte drohen, die bis dahin „offene“ Landschaft irreversibel hinter legalem baulichem „Wildwuchs“15 verschwinden zu lassen, sieht sich der Staat genötigt, gesetzliche Handhaben zu schaffen, um ordnend eingreifen zu können. Hierbei gilt es einerseits, das bis zu diesem Zeitpunkt unkoordinierte Siedlungswachstum ländlicher Gemeinden räumlich zu kanalisieren und den Flächenverbrauch für Bauland mit dem öffentlichen Interesse einer Aufrechterhaltung großflächiger agrarischer Nutzung abzustimmen16, andererseits die „freie Landschaft“ sowohl als öffentliches Gut wie als Wertschöpfungsressource, die zumal im Tourismusland Österreich den Rang einer tragenden Säule der Volkswirtschaft innehat, mit der Infrastruktur ihrer Verwertung17 langfristig auszubalancieren. Als Kriterium einer solchen staatlichen Ordnungstätigkeit wird der Begriff „Orts- und Landschaftsbild“ in den Rang einer gesetzlich geschützten Qualität erhoben, über deren Sicherung in den Prüfungs- und Genehmigungsverfahren der Bauverwaltungen auf kommunaler ebenso wie auf Landesebene zu befinden ist.

14 Als demokratisierte Form der ehemals dem städtischen Großbürgertum vorbehaltenen „Sommerfrische“. Vgl. Tschofen (1993) 15 Die Architektenschaft macht sich früh zum Anwalt eines Landschaftsschutzes und greift damit Traditionen des Berufsstandes aus der Denkmalschutzbewegung des frühen neunzehnten Jahrhunderts ebenso wie der Heimatschutzbewegung auf, die sich an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert konstituierte. 16 Vgl. Kühne 17 Kuess verknüpft die Ausweitung des Tourismus mit dem Bedarf an Raumplanung am Beispiel des Kleinen Walsertals, das in seiner Darstellung für die frühesten raumplanerischen Interventionen innerhalb Vorarlbergs steht: „Das sind drei Gemeinden, Riezlern, Hirschegg und Baad. (...) Weil einfach große Projekte angestanden sind, damals, in der Zeit, touristische Projekte vor allem. (...) Irgendwas (...) hat das Kleine Walsertal schon einmal raumplanerisch gemacht. War das nicht in den Fünfziger Jahren sogar, Sechziger, (...) rudimentäre Ansätze waren das damals, was Raumplanung betrifft, oder.“ (HK: Z 920 ff) Hier dokumentiert Kuess die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auslöser für Raumplanung einerseits und den Schritt der Architekturbewegung von der Konfrontation zur Kooperation mit den Gemeindeverwaltungen andererseits: Der Beginn eines Tourismus in großem Maßstab setzt das Signal hierzu. Die 1970er Jahre stehen für Wohlstand, sprunghafte Mobilitätssteigerung, Individualisierung. 18 „Am neuen Baugesetz fällt besonders auf, daß für die Baubehörde zahlreiche Möglichkeiten eingebaut sind, Maßnahmen zum Schutze des Landschafts- und

Ortsbildes vorzuschreiben bzw. solche Auflagen festzulegen.“ Grabher, S. 1572 Die Erstfassung des Vorarlberger Baugesetzes vom 12.07.1972 führt Schutz des Landschafts- und Ortsbildes noch als § 22, § 17 regelt Ankündigungen und Werbeanlagen. Die Gesetzesnovelle vom Herbst 2001 vereinigt beide Paragraphen zum heutigen § 17 Schutz des Orts- und Landschaftsbildes. 19 Gemäß Landtagsbeschluß vom 01.03.1973 20 „Das Grundstück ist dann bebaubar, wenn es als Baufläche gewidmet ist. (...) Aber natürlich nicht uneingeschränkt, sondern es kommt drauf an, was für eine Nutzung, je nachdem, was es für eine Widmung hat.“ (HK: Z 363 ff) 21 Der Supermarktunternehmer Jürgen Sutterlüty kommentiert als unmittelbar Betroffener denjenigen Aspekt der Raumordnung, in dem diese mittels Vorgabe von Art und Maß der baulichen Nutzung in Flächennutzungsplänen die Wirtschaftsstruktur des Landes steuert: „Das Problem ist, daß die Landesgesetzgebung (...) versucht, (...) Zentrumsentwicklung voranzutreiben und Nahversorgungsstrukturen zu schützen. Völliger Irrsinn, totale Katastrophe, wir haben eine Mißkultur im Land, daß es zum Himmel schreit“ (JS: Z 412 ff). Sutterlüty kritisiert, daß der Discounter als Hauptkonkurrent des Supermarkts durch die staatlichen Eingriffe einen Wettbewerbsvorteil erhalte. Gleichzeitig rechtfertigt er mit seiner Aussage „Was nützen die Siedlungsstrukturen, die Verantwortung dafür kann nicht der Supermarktunternehmer übernehmen“ (JS: Z 764 ff), die Notwendigkeit staatlicher Schutzmaßnahmen gegenüber der ökonomisch

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Als gesetzliche Grundlage dieses für den demokratischen Staat neuen Feldes seiner Regelungstätigkeit wird 1972 der „Schutz des Landschafts- und Ortsbildes“18 in das Vorarlberger Baugesetz aufgenommen sowie 1973 das Vorarlberger Raumplanungsgesetz erlassen19, zu dessen Umsetzung die Raumplanungsstelle eingerichtet wird. Das Gesetz sieht vor, die Landesfläche in Nutzungszonen zu gliedern und diese Zonierung in Form entsprechender „Widmungen“ der Flächen20 sowohl auf Landesebene wie auf der Verwaltungsebene der Kommunen als Grundlage der baulichen ebenso wie der wirtschaftlichen21 Gemeindeentwicklung zu verankern.22 Die Raumplanungsstelle des Landes erhält von Anfang an eine Doppelrolle. Zunächst hat sie als genehmigende Behörde die Gemeinden bei der nunmehr verpflichtenden Aufstellung von Flächennutzungsplänen zu unterstützen. Daneben ist sie Bewertungs- und Schlichtungsstelle in solchen Baugenehmigungsfragen, in denen die architektonische Gestalt einzelner Bauvorhaben in bezug auf das „Ortsbild“ zum Streitfall zwischen Bauwerber und kommunaler Baubehörde eskaliert.23

bestimmten, kurzfristig angelegten Handlungslogik von Wirtschaftsunternehmen. Der Unternehmer als „Förderer von Architektur“ wird, wie Sutterlütys Sichtweise dokumentiert, nur diejenigen Aspekte fördern, die mit den Unternehmenszielen in Deckung zu bringen sind. Die Verantwortung für Siedlungsstrukturen übernimmt weder der Unternehmer noch sein Architekt, der lediglich die Verwertung des Standorts bearbeitet. Die Steuerung von Unternehmensansiedlungen fällt daher einzig und allein der Politik, den Kommunen und der Landesraumplanungsstelle zu. In einer Zeit, in der der Staat immer mehr seiner Aufgaben der Obhut privater Unternehmen anvertraut, werden solche öffentlichen Belange auf ökonomische Kriterien reduziert werden. Alle darüber hinausgehenden Aspekte öffentlicher Belange verlieren ihren bisherigen institutionellen Schutz, solange sich keine neuen gesellschaftlichen Institutionen bilden. 22 Vgl. Feurstein 23 Aus der Perspektive der vorliegenden Studie steht die Siedlung Im Fang in Höchst für einen solchen Konflikt zwischen Bauherren und kommunaler Baubehörde, der erst durch Unterstützung der Raumplanungsstelle, hier flankiert durch ein architekturbezogenes Gutachten Friedrich Achleitners, zugunsten der Bauherren entschieden wird. Auszüge aus meinem Gespräch mit Norbert Mittersteiner verdeutlichen Reibungsflächen des Konflikts und die Positionen der Kontrahenten: „Gerüchte, daß da eine Kommune, oder sonst irgendwas entstehen sollte (...). Die haben uns Auflagen erteilt, die wir einfach nicht einhalten wollten, oder. Höchst war damals noch kein Bauamt (...) die

haben das von einem auswärtigen Baufachmann beurteilen lassen, der hat in unsere Baueingabepläne Fensterläden reingezeichnet, Sockelgeschoß mit Mauerwerk, Natursteinmauerwerk, (...) und hat das einfach im Baubescheid vorgeschrieben, und das haben wir halt nicht gemacht, oder. Wir habens dann auch durchgesetzt, oder. Es gab ja ständige Prozesse während der Bauzeit, zwischen Baueinstellungsverfahren und überhaupt aufhören müssen“ (RNM: Z 836 ff). „Dann in Götzis, da haben wir eine Siedlung gebaut, und da ist es einfach nicht vorwärts gegangen mit der Bewilligung (...). Und dann hat der damalige Stadtbaumeister gesagt „von mir kriegt ihr nie eine Bewilligung, was ihr mit denen in Höchst gemacht habt, das passiert bei mir nicht.“ (...) Wahrscheinlich auch ein Lernprozeß für die Behörde. NM Kann man sagen, ja. Erst recht, als wir für diese ganzen Baukünstlergeschichten den Preis gekriegt haben vom Land“ (RNM: Z 1059 ff). Behördenwillkür, der Fürstenhabitus von Bürgermeistern, ländlicher Kleingeist, Widersprüche der Bauordnung und, wie in Wratzfelds Erzählung (GW: Z 75 ff), ein Generationenkonflikt zwischen Bauherren und Behördenvertretern, Überalterung von Vorschriften und Personal also, bieten den Architekten Ansatzpunkte in strittigen Genehmigungsverfahren mit kommunalen Baubehörden. Das Land ergreift Partei für die Modernisierer und unterstützt die Architekten in den Auseinandersetzungen mit den Kommunen. Diese Haltung der Landesregierung findet ihren Höhepunkt in der Preisverleihung an die Baukünstler 1992. Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg

Gesetzliche Neufassung des Baurechts

Doppelrolle der Raumplanungsstelle

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Ihr kommt damit eine Beratungsfunktion in Gestaltungsfragen architektonischer Natur zu, Fragen, die, wie bereits dargestellt, immer auch über soziales Kapital mitentscheiden und die eine neue Wertekategorie im Medium eines akademisch bestimmten Formdiskurses in die bis dahin unakademische, bäuerlich-handwerklich dominierte dörfliche Sphäre hineintragen. Kuess: Die einzelnen Sachbearbeiter sind ja auf das Land aufgeteilt, zuständig, zum Beispiel Walgau oder Montafon, und viele Gemeinden aus diesen Talschaften, die holen sich immer wieder den zuständigen Sachbearbeiter von der Raumplanungsstelle als Berater fürs Ortsbild.24

Aus der intensiven Inanspruchnahme dieses Beratungsangebots der Raumplanungsstelle erklärt Kuess die spezifische Legitimierung der Institution Gestaltungsbeirat für das ländlich strukturierte Vorarlberg. Das sind auch die Leute von der Raumplanungsstelle, die (...) die Gemeinden hinsichtlich der Installierung eines Gestaltungsbeirates ja beraten, weil die Raumplanungsbehörde natürlich überfordert ist mit der, wenn sie sämtliche Gemeinden diesbezüglich beraten würde.25

Die Raumplanungsstelle bestärkt die Gemeinden darin, eigene Gestaltungsbeiräte zu installieren, um sich selbst von der Beratungstätigkeit bezüglich einzelner Bauvorhaben zu entlasten. Neben dieser Begründung, die vor allem die Alltagspraxis einer überforderten Behörde spiegelt, enthält die Empfehlung an die Gemeinde, einen Gestaltungsbeirat zu installieren, eine implizite Ebene, die das Selbstverständnis des Dorfes als sozialer Lebensform betrifft. Es ist nicht dasselbe, ob der Rat, Zeitgenössische Architektur in das Ortsbild aufzunehmen, intern oder extern erteilt wird. Mit einem Gutachten des eigenen Gestaltungsbeirats macht sich die Gemeinde das Urteil weit mehr zu eigen als durch eine von außen kommende Stellungnahme der Raumplanungsstelle.26 Diese kursorische Darstellung der Entwicklung vom Raumplanungsgesetz, dem Ortsbildschutzparagraph im Baugesetz zu den Aufgaben der Landesraumplanungsstelle und deren „Entlastung“ durch Gestaltungsbeiräte innerhalb der Vorarlberger Gemeindeverwaltungen enthält prägnante Sprünge, die deutlich werden, sobald wir die Feststellungen des Abschnittseingangs nochmals in Erinnerung rufen: Der Staat als Gesetzgeber dehnt seit den 1970er Jahren seine Regelungstätigkeit des Baugeschehens aus. Erst24 HK: Z 737 ff 25 HK: Z 753 ff 26 Ein aktuelles Vorarlberger Beispiel für die Eskalation eines Konflikts um die Etablierung Zeitgenössischer Architektur ist der „Montafoner Architekturstreit“. Hier haben sich Fronten zwischen lokalen stake holders, vor allem Vertretern des Tourismusgewerbes, und der Landesraumplanungsstelle verhärtet. Die vermittelnde Instanz „Gestaltungsbeirat“ fehlt in den Gemeinden des Montafon noch weitgehend. 27 Kuess ordnet den Beginn seiner Zusammenarbeit mit Wolf Jürgen Reith einer Phase zu, „wo die

Raumplanungsstelle dann so eine wichtige Funktion angenommen hat, was die baukulturelle Entwicklung betrifft“ (HK: Z 715 ff). 28 Auch Rudolf Wäger ordnet die Befürwortung Zeitgenössischer Architektur den oberen Instanzen der Baubehörde zu, die Ablehnung den unteren (Mangold S. 93). Ebd. auch: Landesgesetzgebung liberaler als Bundesgesetzgebung (S. 94). Wäger bestätigt hier die Feststellung, daß architektonische Ästhetisierung als Signal nach außen gelten darf, während sie nach innen als Entfremdung wahrgenommen wird.

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mals sind nun in Privatbesitz befindliche Grundstücke nicht mehr uneingeschränkt bebaubar. Der Staat regelt jedoch von diesem Zeitpunkt an nicht nur den Grad und die Art der baulichen Nutzung, sondern auch die ästhetische Gestalt der Bebauung.27 In den Gutachten seiner beamteten Vertreter werden avantgardistische Äußerungen Zeitgenössischer Architektur von Beginn der Tätigkeit der Raumplanungsstelle an ausdrücklich zur Realisierung empfohlen.28 Professionalisierte Architektur in zeitgenössischer Formensprache erhält durch diese Praxis der Landesbehörde gegenüber der Gesellschaft das Profil eines „legislativen“29 Mediums. Diesen Befund einer Einwirkung von Ästhetik auf die Gesetzgebung werden die folgenden Ausführungen näher beleuchten. Moser stellt in seinen volkskundlichen Ausführungen zum historischen Zentraldirigismus die Interventionen des Staates noch bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein als rein „utilitaristisch“ dar. Das ländliche Bauen wird zwar gesetzlichen Regelungen unterworfen, diese folgen jedoch ausschließlich ökonomischen, hygienischen und sicherheitstechnischen Erwägungen.30 Eine Brücke zwischen den Kriterien des historischen Zentraldirigismus und den gesetzlichen Neuerungen der 1970er Jahre, vor allem aber der Praxis ihrer Umsetzung, in denen der Staat seine Regelungstätigkeit auf ästhetische Bereiche ausdehnt und sich von nun an neben der materiellen und technischen Gestalt von Bauwerk und Siedlung auch für ihre Form interessiert, schlägt die Berücksichtigung des Wandels, den die Bewertung der Ästhetik des Bauwerks und das Bild der Landschaft mittlerweile erfahren haben. Durch den Tourismus, aber auch durch die marktwirtschaftlich bestimmte Standortkonkurrenz um wertschöpfende Industrieansiedlungen zwischen Gemeinden, Regionen und Ländern haben die ästhetisierten Oberflächen und skulpturalen Baukörper, wie Zeitgenössische Architektur sie hervorbringt, mittlerweile ihre ökonomische Bedeutung erwiesen, wodurch sie in die Sphäre volkswirtschaftlich relevanter „Güter“ fallen. Als solche sind sie zugunsten des Gemeinwohls gesetzlich zu fördern, zu schützen und damit der Verfügungsgewalt der Bevölkerung vor Ort möglichst zu entziehen. 29 Die seitens der Raumplanungsstelle betriebene „Umfirstung“ der Lecher Teilgemeinde Zug repräsentiert ein solches neues „Gestaltgesetz“ im lokalen Rahmen, das mittels Architektur in Erscheinung tritt bzw. durch das Medium Architektur gesetzt und damit „Gesetz“ wird. Insbesondere die Rechtsstellung der Raumplanungsstelle als Landesbehörde schafft dasjenige Hierarchiegefälle zu den kommunalen Bauämtern bzw. Bürgermeistern, welches die Unterscheidung zwischen „Gesetz“ und „Rechtssprechung“ abbildet, die staatsrechtlich als Beziehung zwischen Legislative und Judikative in Erscheinung tritt.

Ausdrücklich ist die Solidarität des Gesetzgebers mit den Zielen Zeitgenössischer Architektur in der 45. Beilage im Jahre 2001 des XXVII. Vorarlberger Landtages formuliert. Als Kommentar zur Novellierung des Vorarlberger Baugesetzes ist dort ausgeführt: „Vorarlberg gilt heute als ein regionales Zentrum der Architektur in Europa. Diese Entwicklung soll weiterhin unterstützt werden“ (S. 19). 30 Moser, S. 16 31 Crary (S. 64 f) nimmt mit dem Begriff „Gesellschaft des Spektakels“ Bezug auf Guy Debord.

Architektur als legislatives Medium

Rückgriff auf den historischen Zentraldirigismus

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Volkswirtschaftliche Bedeutung architektonischer Ästhetisierung

Die Produktionsbedingungen Zeitgenössischer Architektur, die ihren Qualitätsbegriff gerade aus ihrem Nonkonformismus bezieht und sich darin auf die Tradition des „spektakulären“ Kulturbegriffs der Moderne31 stützt, scheinen zunächst den Strukturen staatlichen Verordnungswesens ebenso diametral wie systematisch entgegenzustehen. Eine eingehende Analyse der Vorarlberger Raumplanungs- und Baugenehmigungspraxis legt jedoch offen, daß in der Verknüpfung von Affinität zur Zeitgenössischen Architektur seitens des Gesetzgebers, der Rechtsstellung der Landesraumplanungsstelle als Aufsichtsbehörde der kommunalen Bauämter und schließlich der großflächigen Etablierung von Gestaltungsbeiräten innerhalb dieser Organe eine Nutzungspraxis des für sich genommen „üblich“ ausgestatteten Instrumentensortiments der Bau- und Raumordnung32 etabliert werden konnte, die die spezifischen Wachstumsbedingungen architektonischer Realisierungen gezielt berücksichtigt und, insbesondere durch das Prinzip der „Beurteilung des Einzelfalls“33 den gesetzlichen Ordnungsraum entsprechend „freihält“.34 In dieser Rückwirkung auf die Anwendungspraxis der Bau- und Raumordnungsgesetze und sogar der Gesetzgebung selbst 35 liegt derjenige Aspekt ihrer sozialen Verfaßtheit, der Architektur in Vorarlberg zum „legislativen“ Medium und damit zu einer staatlich etablierten „Leitkultur“ werden läßt, die weit über das unmittelbare Bau- und Raumordnungsgeschehen hinaus in die Selbstkonstitution der Gesellschaft ausstrahlt.

Regionale Baurechtskulturen

Es ist vor allem das Instrument des Bebauungsplans36 und seine Anwendung in der Planungs- und Genehmigungspraxis der kommunalen Baubehörden, die die Eigenständigkeit der Vorarlberger Situation37 vor allem gegenüber der baubehördlichen Praxis im benachbarten Deutschland markiert.38 Bür32 „Seit der Anfangszeit gibts Bebauungsplan, gibts Teilbebauungspläne, (...) die Instrumente sind alle da, sind gesetzlich verankert, oder. Man kann sie anwenden“ (HK: Z 840 ff). 33 „Es gibt vielleicht Situationen, wo es einfach gerechtfertigt ist, daß da zum Beispiel ein Satteldach (ist), (...) aber das in ein Planwerk zu gießen, und das zu reglementieren, ist schwierig“ (HK: Z 819 ff). Bemerkenswert erscheint hier, daß Kuess die Rechtfertigung des Satteldachs hervorhebt und nicht des Flachdachs. Offenbar, weil das Satteldach in der baulichen Landschaft Vorarlbergs das prägnantere ist, das zur Akzentsetzung geeigneter erscheint. Dies im Gegensatz zur Situation in Deutschland, wo das Satteldach die verordnete Normalform für das ländliche Bauen ist. Und: Die Verhandlung des Einzelfalls als Rechtsprinzip beinhaltet auch den Anspruch, geltendes Recht einer Verhandlung auszusetzen. 34 „Meistens sinds (...) Richtpläne. Also, daß man da ja nicht Entwicklungen, also daß man da nicht zuviel [regelt].“ (HK: Z 859 ff)

35 Vgl. Anm. 29 36 „Der Bebauungsplan kann (...) vernünftige Erschließungsformen, vernünftige Positionierung von Baukörpern vielleicht [vorgeben] und gewisse Dichtereglementierung, (...) daß man Struktur herbringt, aber baugestalterische Qualität läßt sich mit dem Bebauungsplan nicht erreichen. Dort greift viel eher das Instrument mit dem Gestaltungsbeirat und der sonstigen Beratung im Einzelfall“ (HK: Z 784 ff). 37 Einen zunächst überraschenden Aspekt dieser Situation, die Topographie des Berglandes als individualisierende Voraussetzung, erwähnt Bürgermeister Nußbaumer: „Man kann das nicht vereinheitlichen. Das kann man in der Ebene. Bei uns ist die Topographie bestimmend, oder die Landschaft. Einmal baut man am Hang, einmal ist der Hang so steil, einmal ist er so steil, einmal ist es eben... man kann hier nicht ein durchgehendes Bebauungskonzept machen, in dem alles so und so ausschauen muß. Das bringt eigentlich die Vielfalt der Architektur, da konnten sich die Architekten auch besser entfalten.“ (PN: Z 329 ff)

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germeister Peter Nußbaumer, selbst kommunale Genehmigungsinstanz39, verzichtet für seine Gemeinde bewußt auf dieses Instrument, um im Ortsbild „diesen Einheitsbrei“40 zu vermeiden und statt dessen „Qualität“ zu ermöglichen: „Es gibt keinen Bebauungsplan. (...) Es gibt Planungsrichtlinien für die Gemeinde, (...) aber die sind nicht bindend, es sind Planungsempfehlungen.“41 Bereits im vorangegangenen Abschnitt dieses Kapitels haben wir die „Verordnungskultur“ Deutschlands einer Vorarlberger „Verhandlungskultur“ gegenübergestellt, um die spezifischen baurechtlichen Voraussetzungen des Forschungsfeldes herausarbeiten zu können. Dem „eigenen Standpunkt zum Recht verhelfen“ zu können42, ist das Potential, das im Vorarlberger Baurecht durch die Praxis der Bauverhandlung angelegt ist. Die Verhinderung eines Neubaus durch Intervention eines Nachbarn, wie sie etwa Schmidinger verursacht43, markiert die Extremfolge einer solchen Verhandlung. Ein rechtsgültiger Bebauungsplan würde solche direkten Diskussionen unter Nachbarn von vornherein unterbinden, indem er die hier verhandelten Qualitäten vorwegnimmt und sie auf einer dem einzelnen Bürger unzugänglichen Gesetzesebene fixiert. Gerhard Gruber hatte unser Augenmerk neben dieser „staatsbürgerlichen“ Ebene auf Auswirkungen der spezifisch Vorarlberger Verhandlungskultur für die Verwaltungsebene gelenkt: „In Deutschland (...) da gibts Pläne, und fertig, und dann geht nix mehr. Und es ist völlig klar, was jeder darf. Und das ist hier nicht so.“44 Gruber zufolge entsteht aus dem Verzicht auf das präventive Regelungsinstrument Bebauungsplan neben dem gestalterischen45 38 Eine Abgrenzung gegenüber dem „großen Nachbarn“ Deutschland taucht in den Forschungsgesprächen an vielen Stellen auf. Von einer solchen gesellschaftlichen Wahrnehmung zu einer gezielten Förderung in Form gesetzlicher Rahmenbedingungen seitens des Staates ist es ein kleiner Schritt. Mit diesem Schritt wird aus der Abgrenzung eine gestaltete „Profilierung“, die etwa innerhalb einer (überregionalen/ internationalen) Standortkonkurrenz Sinn und ökonomischen Wert erhält. Peter Nußbaumer: „Das ist eigentlich das, was Vorarlberg so interessant macht, das Fehlen dieser Baurichtlinien. (...) Deshalb die hohe Qualität, bin ich der Meinung. Weil man bei uns sehr viel zuläßt. Man läßt fast alles zu.“ (PN: Z 319 ff) 39 Die Vorarlberger Bürgermeister als Genehmigungsbehörde erster Instanz (§ 50,1 Vlbg. Baugesetz) sind zentrale Schnittstelle in der Architektursozialisation. Es sind „Architekturlaien“, die für oder gegen Architektur in ihrem Gemeindegebiet entscheiden. Die deutsche Baurechtspraxis, ohne gesetzliche Grundlage (Bebauungsplan) kein Bauen zuzulassen, ersetzt die in Vorarlberg von Architektur eingenommene Rechtsposition durch Baugesetz.

40 PN: Z 530 ff 41 PN: Z 315 ff; Vgl. Anm. 58 42 WS 1: Z 911 ff 43 Vgl. den ersten Abschnitt dieses Kapitels. 44 GG: Z 681 ff 45 Arno Eugster, Bürgermeister Nußbaumer und Wolfgang Schmidinger erwähnen als Selbstverständlichkeit, daß die Positionierung des Hauses auf dem Grundstück Bestandteil des Entwurfs ist: „Wir haben dem Architekten alles freigestellt. Die ganze Wiese, das ganze Grundstück war frei, ich habe gesagt, ,wo willst du da bauen?‘ “ (ALE: Z 123 ff). Eine solche Voraussetzung verleiht jedem neuen Haus viel mehr Gewicht, als es ein Bauen innerhalb eines Bebauungsplans könnte, durch den die Bebauung bereits vorgedacht, das Erscheinen und die Erscheinung des neuen Hauses schon imaginiert und beschlossen ist. Nebenbei ist ein Ortswachstum auf diese Weise enger am baulichen Bestand orientiert. Erst ein Bebauungsplan kann in größerem Maßstab Regeln vorgeben, die zum gewachsenen Umfeld in Kontrast treten. 46 PN: Z 539 ff 47 Ebd.

Gestaltungsbeirat im Baugenehmigungsverfahren

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Verwaltungstechnische Folgen rechtlicher Freiräume

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auch ein rechtlicher Freiraum. Bürgermeister Nußbaumer definiert diesen als Chance für das Neue: „Und so lassen wir aber auch neue Dinge zu, wir sind so einfach offener.“46 Er sieht aber aus seiner Erfahrung als Genehmigungsinstanz auch die dem Freiraum entwachsenden verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, den Verzicht auf die „Möglichkeit, den Deckel zu zu machen“.47 Aus der geschilderten regionalen Baurechtspraxis entsteht ein für Vorarlberger Gemeindeverwaltungen typisches Dilemma. Gruber steuert zu dessen Beurteilung die Sichtweise des Sulzberger Bürgermeisters bei, zu dem er eine nahe Arbeitsbeziehung unterhält. Der Bürgermeister von Sulzberg hat anläßlich (...) von diesem Haus, das man da in die grüne Wiese gestellt hat und noch dazu ist es blau angestrichen worden, zu mir gesagt, er findet den Bürgermeisterberuf schön, „wenn es nur diese Bausachen nicht gäbe“. (...) Da gibts einfach so viele andere Dinge, die da mitentscheiden, daß das einfach sehr kompliziert wird. Daß, wenn der das dann ablehnt, der andere das als Kriegserklärung auffaßt und sagt „wieso ich nicht, und der andere hat dürfen.“ (...) Und da ist es wahnsinnig schwierig für den Bürgermeister. Er hat ja auch letztlich rechtlich keine Handhabe. Wenn jemand kommt und sagt, er will das Haus bauen, und er bringt einen guten Rechtsanwalt mit, da baut er das Haus dann auch. Da kann der Bürgermeister Bauinstanz sein, ob er will oder nicht, der andere baut das Haus.48

Dadurch, daß keine Bebauungspläne existieren, ist jedes Baugenehmigungsverfahren eine neue Verhandlung vom Nullpunkt an. Die gesetzliche Präfiguration des legalen Handlungsrahmens, diejenige Objektivität, die ein gesetzlich formulierter „Plan“ für das setzt, was in Grubers Worten „jeder darf“, entfällt. Durch die große soziale Nähe, die im Dorf herrscht, ist zudem die Möglichkeit einer rein sachlichen Beurteilung, die frei ist von persönlichen Rücksichten, verstellt. In einer Anekdote aus der Bauzeit seines Hauses illustriert Arno Eugster den Versuch des früheren Langenegger Bürgermeisters, nachbarschaftliche Anteilnahme an den Anstrengungen des Häuslebauers und seine amtliche Rolle, ebendiese Handlungen zu bewerten und Abweichungen zu sanktionieren hat, zu verbinden. Als ich die roten Latten montiert habe, ist der damalige Bürgermeister jeden Tag vorbeigegangen, am Morgen, am Mittag, auf dem Weg zur Arbeit im Gemeindeamt, und hat mit mir geredet, ob ich es recht streng hätte und so weiter. Und der Abbruchbescheid ist dann per Post gekommen, als alles fertig war, als der letzte Nagel eingeschlagen war.49

Peter Nußbaumer ist Nachfolger jenes Bürgermeisters, der die Fertigstellung von Eugsters rotem Haus durch einen Abbruchbescheid quittiert hatte. Er schildert die Erschütterung der Bewertungsautorität, die die traditionellen dörflichen Eliten als psychologische Folge jenes „Mordswirbels“ erfahren hatten: „In der Folge hat das Haus (...) den Staatspreis für Architektur bekommen. (...) Das war wie eine Wa... eine Ohrfeige für den Bauausschuß, und seit diesem Zeitpunkt gabs mit der Besetzung immer etwas Probleme.“50 In seiner eigenen Genehmigungspraxis zieht er Konsequenzen aus jener „Ohrfeige“, die sein Vorgänger erhalten hatte, indem er die dörflichen Institutionen der Bauverwaltung stufenweise umbaut. Zunächst holt er einen

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Architekten in den ansonsten durch örtliche Handwerker und Landwirte besetzten Bauausschuß, ein Zwischenstadium, das die traditionellen dörflichen stake holders faktisch entmündigt. Jeder hat zuerst geschaut, was sagt jetzt der Architekt, weil der es ja gelernt hat, und der Architekt hat gesagt, ja das ist gut, das ist schlecht (...) und hat das begründet (...). Aber die anderen Teilnehmer, die Nichtkenner, sehen das immer anders: „Ein großer Balkon ist etwas Schönes und ein großes Vordach ist etwas Schönes...“ Und er hat dann in seiner Argumentation die Entscheidung immer zu seinen Gunsten (...) auslegen können. (...) Das war auch der Grund, warum man ihn [den Bauausschuß] ’95 abgeschafft hat. (...) Also, wenn jemand ein fundiertes Studium hat, (...) dann sollte man dem vertrauen.51

Langenegger Bausachen sind seither „ausschließlich Angelegenheit des Bürgermeisters“.52 Zur fachlichen Beurteilung zieht Nußbaumer einen Architekten seines Vertrauens hinzu, der damit die Rolle eines Gestaltungsbeirats einnimmt. Das Duo Bürgermeister/Gestaltungsbeirat ersetzt nun den kommunalen Bauausschuß. Die traditionellen dörflichen Anspruchsgruppen sind damit ihrer angestammten Gestaltungsmacht enthoben. Die Orientierung des Dorfes wandelt sich in diesem Prozeß, es orientiert sich nun nicht mehr nach innen, sondern nach außen. Jonathan Crary beschreibt diesen Vorgang als gesellschaftliche „Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit“53 und stellt die sich im neunzehnten Jahrhundert entwickelnde Gestaltungskraft des Kapitalismus als zentralen Antrieb dar. Die festgestellte Ökonomisierung des ländlichen Raumes durch architektonische Ästhetisierung ist derjenige Indikator, der erlaubt, Crarys umfassend auf die Wahrnehmungskultur der Moderne bezogene Feststellung auf unser Forschungsfeld anzuwenden.54 Bürgermeister Nußbaumer hat für sein Dorf den architektonischen Fachdiskurs zur ausschlaggebenden Bewertungsebene erhoben, auf der die Weichen zur Weiterentwicklung des Ortsbildes gestellt werden.55 Die Diskussio48 GG: Z 657 ff Bürgermeister Nußbaumer bestätigt Grubers Feststellung: „Ich kann ein Bauwerk nicht verhindern allein aufgrund seiner Gestaltung, ich kann es verzögern, das Bauwerk kann ich nicht verhindern, weil uns eben dieser rechtliche Bebauungsplan fehlt.“ (PN: Z 355 ff) 49 ALE: Z 280 ff 50 PN: Z 444 ff 51 PN: Z 461 ff 52 PN: Z 279 ff 53 Crary, S. 65. Ebd. zitiert der Autor auch Max Webers „innere Vereinsamung des Individuums als Grundlage des Kapitalismus“. 54 Skript Wohnbauforum III/2004 dokumentiert eine anders, nämlich sozial, gelagerte Programmatik fachlicher Beiräte, die Grundstücksbeiräte Wiener Baugenehmigungsbehörden. Architekt Johannes Kaufmann grenzt diese Praxis in seinem Diskussionsbei-

trag gegen die architektentypischen Kriterien der Vorarlberger Gestaltungsbeiträge ab, deren Beurteilung „oft nicht über die Fassade und die städtebauliche Situation hinausgeht“. S. 54 55 Die architektonische Qualitätssicherung an sich steht für Bürgermeister Nußbaumer außer Frage. Er blickt für die Gemeinde Langenegg auf einen zwanzigjährigen Lernprozeß zurück. Öffentliche Bauten werden als Wettbewerb unter regionalen Architekturbüros ausgeschrieben (PN: Z 48 ff). Es ist also keineswegs ein Schritt ins Unbekannte, der mit der Auslobung eines Wettbewerbs getan wird. Im Gegenteil erwartet die Gemeinde, daß von den Architekten bewährte Qualitätsarbeit geleistet wird. Die räumliche Nähe zu den beteiligten Architekten ist hier Qualitätsausweis für diese, repräsentiert das in jahrelanger Zusammenarbeit gewachsene Vertrauen. Der Wettbewerbssieger der Langenegger Gemeindebauten etwa stammt selbst aus Langenegg.

Soziale Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit

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Ziviltechniker als Verwaltungshelfer

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nen finden nun im Kurzschluß zwischen „Fachleuten“ statt:56 „Das muß ein Architekt mit dem Architekten ausmachen.“57 Auch die Gestaltungsrichtlinien der Gemeinde Langenegg empfehlen potentiellen Bauwerbern ausdrücklich, sich an den Preisträgern der regionalen Architekturpreise zu orientieren.58 Ebenso wie der Bestellung von Architekten zu Gestaltungsbeiräten aus der Sicht ländlicher Bürgermeister, wohnt auch der Empfehlung der Landesraumplanungsstelle, die die Bürgermeister eben darin bestärkt, eine verwaltungstechnische Logik inne. Daß gerade Architekten geeignet erscheinen, Landes- und Kommunalbehörden bei ihrer Beratungs-, Beurteilungs- und Planungstätigkeit zu entlasten, fußt gerade in Österreich auf ihrer besonderen Rechtsstellung als staatlich befugte und vereidigte Ziviltechniker, einem Berufsstand, der im neunzehnten Jahrhundert mittels Privilegien nah an der staatlichen Verwaltung positioniert und als „Verwaltungshelfer“ eingesetzt worden war.59 Ein Nebeneffekt dieser Nähe, die zwischen den Beamten der Raumplanungsstelle und den freiberuflichen Architekten auf der personellen Beziehungsebene sowie der Nähe zwischen behördlicher Definition von Architektur und dem innerfachlichen Avantgarde-Diskurs auf der formalen Bewertungsebene herrscht, ist darin zu sehen, daß gleichzeitig der kollegialen Liberalität innerhalb der Vorarlberger Architektenschaft, die noch vor kurzem auch nichtakademische, dem handwerklichen Milieu entstammende Planer als ihresgleichen anerkannt hatte60, entgegengesteuert wird: In der fachlichen Konfrontation zwischen Gestaltungsbeirat und vom Bauherrn beauftragten Planfertiger, die der Vorgang der Baugenehmigung schafft, sitzt immer der „befugte und beeidete“ Architekt auf seiten der Baubehörde und befindet gegebenenfalls über den Entwurf eines „nicht beeideten“ Berufskollegen, nie umgekehrt.61 Mit dem neugeschaffenen sozialen Privileg, das die Berufung in einen Gestaltungsbeirat gewährt, rekonstituiert die staatliche Bauverwaltung die 56 Solche Konflikte zwischen Architekten, die im Genehmigungsverfahren konträre institutionelle Positionen einnehmen, dokumentiert etwa Skript Wohnbauforum III/2004 im Diskussionsbeitrag des Architekten Philipp Lutz: „Der Gestaltungsbeirat hat uns dann doch das oberste Geschoss abgerissen. (...) Seither steht die Planung still.“ S. 50 57 PN: Z 541 ff 58 „Planungsempfehlung für Neu- und Umbauten von Objekten in der Gemeinde Langenegg: Das Ortsbild des Bregenzerwaldes ist geprägt von einfachen und klar strukturierten Baukörpern, die, auf einem rechteckigen Grundriss aufbauend, alle erforderlichen Räumlichkeiten und Funktionen unter einem Dach, bei durchlaufendem First und durchlaufenden Trauflinien beinhalten. Es sollte möglich sein, innerhalb einer solchen Baukörperhülle sämtliche Raumanforderungen für Wohnen, Freizeit, Garagieren usw. ein-

schließlich der überdeckten Freiräume wie Schopf, Veranda, Wintergarten oder dergleichen unterzubringen und so möglichst auf auskragende und auswuchernde Bauteile wie Balkon, Erker, große Dachgauben oder Kreuzgiebel zu verzichten. Bei Einsatz von Holz als Bau- oder Fassadenmaterial sollte ein klares Bekenntnis zur traditionellen Bregenzerwälder Holzarchitektur erkennbar sein und nicht nur zur ,Behübschung‘ von Teilfassaden dienen. Gute Beispiele für disziplinierte Zurückhaltung in architektonischen Belangen hat es gegeben und gibt es neuerdings wieder vermehrt – siehe Holzbaupreisträger. Den Bauherren wird empfohlen, sich vor den Planungsarbeiten mit den diversen ausgezeichneten Wohnobjekten der Talschaft und dessen Wohnkultur auseinanderzusetzen. Langenegg, 4. Februar 2002; Der Bürgermeister: Peter Nußbaumer“

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ursprüngliche Hierarchie zwischen den Planern akademischer und solchen nichtakademischer Herkunft, die durch die „Vorarlberger Baukünstler“ zeitweise unterlaufen worden war.62 Nicht zu unterschätzen ist in diesem Rekonstituierungsakt, den der Staat an der gesellschaftlichen Position seines siegeltragenden Architektenstandes vornimmt, der Aspekt, daß mit dem neugeschaffenen Privileg und der hierdurch neugeknüpften Loyalität gleichzeitig ein „blinder Fleck“ in der Wahrnehmung der Privilegierten verankert wird.63 Der Staat neutralisiert mit der erneuerten Nobilitierung der Architekten das Aufsässigkeitspotential, das die politisierte Architektengeneration, die in Vorarlberg zu Beginn der 1980er Jahre auftritt, einerseits in die Gesellschaft und andererseits in die Beamtenschaft der Baubehörde hineinzutragen droht. Wir haben bis hierher die Institution Gestaltungsbeirat, vor allem den Umstand, daß sie in Vorarlberg in einzigartigem Umfang etabliert werden konnte, aus der Sicht einer staatlichen Verwaltungslogik beobachtet. Kuess führt den Erfolg dieser Institution daneben auf einen Wandel in der gesellschaftlichen Positionierung der Architekten zurück, der zeitlich mit der Bildung der ersten Gestaltungsbeiräte im Land zusammenfällt. Das hängt einfach damit zusammen, (...) daß der Architekt, (...) ein ganz anderes Rollenbild auch in der Gesellschaft bekommen hat; wir als Baukünstler damals haben auch ein anderes Rollenbild, Rollen- also Berufsbild vertreten, im Prinzip. Das ist nicht der abgehobene Architekt, so im üblichen Sinn, so der Porsche-fahrende Architekt, sondern ein ganz normaler, wie soll ich sagen, Dienstleister, der einfach gewisse Dinge für alle Bevölkerungsschichten, nicht nur für gewisse Bevölkerungsschichten an und für sich bearbeiten kann. Was jetzt das Wohnen betrifft vor allem.64

Sein Begriff „Rollenbild“ bezeichnet sehr genau, daß der angesprochene Wandel nicht die Rolle verändert, wie sie das Selbstbild des Architekten definiert, sondern ihr gesellschaftliches Bild, wozu ihre Akzeptanz ebenso 59 „Im Zuge der Reform der Staatsverwaltung im neunzehnten Jahrhundert wurden Ziviltechniker zur Entlastung der Verwaltung als Verwaltungshelfer (...) herangezogen, ohne dabei ein Staatsorgan zu sein. (...) Mit dieser Regelung wurden die Ziviltechniker aufgrund ihrer Urkundsbefugnisse umfassend privilegiert. Alle von ihnen im Rahmen ihrer Berufsausübung ausgefertigten Gutachten, Berechnungen, Pläne und Zeugnisse galten als öffentliche Urkunden. Aufgrund ihrer Planungen konnten Baubewilligungen ohne weitere behördliche Prüfung erteilt werden.“ (www.wikipedia.org „Ziviltechniker“,Stand 20.04.2010) Zwar ist seit der Novellierung des Ziviltechnikergesetzes 1993 das Beurkundungsrecht auf „Wissensund Beweisurkunden“ beschränkt, der äußeren Form nach repräsentieren Ziviltechniker aber weiterhin, etwa durch das Privileg, das Staatswappen zu führen und den Umstand, die „Befolgung der Gesetze“ beeidet zu haben, ihren Staat in weit höherem Maß als etwa der Architektenstand Deutschlands.

Vgl. auch: Themenschwerpunkt „150 Jahre Berufsstand der Ziviltechniker in Österreich“ in: Konstruktiv 277, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten April 2010, S. 7 ff 60 Explizit erwähnt Kapfinger (2003, S. 11) Rudolf Wäger. Im Kreis der Gesprächspartner der vorliegenden Studie repräsentieren Norbert Mittersteiner und Bertram Dragaschnig den Typ des Planers, der aus dem Handwerk stammt. 61 Vgl. Raspotnig (2007), S. 190 ff: „Liste der Beiratsmitglieder nach Namen“. Die Liste führt die akademischen Titel der Beiräte auf und zeigt, daß das Prinzip, ausschließlich Architekten das Privileg einer Berufung zuzuerkennen, konsequent verwirklicht wurde: Lediglich fünf Prozent der nahezu dreihundert Genannten tragen neben dem obligatorischen Dipl. Ing. bzw. Mag. arch. keinen Architekten- oder Bauratstitel. Nichtakademiker fehlen vollständig. 62 Zum „Befugnisstreit“ von 1983/84 vgl. Kapfinger (1992), S. 5; ders. (2003), S. 15

Rekonstitution der Planerhierarchie

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gehört wie die angesprochene Positionierung gegenüber Bürgern und Staat.65 Um das „Erfolgsmodell Gestaltungsbeirat“ auf der gesellschaftlichen Ebene zu verstehen, rekapitulieren wir die bisher festgestellten Inhalte dieser Rolle, das Selbstbild der Architekten von ihrer beruflichen „Bestimmung“ also, um anschließend Kuess´ Befund zu interpretieren, daß diese Rolle im Vorarlberg der 1980er Jahre „für alle Bevölkerungsschichten“ Akzeptanz finde. Der Architekt findet als Gestaltungsbeirat zu seiner eigentlichen Bestimmung

Gerhard Gruber hat in unserem Gespräch über seine Tätigkeit in Thal seine Rolle mit einer „Dienstleistung für Gestaltung“66 umrissen. Architektonische Gestaltung gibt den Abläufen des Lebens und seinen Dingen Gestalt. Durch die Parallelsetzung von Architektur und Religion haben wir gezeigt, daß mit dieser Gestaltung als Architektur gleichzeitig eine soziale Sinnstiftung verbunden ist, zu der die Bezugnahme auf das historische Archiv der legitimen 63 Der Staat dokumentiert sein Interesse an einem loyalen Architektenstand durch die Ziviltechnikerprivilegien und bestätigt hierdurch gleichzeitig die soziale Wirkmacht von Architektur. Ein wiederkehrendes Motiv in den Forschungsgesprächen der vorliegenden Studie sind fünfzehn bis zwanzig Jahre zurückliegende Konflikte mit den Baubehörden aufgrund von Architektenentwürfen für Häuser, die von den Bauherren im Sinne einer Auftragserfüllung akzeptiert, durch lokale Genehmigungsbehörden aber abgelehnt werden. Zwei Exkurse erschließen Aspekte der komplexen Beziehung zwischen Architektur und Staat auf dem Feld ihrer gemeinsamen Wirkmacht als gesellschaftsordnenden Institutionen. 1. Exkurs Architektur und Staat: Architektur als gesellschaftliches Gewissen Wolfgang Schmidinger gibt bei seinem Architekten den Entwurf für sein Wohnhaus unter der Maßgabe in Auftrag, daß der Entwurf zum vorhandenen elterlichen Wohnhaus mit seinem Tischlereianbau „passen“ soll. Die Entscheidung darüber, was paßt, „in der Form“, hat Schmidinger dem Architekten „völlig überlassen“ (WS 1: Z 1355). Dem Architektenentwurf, vom Bauherrn akzeptiert, wird seitens des dörflichen Bauausschuß jedoch zunächst die Baugenehmigung versagt. Die Schwierigkeiten, die Schmidinger daraus erwachsen, lastet dieser nicht dem Architekten an, sondern nimmt sie auf sich. In der darauffolgenden Auseinandersetzung setzt sich der Architektenentwurf schließlich durch. Der Fall läßt die rechtliche Position des Architekten ähnlich der eines Richters erscheinen. Indem der Architekt Träger des Staatswappens ist, ist seine „Unabhängigkeit“ als Bestandteil des Gemeinwohls legitimiert. In den totalitären Staatsapparaten Europas wurde Architektur, und damit der Architektenstand, im Sinn einer Staatsdoktrin eingesetzt. Weigerungen

von Architekten, sich dieser zu unterwerfen, zogen Berufsverbot nach sich. Was existiert in einem demokratisch verfaßten Staat, der sein Wappen den Architekten anvertraut, anstelle einer solchen Staatsdoktrin? Wie erfüllt der Architekt seine Pflicht gegenüber seinem Staat, vor allem in Fällen, wo er Konflikte mit Behörden provoziert? Der vorliegende Fall und seine Wiederkehr in den Forschungsgesprächen stellt das fachliche Urteil der Architekten als Kontrollinstanz gegenüber lokalen staatlichen Institutionen dar. Der Staat schafft mit dem Architekenstand ein „unabhängiges“, durch Kunst legitimiertes Organ mit erheblicher Gestaltungsmacht. Die soziale Position, die Architektur in Vorarlberg innehat, zeigt, daß sogar Baugesetze gegebenenfalls den Erfordernissen von Architektur anzupassen sind. 2. Exkurs Architektur und Staat: Architektur ignoriert den politischen Kontext ihres Einsatzes Architekten erscheinen durch die historisch entwickelte Struktur ihrer Ausbildung als „Ausdrucksspezialisten“. Ähnlich „kreativ“ definierte Berufssparten bieten eine vergleichbare Kompetenzstruktur im Werbetexter, der, sofern im politischen Kontext eingesetzt, gegebenenfalls den Text einer Protestparole formuliert. Den Inhalt des Protests verantwortet er ausdrücklich nicht. Darin sind beide eindeutig Dienstleister und nicht etwa Künstler, da sie nicht im eigenen Auftrag, auch nicht auf eigenes Risiko, handeln und den interessensgeleiteten Einsatz ihrer Erzeugnisse nicht selbst verantworten. Nur mittels solcher Identitätskonstruktionen konnten Architekten „mit reiner Weste“ durch das Dritte Reich gehen. Ernst Neufert (vgl. Architektur als Ordnung im Kapitel Architektur?) und Alwin Seifert (vgl. Holzbau und Massivbau im Kapitel Holz) wurden beispielhaft vorgestellt. Im Konvolut der Forschungsgespräche bestätigt Gunter

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Werke legitimiert.67 Die Institution Akademie hat dieses Selbstbild der Architektur seit dem neunzehnten Jahrhundert durch die Etablierung einer Ausbildung „professionalisierter Entwerfer“68 zu einem Berufsbild verfestigt und gleichzeitig die formalistische Ausrichtung dieses „Entwurfs“ fixiert. Eine gesteigerte gesellschaftliche Akzeptanz dieser Rolle stellt Kuess vor allem darin fest, daß der Architekt nunmehr „gewisse Dinge für alle Bevölkerungsschichten, nicht nur für gewisse Bevölkerungsschichten“69 zu bieten habe. Der Bedarf an Gestaltung, die Repräsentation durch Architektur, dehnt sich demzufolge in den 1980er Jahren von seiner bisherigen Beschränkung auf die oberen auf die mittleren Bevölkerungsschichten aus. In unserer Untersuchung der Ursachen jenes Wandels, dem der ländliche Raum in diesem Zeitraum unterliegt, haben wir festgestellt, daß die Wohlstandsentwicklung, flankiert durch eine gesteigerte individuelle Mobilität, nunmehr ebenjenen Wratzfelds Haltung, die Vorarlberger Südtirolersiedlungen unter rein städtebaulichen Aspekten zu bewerten, diese Trennung der Architekturform von ihrer politischen Präfiguration. Eine systematische Blindheit gegenüber dem übergeordneten ideologischen Kontext, in dem Architekturform als politische Aussage und als gesellschaftliches Ordnungsmittel wirksam ist, erscheint charakteristisch für die professionelle Wahrnehmung des Architektenstands zu sein. In Gesprächen mit prominenten Vorarlberger Architekten gehört etwa die Diskussion von Gefängnisbauten totalitärer Regime noch heute zu den zitierbaren Referenzen faszinierender Typologien. Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert würdigt die Bauten des Konzentrationslagers Mauthausen so ausführlich, daß dies als implizite Darstellung der systematischen politischen Indifferenz von Architektur gelesen werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ablehnung des „Adlers“ seitens der Vorarlberger Baukünstler als gezielte Ablehnung der Zuweisung einer solchen politisch indifferenten Dienstleisterrolle. Statt der Rolle des „Texters“ wird nun die Rolle des Protestierenden gewählt, der gegen herrschende politische Verhältnisse kämpft und sich der Allianz aus Bauträgern, in der Ästhetik des Nationalsozialismus verharrenden Genehmigungsbeamten und „befugten“ Architekten entgegenstellt, die in den Augen der jungen Hochschulabsolventen eine gesellschaftliche Unfreiheit Vorarlbergs verkörpert, die bis in die 1980er Jahre reicht. Das Mittel hierzu ist, eine „Bürgerarchitektur“ gegen die staatlich institutionalisierte zu setzen, im konkreten Fall die Siedlung Im Fang gegen die Achsiedlung. Letztere erscheint in der Gegenüberstellung, die uns der Blickwinkel der beteiligten Akteure bietet, als neue „Südtirolersiedlung“, als neues entindividualisierendes Ghetto. (Vgl. Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?)

Die Siedlung Im Fang gewinnt dem architektonischen Ordnungsprinzip des Rasters und derjenigen Maßordnung, die auch der Achsiedlung zugrundeliegt, den gegenteiligen gesellschaftlichen Effekt, Resozialisierung statt Desozialisierung, ab. Raster und Maßordnung sind hier mit anderen Mitteln und gegensätzlicher Zielsetzung eingesetzt, um nunmehr den Bewohnern Flexibilität zu gewähren. 64 HK: Z 81 ff 65 Der prominente Vorarlberger Architekt Dietmar Eberle hält sich in seinem Vortrag im Bregenzer Kunsthaus (17. 03.2005) noch die „kämpferische“ Haltung gegenüber staatlichenBehörden zugute, „nie“ eine Baugenehmigung erhalten zu haben. Diese die 1980er Jahre kennzeichnende, gegen einen unterstellten Konservatismus der lokalen Genehmigungsautoritäten gerichtete Haltung der Architekten ist mittlerweile vollständig aufgehoben. Speziell die jüngeren Architekten des Landes pflegen ein gezielt kooperatives Verhältnis zu den Bürgermeistern ländlicher Gemeinden, wie es auch Gestaltungsbeiräte auszeichnet. Indem der Architekt als Gestaltungsbeirat von der Gemeinde bezahlt wird, ist die traditionelle Gegnerschaft zwischen Architekt und Baubehörde außer Kraft gesetzt. (HK: Z 593 ff) Die in einigen Vorarlberger Gemeinden praktizierte Weiterverrechnung dieser Aufwandsentschädigung an den Bauwerber geht noch einen Schritt weiter: Als amtliche Gebühr wird die Arbeit des Gestaltungsbeirats damit zum integralen Bestandteil des behördlichen Genehmigungsverfahrens. 66 GG Z: 897 f 67 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens dieses Kapitels 68 Delitz, S. 26: „Akademisierung der Architektur“ und ihre „Ausrichtung auf das Neue“. 69 HK: Z 79 ff 70 Eisinger, S. 76 71 Walter Fink (2005)

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Abwesenheit von Architektur im Einfamilienhausbau

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mittleren Bevölkerungsschichten erstmals erlaubt, auf den kostengünstigen Baugründen der ländlichen Gemeinden „Eigenheime“ zu errichten.70 Diese Stadtflucht, die eine Massenbewegung aus der städtischen Mietwohnung ins Wohneigentum ist, führt zu einem explosionsartigen Anwachsen ländlicher Siedlungen. Eine solche Parallelsetzung stellt dem vermehrten Bedarf an Architektur die exorbitante Vermehrung des Bauherrenanteils in der Bevölkerung im betrachteten Zeitraum gegenüber, benötigt also zunächst, um plausibel zu sein, keine Unterstützung in einem qualitativen Wandel, der Unterstellung vermehrter Einsicht oder erhöhtem Bildungsgrad innerhalb der Gesellschaft, eher im Gegenteil: Der Zugriff, den die Bauindustrie auf die neue gesellschaftliche Gruppe der Bauherren aus der Mittelklasse ausübt, droht, die bis dahin durch eine traditionelle agrarische Lebensform geordnete und aus dieser heraus kultivierte ländliche Baupraxis in das Abbild einer Warenwelt zu verwandeln. Kuess stellt der publizistischen Darstellung, bis zu dreißig Prozent der Vorarlberger Bauherren beauftragten mittlerweile Architekten71, seine aus der Tätigkeit als Gestaltungsbeirat gewonnene Erfahrung entgegen. Geschätzte fünfundneunzig Prozent (...) sind Nichtarchitekten-Planungen im Einfamilienhausbau. Da geistern ja ganz andere Zahlen herum. Also, hundert Prozent? Nein, sondern, sondern daß Vorarlberg da eine Sonderstellung, (...) daß da bei dreißig Prozent der Bauvorhaben Architekten beteiligt sind. Nein, nein, stimmt nicht. Beim Einfamilienhausbau? Stimmt überhaupt nicht. (...) Naa. Großteile sind diese Fertighaus-, (...) LENO, (...) ELK und das Zeug. Und halt Eigenplanungen. (...) Mhm, aha, ok, Fertighäuser, und wie hoch würdest Du den Anteil an Fertighäusern ungefähr einschätzen? Fünfzig. Fünfzig Prozent der Baueingaben sindIch mein, Fertighäuser, der Begriff ist nicht ganz korrekt, (...) also diese Stangenware, oder; Fertighäuser in dem Sinn, also, kein Fertigteilsystem, Bausystem, sondern Schubladen-, Schubladenplanungen. Ähm, von Firmen, die halt dann das ganze Haus liefern, oder? Ja, LENO, ELK, oder WOLF, oder wie halt die Firmen heißen.72

Die Reaktion der staatlichen Bauverwaltung auf das sprunghafte Anwachsen des Bauherrenanteils in der Bevölkerung haben wir eingangs, dem historischen Zentraldirigismus gegenübergestellt, bereits als „dirigistisch“ charakterisiert. Die neugeschaffenen gesetzlichen und institutionellen Instrumente 72 HK: Z 295 ff; Kuess’ Begriff „Eigenplanungen“ bezeichnet eine Besonderheit des Vorarlberger Baurechts. Hier reicht der Bauherr den Plan zur Genehmigung ein, nicht der Architekt als „Planvorlageberechtigter“, wie etwa in Deutschland. Damit ist der Architekt von vorneherein in die Rolle des freiwillig hinzugezogenen Planers gestellt und nicht in die des von Amts wegen zu beteiligenden „Befugten“. 73 „Der Gestaltungsbeirat ist kein Affront, ist kein Behinderungsinstrument, sondern im Gegenteil, soll

ein Instrument sein, das die Prozesse des Bauens, oder der Planung einfach, konstruktiv unterstützt, und damit auch effizienter macht.“ (HK: Z 257 ff) 74 HK: Z 56 ff 75 „Es geht immer über die Gemeinde, (...) nie den Weg direkt zum Bauherrn, (...) Gemeinde ist unser Auftraggeber, dort kriegen wir unsere Informationen. Wenn der Bauherr das wünscht, muß es bei der Gemeinde stattfinden, Sitzungstermin bei der Gemeinde.“ (HK: Z 612 ff)

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unterstützen zwei staatlicherseits formulierte Entwicklungsziele: Das vermehrte private Bauen räumlich zu kanalisieren sowie die architektonische Ästhetisierung als visualisierte Modernisierung zugunsten einer global orientierten Standortentwicklung voranzutreiben. Der dem Architektenstand historisch implantierte Rollenbestandteil, als Ziviltechniker verlängerter Arm des Staates zu sein, wird zur Durchsetzung dieser Ziele aktiviert.73 Kuess erläutert: Daß unsere Dienstleistung sozusagen, was Gestaltung betrifft, der Umwelt, oder der Objekte überhaupt, (...) daß man da eine gewisse Wertschätzung (...) von Seiten der Behörden auch, empfunden hat, und somit war diese, diese Art der Beratung, der Dienstleistung, die wir angeboten haben, hat auf einmal etwas bedeutet.74

Inhaltlich findet der Architekt als Gestaltungsbeirat das räumlich größtmögliche Verwirklichungsfeld seines Selbstbildes. Die Aufgabe Orts- und Landschaftsbild, als Metaarchitektur verstanden, rückt die gesamte Landesfläche als Gestaltungsraum in seinen Blick. Dieser Blick ist ein durch den institutionellen „Fachdiskurs“ disziplinierter, ein auf das Ästhetische gebündelter Blick. Institutionell gesehen, wechselt der Architekt zur Bearbeitung der Metaarchitektur Orts- und Landschaftsbild die „Fronten“, indem er vom Anwalt des Bauherrn zum „Staatsanwalt“75 wird.76 Sein Selbstbild erlaubt jedoch, Architektur, als historisch legitimiertes Gestaltgesetz77 verstanden, dem sozialen Effekt nach als „fortschrittlich“ zu interpretieren, die totalitäre Wirkung, die das Ziel einer flächendeckenden, alle Lebensbereiche umfassenden Ästhetisierung gegenüber den Ansprüchen individueller Gestaltungsfreiheit ausübt, durch ihren „aufklärerischen“ Zweck zu neutralisieren und damit mit dem „gesellschaftlichen Auftrag“ seines Berufsstandes78 in Einklang zu bringen. Kuess mildert den sich aufdrängenden Eindruck eines Formdiktats zunächst ab, indem er solche Kriterien anführt, die die formale Vielfalt fördern, Kriterien, die in seinem Wirkungsbereich zur Beurteilung des Einzelfalls 76 Peter Ramsauer, deutscher Bundesminister für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung: „Als Architekten und Ingenieure gestalten Sie zentrale Bereiche unseres Zusammenlebens. Ihre Arbeit ist in bestem Sinne systemrelevant für die Zukunft unserer Städte und Regionen...“ In: Editorial Baukultur, Zeitschrift des DAI/ Verband Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine e.V., Ausgabe 2 /2010, S. 3 77 „Der erste Gang mit einem Bauvorhaben, wenn so ein Bauvorhaben auf den Tisch kommt, wo liegt das, was steht da im Richtplan drin, (...) dann tun wir das beurteilen, ob das zusammenpaßt, oder obs halt gerechtfertigt ist, zum Beispiel diesen Richtplan in diesem Punkt nicht einzuhalten, je nachdem wird das dann beurteilt. Einzelfall.“ (HK: Z 387 ff) Das Prinzip der Einzelfallbeurteilung, wie Kuess es hier interpretiert, ist in gewisser Weise dem Prinzip der Gestaltregelung über den Bebauungsplan entgegengesetzt. Stärker noch: drückt Mißtrauen gegen-

über dem generellen Gültigkeitsanspruch solcher Instrumente aus oder sogar die gewachsene Erfahrung ihrer Unbrauchbarkeit. In der Einzelfallbeurteilung steht jedesmal der übergreifende Richtplan auf dem Prüfstand. Das (im Fall des Richtplans vermiedene) Gesetz wird hierbei an Architektur geprüft, Architektur damit zur übergeordneten Instanz, vergleichbar einer Verfassung. Dies stützt den Befund, Architektur als „legislatives“ Medium zu interpretieren. 78 „Der Architekt ist mit diesem umfangreichen Aufgabenspektrum in hohem Maße der Gesellschaft verpflichtet. Er steht im Schnittpunkt der Wünsche und Forderungen seiner Bauherren und der Gesellschaft. Diese miteinander zu vereinbaren und die jeweils beste Lösung zu finden, ist der Anspruch, der an Architekten im Alltag gestellt wird.“ Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, 1997, zit. nach Rambow, S. 12

Orts- und Landschaftsbild als Metaarchitektur

Ordnungsbegriff der Gestaltungsbeiräte

Heterogenität als Ordnungsideal

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Zwischenmenschliche und ästhetische Nachbarschaft

Der ästhetische Blick vereinzelt seine Objekte

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herangezogen werden. Gegenüber einem homogenen, in Deutschland vor allem durch Bebauungspläne etablierten Ordnungsbegriff von Einheitlichkeit, „das ist die niedrigste Stufe des Ordnungsbegriffs, glaub ich“79, betont Kuess eine Heterogenität als „höheres“ Ordnungsideal der Vorarlberger Gestaltungsbeiräte: „Das hat man bei uns schon früh so gehandhabt, daß (...) einfach auch diese Gegensätzlichkeiten eine Qualität ausmachen.“80 Scharf trennt Kuess dabei jedoch diesen Ordnungsbegriff, der auf Heterogenität beruht, gegenüber einer liberalen Akzeptanz des Unterschiedlichen ab, die einem unvermittelten Nebeneinander verschiedener Baugestalten mit Toleranz begegnet. Der wichtigste Grund für die Berufung eines Gestaltungsbeirats liegt für ihn darin, der kommunalen Baubehörde ein Gremium zur Seite zu stellen, das zu beurteilen imstande ist, was das neue Objekt „bedeutet“ und wie es sich „diesbezüglich, in dem ganzen Kontext (...) verhält, (...) zum Umfeld, zur Nachbarschaft. (...) Paßt das in dieses Orts- und Landschaftsbild? Wobei das eben die Frage ist, was ist das Orts- und Landschaftsbild, wie definiert sich das.“81 Kuess’ Erläuterung macht deutlich, daß der auf Ästhetik fixierte Blick, den die Gestaltungsbeiräte der Baubehörde inkorporieren, soziale Begriffe wie Nachbarschaft, die bisher das zwischenmenschliche Verhältnis nebeneinander wohnender Familien geregelt haben, zu einer ästhetischen Kategorie umdeuten, ein Vorgang, den wir im vorangegangenen Abschnitt bereits an Schmidingers Begriff Ensemble beobachten konnten. Während die zwischenmenschlich definierte Nachbarschaft noch Sache der unmittelbar Beteiligten war, ihre Qualität vor allem Ergebnis von deren Kommunikation untereinander und damit Indikator des Grades ihrer Gemeinschaftlichkeit, ist die ästhetische Nachbarschaft dem Urteil Dritter unterworfen. Das bildhaft wirksame Ensemble ist auf einer höheren Ebene zu verantworten, dergegenüber die Nachbarn selbst nunmehr als vereinzelte, voneinander getrennte Individuen positioniert sind.82 Konsequenterweise ist diese höhere Wahrnehmungsebene, die der ästhetische Blick einführt, dem dörflichen Beurteilungsrahmen, den Bauwerbern ebenso wie der kommunalen Baubebörde, zu entziehen, wie Kuess darlegt: „Gemeinden, oder Bürgermeister, oder Baubehörden, die, die das erkannt haben, daß das ein bißchen schwierig ist für sie, das zu beurteilen, sondern daß man da fachliche Kom79 HK: Z 816 ff 80 Ebd. 81 HK: Z 401 ff 82 Der Grad der Öffentlichkeit eines Bauprojekts ist maßgebend für den Gestaltungsbeirat, Beratung zu leisten. Aus der Vielzahl der von privaten Bauherren persönlich verantworteten Bauprojekten werden diejenigen mit möglichst großer öffentlicher Wirkung ausgewählt. Hierdurch wird autorisierte Gestalt in ein Umfeld eingefügt, das mit diesem Exempel gleichzeitig als gestaltmäßige Anarchie deklassiert wird. (HK: Z 213 ff)

83 HK: Z 413 ff 84 Der Umstand, daß Gestaltungsbeiräte die gesellschaftliche Position von „Gestaltern“ des Orts- und Landschaftsbilds einnehmen, wird als Vorarlberger Spezifikum dort besonders deutlich, wo vergleichbare Situationen aus dem Nachbarland dagegengehalten werden. Mein Gesprächspartner Peter Greußing, als Bauträger sowohl in Vorarlberg als auch im deutschen Bodenseeraum tätig, stellt einen solchen Vergleich am Beispiel eines eigenen Bauprojekts in der Stadt Ravensburg her, die als typisch auch für andere deut-

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petenz vielleicht braucht, die Gemeinden installieren sich auch Gestaltungsbeiräte. Das ist ja das Thema.“83 Kuess fährt fort, indem er eine weitere Dimension des Ordnungsbegriffs der Heterogenität erschließt, den Umstand, daß heterogene Ordnung als neue Qualität des Orts- und Landschaftsbildes nicht einfach „entsteht“, sondern autoritativ erzeugt wird, Produkt eines Gestaltungsvorgangs ist, an dem die Gestaltungsbeiräte einen wesentlichen Anteil haben.84 Wir haben diesen Aspekt einer aktiven Gestaltungsleistung durch die Gestaltungsbeiräte weiter oben bereits mit dem Begriff „Metaarchitektur“ gekennzeichnet. Das ist ja der zweite wesentliche Grund, (in der) Rechtfertigung, Argumentation für die Tätigkeit der Gestaltungsbeiräte, einfach auch zeitgenössische Architektur zu vermitteln, und möglich zu machen auch dadurch. Es geht ja nicht darum, daß man nur anpäßlerisch tätig ist, und daß man nur nichtauffallende Dinge integriert ins Ortsbild, es geht ja auch darum, im wesentlichen darum, daß man also zeitgenössische Aussagen zur Architektur, das auch unterstützen...85

Indem der Architekt als Gestaltungsbeirat zum Gestalter des Ortsbilds wird, vereinigt er den Widerspruch, als Zeitgenössischer Architekt auch Vertreter des Antikontextuellen zu sein, in seiner Person. Die fehlende Expressivität, die der Vorarlberger Architektur durch externe Kritiker bescheinigt wird, kann als Produkt dieser vereinigten Widersprüche interpretiert werden: der Architekt, in die Doppelrolle gestellt, für die Architektur des Einzelobjekts und gleichzeitig für den Kontext verantwortlich zu sein. Darüber hinaus konnte deutlich gemacht werden, daß das gesellschaftliche Projekt, die ensemblesprengende Wirkung antikontextueller Architekturen präventiv durch Einbindung von Architekten in eine verantwortliche Position als „Ortsbildgestalter“ zu verhindern, mit der Einführung des modernen86 Ordnungsbegriffs der Heterogenität auch die formalen Prinzipien, die dem Ortsbild nun zugrundegelegt werden, verändert hat. Neben der formalen Ebene enthält Kuess’ Feststellung, daß eine wichtige Funktion der Gestaltungsbeiräte die Popularisierung Zeitgenössischer Architektur sei, auch eine wirtschaftliche Komponente. Demzufolge berücksichtigt die festgestellte Ökonomisierung des ländlichen Raumes in Vorarlberg vitale Eigeninteressen des Berufsstands der Architekten. Das Vorarlberger Architekturwunder stellt sich aus dieser Sicht nicht allein als kulturelles, sondern sche Klein- und Mittelstädte gelten darf: „Da draussen heißt das nicht Gestaltungsbeirat, sondern da gibts irgendwie so einen Denkmalschutz, und da gibts einen, der das alles bestimmt.“ (PG: Z 743 ff) Der Denkmalschützer (oder Stadtheimatpfleger) tritt anstelle eines Gestaltungsbeirats in der Rolle des Stadtgestalters auf und damit anstelle freiberuflicher Architekten eine Behörde, die ihren gesellschaftlichen Auftrag in Konservierung und Rekonstruktion des historischen Bestandes sieht. Infolge dieser Positionsverschiebung der legalisierten Bauform auf andere Träger verschiebt sich in solchen Städten das

verfügbare architektonische Formvokabular vom avantgardistischen zum historistischen. 85 HK: Z 425 ff 86 Crary beschreibt das Aufkommen moderner Formen von Betrachtung und Aufmerksamkeit als Phänomen, das untrennbar ist vom gleichzeitig stattfindenden Wandel im Charakter des zu Betrachtenden, der Umwelt der Moderne. „Die Aufmerksamkeit kann im Sinne Hannah Arendts als eine Form des Sehens verstanden werden, die kompatibel damit ist, daß Austauschbarkeit und damit Relativierung den ,Wert‘ aller Gegenstände bestimmen.“ S. 51

Gestaltungsbeiräte ermöglichen Zeitgenössische Architektur

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Der Architekt zwischen Bauherren- und Behördenauftrag

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daneben als wirtschaftliches Phänomen dar. Dem Architektenstand ist in Vorarlberg ein Wirtschaftsraum geschaffen und als solcher gesetzlich geschützt worden. Seine Unabhängigkeit als Gutachter, anfangs durch strikte Vermeidung einer Verquickung von professioneller und bauamtlicher Rolle in derselben Gemeinde dokumentiert, sieht Kuess mittlerweile ungefährdet. Nein, das hab ich einmal so gehandhabt, auch, aber das hab ich wieder aufgegeben, weils einfach nicht möglich ist, in dem kleinen Raum. Ich bin zum Teil in fünf, sechs, sieben, acht Gestaltungsbeiräten beratend tätig, und diese Selbstbeschneidung, die hab ich also aufgegeben. Das führt zu nix, und ich glaub einfach, daß jeder Gestaltungsbeirat für sich selber so viel Kompetenz und, und, und Unabhängigkeit hat, (...) daß er (...) durch Auftragsverhältnisse sich nicht beeinflussen läßt. Davon gehen wir einfach aus. Und dann ist es auf jeden Fall so, oder.87

Gutachterrolle als Gestalterrolle

Der Wirtschaftsraum Vorarlberg mit seinen rund einhundert genehmigungsrechtlich souveränen88 Gemeinden ist zu klein, um architektenseitig auf Behörden bezogene Beratungsfunktion und auf Bauherren bezogene Auftragsverhältnisse zu trennen. Die Reaktion der Vorarlberger Gestaltungsbeiräte auf diese Situation, die Rollentrennung aufzuheben, kann, Kuess folgend, als Pragmatismus gewertet werden, der nicht realisierbare Idealverhältnisse als solche erkennt und durch praktizierbare Kompromisse ersetzt. Daneben bieten wir die Interpretationsmöglichkeit an, darin eine Bestätigung der Tatsache zu sehen, daß die Gutachterrolle bereits dadurch als Gestalterrolle präfiguriert ist, daß vitale Architekten sie ausfüllen. Wir haben bis hierher vor allem untersucht, wodurch die Vorarlberger Gestaltungsbeiräte in ihrer gesellschaftlichen Position, die durch eine einzigartige Institutionalisierung eines avantgardistisch-architektonischen Urteils in Fragen der Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes gekennzeichnet ist, legitimiert sind. In der Rolle, die der Staat dem Berufsstand der Architekten zuweist und im Selbstverständnis des Berufsstandes, mit der Gestaltung des Lebensumfeldes eine sinnstiftende gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, konnten zentrale Aspekte dieser Legitimierung identifiziert werden. 87 HK: Z 168 ff 88 Der Umstand, daß die Vorarlberger Bürgermeister Genehmigungsinstanz für das Bauen innerhalb ihrer Gemeinde sind, rückt die Rechtsauffassung der Gesellschaft Vorarlbergs eher in eine Verwandtschaft mit ihrem Schweizer (mit umfassender rechtlicher Souveränität der Gemeinden) als mit ihrem deutschen Nachbarn (Genehmigungsbehörde auf Landkreisebene, bei den Landratsämtern, die den Vorarlberger Bezirkshauptmannschaften vergleichbar sind). 89 HK: Z 460 ff 90 Ein aktuelles Beispiel für eine solche Deutung bietet die Auseinandersetzung um den Siegerentwurf des Wettbewerbs zum Montafoner Heimatmuseum Schruns, der seiner formalen Dominanz und seines

antikontextuellen Habitus wegen innerhalb der Gemeinde umstritten ist, während er in überregionalen Feuilletons bereits gefeiert wird (vgl. Tietz). Die Argumentation der Bauherrenseite interpretiert die lokalen Widerstände als kulturellen „Isolationismus“ und prognostiziert im Schulterschluß mit exponierten Vertretern der Architektenschaft einen ökonomischen Standortnachteil im Fall einer Ablehnung: „Hier muss man sich langsam Sorgen machen, dass nicht eine ganze Region den Anschluss verpasst und einen kulturellen Entwicklungsschritt (der in Folge immer auch zu einem wirtschaftlichen wird) versäumt“ (Winkler [2010], S. 38). 2011 wurde der Siegerentwurf schließlich durch einen Bürgerentscheid abgelehnt. 91 HK: Z 149 ff

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Wir beleuchten im folgenden soziale Konsequenzen der vollzogenen Institutionalisierung des architektonischen Urteils und ihres Effekts einer „totalen“ Ästhetisierung. Aufgrund der Verschiebung der gesellschaftlichen Gestaltungsmacht zwischen den sozialen Anspruchsgruppen, die die Tätigkeit der Gestaltungsbeiräte auslöst, erwachsen ihrer Tätigkeit als fachlich ausgewiesene Berater, Sachverständige und Architekturvermittler zunächst Widerstände. Kuess: Und natürlich (...) ist das auch konfliktträchtig (...), daß man die moderne, die zeitgenössische Architektur, die ist in vielen Ausschüssen, und bei vielen Mitgliedern natürlich ein rotes Tuch.89

Sobald der Auslöser dieser Widerstände, ihre entscheidende soziale Komponente, die in der Entmündigung der lokalen Anspruchsgruppen in bezug auf die Ausgestaltung der eigenen Lebensumwelt liegt, aus dem sozialen Diskurs ausgeblendet und die Wahrnehmung dieser Widerstände vor allem auf einen „ästhetischen Entwicklungsbedarf“90 reduziert wird, stellen alle auftretenden Widerstände den Beratungsbedarf gleichsam unter Beweis und tragen dazu bei, die Institution Gestaltungsbeirat langfristig zu stabilisieren. In einigen Vorarlberger Gemeinden bildet die personelle Besetzung des Gestaltungsbeirats mittlerweile das eigentlich kontinuierliche Element der gemeindlichen Bauverwaltung, an dem die Amtsperioden der Bürgermeister vorüberziehen.91 Der Architekt, als Gestaltungsbeirat ebenso wie im Auftrag eines Bauherrn, steht keineswegs als Einzelner den Widerständen aus der Dorfbevölkerung gegenüber, die sein Urteil oder Entwurf auslösen. Der Berufsstand, dem er angehört, die fachliche Würdigung seines Werkes in Fachpresse und Feuilleton sowie die Bedeutung, die architekturgestützter Modernisierung des ländlichen Raumes auf staatlicher Ebene zugemessen wird, verschaffen ihm gegenüber lokalen Anspruchsgruppen sozialen Rückhalt.92 Am Fall des Eugster-Hauses kann beobachtet werden, daß die Beantwortung des behördlichen Abbruchbescheids durch einen „Staatspreis“ seitens des Berufsstandes der Architekten nicht nur den lokal verantworteten Abbruchbescheid unwirksam macht93, sondern auch einen jahrzehntelangen Umstrukturierungsprozeß auslöst, der die sozialen Einflußsphären in der kommunalen Bauverwaltung des Dorfes Langenegg nachhaltig in Richtung eines heute aufgeschlossenen Klimas gegenüber Zeitgenössischer Architektur verschiebt. Ähnlich wie das Ehepaar Eugster und ihr Architekt sieht sich auch Gerhard Gruber in seiner Tätigkeit für den Selbsthilfeverein Thal durch einen Staatspreis bestätigt. 92 Vgl. u.a. Jürgen Sutterlütys Darstellung der kontroversen Bewertung seines Supermarktgebäudes im Zentrum von Lustenau: Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur? 93 Zwei Instanzen, Staat und Berufsstand, wirken hier zusammen, um das „Hausrecht“ der lokalen Bau-

behörde durch ein „Machtwort“ außer Kraft zu setzen: das Land Vorarlberg, welches als übergeordnete Rechtsinstanz Verfahrensfehler feststellt, und der Architekturpreis, der eine überregionale Medienwahrnehmung auslöst. „Das war im Radio, im Fernsehen, eine Doppelseite in der Zeitung.“ (ALE: Z 319 ff)

Entwicklungsbedarf legitimiert die Beraterrolle

Architekturpreise beeinflussen lokale Rechtsverhältnisse

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Das ist ja schon faszinierend, (...) die Fraktion Thal gewinnt für ihr Dorf gleich den österreichischen Staatspreis. Und das ist natürlich schön, daß man weiß, daß man mit dem, was man tut im hintersten Dorf, vorne mit dabei ist, was aktuelle Entwicklungen betrifft.94

Politische Mandatare wollen Anerkennung

In beiden genannten und in ungezählten weiteren Fällen sind es die Mobilisierung einer Fachöffentlichkeit sowie die positive Wahrnehmung und Präsentation durch überregionale Medien, die gegenüber der ablehnenden Haltung einer Dorfbevölkerung den „Wert“ der implantierten Architekturen in das Dorf überzeugend und selbst gegenüber handwerklich begründeten Einwänden unwiderlegbar darzustellen wissen. Als wiederkehrendes Motiv tauchen in den Forschungsgesprächen „Busse voller Architekturtouristen“ auf, von den befragten Bauherren als rettende Übermacht gegen das widerständige soziale Umfeld wahrgenommen.95 Neben diese nachbarschaftlichen Konflikte der Dorfbewohner stellt Bürgermeister Nußbaumer die Verwaltungsperspektive einer architektonisch fortschrittlichen Gemeinde. Die Formel „Politische Mandatare wollen gelobt werden“ faßt seine Modernisierungsstrategie für Langenegg zusammen: Es gibt natürlich immer Leute, die sagen, die Erfahrung mit Flachdächern ist natürlich aufgrund der Witterung bis dato eher negativ, also überall, wo wir Flachdächer erhalten, haben wir Probleme mit Dichtigkeit... Aber das wichtige an diesen Bauten ist, daß man von der öffentlichen Hand und auch durch diesen Architekturtourismus für diese Bauten immer wieder Anerkennung bekommt. Also diese Anerkennung, ein Architekturpreis, den man bekommt, bestärkt natürlich die Entscheidungsträger immer wieder, solche Dinge zu tun. (...) Die Mandatare, politische Mandatare wollen auch gelobt werden für ihre Entscheidungen, die sie treffen. Und wenn das Lob dadurch kommt, daß man im Fernsehen kommt, in der Zeitung steht, von außen besucht wird, dann springt manch einer über die eigene Hürde, das ist im Privaten so, das ist in der Öffentlichkeit so, das ist gut so.96

Soziale Effekte des Preissystems

Das Gegenüber, welches die architektonische Anstrengung im Dorf beantwortet, ist in dieser Vermittlungsstrategie prinzipiell außer- oder oberhalb der dörflichen Einwohnerschaft situiert. Wie bereits als Effekt der Beratungs94 GG: Z 913 ff. Dazu auch Wirthensohn, in unserem Gespräch auf die Jahresberichte hinweisend: „Hier ist auch die ganze Chronologie gut drin, da zum Beispiel, wie wir den Preis für Dorf- und Stadtentwicklung, den ersten Preis gekriegt haben.“ (EW 1: Z 1293 ff) Im selben Kontext beantwortet Wirthensohn auch die Frage, ob das externe Interesse sich vor allem der Architektur zuwende: „Nein, es sind Gemeindepolitiker, (...) von Oberösterreich, und weiß Gott, woher. Die sich interessieren (...) oder in einer ähnlichen Lage sind, (...) die sich informieren, vor allem über das Modell von dem Selbsthilfeverein.“ (EW 1: Z 886 ff) 95 Arno Eugster: „Natürlich hat es uns genützt, jede Menge. Dann haben sie sich nicht mehr getraut, irgendetwas zu tun. Weil die Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden ist. (...) Es war ja sensationell. Nach dieser Preisverleihung sind ja ganze Busse gekommen, zwei Jahre lang. Rundum Verkehr, alle möglichen Leute sind in der Gegend gestanden und haben fotografiert. Und das haben natürlich die

anderen Leute auch alle mitbekommen, wenn schon wieder ein Bus die Straße entlang gefahren kommt.“ (ALE: Z 333 ff) Was vorher ein Konflikt zwischen Dorfbewohnern war, ist durch die Preisbewerbung des Architekten zu einer landesweit beachteten öffentlichen Angelegenheit geworden. Die private Wohnangelegenheit des Ehepaars Eugster steht von nun an unter öffentlichem Schutz. Dieser verschiebt die Machtverhältnisse im Rechtsstreit zugunsten der Bauherrn und ihres Architekten. Wo sie sich vorher gegen Bürgermeister und Bauausschuß in der Defensive befanden und kommunale Rechtssprechung gegen sich sahen, sehen sie sich durch die Preisverleihung plötzlich zum Gegenstand einer öffentlichen Solidarisierung erhoben. Für die Gemeinde stellt der Vorgang die massive Einmischung eines Berufsverbandes (Zentralvereinigung der Architekten) in innere Angelegenheiten dar, eine Lobbyaktivität als Präzedenzfall für Mediendemokratie: Wer im Fernsehen kommt, hat recht. Der

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praxis durch Gestaltungsbeiräte festgestellt, die eine Umdeutung des ursprünglich sozial konnotierten Begriffs Nachbarschaft zu einer ästhetischen Kategorie vornimmt, entsteht aus der Würdigung durch überregional vergebene Preise ein Kommunikationssetting, welches den Blick der Akteure dörflicher Gesellschaften gemeinsam mit der repräsentativen Fassade des Dorfes nach außen richtet und damit die bis dahin geltende soziale Innenorientierung, die gegenseitige Zuwendung der Dorfgemeinschaft, in eine Außenorientierung und damit Abwendung voneinander verwandelt. Ein bedeutsamer gesellschaftlicher Effekt der Etablierung eines die dörfliche Architektur fokussierenden Preissystems liegt damit in der sozialen Vereinzelung der Gewürdigten durch Überformung oder Außerkraftsetzen des innergemeinschaftlichen Kommunikations-, Werte- und Orientierungsgefüges. Eines der spezifischsten Bewertungsinstrumente für diesen kulturellen und sozialen Umpolungsvorgang, dem das Dorf gegenwärtig unterliegt, sind die Dorferneuerungspreise. Der Wandel ihrer Kriterien dokumentiert nicht nur die fortschreitende Umstrukturierung des ländlichen Raums selbst, nicht nur das zunehmende Gewicht, das Zeitgenössische Architektur in diesem Vorgang erhält, sondern auch einen Wandel in der Funktion, die dem Medium Architektur innerhalb der Umstrukturierung zugeschrieben wird. Die Intention, die Dorferneuerungspreisen ursprünglich zugrundeliegt, ist, dem sozialen und wirtschaftlichen Zerfall der Dörfer innovative, vor allem aber nach „innen“, den lokalen Gesellschaften, zugewandte Maßnahmen entgegenzusetzen.97 Durch Prämierung und Dokumentation entsteht ein Ideenpool sozialen Wissens, verknüpft mit einem Multiplikatoreffekt. Für diese Zielsetzung steht der Europäische Dorferneuerungspreis der ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung98, der auf kulturpolitische Initiativen Niederösterreichs der 1980er Jahre zurückgeht.99 Während in dessen KriterienUmstand, daß die Gemeinde die formelle Bestätigung der Bauabnahme verweigert, kann als ihr letztmöglicher Protest gegen diese Überwältigungsstrategie gedeutet werden. (ALE: Z 588 ff) 96 PN: Z 393 ff. Nußbaumer erwähnt im zitierten Gesprächsausschnitt denkmalgeschützte Bauten und zeitgenössische Architekturen im selben Atemzug. Beide Sektoren des Baugeschehens fordern erhöhte Anstrengung und sind jeweils institutionell gestützt. Die gesellschaftliche Etabliertheit der jeweiligen Interessensvertreter unterscheidet Vorarlberg von seinen Nachbarländern. Vgl. auch Anm. 84. 97 „Die tragenden Säulen heißen persönliches Engagement und Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen.“ (II.) „Land- und Dorfentwicklung heben durch gezielte Förderung der Eigeninitiative und durch Hilfe zur Selbsthilfe dauerhaft die Identitätsbereitschaft der Dorfbewohner mit dem ländlich geprägten Gemeinwesen.“ (III.3.) „Ländliche Entwicklung muß

deshalb verstärkt den Willen zur Selbsthilfe fördern.“ (IV.1.) In: ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung: Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa, II. Vgl. www.landentwicklung.org 98 Die Europäische ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung wurde im Mai 1989 als Plattform des Ökosozialen Forums Österreich gegründet. Seit 2007 besitzt die ARGE eigenen Vereinsstatus. Die österreichischen Bundesländer Niederösterreich, Burgenland, Kärnten, Steiermark, Tirol, Salzburg und Vorarlberg, außerdem Südtirol, Kormitat Vas, Ungarn, Luxemburg und die deutschen Bundesländer Bayern, BadenWürttemberg und Hessen, haben 1996 das Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa unterzeichnet. Im Dezember 2008 wurde die Schweiz in die ARGE aufgenommen: „Angeregt durch die so positiven Erfahrungen der eidgenössischen Teilnehmer am Wettbewerb um den Europäischen Dorferneuerungspreis 2008“, bei dem Urnäsch/AR eine Zweitplazierung errang. Vgl. www.landentwicklung.org

Dorferneuerungspreise

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Wachsende Bedeutung von Architektur in der Dorferneuerung

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katalog, dem Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa, Architektur noch beiläufig, als Maßnahme unter vielen, auftritt100 und vor allem die Förderung von Eigenverantwortlichkeit der ländlichen Gesellschaften vielfach betont wird, fokussiert die den Gemeindeverwaltungen vorgeschlagene Strategie 101 des 2009 erstmals ausgelobten LandLuft Baukultur-Gemeindepreises102 bereits ausschließlich die Realisierung Zeitgenössischer Architektur als Produkt einer systematischen Delegierung von „Ortsgestaltung“ an externe Fachleute. Einen weiteren Entwicklungsschritt markiert derzeit der Schweizer Award für Marketing und Architektur103, der anstelle der Rekonstruktion eines den ländlichen Raum verbindenden, gegenüber den Städten eigenständigen Sozialraumes die Fähigkeit zur Konkurrenz und individuellen Profilierung prämiert.104 Insbesondere die erneute Neupositionierung von Architektur ist innerhalb der Befunde der vorliegenden Studie von Interesse. Architektur wird nunmehr als Corporate Architecture ganz in den Dienst unternehmerisch definierter Standortkonkurrenz gestellt, der Einsatz von Architektur als Bestandteil der Corporate Identity eines Wirtschaftsunternehmens der Funktion öffentlicher Gebäude, die die Gesellschaft einer Kommune oder den Staat repräsentieren, vollständig gleichgesetzt.105 Aus der komplexen Wahrnehmung dörflicher Gesellschaften, die noch den Preis der ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung kennzeichnet, ist im Entwicklungsverlauf der Dorferneuerungspreise ein Instrument geworden, das der Förderung professionalisierter Zeitgenössischer Architektur dient, welche wiederum auf Kompetenzen verengt worden ist, Signale eines Standortmarketings in die globale Wirtschaftsumgebung hinein auszusenden. 99 Aus dem Vorwort des niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll zu: Kräftner (1987): „Die Aktion NÖ schön erhalten, schöner gestalten hat ein riesiges Echo in der Öffentlichkeit gefunden. (...) Wir wollen damit neben der ,äußeren‘ Erneuerung unserer Dörfer auch eine von innen kommende Erneuerung erreichen. Wir sind einfach überzeugt davon, daß durch die Beschäftigung mit der geformten und bebauten Umwelt ein Bewußtwerdungsprozeß in Gang gesetzt wurde und wird, der in weiterer Folge über die eigentlichen Belange der Ortsbildpflege hinaus wächst. Das vorliegende Buch wird in weiten Bereichen unsere angestrebte Schule des Sehens unterstützen.“ 100 „Unter Rücksichtnahme für regionaltypische Baukultur sind neue architektonische Ideen und Konzepte gefordert, um Ortsbilderhaltung, Nutzung alternativer Energiesysteme, sinnvollen Konstruktionen, Einschränkungen des Flächenverbrauchs und zeitgemäßen Gestaltungselementen zu harmonischer Koexistenz zu verhelfen. Zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Fragen der Raumordnung und Siedlungsentwicklung zu.“ (III.5.) Wie Anm. 97

101 „Die sieben LandLuft-Schritte zur erfolgreichen Baukultur-Gemeinde: 1. Beratung einsetzen / 2. Ideen sammeln / 3. Vorstudie erstellen / 4. Wettbewerbe durchführen / 5. Sieger umsetzen / 6. Rückgrat beweisen / 7. Fertigstellung zelebrieren“ Verein LandLuft, S. 137 f 102 Träger des LandLuft Baukultur-Gemeindepreises ist der Verein LandLuft mit Sitz in Wien 103 Träger des Award für Marketing + Architektur ist die Baukoma AG, Kerzers (CH). 104 „Am 2. Award für Marketing + Architektur werden Personen und Firmen ausgezeichnet, die auf vorbildliche Weise in der Schweiz Objekte nach den Grundsätzen hochwertiger Corporate Architecture (CA) geplant und realisiert haben. Objekte mit einem erkennbaren Bezug zur Firmenphilosophie, zum Marken- und Marktauftritt verhelfen zu einer positiven Aussenwahrnehmung. Diese Identität durch Architektur ist einmalig und schafft dauerhafte Wettbewerbsvorteile. Kreative Gebäude und Räume mit einem hohen Grad an Authentizität inspirieren Kunden, Geschäftspartner und Mitarbeitende.“ Ausschreibungsreglement des 2. Award für Marketing + Architektur, 23. April 2010, KKL Luzern

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Die Dorferneuerungspreise spiegeln den Vorgang der Umstrukturierung des ländlichen Raumes damit auch als Wandel, den das Interesse an einem „entwickelten“ ländlichen Raum durchläuft, und damit des Zugriffs, den neue Anspruchsgruppen sowohl auf den ländlichen Raum wie auch auf Architektur ausüben. Dorfbevölkerungen sehen demgegenüber ihr Lebensumfeld einer neuen Anforderungsumgebung ausgesetzt. Wie das Dorf selbst in seiner Außenrepräsentation einer Firma immer ähnlicher wird106, so ähnelt auch die Situation seiner Gesellschaft immer mehr der Belegschaft einer Firma, die unversehens den Besitzer gewechselt hat. Die lokalen Eliten ebenso wie die ländlichen Verwaltungsinstitutionen des Staates erweisen sich gegenüber der neuen Anforderungsumgebung, den Implikationen der globalen Wirtschaftsstruktur, als ebenso lernbereit wie lernfähig. Die Argumente der stake holders Zeitgenössischer Architektur sind mittlerweile vertraute Wahrnehmungskategorien, sodaß die Kommunikation zwischen Architekten und Beamten immer kürzer gefaßt werden kann.107 In umso ausführlicheren Selbstdarstellungen begründen die Bürgermeister und ihre Sekretäre den Einsatz Zeitgenössischer Architektur in ihren Dörfern einmal „sozial“, sobald sich die Jury der ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung zum Lokalaugenschein ankündigt, einmal architektonischformal, um den LandLuft Baukultur-Gemeindepreis zu erringen und ein andermal wirtschaftsliberal, um an denselben Maßnahmen ihr erfolgreiches Standortmarketing unter Beweis zu stellen.108 Parallel zu diesem Training in Bewußtseinsspaltung109, das die gewandelte Anforderungsumgebung den lokalen Gestaltungseliten abverlangt und sie befähigt, die Darstellungsfolie der eigenen Identität zu wechseln wie Kleider, die passend zu gesellschaftlichen Anlässen angelegt werden, sucht das Vertrautheitsbedürfnis selbst solcher Bewohner des Dorfes, die die Kontaktfläche zu Zeitgenössicher Architektur im eigenen Wohnumfeld hergestellt haben110, zunehmend vergeblich den langen Atem des Beständigen im Einheitlich-Unauffälligen, der Lakonik des Althergebrachten. Leopoldine Eugster registriert den Wandel des Langenegger Ortsbildes mit einem spürbaren Anflug von Resignation. Die zunehmende Entfremdung ihrer Lebensumgebung durch zeitgenössische Architekturen, deren ästhetische Stragegie auf systematische Irritation vertrauter Gewißheiten setzt, geht für sie einher mit dem Verlust des eigenen Vermögens, sich im eigenen Lebensumfeld „ohne Anleitung eines anderen“111 zu orientieren und selbständig zutreffende Wahrnehmungsurteile mittels erworbenen Erfahrungswissens zu fällen. Der Laie siehts ja nicht so, wie Sie das jetzt sehr gut erklären. Ich sehe es jetzt auch anders (lacht). Als Laie sagt man nur, es paßt überhaupt nicht da hinein und es ist komisch. Und wenn man durchfährt, da haben Sie recht, da wird man aufmerksam. Und wenn das ein Punkt ist, der wichtig ist, dann ists in Ordnung, aber sonst würde man sagen, das paßt überhaupt nicht da hinein. Auf den ersten Blick.112

Interessenwandel im Zugriff auf Architektur

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105 „Kategorien“ der Teilnahme: „1. Büro- und Geschäftshäuser, Industrie- und Gewerberäumlichkeiten 2. Warenhäuser, Läden, Kundencenters, Flagship-Stores, Showrooms / 3. Hotels, Restaurants, Sport- und Wellnessanlagen / 4. Innenarchitektur, Messebau / 5. Öffentliche Gebäude, Museen, Bahnhöfe usw. / 6. Schweizer Niederlassungen im Ausland (Geschäftsfilialen, Tochtergesellschaften, Botschaften)“ Wie Anm. 104 106 Zum Dorf als „Firma“ vgl. Anm. 67, Abschnitt Architektur im Dorf dieses Kapitels 107 „Da ist, (...) im Vergleich vielleicht zu anderen Regionen oder Bundesländern, schon eine große Dichte an Kompetenz einfach schon (...) vorhanden, bei den politisch Verantwortlichen, also sprich Ausschüsse, oder Bürgermeister. (...) Ich hab das immer so gehandhabt, daß man am Anfang der Gestaltungsbeiratstätigkeiten in den Ausschüssen (...) unsere Stellungnahmen, (...) vermittelt hat, am Tisch, im Ausschuß, also erklärt hat und mit der Zeit hat sich das

dann erübrigt, die Leut verstehen das, diese knappen Stellungnahmen, schriftlich und in den meisten Fällen wird dem gefolgt.“ (HK: Z 477 ff) 108 Zum Schutz der Autoren hier keine Quellenangabe. 109 Crary, S. 60 f 110 Die Autonomie von Architektur gilt auch gegenüber ihren Nutzern. Die Aufrechterhaltung von Fremdheit, die Architektur als autonome Kunst für sich reklamiert, sperrt sich sowohl gegen Aneignung als auch gegen Beheimatung. Vgl. Prechter (1997), S. 55 111 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, 1784/2, S. 481 ff Zur Inanspruchnahme aufklärerischen Gedankenguts in der gesellschaftlichen Legitimation Zeitgenössischer Architektur vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus. 112 ALE: Z 833 ff

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Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 1.1 1.2 1.3

Architektur? Architektur als Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 23 Architektur als Ordnung . . . . . . . . . . . . . . 40 Architektenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

2 2.1 2.2 2.3

Vorarlberg Land und Ländle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Genossenschaftlicher Wohnbau . . . . . . . . . . . 89 Baukünstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

3 3.1 3.2 3.3

Holz Holz als Baustoff . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Holzbau – Massivbau . . . . . . . . . . . . . . . 145 Modernisierung des Holzbaus . . . . . . . . . . 163

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Haus Bauernhaus . . . . . . Landhaus . . . . . . . „Ein anderes Haus“ . . Architektenhaus . . . Gewerblicher Wohnbau

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Dorf Was ist ein Dorf ? . . . . . . . . . . . Strukturen des Gemeinschaftslebens Architektur im Dorf . . . . . . . . . Beratung, Planung, Steuerung . . . .

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Handwerk Holz als Werkstoff . . . . . . . . . . . . . Arbeitsform und Wissensaneignung . . . . Rustikalproduktion im Bregenzerwald . . . Reform des Handwerks: Externe Entwerfer Reform des Handwerks: Serienproduktion . Reform des Handwerks: Möbel und Raum .

. . . . . . . . . . . . . . 185 . . . . . . . . . . . . . . 202 . . . . . . . . . . . . . . 213 . . . . . . . . . . . . . . 231 . . . . . . . . . . . . . . 253

. . . . . . 269 . . . . . . 295 . . . . . . 316 . . . . . . 349

. . . 375 . . . 381 . . . 389 . . . 402 . . . 417 . . . 429

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . 439 Anhang Verzeichnis Interviews . . . . . . . . . . . . . . 449 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 463

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... jede Idee, die sich nicht am Sozialen bricht und dabei verwirren, zerstören oder beglaubigen läßt, gibt es gar nicht. Rainald Goetz: Klage, 2008

Einführung Architektur als soziale Praxis aufzufassen und damit vor unserer baulichen Umwelt mit ihren Fassaden, Baukörpern und Räumen einen Schritt zurückzutreten, richtet unsere Aufmerksamkeit auf den dahinterliegenden Herstellungsvorgang. Vor allem aber rücken hierdurch die Menschen, die diesen ermöglichen, beauftragen, planen und durchführen sowie seine baulichen Ergebnisse als Lebensumgebung benutzen und bewohnen, in den Blick. Diese Studie verknüpft den Vorgang, in dem gebaute Architektur entsteht, ursächlich mit seinem gesellschaftlichen Rahmen und sucht auch die Voraussetzungen und Folgen des Vorgangs wiederum im Gesellschaftlichen. Ausgestattet mit diesem Denkmodell, Gesellschaft als Ursache von Architektur und die Wirkungen von Architektur als gesellschaftliche Effekte zu identifizieren, haben wir die Frage „Was ist Architektur?“ an solche Akteure unseres Forschungsfeldes gerichtet, die am Zustandekommen von Architektur beteiligt sind. Ihre Auskünfte und der diesen zugrundeliegende Wissensbestand bestimmen die im Folgenden verhandelten Themen. Im Gegensatz zu jenem universellen Bedeutungsumfang des Begriffs, der mit Architektur „alles Gebaute“ meint, betrachten wir nur solche Bauwerke als Architektur, denen ein Entwurf professioneller Architekten zugrundeliegt, als Architekten bezeichnen wir nur solche Planer, die ein Architekturstudium durchlaufen haben. Damit übernehmen wir jenes Bestimmungsmodell in den Sprachgebrauch dieser Studie, auf dem auch die professionelle Selbstwahrnehmung der Architekten, ihr Fachdiskurs, die Geschichte und Theorie der Architektur sowie jegliche „Architekturförderung“ gründet. Ohne den Berufsstand der Architekten und außerhalb des durch sie bestimmten Diskurses besitzt das Modell keine Plausibilität. In dieser Feststellung ist ein ebenso unauffälliger wie bedeutsamer Umstand identifiziert, die Existenz einer „Wirklichkeit“ nämlich, die einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, jener der Architekten und ihrem Umfeld, zuzuordnen ist und die außerhalb dieser nicht nur keine Bedeutung, sondern auch keine wahrnehmbare Kontur besitzt.

Architekturbegriff

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8 Beteiligte wissenschaftliche Disziplinen

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Einführung

In der wissenschaftlichen Befassung mit solchen Phänomenen überschneiden sich mehrere Disziplinen. Insofern es sich um ein gesellschaftliches Phänomen handelt, fällt es in die Zuständigkeit der Soziologie, von einem ihrer einflußreichsten Vertreter, Max Weber, auch „Wirklichkeitswissenschaft“ genannt. Auf den Umstand, daß es sich bei einer solchen „Wirklichkeit“ nicht um ein seiendes oder gewordenes, sondern um ein „gesellschaftlich konstruiertes“ Phänomen handelt, richtet die Wissenssoziologie ihr Augenmerk. Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben das für die Gegenwart gültige Theoriewerk dieser Disziplin verfaßt und darin insbesondere Entstehung und Wirkungsweisen solcher „gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeiten“1 aufgezeigt sowie die Konfrontation konfligierender oder einander widersprechender Wirklichkeiten systematisch beschrieben. Die Autoren definieren „Wissen“ als diejenige Fähigkeit, Phänomene als „wirklich“ zu erkennen. Im Sinn einer Erläuterung des unserer Studie zugrundeliegenden Denkmodells ist die Hinwendung zum Wissen, hier dem Architekturwissen, insofern entscheidend, als das Medium Wissen eine gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme an Architektur beobachtbar macht, daß also mittels einer Beobachtung des Mediums Wissen Architektur sich als sozialer, als Kommunikations- und Konstruktionsprozeß beschreiben läßt. Mit ihrer Begriffsbestimmung ordnen Berger und Luckmann Wissen gleichzeitig der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe und ihrer Wirklichkeit als Gültigkeitsraum zu. Indem Wissen also relativ ist, nämlich abhängig von der ihm zugrundeliegenden Wirklichkeitskonstruktion, bedarf es an der Grenze ihres Gültigkeitsraums der Übersetzung. Riklef Rambow hat als Psychologe dasjenige Werk verfaßt, das solche Übersetzungsphänomene auf dem hier interessierenden Feld thematisiert: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur, ein Standardwerk aus dem Jahr 2000, dem die vorliegende Studie einen wesentlichen Impuls zu ihrer Entstehung verdankt. Neben den bisher genannten wissenschaftlichen Werkzeugen, die den Ausdruck der vorliegenden Arbeit geprägt haben, ist es die Kulturwissenschaft, die den thematischen Rahmen ihrer Interpretationen gesetzt hat. Vor allem die Cultural Studies des angelsächsischen Sprachraums mit ihrem Interesse, „die Prozesse zu verstehen, die die Nachkriegskultur seit den Fünfziger Jahren bestimmen: Industrialisierung, Modernisierung, Urbanisierung, der Zerfall gewachsener lokaler Gemeinschaften, ökonomisch induzierte Bewegungen der Migration, die zunehmende Warenförmigkeit kulturellen Lebens“2 haben moderne Kultur in den Fokus kulturwissenschaftlicher Betrachtung gerückt und damit ein Themenfeld, dem auch der Interpretationshorizont der vorliegenden Studie nahesteht. Für das Vorhaben, Architektur zum Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen Analyse zu nehmen, war, zumal in dem hochschulfernen Rahmen, in dem diese Studie entstand, im Zeitraum ihrer Durchführung kein zeitgenössisches Vorbild auszumachen. Die aktuellsten derartigen Veröffentlichungen lagen etwa dreißig Jahre zurück. Indem Architektursoziologie als verbindendes

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Interesse wissenschaftlicher Arbeitskreise und der Forschung ihrer Mitglieder parallel zur Fertigstellung der vorliegenden Studie gegenwärtig erstmals wieder konturiert in Erscheinung tritt3 und auch als Wahrnehmungshintergrund von Architekturpublizistik neuerdings verstärkt aufscheint, darf die vorliegende Studie für sich in Anspruch nehmen, einen Blickwinkel zu repräsentieren, der „in der Luft“ liegt. Dieser Blickwinkel, seine Position und deren Bedingtheit sowie die Methodik seines Einsatzes im Kontext unserer Studie sollen im Folgenden erläutert werden. Seit der Disziplin Architektur im neunzehnten Jahrhundert eine akademische Ausbildung zugrundegelegt und die staatliche Verwaltung ihre Ausübung einem Berufsstand unterstellt hat, gibt es Institutionen, die „Regeln der Baukunst“ als technische Standards und künstlerische Qualitätsvorgaben sowie Referenzen in Form eines Kanons vorbildlicher Werke vermitteln und verwahren. Die Institutionalisierung von Architektur in Hochschulen, berufsständischen Kammern und Architektenverbänden formte Architektur zu demjenigen Medium, als welches sie im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht. Die Rollen, die Architektur als Medium im gesellschaftlichen Diskurs zugeschrieben werden, sind vielfältig und auf unterschiedlichen Ebenen dieses Diskurses angesiedelt. Allen gemeinsam ist, daß sie im direkten Zusammenhang mit Interessen der zuschreibenden Akteure stehen. Der mächtigste unter diesen ist die staatliche Verwaltung, die den berufsständischen Kammern ihre Privilegien verleiht und Architektur als Technik des Ordnens im territorialen Maßstab sowie als Vermittlerin jeweils zeitgemäßer ökonomischer, technologischer und sozialer Standards gegenüber den lokalen Baubehörden, dem Baugewerbe sowie den „Planungsbetroffenen“4 einsetzt. Verantwortlich für die Herausbildung eines Berufsstandes entsprechend vorgebildeter Planungsexperten sind die staatlichen Hochschulen, darunter sowohl solche mit technischem als auch solche mit künstlerischem Schwerpunkt.5 Es ist vor allem der künstlerische Aspekt, die Gestalt der Baukörper und die Physiognomie der Fassaden und nur im Ausnahmefall exponierter Ingenieurbauwerke auch ihre technische Leistungsfähigkeit, der die öffentliche Wahrnehmung von Architektur bestimmt. Indem Architekturhochschulen die technischen und künstlerischen Aspekte von Architektur zu einer kontrollierten Qualität systematisierten, konnte Architektur zum kulturalen Attribut werden, das Bauwerke aus ihrer Umgebung hervorhebt und seine Architekten und Bauherren nobilitiert. Auch nachdem sich die Institutionen der Architektur in den 1920er Jahren als internationale Bewegung neu formiert und die nunmehr „modernen“ architektonischen Werke programmatisch der „Stilfassade“ des Historismus entkleidet hatten, bleibt die Aufspaltung der Bauaufgabe in Zweck und Bedeutung als Grundprinzip architektonischen Denkens aufrecht.6 Architektur haftet dem Bauwerk als Bedeutungsgehalt an, der unabhängig von

Architektur als Institution

Zweck– Bedeutung

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Kultur als Mittel gesellschaftlicher Unterscheidung

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Funktionen und Verwendungsnutzen existiert, die Zweckebene jedoch vermittels Form, Materialwahl und Konstruktion räumlich präfiguriert, vor allem aber visuell „vermittelt“. Wiederum als Folge, sowohl ihrer Institutionalisierung als akademische Kunstform als auch der Modernisierung von Kunst selbst hin zu einer Absolutstellung des Künstlers sowie, damit in Verbindung stehend, einer Entfernung des gegenständlichen Sujets aus seinen Werken, die den individualisierten Schöpfungsakt selbst zum Thema von Kunst werden läßt, ist die ästhetische Vermittlung, die „Schönheit“ des architektonischen Bauwerks, wiewohl öffentlich zur Schau gestellt, nicht als gesellschaftlich neutral im Sinn eines Allgemeinguts zu betrachten. Sowohl die Zeichensprache und ihre Mittel als auch die Position des Schöpfers zu seinem Werk unterliegen den Weichenstellungen, die die Entwicklung von Kunst auf ihrem Weg in die Moderne vollzogen hat.7 Pierre Bourdieu, französischer Soziologe, dessen kultursoziologische Studien den Begriffsraum der vorliegenden Arbeit wesentlich bestimmen, hat diese Modernisierungen von Kunst in ihren gesellschaftlichen Effekten dargestellt. Aus der modernen Disposition von Kunst als gesellschaftlicher Avantgarde stellt Bourdieu fest, daß der Zugang zu Wahrnehmung und Wertschätzung von Kunst wesentlich durch die Sozialisation des Betrachters bestimmt ist.8 Wer als Kind bereits mit jener „Welt“ von Kunst und Hochkultur umgeben war, wird ihre spezifische Form von „Schönheit“ sowohl zum Bestandteil seiner habituellen Orientierung als auch zum Merkmal seines Auftretens und Handelns machen. Wer fern von ihr aufgewachsen ist, bleibt in ebenjener Wirklichkeit, deren Grundlage eine soziale Prägung und deren Zugehörigkeitsmerkmal ein von seinem Träger unbeobachteter Habitus ist, immer Fremder. Diese Analyse der Kulturwahrnehmung wirkt zurück auf die Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion, nicht nur von Kunst, sondern jeglicher Kultur. Indem kulturelles Handeln, ebenso wie die Wahrnehmung von Kultur und der dieser zugrundeliegende „Geschmack“, Produkt der Sozialisation des Handelnden oder Rezipienten ist, wirkt Kultur als Mittel gesellschaftlicher Unterscheidung: Die kulturelle Urteilsfähigkeit, der „individuelle“ Begriff von Schönheit, klassifiziert nicht nur den beurteilten Gegenstand, sondern ordnet ebensosehr den Urteilenden einem spezifischen Habitus und mit ihm einer gesellschaftlichen Schicht zu. Indem sich institutionalisierte Architektur als Sparte zeitgenössischer Kunst und damit als „Hochkultur“ positioniert, klassifiziert sie gleichzeitig ihre Schöpfer, die Architekten, ebensosehr wie ihre Auftraggeber, die Bauherren, in gesellschaftlicher Hinsicht. Architektur als soziale Praxis aufzufassen, bedeutet in diesem Sinn, bauliche Ästhetik in ihrem Einsatz als Mittel gesellschaftlicher Positionierung zu beobachten. Architektur markiert eine Differenz in Form von kulturellem Mehrwert, sie scheidet die bauliche Landschaft unmißverständlich in archi-

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tektonische und nichtarchitektonische Territorien. Parallel dazu grenzt sie in der diese Landschaft bewohnenden Gesellschaft solche, die imstande sind, Architektur Wert beizumessen, damit die territorialen Grenzen wahrzunehmen und ihren Verlauf mitzubestimmen, von jenen ab, die es nicht sind. Architektur „ordnet“ Gesellschaft also nicht nur, indem sie mit Räumen gleichzeitig Bahnen für Bewegung und Raum für Begegnung, also Aktivitätsumfelder, formt, die die Formen und Potentiale dieser Aktivitäten präfigurieren. Architektur wirkt durch ihr semantisches Potential, ihre „Schönheit“ darüber hinaus als Mittel gesellschaftlicher Distinktion, das ihrerseits sichtbar wird, sobald Schönheit und ihre Betrachtung, ebenso wie der Abglanz, den sie auf den Betrachter zurückwirft, als Produkte von Erziehung, Bildung und Milieuzugehörigkeit und jene wiederum als gesellschaftliches Kapital identifiziert sind. Auch andere Baukulturen verleihen ihren Werken „Schönheit“. Als solche andere Baukultur neben institutionalisierter Architektur verfügt in den ländlich-agrarischen Gesellschaften, den Talschaften und Dorfgemeinschaften des Forschungsraumes vor allem diejenige des Bauhandwerks über traditionelle Besitzstände. Was Architektur gegenüber handwerklicher Baukultur gesellschaftlich hervorhebt und jene zu „Nichtarchitektur“ herabstuft, ist nicht das Vorhandensein von Schönheit, sondern die Präsenz von legitimierenden und nobilitierenden, also wertverwaltenden Institutionen in dieser. Jene richtigen Referenzen, auf die Architektur in ihrer Schönheit verweist, der legitimierte ebenso wie legitimierende Kanon, erhebt sowohl das Virtuose des Zitierens im Künstlertum als auch jenes der erkennenden Würdigung im Kennertum zu einer gemeinsamen Praxis demonstrativer Teilhabe an der gesellschaftlichen Durchsetzungskraft der dahinterstehenden Institutionen. Der Forschungsansatz der vorliegenden Studie verharrt nicht bei der Feststellung einer Trennung der baulichen Landschaft in Architektur und Nichtarchitektur und ihrer gesellschaftlichen Folgeerscheinungen, sondern interessiert sich ebensosehr für die Beschaffenheit der jeweiligen Qualitäten beiderseits der Trennlinie. „Was ist Architektur?“, unsere Forschungsfrage, die mit einschließt „wodurch entsteht, was bewirkt und wer bewegt Architektur?“, war von Anfang an die Arbeitshypothese unterlegt, daß institutionalisierte Architektur mit dem Habitus, den sie ihren Protagonisten verleiht, deren Schaffen in einer Weise prädisponiert, daß architektonischen Werken ein gemeinsames Idealbild ihrer Bewohnung und Benutzung und darüber hinaus eine Vorstellung von der wiederum habituellen Orientierung ihres Bewohners und Nutzers, kurz gesagt, ein spezifisches Menschenbild, innewohnt. Voraussetzungen einer solchen berufsspezifischen Disposition sind insbesondere in dem historischen Umstand zu finden, daß der Umbauprozeß, dem die Institutionen der Architektur an der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert unterworfen wurden, eine letztlich erfolgreiche

Architektur und Bauhandwerk als konkurrierende Baukulturen

Architektur als Modernisierungsbewegung

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internationale Formierung der dem technologischen Fortschritt zugewandten Architektenschaft (sowie weniger erfolgreiche, wenn auch nichtsdestoweniger folgenreiche nationale Formierungen von deren restaurativer Fraktion) hervorgebracht hat. Der Voraussetzung, daß Architektur als Kultur gesellschaftlich nicht neutral sein kann, fügt der Forschungsansatz der vorliegenden Arbeit also eine weitere hinzu, diejenige, daß Architektur, indem sie sich als Moderne Bewegung international formiert hat, ebensowenig wertneutral ist. Diese Studie unternimmt den Versuch, zumindest einige jener Werte zu identifizieren, die Zeitgenössische Architektur aus ihrer Geschichte als Moderne Bewegung heraus vertritt und die ihre Vertreter der programmatischen Ästhetischen Erziehung, mit der sie bis heute ihren gesellschaftlichen Avantgardestatus legitimieren, als Inhalte unterlegen. Architektur und Staat

Eine dritte Ebene einer Prädisposition institutionalisierter Architektur ist erst in der Analyse des Forschungsmaterials sichtbar geworden. Architektur, wie wir sie hier verstehen, ist ohne Staat nicht denkbar (und umgekehrt). Außer Medium von Kultur und Modernisierungsbewegung ist Architektur auch Planung und als Planungsdisziplin vorgeformt. Räumliche Planung jedoch ist für den Akteur Staat ein unabdingbares Instrument territorialen Verwaltens und Regierens. Stärker noch als in Deutschland ist in Österreich die Nähe betont, in die der Berufsstand der Architekten als Ziviltechniker zur staatlichen Verwaltung gesetzt ist. Architektur als soziale Praxis aufzufassen, bietet damit Gelegenheit, institutionalisierte Architektur auch in ihrer Prädisposition als Technik des Verwaltens und Regierens wahrzunehmen. Ein Einsatzfeld für diese Technik des social engineerings bietet der Modernisierungsprozeß des ländlichen Raumes. Hierbei trifft Architektur gerade im Alpenraum auf Sozialstrukturen, die aufgrund ihrer Herkunft aus dem Agrarischen und Handwerklichen, auf der Erfahrung des Selbständig-Eigenhändigen als Überlebensprinzip beruhen. Die daraus kultivierte Sozialform des Bauens steht der Disposition von Architektur, in ihren systematischen Ordnungen einerseits eine Expertenfixierung und andererseits eine Referentialität in übergeordneten Systemen zu schaffen, diametral entgegen. Das dörfliche Gemeinschaften charakterisierende Motto „Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen“ kennzeichnet damit einen Grundkonflikt, dem Architektur im ländlichen Raum gegenübersteht. Das Selbstverständnis institutionalisierter Architektur, die Gestalt architektonischer Werke historisch-kanonisch oder im zeitgenössischen Fachdiskurs rückzuverankern, „nichtfachlichem“ Zugriff jedoch systematisch zu entziehen, erfährt im Kontext ländlicher Gesellschaften und ihrer eigenhändiggemeinschaftlichen Kulturpraxis eine Wertung als außenorientierte und übergeordnete „Einmischung“, die mit ihrem Habitus des städtisch-akademischen Sozialmilieus ebenso wie demjenigen staatlicher Ordnungspraxis den Verlust ländlicher Autarkie, zu der in der Gestaltung der eigenen räumlich-dinglichen

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Lebensumgebung auch die Ausübung von Ästhetik gehört, ankündigt oder offenbar werden läßt. In augenscheinlichem Widerspruch zur Feststellung einer „genetischen“ Unverträglichkeit zwischen institutionalisierter Architektur und ländlichem Raum gilt Vorarlberg, das westlichste österreichische Bundesland, bezüglich seiner „Architekturdichte“ als europäischer hot spot Zeitgenössischer Architektur. Das Land setzt seit den 1980er Jahren internationale bauästhetische Maßstäbe. Daneben weist es mit seinen Gestaltungsbeiräten, Architekten, die mittlerweile rund ein Drittel der kommunalen Bauverwaltungen des Landes in Fragen des „Orts- und Landschaftsbildes“ beraten, ein einzigartiges Maß staatlicher Institutionalisierung avancierter Architektur auf. Was hot spot quantitativ bedeutet, kann ein Vergleich illustrieren. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde außer für Vorarlberg auch für die deutsche Stadt Augsburg, die ebenfalls rund 350.000 Einwohner umfaßt, ein Führer zur Zeitgenössischen Architektur veröffentlicht. Sein Herausgeber Winfried Nerdinger, Leiter des Münchner Architekturmuseums, beklagte in seiner Einleitung dieses Faltblatts, angehängt an eine Ausgabe der Architektenzeitschrift Baumeister, daß es nicht gelungen sei, im Stadtgebiet Augsburg das geforderte Kontingent von dreißig zeitgenössischen Architekturen mit überregionaler Bedeutung zu finden. Statt dessen habe man etliche Umlandgemeinden in das betrachtete Gebiet einbeziehen müssen.9 Vorarlberg bot zur gleichen Zeit für seinen Baukunstführer seit 1980 eine Bautenkartei von 700 Objekten auf, denen solche überregionale Bedeutung zuerkannt wurde.10 Mittlerweile ist ein zweiter Band geplant. Die Objektanzahl dürfte die 1500 überschritten haben. Die europaweite Aufmerksamkeit, die Vorarlberg für seine hohe Dichte an Zeitgenössischer Architektur genießt, stellt sich aus dem Blickwinkel unseres Forschungsansatzes als Effekt einer sozialen Architekturpraxis auf die wirtschaftspolitische Repräsentation des Landes dar. Im Medium der Architekturpublizistik ist Vorarlberg im Vergleich der österreichischen Bundesländer bereits um 1980 in die Rolle eines kulturellen Vorreiters und gesellschaftlichen „Modernisierungslabors“ eingesetzt worden. Parallel zur Etablierung einer europäischen Wirtschaftsunion in der politischen Gestalt eines Europas der Regionen gewinnen kulturale Profile dieser Regionen heute zunehmend ökonomische Bedeutung im globalen Maßstab. Sein Wert als Standort, der Vorarlberg als architektonischem hot spot im Verlauf von drei Jahrzehnten buchstäblich zugeschrieben worden ist, verweist damit als exemplarische Erscheinungsform auf die Verkettung von Kulturförderung und ökonomischer Verwertung als Standortmarketing in der politischen Praxis des Regional Governance, dem marktwirtschaftlich bestimmten, aber hochgradig kulturalisierten Politikmodell des gegenwärtigen Europa.

Vorarlberg als hot spot Zeitgenössischer Architektur

Vorarlberg als Labor

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Vorarlbergs Wirtschaft

Kulturgeschichtlich zeichnet sich Vorarlberg innerhalb der österreichischen Bundesländer vor allem durch seine frühe Industrialisierung aus, die im Rheintal, entlang der Grenze zur Schweiz, im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts eine dichte Textilindustrie entstehen ließ. Trotzdem konnte das Land mit seiner auf rund einhundert Gemeinden verteilten Gesamtbevölkerung eine dezidiert ländliche Siedlungsstruktur bewahren. Aufgrund seiner geringen Bevölkerungszahl weist das Land lediglich Kleinstädte mit maximal 50.000 Einwohnern auf. Die Landeshauptstadt Bregenz etwa hat 35.000 Einwohner. Heute ist Vorarlbergs Wirtschaft längst nicht mehr agrarisch geprägt, und auch die Textilindustrie war in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs einem unaufhaltsamen Niedergang ausgesetzt. Statt ihrer haben sich vor allem im Rheintal, dessen Gemeinden mittlerweile zum Agglomerationsraum zusammengewachsen sind, hochwertige neue Produktionssparten angesiedelt, denen eine intensive Tertiarisierung zur Seite steht, sodaß Vorarlberg mittlerweile zu den wohlhabendsten Bundesländern Österreichs zählt.

Forschungsmethode

Die vorliegende Studie nähert sich Architektur nicht über die Analyse von Bauten, sondern durch qualitative Interviews mit Akteuren des Baugeschehens. Das sind zunächst Planer, und zwar akademisch gebildete Architekten ebenso wie solche, die dem handwerklichen Sozialmilieu entstammen. Beide Gruppen, als „Baukünstler“ subsumiert, dürfen in Vorarlberg beanspruchen, Architektur im engeren Sinn zu schaffen. Neben den Planern stehen Bauherren, Auftraggeber privater Wohnhäuser sowie Unternehmer als gewerbliche Bauherren im Fokus dieser Studie. Eine weitere befragte Akteursgruppe repräsentiert die Produktionsseite des Bauens: gewerbliche Bauträger und Handwerker. Vor allem die Berufspraxis und gesellschaftliche Position der Handwerker ist intensiv betroffen von der neuen Arbeitsteilung zwischen Entwurf und Produktion, den der Auftritt von Architekten als professionalisierten Entwerfern nach sich zieht. Bürgermeister, im ländlichen Vorarlberg gleichzeitig kommunale Baubehörde erster Instanz, die im Fall kommunaler Bauaufgaben zusätzlich als öffentliche Bauherren in Erscheinung treten, stellen die letzte der betrachteten Akteursgruppen. Die Wahl der Gesprächspartner folgte im wesentlichen dem eigenen, teils über Jahre verfolgten Interesse an den Projekten, die sie repräsentieren. Die überwiegende Anzahl der befragten Personen war mir zum Zeitpunkt der meist telefonischen Gesprächsvereinbarung noch unbekannt. Wiederholt wies der zunächst Angesprochene während des Interviews auf weitere Beteiligte hin, sodaß mit diesen unterschiedliche Blickwinkel auf das selbe Projekt erfaßt werden konnten, etwa derjenige des ausführenden Generalunternehmers und jener des Bürgermeisters im Fall eines zentrumsbestimmenden Kommunalbaus. Indem die Gespräche konkrete Projekte zum Anlaß nahmen, konnte deren Entstehungsgeschichte als Leitfaden des Interviews dienen. Thematische

Durchführung der Interviews

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Verzweigungen wurden in jedem Fall zugelassen und möglichst weiterverfolgt, was gelegentlich Folgegespräche ergab. Nachdem etwa der erwähnte Bürgermeister ein zwanzig Jahre zuvor „revolutionäres“ Einfamilienhaus im Dorf angesprochen hatte, suchte ich anschließend dessen Bauherrenehepaar auf und gewann, neben der Geschichte jenes Hausbaues, auch Einblick in die sich wandelnde Haltung gegenüber Architektur in jenem Dorf. In einem Fall ergriff der Interviewpartner die Gelegenheit des Gesprächs, um nach eigener Ordnung in mehreren Treffen seine berufliche Entwicklung zu rekapitulieren, die, als repräsentativ für seine Generation aufgefaßt, wiederum Aspekte architekturbezogener Sozialgeschichte lieferte. Alle Gespräche fanden als Vier-, im Fall beteiligter Ehepartner oder anderer Beteiligter als Sechsaugengespräch in konzentrierter Atmosphäre an dem Ort statt, den die Gesprächspartner jeweils wählten, in Wohnzimmern, Gaststuben, Amts- und Büroräumen sowie bei Spaziergängen. Sie dauerten ein bis zwei Stunden, wurden auf Tonband aufgezeichnet, anschließend wortgetreu transkribiert, von den Gesprächspartnern durchgesehen und auf Wunsch korrigiert. Ihre Eingriffe blieben in jedem Fall minimal, zumeist beschränkten sie sich auf die Streichung einzelner Sätze, deren Inhalt nachträglich als zu persönlich empfunden wurde. Die Brücke zwischen den Anlaß gebenden Architekturen und dem ihnen übergeordneten Begriff Architektur, zwischen den individuellen Sichtweisen, Haltungen und Betroffenheiten der mitgeteilten Fallgeschichten und der die Gesprächspartner zu Vertretern einer gemeinsamen Gesellschaft verbindenden sozialen Praxis schlägt ein Denkmodell, dessen zentrale Begriffe Wissen und Habitus hier bereits in den Zusammenhang sozial- und kulturwissenschaftlicher Parameter gestellt worden sind. Pierre Bourdieu, der den Habitusbegriff den kunsthistorischen Analysen Erwin Panofskys entlehnt hat, in denen dieser zeit- und gesellschaftsspezifische Konstanten von Wissens- und Bauformen der Gotik – also kunstsoziologische Überlegungen – dargestellt hatte, formuliert 1970 das Zusammenfallen von Individuum und Gesellschaft, von Werk und Kultur und auch jenes von Wissen und Praxis im Habitusbegriff: „Wer Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht, bloß um den Rechtsanspruch des schöpferischen Individuums und das Mysterium des Einzelwerkes wahren zu können, begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken, Kollektives in Form von Kultur – im subjektiven Sinne des Wortes ‚cultivation‘ oder ‚Bildung‘. Oder, nach Erwin Panofskys Sprachgebrauch, im Sinn des ‚Habitus‘, der den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet und, ohne daß dieser es merkte, seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist.“11 Einmal gefunden, lag es nahe, den Habitusbegriff und die ihm inhärente Herkunft aus der Kunst- und Architektursoziologie wiederum zur Analyse kollektiver Wissensdimensionen der durch den gemeinsamen geographischen

Analyse der Interviews

Bourdieus Habitusbegriff

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und gesellschaftlichen Raum verbundenen Sammlung individueller Äußerungen anzuwenden, die das Konvolut der Gesprächstranskripte darstellt. Die Dokumentarische Methode der Interpretation, eine Begründung der Beobachterhaltung in den Sozialwissenschaften, wie sie Karl Mannheim erstmals umfassend vorgelegt hat und die Ralf Bohnsack unter Bezugnahme auf Bourdieus Habitusbegriff methodisch beschreibt12, bot ein ideal fokussiertes Verfahren. Seine Beobachterhaltung basiert auf einer spezifischen Analyseeinstellung, die Mannheim als „genetische“ oder „soziogenetische“ Einstellung13 bezeichnet hatte. In dieser wird die Frage nach dem faktischen Wahrheitsgehalt oder der normativen Richtigkeit kultureller oder gesellschaftlicher Tatsachen „in Klammern gesetzt“. So ist ein Wechsel von der Frage, was kulturelle oder gesellschaftliche Tatsachen sind, zur Frage danach, wie diese hergestellt werden, möglich. Die zentrale Analysefrage ist diejenige nach dem „handlungsleitenden Wissen“, das vom Gesprächspartner selbst nicht formulierbar ist, also lediglich stillschweigend oder „implizit“ vorliegt. Bohnsack: „Jenes in der gelebten Praxis angeeignete und diese Praxis zugleich orientierende Wissen, welches den Orientierungsrahmen bzw. Habitus bildet, ist ein ‚atheoretisches Wissen‘ (Mannheim). Diejenigen, die über Gemeinsamkeiten im Bereich des atheoretischen Wissens verfügen, teilen Gemeinsamkeiten des Erlebens (...) im Sinn eines ‚kollektiven Gedächtnisses‘ miteinander. In Bereichen, in denen die Akteure über derartige existentielle Bindungen des gemeinsamen Erlebens verfügen, ist ein (unmittelbares) Verstehen untereinander möglich. Wir sprechen mit Bezug auf diese Bereiche von konjunktiven Erfahrungsräumen.“14 Solche Subgesellschaften, die einen gemeinsamen konjunktiven Erfahrungsraum teilen, bezeichnet die Kulturwissenschaft als Milieu oder, im Sinn der vorliegenden Studie zutreffender, als Community of practice15, ein Begriff, der neben dem Wissen die gemeinsame Praxis als verbindendes Medium benennt. Außerhalb dieser konjunktiven Erfahrungsräume geschieht Verständigung, diesem Denkmodell folgend, mittels „gegenseitiger Unterstellung“, ein Vorgang, den man sich bei Mitgliedern einer gemeinsamen Gesellschaft als stufenweise gegenseitige Annäherung in einem zirkulären Prozeß vorstellen kann. Für die Forschungspraxis bedeutet die Voraussetzung eines atheoretischen Wissens, daß davon auszugehen ist, daß der Befragte sich seines Wissens nicht in einer wörtlichen Weise bewußt ist. „Die wissenssoziologischen Forscher [gehen] nicht davon aus, daß sie mehr wissen als die Erforschten, sondern davon, daß die Erforschten selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen“ 16, charakterisiert Bohnsack die Beziehung des Forschers zu seinen Auskunftgebern. Das „stillschweigende Wissen“ seines Gegenübers in Sprache zu „übersetzen“ ist Aufgabe des Forschers und wurde für die vorliegende Studie in Form eines mehrstufigen Analysevorgangs der Gesprächstranskripte geleistet. Das Augenmerk lag darin vor allem auf der Argumentationsstruktur des Gesprächs, den Umschreibungen, Bildern und Referenzen

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etwa, die der Sprechende benutzt, und damit auf der Art und Weise, wie er Wissen in Sprache übersetzt. Der Methodenebene der Analyse steht eine dingliche Ebene zur Seite, die aus Aufnahmegeräten und Computern, vor allem aber aus bedrucktem und beschriebenem Papier besteht. Die Referenzierung der Gespräche im Analyseprozeß wurde auf der Dingebene als Übertragung ihrer linearen Struktur in die Simultaneität von Karteikarten dargestellt. Jede interpretiert ein Gesprächsfragment und betitelt es mit einem inhaltlichen Schlagwort. Die Verzettelung erlaubte die Gruppierung zu jenen die Gespräche verbindenden Generalthemen, die nachfolgend als Kapitel und Abschnitte in Erscheinung treten. Als Marginalien markieren die ehemaligen Kartentitel textliche Sinneinheiten und bieten Seiteneinstiege. Die vorliegende Studie ist also ein Puzzle aus rund 900 Interpretationen von Interviewaussagen, das auf einer Metaebene aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorie ausgebreitet ist. Seine enge Bindung an das Interviewmaterial gibt dem Text einen ausgeprägt dokumentarischen, mithin ethnographischen Charakter. Die Übertragung der Dissertationsfassung in die hier vorliegende Buchform unterzog den Gesamttext einer durchgängigen Überarbeitung. In diese flossen insbesondere Anmerkungen der Gutachten und Reflexionen aus der auszugsweisen Umarbeitung zu Vorträgen sowie aktuelle Fachliteratur ein, die gerade in der Architektursoziologie derzeit sprunghaft anwächst. Ein Sachregister erlaubt nun direkten Zugriff auf das erarbeitete Begriffsraster. Die Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ an Akteure des Vorarlberger Baugeschehens setzt zwei Vorannahmen stillschweigend voraus: daß ein allgemeingültiger Begriff von Architektur existiert und daß die Architekturdichte in der baulichen Landschaft Vorarlbergs gleichmäßig verteilt sei. Beides trifft bei näherem Hinsehen nicht zu. Was im Sinn dieser Studie unter Architektur zu verstehen sei, ist, neben der allgemeinen Begriffsbestimmung dieser Einleitung, unter den Bedingungen des Forschungsfeldes zunächst zu konkretisieren. Dies geschieht im ersten Kapitel Architektur?. Der ungleichmäßig verteilten Architekturdichte innerhalb der baulichen Landschaft des Bundeslandes Vorarlberg und damit der Frage nach der Legitimität, dieses als Geltungsbereich der vorliegenden Studie zu bezeichnen, geht das zweite Kapitel Vorarlberg nach. Erst nach diesen Klärungen kann die eigentliche Ausbreitung der Befunde erfolgen. Sie stützt sich auf vier Eckpunkte, die den in den Interviews am häufigsten angesprochenen Themen entsprechen: Ein materialspezifisches, Holz, zwei typologische, Haus und Dorf, sowie ein herstellungsspezifisches, Handwerk, bilden den Rahmen für ein dokumentarisches Panorama habituellen Architekturwissens, das, wo immer möglich, im Kontext konkreter Fallgeschichten wiedergegeben ist, um den Anspruch jener hohen Genauigkeit zu erfüllen, die der Verantwortung gegenüber den Auskunftgebern und ihrem mitgeteilten stillschweigenden Wissen entspringt.

Struktureller Aufbau der Studie

Inhaltlicher Aufbau

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18 Entstehungsgeschichte

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Anlaß und Gelegenheit zu dieser Studie gab eine existentielle berufliche Krise. Um sowohl die gewählte Perspektive, als auch die jeweils gefundenen Passungen oder Bindungen zwischen den „Puzzleteilen“ auch in ihrer Gebundenheit an Biographie ihres Autors und Umstände ihrer Entstehungszeit zu erschließen, mag ein kurzer Blick auf diese Situation erlaubt sein. Das eigene Architekturbüro in Augsburg, gegründet nach Studienabschluß 1997 gemeinsam mit einem erfahreneren Partner, stand 2003, im siebten Jahr seines Bestehens und mittlerweile auf fünf Personen angewachsen, aus Auftragsmangel vor dem Aus. Persönlicher Unfähigkeit allein war dies offensichtlich nicht anzulasten, denn auch im Kollegenkreis grassierten zu jener Zeit die Büroschließungen und -schrumpfungen. Die bereits zwölf Jahre währende Bauwirtschaftskrise hatte dem klassischen Berufsbild des freien Architekten, das „vor allem durch Honorarordnung, Selbstverwaltung und Werbungsverbot institutionalisiert ist und also insbesondere auf der Vorstellung beruht, daß das Produkt der Architektenleistung für sich spricht“17, den ökonomischen Boden entzogen. Die rasante Verbreitung digitaler Kommunikationsmedien verdrängte im selben Jahrzehnt, das gleichzeitig jenes des Aktienbooms, einer der längsten Krisen der deutschen Bauwirtschaft und erster prägnanter Einschnitte in staatliche Kulturförderung war, das bis dahin „handwerkliche“ Entwerfen und Planzeichnen binnen weniger Jahre. Indem anstelle von Zeichnungen nun Dateien gefordert waren, verwandelte sich das ehedem mit Bleistift, Reißschiene und Transparentpapier funktionsfähig ausgestattete Architekturbüro in einen investitionshungrigen Maschinenpark. Der Technisierung der Produktionspraxis folgte ein Wandel der Darstellungsstandards hin zu fotorealistischen Visualisierungen, die den nunmehr obligatorischen Rechnereinsatz dauerhaft an die immer kürzeren Produkthalbwertszeiten der Digitalindustrie koppelte. Zwangsläufig verfiel damit die Praxisrelevanz der Berufsvorbereitung, wie sie die Ausbildungsinstitute geboten hatten, binnen kurzem zu musealen Relikten. Neben den Effekten der „digitalen Revolution“ hatte insbesondere das im Studium vermittelte Bild vom Erziehungsbedarf des Bauherrn und den Baubehörden als natürlichem Gegner des Architekten eine Wirklichkeit geschaffen, die im Rahmen dramatisch verengter wirtschaftlicher Spielräume weder der Probe der Existenzsicherung noch der Verantwortung gegenüber Anvertrauten standhalten konnte. Der Schock der Erkenntnis, daß der gesellschaftliche Bedarf an der erworbenen Kompetenz am Ort der Berufsausübung schlichtweg fehlte, ließ die Analyse der eigenen professionalen Identitätskonstruktion zu einer notwendigen Bestandsaufnahme werden. Dabei einen übermäßig „betroffenen“ Standpunkt zu vermeiden, hat vor allem der wissenschaftliche Blickwinkel ermöglicht. Vor allem die Neukonstruktion der unterschiedlichen Akteursperspektiven, die die vorliegende Studie tragen, schuf Distanz zum eigenen impliziten Wissensbestand. In dieser

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Gleichzeitigkeit „objektiver“ wissenschaftlicher Methoden und der intuitivsubjektiven Figuration des individuellen Forschungsdesigns liegt für Bourdieu der Ansatzpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis: „Etwas [zu] tun, ohne genau zu wissen, was man tut, damit (...) die Chance, in dem, was man getan hat, etwas zu entdecken, was man vorher nicht wußte.“18 Nicht zuletzt spiegelt das vorliegende Ergebnis die freundlichen Bedingungen, die das neue Umfeld Vorarlberg dem Blick auf das eigene Metier bot, einem Land, das vom Forschungsfeld zur neuen Heimat geworden ist. Als anders als jenes Milieu, das mir meine berufliche Identität antrainiert und Architektur vor allem als Utopisches gesetzt hatte, erlebte ich Vorarlberg bereits in den Bewerbungsgesprächen, mit denen ich 2003 den eigenen Beruf in neuen Rahmenbedingungen fortsetzte. Architektur trat mir hier gegenwärtiger, nüchterner, geschäftlicher entgegen, als Profession, die einen Lebensunterhalt unter „bürgerlichen“ Verhältnissen ermöglicht, nicht nur in der überraschend wiederkehrenden Frage nach meiner „Familie“, die die Existenz einer solchen voraussetzte, sondern auch in Gestalt gebotener Bedingungen, die annähernd denen entsprachen, die in nichtkünstlerischen, in Dienstleistungsberufen zu finden sind. Besonders angenehm kontrastiert dieses Arbeitsklima zu demjenigen, das außerhalb Vorarlbergs im Architektenmilieu üblich ist und vor allem darauf beruht, Selbstausbeutung und soziale Absonderung zum positiv konnotierten Bestandteil der beruflichen Identität zu erheben.19 In der nun folgenden Aufzählung derjenigen, ohne die diese Arbeit in ihrer ausführlichen und verzweigten Form nicht hätte entstehen können, gebührt meiner Familie die oberste Stelle: meinen Eltern als Vermittlern prägender Werte, meiner Frau, die mich beständig begleitet hat und unseren Kindern, die die Welt in neuem Licht erscheinen lassen. Den Rahmen dieser Arbeit als wissenschaftliche haben vor allem ermöglicht: Prof. Dr. Norbert Huse,der dem Projekt thematisch und organisatorisch auf den Weg half, Prof. em. Friedrich Kurrent, der bestätigte, daß die gewählte Perspektive von Interesse sein könnte, vor allem jedoch Prof. DI Hermann Kaufmann, der kurzentschlossen die Betreuung als Dissertation an seinem soeben eröffneten Lehrstuhl an der TU München übernahm und trotz aller Irritationen, die seine Doppelrolle als Betreuer und zentralem Akteur des Forschungsfeldes mit sich gebracht haben mochte, solidarisch blieb. Prof. Dr. Bernhard Tschofen, Universität Tübingen, der die Betreuung auf halber Strekke zum hochschulübergreifenden Tandem erweiterte, legte das Augenmerk auf die Wissenschaftlichkeit der Methoden und verankerte diese in der erprobten Praxis, die sein Metier, Empirische Kulturwissenschaft, in der Feldforschung besitzt. An nächster Stelle ist den Interviewpartnern zu danken. Bertram Dragaschnig, Arno und Leopoldine Eugster, Peter Greußing, Gerhard Gruber, Helmut Kuess, Norbert und Reinelde Mittersteiner, Mario Nußbaumer, Peter

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Nußbaumer, Hans Purin (verstorben 2010), Wolfgang Schmidinger, Jürgen Sutterlüty, Ernst Wirthensohn und Gunter Wratzfeld haben rückhaltlos Auskunft gegeben und die Transkripte der Gespräche durchgesehen. Im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Arbeiten sind die Interviewpartner nicht anonymisiert, da der kleine und intensiv vernetzte Forschungsraum eine wirksame Unkenntlichkeit der Auskunftgeber, unter denen einige exponierte gesellschaftliche Positionen bekleiden, nicht zugelassen hätte. Das Analyseverfahren und die Herausarbeitung pointierter Positionen aus den Gesprächstexten haben aus den Gesprächspartnern wissenschaftliche Figuren werden lassen. Trotz steter Bemühung des Autors, die Würde der dahinterstehenden Personen zu wahren, liegt es letztlich in der Verantwortung des Lesers, ihre im Folgenden wiedergegebenen Aussagen nicht mit der weit differenzierteren Haltung zu verwechseln, die sie als lebende Persönlichkeiten verkörpern oder verkörperten. Außerhalb der unmittelbar Beteiligten umgibt ein Kreis von Freunden, Förderern, interessierten Beratern und Diskussionspartnern diese Arbeit und ihren Autor. Helmut Dietrich und Much Untertrifaller haben Arbeitsbedingungen in ihrem Architekturbüro und ein berufliches Umfeld geboten, das in seiner freundlichen Nüchternheit ermöglicht hat, den Architektenberuf gleichzeitig auszuüben und zu reflektieren. Robert Fabach und Heike Schlauch, meine ersten „Vorarlberger“ Freunde, stellten wichtige Kontakte her und nahmen engagierten Anteil am Entstehen der Studie. Zu den vielfältigen Hilfestellungen Theresia Sagmeisters gehörte, den Kontakt zu Kurt Greussing herzustellen, der Verknüpfungen zwischen den zunächst intuitiven Befunden mit Grundbegriffen und Schlüsselwerken der Sozialwissenschaft moderierte. Sein Zettel mit Analysefragen lag jahrelang auf meinem Arbeitstisch. Thomas Gronegger und Josef Perger boten wertvolle Diskussionen in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe, die eine zeitgemäße Fachdidaktik zur Vermittlung einer Formkultur des Handwerks entwickelte. Reflektierte Einblicke in die gegenwärtige gesellschaftliche Rolle des Handwerks gewährten über Jahre Gespräche mit Albert Pfiffner, Gerhard Huber und Edgar Höscheler. Der Augsburger Arbeitsgruppe Architektur und Schule, vor allem der Zusammenarbeit mit Thomas Körner-Wilsdorf, verdanke ich die unschätzbare Erfahrung, im schulischen Rahmen die Möglichkeiten ästhetischen Handelns, handlungsgestützter Pädagogik und entwerferischer Partizipation auszuloten und in Seminaren, Lehrerfortbildungen und Schülerbaustellen zu erproben. Interessierte Foren junger Wissenschaftler, in deren Kreis die Plausibilität der erarbeiteten Befunde diskutiert werden konnte, fand ich in Doktorandenkolloquien des LUI in Inzigkofen und Tübingen, dem Nachwuchsnetzwerk Stadt – Raum – Architektur bei ihren Treffen in Zürich, Berlin und Weimar sowie der AG Architektursoziologie bei ihrer Tagung „Alltagsarchitektur“ in Wien 2011. Walter Bachhuber, Vroni und Christian Hörl, Oliver Lowenstein und Bernhard Breuer diskutierten, appellierten und regten an. Mein Bruder Werner

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leistete wiederholt Feuerwehreinsätze zur Reparatur des unentbehrlichen Computers. Susanne Bruner-Linhart lektorierte die erste Fassung, Clemens Grieshaber verhalf ihr zur Buchform. Josef Majcen korrigierte akribisch den Satz der vorliegenden Verlagsfassung. Die Vorarlberger Landesbibliothek mit ihren zugewandten Mitarbeitern bot über Jahre hinweg das Privileg eines komfortabel ausgestatteten, weltabgeschiedenen Arbeitsplatzes mit Blick über den Bodensee. Ihnen allen und Weiteren, hier ungenannten, fühle ich mich in tiefer Dankbarkeit verbunden. Ein wichtiger Name darf in dieser Versammlung nicht fehlen: Helmut „Bari“ Prechter, verstorben 2004, Döllgast-Schüler, Regierungsbaumeister, Kirchenarchitekt, Hausforscher, Siedlungsgeograph. Er hat mir auf abenteuerlichen Reisen und in Gesprächen einen eurasischen, die drei monotheistischen Religionen vereinigenden Kulturraum rund um das Mittelmeer erschlossen. Den Plural „Baukulturen“ zu denken wäre mir ohne ihn nicht möglich gewesen. In dem mir zugedachten Exemplar seines Buches über schwäbische Bauernhäuser20 lag ein handgeschriebener Zettel, dessen fragende Feststellungen dem baukulturellen Alleinvertretungsanspruch der institutionalisierten Architektur aller Zeiten, die in der neuzeitlichen Überschätzung der Rolle des einsamen Schöpfers gipfelt, einen allgemeineren Begriff von Kultur entgegensetzen. Wiewohl historisch gegründet, verfügen seine Sätze über genügend utopisches Potential, daß ich den Stein der vorliegenden Studie, damit umwickelt, voller Hoffnung nach vorne werfe: „Die wahren Baumeister waren anonym? Die grosse Baukunst lebt von der anonymen Gestaltung?“

1 Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist Berger/Luckmanns Standardwerk von 1966 betitelt. In ihrem Vorwort teilen die Autoren mit, daß der Plan zu ihrem Buch „im Sommer 1962 (...) zu Füßen und (gelegentlich) auch auf Gipfeln der Berge im westlichen Österreich“ gefaßt worden sei und daß sie versucht gewesen seien, dieses „einem gewissen Jodler aus Brand in Vorarlberg zu widmen“. 2 List, S. 41 3 Vgl. Delitz (2009), Delitz/Fischer (2009) 4 Ein Begriff Ottokar Uhls. 5 Vgl. Die Ausbildung zum Architekten, in: Rambow, S. 21 ff 6 Vgl. Oechslin (1995) 7 Bourdieu (1970), S. 162; zitiert in Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 30.

Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: Bourdieu (1970), S. 159 9 Nerdinger (1995) 10 Kapfinger (1999), Anm. S. 4 11 Bourdieu (1970), S. 132 12 Bohnsack/Nentwig-Genemann/Nohl, S. 303 ff 13 Bohnsack (2001), S. 326 14 A.a.O., S. 331 15 Als (lernende) Wissensgemeinde konzipiert bei Etienne Wenger: Communities of Practice – Learning, Meaning and Identity; Cambridge (UK), 1999. 16 Bohnsack (2001), S. 337 17 Rambow, S. 16 18 Bourdieu (1988), S. 39 19 Vgl. Leeb (2008) 20 Götzger/Prechter (1960) 8

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1 Architektur?

1.1 Architektur als Kunst In Lustenau haben wir definitiv zwei Klassen von Bevölkerung. Die einen sagen: „Das ist Mist und gehört abgebrannt.“ So aggressiv läuft das. Und die anderen sagen: „Das ist eigentlich was Tolles.“1

Der hier spricht, Jürgen Sutterlüty, Geschäftsführer der gleichnamigen Vorarlberger Supermarktkette, ist als Bauherr und Besitzer des neuen Einkaufsmarktes2 im Ortskern der Rheintalgemeinde Lustenau von der gespaltenen Reaktion der Bevölkerung auf seinen Neubau existentiell betroffen. Ein solcher Grad von Ablehnung muß aus seiner Sicht als Unfall und als kapitaler Schaden gewertet werden. Er, der erheblichen Einsatz in Form finanzieller Mittel, auch ideell und zeitlich, aufgewendet hat, um ein Gebäude für einen kommerziell definierten Zweck zu erhalten, der Architekt und Behörden beteiligt hat, um den kulturell und rechtlich geforderten Standards zu genügen, ist am Ende dieses Prozesses der überraschenden Situation ausgesetzt, daß erhebliche Teile derjenigen Bevölkerung, die er als Kunden ins Auge gefaßt hat, nicht nur weder Anziehungskraft noch „Wohlfühlatmosphäre“ empfinden, sondern im Gegenteil abgestoßen sind und auf die dingliche Präsenz des Neubaus in ihrem Lebensumfeld offen feindselig reagieren. Vollends absurd muß die Situation für ihn erscheinen, nachdem sich herausstellt, daß der Bau währenddessen in der internationalen Presse herumgereicht wird und seine Gestalt dort euphorischen Beifall findet. Sutterlüty: Hier wurde darüber geschumpfen und in der Zürcher war ein zweiseitiger Bericht darüber und in der Frankfurter Allgemeinen genauso, also das ist halt dann das Thema „Architektur“, wo ich dann nicht mehr mithalten kann, wenn die Spezialisten darüber diskutieren.3

Zu dem wirtschaftlichen Desaster aus der Ablehnung durch das Zielpublikum tritt hier für den Bauherrn das Erlebnis eines Ausschlusses aus dem „Spezialistendiskurs“ über sein Haus noch hinzu, eines Diskurses, dessen Inhalte er nicht begreift und dem er nicht zu folgen vermag. Er stellt fest, daß eine Bedeutungsebene des Bauwerks existiert, die für ihn selbst nicht wahrnehmbar ist, sein Bauwerk also Träger einer Botschaft ist, die von ihm weder intendiert wurde noch von ihm kontrollierbar ist.

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Sondersituation Vorarlberg

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Dieser Bedeutungsebene professionalisierter Architektur und ihrer ebenso bedeutsamen Eigenschaft, aus Sicht „normaler“ Bauherren sowie weit überwiegender Teile des „Publikums“ verborgen zu sein, widmet sich der erste Abschnitt unserer Studie, die sich programmatisch ihrem Gegenstand nicht aus der für die Architekturtheorie üblichen, kunsthistorisch geprägten Warte nähert, für die die Parallelexistenz der Bauten als Werken der Kunst fraglos existiert, ja im Vordergrund steht, während die soziale Welt, ihre Zwecke und Funktionen, sowie diejenige des Baumaterials und seiner Bearbeitung demgegenüber zweitrangig erscheint und höchstens insofern Bedeutung gewinnt, als sie Gelegenheiten, wenn nicht bloße Vorwände für die Materialisierung künstlerischer Ideen liefert. Architektur besitzt kein ontologisches Wesen. Das „Sein“ von Architektur wird ihr erst durch gesellschaftliche Kommunikation zugeschrieben. Definitionen wie diejenige des großen deutschen Kirchenbauers Rudolf Schwarz, „Es ging mir aber eigentlich nicht um den Kirchenbau, sondern um die Architektur selbst, die im Kirchenbau an die ewige Grenze tritt und so erst sie selbst wird“4, sind ebenso Ergebnis wie Bestandteil einer Wirklichkeitskonstruktion im gesellschaftlichen Rahmen. Erst diese Konstruktion erschafft Architektur als Kulturtechnik, weist ihren Vertretern Bedeutung und ihren Werken Wert innerhalb der jeweiligen Gesellschaft zu. Die Positionierung von Architektur in einem Kunstfeld5 grenzt sie zu denjenigen Bauten ab, die nicht als Architektur gelten dürfen. Es ist festzustellen, daß das Architekturland Vorarlberg diesbezüglich eine Ausnahmesituation bietet. Die Abgrenzung zwischen Architektur und Nichtarchitektur und die darauf bezogene soziale Grenze zwischen ihren jeweiligen Schöpfern sind hier zeitweise bis zu einem gewissen Grad aufgelöst worden. Der Abschnitt Baukünstler des Kapitels Vorarlberg widmet sich daher der Frage, inwieweit der Begriff Architektur in seiner üblichen Bedeutung, insbesondere sein unter Experten6 maßgeblicher eingeschlossener Kunstkontext, für die Einordnung des Vorarlberger Phänomens brauchbar ist, besser: welche neuen Bedeutungszuschreibungen er hier erfahren hat, um die gesellschaftliche Praxis des lokalen Bauens erfassen und beeinflussen zu können. JS: Z 349 ff Zschokke (2002); Vgl. auch Kapfinger (1999), Kap. 3 /15 3 JS: Z 288 ff 4 „Rudolf Schwarz als Kirchenbauer“, in: Kurrent (2006), S. 292 ff 5 Vgl. hierzu u.a. die „Kunstfeldstrategien“, die Bauer erörtert. Bauer (1996), S. 113 6 In der Unterscheidung zwischen Experten und Laien beziehe ich mich auf Rambow: „Als ArchitekturExperten gelten dabei alle Personen, die ein Studium der Architektur erfolgreich abgeschlossen haben und über einige Jahre Berufserfahrung verfügen. Laien sind demgegenüber alle Personen, die kein Studium der Architektur absolviert haben.“ Rambow, S. 1 1 2

Rambow stellt mit seiner lapidaren Definition gleichzeitig Architekten als Akademiker dar, eine Eingrenzung, die in der Zusammenschau mit Bourdieus Kulturbegriff gleichzeitig eine schichtenspezifische Zuordnung von Architektur erlaubt, wie in der Einleitung zu vorliegender Arbeit ausgeführt. Max Frisch, selbst im Erstberuf Architekt, hat die Erklärungsbedürftigkeit von Architektur in seinem literarischen Werk mehrfach thematisiert. Vgl. u.a. Frisch (1954) 7 Zu den Aufgaben des Zimmereiverbandes Vorarlberger Holzbau-Kunst gehört u.a. die Auslobung des Vorarlberger Holzbaupreises. Dieser wurde erstmals 1997 vergeben, anschließend bis 1999 jährlich, dann in zweijährigem Rhythmus.

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Der in Vorarlberg seit dem legendär gewordenen Befugnisstreit von 1984 in der regionalen Szene eingebürgerte Begriff Baukunst bzw. Baukünstler anstelle von Architektur und Architekt repräsentiert ein Unabhängigkeitsstreben von der Deutungshoheit der Standesvertretung über den Begriff Architektur und dessen „befugter“ Ausübung zugunsten einer Nähe zum regionalen Holzhandwerk und den Handwerkern. Wie um diese Nähe zu den Baukünstlern auch seinerseits zu bekräftigen, firmiert der Fachverband der Vorarlberger Zimmereien unter dem Titel Holzbau-Kunst7. Zur Sondersituation der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs gehört also eine Erweiterung des zugeordneten Kunstbegriffs in Richtung Handwerkskunst. Nachdem mit Hilfe des kulturellen Bezugssystems Kunst die Repräsentationsfunktionen der sozialen Konstruktion Architektur untersucht worden sind, dient im zweiten Abschnitt dieses Kapitels der Begriff Ordnung der Klärung räumlicher Effekte von Architektur, solcher, die mittels dinglicher Bauteile oder rechtlicher Grenzziehungen gesellschaftliche Beziehungen regeln. Der dritte Abschnitt wird die personellen Repräsentanten von Architektur, die Architekten, und ihre Organisationsform als Berufsstand in den Blick nehmen. Dieser Vorstellung des Forschungsgegenstands im Kapitel Architektur? folgt eine Einführung in den Forschungsraum. Mit dem Kapitel Vorarlberg wird dieser räumlich, historisch, architekturhistorisch und in Bezug auf die ungleichmäßige Verteilung architektonischer Brennpunkte charakterisiert werden. Unter den so geschaffenen Voraussetzungen widmet sich der Hauptteil der vorliegenden Arbeit, bestehend aus den Kapiteln Holz, Haus, Dorf und Handwerk, exemplarischen Erscheinungsformen, Rollen und Kontexten, die die Gesellschaft Vorarlbergs Zeitgenössischer Architektur bietet. Architektur als Kunst wird hier bewußt an einem „trivialen“ Gegenstand betrachtet. Gerade das Triviale der Bauaufgabe Supermarkt rückt sie in den Fokus dieser Forschungsarbeit mit ihrem Blick auf den sozialen Kontext. Eine solche Nähe zur „breiten“ Öffentlichkeit, einer Nähe, die durch alltägliche Nutzung anstelle von bloßer Betrachtung entsteht, vermögen andere, traditionellere und in einem traditionellen Kulturverständnis „hochwertigere“ Gegenstände der Architektur, wie Theater-, Museums- oder Verwaltungsbauten, nicht aufzuweisen, einerseits, weil diese „hochwertigen“ Bauten vor allem von einem schmalen, privilegierten und traditionell kultivierten Segment der Bevölkerung genutzt werden, andererseits, weil sie einer Form der Repräsentation dienen, für die der Kunstkontext einen unverzichtbaren Wert darstellt. Daß die älteste Aufgabe von Architektur, die ihren höchsten Anspruch mit dem Aspekt der allgemeinsten Öffentlichkeit verknüpft, der Sakralbau, heute zweifach marginalisiert ist, einmal durch sein zahlenmäßiges Schwinden in so dramatischem Ausmaß, daß von einem Verschwinden gesprochen werden muß, außerdem durch die zunehmende Auflösung seiner klassischen monofunktionalen Typologie, die quer durch die Konfessionen mit deren Ersatz durch Mehrzweckräume einhergeht8, profanen Raumhüllen, die neben

Supermarkt als triviale Bauaufgabe

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der Feier des Gottesdienstes auch dem Faschingsball dienen können müssen, entzieht der Kulturtechnik Architektur ihren Rückbezug zur ursprünglichen kultischen Zweckgebundenheit und damit zur eigenen Tradition als Sozialtechnik im religiösen Kontext.9 Selbst so bedeutende Kirchenbauten wie diejenigen des oben zitierten Rudolf Schwarz werden inzwischen, wie viele andere, unbedeutendere, infolge der Verödung des kirchlichen Lebens abgebrochen.10 Aus der Sicht eines traditionellen Kulturverständnisses, das Architektur als den hehren Hort hoher Kultur bewahren möchte, mag es zunächst vulgär erscheinen, wenn der französische Soziologe Pierre Bourdieu Supermarkt und Sakralbau in eins setzt, indem er von den Warenhäusern als den „neuen Kathedralen des Volkes“ spricht.11 Eine Betrachtung der aktuellen Aufgaben heutiger Architekten aller Prominenzgrade läßt diesen hehren Anspruch jedoch unter dem dominanten Eindruck der Berufspraxis des Standes als Nostalgie erscheinen.12 Spätestens das Programm der neunten Architekturbiennale in Venedig 2004 hat der Bauaufgabe Supermarkt auch in Fachkreisen die uneingeschränkte Kunstwürdigkeit verliehen, als sich das Architekturland Österreich durch die Bauten der Tiroler Supermarktkette M-Preis an diesem für die Selbstvergewisserung der Kunst weltweit beachteten Ort repräsentieren ließ.13 Diese Dokumentation eines Wandels in der Auftraggeberschaft der Architekten mit der Folge immer trivialerer Bauaufgaben erlaubt die Feststellung einer Verschiebung des Einsatzortes, an dem Architektur ihre Mittel einsetzt. Der Bezugsrahmen dieser Mittel, ihre Gültigkeit und Verständlichkeit innerhalb eines Kunstfeldes, ist von dieser Verschiebung nicht berührt. Bemerkenswert daran ist, daß sie das Kunstfeld mitten in ein Publikum stellt, das es nicht als solches wahrnimmt, ja, das keine Kenntnis von seiner Existenz hat. Das Gespräch mit Jürgen Sutterlüty eröffnet uns zunächst aus der Sicht des Bauherrn einen Blick auf die Folgen, die aus der Verschiebung des Kunstfeldes in solch triviale Funktionszusammenhänge erwachsen, wie sie der Supermarkt bietet, um anschließend auch Hinweise auf einen Wandel im Metier des Architekten zu geben. Um zu verstehen, warum Sutterlüty Architektur im Supermarkt einsetzt und wodurch gerade diese Art und Weise, Architektur einzusetzen, geeignet ist, eine Eigenart der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs zu repräsen8 Den Hinweis auf diese Entwicklung verdanke ich Christian Hörl, Ruderatshofen (Allgäu), der sich durch seine künstlerischen Projekte einen intensiven Einblick in die gegenwärtige kirchliche Baupolitik Süddeutschlands erworben hat. 9 Vgl. die Bezugnahme auf Durkheims gesellschaftlichen Begriff von Religion: Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, Anm. 8-10 und 44. Vgl. außerdem die Ausführungen zu Architektur

und Religion im Abschnitt Architektur im Dorf des selben Kapitels. 10 Besonders signifikant für den hier angesprochenen gesellschaftlichen Wertewandel erscheint der Abbruch von Rudolf Schwarz’ Kirche St. Raphael in Berlin-Spandau 2005 zugunsten eines Supermarkts. Kommentare zu aktuellen Abbrüchen von Kirchenbauten beider christlicher Konfessionen finden sich u.a. bei Pehnt und Herrmanns.

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tieren, ist es zunächst erforderlich, die konkreten Verhältnisse und Rahmenbedingungen dieser exemplarischen Situation kennenzulernen. In knapper Form charakterisieren wir daher zunächst den Supermarkt in seiner Abgrenzung gegen andere Formen von Selbstbedienungsmärkten für den täglichen Bedarf. In seiner Positionierung in der Öffentlichkeit, die durch die Absicht, Kunden zu gewinnen, bestimmt ist, kann verdeutlicht werden, worin der für Vorarlbergs Architekturpraxis typische Weg einer Profilierung gewerblicher Bauherren zu sehen ist. Indem zunächst nationale Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland, anschließend landesspezifische, die benachbarten Bundesländer Tirol und Vorarlberg betreffende Eigenarten betrachtet werden, wird der Versuch erkennbar, in einem spezifischen Verhältnis von Architektur und Kunst ein zentrales Merkmal regionaler Architektur zu erzeugen. Architektur wird für den Supermarkt, zumindest im deutschsprachigen Raum, erst seit kurzem eingesetzt. Einen zeitlichen Anhaltspunkt hierfür geben die ersten Architekturpreise für Supermarktbauten, die die Tiroler Supermarktkette M-Preis, Vorreiter auf diesem Sektor, erstmals 1993 mit der Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen erhalten hat.14 Sutterlüty folgt wenige Jahre später mit dem, Otto Kapfinger zufolge, „phänomenalen“ Kirchpark in Lustenau, einer „Pioniertat“ für diesen Sektor in Vorarlberg.15 Die öffentliche Erregung, die die Architektur dieses Bauwerks ausgelöst hat, haben wir eingangs geschildert. Sutterlüty wird zum Glücksfall für unser Forschungsprojekt, da es sich bei dem Unternehmen um eine regionale, nur in Vorarlberg präsente Kette handelt, die mit M-Preis in Tirol zu den beiden einzigen Familienunternehmen dieser Branche in Österreich gehört. Der Typ Supermarkt ist unter den Einzelhandelsmärkten der anspruchsvollste, indem er das größte Sortiment („Vollsortiment“) anbietet. „12.000 Produkte. (...) Das heißt, unser Sortiment ist ein Sortiment, mit dem sich ein Haushalt voll versorgen kann.“16 Dieser Anspruch des Vollsortiments, den Sutterlüty vertritt, ist beim Supermarkt aufwands- und kostenbestimmend. Die Präsentation dieses Merkmals erzeugt Abgrenzungsbedarf vor allem gegenüber dem Discounter, der durch programmatisch schmales Sortiment, „Aldi hat 660 Produkte und keines mehr“17, sowie geringen Aufwand niedrige Preise erzeugt: „Der Discounter fährt etwa mit einem Viertel der Kosten eines klassischen Supermarktes.“18 Die demonstrative Haltung des Discounters, auf „Außenwirkung (...) keinen Wert“19 zu legen, signalisiert zugleich, 11 Nicht nur die Orgeln, die in einigen Warenhäusern des späten neunzehnten Jahrhunderts eingebaut waren und gespielt wurden, bestätigen diese als Nachfolger der Kathedralen, wie Wilhelm Berger nachweist. 12 „Eine ernstzunehmende Architekturgeschichte des späten 20. Jahrhunderts wird solchen Bauaufgaben [der architektonischen Inszenierung von Konsum-

erlebnissen] deutlich mehr Raum geben müssen als etwa dem Sakralbau...“ Kühn (2006) 13 Elser (2004) 14 „Pöschls (...) Projekt am nördlichen Ortsrand von Lienz erhielt 1993 als erster Supermarkt die Auszeichnung des Landes Tirol für Neues Bauen.“ Köfler (2006) 15 Kapfinger (2003/1) 16 JS: Z 491 ff

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daß das gesamte „Wertgefüge zugunsten des Kunden geht, damit er günstig einkaufen kann“.20 Zwischen Vollsortiment und Discountsortiment gibt es spezifische Wechselwirkungen, die Sutterlüty am Beispiel des Discountangebots von Haarshampoo erläutert: Der Discounter ist ein sogenannter „Category Killer“. (...) In dem Augenblick, wo die Wirkungsdaten des Absatzes zum erstenmal über die Marktforschungsdaten erhältlich sind..., schaut sich der Discount an, in welchem Segment gibts Artikel, die die notwendige Drehung haben, die wir brauchen. Dann werden diese in Eigenmarken billigst produziert und immer nur stärkste Artikel werden beim Discount angeboten, (...) ohne die Kosten der Breite und Tiefe der Sortimente. Und killt sozusagen die Kategorie. „Category Killing“, er killt uns jetzt die Shampookategorie für fettendes Haar beispielsweise ab, indem er den Fokus des Konsumenten nur auf den Preis setzt, daß der Konsument die Unterscheidungskriterien der anderen Leistungen, die wir anbieten, nicht mehr erkennt.21 Profilierung des Supermarkts in Österreich

Sutterlüty zufolge haben deutsche Supermarktketten daraus die Konsequenz gezogen, ihren Aufwand ebenfalls zu reduzieren, um preislich konkurrieren zu können. „Die Bedienungsabteilungen wurden abgebaut, die Frische wurde nicht mehr gehalten, und [der Supermarkt] wurde immer vergleichbarer zum Discount (...) und ist immer noch mehr abgestürzt.“22 Die Folge dieser Entwicklung nennt Sutterlüty „Das große Supermarktsterben“.23 Parallel dazu hätten österreichische Supermarktbetreiber ihr Profil bezüglich Service und Angebot ausgebaut, vor allem jedoch ihre Strategie durch die Gestaltung ihrer Bauten signalhaft unterstützt. „In den Räumen, mit großen Sortimenten, frischen Angeboten, mehr Lebensfreude, Lebensqualität zu vermitteln. Und dem Kunden viel, viel deutlicher den Unterschied zwischen Supermarkt und Discount zu zeigen.“24 Architektur finde in österreichischen Supermärkten inzwischen auch bei international präsenten Ketten als Teil demonstrativer Unternehmenskultur ihren Platz.25

Sutterlüty und M-Preis

Sutterlüty und M-Preis sind als Familienunternehmen die beiden einzigen österreichisch geführten Supermarktketten, dabei ist Sutterlüty mit mittlerweile 21 Filialen nur in Vorarlberg, M-Preis mit gegenwärtig 150 Filialen in Tirol und Südtirol präsent (Stand 2008). Der Architektureinsatz beider Unternehmen unterscheidet sich – bei gleichem Sortiment und Anspruch – eklatant. M-Preis repräsentiert einen Architektureinsatz, der den Kunstkontext 17 JS: Z 489 ff 18 JS: Z 498 ff 19 JS: Z 85 ff 20 JS: Z 87 ff 21 JS: Z 467 ff 22 JS: Z 507 ff 23 JS: Z 502 24 JS: Z 514 ff 25 JS: Z 79 ff 26 Daß das „Beispiel M-Preis“ den ersten „Österreichischen Baukulturreport“ von 2006, Kapitel Architekturpolitik mit einem eigenen Absatz abschließt,

zeigt einmal mehr, daß dieser Architektureinsatz der typischere, von der offiziellen Architekturpolitik bevorzugte, ist. 27 JS: Z 713 f 28 JS: Z 715 ff 29 JS: Z 722 ff 30 JS: Z 720 f 31 JS: Z 735 ff 32 JS: Z 724 ff 33 Der Untertitel der deutschen Ausgabe von Venturis Werk (Wiesbaden 1979) lautet: „Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt “.

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von Architektur gezielt hervorhebt.26 Dessen Voraussetzung liegen nach Sutterlütys Einschätzung („Bin befreundet mit den Eigentümern und kenne alle seine Objekte“27) in den Neigungen der Besitzerfamilie. „Die Familie hat Kunst, Malerei, Architektur im Blut. Das ist geschichtlich schon in dem Unternehmen. Und die setzen sich persönlich intensiv mit Kunst und Architektur und Malerei und Gestaltung auseinander.“28 Indem Sutterlüty unterstellt, „daß es denen sehr wichtig ist, daß sie persönlich sozusagen Erfolg, im Bewußtsein, in der Auseinandersetzung, mit der Architektur dort erzielen“29, erinnert seine Erzählung an das historische Mäzenatentum eines Großbürgertums und dessen Repräsentation vermittels architektonischer Kulturbeiträge. Hier steht offensichtlich aus dem „persönlichen, sehr starken Zugang“30, der die Besitzerfamilie auszeichnet, Architektur als autonom belassene Kunstanstrengung im Vordergrund, die weitgehend getrennt von den Funktionen des Supermarktbauwerks belassen, die architektonischen Mittel primär als Signal nach außen einsetzt: „Mölk läßt vom Architekten ein Hallenkonzept entwickeln und setzt dann seine Linie straff rein. Egal, wie diese Halle ausschaut.“31 Sutterlüty charakterisiert die M-Preis-Märkte damit durch die Trennung von Architektur und Ladenbau, „denn die Architekten werden, (...) was das Innere des Raumes betrifft, (...) an der kurzen Leine genommen“32. Sutterlütys Kenntnis der Funktionsabläufe und Betriebsaspekte läßt ihn Diskrepanzen wahrnehmen, die zwischen dem Anspruch des Bauwerks, als Kunstwerk „autonom“ zu sein, und dessen funktional bestimmtem Innenleben auftreten. Er kennzeichnet damit das Prinzip der Verpackung durch Architektur, welches seit Robert Venturis einflußreichem Werk von 1972 Learning from Las Vegas33 mit dem Schlagwort decorated shed („dekorierter Schuppen“) als architektonisches Prinzip salonfähig geworden ist. Der Philosoph Jürgen Habermas hat den Zwiespalt aus Funktionserfüllung und künstlerischer Autonomie, in dem Architektur als zweckgebundene Kunst steht, einem Zwiespalt, der sich bei den M-Preis-Märkten in der Trennung von Architektur und Ladenbau manifestiert, in Moderne und postmoderne Architektur formuliert: Die moderne Architektur befindet sich in einer paradoxen Ausgangssituation. Auf der einen Seite war Architektur stets zweckgebundene Kunst. Anders als Musik, Malerei und Lyrik, kann sie sich aus praktischen Bewandtniszusammenhängen so schwer lösen wie die literarisch anspruchsvolle Prosa von der Praxis der Umgangssprache – diese Künste bleiben im Netz von Alltagspraxis und Alltagskommunikation hängen: Adolf Loos sah sogar die Architektur mit allem, was Zwecken dient, aus dem Bereich der Kunst ausgeschlossen. Auf der anderen Seite steht die Architektur unter Gesetzen der kulturellen Moderne – sie unterliegt, wie die Kunst überhaupt, dem Zwang zur radikalen Autonomisierung, zur Ausdifferenzierung eines Bereichs genuin ästhetischer Erfahrungen, den eine von den Imperativen des Alltags, von Routinen des Handelns und Konventionen der Wahrnehmung freigesetzte Subjektivität im Umgang mit ihrer eigenen Spontaneität erkunden kann.34

Für den spezifischen Blickwinkel dieser Arbeit sind neben den Paradoxien, die Architektur als zweckgebundene Kunst auf formaler Ebene erzeugt,

Künstlerische Autonomie versus Funktionserfüllung

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vor allem die nicht minder paradoxen Effekte von Interesse, die ihre dem Kunstfeld entspringenden ästhetischen Eigengesetzlichkeiten in einem sozialen Feld schaffen, gegenüber einer Öffentlichkeit, die dafür weder vorgebildet noch sensibilisiert ist. Jürgen Sutterlüty, der solche Effekte in seiner Beschreibung des Architektureinsatzes der M-Preis-Märkte feststellt, trifft damit den Kern einer Kulturkritik, die sich durch die Zusammenschau von Kultur und sozialer Schicht ihrer Erzeuger beziehungsweise Rezipienten auszeichnet und vor allem durch den französischen Soziologen Pierre Bourdieu etabliert worden ist. Sutterlüty gewinnt seinen Kritikansatz innerhalb des sozialen Feldes, indem er die Nutzung und Bauwerkserhaltung der M-Preis-Märkte beurteilt. Der von ihm hervorgehobene Effekt einer für M-Preis charakteristischen Haltung, Architektur „schon sehr, sehr künstlerisch aufs Podest“35 zu setzen, ist für ihn vor allem dort spürbar, wo die Prominenz der beauftragten Architekten am größten ist, „wo ein Perrault, oder spezielle berühmte Architekten Projekte entwickelt haben, die schon weit über dem Intellekt eines klassischen Handelsangestellten stehen. Und man spürt das dort, wo der Mitarbeiter mit der Architektur nicht mehr umgehen kann.“36 Das Fallbeispiel, an dem er seine Analyse entwickelt, ist der M-Preis-Markt in Telfs: Eine gigantische Halle. Glas, in der Mitte des Glases befinden sich solche MetallLamellen. Das ist ein Objekt mit zwei Ebenen, also in sich verschobene Schiffe. Außen roter Asphalt, seitlich, in einer Betonwanne, ein Brunnen. Und wenn man nüchtern anschaut, wie das Objekt drei Jahre später ausschaut: Einen halben Lkw Müll hätten sie aus dem Wasser nehmen können, diese Metallelement-Scheiben, die wurden sicher nie geputzt, es war nur dreckig und verschmiert. (...) Also, ich habe dort einen richtigen Widerspruch in mir verspürt. Nämlich, ein wirklich künstlerisches Objekt, das auf einem Podest steht. Aber um das Podest herum findet das normale Leben, die Wirklichkeit, statt. Und die kann man nicht mit dem Kostenaufwand betreuen, wie das ist, wenns ein öffentlicher Park oder ein staatliches Objekt ist.37

Zwei Hauptgedanken tragen Sutterlütys Analyse. Der erste betrifft die Definition von Architektur als gedanklich-reflexiv wahrnehmbarem System aus Merkmalen und deren Bezügen. Diese Begriffsbestimmung gewinnt er aus der Gegenüberstellung von international agierendem Stararchitekten und lokal zuständigem „Handelsangestellten“, dessen Wahrnehmungsorgan, sein „Intellekt“, zur Erfassung des architektonischen Anspruchs nicht ausreiche. Damit spricht Sutterlüty Architektur als Attribut mit sozial spaltender Wirkungsweise an. 34 Habermas (1981), S. 13 Rambow verdeutlicht, daß diese von Habermas beschriebene „paradoxe Ausgangssituation“ moderner Architektur gleichzeitig ein grundlegendes Kennzeichen für die Betrachtung von Architektur schafft, „die Aufspaltung in einen autonomen und einen heteronomen Diskurs. (...) Auf der einen Seite müssen Architekten bauen, wenn sie wirtschaftlich überleben wollen. Um bauen zu können, sind sie auf Aufträge von Personen oder Institutionen angewiesen, die hauptsäch-

lich architekturfremde (wirtschaftliche, politische, funktionale) Ziele verfolgen. Insofern ist Architektur immer fremdbestimmt, d.h. heteronom. Auf der anderen Seite machen aber Architekten einen fundamentalen Unterschied zwischen Architektur und bloßem Bauen. Die Charakterisierung eines Gebäudes als Architektur verlangt die Attribution eines künstlerischen Mehrwerts, der über bloße Effizienz und Funktionstüchtigkeit hinausgeht. Die Verständigung über diesen Mehrwert vollzieht sich nach

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Pierre Bourdieus Kulturanalyse, die er in einem Zitat aus Ortega y Gassets Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst zusammenfaßt, verallgemeinert die Wirkungsweise, die Jürgen Sutterlütys Fallbeispiel zeigt, und interpretiert sie als bewußt eingesetzte Strategie Moderner Kunst: Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit... Anderthalb Jahrhunderte lang hat das Volk behauptet, es sei die ganze Gesellschaft. Strawinskys Musik und Pirandellos Drama kommt eine soziologische Wirkungskraft zu, die es zwingt, sich als das zu erkennen, was es ist, als „nichts als das Volk“, als einen Baustein neben vielen im sozialen Verband, als träges Substrat des historischen Prozesses, als eine Nebensache im Kosmos des Geistes. Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen und ihre Mission begreifen: wenig sein und gegen viele kämpfen.38

Jürgen Sutterlütys Analyse der M-Preis-Märkte des Familienunternehmens Mölk am Beispiel ihres Supermarktes in Telfs mündete in die Feststellung eines Widerspruchs zwischen dem intellektuellen Anspruch, den das Bauwerk als Architektur erhebt, und dem Wahrnehmungspotential des für Betriebsablauf und Erhalt der materiellen Substanz verantwortlichen Personals. Parallel zum Auseinanderfallen des Bauwerks in Architektur und materielle Substanz wurden den beiden Erscheinungsformen gesellschaftliche Schichten als Angesprochene beziehungsweise Zuständige zugeordnet. Die gesellschaftliche Wirkungsweise dieser Erscheinungsform Zeitgenössischer Architektur, die als typisch gelten darf, kann damit als demonstrativer Ausschluß solcher Gesellschaftsschichten beschrieben werden, die über entsprechende Bildungsvoraussetzungen nicht verfügen. Der zweite Grundgedanke aus Sutterlütys Analyse ergibt sich aus der augenscheinlich unbewältigten und von der Struktur eines regionalen Supermarktunternehmens auch nicht bewältigbaren Bauwerkserhaltung der Architekturikone, der gigantischen Größe der mehrschiffigen Anlage, dem besonderen Glas, ungewöhnlichen Oberflächen und beigeordneten Attraktionen, die einen spezifischen Erhaltungsaufwand erzeugen, den aus Sutterlütys unternehmerischer Sicht höchstens die öffentliche Hand zu leisten imstande wäre. Seine aus der Alltagspraxis gewonnene Feststellung wertet den Einsatz einer im Kunstkontext verharrenden Architektur für kommerziell definierte Aufgabenfelder demnach als Fehlschlag und verweist indirekt eine solche Architektur zurück in ihre traditionellen Felder, denjenigen einer im weitesten Sinn staatlichen Repräsentation. Larson (1993) innerhalb eines autonomen Diskurses, d.h. hier sind Nichtarchitekten weitgehend ausgeschlossen. Larson zeigt, daß diese Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie keinen ernsthaften Architeken unberührt lassen kann. So sind z.B. die Kriterien für Reputation innerhalb der Berufsgruppe und für wirtschaftlichen Erfolg weitgehend voneinander abgekoppelt.“ Rambow, S. 19 35 JS: Z 894 ff 36 JS: Z 898 ff

37 JS: Z 904 ff 38 Ortega y Gasset: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst; Ges. Werke Bd. 2, Stuttgart 1978, S. 230 ff; zit. in: Bourdieu (1979), S. 61 f 39 JS: Z 123 ff 40 JS: Z 921 ff 41 JS: Z 319 ff 42 JS: Z 328 ff 43 JS: Z 286 ff 44 JS: Z 360 ff

Architekturikone unter Alltagsbedingungen

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Für sein eigenes Unternehmen und dessen Architektureinsatz zieht Sutterlüty aus seiner Analyse Konsequenzen in mehrfacher Hinsicht. Zuvörderst „in der Wahl des Architekten, der auch ein heimischer Architekt ist“.39 Daß er damit, trotz Umkehrung des von M-Preis praktizierten Prinzips, gezielt ausländische Architektenprominenz zu beauftragen, dennoch eine international renommierte Liga wählt, liegt im hohen Grad an internationaler Wahrnehmung begründet, den die Vorarlberger Architektenszene auf sich zieht. Für die Bauwerkserhaltung schafft er Voraussetzungen, die zu seiner Unternehmensstruktur passen. „Wir haben in allen Filialen unseren Mann, der den Garten pflegt, und das wird zu gewissen Zeiten nach Schema F gemacht. Wir haben unseren Haustechniker, und der ist nicht programmiert, daß ein Sonderobjekt alle zwei Wochen Betreuung braucht.“40 Vor allem aber beschreitet er einen Weg, der exemplarisch den eigenständigen Charakter der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs repräsentiert, indem er Architektur auf Kosten ihrer Kunstreferenzen zu einem zweckgerichteten Instrument umformt. Architektur als Repräsentation des öffentlichen Raumes

Rufen wir uns die am Kapitelanfang geschilderten Reaktionen der Lustenauer Bevölkerung auf das Bauwerk des neuerrichteten und jetzt zentrumsbestimmenden Kirchpark in Erinnerung, so stellen wir zunächst fest, daß auch innerhalb Vorarlbergs gegenüber Zeitgenössischer Architektur ähnliche soziale Reaktionen auftreten wie beim M-Preis-Markt im Tiroler Ort Telfs. Sutterlüty erklärt diesen Effekt für Lustenau mit der Beschaffenheit des Projekts, vor allem seiner Lage im Ortskern, die neben der Situierung kommerzieller Funktionen gleichzeitig die von politischer Seite definierte Aufgabe einer Zentrumsbildung zu erfüllen hatte. Die Folge dieser Doppelfunktion des Bauwerks war für Sutterlüty, daß er als Bauherr nicht unabhängig, sondern zur Kooperation mit den „Architekturverantwortlichen der Gemeinde“ gezwungen war, die „sich ausbedungen haben, in der Architektur entscheidend mitsprechen zu dürfen“, insbesondere auch, „weil denen Teilgründe des Zentrums gehört haben“41. Die Gemeinde forderte einen Wettbewerb mit internationaler Beteiligung, aus dem das Schweizer Büro Marques + Zurkirchen als Sieger hervorging. Ich muß einfach eingestehen, es war von den vorgelegten Projekten, und wir hatten, glaube ich, zwölf, von nationalen und internationalen Architekten, wars sicherlich das beste. Obwohl ich das anfänglich nicht gleich gesehen habe. Also diese ganz einfache Rasterform und die Konzeption mit diesem Vordach, die ja den Grund hatte, den Raum zu schließen, der Platz, der da seitlich der Kirche entglitten wäre, das haben die eigentlich toll geschafft. Und diese Marktatmosphäre, die da unten auch stattfindet.42

Sutterlüty würdigt die positiven Aspekte für das Ortsgefüge und erkennt die ordnende Funktion und die räumliche Qualität des Bauwerks ausdrücklich an. Für seinen Supermarkt ist die „Marktatmosphäre“ unter dem weit ausladenden Vordach ein spezifischer Zugewinn an Attraktivität. Er reduziert seine Kritik am Entwurf der Architekten auf das Merkmal der Fassadenoberfläche: „Nur haben sie einen sehr aggressiven Weg gewählt, mit dieser trans-

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parenten Doppelstegplattenfassade. (...) Man hätte dort vielleicht eine zugänglichere Materialienwahl finden können.“43 Grundlage seiner Bewertung ist weder seine „private Meinung“ noch der Spezialistendiskurs der internationalen Presse, sondern die Rückmeldung seitens der Kunden im Supermarkt. Auch wenn er Umsatzeinbußen nicht statistisch nachweisen kann, ist für ihn der Unterschied in der Kundenakzeptanz zwischen Lustenau und seiner anschließend gebauten Filiale im Ortszentrum von Weiler ausschlaggebend: Wenn man das in Weiler hört, da haben wir nur Sympathie. Ich habe noch nie gehört, daß das Objekt nicht entsprechen sollte oder daß das ein Schandfleck sei oder daß das der Bevölkerung auch nicht gefällt. Diese Architektursprache hat allgemein eine große Zustimmung gefunden.44

Sutterlüty gewichtet hier eindeutig: Ein positives Echo der Fachpresse wiegt die Nachteile nicht auf, die ein Widerstand aus der Bevölkerung für ihn als Supermarktbetreiber und Vermieter von Ladenlokalen in dem betreffenden Gebäude bringt. Daraus leitet er das Rezept für seine weitere Architekturpolitik ab: Architekturformen, die den Kunden ästhetisch verunsichern, sind zu vermeiden. Ich glaube, man muß aufpassen, wenn man sich mit dem Supermarkt auseinandersetzt, daß man hier nicht eine Form, ich weiß nicht, ob „aggressiv“ das richtige Wort ist, aber eine Architektursprache wählt, die den Betrachter vor die schwierige Entscheidung, vor diese, wie soll ich sagen, Gratwanderung stellt, ist es jetzt schön oder ist es nicht schön.45

Wiederum identifiziert Sutterlüty damit ein charakteristisches Merkmal Zeitgenössischer Architektur, das gleichermaßen für Zeitgenössische Kunst zutrifft und das wegen seiner besonderen Relevanz im sozialen Kontext in der Kulturkritik Bourdieus, seiner Gegenüberstellung von „Populärer Ästhetik“ und „Ästhetischer Distanzierung“, die jede „legitime Kultur“46 kennzeichne, zentral steht. Gerade das Lustenauer Bauwerk, das mit seiner Fassade aus transparenten Kunststoff-Doppelstegplatten ein ursprünglich aus „banalem“47 Kontext stammendes Material durch seine neuartige Verwendung ästhetisch verfremdet und mittels Einbeziehung in einen architektonischen Kontext nobilitiert, offenbart seinen Reiz vor allem demjenigen Betrachter, der den Kontext der Vorbilder kennt und den konkreten Einzelfall als deren Variation oder ästhetische Weiterentwicklung erkennt. Diese ästhetische Strategie der Herauslösung des konkreten Werks aus seinen Alltagsbezügen (im Fall von Architektur auch aus denen des konkreten Ortes) und seine Neupositionierung in einem Bezugsfeld, das nur „Spezialisten“ vertraut ist, hat Bourdieu als eine Strategie jeder „legitimen Kultur“ identifiziert, die in Konfrontation mit einem „ungebildeten“ Publikum insbesondere dessen genaue Wahrnehmung des eigenen Ausschlusses zeigt:

45 JS: Z 297 ff 46 Bourdieu (1979), S. 64 ff 47 Zum Begriff des Banalen in der Architektur vgl.

die Studie „Minima Aesthetica – Banalität als strategische Subversion der Architektur“, die u.a. auch auf Vorarlberg Bezug nimmt. Bauer (1996)

Das Kunstfeld nobilitiert „banale“ Materialität

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[Als] Symptom für das, was sie [die Einzelnen dieses Publikums] gelegentlich als Absicht empfinden, den Nicht-Eingeweihten auf Distanz zu halten, oder (...) als Wille, mit anderen Eingeweihten „über die Köpfe des Publikums hinweg“ zu sprechen.48

Architektur und Unternehmenskultur

In der Einleitung zu vorliegender Arbeit haben wir in ebenjenem Bezugsfeld, auf das die „Schönheit“ von Architektur deutet, ein Unterscheidungsmerkmal von Architektur und „Nichtarchitektur“ identifiziert. Dieses Bezugsfeld und die soziologische Analyse seiner Konstitution und Wirkmacht geben uns Kriterien an die Hand, die eine Gegenüberstellung von architektonischer mit jener handwerklichen Baukultur erlauben, die im Forschungsfeld diejenige Tradition darstellt, gegen welche die Vertreter Zeitgenössischer Architektur seit Ende des Zweiten Weltkriegs ihren normativen Anspruch durchsetzen. Anstatt eine Polarisierung der Bevölkerung in Befürworter und Ablehner zu schaffen, sucht Sutterlüty im Anschluß an sein Objekt in Lustenau, mit seinen Bauten uneingeschränkte Zustimmung zu erhalten, indem er die Architektursprache so wählt, daß sie „allgemein zugänglicher“ ist, „weil wir es uns als Anbieter natürlich nicht leisten können, daß wir unsere Kunden vor den Kopf stoßen“49. „Kunden nicht vor den Kopf zu stoßen“ bedeutet, den ihnen unterstellten Vorstellungen zumindest nicht zu widersprechen. Sutterlüty, Akteur in der gesellschaftlichen Architekturpraxis Vorarlbergs, artikuliert in der Architektursprache seiner Bauten neue Plausibilitäten, die die Materialsprache des Baumaterials Holz als Brückenschlag zur Repräsentation „heimischer Kultur“ nutzen.50 Daneben löst Sutterlüty Architektur aus ihrer Fixierung auf die Gebäudehülle, um sie intensiver mit dem Funktionsgefüge des Supermarkts zu verschmelzen. Auslöser für diesen Schritt sind die Standortbedingungen des Bauplatzes für eine neue Filiale im Ortskern von Weiler. Wir haben dem Architekten vorgegeben, ein Markt schaut nur so aus. Das haben wir auch mit K. so gemacht. Und er hat uns am Standort Weiler gesagt, „wenn Du das machst, dann hol Dir jemand, der keine Architektur will, weil das Objekt, der Standort, ist kaputt. Denn, wenn ich die Lagersituation, die Rampen und diese Dinge in den sichtbaren Bereich an der Straße holen muß, dann habe ich im Endeffekt eine unruhige Situation, kann die architektonische Linie nicht durchziehen“, deshalb hat K. gesagt, „jetzt bitte laß uns doch mal in den Inhalt des Marktes gehen, wir wollen da mitentwikkeln“. Das war dann auch die Idee, daß wir gesagt haben, o.k., da brauchen wir ein halbes Jahr dazu, und wir haben den Weg gefunden mit ihm, daß wir heute den Markt sowohl so, als auch so errichten können.51

Die lange Entwicklungszeit, die für den neuen Supermarkt in Weiler aufgewendet wird, ergibt schließlich einen neuartigen inneren Funktionsablauf, der insbesondere erlaubt, eine weltweit gültige Regel zu durchbrechen: „Man geht (normalerweise) gegen den Uhrzeigersinn. Auf der ganzen Welt. Nur bei uns nicht. Wir haben das umgedreht. Kundinnen haben das sofort festgestellt: ‚Hier stimmt was nicht.‘ Aber wir haben das trotzdem gewagt, weil wir den Raum neu aufteilen wollten.“52 Eine übliche Aufteilung hätte an diesem Standort dazu geführt, den hermetischen Block der Lager- und Kühlräume und den Rampenbereich der Anlieferung entlang der Dorfstraße anordnen zu müssen, wogegen sich der Architekt gewehrt hatte und mit seiner Weigerung,

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eine schematische innere Struktur lediglich attraktiv zu verpacken, erzwang, erstmals auch an der Domäne der Ladenbauer beteiligt zu werden. In diesem Vorgang geschieht eine entscheidende Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs von Architekten gegenüber ihrer ansonsten üblichen Beschränkung auf die Verpackung anderweitig definierter Inhalte, wie sie die Tiroler M-Preis-Kette repräsentiert und die für einen wachsenden Sektor von Unternehmen charakteristisch ist, die Architektur als Corporate Identity einsetzen.53 Um nochmals mit Bourdieu zu sprechen, bedeutet diese Erweiterung in Bezug auf den Kontext von Kunst als Referenzraum für Architektur, daß mit dem Schritt in die innere Struktur, wie ihn Sutterlüty vollzogen hat, die „Ablehnung jeder Art von ,Involviertsein‘,(...) die zumindest indirekt dem Geschmack für Formexperimente (...) zugrundeliegt“54, aufzugeben ist. Sutterlüty erlebt diesen Schritt der Verschmelzung von Inhalt und Form als Wagnis:

Zweckform und Bedeutungsform

Ich bin sehr froh, daß wir es geschafft haben mit dem K., denn ich hab am Anfang auch nicht geglaubt... Das hat aber erst damit begonnen, als wir das Innenleben dem Architekten transparent gemacht haben. Daß er verstanden hat,wie unsere Wege gehen. Er hat sich die Logistik angeschaut, wie wird ein Lkw ausgeladen, wie viele Leute arbeiten dort, warum, was haben die für Funktionen. Und plötzlich ist er gekommen und hat gesagt, „ich hab Euch einen kürzeren Arbeitsweg“. Und passend in die Architektur und in die Abwicklung. Also, plötzlich hat er für uns gedacht. (...) Der Architekt kann viel rationaler denken, wie wir, in gewissen Ebenen. Und hat uns dann auch echte Vorteile gebracht.55

Sutterlüty setzt seine Erkenntnis, daß Architekten eine systematische Intelligenz besitzen, die sich außer für Formexperimente und Bauprinzipien auch zur Entwicklung von Funktionsabläufen, speziell für das Inbeziehungsetzen von Räumen mit Funktionsabläufen, eignet, in eine Planungspraxis um, die Spezialisten seines Unternehmens und Mitarbeiter des beauftragten Architekturbüros, „die inzwischen gelernt haben, wie ein Supermarkt funktioniert“56, verwebt. Dies zieht eine Rückwirkung auf die Architektursprache fast zwangsläufig nach sich. In seiner neuen Rolle hat der Architekt seine künstlerhafte Unabhängigkeit weitgehend aufgegeben, um Dienstleister seines Kunden zu sein.57 Das Ergebnis, in dem es nicht mehr um Neuerfindung, sondern um Anpassung eines etablierten Typs an die Besonderheiten der jeweiligen Lage geht, erlaubt dem Bauherrn umfängliche Kontrolle. Sutterlütys Feststellung „das Projekt Weiler ist ja nicht nur eine Architek58 tur“ und seine Bestimmung dessen, was hier Architektur übersteigt, „das Verständnis des Inhalts“59, erlaubt, seinen Begriff von Architektur zusammenfassend herauszupräparieren: Architektur ist ursprünglich losgelöst vom Inhalt vorhanden, folgt anderen Gesetzen als denen des Inhalts und existiert 48 49 50 51 52 53

Bourdieu (1979), S. 66 JS: Z 305 ff Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz JS: Z 618 ff JS: Z 592 ff Christian Kühn beschreibt diesen „Trend, (...) in

vielen Branchen die Nachfrage nach Architektur“ zu heben, „wobei die Ansprüche an Repräsentation und Effekt freilich um einiges schneller wachsen als die Budgets und die Freiheiten.“ Kühn (2006) 54 Bourdieu (1979), S. 69 55 JS: Z 920 ff

Architekt als Dienstleister

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auch unabhängig von diesem. Hier wird die Metamorphose sichtbar, die Architektur in ihrer Verschmelzung mit der Bauwerksfunktion vollzieht und ihre neue Qualität, nicht nur schön, „denn der schönste Supermarkt nützt mir nichts, wenn der Raum es nicht zuläßt, daß wir unsere Effizienz, die gefordert ist, (...) auch erreichen können, nämlich Personalkosten, Logistikstrukturen etc.“60, sondern auch gut im Sinn des Betriebsablaufs zu sein. Erst ein den regulären Architekturentwurf übersteigender Prozeß der Zusammenarbeit ergibt das, was der entwickelte Gebäudetyp jetzt repräsentiert, nämlich ein variierbarer Typ zu sein, der in unterschiedlichen Kontextsituationen immer gleich effektiv funktioniert. Der Gebäudetyp der Sutterlüty-Märkte ist in seiner Zusammenführung architektonischer und ablaufspezifischer Anforderungen nun eher eine „Maschine mit Karosserie“ und eben nicht mehr eine Hallenplastik als „Markensignal“. Das unterscheidet ihn von den M-Preis-Märkten und überhaupt von jeder Architektur, bei der der semantische Aspekt die Funktionserfüllung dominiert. Bauherr als Baukostenverwalter

Die Steuerung der Baukosten hat Sutterlüty selbst in die Hand genommen.61 In der Trennung von Architektur und Baukosten liegt für ihn der Schlüssel zur Widerlegung eines populären Vorurteils, das unser Gespräch thematisch eingeleitet hatte, „ein Architekt baut teuer und ein Nichtarchitekt baut günstig“62. Mittlerweile gilt für ihn eine vollständige Umkehrung dieser Voraussetzungen: „Wir bauen heute architektonisch hochwertige Supermärkte deutlich günstiger, wie wir früher schlechte Projekte gebaut haben.“63 Was die 56 JS: Z 560 f 57 Rambow weist darauf hin, daß die Frage, inwieweit Architektur Dienstleistung sein kann, für die Definition von Architektur – und damit für das Selbstverständnis der Architekten – von zentraler Bedeutung ist. Die Praxis der Vorarlberger Architektenszene weicht hier vom Mainstream Zeitgenössischer Architektur ab und zeigt weit geringere Berührungsängste mit solcher Kundennähe, als in Architektenkreisen außerhalb Vorarlbergs vorstellbar erscheint. Rambow zufolge könnte also gefragt werden, inwieweit die Vorarlberger Architekten damit bereits den traditionellen Architekturbegriff auflösen: „Bedeutsam dabei ist, daß diese Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie einem Verständnis von Architektur als Dienstleistung, wie es heute oft gefordert wird, grundsätzliche Grenzen setzt. Dienstleistungen im engeren Sinn sind vollständig heteronom, d.h. über ihren Nutzen und ihre Qualität entscheidet in letzter Konsequenz allein der Empfänger, also der Kunde. Die Zufriedenheit seines Kunden, die sich in wirtschaftlichem Erfolg niederschlägt, ist das einzige Kriterium, an dem sich der echte Dienstleister orientiert. Die Architektur im traditionellen Sinn würde schlechterdings aufhören zu existieren, wenn sie sich als reine Dienstleistung begriffe.“ (Rambow, S. 20)

Eine 2008 veröffentlichte Studie zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Berufsfeld[s] Architektur, so der Titel, erlaubt, den hier festgestellten Wandel des Selbstverständnisses der Architekten in Bezug auf den vormals verpönten Dienstleistungsaspekt ihres Berufs auf dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Neubewertung von Architektur als „zeittypisch“ zu interpretieren: „[Im Zuge der etwa seit 2000 in Österreich zunehmend als Wirtschaftsfaktor wahrgenommenen und geförderten ,Kreativwirtschaft‘] wurde nun auch die Kultur- und Kunstproduktion letztendlich der umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche unterworfen. (...) Diese (nun scheinbar vollzogene) Verschiebung der gesellschaftlichen Bewertung von Kultur markiert wohl den schärfsten Bruch, den die zeitgenössische Architektur–Kultur zu ihrenVorläufern einnimmt: Die Kulturleistung ,Architektur als Kunstform‘ wird zur Kulturleistung ,Architektur als Wirtschaftsfaktor‘. (...) Fazit, aus Künstlern werden Geschäftsleute der sogenannten Kreativindustrie gemacht, das Selbst- und Außenbild ändert sich radikal.“ Schürer/Gollner, S. 34 f Woltron (2007) bestätigt Schürers/Gollners Befund. 58 JS: Z 235 59 JS: Z 242 60 JS: Z 243 ff

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konkrete Kostenstruktur betrifft, verbucht Sutterlüty den kaufmännischen Zugriff auf die Arbeit seines Architekten als Weiterentwicklung: „Wir haben von Weiler bis Rohrbach, das ist der letzte jetzt, den wir vor zwei Wochen eröffnet haben, die Kosten um über zwanzig Prozent gesenkt.“64 Die Auseinandersetzung mit Architektur ist nach der Investition von Geld, Zeit und Engagement in die Entwicklung eines Prototyps nun in eine Phase getreten, in der dessen Bestandteile, inzwischen vertraut geworden, nach und nach optimiert werden. Im Vergleich der später gebauten Sutterlüty-Märkte mit dem Prototyp in Weiler fällt etwa auf, daß die raumprägende Deckenuntersicht, ursprünglich eine Massivholz-Dreischichtplatte, nun durch eine billigere OSB-Platte ersetzt oder die Anordnung der Brettstöße an der Außenfassade von einer individuellen Komposition zu einer regelmäßigen Ordnung vereinfacht worden sind. Die Architektur ist also aus der Kontrolle des Architekten in diejenige des Kaufmanns übergegangen, der seine Aufgabe darin sieht, das Nötige vom Unnötigen zu scheiden beziehungsweise das Minimum des Nötigen zu ermitteln. Was beim Prototyp noch ein festes Budget gewesen sein mag, das nach der Kostenschätzung dem Architekten zur Verwaltung überantwortet wurde, ist jetzt in allen Einzelposten auf dem Prüfstand. Die Beziehung der Bestandteile, die in der ursprünglichen, vom Architekten bestimmten Gesamtkomposition noch gegeneinander ausbalanciert werden konnte – hier sparen, dort aufwerten – wird in der „Optimierungsphase“ aufgelöst, um die Einzelelemente voneinander isoliert auf ihre Kosten-NutzenRelevanz untersuchen, die Aufwertungsnischen aufspüren und diese nun ebenfalls durch billigere Lösungen ersetzen zu können. Solange Architektur „Kunst“ ist, besitzt der daraus entstehende Nimbus offensichtlich auch die Funktion eines Schutzes vor genau dem Zu- und Übergriff, der bei Sutterlüty stattgefunden hat. Eine ähnlich systematische Eliminierung ihrer Freiheitsgrade kennzeichnet den Architektureinsatz gewerblicher Bauträger, Thema des letzten Abschnitts im Kapitel Haus. In der Beziehung, die zwischen Architektur und der Schichtung der Gesellschaft besteht und in deren spezifischer Beschaffenheit wir bereits ein Kennzeichen der Vorarlberger Architektur identifiziert haben, gibt es außer der Haltung, die der Bauherr gegenüber der Öffentlichkeit als „Publikum“ einnimmt, einen weiteren Aspekt, den Jürgen Sutterlüty anspricht: Gerade in den letzten paar Jahren habe ich festgestellt, daß ganz einfache Leute aus dem Mittelstand sich in Architektur auskennen und sich damit auseinandersetzen, daß das für sie ein Thema ist.65

Architektur zu beauftragen ist nach seiner Einschätzung anderen sozialen Schichten als „einfachen Leuten“ vorbehalten, Bessergestellten, Angehörigen höherer sozialer Schichten. Dieses soziale Modell besitzt im Forschungsraum historische Tradition. Es sind die Fabrikdirektoren66 der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die mit der Textilindustrie das Land nicht nur öko-

Kunstkontext schützt vor Übergriffen

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Normalfall Architektur

Handwerk als semantische Referenz

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nomisch und sozial umprägten, sondern auch die architektonische Tradition begründeten, welche Vorarlberg an die kulturelle Moderne anschließt. Daneben existiert eine handwerkliche Baukultur fort, die die Artefakte des bäuerlichen Lebens umfaßt. Sutterlütys nähere Bezeichnung der von ihm angesprochenen Beziehung zur Architektur „daß das für sie ein Thema ist“ deutet an, daß es bei der angesprochenen Auseinandersetzung um den eigenen Hausbau geht, er also einen Wandel im Sektor der Einfamilienhäuser feststellt, in dem immer mehr auch mittelständische Bauherren Architekten mit Planungen beauftragen, wodurch aus einer Ausnahmesituation ein Normalfall Architektur geworden sei. In der Zusammenschau mit seiner Eingangsfeststellung „Also, grundsätzlich behaupte ich, daß ich ganz einen schwachen Zugang zur Kunst generell habe. Ich bilde mir meine Meinung und habe meinen Geschmack.“67, in der er selbst „Kunst“ als Überkategorie von Architektur eingeführt hatte, um sich persönlich sofort wieder davon auszunehmen, heißt dies, daß mit dem festgestellten Wandel der sozialen Herkunft des Bauherrn auch die Architektur eine andere wird: wo sie beim Fabrikbesitzer noch den Bildungshorizont eines Großbürgertums repräsentieren durfte, der „Kunst“ jedenfalls mitumfaßte, fallen diese Bildungsinhalte für die neue Bauherrenschicht der „einfachen Leute“ weg. Auch der „einfache“ Bauherr will sein Haus „verstehen“ und sich von seinem Haus repräsentieren lassen. Architektur hat sich in solchen Fällen dem Wahrnehmungshorizont der neuen Bauherrenschicht anzupassen und auf alle ausschließenden Kunstreferenzen zu verzichten. Andere Referenzen treten an deren Stelle, im trivialsten Fall Vorbilder aus Fernsehserien, die das amerikanische „Südstaatenhaus“ mit seinem weißlackierten Holzwerk zitieren, oder der Luxusauto-Look „futuristischer“ Häuser. Sofern die Architektur der „Holzkisten“, der häufigsten Erscheinungsform Vorarlberger Architektur, als Aufruf von „Handwerk“ als referenzieller Kategorie mit möglichst breiter Zugänglichkeit betrachtet wird, die Zeitgenössische Architektur Vorarlbergs der regionalen Öffentlichkeit und ihren Bauherren also vom Handwerk her erschlossen wird, ergibt sich daraus eine Wirkungsweise, die umgekehrt funktioniert wie Bourdieus sozialwissenschaftliche Bestimmung von Hochkultur als speziell „untere“ soziale Schichten ausschlie61 JS: Z 213 ff 62 JS: Z 190 f 63 JS: Z 216 ff 64 JS: Z 531 ff 65 JS: Z 173 ff 66 „Der Architekt war [bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts] überwiegend individuellen Personen aus Aristokratie und gehobenem Bürgertum verpflichtet und konnte deren Ansprüche in einer exklusiven und dauerhaften Beziehung realisieren.“ Rambow, S. 38 67 JS: Z 142 ff

68 Daß gerade das Bewußtmachen einer Entfremdung von der Handarbeit und ihre Kompensation durch die „Authentizität“ der handwerklich hochwertig umgesetzten Holzhäuser zum Erfolgsrezept der Vorarlberger Architekten speziell gegenüber Bauherren mit akademischer Bildung gehört, widerspricht nicht der formulierten These von der Sonderstellung Zeitgenössischer Vorarlberger Architektur in bezug auf ihren Kunstkontext. Die festgestellte Umformung ländlicher Räume zu einer Wohnumgebung, deren Bildhaftigkeit speziell Akademiker anzieht, gehört zu diesem Thema. Vgl. Architektur im Dorf, Kapitel Dorf

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ßendem System. Diesmal sind es gerade die Akademiker, die typischerweise der Handarbeit fernstehenden, „besseren“ Leute, die in der spezifischen Wahrnehmung relevanter Qualitäten (zunächst) benachteiligt scheinen.68 So bildet sich aus der Betrachtung von Architektur als Kunst und ihrer Anwendung auf exemplarische Fälle des Forschungsfeldes eine Arbeitshypothese dieser Studie heraus: In der Spannung, die zwischen Architektur, ihrer akademischen Basis und der breiten Zugänglichkeit liegt, die ihr in Vorarlberg zugesprochen wird, ist etwas Untypisches und Bemerkenswertes zu vermuten. Architektur, wiewohl Sparte der Hochkultur, tritt hier ohne ihren sonst charakteristischen Hang zur sozialen Segmentierung eines öffentlichen Publikums auf. Umso intensiver, lautet die Folgerung aus dieser Annahme, dürfte ihre Eignung als Medium sozialer Praxis ausgeprägt sein, als das sie im Mittelpunkt dieser Studie steht.

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1.2 Architektur als Ordnung

Laien nehmen Architektur vor allem als Fassade wahr, Grundrisse sind Experten vorbehalten

Der erste Abschnitt dieses Kapitels richtete sein Augenmerk auf den Konflikt, in dem Architektur als „öffentlichste der Künste“1 steht, indem das Kunstfeld, das ihren Referenzraum bildet, die Öffentlichkeit zwangsläufig – und gemäß Bourdieu sogar bewußt – ausschließt. Dieser ersten Annäherung an Architektur über die gemäß den jeweiligen Vorkenntnissen völlig unterschiedliche Wahrnehmung durch akademisch vorgebildete Experten einerseits und Laien, darunter die mehrheitlich „ungebildete“ Öffentlichkeit sowie die nicht minder „laienhaften“ Auftraggeber andererseits, haben wir in der Einleitung eine soziologische Analyse unterlegt. Eine solche Annäherung erfaßt vor allem die Repräsentationsfunktion von Architektur sowie die visuell wahrnehmbaren Aspekte der Bauwerke. Neben der Baukörperform, deren Wahrnehmung bereits ein am Abstrakten geschultes Sehen voraussetzt, betrifft dies in erster Linie die Fassade. Die Fassade, mit der das architektonische Werk dem Betrachter gegenübertritt, sein Aushängeschild, ist, wie die Gespräche der vorliegenden Studie zeigen, oftmals der einzige, jedenfalls der zentrale Gegenstand öffentlicher Konflikte um Architektur.2 Die öffentliche Wahrnehmung setzt „Architektur“ also im allgemeinen mit „Fassade“ gleich.3 Architektur als „nichts als Fassade“ aufzufassen hieße jedoch, entscheidende „innere“ Qualitäten, darunter das Herkommen der Disziplin Architektur aus der Vermessungskunst, zu verkennen sowie die Grundrisse, die mit ihrer Eigenschaft, den Bewegungsraum zu ordnen, weit wirksamer unser Leben bestimmen als alle Fassaden, zu ignorieren. Mit dem Schritt von den Fassaden, die wie der Mensch selbst senkrecht zur Erdoberfläche stehen, in den waagerechten Schnitt, den Grundriß, geht ein Wechsel von einer direkten Wahrnehmbarkeit baulicher Oberflächen in eine indirekte Betrachtung einher, die nur noch von Plänen vermittelt wird. Es ist ein Eindringen in eine Sphäre, die schon aufgrund der Künstlichkeit, die der Vorgang des horizontalen Schneidens aller Bauteile, Wänden wie Stützen, Fenstern und Türen, darstellt, ausschließlich denjenigen zugänglich ist, deren Seherfahrung für die Decodierung des Dargestellten geschult ist, und unter diesen nur solchen, denen Pläne überhaupt zugänglich sind oder zugänglich gemacht werden.4 1 Rambow, S. 19 2 Wolfgang Schmidinger berichtet in unserem ersten Gespräch von den unüblichen Fensterformaten der „Architektenhäuser“ der 1980er Jahre, „das waren schon die ersten Schlitze“, und ihrer provozierenden Wirkung auf die Bregenzerwälder Öffentlichkeit. WS 1: Z 335 ff 3 Die Praxis der Bauträger, ausschließlich über Fassaden für ihre Objekte zu werben, nutzt und dokumentiert diesen Umstand. PG: Z 410 ff

4 Wer einen Plan hat, besitzt den Schlüssel zum Haus. In Erich Kästners Pünktchen und Anton zeichnet das Kinderfräulein ihrem Bräutigam einen Plan, um ihm den Einbruch in das Haus ihrer Herrschaft zu ermöglichen. „Du, heute saß sie in ihrem Zimmer und zeichnete mit dem Bleistift Vierecke, und in dem einen stand Wohnzimmer und im anderen Arbeitszimmer...“, erzählt Pünktchen ihrem Freund Anton von Fräulein Andachts verdächtigem Verhalten. (Zürich: Atrium, 1938; S. 70)

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Aufgrund dieser Voraussetzungen basiert das Ausgangsmaterial dieses Abschnitts, der in Ergänzung zum vorhergehenden für eine einigermaßen zureichende Begriffsbestimmung von Architektur unabdingbar ist, auf Gesprächen mit Architekturexperten, also Architekten wie Hans Purin und Gunter Wratzfeld, und – weil der Sonderfall Vorarlberg die Gespräche unseres Forschungsprojekts vollständig durchdringt – Planern, die wie Norbert Mittersteiner Architektur auch ohne „Befugnis“ der Architektenkammer, kraft Selbstbestimmung als „Baukünstler“ und bestätigt durch ihre soziale Reputation als solche, ausüben.5 Architekten sprechen über Architektur normalerweise anhand von Grundrissen. Das Haus ist vertreten durch seinen horizontalen Schnitt. Während meines Gesprächs mit Hans Purin über sein Evangelisches Pfarrhaus auf dem Ölrain in Bregenz liegt der aufgeschlagene Achleitner auf dem Tisch zwischen uns, der briefmarkengroß die Grundrißfigur des 1974/75 entstandenen Hauses abbildet.6 Das Wort „Plan“, im heutigen Sprachgebrauch auf alle Bauzeichnungen angewendet, ist ursprünglich dem Grundriß vorbehalten gewesen. „Plan“ leitet sich etymologisch von lateinisch planta (Fußsohle) ab und hat mit dieser die vermittelnde Bedeutung „Grundfläche“ gemein. Ein weiterer Abkömmling von planta ist „Pflanze“, ein Wort, das seine Bezeichnung aus dem Feststampfen der Erde um den Setzling erhalten hat und damit weniger das Naturgewächs als vielmehr seine Kulturform meint. Erst später wird der Begriff auf alle Gewächse ausgedehnt, ohne den Grundsinn des Kulturvorgangs ganz zu verlieren.7 Im griechischen planos, planes ist eine Verbindung zu „Planet“, „umherschweifend, Wandelstern“, enthalten, eine Bedeutungsübertragung, die sich ursprünglich von der Bezeichnung derjenigen Bewegung ableitet, die eine sich auf der Weide ausbreitende Herde vollführt.8 Beiden etymologischen Wurzeln von „Plan“ gemeinsam ist der Hinweis auf archaische Kulturtätigkeiten des Menschen, das Kultivieren der Pflanzen im Ackerbau ebenso wie das Umhegen der umherschweifenden Herdentiere, eine Tätigkeit, die gemeinsam mit dem Anlegen des Ackers gleichzeitig die allererste Abgrenzung und, mit der Nutzbarmachung einhergehend, die erste Aneignung von Land in der ursprünglichen Naturlandschaft bedeutet. 5 Daß dieser sozialen Reputation eine nur eingeschränkte fachliche Reputation gegenübersteht, daß also die Baukünstler ohne Architektenbefugnis den befugten Architekten im innerfachlichen Diskurs keineswegs gleichgestellt sind, schließt Norbert Mittersteiner aus dem Umstand, daß er seine Werke aus den fachlichen Würdigungen durch die regelmäßigen Holzbau- und Bauherrenpreise ausgeschlossen sieht. NM: Z 1440 ff Auch der Zwischenruf „Designerarchitektur“ eines

weiteren Baukünstlers ohne Architektenstatus als Publikumsbeitrag beim ORF-Gespräch zwischen Walter Fink und Friedrich Achleitner am 26.04.2005 deutet auf das Vorhandensein eines solchen latenten Konflikts und auf die Wirksamkeit von Bourdieus „Feinen Unterschieden“ selbst im, was die Auslegung des Architektengesetzes betrifft, betont liberalen Vorarlberg. Vgl. dazu auch Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg 6 Achleitner (1980), S. 411

Der Begriff Plan verweist auf archaische Kulturtätigkeiten

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Es ist nicht zufällig ein Amerikaner, Bewohner eines Landes, dessen „Kultivierung“ so kurze Zeit zurückliegt, daß dieser Vorgang, und mit ihm die Figur des Pioniers, für seine Nation noch identitätsstiftend wirkt, der in seinen Prairiehouses die Gleichzeitigkeit von Messen und Bauen exemplarisch praktiziert und damit der Modernen Architektur in die Wiege gelegt hat. Frank Lloyd Wright, Urvater der modernen Architekten, fügt mit dem Entwurfsraster, das seinen Häusern und ihren Grundstücken zugrundeliegt, diese dem Vermessungsraster ein, mit dem die Gesamtfläche seines Heimatlandes unter Thomas Jefferson 1785 überzogen worden war, und weist mit seiner Methode gleichzeitig vorwärts auf die Zukunft der industriellen Vorfabrikation von Bauelementen. Der foot, der menschlichen Fußsohle, der planta, entnommenes Grundmodul des amerikanischen Maßsystems, ist Sinnbild des Abschreitens von Land im Vorgang seiner Vermessung. Seine dingliche Entsprechung ist das archaische, menschengeformte Baumaterial schlechthin, der Ziegel, dessen Länge im amerikanischen Format, das Wright etwa in seinem Robie House als römisch anmutenden Flachziegel verwendet hat, genau einen foot beträgt.9 Anschaulicher könnte der Kurzschluß nicht demonstriert werden, der zwischen Messen und Bauen, Grundstück und Bauwerk besteht und der Aneignung durch den Menschen, die das Land, die Naturlandschaft, die ursprünglich nur sich selbst zu eigen ist, durch seine Vermessung und Bebauung erfährt.10 Der Plan oder Grundriß repräsentiert somit Organisation und menschengemachte Ordnung im umfassenden Sinn. Sobald die im ersten Schritt der Kultivierung über das Land gezogenen Linien des Vermessungsrasters in Eigentumsgrenzen überführt sind, überdauern sie gewöhnlich weit längere Zeiträume als die innerhalb dieser Grenzen errichteten Häuser.11 7 Der Große Duden, Band 7, Etymologie, Ausgabe 1963; S. 505 8 A.a.O., S. 514 und S. 162 9 Prechter (1997), S. 24 ff 10 Noch die mediale Inszenierung der US-amerikanischen Mondlandung verknüpfte den menschlichen Fußabdruck mit dem Anspruch der Inbesitznahme von Land, indem sie das Bild des im Mondstaub konservierten Abdrucks eines Astronautenstiefels zum zentralen Symbol erhob. Eine präzise Rekonstruktion der Aufzeichnungspraxis und Materialgrundlage rund um die ikonenhafte Fußspur verdanke ich meinem Bruder Werner Kranwetvogel, Berlin, Regisseur und Raumfahrtspezialist: Der Fuß gehört Edward „Buzz“ Aldrin, dem zweiten Mann auf dem Mond. Er war Copilot von Neil Armstrong bei der Apollo-11-Mission vom 16. bis 24.07. 1969, der ersten Apollo-Mission, deren Besatzung den Mond tatsächlich betreten hat. Das Foto wurde aufge-

nommen am 20.07.1969, ihrem einzigen Tag auf dem Mond. Den eigentlichen Stempelabdruck, also die symbolische Inbesitznahme, vollführte Neil Armstrong, allerdings nur in jener berühmten Videosequenz dokumentiert, in der er von der Leiter der Mondfähre springt. Diese wurde von einer automatischen Kamera aufgezeichnet, die außen an der Mondfähre befestigt war. Aldrin hat anschließend diese Sequenz nochmals fotografiert, indem er Armstrong den Vorgang wiederholen ließ. Nachdem das Foto des Fußabdrucks auf dem gleichen Film wie die Abstiegssequenz von Armstrong zu finden ist, stammt das Bild also aus Aldrins Kamera. Die Kameras waren an der Brust der Astronautenanzüge befestigt und besaßen übergroße Schalter, um mit den klobigen Handschuhen bedienbar zu sein. Der Fuß ist in Laufrichtung nach oben fotografiert. Es ist also anzunehmen, daß Aldrin sich einfach nach unten gebeugt und seine eigene Fußspur fotografiert hat.

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Zuweilen sind dies Jahrtausende, wie die Römermauer zeigt, die in Nachbarschaft des Pfarrhauses auf dem Ölrain noch heute den Friedhof eingrenzt. Purins Geschichte vom Totengräber illustriert die wechselnden Nutzungen der so dauerhaft abgegrenzten Parzellen. Und herüben, (...) der Friedhof ist das, da war eine Therme, und der Totengräber, den hab ich als Pensionist, noch als alten Herrn kennengelernt (...). Da sterben nicht so viele, weil die Gemeinde klein ist, und er hat einmal erzählt, er hat immer den Mosaikboden durchgehackt, geschlagen, oder, wenn er ein Grab, ein neues Grab gemacht hat, und alles verschwinden lassen, daß man das ja nicht sieht (...). Da gibts eine Mauer, also direkt vorm Kirchplatz, und da ist der Friedhof, da gehen Stufen runter, und die Stützmauer ist noch römisch, (...) das schaut aus wie ein Straßenpflaster, das senkrecht ist.12

Hierin läßt sich städtisches und ländliches Bauen unterscheiden: Daß in der Stadt der Bauplatz begrenzt ist – etwa buchstäblich durch eine Stadtmauer, durch eine geographische Vorzugslage oder durch einen Flußlauf, der die Grenze bildet, städtisches Bauen daher frühere Bauten an gleicher Stelle überlagert. Ländliches Bauen dagegen ist typischerweise Bauen auf unbebautem Grund, damit Überführung von Natur- in Kulturland. Purins Pfarrhaus, als ebenerdiges Atriumhaus konzipiert, beansprucht wie Frank Lloyd Wrights Robie House die gesamte Grundstücksfläche und ist mit seinem ummauerten Gartenhof und dem Gemeindesaal in einer Weise zu einem Komplex verbunden, die an Häuser antiker Städte denken läßt, deren Typ noch heute in den städtischen und ländlichen Hofhäusern des arabischen Raums fortlebt. In diesem Haustyp greift der Plan direkt in die über- oder vorgeordnete Ebene der Landvermessung und Parzellierung ein oder ist mit dieser deckungsgleich, ist gleichermaßen Hausbau und Landnahme. So kann Purin, um die Grundstücksgröße zu ermitteln, im Gespräch die Stützenachsen des Hauses zählen und in diesem Vorgang das Stück Land, auf dem es steht, gleichsam abschreiten: „Die Stützen, das sind immer drei Meter (zählt Stützenachsen), zehn, das sind dreißig Meter, bis da her, und dann kommt noch der Saal dazu.“13

Städtisches und ländliches Bauen

In sozialer Hinsicht wird die Vorrangstellung des Grundrisses gegenüber den senkrechten Dimensionen des Bauwerks dadurch betont, daß er den horizontalen Bewegungsraum des Menschen festlegt. In dieser Funktion regelt und ordnet er die Form des Zusammenlebens, den Bewegungsraum jedes einzelnen Bewohners sowie die Verbindungs- und Trennstellen zwischen ihnen und der Mitmenschheit.14 Hans Purin ist sich bewußt, daß er mit seinen Entwurfsentscheidungen zum Grundriß des Gemeindesaals gleichzeitig eine „soziale Form“15 schafft:

Architektur beeinflußt soziale Verhaltensweisen durch räumliche Angebote

11 „...und im März steckte der Architekt mit Pflökken und Strängen von Angelschnur in einem Eichenwäldchen, der Taverne und dem Laden gegenüber, die rechtwinkligen schlichten Fundamente ab, unwiderruflicher Grundriß nicht nur für das Gerichtsgebäude, sondern auch für die Stadt, und er sagte es ihnen

im voraus: In fünfzig Jahren werdet ihr das ändern wollen, im Namen dessen, was sich dann Fortschritt nennen wird. Aber das wird euch nicht gelingen; ihr werdet nie davon loskommen.“ William Faulkner: Requiem für eine Nonne; Zürich: Fretz & Wasmuth, 1956 12 HP: Z 369 ff

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Das ist ja dieser Vorplatz, dieser gedeckte Eingang, das war auch so eine Überlegung, daß man nach der Kirche stehen kann, da heraußen, unter Dach noch... etwas, das bei einer Kirche überhaupt gemacht werden soll, daß Außenräume sind, die gedeckt sind, daß die Leute sich nicht gleich verlaufen.16 Soziale und geometrische Ordnungen

Der grundlegende Akt von Architektur, den horizontalen Bewegungsraum des Menschen innerhalb des Hauses zu ordnen sowie die Stellung des Hauses auf dem Grundstück festzusetzen, trägt neben dem sozialen Potential, damit nicht nur Bewegungs-, sondern auch Begegnungsräume, Individualund Kollektivräume zu schaffen, auch die Tendenz in sich, von den sozialen Folgen des Ordnens abzusehen und die abstrakte Geometrie der erzeugten „Figuren“ in den Vordergrund zu rücken. Die Sprache der Architekten offenbart die Vorzugsstellung der Geometrie nicht nur in LeCorbusiers berühmtem Satz von der Architektur als das „weise, korrekte und großartige Spiel der Körper unterm Sonnenlicht“.17 „Mit dem Quadrat hab ich mich sehr viel beschäftigt“18, beschreibt mein Gesprächspartner, Architekt Gunter Wratzfeld, seinen Antrieb zu geometrisierenden Haus- und Siedlungsentwürfen, zu denen die größten in Vorarlberg gehören. „Das größte Projekt, das ich gemacht hab’, ist die Siedlung an der Ach, das sind tausend Wohnungen, und da ist ein Quadrat neben dem anderen. Wie ein Schachbrett.“19 Wratzfeld begründet nicht weiter, was genau ihn am Quadrat so stark interessiert, daß er es bereits bei seinem ersten Haus, das er in Watzenegg für seinen Bruder geplant hat und das heute zu den Architekturikonen des Landes zählt, allen Entwurfsgedanken vorangestellt hat. „Was Sie hineininterpretieren, ist mir wurscht, oder. Aber wenn Sie hernehmen die Villa Rotonda in Vicenza, dann ist das ein Quadrat, oder, das nach zwei Achsen orientiert ist, und da so drübersteht, oder.“20 Aus seinem Hinweis auf Palladio ist zu schließen, daß der quadratische Grundriß zusammen mit der solitären, beherrschenden Stellung von dessen Villa Rotonda21 für ihn Architektur per se verkörpert. Aus der Entscheidung zum quadratischen Grundriß resultiert zwangsläufig die Gleichwertigkeit aller Fassaden, die Betonung des Zentrums22, das Solitäre des Baukörpers und das Potential zu einer herrisch-repräsentativen Haltung gegenüber der Umgebung, die mit ihrer demonstrativen Abgeschlossenheit jedes An- und Weiterbauen verunmöglicht.23 13 HP: Z 197 ff 14 Der englische Kunsthandwerks-, Architektur- und Sozialreformer William Morris schrieb 1881 in „Art and socialism“: Die Architektur umfaßt die gesamte physische Umwelt, die das menschliche Leben umgibt. Wir können uns ihr nicht entziehen, denn die Architektur ist die Gesamtheit der Umwandlungen und Veränderungen, die im Hinblick auf die Bedürfnisse des Menschen auf der Erdoberfläche vorgenommen werden!“ Hüter (1976), S. 81 Robert Evans widmet sich unter dem Titel „Der Plan und seine Bewohner“ der Korrelation von Wohn-

hausgrundrissen und Sozialverhalten. Die Einführung des Korridors anstelle direkt verbundener Durchgangszimmer repräsentiert in seiner Interpretation das neu erwachte Bedürfnis nach Privatsphäre, das einhergeht mit einer Reduzierung sozialer Kontakte zwischen den Bewohnern des Hauses. Evans (1996) Eine vergleichbare Entwicklung läßt sich im Forschungsfeld nachweisen: Die „Architektenhäuser“, wegen ihrer langgestreckten Baukörper als Traditionsnachfolger der Bauernhäuser präsentiert, vollziehen in ihrer Grundrißorganisation einen radikalen Bruch mit der traditionellen, um die zentrale Feuerstelle

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In der verselbständigten Geometrie und ihrer symbolischen Ordnung, ebenso wie in den Rasterordnungen, die in den Häusern Frank Lloyd Wrights noch den verbindenden „Takt“ für ein individuell durchkomponiertes baukünstlerisches Gefüge bildeten, in den Händen von Technikern jedoch in gerader Linie zur Bauteilnormierung und zu Versuchen führten, das gesamte Bauen über eine einzige Modulordnung24 zu vereinheitlichen, liegt ein potentielles Kippmoment von Architektur in Technokratie. Die Formung der Baustoffe zu einheitlichen Modulen, ihre Fügung zu den geometrischen Körpern der Gebäude und den städtebaulichen Großfiguren der Siedlungen ist reine Materie-Ordnung und ignoriert allzuleicht, zumal in politisch totalitären Systemen, den Umstand, daß jeder Bau soziale Umgebungen schafft. In der Person Ernst Neuferts, jedem Architekten im deutschsprachigen Raum durch seine Bauentwurfslehre vertraut, überschneiden sich prototypisch der aus der gesuchten Nähe zur industriellen Produktion resultierende „Glaube an eine umfassende Systematisierung“, der die Architekturmoderne der 1920er Jahre, speziell das Bauhaus als ihr ideologisches Zentrum, auszeichnet, und der daraus resultierende „umfassende Kontrollanspruch“ als „Schnittstelle zur NS-Ideologie“. Neufert, einer der ersten Bauhaus-Studenten in Weimar, wurde 1938 von Albert Speer zum Beauftragten für die Rationalisierung des Berliner Wohnungsbaus ernannt. Noch gegen Ende des Dritten Reichs entwarf er eine gigantische „Hausbaumaschine“, die, auf Schienen vorwärtsrollend, hinter sich betongegossenen, fünfgeschossigen Zeilenbau hinterlassen sollte, zehn Wohnungen pro Woche für die „zerstörten Städte“ und „die gewaltigen Bauaufgaben im Osten“. Waffen und Bauindustrie benutzen, wie Paul Virilio herausgestellt hat, die gleichen „Transportvektoren“.25 Gerade im Wohnungsbau war im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts massenhafter Neubaubedarf entstanden. Die fortschreitende Industrialisierung und die Verstädterung in ihrem Gefolge, die durch die Weltkriege ausgelösten Flüchtlingsströme und ihr Wiederaufbaubedarf und nicht zuletzt die politisch bedingten Massenumsiedlungen, Vorarlberg betreffend, diejenige der Südtiroler, hatten seit den 1920er Jahren auch auf dem Bausektor Entwicklungen zu industrieller Vorfabrikation vorangetrieben. Damit waren die technischen Voraussetzungen zu jenem Großsiedlungsbau geschaffen worden, der aufgrund der zunehmend sichtbaren sozialen Mißstände innerhalb der neugeschaffenen gruppierten Grundrißorganisation, an deren Stelle sie einen modernen, linearen Korridorgrundriß setzen. Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus 15 „Der Raum ist kein Gegenstand, er ist eine soziale Form.“ Henri Lefebvre in Czaja (2007) 16 HP: Z 455 ff 17 LeCorbusier I in: Posener (1979), S. 47 18 GW: Z 775 ff 19 GW: Z 811 ff 20 GW: Z 1061 ff 21 Andrea Palladio: Villa Rotonda, Vicenza (1566/67)

22 Beispiele aus Wratzfelds Werk hierfür sind die Mittelsäule im Kindergarten Koblach, die zentrale Erschließung in Haus Watzenegg und der Achsiedlung, die Dachlaterne über dem Stiegenhaus im Wohnbau Lustenau u.a. 23 Beim Haus Watzenegg haben Heike Schlauch und Robert Fabach, im Bregenzer Architekturbüro Raumhochrosen verbunden, im asymmetrischen Geländeanschluß seines Untergeschosses trotzdem eine Möglichkeit des „unterirdischen“ Weiterbauens gefunden und 2001/2002 realisieren können. Veröffentlichung u.a. in: Architektur aktuell 4.2006, S. 128 ff

Architektur als Technokratie und Totalitarismus

Soziale Aspekte in der Architektur der 1980er Jahre

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Wohnghettos seit Mitte der 1960er Jahre in den Fokus soziologisch grundierter Kritik geriet. Der Titel von Alexander Mitscherlichs Pamphlet von 1965 Die Unwirtlichkeit unserer Städte wurde zum Slogan einer breiten Kritik am Bauwirtschaftsfunktionalismus. Hier und in seinen folgenden Schriften mahnte der Autor, unterstützt durch seinen Rang als prominenter Sozialpsychologe, für Architektur und ihre Ausbildung eine erneute Übernahme sozialer Verantwortung an: Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist eine immer geschlossenere technische Zivilisationsumwelt entstanden. Ihre Planung ist ohne ausreichendes Wissen, man kann sagen, mit schreiendem Unwissen, über die menschlichen Bedürfnisse erfolgt. Obgleich dem Architekten jetzt eine völlig neue Funktion zufällt, nämlich in den allermeisten Fällen nicht mehr Schöpfer von Denkmälern, sondern Planer des einzig erreichbaren Erlebnis- und Erfahrungsraumes der wachsenden Menschheit zu sein, ist es bis heute noch zu keiner Durchdringung des Lehrganges der Architekten mit den Wissenschaften vom menschlichen Verhalten und der Entwicklung dieses Verhaltens gekommen.26

Das Büro Wratzfeld, zur Zeit der Veröffentlichung von Mitscherlichs Analysen gemeinsam mit den Architekten Jakob Albrecht und Eckhard SchulzeFielitz mit der Planung der Bregenzer Großsiedlung an der Ach befaßt, war Ende der 1970er Jahre Treffpunkt für eine Gruppe von Architekturstudenten und Sprungbrett in ihre partnerschaftliche Berufsausübung als Cooperative. Ihr Erstlingswerk, die Siedlung Im Fang in Höchst, formuliert eine typologische Antwort im Sinne der Kritik am anonymen Großsiedlungsbau jener Zeit und positioniert seine Planer nah an den meist mit knappen Budgets ausgestatteten Bauherren und zunächst in scharfer Opposition zu den in konventionellen Vorstellungen verhafteten Baubehörden. Ihr durch seinen sozialen Anspruch revolutionäres architektonisches Programm ordnet sie im Rückspiegel der Architekturkritik einer mit Beginn der 1980er Jahre sich formierenden Zweiten Generation27 der Vorarlberger Baukünstler zu. Die sozialen Aspekte ihres architektonischen Programms, neue Wohnformen, insbesondere das familiäre und familienübergreifende Zusammenleben, Selbstbau und die Integration gemeinschaftlichen Gebäudeerhalts in die Siedlungsplanung, sowie die Identifizierung von Gründen für diesen Paradigmenwechsel in der Architektur der 1970er und 1980er Jahre, werden Inhalt der folgenden Kapitel sein.28 An dieser Stelle, die den Fokus auf die Eigenschaft institutionalisierter Architektur richtet, als Ordnung in Erscheinung zu treten, interessiert vor allem, daß die Siedlung Im Fang weit mehr Kontinuität für einen im formalen Sinn traditionellen Architekturbegriff verkörpert, als ihre Rezeption an prominenter Stelle suggerieren möchte, die die oberflächliche Erscheinung als „gebasteltes Experiment“ und die Legende, als Baupraktikum einiger Architekturstudenten entstanden zu sein, für die Sache selbst nimmt.29 24 GW: Z 1048 ff 25 Pias (1994) 26 Alexander Mitscherlich: Vom möglichen Nutzen der Sozialpsychologie für die Stadtplanung (1971), zit. in Rambow, S. 40

27 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, Anm. 76 28 Vgl. vor allem Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz, sowie Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf

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Also, unser Gespräch, und die geistige Befassung mit dem ganzen, das war sicher zwei, drei Jahre, oder. Und dann ist es natürlich ziemlich rasch gegangen. Aber es war einfach die geistige Vorbereitung.30

So gibt Norbert Mittersteiner, aus dem Bauhandwerk stammender Planer mit eigenem Büro und seit den 1990er Jahren als Vorarlberger Baukünstler exponiert, der mit seiner Familie als einer der Erstbewohner noch in der Siedlung lebt, zur Auskunft und eröffnet im Gespräch den Blick auf eine architektonische Makro- und Mikroordnung mit enormer konzeptioneller Eindringtiefe, die den Siedlungskomplex bestimmt. Die äußerlich nicht wahrnehmbare strukturelle Verwandtschaft zwischen Achsiedlung und der Hausgruppe Im Fang besteht im gemeinsamen Rastermaß, das die zukünftige Cooperative gemeinsam mit Wratzfelds Partner Eckhard Schulze-Fielitz31 zu Raummodulen weiterentwickelt hatte. Alle 3,60 steht eine Säule, und in dem 3,60er Raster spielt sich das Ganze ab. Also, der geht über die ganze Siedlung durch, oder. (...) Ein 3,60er Feld kann man abteilen, in ein Klo und ein Bad, und ein Gang und ein Klo, und zwei Elemente sind ein Wohnzimmer, und ein Element ist ein Eßzimmer, ein Element oder ein halbes ist eine Küche.32

Das räumliche Raster ist hier Voraussetzung für die Entwicklung einer für Vorarlberg neuartigen, räumlich verschränkten Siedlungstypologie. Hierfür ist nicht die Corbusier-Schule vorbildgebend, die die prototypischen Entwürfe von Atelier 5 in der benachbarten Schweiz, vor allem ihre Siedlung Halen bei Bern (1955–61)33, und dieser folgend, auch Hans Purin mit seiner HaldeSiedlung in Bludenz (1965–67)34, repräsentieren, indem sie schmale Reihenhäuser in Schottenbauweise aneinandersetzen. Eher kann die räumliche Komplexität, mehr noch die introspektive Ausrichtung auf den Wintergarten im Kern jedes Hauses anstelle der Aussicht nach draußen mit einem Loos-Haus und damit einer „Wienerischen“ Architekturhaltung verglichen werden.35 „Weil er im Zentrum des Hauses immer sitzt, kriegt man natürlich sehr tief das Licht in den Rest des Hauses. Das heißt, die Hauptlichtquelle war eigentlich der Wintergarten.“36 Neben seiner Rolle, die der zweigeschossige Wintergarten für die Belichtung und damit auch für die nach innen orientierte Ausrichtung der Häuser spielt, repräsentiert er das bauphysikalische Prinzip der „Pufferräume“, das nach der „Makroordnung“ der Raummodule als zweites architektonisches Ordnungsprinzip für den Bau der Siedlung entwickelt worden war. 29 „Das provokant gebastelte Experiment der Siedlung ,Im Fang‘ begründete Mitte der siebziger Jahre die zweite Generation der ,Vorarlberger Baukünstler‘, deren Intelligenz der Einfachheit und Ökonomie eine neue Qualität der Architektur definierte.“ Dieter Steiner in: Becker, Steiner, Wang, S. 222 30 NM: Z 446 ff 31 Die Bedeutung der Projekte Eckhard Schulze-Fielitz’, darunter die Bregenzer Siedlung An der Ach zusammen mit den Architekten Wratzfeld und Albrecht, erfuhr als exemplarisches Ergebnis einer zeittypischen architektonischen Entwurfsstrategie in der Ausstel-

lung Megastructure Reloaded in Berlin 2008 eine späte Würdigung. Vgl. Maak Das Bregenzer Kunsthaus nahm sich des Themas 2011 in seiner Ausstellung Yona Friedmann und Eckhard Schulze-Fielitz an. 32 NM: Z 525 ff 33 Atelier 5 – Siedlungen und städtebauliche Projekte; Braunschweig: Vieweg, 1994, S. 30 ff 34 Achleitner (1980), S. 406 35 Vgl. die Analyse von Adolf Loos’ Villa Müller, Prag, in: Prechter (1997), S. 82; vgl. auch Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus, Anm. 65

Legende vom „gebastelten Experiment“

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Die ganze Siedlung war aufgebaut mit Einfachverglasung, also vier Millimeter Einscheibenglas. (...) Vom Eingang her – Haustüre, Innenhof, ist ein Windfang, und dann kommt die eigentliche Haustüre, also immer Pufferzonen, also die Pufferzone war ja das einfachste architektonische Mittel unserer Gestaltung. Beim Wohnhaus selber genau dasselbe: Außenverglasung der Wintergarten, Innenverglasung der Wohnraum, also auch wieder eine Zweifachverglasung. Und das nächste ist natürlich das Fensterelement, das Fenster ist ja dieses Kastenfenster, oder. Fenster nach außen aufgehend, der Wind drückt den Außenflügel an, und den Innenflügel. Also immer zweifach, die zwei Gläser mit der Pufferzone, Kastenfenster ist nichts anderes als ein Wintergarten mit der Pufferzone, oder.37 Bauphysikalisches Prinzip und architektonische Ordnung

Architektonische Ordnung und Baukomponenten

Ähnlich wie schon der Raster der primären Tragkonstruktion, auf dem die Raummodule basieren, ist auch der Wintergarten Teil eines architektonischen Ordnungsprinzips. Die Entscheidung zu Einscheibengläsern führt zwangsläufig zur Verdopplung der Fensterebenen, zwischen denen dann größere oder kleinere Pufferräume angeordnet sind. Die Einpassung der unterschiedlichen Situationen in dieses Prinzip ist nur durch intensive konzeptionelle Durcharbeitung zu erreichen. Die Konsequenz, mit der das geschah, ist weder mit technischer noch mit finanzieller Notwendigkeit erklärbar, sondern allein durch das Streben nach einer architektonisch gerechtfertigten Ordnung. Voraussetzung dieser Ordnung ist ein Entschluß zum technischen Rückschritt. Das Prinzip dieser Ordnung ist die Zerlegung der im Fensterbau eingesetzten Halbfabrikate in ihre Einzelkomponenten. Anstelle von Bauteilen auf dem aktuellen Stand der Technik, etwa Zweischeiben-Isoliergläsern, werden ausschließlich Einfachverglasungen eingesetzt, die komplexen und hochentwickelten Beschläge, die normalerweise Fensterstock und Flügelrahmen verbinden, sind auf ihre notwendigsten Funktionen reduziert und durch Kistenbeschläge aus dem Baustoffhandel ersetzt. Material der architektonischen Ordnung ist nun das archaische, unveredelte Rohmaterial: Glas, Holz von der Sägerei, Beschläge aus dem Baumarktsortiment. Wenn das Halbfabrikat Isolierglas und das von der Industrie erzeugte Bauteil Fensterbeschlag also in ihre Einzelteile zerlegt werden müssen, um architektonisch verwertbar zu werden, und der architektonische Entwurf be36 NM: Z 565 ff 37 NM: Z 582 ff 38 Oder war das ein Anliegen der Zeit, welches gar nicht der Architektur selbst entsprang, sondern die Architektur als Medium nutzte? Ein Anliegen, bestehende „Systeme“ aufzulösen und „besser“ neu zusammenzusetzen? Sich gegen das Ausgeliefertsein an die „Systeme“ zu wehren? Ist also die gleichzeitig stattfindende Auseinandersetzung der Architekten mit den Behörden eine in diesen Kontext gehörige „Systemdekonstruktion“? Ein Schlachtfeld, das zwar mit den Mitteln der Architektur ausgetragen wurde, tatsächlich aber ein soziales und politisches war. Was durchaus als Wechselwirkung gesehen werden kann: Die Architektur als politische Provokation gebrauchen, also als „Waffe“ in der politischen Auseinandersetzung einsetzen, die politi-

sche Auseinandersetzung sich in der Architektur abbilden lassen, also als Mittel der Formerzeugung nutzen. Epochenübergreifend heißt das für Architektur, daß diese jeweils Medium für zeittypische Anliegen ist, nicht nur Medium im sozialen Diskurs, also Sprache, sondern auch Medium für den sozialen Diskurs, also Spiegel. Daß diese Haltung zeitgleich auch in die Praxis der bildenden Kunst Eingang fand, illustriert ein Zitat Joseph Beuys’, wiedergegeben von einem seiner Schüler, Jonas Hafner, sinngemäß zitiert: „Wenn ein Maler, um ein Bild zu malen, in einen Laden geht, um sich Leinwand, Pinsel, Farbe zu kaufen, hat er (die Kunst?) schon verloren.“ 39 NM: Z 244 ff 40 Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz

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inhaltet, daraus eine neue, nunmehr individuelle Ordnung zu schaffen, stellt dies die Baukomponenten-Industrie zu Architektur in Konkurrenz.38 Eine dritte Ordnung tritt den Raummodulen und dem architektonisch definierten Prinzip der Pufferräume an die Seite, sobald der Maßstab der Betrachtung erneut um eine Stufe vergrößert wird. Die Erfindung war eben ein Kreuzprofil, oder, und da haben wir die getrockneten Hölzer gekauft und den Falz da (zeigt auf den Pfosten der Wintergartenverglasung) vierseitig über die Kreissäge, das hat man dann auf der Baustelle gemacht, den Falz herausgeschnitten, oder. Und der Trick bei dem war immer, die Überlegung, oder, auf der einen Seite zum Beispiel mit dem Profil, das man rausschneidet, das war dann nachher die Glasleiste, weil wir alles mit Einfachglas gemacht haben, oder wenn man das Profil als Zwischenwandelement gewählt hat, hat man einfach einseitig eine Platte rein oder zweiseitig eine Platte und eine Dämmung, dann war das Konstruktion.39

Das geschilderte Prinzip des Rahmenbaus umfaßt überraschend große Bereiche. Nicht nur die Fenster, auch Türen, Veranden, Innenausbau sind nach dem gleichen Prinzip konstruiert, mehr noch, basieren auf dem gleichen Profil. Nachdem aber dieses System nicht übertragen wurde auf andere Projekte, weil dort die Produktionsbedingungen andere waren und weil das Kostenargument, das Norbert Mittersteiner vorbringt, offensichtlich nur im individuellen Selbstbau-Fall der Siedlung Im Fang gegolten hatte40, wird das Kreuzprofil von der Kreissäge zum Kennzeichen der Siedlung im Sinn einer Signatur. Sein präziser Ort ist nicht der Rohbau, dem hier die Primärkonstruktion entspräche, sondern der Ausbau, die „innere Fassade“, der Ort also, an dem auch das historische Decorum seinen Platz hatte.41 Wie objektiv kostengünstig zu bauen ist, hat die Cooperative in ihren Projekten nach der Siedlung Im Fang demonstriert: mit industriell vorgefertigten Standardfenstern. Die eigene Siedlung stammt demgegenüber aus einer völlig anderen Welt: Sie ist Architektur im traditionellen Sinn eines Einzelstücks mit eigener Ordnung. Daß diese Ordnung nicht aus Stein, sondern aus Holz, daß sie nicht kanonisch, sondern technisch definiert, daß sie ohne Repräsentationsattitüde, sondern im Gewand einer „Baracke“ auftritt, steht zum vertretenen Anspruch, einzigartig und damit genuin Architektur zu sein, nicht im Widerspruch. Es ist Architektur, indem es kunstgerecht42 geordnet und systematisiert ist.43 41 Thomas Gronegger hat in seiner Untersuchung des Petersdoms in Rom herausgearbeitet, daß auch dem traditionellen künstlerischen Decorum solche Signatur-, Ordungs- und Orientierungseigenschaften innewohnen. Im Fallbeispiel unserer Studie tauchen sie unter den Bedingungen der Moderne wieder auf – als Bestandteil von Architektur, die, mittlerweile auf offensichtlichen Schmuck verzichtend, ebenso verborgen wie die Figur des Grundrisses, erst im Schnitt durch den Innenausbau ihre ornamentale Signatur, ihr Decorum offenbart. Was Gronegger für Michelan-

gelos Profile im Petersdom erforscht hat, daß sie den Bau sowohl ordnen, indem sie ein Orientierungssystem bilden, als auch codieren, also Ordnung im Doppelsinn von Geordnetsein und Abzeichen sind (vgl. Der Große Duden, Bd. 7, Etymologie (1963); Stichwort Orden, S. 482), davon steckt einiges im Profilsystem der Siedlung Im Fang. Vgl. Gronegger (2000) „Woran erkennt man, daß hier und sonst ein BauKunstwerk vorliegt?“ Auch Hans Döllgast interpretiert das Sockelprofil der Alten Pinakothek München als unverwechselbare „Signatur“. Döllgast (1957), S. 16

Ordnung als Signatur

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50 Verborgene Figuren der horizontalen Schnitte

Rückwirkung von Achleitners Inventar auf den gesellschaftlichen Rang von Architektur

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An drei Beispielen, Purins Pfarrhaus, Wratzfelds Grundrißquadraten und der Siedlung Im Fang der späteren Cooperative, konnte herausgearbeitet werden, daß in der Schaffung von Ordnungen ein Wesenszug institutionalisierter Architektur liegt. Diese Ordnungen weisen zurück auf spezifisch menschliche Kulturtätigkeiten wie das Ackerbauen und die Aneignung von Land durch Vermessen, Parzellieren und Bebauen, Tätigkeiten, die neben ihrer primären Funktion der Existenzsicherung des Einzelnen den Menschen als Kulturwesen ausweisen.44 Die Künstlichkeit und Individualität ihrer Ordnungen, die Architektur vom bloßen Bauen abgrenzt, erzeugt gleichzeitig ihren Wert und Rang als Kulturzeugnis, der den Werken der Architektur seitens der Gesellschaft beigemessen wird. Repräsentiert ist dieser „Kanon“45 einerseits durch die Akademien und Hochschulen, die ihn als Architekturlehre von einer Generation an die andere weitergeben46, daneben durch Sammlungen und Archive47, die die kanonischen Werke dokumentieren. Der Achleitner48 bildet ein österreichweites Inventar dieser als Architektur anerkannten Bauten, in gewisser Weise dem Dehio vergleichbar, der ein Inventar exemplarischer denkmalgeschützter Bauten ist. Mit dem Unterschied zu diesem jedoch steht hinter dem Achleitner keine Bundesbehörde als Herausgeber, die für die Verleihung des Status „Denkmal“ befugt und zuständig ist. Das Phänomen Friedrich Achleitner, seine Autorität als Person, seine gleichermaßen fachliche wie sprachliche Kompetenz und sein Werk, das flächendeckende Inventar, sind sicherlich einmalig als moderner nationaler Architekturkanon. Sie geben der Architektur Österreichs etwas leicht Faßliches, das ihre Bedeutung innerhalb der Kulturgattungen hebt, sie förderungswürdig 42 „Wie damals Saussure die Strukturen der Sprache, so untersuchen die holländischen Neoplastizisten, wie sie sich nennen, die Grammatik der Ausdrucksund Gestaltungsmittel, der allgemeinsten Techniken der bildenden Künste, um diese im Gesamtkunstwerk einer umfassenden architektonischen Gestaltung der Umwelt aufzuheben. ,In Zukunft‘, sagt von Doesberg (sic!), ,wird die Verwirklichung des reinen darstellerischen Ausdrucks in der greifbaren Realität unserer Umwelt das Kunstwerk ersetzen‘. (...) In Bruno Tauts Schlagwort ,was gut funktioniert, sieht gut aus‘ geht gerade der ästhetische Eigensinn des Funktionalismus verloren, der in Tauts eigenen Bauten so deutlich zum Ausdruck kommt.“ Habermas, S. 14 43 Das Erstlingswerk, das die Siedlung ist, konkretisiert in mehr als dreijähriger Planungszeit die technischen Möglichkeiten der Selbstbaugruppe, insbesondere die Ausstattung der Wagnerwerkstatt von Reinelde Mittersteiners Vater, in einem gleichermaßen simplen wie universellen Ausbausystem. Dieser Anspruch auf Universalität demonstriert gemeinsam mit Rastersystem und Raummodulen die Tendenz der Disziplin Architektur zum Systematischen.

Zum Aspekt des Selbstbaus vgl. auch Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz 44 Vgl. auch die Ausführungen zur Beziehung zwischen Architektur und Agrikultur in: Böhme (2001) 45 Der Begriff Kanon wird hier von derjenigen Wortverwendung auf das Feld der Architektur übertragen, die im kirchlichen Bereich die unabänderliche Liste religiöser Texte bezeichnet, welche die offizielle kirchliche Anerkennung besitzen. 46 „Mein Studium beim Professor Rainer war natürlich sehr umfassend, das war auch sehr geschichtsbezogen, denn bei Rainer mußte man die Geschichte der modernen Architektur und des Bauhauses und die Entwicklung in Wien sehr genau kennen und die ist auch gefragt worden und abgefragt worden und mußte man also in der Diskussion mit Professor Rainer beantworten können und Rainer hat einem da sehr viel auf den Weg mitgegeben.“ GW: Z 139 ff Die Architekten der Nachkriegsmoderne knüpfen an bei der Geschichte „ihres Stiles“, in den zwanziger Jahren, beim deutschen Bauhaus und der Wiener Moderne. Der 65-jährige Wratzfeld spricht von seinem „Professor Rainer“, als hätte er soeben sein Studium

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und förderungsfähig macht, ihr Sprache, Bedeutung und Repräsentation verleiht. Der Achleitner ist nicht auf Vollständigkeit bedacht, sondern wählt seine Objekte nach Kriterien des Exemplarischen aus. Die beschriebenen Objekte sind durch ihre Aufnahme der Masse des Anonymen enthoben, nobilitiert und als Kulturgut verewigt.49 Neben der Architekturlehre wird der architektonische Kanon wirksam, indem seine Werke in situ aufgesucht werden. Hierin ist eine erste Parallele zur Religionsausübung feststellbar, wenn die Architekturexkursion als Wallfahrt betrachtet und die Teilnehmer an die Stelle von Pilgern gesetzt werden. Die Architekturexkursion50 gehört zum festen Ritualbestand des „Systems Architektur“, ausgeübt selbst von seinen Großen, wie die dokumentierten Besuche LeCorbusiers auf der Athener Akropolis oder Mies van der Rohes im griechischen Theater von Syrakus zeigen.51 Die soziale Funktion des Architekturkanons ist, Architektur zum Kulturgut zu erheben und die in ihm verkörperten Ordnungen und Ordnungstraditionen „als Vermittlungsinstanz der jeweils herrschenden Rationalität mit der Sinnenhaftigkeit menschlicher Welterfahrung“52 präsent zu halten.53 So genießen architektonische Werke im Gegensatz zu „anonymen“ Bauten54 einen hohen Grad an Abgeschlossenheit, Unantastbarkeit, auch rechtlich verankerten Veränderungsschutz. Im regionalen Kontext grenzt der Architekturkanon Heimat und Nichtheimat gegeneinander ab und interpretiert die in den Bauten repräsentierte Gegenwart vergangenheits- oder zukunftsbezogen.

beendet, und fühlt sich in seinem Werk den Inhalten dieser Lehre verpflichtet. Indem sich die Hochschulen und Akademien somit als Orte der Kanonisierung der Moderne verstehen, müssen Revolutionäre und Neubeginner zwangsläufig von außen kommen, als Nichtakademiker und „Autodidakten“. Daß sich etwa LeCorbusiers Erneuerungskraft auf die Architektur seiner Zeit wesentlich aus seinem Selbstverständnis als Autodidakt speist, weist Julius Posener in seiner ersten Vorlesung über LeCorbusier nach. Posener (1980), S. 44 ff. Ähnliche Identitätskonstruktionen finden sich bei Frank Lloyd Wright und bei Adolf Loos. 47 Vgl. Abschnitt Architektenstand, Anm. 67 48 Achleitner (1980) 49 Vgl. Abschnitt Baukünstler im Kapitel Vorarlberg 50 Der Architekt Helmut Galler nimmt meinen Gesprächspartner, Tischlermeister Wolfgang Schmidinger, auf Reisen mit, die an klassische Bildungsreisen erinnern. Man reist dorthin, wo Architekten Werke hinterlassen haben, die „noch eine Berechtigung haben“ (WS 3: Z 351ff), studiert den Stand der bauli-

chen Entwicklung, besucht Möbelwerkstätten, die die klassischen Architektenentwürfe herstellen. Architektur stellt sich hier als Sammlung von Referenzen und Standards dar, an denen sich das Eigene zu messen hat. Als konsistenter Schatz auch, als Ausweis einer Bewegung in einem Ländergrenzen übergreifenden europäischen Kulturraum. 51 Posener (1979), S. 45 52 Gleiter, S. 7 53 Oder umgekehrt, aus diesem zu tilgen, wie die Sprengungen nationalsozialistischer Schlüsselbauten, etwa der „Ehrentempel“ beim Münchner Königsplatz und unzählige andere Beispiele, jüngst der Abbruch des „Palastes der Republik“ auf dem Berliner Alexanderplatz, zeigen. 54 Purin erwähnt die Kritik des Bauherrn-Nachfolgers an seinem Pfarrhaus, ohne gleichzeitig Änderungen seines Werkes zu erwägen (HP: Z 142 ff). Eine ähnliche Haltung legt der Architekt der Kirche in Altach an den Tag, die Purin selbst dann einem radikalen Wandel einer Längs- in eine Querorientierung des Kirchenschiffs unterzieht (HP: Z 644 ff).

Architektur ist Referenz eines Kulturraums

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1.3 Architektenstand

Architektur als Kulturform des Bauens

Die Betrachtung von Bauwerken diente in den beiden vorangegangenen Abschnitten dieses Kapitels dazu, erste Annäherungen an den Begriff „Architektur“ zu finden. Die Bezugnahme auf ein Kunstfeld und die eigenen Ordnungen konnten als Indikatoren für die Abgrenzung derjenigen Bauten identifiziert werden, die innerhalb des gesamten Bauens als Architektur gelten dürfen. Architektur als Kulturform des Bauens ist in ihrer gegenwärtigen Ausprägung alles andere als selbstverständlich, allgemeinverständlich und zwangsläufig. Ebenso wie andere (alltags-)kulturelle Felder, wie die Medizin oder das Rechtssystem, ist Architektur das Ergebnis eines sozialen Prozesses mit geographisch eingrenzbarer Gültigkeit1, der geschichtliche Entwicklungen, politische Verhältnisse und gesetzliche Regelungen2 eines Raumes ebenso integriert wie technische Neuerungen und der zu seiner Weiterentwicklung den Wohlstand der Gesellschaft3 ebenso voraussetzt wie den Bildungsgrad ihrer Mitglieder zu deren Teilnahme an diesem Prozeß. Die Person des Architekten verzahnt die Werke der Architektur und ihr Zustandekommen mit der Gesellschaft, die diese Bauten beauftragt, sie nutzt und in deren Lebensumfeld sie gestellt werden. Architekten handeln nie isoliert, an welchem Ende des Spektrums zwischen Künstler und Dienstleister sie sich auch positionieren mögen, sondern sind über das soziokulturelle Netzwerk ihres Standes eingebunden in diese Kulturform des Bauens, die in Ermangelung eines etablierten Begriffs und zur Kennzeichnung ihrer festgefügten Organisiertheit4 hier hilfsweise als „System Architektur“5 bezeichnet werden soll. Bereits in den beiden ersten Abschnitten dieses Kapitels wurden einige Rahmenbedingungen dieses „Systems“ deutlich, die die Wahrnehmung der architektonischen Werke und den kulturellen Rang betreffen, der ihnen seitens der Gesellschaft zugemessen wird.6 Ergänzend hierzu soll dieser Abschnitt eine Skizze liefern, die die ge1 Insbesondere dort, wo sie sich auf die „architektonische Ordnung“ der traditionellen Bauernhäuser bezieht, erhält die Architektur einer Region ihre Rolle als Abgrenzung von Heimat gegen Nichtheimat. (HP: Z 891 ff) 2 Zur Beziehung zwischen Architektur und Staat vgl. Abschnitte Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, sowie Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf. 3 Architektur braucht Wohlstand und Frieden, da sie so lange „dauert“. Kriegszeiten sind Zeiten ohne Architektur (EW 2: Z 131 ff ). 4 Die Aneignung dieser Kulturform durch die Gesellschaft, also durch „Architekturlaien“ und die Formen ihres Gebrauchs bestimmen über den Grad ihrer Umwandlung vom hermetischen Kanon zum lebendigen Kulturgut. Dieser Zusammenhang erinnert an den Einfluß und die Wirkung von Laien innerhalb ei-

ner anderen traditionsreichen und festgefügten sozialen Institution, der christlichen Kirche. Auf die gegenwärtige Festgefügtheit des architektonischen Kanons und seine mögliche Ursache weist Otl Aicher, bezogen auf Deutschland, hin: „Es erweist sich als verhängnisvoll, daß design und architektur in der theorie von den kunsthistorikern verwaltet werden.“ Aicher (1991) 5 Hartmut Böhme, Professor für Kulturtheorie an der Humboldt-Universität Berlin, wendet den Begriff „System“ auf Architektur an, um ihr Verhältnis zur Gesellschaft zu verdeutlichen: „Doch mit den Systemen der Gesellschaft, deren eines Subsystem die Architektur darstellt...“. Böhme (2001) 6 Hierzu gehören rechtlich verankerte Schutzbestimmungen architektonischer Werke, basierend auf dem Urheberrecht des Architekten.

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sellschaftliche Position des Architekten, wie sie sich innerhalb des Forschungsfeldes darstellt, umreißt. Die rechtlichen Regelungen seiner Berufsausübung, die Bedingungen seiner Beauftragung, sein Auftritt und sein Selbstverständnis, die Beurteilung seiner Kompetenzen sowie die Beziehungen, die seine Berufsausübung mit sich bringt, einerseits zum Bauherrn und andererseits zu seinem Werk, bilden die Schwerpunkte der Erörterung. Nachdem die Laienperspektive aus dem vorangegangenen Abschnitt des Kapitels aufgrund der „Verborgenheit“der dort betrachteten architektonischen Ordnungen weitgehend ausgeschlossen war, kommt sie in diesem letzten Abschnitt, vor allem in der Sichtweise des Bauherrn auf seinen Architekten, wieder verstärkt zum Tragen. Architekten gehören den Freien Berufen an, da ihre Leistung für die Gesellschaft als notwendig gilt, wofür ihrer Berufsausübung seitens des Staates Privilegien gewährt (Honorarordnung) und Beschränkungen (Werbeverbot, Standesregeln, Verpflichtung zur Kammerzugehörigkeit) auferlegt werden. Diese Reglementierung sowie die den Freien Berufen gewährte Selbstverwaltung binden sie zu einem Berufsstand zusammen, dessen Vertretung, ähnlich wie bei Ärzten oder Anwälten, einer Kammer obliegt.7 7 „Ähnlich wie in Deutschland sind die Freien Berufe in Österreich nicht von der Gewerbeordnung erfaßt, sondern in Spezialgesetzen geregelt. Als Freie Berufe gelten (...) Architekten, Zivilingenieure, Ingenieurkonsulenten.“ http://de.wikipedia.org („Freier Beruf“) Stand 08.09. 2008 Rambow: „Architekten zählen in Deutschland, neben Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten, DiplomPsychologen u.v.a., zu den sogenannten Freien Berufen. (...) Juristische Definitionen liegen im Rahmen des Steuerrechts, (...) des Gesellschaftsrechts (...) und des Berufsrechts vor. Als charakterisierende Merkmale der Freien Berufe gelten insbesondere eine hohe berufliche Qualifikation und Kompetenz, die berufsaufsichtliche Selbstverwaltung und das Erbringen von ideellen Leistungen und Diensten mit hohem Gesellschaftswert. (...) Der Sinn der Reglementierung besteht im Prinzip darin, eine Balance von Verpflichtungen und Privilegien zu etablieren. Die Verpflichtung besteht in einem gesellschaftlichen Auftrag. Jeder Freie Beruf soll einen bestimmten als gesellschaftlich wichtig angesehenen Aufgabenbereich in einer Art und Weise „verwalten“, die das Eigeninteresse der Berufsangehörigen der Aufgabe unterordnet. Es handelt sich insofern um eine ethische Verpflichtung, deren Einhaltung durch die berufsständische Selbstverwaltung und die Sicherung der gleichbleibend hohen Qualifikation der zertifizierten Mitglieder gewährleistet werden soll. Die dafür gewährten Privilegien bestehen vor allem in der

Gewährung einer mehr oder minder gesicherten „Marktnische“. Durch den Schutz der Berufsbezeichnung und der Beschränkung bestimmter Rechte auf die Inhaber dieser Berufsbezeichnung wird die freie Konkurrenz der potenziellen Leistungsanbieter gezielt eingeschränkt. Die berufsständische Selbstverwaltung obliegt in Deutschland den Architektenkammern. (...) Die Berufsordnung der Architekten enthält zwei bedeutende Einschränkungen, und zwar zum einen ein Verbot individueller anpreisender Werbung. (...) Die zweite bedeutende Einschränkung (...) liegt in der Fixierung verbindlicher Preise für einzelne Leistungen. Diese Fixierung erfolgt in der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI). Der Preiswettbewerb zwischen verschiedenen Architekten ist dadurch – im Prinzip – zugunsten eines Leistungswettbewerbs ausgeschlossen. Das klassische Berufsbild des Architekten (...) beruht also insbesondere auf der Vorstellung, daß das Produkt der Architektenleistung für sich spricht („der Architekt wirbt durch seine Leistung“). (...) Der Gedanke der Selbstverwaltung des Berufsstands beruht letztlich auf der Vorstellung, daß die Qualität der Architektenleistung eigentlich nur von anderenArchitekten beurteilt werden kann. Ähnlich wie bei Ärzten sollte deshalb die Klärung von Rechtsstreitigkeiten durch reguläre Gerichte den seltenen Ausnahmefall darstellen, während die Regulierung durch die fachinterne Schiedsgerichtsbarkeit der bevorzugte Normalfall ist.“ Rambow, S. 14 ff

Architekten als Berufsstand

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54 Selbst- und Fremdwahrnehmung der Architekten

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Wichtiger noch als diese äußere Gebundenheit an die gesetzlich geregelten Bedingungen der Berufsausübung erscheint die innere Verbundenheit, die nicht nur „Anstandsregeln“ für den Umgang der Architekten untereinander definiert und Abweichungen hiervon als „berufsunwürdiges Verhalten“ wertet8, sondern vor allem gemeinsame inhaltliche Normen schafft. Die Architektenausbildung, das Architekturstudium, setzt diese Normen, der spätere standesinterne Fachdiskurs, zu dem die Forderung nach Publikationstätigkeit gehört9, festigt und aktualisiert sie. Die Wahrnehmung dieses Fachdiskurses seitens potentieller Bauherren, damit die Nützlichkeit der Veröffentlichungshäufigkeit als Mittel der Auftragsakquisition, wird von Architekten wegen des hohen Ranges, den der Fachdiskurs für ihre Selbstwahrnehmung besitzt, typischerweise überschätzt. So führt mein Gesprächspartner Architekt Gerhard Gruber die Beauftragung eines Kollegen für den Entwurf eines privaten Doppelhauses, das im betreffenden Dorf, Sulzberg-Thal, architektonische Initiativen von exemplarischer Bedeutung auslöste10, selbstverständlich auf dessen fachliches Engagement zurück: „Der (...) hat sehr viele Vorträge gemacht, theoretisch gearbeitet, und sie sind wahrscheinlich so auf ihn aufmerksam geworden.“11 In der Erzählung jenes Bauherrn über die Kontaktaufnahme zu seinem Architekten ist dieser nur zweite Wahl und kommt erst zum Zug, nachdem der eigentlich gewünschte Architekt, ein Schulfreund, den Auftrag abgelehnt hatte. Für den schließlich Beauftragten spricht vor allem, daß er Bregenzer ist wie der Mitbauherr und daß er sein Büro im Nachbarort Doren hat. Bauherr Wirthensohn: Und wie bist Du auf R. gekommen? Ich habe ihn nicht gekannt, sondern, wie war denn das, ich habe den H. gekannt, weil ich mit dem in die Schule gegangen bin... Und der konnte damals nicht, er hat gesagt, er hat kein Interesse, er hat zu viel am Hals. Und dann haben wir nach einer Alternative geschaut. Und der Theo (Bauherr der anderen Haushälfte) hat den R. von Bregenz her gekannt, weil der Theo ist auch Bregenzer. Und da hat der R. damals das Büro gehabt in Doren, da haben wir den einmal gefragt. So ist es zu der Geschichte gekommen.12

Im Gesprächsverlauf erwähnt auch Wirthensohn die publizistischen Aktivitäten seines Architekten. Als Voraussetzung einer Auftragserteilung dürften 8 Hans Purin berichtet von seinem Umbauprojekt der Kirche in Altach und dem vorgeschalteten Wettbewerb. Hier hat der ursprüngliche Architekt, im Bemühen, sein Werk zu verteidigen, die Anstandsregeln im Umgang mit den Berufskollegen verletzt, indem er die Wettbewerbsbedingungen unterlaufen hat: „Und das ist ja unanständig, das tut man ja nicht, oder? Wir haben uns hingesetzt und haben ein weißes Blatt Papier und müssen uns was einfallen lassen. Und der hat unsere Arbeiten gesehen, hat nachher angefangen...“ (HP: Z 661 ff) Noch an anderer Stelle dieses Gesprächs ist von der üblichen Konkurrenzsituation unter Architekten die Rede, die typischerweise ein Leistungs- anstelle

eines Preiswettbewerbs ist. Der Architekt wirbt durch sein „besseres Konzept“ und nicht etwa durch ein günstigeres Honorarangebot für seine Beauftragung. (HP: Z 43 ff) Vgl. auch: Standesregeln für Ziviltechniker, Pkt. 6: Verhalten gegenüber Kollegen; Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (Hg.); Wien: BIK, 2000 9 Der angesehene Bund Deutscher Architekten (BDA) erhebt die Publikationstätigkeit seiner Mitglieder zur Voraussetzung der Aufnahme. 10 Vgl. die ersten drei Abschnitte im Kapitel Dorf 11 GG: Z 215 ff 12 EW 1: Z 716 ff

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sie, entgegen der Einschätzung des Architektenkollegen, jedoch eher abschreckend gewirkt haben: „Der war ja für viele nahezu der Teufel persönlich, durch seine Fernsehsendung, die er gemacht hat, wo er Architektur kritisiert hat.“13 Die Auskünfte von Bauherren zu den Kriterien ihrer Architektenwahl, wie sie im Rahmen dieser Arbeit erhoben wurden, enthalten keine Hinweise auf die „fachliche“ Reputation des Architekten, eine Feststellung, die auch Rambow in seiner Untersuchung des Laienwissens zum aktuellen Architekturgeschehen sowie der typischen Überbewertung, die Architekten diesem Wissen und damit ihrer eigenen öffentlichen Wahrnehmung beimessen, bestätigt.14 Der Zweck der permanenten Reflexion über das eigene Werk, die in Gesprächen mit Architekten feststellbar ist15, muß daher vor allem in ihrer Selbstvergewisserung als Protagonisten einer „Reformbewegung“ und in der Festlegung und Verteidigung einer standesinternen Rangordnung ihrer Mitglieder gesehen werden.16 Daß die individuelle fachliche Profilierung des Architekten, dokumentiert in seinem bisherigen Werk, offensichtlich nur gegenüber Architektenkollegen von Belang ist, deutet gleichzeitig darauf hin, daß seine hinreichende Kompetenz, ganz im Sinn der Definition des Freien Berufs, von den meisten Bauherren ungeprüft vorausgesetzt wird.17 13 EW 1: Z 496 ff 14 Rambow unterscheidet zwei Kommunikationshürden, die zwischen Architekten und Architekturlaien typischerweise bestehen: den Gebrauch einer für Laien unverständlichen Fachsprache sowie die Überschätzung des Laienwissens zum aktuellen Architekturgeschehen durch Architekten. Rambow zufolge genügt es zur Schaffung einer Laienverständlichkeit nicht, die Fachausdrücke der von Architekten verwendeten Fachsprache zu übersetzen. „In den meisten Fällen des sinnvollen Gebrauchs von Fachwörtern bezeichnen diese (...) Gegenstände und Sachverhalte, für die die Alltagssprache keinen gleichwertigen Ersatz bereit hält. (...) Gelungene Laienorientierung beruht auf Prozessen einer grundlegenden Umstrukturierung und nicht auf einer lokal operierenden Wort-für-Wort-Übersetzung. (...) Die Kenntnis darüber, wie die Laien ihre Wahrnehmung strukturieren, welche ,kategorialen Schnitte‘ sie vornehmen, erweist sich als eine wichtige Voraussetzung dafür, die eigene Rede so zu strukturieren, daß sie dem Laien dabei hilft, auch durch die Komplexität des für ihn unbekannten Entwurfs die angemessenen ,Schnitte‘ zu legen, d.h. eine subjektiv plausible und nützliche Gliederung zu finden.“ (S. 245 f) Zum zweiten Hindernis, der Überschätzung des Laienwissens durch Architekten, führt er aus: „Am markantesten fiel die Überschätzung des Wissens zum aktuellen Architekturgeschehen aus. Mögliche Merkmale des Themas, die für diese Überschätzungs-

neigung verantwortlich sein könnten, sind die hohe Bedeutung für die eigene Wahrnehmung, die vergleichsweise starke Präsenz des Themas außerhalb der reinen Fachpresse und das Fehlen von eindeutigen ,Exklusivitätsmarkierungen‘: Die abgefragten Inhalte sind theoretisch jedem Laien ohne Probleme zugänglich; er müßte nur die entsprechende Berichterstattung in der Tageszeitung aufmerksam verfolgen. Die Tatsache, daß dies kaum ein Laie tut, wird offensichtlich leichter falsch eingeschätzt als die, daß Laien keine architektonischen Fachwörterbücher studieren.“ Rambow, S. 247 15 Die Frage nach formalen Grundthemen, die im ersten Haus angelegt und dann lebenslang für die Arbeit bestimmend gewesen seien, bejaht mein Gesprächspartner, der Architekt Gunter Wratzfeld, spontan und führt Beispiele an: eine hybride Konstruktionsweise aus Sichtbetonteilen und Holzbau und das Quadrat als Grundrißkontur. Seine spontane Antwort setzt intensive Reflexionsarbeit voraus, eine permanent präsente Selbstanalyse und Einordnung des eigenen Werks. Wratzfelds Auskünfte zeigen daneben, daß die Kriterien seiner Selbstbewertung keinerlei Verbindung zur Bewertungswelt der Auftraggeber und Nutzer haben. 16 Die tagesaktuelle Liste der Publikationshäufigkeit von Architekturbüros, die das deutsche Baunetz veröffentlicht, dient als Medium dieses rankings. www.baunetz.de/ranking/

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56 Was den Architekten vertrauenswürdig macht

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Anstelle der „fachlichen“ traten in den Gesprächen mit Bauherren ganz andere Qualitäten in den Vordergrund, die den Architekten vertrauenswürdig erscheinen lassen. Zuvörderst ist dies, wie bereits Ernst Wirthensohn mitteilte, persönliche Bekanntschaft. Fehlt ein Architekt im Freundeskreis, wie bei Arno und Leopoldine Eugster aus Langenegg, Bauherren des ersten „neuen“ Holzhauses im Bregenzerwald, werden Empfehlungen aus der unmittelbaren sozialen Umgebung eingeholt. Die Kollegenschaft an der Hauptschule in Doren, dem Arbeitsplatz des Lehrerehepaars, bot in ihrem Fall den ersten Kontakt zum Architekten: AE Die Frau von diesem Architekten war in meinem ersten Dienstjahr an der gleichen Schule. (...) Und er hat einem Kollegen dort ein Haus gebaut und dann haben wir, als wir uns überlegt haben, daß wir ein Haus bauen, da haben wir gesagt, wir brauchen einen Architekten. Daß wir einen nehmen. (...) Über den Kontakt haben Sie einfach persönlichen Kontakt zu [Ihrem Architekten] gehabt? AE Nein. Ich habe ihn nie gesehen, vorher. LE Aber ich habe ihn gekannt. AE Also wir haben gesagt, also, wen kennen wir, ja, dann haben wir einmal ein Haus angeschaut, das er gebaut hat. Das hat uns eigentlich gut gefallen. (...) Dann war eigentlich klar, daß wir ihn fragen. Und er war ja damals einer der jungen Architekten. Wie alt ungefähr? AE Dreißig, würde ich sagen. (...) LE Ja gut, ein Grund war für uns aber schon, er ist Andelsbucher, das ist ein paar Gemeinden weiter im Bregenzerwald. Und die [Familie hat] da einen guten Namen.18

Die hier wiedergegebene Erzählung erlaubt, den Entscheidungsweg des Ehepaars zu rekonstruieren. Das Vorbild eines Arbeitskollegen läßt das im eigenen Umfeld ungewöhnliche Bauen mit Architekt erwägenswert erscheinen. Das Ehepaar Eugster ist sich dabei gleichzeitig des Risikos bewußt, mit der Entscheidung zum Bauen mit Architekt die Deckung durch die eigene Dorfgemeinschaft zu verlassen. Dementsprechend sorgfältig sammelt es Argumente zugunsten ihres Architekten: Die erfolgreiche Auftragsabwicklung im Kollegenkreis und die Besichtigung des Hauses, das nicht nur „offen und ganz modern“ wirkt, sondern auch durch „funktionale“ Aufteilung, ähnlich einer „soliden“ Handwerkerleistung, überzeugt. Neben diesem Nachweis seiner Zuverlässigkeit spricht für die Person des Architekten, daß er der Altersgruppe der Bauherren angehört. Zuletzt zitiert Frau Eugster die Dorfgemeinschaft seiner Herkunftsgemeinde als Bürge für die Angesehenheit seiner Familie. Die Erwägungen, die aus der Sicht des Ehepaars Eugster für den Architekten sprechen, sind von Risikominimierung und Sicherheitsdenken bestimmt. Insgesamt betont konservativ, ähneln sie einer Handwerkerbeauftragung. Keinesfalls kann aus den Äußerungen geschlossen werden, daß der Architekt 17 Die unterschiedlichen Bezugsebenen, auf denen die Kompetenz des Architekten, der Wert seiner Leistung und die Qualität seiner Erzeugnisse jeweils anderen Maßstäben unterliegen, sind unter anderem durch die professionellen Beziehungen repräsentiert, die der Architekt mit anderen Architekten, mit Bauherren, Handwerkern und Behörden eingeht.

Sie werden in einzelnen Abschnitten der vorliegenden Studie jeweils gesondert betrachtet werden und als konfligierende Aspekte der „gesellschaftlichen Verantwortlichkeit“, die der Berufsstand in seinem Selbstverständnis verankert hat, einander gegenübergestellt. 18 ALE: Z 58 ff

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aufgrund seiner Qualitäten als „Avantgardist“ beauftragt wird. Diese Feststellung ist für den Kontext, in den diese Studie Architektur stellt, deshalb von Bedeutung, weil sie einen prägnanten Unterschied der Bauherrenperspektive zu derjenigen der Architekten und ihres Fachdiskurses markiert. In beiden zitierten Fällen, bei Eugster wie bei Wirthensohn, markiert der Hausbau Mitte der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre gleichzeitig den ersten Auftritt eines Architekten im Dorf. Dieser im Vergleich mit sonstigen Modernisierungen des ländlichen Raumes sehr späte Zeitpunkt sowie die zwingende Verknüpfung seines Standes mit einer Verwurzelung im akademischen System lassen den Architekten gerade im ländlich-dörflich geprägten Vorarlberg auch heute noch als Exoten erscheinen. Ernst Wirthensohn weist auf die Undurchdringlichkeit der sozialen Schichtung hin, die die ursprüngliche, bäuerlich-handwerklich dominierte Einwohnerschaft des Dorfes von Akademikern trennt und so dem Dorfbewohner viel eher den Zimmermann oder Bauunternehmer als Vertrauensperson für den Hausbau empfiehlt als den Architekten.19

Warum im Dorf kein Architekt beauftragt wird

Zum einen, glaube ich, weil die Leute meinen, das ist teuer. Zum zweiten, glaube ich, trauen sich auch viele nicht. Die haben Angst, an so jemanden heranzugehen und mit dem zu bauen. Welche Angst? Ich glaube, daß das die Angst ist, einfach bürgerlicher Menschen vor einem intellektuellen Menschen. Ich sage jetzt Angst, in gewisser Weise einfach der Abstand. Jeder intellektuelle Mensch hats in so einem Dorf relativ schwer. Und das drückt sich da auch aus in dem Spannungsfeld zwischen einem normalen Arbeiter, der sich praktisch nicht traut, einen studierten Architekten zu fragen, „Baust mir ein Haus?“ Sondern der lieber zum Zimmermann geht, mit dem er am Stammtisch natürlich immer hockt, und dann zu vorgerückter Stunde gesagt wird „Machst mir Du das?“ und „Machst mir Du das billig?“ Also, das einigermaßen zu überwinden ist nach wie vor schwierig, weils so tief sitzt.20

In seiner Schilderung stellt Ernst Wirthensohn jene soziale Schicht, der die Bauherren seines Dorfes entstammen, derjenigen des Architekten gegenüber. Den „normalen Arbeiter“ sieht er vom „studierten Architekten“ durch einen kaum zu überwindenden „Abstand“ getrennt, den er nicht etwa durch vordergründige Verständigungshindernisse, etwa dem „Fachchinesisch“ der Spezialisten aller Berufe charakterisiert, sondern durch die Kennzeichnung des Architekten als „intellektuellem Menschen“. Indem Wirthensohn den Architekten damit der Sphäre des Denkens zuweist und diese als Ausnahmeerscheinung kennzeichnet, stellt er gleichzeitig das Machen als Normalfall in 19 Der Abschnitt Modernisierung des Holzbaus des Kapitels Holz wird die unterschiedlichen Zugänge zum Hausbau näher beleuchten, die Architekt, Zimmermann und Selbstbauer kennzeichnen. 20 EW 1: Z 624 ff Ernst Wirthensohn, der für Thal den „Dorfkalender“ führt, benennt im für ihn gewohnten Lesen und Schreiben einen Aspekt des „Abstands“ (EW 1: Z 632), der ihn als Intellektuellen von der übrigen Dorfbevölkerung trennt. Die Dorfbewohner: sie reden, diskutie-

ren. Doch ihre Meinungen finden keinen Niederschlag, solange sie nicht aufgezeichnet werden. Die Macht des Chronisten: niederschreiben oder weglassen, entscheiden über Dauerhaftigkeit und Vergänglichkeit von Meinungen und Wissen. Wirthensohns Chronik, die der Dorfkalender gleichzeitig ist, setzt das Dorf einer externen Beurteilung aus und verschafft dem Dorf ein Forum, das weit größer ist als seine geografische Ausdehnung. (EW 1: Z 769 ff)

Sphäre des Denkens – Sphäre des Machens

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Der Plan als Urkunde, der Plan als Bauanleitung

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den Mittelpunkt des dörflichen Lebens. Diese Unterscheidung ist im Rahmen dieser Studie von zentraler Bedeutung und wird vor allem dort thematisiert, wo die charakteristische Kompetenz des Handwerks und Architektur aufeinandertreffen. Wirthensohn rahmt seine Darstellung, indem er das Architektenhonorar, das die Schwellenangst vor dem Architekten verstärkt, der Entlohnung der Planungsleistung des Zimmermanns gegenüberstellt. Eine dritte verbreitete Möglichkeit, Plan und Baugenehmigung zu erlangen, bot sich Bauwilligen noch bis in die 1980er Jahre in den Dörfern des Bregenzerwaldes in Gestalt fachfremder Planzeichner, häufig Gemeindesekretären, aber auch Lehrern, die die Anfertigung eines Genehmigungsplanes als Nebenverdienst ihrer sonstigen Beamten- oder Angestelltenexistenz zu einem im Vergleich zum Architektenhonorar geringfügigen Pauschalpreis offerierten.21 Im Hinblick auf das Anliegen dieses Abschnitts, aus der sozialen Stellung des Architekten charakteristische Eigenschaften von Architektur abzuleiten, erlauben diese drei Möglichkeiten des Bauherrn, zu einem genehmigten Plan für sein Haus zu kommen und insbesondere die Frage nach der Entlohnung für den Planfertiger, unterschiedliche Blickwinkel auf den Vorgang des Bauens einzunehmen und unter diesen denjenigen von Architektur spezifisch zu erfassen. Der Fall des Plans vom Gemeindesekretär, der insbesondere für das Bauherrenehepaar Eugster von Bedeutung war, da ihr Architekt in dessen angestammte Domäne einbrach22, steht die Baugenehmigung als Rechtsakt im Mittelpunkt des „Entwurfes“. Für Genehmigungsfragen, die Übereinstimmung des Neubaues mit geltendem Baurecht, ist der Gemeindesekretär als Teil der kommunalen Verwaltung der ausgewiesene Fachmann, sein Planungsentgelt kann ebenso als „amtliche Gebühr“ interpretiert werden wie der Plan selbst hier vor allem als amtliche Urkunde erscheint, die das gewährte Recht verbrieft. Der Fall des Plans vom Zimmermann, den Ernst Wirthensohn als den Normalfall innerhalb seines Dorfes anführt, stellt den Blickwinkel des Machens in den Mittelpunkt. Dieser Blickwinkel vereinigt in sich Aspekte der substantiellen Herstellung des Hauses, die eine Ausführungsplanung als Voraussetzung erfordert, und wirtschaftlicher Bedingungen, die den Handwerker als Unternehmer betreffen. Aus seiner unternehmerischen Sicht ist die Anfertigung des Genehmigungsplans eine Akquisitionsleistung, die dazu dient, den 21 EW 1: Z 694 ff 22 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kap. Haus 23 Im deutschen Baurecht sind Maurer- und Zimmerermeister zudem rechtlich befugt, Pläne für Häuser von begrenzter Größe zur Baugenehmigung einzureichen. Diese Befugnis spielt in Vorarlberg, wo nicht der „Planvorlageberechtigte“, sondern der Bauherr den Plan bei der Behörde einreicht, keine Rolle.

24 „Eine Gewerbeberechtigung auf einem Fachgebiet, die zu einschlägigen Arbeiten auf dem Fachgebiet der Befugnis oder zur Ausführung von Arbeiten auf dem Fachgebiet der Befugnis berechtigt, ist mit der Ausübung der Befugnis eines Architekten oder Ingenieurkonsulenten nicht vereinbar.“ Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (Hg.): Standesregeln der Ziviltechniker 1.3.; Wien: BIK, 2000

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Auftrag zum Bau des Hauses zu erhalten, und somit „billig“ angeboten werden sollte. Durch seinen Zeitaufwand entstandene und vom geringfügigen Planungsentgelt nicht gedeckte Kosten können im Zuge des späteren Bauauftrags, für den Bauherrn nicht erkennbar, abgerechnet werden.23 Das Geschäft des Architekten ist demgegenüber anders beschaffen. Er kann – und darf 24 – nicht die Planungskosten in einem aus der Planung folgenden Bauauftrag verstecken, wie es Gewerbetreibenden zu Gebote steht.25 Das Architektenhonorar rückt unmißverständlich den Entwurf in den Mittelpunkt der Architektenleistung, einen Entwurf jedoch, der neben dem individuellen Wohl des Bauherrn die „Lebensbedürfnisse (...) der Gesellschaft“ zu berücksichtigen hat. „Die Lösung der ihm gestellten einzelnen Aufgaben ist (...) stets als Teil einer größeren der Gesellschaft dienenden Ordnung anzusehen“, konkretisiert die Berufsordnung der Architekten deren Leistung.26 Die Honorarordnung, die das Architektenhonorar der freien Verhandelbarkeit entzieht, ist einerseits Privileg des Standes, andererseits Voraussetzung für den Architekten, seiner gesellschaftlichen Verpflichtung nachkommen zu können. Die Einwilligung des Bauherrn in ein Vertragsverhältnis mit regulärem Architektenhonorar impliziert damit auch dessen Bereitschaft, einen Beitrag zum gesellschaftlichen Kulturbesitz zu leisten. Im Widerspruch zu der im untersuchten Raum häufig anzutreffenden Argumentation von Architekten, in ihren Holzbauten „traditionelle“ Formen und regional gebundene Grundrißtypen aufzugreifen, verweist das Privileg der Honorarordnung an sich und der damit dem Architektenstand zugesprochene gesellschaftliche Kulturauftrag viel eher auf den „individuellen“ Entwurf als Ergebnis als auf die Adaption eines typologisch gebundenen Haustyps für einen einzelnen Fall, wie er als typisch für eine Handwerkerplanung angesehen werden kann. Jenseits aller formalen Aspekte von Architektur beurteilt Arno Eugster im Rückblick auf seinen eigenen Hausbau das investierte Architektenhonorar vor allem pragmatisch, als Voraussetzung einer nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht effektiven Bauabwicklung. Manche haben bei uns auch gefragt: „Ein Architekt, was kostet denn der? Weil, zehn Prozent, oder fünfzehn Prozent der Bausumme, das kann sich ja niemand leisten.“ (...) Aber der Architekt hat natürlich durch die ganzen Ausschreibungen und so weiter uns viel Arbeit abgenommen und hat Firmen gefunden. Und hat das Geld, das er uns gekostet hat, leicht, er selber, hereingebracht. Nur hat das vorher niemand ausprobiert und auch nicht gewußt.27 25 Aus der geschilderten, im dörflichen Rahmen üblichen Praxis der Planfertigung durch Gemeindesekretäre oder Handwerker mit ihren niedrigen Pauschalpreisen ist nachvollziehbar, daß die Leistung des Architekten zunächst nicht erkannt, zumindest aber geringgeschätzt, seine Honorarforderung folglich als überzogen beurteilt wird: „Fünfzehntausend Schilling, das waren zweitausend Mark damals, (...) das

kann man investieren (...). Aber G., hat man gesagt, da zahlst eine halbe Million Schilling, nur für den G.“ (EW 1: Z 701 ff) 26 Berufsordnung der Bayerischen Architektenkammer vom 4. Dezember 1972, in: Architektengesetz und weitere Rechtsgrundlagen, Bayerische Architektenkammer (Hg.), München 27 ALE: Z 880 ff

Der Entwurf als Mittelpunkt der Architektenleistung

Honorarordnung der Architekten

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Das Privileg einer verbindlichen Honorarordnung für Architekten wurde in Österreich mit Wirkung vom 31.12. 2006 abgeschafft.28 Der Umstand dieser Eliminierung des Schutzes der Architekten als privilegierte Kulturträger zugunsten derjenigen Strömungen, die im Zuge der „umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ auch der Kultur die Form einer „Ware“ zuweist und sie bezüglich ihres Zustandekommens und ihrer Gestalt den Gesetzen des freien Marktes aussetzt, erlaubt die Feststellung einer aktuellen Umwertung des gesellschaftlichen Kulturbegriffs.29 Eine der Gründungslegenden des Vorarlberger Architekturwunders lautet, daß im ländlichen Raum vor allem Lehrer die ersten Auftraggeber für Architekten gewesen seien.30 Die Legende erhält einen plausiblen Erklärungsgehalt, sobald der Lehrer als akademisch geprägte Ausnahmeerscheinung im Dorf betrachtet wird, der sich aus seiner eigenen sozialen Schicht und nicht 28 Schürer/Gollner, S. 30 (für Österreich) Helmut Dietrich hat mich auf die unterschiedliche Rechtsstellung von österreichischer HOA und deutscher HOAI hingewiesen und die Konsequenz, daß die HOAI im Gegensatz zur HOA aufrechterhalten werden kann. (23.09.2008) Vgl. dazu auch Steger (2008) Rambow legt dar, daß die für Deutschland und Österreich geschilderte Entwicklung einer vergleichbaren in den USA und in Großbritannien „um ein knappes Jahrzehnt“ hinterherhinkt. „In den USA wurde bereits 1972 der Verzicht auf den Preiswettbewerb aus der Berufsordnung der Architekten entfernt (...). Architektur wird seither als gewöhnliches business enterprise betrachtet und die A.I.A. (American Institute of Architects) als Handelsvereinigung unter anderen.“ Rambow, S. 30 ff 29 Vgl. Anm. 57 im Abschnitt Architektur als Kunst dieses Kapitels 30 Arno Eugster erinnert sich im Gespräch an seine erste Konfrontation mit dieser Gründungslegende, die zum festen Bestand der Selbstwahrnehmung des regionalen Architektenstandes gehört: „Ich habe gelegentlich einmal den Namen Franz Bertel gehört. Der sei in der Lehrerbildung tätig gewesen. AE Woher haben Sie das? Das steht in Büchern. Zum Beispiel im Architekturführer. AE [Der damalige Leiter des Vorarlberger Architekturinstituts] hat einmal im Rotary Club einen Vortrag gehalten, (...) woher das kommt, und so weiter, und wer da die maßgeblichen Architekten waren. Ich habe ihm auch nicht gesagt, daß eigentlich der [Architekt des Eugster-Hauses] zuerst so ein Haus gebaut hat. Er hat lauter andere Namen genannt, natürlich seine Freunde. Und, hat er gesagt, Lehrer wären da drin-

nen gewesen, hauptsächlich als Bauherren, und die wären beeinflußt gewesen von diesem Franz Bertel. Also,mich hat der überhaupt nicht beeinflußt. Ich kenne ihn, ich habe Schönschreiben bei ihm lernen dürfen. Also, er hat eher das Gegenteil bei mir bewirkt. (...) Diese Beeinflussung, da widerspreche ich auf das Heftigste. (...) Wir haben nie über Architektur geredet, ich wüßte nicht, was. Zeichnen, Schönschreiben und solche Sachen haben wir gehabt. LE (...) [Unser Architekt] war vielleicht ein Vorreiter, oder? AE Das war der Vorreiter. Nicht der Franz Bertel und nicht die Lehrer.“ (ALE: Z 428 ff) Arno Eugster sieht sich durch die „offizielle“ Architekturgeschichtsschreibung Vorarlbergs in eine Rolle gedrängt, die er ablehnt. Weder ist er bereit, eine hier behauptete „gemeinsame Sache“ der Lehrer mitzutragen, noch, einen behaupteten Einfluß Franz Bertels auf ihn gelten zu lassen. Die von ihm für sich reklamierte individuelle wird zu einer kollektiven Leistung herabgestuft, die Leistung eines ungenannten, seines Architekten, von derjenigen eines „Freundesklüngels“ anderer Architekten beansprucht. Eine Bestätigung seiner Auslegung ist darin zu sehen, daß sein Haus ausgerechnet in dem Werk fehlt, das als Nachschlagewerk der Vorarlberger Architekturszene bislang den wirksamsten legitimierenden Effekt zeigt, dem Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980. Sofern Eugsters Einschätzung zutrifft, sein Haus sei das erste Architektenhaus der neuen Generation im Bregenzerwald gewesen, so ist diese Nichterwähnung zumindest als Fauxpas der Herausgeber anzusehen. Zum Thema „Lehrer als Bauherren für Architektenhäuser“ vgl. auch Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus, Anm. 71.

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aus der für ihn unvertrauten der Handwerker einen Vertrauensmann zum Hausbau sucht: den Architekten. Der andere akademische Exot neben dem Lehrer ist in der traditionellen dörflichen Gesellschaft der Pfarrer. Für seinen abnehmenden Einfluß als vorbildgebende Persönlichkeit und für die Sinnstiftung, die er als Vertreter seiner Kirche spendet, ist in einer Zeit grassierender Kirchenaustritte, die zusammen mit dem Priestermangel die Zusammenlegung von Pfarreien zu Pfarrgemeinschaften nach sich zieht und damit den Pfarrer aus dem Alltagsleben des Dorfes entfernt31, kein Ersatz in Sicht. Angeregt durch Hinweise unserer Gesprächspartner werden wir weiter unten der Frage nachgehen, inwieweit und in welcher Hinsicht der Architekt heute diese soziale Stellung des Priesters übernommen hat.32 Ernst Wirthensohn verknüpft diese Ähnlichkeit zum Priester, die er bei seinem Architekten feststellt33, direkt mit dessen fehlender Nähe zur Dorfbevölkerung und damit seiner Überzeugungskraft. Die festgestellte Distanz verhindert eine stärkere Einbeziehung von Architektur in kommunale Aufgaben. „Er hat so ein bißchen was Dozierendes, so was Priesterhaftes nahezu, oder. Das kommt bei den Leuten nicht so gut an.“34 Rambow benennt Indizien für diese Übernahme eines priesterlichen Habitus in denjenigen von Architekten: „Für den Architekten (...) verschließt sich die visuell wahrnehmbare Lösung einer vollständigen Übersetzung in Sprache. Das gilt vor allem auch für deren affektive Qualitäten, die nach Auffassung vieler Architeken überhaupt nur der direkten, unvermittelten Wahrnehmung zugänglich sind.“ Für ihn als Psychologen „wirkt diese Behauptung einer Nicht-Operationalisierbarkeit affektiver Qualitäten vielfach ,mystisch‘ und wie die vorsätzliche Verweigerung eines rationalen Diskurses.“35 Hier sind, verpackt in die Fachsprache des Psychologen, Eigenschaften von Architektur genannt, die ihrem ehemaligen Dienst am religiösen Kult entstammen und offenbar allen Säkularisierungsbemühungen der Moderne widerstanden haben. Rambows „affektive Qualitäten“ beschreiben Architektur durch den Affekt, die „heftige Erregung“ dessen, der ihr ausgesetzt ist. Den Architekten, der sich der „Operationalisierung“ dieser Qualitäten verweigert, kennzeichnet er als Figur, die, anstatt das Entstehen des Affekts zu „erklären“, dessen Rezept als Berufsgeheimnis wahrt und es so mit dem Schleier des Mystischen umgibt. 31 „Der Rückgang der kirchlichen Struktur, das merkt man ganz stark. Der Pfarrer ist jetzt weg, seit drei Jahren, die Pfarrei ist ganz rückläufig, das religiöse Leben, das kirchliche Leben, wie überall sonst.“ (EW 1: Z 1046 ff) 32 Solchen Situationen, in denen Architektur in die soziale Nachfolge von „Religion“ eintritt (Durkheims gesellschaftlichen Religionsbegriff zugrundegelegt), widmet sich der Abschnitt Architektur im Dorf des Kapitels Dorf. 33 In den Gesprächen des Forschungsprojekts finden

sich auch an anderen Stellen Hinweise auf einen Habitus der Architekten, der an Priester und Ordensleute erinnert, so z.B., wenn Peter Greußing, als typische Bauherrenforderung eines Bauträgers, feststellt, „daß ein Architekt gewisse Leistungen auf Risiko machen muß“ (PG: 1066 ff). Unentgeltliche Arbeit im Rahmen ihres Berufs verbindet Architekten, neben anderen Künstlern, mit Ordensleuten. Was dem einen der Lohn der Selbstverwirklichung, ist dem anderen „jenseitiger“ Lohn. 34 EW 1: Z 517 ff

Priesterlicher Habitus des Architekten

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Moderne Architektur als lebensreformerische Bewegung

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Offensichtlich hat in dem umfassenden Umbruch der Lebensverhältnisse der westlichen Welt, innerhalb dessen Moderne Architektur als künstlerische Erneuerungsbewegung auf den Plan trat, ein Umbruch, der von dem gleichzeitigen Verlust der religiösen Sphäre an Glaubwürdigkeit und sozialer Integrationskraft wesentlich geprägt war, eine Übertragung stattgefunden, die Moderner Architektur neben einer nutzungsorientierten, kultivierten Weise des Bauens gleichzeitig vormals kirchliche Aufgaben zugeteilt hat und sie in diesem Zuge zu einer lebensreformerischen Bewegung werden ließ.36 Architektur also Aspekte einer „Ersatzreligion“ zuzusprechen ist nicht vordergründig zu verstehen, etwa in dem Sinn, daß hier Esoterik oder formales Sektierertum betrieben werde, sondern dem sozialen Effekt nach: die symbolische Klammer, das Gemeinschafts- und Identitätsstiftende, das ehemals die Kirche repräsentiert hat, durch Bauten, Kult und Durchsetzung des Alltags mit Ritualen, nimmt heute professionalisierte Architektur für sich in Anspruch. Als Sinnstiftung, als Trost in der Absurdität, Unbeeinflußbarkeit und Schicksalhaftigkeit, als der der globalisierte Kapitalismus erscheint, bildet sie den Kristallisationskern eines Idealismus, der den Dingen der materiellen Welt einen Mehrwert über das Funktionale und als Statussymbol hinaus zuspricht37, ebenso wie Religion ehemals den Kristallisationskern von Gemeinschaftlichkeit im Sozialen bildete.38 35 Rambow, S. 44 affektiv: (aus lat. affectivus „ergreifend, rührend“) gefühls-, affektbetont, durch heftige Gefühlsäußerungen gekennzeichnet; auf einen Affekt bezogen (Psychol.) Affekt: heftige Erregung, Zustand einer außergewöhnlichen seelischen Angespanntheit Operationalisierung: die Umformung von theoretischen Begriffen u. Hypothesen im Sinn ihrer empirischen Überprüfbarkeit durch Angabe konkreter, im Einzelnen prüfbarer Zielvorgaben u. Schritte (Soziol.) Q. Duden: Das Große Fremdwörterbuch; Mannheim 2003 Jan Tschichold, der in den 1920er Jahren für die programmatische Modernisierung von Typographie und Gebrauchsgraphik eintrat, kennzeichnet rückblickend die zugrundeliegende Haltung als „Sektierertum“ ihrer Exponenten, ein Befund, der sich ohne weiteres auf den „Funktionalismus“ der Architektur übertragen läßt: „Es hat sich nämlich gezeigt, daß die scheinbar einfachen Formgesetze dieser funktionalen Typographie niemand geläufig sind, weil sie einer besonderen, im Grunde religiösen Gesamthaltung Verschworener entspringen, in die man zuerst ,eingeweiht‘ werden muß.“ Tschichold (1946) Noch ein weiteres von Tschichold ausgeführtes Kennzeichen der „neuartigen Typographie“besitzt eine Entsprechung in der Architekturmoderne: „Es scheint mir aber kein Zufall, daß diese Typographie fast nur in

Deutschland geübt wurde und in den anderen Ländern kaum Eingang fand. Entspricht doch ihre unduldsame Haltung ganz besonders dem deutschen Hang zum Unbedingten, ihr militärischer Ordnungswille und ihr Anspruch auf Alleinherrschaft jener fürchterlichen Komponente deutschen Wesens, die Hitlers Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat.“ (a.a.O.) Vgl. hierzu auch Achleitners Bezugnahme auf Adalbert Stifter und dessen „unduldsame[r] Reinheit“, in: Achleitner (2000), S. 201. Tschicholds Kennzeichnung der Modernen Bewegung als „Sekte“ findet sich auch in der Wortwahl Rudolf Schwarz’, hier gezielt auf Architekten gemünzt: Schwarz (1953/2), S. 197 36 „In Deutschland finden sich in den programmatischen Schriften des Deutschen Werkbunds und dann vor allem des Bauhauses in zunehmendem Maße Ansprüche der Architektur für alle Teile der Gesellschaft formuliert, die eine starke lebensreformerische Komponente haben.“ Rambow, S. 39 37 „Wie wär’s, wenn man die Religion der orthodoxen Einfachheit in der Architektur einmal unter dem Aspekt eines psychischen Schutzmechanismus gegen eine ganz andere gesellschaftliche Wirklichkeit analysieren würde? Es muß sich ja nicht immer gleich um Verdrängung handeln.“ Achleitner (2000), S. 205 38 Vgl. die Ausführungen zu „Verdinglichung“ und „Symbolische Sinnwelt“ bei Berger/Luckmann, S. 95 ff 39 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz

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Wie ehemals die Kirche ältere Gottheiten durch „Heilige“ ersetzte, ist auch Architektur imstande, über „mondgeschlagenes“ Holz und andere Naturverbundenheiten nicht wenige Aspekte einer gerade in Vorarlberg lebendigen, volkstümlichen Esoterik in ihren Wertekanon einzubinden.39 Die Gebundenheit des Bauens an die Person und Initiative eines Bauherrn, seinen Auftrag, bedeutet für den Architekten den Zugang zu seiner existenzsichernden Berufsausübung und gehört damit zu den zentralen Bestandteilen seiner Berufsdefinition.40 „Also, gebaut hab ichs nicht, ich habs geplant. (...) Gebaut ist es worden für meinen Bruder und meine Schwägerin, nicht. Also, ich war nie Besitzer.“41 Architekt Gunter Wratzfeld legt in unserem Gespräch über seinen ersten Hausentwurf Wert auf die sorgfältige Definition seiner eigenen Rolle im Bauprozeß. Er baut nicht und ist nicht Besitzer, seine Aufgabe ist die Planung. Der Besitz (des Grundstücks und des Bauwerks) gehört zur Rolle des Bauherrn, der Bau zu derjenigen des Handwerkers. Die Mindestbeteiligten am Bau des Hauses sind also drei Parteien: Bauherr, Architekt und Handwerker.42 Der Bauherrnauftrag verschafft dem Architekten gleichzeitig seine Perspektive gegenüber dieser Aufgabe. Wesentliche Teile ihrer Randbedingungen, so etwa Vorgeschichte und soziales Potential der Aufgabe, bleiben dem Architekten im Regelfall verborgen. Indem sich dieser der Begrenztheit seiner Perspektive nicht bewußt ist, entsteht eine für den Berufsstand typische, verkürzte Sichtweise seiner Aufgaben, ein blinder Fleck. Zwei Aspekte bestimmen im wesentlichen den Einschränkungsgrad der 40 Der für den Architektenstand zwingende Ausschluß einer „Gewerbeberechtigung auf einem Fachgebiet, die (...) zur Ausführung von Arbeiten auf dem Fachgebiet der Befugnis berechtigt...“ ist für Österreich in den „Standesregeln der Ziviltechniker“ festgelegt. Der Berufsstand des Baumeisters als österreichische Ausnahmeerscheinung verbindet beide Rollen, diejenige der Planung und diejenige der Bauausführung. Gemäß dem von der Bundesinnung der Baumeister veröffentlichten Leitbild der österreichischen Baumeister ist die Planungsbefugnis umfassend und damit derjenigen der Architekten gleichgestellt. Zu einer allein den Architekten vorbehaltenen Befugnis zur Planung von „Monumentalbauten“ fanden sich keine Hinweise. Seit Einführung der EU-konformen Neuregelungen dürfen Träger der österreichischen Baumeisterbefugnis die Berufsbezeichnung Gewerblicher Architekt führen. Eine Abgrenzung zwischen Architekt und Baumeister findet sich in der Institution der Ziviltechniker, zu der die Architekten zählen, einer Besonderheit des österreichischen Rechts. „Ziviltechniker sind (...) befugt, öffentliche Urkunden auszustellen. Über

die Bedeutung dieser Berechtigung bestehen seit langem unklare Vorstellungen, die bisweilen auf die Annahme eines allgemeinen Mehrwerts an Beweiskraft aller schriftlichen Ausfertigungen von Ziviltechnikern im Verwaltungsverfahren hinauslaufen. In der Konkurrenz mit (...) gewerblichen Baumeistern ergeben sich vielfach Spannungen. Aus der Entwicklungsgeschichte des Ziviltechnikerrechts wird deutlich, daß sich die Privilegierung nur auf Wissens- und Beweisurkunden und nicht auch auf andere Erklärungen, wie Gutachten, Planungen, Berechnungen, Stellungnahmen oder Einreichungen, bezieht.“ Funk/Marx (2002) 41 GW: Z 46 ff 42 Im weiteren Gesprächsverlauf kommt Wratzfeld nochmals auf diese Grundkonstellation zurück, als er das eigene Haus als Sonderfall schildert, bei dem Bauherr und Planer in seiner eigenen Person zusammengefallen sind. (GW: Z 746 ff) Der Rolle des Bauherrn kommen in Wratzfelds Erzählung durchaus Aspekte des aktiven Gestaltens zu (GW: Z 1364 ff). Vorarlbergs Kulturpolitik erkennt mit dem „Bauherrenpreis“ diese Rolle ausdrücklich als förderungswürdig an.

Rolle des Architekten im Bauprozeß

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Berufsblindheit des Architekten

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Architektenwahrnehmung. Der erste betrifft den Zeitpunkt innerhalb der Entwicklung eines Projekts, zu dem er seitens des Bauherrn beteiligt wird. Der zweite Aspekt ist seine Spezialisierung auf den ästhetisch betonten Entwurf von Gebäuden, die dort einschränkend wirkt, wo die Problemstellung eine erweiterte Lösungskompetenz erfordert. Im vorhergehenden Abschnitt ist auf Alexander Mitscherlichs Kritik an diesem Kompetenzdefizit hingewiesen worden, das umso negativer zutage tritt, je mehr der räumliche Umfang und die Totalität der zu entwerfenden Lebensräume zunehmen. Wer nach Gründen sucht, warum sich Architekten trotzdem und immer wieder solcher Aufgaben der „totalen“ Lebensraumgestaltung annehmen, ja, sie als die eigentliche Krönung ihrer beruflichen Praxis und damit auch ihrer Kompetenz betrachten43, stößt auf Aspekte ihres Selbstverständnisses, die direkt der Sozialgeschichte ihres Standes und den Entstehungsbedingungen Moderner Architektur entwachsen.44 Also, wir waren in einer Planungsphase und hatten mit verschiedenen Architekten zu tun und die Architekten haben sich immer wieder beschränkt nur auf ein Gebäude, also, wir haben einen Raumbedarf und diesen Raumbedarf decken wir so und so ab.45

Der Langenegger Bürgermeister Peter Nußbaumer hat anläßlich der komplexen Problematik bei der Neugestaltung des Ortskerns eine Gesetzmäßigkeit für die typische Lösungsstrategie der Architekten festgestellt, diese als berufsspezifische Beschränkung ihres Repertoires identifiziert und durch eine unorthodoxe Projektentwicklungsstrategie umgangen.46 Eine soziologisch gestützte Bedarfserhebung mittels eines mehrwöchigen Studentenworkshops im Dorf führte am Ende des Prozesses zu einem Maßnahmenkatalog, der unter anderem Grundlagen für den im Anschluß durchgeführten Architekten43 Der Publikumsbeitrag eines Vertreters der jüngsten Generation der derzeit etablierten Vorarlberger Architekten als Antwort auf die vom Podium herab gesprochene Feststellung eines älteren und arrivierten Kollegen, dieser würde am liebsten „mit dem Bagger durchs Rheintal fahren“, offenbart einen generationenbedingten Wandel in der Haltung zu den Bauherren, damit der Selbstpositionierung von Architekten in der „pluralistischen Gesellschaft“. Der Beitrag markiert für die jüngere Generation eine Abkehr vom totalen Gestaltungsanspruch ihrer Vorgänger. In diesem Sinn erlaubt die Äußerung eine Umdeutung von Architektur, die sich von einer gesellschaftsgestaltenden Kraft zu einem Moderationsmedium der Gesellschaft wandelt: „Ja also, um auf die Raumplanung nochmal zu sprechen zu kommen, das Bild (...) ist mir geläufig, (...) aber dieser eigene Abscheu, der ist ja nichts wert, wenn er ästhetischer Natur ist, meiner Meinung nach, wenn ich sag ,des gfällt mir nicht, diese schrillen Farben und die hohen Schriften‘, dann kann ich ja nicht mehr argumentieren. Ich glaube, daß diese pluralistische Gesellschaft, die ist vorhanden, mit der muß man wirklich umgehen, die können wir keinesfalls, in mei-

nem Horizont sehe ich keine Möglichkeit, die irgendwie abzuschaffen, zu übersteuern, oder zu bevormunden.“ (Theater am Saumarkt Feldkirch, Podiumsdiskussion im Anschluß an den Vortrag von Peter Gross „Lebensraum in der Multioptionsgesellschaft“ am 21.05.05; Transkript einer eigenen Tonaufnahme) 44 Zu den Entstehungsbedingungen der Modernen Architekturbewegung gehört wesentlich die kulturelle Orientierungnot nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in der Architektur die Rolle eines „Leitsterns“ beanspruchte. Vgl. Taut (1919) Zu den Umständen, die den Massenwohnbau zu einem prägenden Thema Moderner Architektur werden ließen, vgl. Abschnitt Genossenschaftlicher Wohnbau, Kapitel Vorarlberg Vgl. ergänzend das von Böhme erläuterte Heideggersche Geviert. „Architektur heißt, sich im Sein einzurichten, sich bauend auf der Erde gründen, eine colonia, sprich: eine Statt/Stadt pflanzen (colonia = Pflanzstadt).Das ist: Kultur erzeugen...“Böhme (2001) 45 PN: Z 87 ff 46 Ausführlicher im Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 47 PN: Z 169 ff

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wettbewerb enthielt – aber eben nicht die gesamte Problemstellung auf die Errichtung eines Gebäudes reduzierte. In der Zusammenfassung seiner Erfahrungen bei der Neugestaltung des Ortskerns äußert Nußbaumer eine Vermutung, woher die festgestellte Unfähigkeit zur spezifischen Problemerfassung stammt, die die Architektenkompetenz aus seiner Sicht charakterisiert: Das kommt aus dem Denken der Architekten. Da gibt es Landschaftsarchitekten und da gibt es städtebauliche Architekten und da gibt es richtige Architekten, die nur Gebäude machen, und die vernetzen sich nicht derzeit, das findet nicht statt. Da kommt einer, der plant das Gebäude und am Vorplatz, da hat man dann wieder irgendwas anderes und das geht nicht richtig ineinander. 47

Das Berufsbild Architektur habe sich demnach in spezialisierte, untereinander nicht mehr vernetzte Teilberufe aufgespalten.48 Dadurch nähmen Architekten nur den jeweiligen Teilaspekt einer Aufgabenstellung wahr, für den sie eine Lösung aus dem Fundus ihrer jeweiligen Kompetenz anbieten könnten. Solche Aufgabenstellungen, die wie die Neuorganisation des Ortskerns in Langenegg eine gleichwertige Betrachtung des dörflichen oder landschaftlichen Außenraums neben den erforderlichen Bauten und die Einbettung der Baumaßnahmen in einen sozial definierten Bedarf umfassen, seien demzufolge bei Architekten schlecht aufgehoben: sie würden lediglich ausschnitthaft wahrgenommen und folglich unzureichend bearbeitet.49 „Integrierte“ Lösungen könnten von Architekten nicht mehr erzeugt werden. Die Erarbeitung einer solchen integrierten Lösung für den neuen Ortskern des ehemals zweigeteilten Dorfes mußte daher von der Gemeindeverwaltung selbst eingefordert und gesteuert werden.

Teilberufe mit fehlender Vernetzung

Wir kehren zurück zur eigentlichen Domäne der Architekten, dem Hausentwurf. Diejenigen Bauherren von Einfamilienhäusern, die im Rahmen dieser Studie befragt wurden, wissen im Nachhinein, „was sie an ihrem Architekten haben“. Sie schätzen ihn als Fachmann50, der in der scheinbaren Undurchdringlichkeit der ineinander verzahnten Problemstellungen des Hausbaus den Überblick bewahrt.51 In ihren Erzählungen betonen sie fallweise mehr den praktischen Nutzen52 oder den täglichen Verdruß, den sein Entwurf für ihr Alltagsleben bietet. Leopoldine Eugster etwa klagt über die Architektenidee,

Kompetenz des Architekten aus Bauherrensicht

48 Weitere Abspaltungen von Teilbereichen aus der ehemals alle Aspekte des Planens umfassenden Architektenleistung sind aktuell die technisch-rechnerischen Aspekte des für Finanzierung und Genehmigung zunehmend wichtiger werdenden Energiehaushalts von Gebäuden. Neugeschaffene Berufszweige wie „Bauphysiker“ und „Energieplaner“ übernehmen nun solche Teile der Architektenleistung. 49 Nußbaumer erwähnt auch die Auswirkung dieser Spezialisierung auf die verbleibende Kernleistung der Architekten: An den Schnittstellen zwischen den Zuständigkeiten der Teilberufe werden unbefriedigende, weil voneinander unabhängig geplanteAnschlüsse hergestellt, etwa zwischen Gebäude (Hochbauarchitekt)

und Freibereich (Landschaftsarchitekt). PN: Z 169 ff 50 „Also, wenn jemand ein fundiertes Studium hat, oder etwas gelernt hat, oder ein Diplom, dann sollte man dem vertrauen.“ PN: Z 477 ff Bürgermeister Nußbaumer vergleicht den Architekten mit einem Arzt, Architektur mit Medizin. In seiner Sicht auf Architektur steht also nicht der Kunstaspekt im Vordergrund, der das Individualistische betont, sondern das Allgemeinwohl. Hier kommt eine spezifisch österreichische Interpretation des Architekten zum Vorschein, die ihn zum Träger des Staatswappens macht, eines Privilegs der Ziviltechniker, die qua Befugnis ausdrücklich den Staat repräsentieren. Vgl. auch Anm. 2 und 40

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Ausschluß des Bauherrn vom „System“ Architektur

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zwischen Arbeitsplatte und Oberschränken der Küche ein Fenster einzubauen, und läßt sich auch durch die Erklärung Ihres Ehemanns, „Damit du beim Arbeiten dort Licht hast, wo du es brauchst“53, nicht von ihrem Unwillen über das ständig fettverspritzte Glas hinter dem Herd abbringen. Neben solchen Kritikpunkten an Baudetails hebt das Ehepaar Eugster vor allem die tätige Hilfe ihres Architekten in den unvermeidlich scheinenden Auseinandersetzungen mit der Baubehörde hervor, die sein Entwurf entfacht hatte, sowie seinen Einsatz bei der Abwicklung des Hausbaus.54 Gleichzeitig offenbaren die Auskünfte der Bauherren ihre Unbeteiligtheit am Entwurfsprozeß55 und eine erstaunliche Unvertrautheit und Fremdheit, mit der sie der Architektur ihrer Häuser gegenüberstehen. Das „System Architektur“ haben sie in der Person ihres Architekten, seinen Ehrungen56 und in Gestalt massenhaft in die private Sphäre ihrer Häuser eindringender „Fachbesucher“ infolge seiner Publikationstätigkeit kennengelernt. Nach dieser Preisverleihung sind ja ganze Busse gekommen, zwei Jahre lang. Rundum Verkehr, alle möglichen Leute sind in der Gegend gestanden und haben fotografiert. Und das haben natürlich die anderen Leute auch alle mitbekommen, wenn schon wieder ein Bus die Straße entlang gefahren kommt.57

Sie selbst sind und bleiben von einer Teilhabe an diesem System ausgeschlossen, das sich ihnen als hermetischer Fachdiskurs zu alltagsfernen Themen auch dann noch zeigt, wenn er sich an Details ihrer eigenen Häuser entzündet.58 Ihre Rolle bei Besuchen von Architektengruppen erinnert an die Gleichzeitigkeit von Abhängigkeit und Ausgeschlossenheit des Krankenhauspatienten bei der Visite, der während der Diskussion der sein Bett umstehenden Ärzte über den Genesungsfortschritt seines gebrechlichen Körpers an deren Lippen hängt, ohne doch aus dem Sinn ihrer Worte eine Folgerung für sein Weiterleben ziehen oder die Ahnung einer vor ihm versteckten Kritik bestätigen zu können. Trotzdem können Beziehungen zwischen Bauherren und ihren Architekten lebenslang währen. In solchen, heute seltenen Idealfällen, die Rambow für die 51 In seiner Führung durch das umgebaute und erweiterte Schulhaus in Thal charakterisiert Ernst Wirthensohn die Architektenleistung darin, sich im ehemals labyrinthisch verwinkelten Bestand einen Überblick zu verschaffen, neu zu erschließen, zu entrümpeln, Licht hereinzulassen.Voraussetzung hierfür ist das Zurücktreten und Aus-der-Ferne-Betrachten, das Architektenplanung immer ist. Und daß solche Planung (den „Entwurf“) unterscheidet vom Reparieren, Flicken und Herumbasteln, mit dem Wirthensohn den Bautrupp der örtlichen Handwerker charakterisiert. (EW 2: Z 171 ff) 52 Etwa, daß man ins Grüne „auch wirklich einen direkten Zugang hat.“ (ALE: Z 542 f) 53 Andere Bauherrenklagen finden sich im Gespräch mit Ernst Wirthensohn über einen ständig klemmenden Schiebeladen sowie bei Peter Nußbaumer: „Ich

habe ein Haus zuhause, (...) Tiroler Baustil, das hat auch ein Architekt geplant, aus dem Walsertal. Ein Riesenbalkon, 36 Laufmeter. Ich habe jedem gesagt, du kannst von mir sofort 30 Laufmeter Balkon kaufen, das Geländer brauch ich nicht. Aber: Baustil siebziger Jahre.“ (PN: Z 491 ff) 54 ALE: Z 885 ff 55 „Wir haben nur die Zimmer innen festgelegt. Was wir für Zimmer haben wollen. Wie die Anordnung der Zimmer ist, oder wie das Haus ausschaut, das war Architektensache.“ (ALE: Z 400 ff) Das „Aussehen“ des Hauses scheint AE so wenig zu interessieren, daß er den Architekten beauftragt, obwohl ihm dessen bisher realisierte Häuser äußerlich nicht gefallen. Die Rolle des „Abweichlers“, in die ihn sein Haus versetzt, ist Thema des Abschnitts „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus.

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historische Architektur noch als Normalfall darstellt59, kann der Architekt im Leben des Bauherrn eine vergleichbare Vertrauensstellung einnehmen wie ein Hausarzt, ein Schneider oder ein anderer eng mit den Bedürfnissen des Alltags verbundener Handwerker. Eine solche Beziehung bestand zwischen dem evangelischen Pfarrer der Bregenzer Gemeinde und dem Architekten Hans Purin. Der Bauherr des Pfarrhauses auf dem Ölrain gab nach einer beruflichen Versetzung in das Nachbarland Liechtenstein bei seiner Rückkehr nach Vorarlberg seinen Alterssitz bei Purin in Auftrag: „Wie er dann in die Pension ist, hat er (...) ein Haus gekauft, das war ein Bau aus den fünfziger Jahren (...) und das haben wir dann total umgebaut.“60 Architektur erscheint aus der Perspektive solcher Bauherren als Lebensfunktion, als flexible Hülle ähnlich der Kleidung, in die das Leben in seinen verschiedenen Phasen eingebettet ist. Für den Architekten ist der Bauherr die zentrale Figur im Bauprozeß des Hauses, als dessen Sachwalter und Vertrauter er auftritt. Der Auftrag des Bauherrn markiert für ihn eine spezifische Phase in seinem beruflichen Leben, womöglich eine prägnante Stufe in der Entwicklung seiner Selbständigkeit, wie Architekt Gerhard Gruber über einen Bauherrn berichtet. „Der (...) ist für mich dann, wie ich dann selbständig geworden bin, der wichtigste Auftragsvermittler geworden. (...) Und ich hätte wirtschaftlich mit meinem Büro nicht Fuß fassen können ohne ihn.“61

Beziehungen zwischen Architekten und Bauherren

Die andere wesentliche Beziehung des Architekten ist die zu seinem Werk, dem Haus. Sie überdauert in vielen Fällen noch seine Beziehung zu dessen Bauherr. Das Haus steht ihm im Regelfall näher als seine Bewohner, es genießt seinen besonderen Schutz, gelegentlich sogar gegenüber dem Bauherrn selbst, erst recht gegenüber etwaigen Zweitbewohnern.62 Architektur stellt sich so als das Stiften einer Dreierbeziehung dar: einer Beziehung zwischen dem Bauherrn und seinem Haus, für welche der Architekt eine Schutz- und Patenfunktion übernimmt. Diese Rolle des Architekten als „Pate“ des Hauses

Beziehung des Architekten zu seinem Werk

56 ALE: Z 326 ff 57 ALE: Z 580 ff Auch Ernst Wirthensohn berichtet von Busladungen voller Besucher. (EW 1: Z 505 ff) 58 „Die Idee war, ringsum eine weiße Hülle, und alles andere ist Holz. Das hat die Sache ziemlich verteuert, aber es ist ganz gut geworden. Das hat [einem Fachbesucher] irgendwie nicht so gefallen (die geteilten Stützen). Ich kenne mich konstruktiv nicht so gut aus.“ (EW2: Z 1441 ff) Wirthensohn referiert hier über die Architektur seines Hauses und verwendet typische Begriffe des Architektendiskurses, wie „weiße Hülle“. Sein Haus ist also nicht etwa ein „Stadel“, sondern verfügt über ein konstruktives Konzept, das außer Tragwerk gleichzeitig „Bild“ ist, was sich darin zeigt, daß der fachlich vorgebildete Besucher sofort darauf reagiert

und Stellung nimmt. Wirthensohn selbst drückt hier deutlich seine Distanz und Ausgeschlossenheit aus. Die Idee seines Architekten habe (unverhältnismäßig) viel Geld gekostet, eine Beurteilung des Ergebnisses und damit auch der Kritik seines Besuchers daran ist ihm jedoch nicht möglich. Vgl. auch die getrennte Betrachtung von Konzept und Materialisierung als typisches Merkmal der fachlich geschulten Wahrnehmung eines Architekten. So etwa in: HP: Z 466 ff 59 Vgl. Abschnitt Architektur als Kunst dieses Kapitels, Anm. 66 60 HP: Z 112 ff 61 GG: Z 241 ff 62 HP: Z 144 ff 63 GW: Z 20 ff 64 GW: Z 1373 ff

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Architektur?

ist empfindlich gestört, sobald andere Architekten beginnen, sich des Hauses zu bemächtigen. Jäh endet in diesem Moment die vom ursprünglichen Architekten mit dem Entwurf begonnene Begleitung des Lebensweges „seines“ Hauses. In den Äußerungen Wratzfelds zu der umbaubedingten Störung seiner Beziehung zu dem Haus in Watzenegg63, auf die er im Gespräch mehrfach eingeht, kommt die Verbundenheit mit seinem Erstlingswerk erst eigentlich zum Vorschein. „Ich steh zu dem Haus, aber ich hatte jetzt keine Möglichkeit, das Haus in dem Sinn weiterzuentwickeln, wenns auch andere Ideen gegeben hat.“64 Eine zweite Form des „Besitzes“, neben dem Besitz der Substanz des Hauses, die der Bauherr innehat, scheint hier auf: das „geistige Eigentum“ des Architekten an der Idee des Hauses, seinem Entwurf.65 In wessen Auftrag handelt der Architekt also wirklich? Betrachtet man die Beziehung zu seinem Werk, scheint es, zuvörderst dem von Architektur. Was aber heißt das für die Verfaßtheit von Architektur? Daß sie ein soziales System bildet, das seinen Vertretern, den Architekten, eine bestimmte Weise vorgibt, mit der Welt als Siedlungsraum umzugehen. Wenn das „sich untertan machen“ der Welt in der biblischen Schöpfungsgeschichte als Menschheitsauftrag anerkannt wird, dann ist Architektur eine Anleitung zum Menschsein selbst, eine kulturell gebundene Weise, diesem „Auftrag“ nachzukommen. Das zweite Leben der Häuser in den Zeitschriften

Wratzfeld findet, als er eine Veröffentlichung seines Hauses in Watzenegg sucht, in derselben Zeitschrift die Abbildung eines Hauses von Roland Rainer, seinem ehemaligen Professor, das in mancher Hinsicht Vorbild für seinen eigenen Entwurf gewesen sein mag.66 Architekturzeitschriften bieten den Häusern und ihren Architekten ein zweites Leben, eine Parallelexistenz zur materiellen Welt. Hier finden sie Nachbarschaften und Referenzen, hier: Schülerhaus und Meisterhaus, die mit den tatsächlichen räumlichen Verhältnissen nichts, dafür um so mehr mit den geistigen Verwandtschaften, Beziehungen und Beweggründen innerhalb des „Systems Architektur“ zu tun haben. Wo die realen Objekte von ihren Besitzern oder von anderen Architekten verändert werden und die ursprüngliche Idee dadurch verschwindet, konservieren Fotos und ihre Veröffentlichung in Zeitschriften und Büchern die ursprünglichen Formen. Sie sind die Bibliothek, das Archiv für die geistige Substanz des „Systems Architektur“, als solches gekennzeichnet auch durch die Exklusivität seiner Zugänglichkeit.67

65 In unserem Rechtssystem ist dieser Umstand im Begriff des (unveräußerlichen) Urheberrechts erfaßt. 66 GW: Z 626 ff 67 Daniel Walser stellt fest, daß dieses Archiv und seine Repräsentationsfunktion wiederum auf Architektur zurückwirkt: „Für ein erfolgreiches Architek-

turbüro ist es überlebenswichtig, daß seine Bauten regelmäßig publiziert werden. (...) Hierfür werden Gebäude auf bestimmte formale Reize und Ansichten hin entworfen, um auch sicher publiziert zu werden. (...) In der Auslassung, im Nicht - Publizieren eines Werkes liegt die eigentliche Kritik.“ Walser, S. 122

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2.1 Land und Ländle Konzentrische Kreise, die sich über die Kontur Europas hinweg von einem Punkt ausbreiten, der als Landesfläche Vorarlbergs erkennbar ist, markieren sowohl am Beginn einer mehrbändigen Landes- und Volkskunde Vorarlbergs von 19611 als auch 2003, im Katalog einer international repräsentierenden Ausstellung Zeitgenössischer Architektur des Landes2, den geographischen Ort, an dem Vorarlberg liegt.3 Indem wir beide Darstellungen jeweils als charakteristisch für den Darstellenden auffassen, können wir in diesem Abschnitt sowohl einige Anhaltspunkte zur Identitätskonstruktion geben, wie sie Volkskundler und Landeshistoriker Vorarlbergs erzeugt haben, als auch unseren Forschungsgegenstand Architektur in seinen territorialen Konnotationen zu untersuchen beginnen. Ebenso wie jene Darstellung einmal nach innen, als zentrierendes Identitätssymbol, einmal nach außen, als ausstrahlende landmark, eingesetzt wird, kann der territoriale Fokus in einem Mikro- ebenso wie in einem Makromaßstab zur Untersuchung von Architektur dienen. Beides soll in den folgenden Kapiteln unternommen werden. Dabei steht der Mikromaßstab für die sozialen Binnenterritorien der Gesellschaft, zu deren Abgrenzung Architektur eingesetzt wird4, der Makromaßstab für die Markierung eines Landes als Standort einer globalisierten Wirtschaft und damit als Ökonomisierung von Landschaft mittels architektonischer Ästhetisierung.5

„Im Zentrum Europas“

Um verständlich zu machen, in welchen landesspezifischen Kontexten Architektur in Vorarlberg diskutiert und eingesetzt wird, stellt der erste Abschnitt dieses Kapitels exemplarisch drei Großräume des Landes vor, denen jeweils charakteristische sozioökonomische Themen zugeordnet sind.

Vorarlberger Architekturlandschaften

1 Ilg, Bd. 1, S. 14; Bildunterschrift: „Karte 1: Vorarlbergs verkehrsgeographische Lage“ 2 Kapfinger (2003), S. 115, ebd. (S. 114) auch die Angabe „Lage: Im Zentrum Europas“ 3 Auch Barnay (2006), S. 5, beginnt den Text seines Vorarlberg-Leitfaden – Was Staatsbürgerschaftswerber

über unser Land wissen sollten mit dem Satz: „Auf einer Landkarte Europas liegt das Bundesland Vorarlberg ziemlich genau in der Mitte.“ 4 Vgl. Abschnitt Ein anderes Haus, Kapitel Haus 5 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf

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Im Montafon stehen die Protagonisten Zeitgenössischer Architektur dem Tourismusgewerbe, das die Talschaft prägt, und deren Vertretern gegenüber. Eine historische Hauslandschaft, deren tragende, agrarisch strukturierte Gesellschaft mittlerweile ihre Gestaltungsmacht eingebüßt hat6, sowie ein hochentwickeltes Holzhandwerk, das sich spätestens seit dem EU-Beitritt Österreichs auf internationalem Parkett etabliert7, gibt dem Auftritt Zeitgenössischer Architektur im Bregenzerwald sein regionales Thema. Das Vorarlberger Rheintal als dritte Architekturlandschaft steht für die Prägung des Landes durch seine frühe Industrialisierung ebenso wie durch Einwanderungswellen, die in deren Gefolge8 im Lauf des neunzehnten und durch die Bevölkerungspolitik der faschistischen Regime des zwanzigsten Jahrhunderts das Land erreichten. Der zweite Abschnitt dieses Kapitels stellt dar, daß zumindest die Einwanderung der Südtiroler während des Nationalsozialismus in der Architektur des Landes prägende Spuren hinterlassen hat. Der dritte Abschnitt wird sich mit dem Zusammenhang zwischen Kulturdokumentation und der Entwicklung des Landes auf sozialer ebenso wie auf wirtschaftlicher Ebene befassen. Architekturgeschichte ist für dieses Kapitel ein zentraler Begriff. Er steht zunächst für eine landesspezifische Gegebenheit, den Bestand moderner ebenso wie traditioneller Architekturen bzw. baulicher Zeugnisse anonymer Baukultur, den die Zeitgenössische Architekturszene Vorarlbergs im Land vorfindet. Neben einer Rekapitulation des architekturhistorischen Forschungsstandes, die der Orientierung im Forschungsfeld dient, ist im Rahmen der wissenssoziologischen Fragestellungen, die die vorliegende Studie bewegen, 6 Vgl. Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 7 Vgl. Reform des Handwerks: Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk 8 Barnay (2006), S. 9 9 Amt der Vorarlberger Landesregierung (2008),S. 6 10 „In Vorarlberg befindet sich heute innerhalb Österreichs der einzige alemannische Volksteil. Dieser nimmt 3,6 Prozent der gesamten Bevölkerung Österreichs ein. Durch die geomorphologische Offenheit des Landes hat sich eine enge Verflechtung dieses alemannischen Volkstums über die Grenzen hinweg nach der Schweiz, Liechtenstein und in den süddeutschen Raum erhalten. Gleiche Abstammung, gleiche Sprache und Kultur haben über die Grenzen hinweg einen geschlossenen Kulturraum um den Bodensee entstehen lassen, der in kirchlicher Hinsicht durch Jahrhunderte hindurch bis zum Wiener Kongreß in der Zugehörigkeit Vorarlbergs zu den drei Diözesen Chur, Konstanz und Augsburg seinen Ausdruck fand.“ Es folgt eine Gegenüberstellung der einheimischen Alemannen und ihrer sprichwörtlichen Liebe zu Ordnung und Sauberkeit mit der „übermäßige[n] Zu-

wanderung von Ausländern, insbesondere Jugoslawen und Türken“. Eisterer (1978) in der Vorarlberger Lehrerzeitung, S. 10 Die beständige Erneuerung dieser Behauptung eines „lebendigen“ Vorarlberger Alemannentums und seiner Verknüpfung mit spezifischen Tugenden reicht bis in jüngste Zeit und in wissenschaftliche Eliten hinein. So spricht z.B. Otto Kapfinger in einer öffentlichen Podiumsdiskussion vom „schaffe schaffe“, um damit eine die Bevölkerung des Landes kennzeichnende Aufgeräumtheit der Interieurs und den Fleiß ihrer Bewohner zu charakterisieren. (Eigene Bandaufnahme und Transkript der Podiumsdiskussion Psychogramm des Bauens: Rudolf Sagmeister (Mod.), Hugo Dworzak, Hans Haid, Otto Kapfinger, Bernhard Tschofen, am 08.03.2005 im Kunsthaus Bregenz) Kapfingers hier zitierte Äußerung repräsentiert sein durchgängiges Interpretationsmuster, das Vorarlberger Architekturphänomen mit alemannischen Stammeseigenschaften zu verknüpfen. Vgl. auch Anm. 39 im Abschnitt Baukünstler dieses Kapitels.

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ebendieser Forschungsstand auf seine Produktionsbedingungen hin zu untersuchen und damit das Augenmerk auf den Vorgang wissenschaftlicher Theoriebildung durch Architekturhistoriker zu richten. „Theorie“ meint darin vor allem, daß Bauten qualitativ bewertet und katalogisiert werden und daraus ein Kanon gebildet wird, der zunächst zentraler Bestandteil der Architektenausbildung ist, anschließend als Bewertungsmaßstab an die Architektenarbeit angelegt wird und schließlich zur Unterscheidung zwischen Architektur und Nichtarchitektur dient. Der Architekturhistoriker, Erzeuger dieses Kanons, ist damit als zentraler Akteur zu betrachten, der maßgeblich mitbestimmt, was in einer Gesellschaft legitimerweise als Architektur gelten und wer als Architekt Ansehen beanspruchen darf. Die Darstellung des Vorarlberger Selbstbilds, wie es die Historiker und Geographen des Landes zeichnen, zeigt einen kleinen Landesteil mit gegenwärtig 367.000 Einwohnern9 im äußersten Westen Österreichs, fernab der Hauptstadt Wien an dessen Ostgrenze, dem seine Zugehörigkeit zum alemannischen Sprachraum10, mithin das Argument, innerhalb Österreichs eine kulturelle Minderheit zu bilden, zur zentralen Identitätsfrage geworden ist. Der vitale Konflikt aus emotionaler Abgrenzung vom gegenwärtigen Staatsgebilde und Zugehörigkeitswunsch zu Kulturräumen jenseits seiner Grenzen findet im offiziell vertretenen Bekenntnis des Landes zu seiner Mundart11 seinen äußeren Ausdruck und färbt selbst die Interpretation so objektiv erscheinender Gegenstände wie der Geographie und Geologie des Landes. Im Unterschied zu den sprachlichen Enklaven anderer Länder, deren politisches Bestreben den Wunsch nach Kontraktion auf eine Eigenständigkeit ausdrückt, ist die Identitätskonstruktion Vorarlbergs davon geprägt, sich den Sprachverwandten jenseits der das Land umgebenden nationalen Grenzen12, vor allem den Schweizern, weniger den „Alemannen“13 Südwestdeutschlands, anzuschließen und infolgedessen wegzustreben von Österreich.14 Dort, wo der Arlbergtunnel die technische Verbindung des Landes mit dem Bundesstaat herstellt, liegt die „emotionale“ Außengrenze Vorarlbergs15, an den politischen Trennstellen der Nationengrenzen entlang von Rhein und Bodensee dagegen liegt die gefühlte Nähe, die Brücke zu den „Verwandten“ am anderen Ufer der Gewässer. 11 So etwa in der Selbstdarstellung des Landes Vorarlberg kompakt (Stand 2008, S. 7), wie sie vom Amt der Vorarlberger Landesregierung herausgegeben wird. Auch Kapfinger (2003), S. 114, erwähnt dieses „Bekenntnis“ und verknüpft es durch seine Plazierung mit der international fokussierten medialen Präsentation der Zeitgenössischen Architektur des Landes. Einen Höhepunkt erlebte der politisch institutionalisierte Vorarlberger Konservatismus als ethnischsprachlicher Separatismus im nachträglich so bezeichneten „Alemannenerlaß“ des Landesamtsdirektors

Elmar Grabherr. In seinem landesamtlichen Rundschreiben vom 16.5.1961 sollte die Ausschreibung von Dienststellen des Landes von der „landsmannschaftlichen Herkunft“, belegt durch so „objektive Tatsachen“ wie „Abstammung“ und „Beherrschung der Mundart“, abhängig gemacht werden. Barnay (1998), Anm. 49 12 Barnay (2006): „Die Vorarlberger Mundart zählt zu den alemannischen Dialekten. Solche werden auch in der Schweiz und in Süddeutschland gesprochen.“ 13 Zum identitätsstiftenden „Alemannenmythos“ Vorarlbergs vgl. Bundschuh.

Landesidentität als Konstrukt

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Dieses die Emotionen leitende Gefälle, das am Arlberg seinen Hoch- und an Rhein und Bodensee seinen Tief- und Zielpunkt hat, das im nordwestwärts geneigten Landschaftsrelief seine Entsprechung und in der geologischen Zugehörigkeit Vorarlbergs zur helvetischen Platte eine Bestätigung seiner Naturgegebenheit sucht, bildete bis in die 1980er Jahre das unwidersprochene Referenzgerüst dessen, was Werner Bundschuh die „offizielle Landesgeschichtsschreibung“16 nennt. Diese setzt vor allem auf die bodenständigen Identitäten der Talschaften, um darin lebendige Spuren der Besiedlungswellen von Alemannen und (ebenfalls alemannischen) Walsern zu beschreiben und zu betonen. Dasselbe Gefälle bestimmt auch diejenigen, die ihm entgegenarbeiten.17 Dazu gehört sowohl eine junge Historikergeneration im Umfeld der 1982 gegründeten Johann-August-Malin-Gesellschaft 18, die die bis heute wirksamen Effekte19 der „Erfindung des Vorarlbergers“20 ihrer Väter und Vorväter zu dekonstruieren bestrebt ist, als auch die Industriearchäologen und Wirtschaftsgeschichtler21 des Landes. Seine bis heute wirksame wirtschaftliche und soziale Prägung erfährt Vorarlberg im neunzehnten Jahrhundert durch die – im österreichischen Vergleich – frühe und intensive Industrialisierung, welche fast ausschließlich durch die Textilproduktion erfolgt. Beide Grenzen, die nationale zur Schweiz und die geographische am Arlberg, manifestieren sich in dieser Modernisierungsphase des Landes auf jeweils eigene Weise. Die mehrheitlich in der benachbarten Schweiz ansässigen Fabrikanten nutzen Vorarlberg als Produktionsstandort 14 Barnay (1998) rekonstruiert diese politische Geschichte Vorarlbergs als Beitrag des Bundeslandes zum Föderalismus der Zweiten Österreichischen Republik und analysiert die zugrundeliegenden Geschichtsbilder und politisch instrumentierten Identitätskonstruktionen. Der aktuelle Zielpunkt dieser Suche nach einem identitätsgerechten „Ort“ des Landes ist die „Euregio Bodensee“. Daß dieser derzeit noch nicht politisch konstituierte, länderübergreifende Zusammenschluß einen Austritt Vorarlbergs aus dem „Viererlandtag“, der eine Gemeinsamkeit mit Tirol und den italienischen Regionen Südtirol und Trentino suchte, nach sich zog (vgl. Barnay [1998], Anm. 79), verlängert ebenjenes Wegstreben Vorarlbergs von Österreich zugunsten eines Zusammenschlusses mit den „alemannischen“ Regionen der Schweiz und Deutschlands in die Gegenwart. Eine deutsche Perspektive des historischen und gegenwärtigen „Alemannischen Separatismus“ gibt www.wikipedia.org (Stand 16.10.2008) 15 „Vorarlberg ist vom übrigen Österreich durch hohe Gebirge getrennt und öffnet sich (...) zu den Anrainerstaaten BRD, Schweiz und Liechtenstein. Mit diesen Nachbarn verbinden Vorarlberg 23 Straßen und drei Eisenbahnen, während durch das nur schwer zu erschließende Arlberggebiet nur drei Straßen und eine Eisenbahnlinie führen.“ Eisterer (1978), S. 10

16 Bundschuh, S. 14. Ebd. bietet der Autor auch eine Darstellung des „Vorarlberger Historikerstreits“ von 1986, der seinen Höhepunkt in einer (Barnay [1998] zufolge als redaktionelle Anmerkung veröffentlichten) Aufforderung des damaligen Chefredakteurs der Vorarlberger Nachrichten (VN), Franz Ortner, an die Landesregierung fand, sie möge Landesarchivar Karl Heinz Burmeister doch nahelegen, das Land zu verlassen. Den Anlaß dazu hatte Burmeisters Kritik am Geschichtsbild des „Landeshistorikers“ Benedikt Bilgeri in der ORF-Mittagslandesrundschau vom 22. 11. 1986 gegeben. Vgl. Barnay (1998), Anm. 69 17 Vgl. Abschnitt Bauernhaus im Kapitel Haus 18 Zur Gründungsgeschichte und gesellschaftlichen Einbettung der Johann-August-Malin-Gesellschaft vgl. Barnay (1998). 19 Für die Gegenwart gibt etwa die neu zu konzipierende Präsentation der Landesgeschichte im Neubau des Vorarlberger Landesmuseums Bregenz Anlaß zu solchen Auseinandersetzungen. Vgl. Barnay (2009/1 und 2009/2) 20 So der Titel von Barnays Standardwerk (1988). 21 An erster Stelle ist Christoph Bertsch, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck, zu nennen, der sich intensiv für die Erforschung und den Schutz des baulichen Erbes der Industrialisierung Vorarlbergs im neunzehnten Jahrhunderts einsetzt.

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und betreiben zeitweilig mehr Webstühle und Stickereimaschinen im Vorarlberger Rheintal als in der Schweiz selbst. Das Lohnniveau und die günstigen Betriebsbedingungen mögen hierfür maßgeblich sein, mehr aber noch die Verkehrsverbindung am Arlberg, der Umstand also, daß Vorarlberg als sein äußerster westlicher Ausläufer den riesigen Binnenmarkt des k. u. k. Reiches repräsentiert und erschließt. Am Ende des Ersten Weltkriegs bleibt von Österreich, das sich bis zum Friedensvertrag von St.-Germain als „Deutschösterreich“ konstituiert, nur noch ein Rumpfland mit zweifelhafter Überlebenskraft und manifester Auflösungstendenz. Die meisten österreichischen Bundesländer streben eine Abspaltung von Österreich und Anschluß an die jeweils angrenzenden Staaten an. Auch in Vorarlberg bildet sich 1918 eine politische Initiative, die den Anschluß des Landes an die Schweiz anstrebt und den Landtag zu einer diesbezüglichen Volksabstimmung veranlaßt, die am 11. Mai 1919 stattfindet.22 Ihr Ergebnis ist mit 80% Zustimmung überwältigend und nötigt die Schweiz zu einer Stellungnahme, die gegen eine Aufnahme Vorarlbergs ausfällt. Zurückhaltung gegenüber den Siegermächten des Weltkriegs, die Aufrechterhaltung des konfessionellen und sprachlichen Proporzes der Kantone, auch wirtschaftliche Erwägungen sind letztlich ausschlaggebende Kriterien.23 Nachdem der Friedensvertrag von St.-Germain 1919 Österreichs Vereinigung mit dem Deutschen Reich verhindert und gleichzeitig die Voraussetzungen zu einer politischen Stabilisierung einer „Republik Österreich“ schafft, erhält Vorarlberg, bis dahin gemeinsam mit Tirol verwaltet, zum ersten Mal in seiner politischen Geschichte die Selbstverwaltung als Bundesland.24

Politische Eigenständigkeit als Bundesland

Der geographische Tiefpunkt des Landschaftsreliefs Vorarlbergs ist die Mündung des Rheins in den Bodensee bei Gaissau mit 396 m über Meereshöhe. Der Rhein markiert nicht nur streckenweise die Grenze Vorarlbergs zur Schweiz, sondern bildet auch diejenige prägnante Zäsur der Alpenkette, die den Geographen zur Grenzziehung zwischen Ost- und Westalpen dient. Sein breites Tal vom Bodensee bis zur Stadt Feldkirch, verlängert um das Walgau, dem Tal am Unterlauf der Ill, die in Feldkirch in den Rhein mündet, bietet den einzigen großflächig ebenen Boden des Landes. Mit Ausnahme von Lech und der Breitach des Kleinwalsertals fließen sämtliche Flüsse Vorarlbergs dem Rhein und Bodensee, damit der Nordsee zu.25 Die Allgäuer und Lechtaler Alpen, die Vorarlberg im Osten gegen Bayern und Tirol abgrenzen, wirken als prägnante Wasserscheide, jenseits derer das Einzugsgebiet der Donau beginnt.

Topographie

22 Vgl. Dreier / Pichler (1989) und Natter (2009) 23 Wirthensohn berichtet von der kriegsbedingten Auflösung gewachsener Handelsbeziehungen zur Schweiz und zu Frankreich, unter der das Stickerei-

gewerbe im Vorderen Bregenzerwald zu leiden hatte. Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 24 Barnay (2006), S. 7 25 Eisterer (1978), S. 9

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Soziogeographie

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Östlich des Rheingrabens steigt eine Schichtung aus Gletschergeschiebe, Nagelfluh, Molasse und Flysch auf, die im Nordosten Vorarlbergs die Vorgebirgslandschaft des Vorderen Bregenzerwaldes formt. Mit der Kanisfluh als erstem Kalkrücken geht diese in die schrofferen Rippen des Hinteren Bregenzerwaldes über. Der Bregenzerwald ist das Einzugsgebiet der Bregenzerach, die zwischen Bregenz und Hard in den Bodensee mündet. Südlich des Bregenzerwaldes schließen sich, durch Kalksteinkämme getrennt, die ost-westlich verlaufenden Täler von Frutz, Lutz und Afflenz an, das Laternser-, Großwalser- und Klostertal. Im äußersten Süden des Landes, gebildet vom Oberlauf der Ill mit seinen Seitentälern, östlich vom Verwall begrenzt, im Südwesten überragt durch die aus kristallinem Gestein gebildete Silvrettagruppe, deren südliche Flanke bereits auf schweizerisches Staatsgebiet des Kantons Graubünden abfällt, liegt das Montafon. Die geographische Gliederung des Landes in die Rheinebene einerseits und die Bergtäler andererseits bietet der Besiedlung des Landes, seiner wirtschaftlichen Nutzung und sozialen Entwicklung Räume mit jeweils unterschiedlichen Bedingungen, die sich unter anderem in spezifischen Bautraditionen manifestieren. Der Begriff der Talschaft 26, der die durch historische Kolonisierungskampagnen entstandene, ortsspezifische Kultur der Bevölkerung eines Talraumes und ebenso deren privilegierte Rechtsstellung bezeichnet, bildet den wichtigsten Bestandteil einer Zusammenschau von geographischen, wirtschaftlichen und sozialen Kulturvoraussetzungen, unter der hier, auf die Gegenwart bezogen, drei prägnant unterscheidbare landschaftliche Großräume als exemplarische Vorarlberger Architekturlandschaften herausgegriffen werden: das Rheintal, der Bregenzerwald und, hier die Reihe eröffnend, das Montafon. Im Hinblick auf die zeitgenössische Architekturentwicklung des Landes erscheinen vor allem die jeweiligen Wirkungen von Modernisierungswellen bedeutsam und weniger die „lebendigen Traditionen“, die für die populäre Geschichtsschreibung des Landes im Vordergrund stehen.

26 „Als Talschaften werden ländliche Verbände in Gebirgsgegenden mit kommunal ausgeprägter Verfassung bezeichnet. (...) Die Ursprünge der Talschaften sind unterschiedlich. Viele entstanden aufgrund herrschaftlicher Verwaltungsstrukturen (...). ,Tal‘ wird hier nicht selten als Korrelat zu ,Burg‘ (,Burg und Tal‘) genannt. Bisweilen ist ein gemeinsames materielles Substrat, etwa die Mutterkirche oder die Allmend, der Ursprung einer Talschaft (...). Das den Walsern gewährte Recht zur Kolonisierung liess ebenfalls Talschaften entstehen (...). Eingriffe des dt. Kaisers, meist im Zusammenhang mit der Passpolitik, konnten eine Talschaft begründen oder fördern (...). Die Talschaften entwickelten kommunale Verfassungsstrukturen (...) mit Talgemeindeversammlungen und Vorgesetzten für das Verwaltungs- und Gerichts-

wesen. Sie verfügten über wesentliche Hoheitsrechte, die in Statuten und in Talbüchern festgeschrieben wurden...“ (Hans Stadler: Talschaft; in: Historisches Lexikon der Schweiz, Online-Ausgabe www.hlsdss.ch, Stand 24. 10. 2008) 27 Mit Dank an Bernhard Breuer für die Unterstützung bei der Unterscheidung von Gemeinden und Dörfern des Montafon am 01. 07.2010. 28 Der Begriff „Stand Montafon“ geht zurück ins Mittelalter, in die Zeit der Vorarlberger Landstände. Die Einrichtung eines „Standesrepräsentanten“ im Anschluß an die bayerische Herrschaft (1806- 1814) zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten, Forstsachen, Straßen- und Brückenbauten, Weg- und Wuhrbauten, hat sich unter den Vorarlberger Talschaften bis heute nur mehr im Montafon erhalten. Maßgebend dafür wa-

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Die zehn Montafoner Gemeinden, gereiht nach dem Talverlauf von Bludenz kommend, Stallehr, Lorüns, St. Anton i. M., Vandans, Bartholomäberg, Tschagguns, Schruns, Silbertal, St. Gallenkirch und Gaschurn27, nicht nur als historische Verwaltungseinheit Stand Montafon28, sondern bis heute als Gerichtsbezirk Schruns abgegrenzt, gruppieren sich im weiträumigen Haupttal beidseits des Oberlaufs der Ill in einer Höhenlage zwischen 650 und 1400 m und bilden zusammen etwa ein Sechstel der Landesfläche an dessen Südspitze. In die Talverengung an dessen Zugang zwängt sich neben Fluß und Straße auch die Montafonerbahn, die bis zum Hauptort Schruns reicht. Das Tourismusgewerbe bildet das wirtschaftliche Rückgrat des Tales29 und prägt mit seinen Hotels und Ferienwohnungen das bauliche Gesamtbild. Friedrich Achleitner handelt die touristisch geprägten Bautenkategorien Vorarlbergs und damit den spezifischen Beitrag des Montafon als Vorarlberger Architekturlandschaft mit einem kurzen Satz ab: „Es mag überraschen, daß es in einem Land des Fremdenverkehrs (oder vielleicht deshalb?) so wenige interessante Hotelbauten gibt“ 30 und nennt in seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert kein einziges Bauwerk dieser Gattung im Montafon. Die zeitlich an „den Achleitner“ anschließende Architekturchronik Kapfingers veröffentlicht immerhin das Silvrettahaus auf der Bielerhöhe31, hoch über den Tallagen des Montafon, weit abseits von den zusammenhängend bebauten Siedlungsgebieten gelegen.32 Für das Montafon untypisch erscheint nicht nur dessen Lage, sondern auch die Bauherrschaft, die Vorarlberger Illwerke, die den Hotelbau als Stützpunkt für ihre Belegschaft mitnutzen. Das Montafon stellt sich somit auf der Quellenbasis der offiziellen Architekturregister Vorarlbergs als Leerstelle dar. Seine Aufnahme unter die drei Architekturlandschaften des Landes erscheint bereits aus diesem Grund gerechtfertigt, als Hinweis darauf, daß im „Architekturland Vorarlberg“ Architektur keineswegs so „allgegenwärtig“ ist, wie die mediale Repräsentation des Landes dies suggeriert.33 Dem Negativkriterium „Architekturvakuum“, mittlerweile als drohender Anschlußverlust der Talschaft an den globalen ren sicher die relative Abgeschlossenheit der Talschaft und die ständigen Auseinandersetzungen mit der Stadt Bludenz im Bemühen um den eigenen Markt und das eigene Gericht. Das entscheidende Moment war aber wohl der Erwerb des staatlichen Waldbesitzes im Jahr 1832, der die gemeinschaftliche Verwaltung und Nutzung der Waldungen bedingte. Vgl. Geschichte, in: www.stand-montafon.at, Stand 24.10.2008 29 40% der Arbeitsplätze des Tales liegen im Tourismussektor, überwiegend mit auswärtigen Saisonarbeitskräften besetzt. Vgl. Reichenbach-Klinke Schauer bezieht sich in seinem Artikel auf einen Rückgang der Buchungen: „Allein in der Wintersaison 2004 / 2005 zählten die Montafoner im Vergleich zur Saison 2003 /2004 knapp siebenunddreißigtausend Übernachtungen weniger.“

30 Achleitner (1980), S. 400 31 Kapfinger (1999), 11/13 32 Silvrettahaus 1990–92; Architekten Much Untertrifaller sen. und jun. mit Gerhard Hörburger; veröffentlicht in Kapfinger (1998), S. 11/13, ausführlicher dokumentiert in: Zschokke (2001). In der Einladung zur Dietrich|Untertrifaller-Ausstellung im VAI Dornbirn 2010 wird das Gebäude als „Wende im Tourismusbau“ gewertet. 33 „Gleich nach der Grenze beginnt abrupt eine erstaunliche Allgegenwart von zeitgenössischen Bauten, die [den Reisenden] durch das ganze Land bis hinauf in die Berge begleiten“, schreibt etwa Robert Fabach in Architekturland Vorarlberg, einer Broschüre von Vorarlberg Tourismus, gemeinsam mit dem VAI herausgegeben (o.J.).

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Attraktivitätswettbewerb der Standortqualitäten etikettiert34, steht aus dem Blickwinkel der vorliegenden Studie ein Positivkriterium zur Seite, der exemplarische „Montafoner Architekturstreit“ von 2005, hervorgegangen aus einer Auseinandersetzung bauwilliger Hoteliers mit der Landesraumplanungsstelle als übergeordneter Urteilsinstanz für das „Orts- und Landschaftsbild“35. Der Begriff „Identität“ wurde in diesem Streit, der bis heute nachwirkt36, mit ihrer architektonischen Repräsentation verknüpft diskutiert und akademischer Architektur jene sozial spaltende Wirkungsweise zuerkannt, die bereits im Abschnitt Architektur als Kunst des Eingangskapitels thematisiert worden ist.37 Eng verwoben in diese als Angelegenheit des öffentlichen Interesses inszenierte, großteils in Gemeindesälen als Podiumsdiskussion stattfindende38 und von der regionalen wie überregionalen Presse gleichermaßen kommentierte39 Auseinandersetzung ist die Bezugnahme auf einen „traditionellen“ 34 Vgl. Gnaiger (2009/ 1) und Winkler (2010) 35 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 36 Implizit als Hintergrund der Auseinandersetzungen um den umstrittenen Entwurf für das Montafoner Heimatmuseum Schruns (vgl. Winkler, 2010), auch als Legitimation für eine architekturbezogene Bildungsmaßnahme des Montafoner Heimatschutzvereins, die Montafoner Architekturgespräche MONT.AG, die seit 2010 angeboten werden. 37 In überregionalen Feuilletons ebenso wie in den Fachzeitschriften des Architektenstandes wird eine architektonische Ästhetisierung von Tourismusbauten gegenwärtig verstärkt thematisiert. Ein Großteil der besprochenen Beispiele stammt aus dem Tourismusland Österreich und unterstreicht seinen Rang als Kultur- und damit Architekturland. Die journalistische Wahrnehmung der sozialen Wurzeln und Folgen des Phänomens ist durch zwei konträre Positionen bestimmt: Während die eine Kritikerfraktion vollständig mit den innerfachlichen Bewertungsmustern des Architektenstandes verschmilzt, moderne Architektur als universell „heilsam“ zu interpretieren und mit „Aufgeklärtheit“ gleichzusetzen, nimmt die andere Kritikerfraktion Distanz zu diesem akademikerzentrierten Standpunkt. Sie thematisiert aus größerem Abstand zum Gegenstand den hinter der architektonischen Ästhetisierung liegenden sozialen Wandel innerhalb der jeweils ortsspezifischen Touristenpopulation und identifiziert damit deren soziale Selbstpositionierung durch ästhetische Markierung ihres lifestyle. Zeitgenössische Architektur gehört aus dieser Perspektive zum Inventar einer „gebildeten“ Gesellschaftsschicht und damit zu deren Gefolge am jeweiligen Urlaubsort. Notwendig interpretieren beide Fraktionen die

wirtschaftlichen Auswirkungen des stilistischen Wandels der Touristenherbergen von rustikal zu modern konträr. Während die den Interessen der stake holders Zeitgenössischer Architektur zugeneigte Publizistenfraktion außer Frage stellt, daß avancierte Architektur „als Marketinginstrument im Tourismus für Erfolg sorgen kann“ (Matzig, 2009), beobachtet die sozialwissenschaftlich eingestellte Fraktion einen negativen ökonomischen Effekt: „Hoteldirektor Peter Heine vom Martinspark in Dornbirn erinnert an die ersten beiden, wirtschaftlich schwierigen Jahre des Hotels, weil die Gäste sich ,ganz einfach‘ mit der ungewöhnlichen Architektur des Hauses nicht anfreunden konnten. Das änderte sich erst, als das Marketing des Martinspark auf intellektuell geprägte Zielgruppen umschwenkte.“ (Schauer, 2005) Vgl. zum Thema Tourismusarchitektur auch Baumeister B6, Juni 2009 38 Neben der Lokalberichterstattung und den erregten Leserbriefauseinandersetzungen in den Vorarlberger Nachrichten (VN) (vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus, Anm. 19) vgl. auch Berger (2005 /1 und 2005 /2), Schauer (2005) und Winkler (2007). 39 So etwa das „Architektursymposium Montafon – Architektur, die ins Tal passt – Gibt es eine Zukunft für traditionelles Bauen im Montafon?“, 12. 05. 2005, im Festsaal Vitalquelle Gauenstein, Schruns. Die Bezugnahme auf eine „Urform unserer Region“, die im Einladungs-Flugblatt (Archiv des Autors) für eine erneuerte „traditionelle“ Bauform wirbt, wird gleichermaßen von den Befürwortern avanciert „moderner“ Architektur in Anspruch genommen, so etwa Winkler (2010, S. 40), den die in Sichtbeton geplante Fassade des umstrittenen HeimatmuseumsNeubaus am Schrunser Kirchplatz bereits im voraus „an rätoromanisches Mauerwerk erinnert“.

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Baustil, dessen Referenz die örtlichen Bauernhäuser bilden. Bedingt durch den Umstand, daß das bäuerliche Montafon bereits im neunzehnten Jahrhundert zu den ersten Sehnsuchtszielen eines städtischen, erholungssuchenden Bürgertums geworden war, somit innerhalb Vorarlbergs als prototypische Tourismusregion gelten darf, hat das „Montafonerhaus“40 neben seiner ursprünglichen bäuerlichen Nutzung bereits eine zweite und dritte „Karriere“ als vorbildgebender Typ nichtbäuerlichen ländlichen Bauens hinter sich. Stationen dieser Rolle als überregional wirksames bauliches Bildwerk sind die Gewerbeausstellung in Bregenz 1887, bei der ein neugebautes „Montafonerhaus“ die Ausstellung eines Parkettherstellers beherbergte,41 sowie seine Stellung in der Bauernhausforschung des Nationalsozialismus. Beide Aspekte, die Übertragung der ästhetischen Merkmale seiner durch eine Mischbauweise aus geputztem Mauerwerk und gedunkeltem Holzstrickbau gekennzeichneten und durch diesen Kontrast besonders „malerisch“ wirkenden Fassade auf das bei nichtbäuerlichen Dorfbewohnern des gesamten Alpenraums beliebte „Landhaus“42 und daneben seine Propagierung als Vorarlberger Beitrag zum „Alpenländischen Baugesicht“, das die nationalsozialistische Überlegenheitslehre zu stützen hatte43, sollen im Folgenden vertieft werden. Zunächst erscheint bemerkenswert, daß der Bezugnahme der Montafoner Hoteliers auf das „Montafonerhaus“, das innerhalb der Moderne ein inzwischen historisch gewordenes Vorbild landschaftsverbundenen Bauens im Alpenraum darstellt, bereits eine eigene Wahrnehmungstradition anhängt. Diese wiederum bildet die Grundlage für das bis zum Klischee abgenutzte und als solches für die jüngste Touristengeneration bereits selbst wieder „Pop“44 gewordene Medienbild45 der alpinen Natur- und Kulturlandschaft.46 Das Montafon vertritt unter den hier vorgestellten Vorarlberger Architekturlandschaften denjenigen Ort, an dem die Zeitgenössische Architektur des Landes als gesellschaftliche Konstruktion gegenwärtig zum offenen sozialen 40 „Der Hausbau im Montafon [läßt sich] von zwei Grundformen ableiten, nämlich vom rätoromanischen Steinhaus und vom reinen Walser Holzhaus. Charakteristisch für das eigentliche Montafoner Haus ist die Verbindung beider Formen in einer Stein-Holz-Mischbauweise.“ Lehrerarbeitskreis „Heimatkunde im Unterricht“; S. 459 41 „Auf der Vorarlberger Landesausstellung in Bregenz 1887 errichtete man ein gestricktes Montafoner Haus im alten Baustil und mit einer Einrichtung aus dem siebzehnten Jahrhundert.“ Sagmeister (1990), S. 35 So auch bei Peter Strasser, der in seinem Vorwort zu Haas (S. 7) weitere Beispiele für verpflanzte Bauernhäuser anführt. 42 Vgl. Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus 43 Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz 44 Unter den österreichischen Bundesländern setzt vor allem das Tourismusgewerbe Tirols auf eine Ver-

knüpfung von Rustikalität und Popkultur, eine Position, die der Architektenschaft Vorarlbergs erlaubt, demgegenüber die dezidiert „moderne“ Formensprache ihrer Bauten gleichzeitig als landesspezifische Eigenart zu konnotieren. In der „Überzeugungsarbeit“, die die stake holders Zeitgenössischer Architektur zugunsten einer architektonischen „Aufwertung“ von Tourismusbauten leisten, nehmen Vorarlberger Beispiele gewöhnlich den Rang von Vorbildern oder Vorreitern ein. Vgl. etwa den Schwerpunkt Tourismus in der Zeitschrift der Österreichischen Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, konstruktiv 274, Juli /August 2009, S. 32 ff 45 Vgl. Tschofen (1993 und 2004) 46 Zur Entwicklung einer dominanten gesellschaftlichen Wahrnehmung, die „Landschaft“ primär als „Bild“ rezipiert, vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus.

Montafonerhaus als Vorbild für alpine Rustikalität

Montafon als Prüfstand der Vorarlberger Architekturpolitik

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Konflikt führt. Die unterlegte Legitimitätskonstruktion wirkt innerhalb Vorarlbergs auch anderswo als Spaltkeil zwischen sozialen Schichten der einheimischen Bevölkerung.47 Thematisiert wird dieser Umstand gegenwärtig nur im Montafon, was die impliziten Kriterien der Qualitätsbeurteilung durch die Baugenehmigungsbehörden des Landes und damit seine Architekturpolitik48 erstmals seit den 1980er Jahren einer öffentlichen Kritik aussetzt.49 Im Gegensatz zu jener „revolutionären“ Phase, die mit dem Auftritt einer zweiten Generation der Vorarlberger Baukünstler einherging und die Baubehörden seinerzeit dem Vorwurf von Provinzialität und eines unzeitgemäßen ästhetischen Konservatismus aussetzte, steht diesmal eine mittlerweile ins dezidiert Modernistische gewendete Landespolitik auf dem Prüfstand der Sozialverträglichkeit und regionalen Akzeptanz.50 Bregenzerwald

Im Kontrast zur unübersehbaren Übernutzung zugunsten einer touristischen Verwertung, die den Dörfern und der Landschaft des Montafon ihren Stempel aufdrückt, könnte der Bregenzerwald dem ersten Eindruck nach als intakte bäuerlich-handwerklich geprägte Landschaft beschrieben werden, eine Charakterisierung, die sich nicht nur die Regionalplanungsgemeinschaft REGIO Bregenzerwald 51 zunutze macht und auf der Basis der Dreistufen-Weidewirtschaft der regionalen Milchbauern 2006 eine Bewerbung um den Schutz der Kulturlandschaft als Weltkulturerbe bei der UNESCO initiierte.52 Sie prägt auch die Dokumentationspraxis zur Zeitgenössischen Architektur, die für den

47 Vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus und Architektur im Dorf, Kapitel Dorf 48 Zu den Effekten dieser Architekturpolitik in der Gesetzgebung und Baurechtspraxis des Landes vgl. Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf. 49 Jedes Anzeichen öffentlicher Kritik an Zeitgenössischer Architektur innerhalb Vorarlbergs erregt auf überregionaler Ebene Aufmerksamkeit und wird als Revolution innerhalb einer gesellschaftlichen Situation interpretiert, die über Jahrzehnte durch die Hegemonie der Interessensvertreter Zeitgenössischer Architektur geprägt war. So etwa in Wojciech Czaya: Widerstand im Paradies – Bregenz ist ein Hot Spot zeitgenössischer Architektur. Kleines Manko: Die Bevölkerung hat scheinbar zu viel Einfluß. So verfalle ein Ort guten Bauens zu einem Unort polemischer Diskussionen, sagen Kritiker; Der Standard, 30.09.2008, S. 14 50 In seiner Wortmeldung zu Hans Purins Vortrag „Mit Wohnungen soll man keine Architektur machen“ (Wohnbauforum 2004) verdeutlicht Landesrat Manfred Rein, daß das Signal von den Politikern verstanden worden ist: „Wir stehen unter dem Druck, wie Sie das jetzt bezeichnen, der modernen Architektur, dieser modernen Holzkisten, dieser Liftstationen – oder im Montafon hat man mir gesagt, es seien ,Schwikista‘,

d.h. Schweinekisten. Und jetzt passiert etwas in einzelnen Talschaften, Frust zeigt sich, und vor allem begehren welche auf, hauptsächlich dort, wo Tourismus stattfindet. Der Tourist sucht die Identität dieser Talschaft, und plötzlich findet er diese Holzkisten und sieht die ganze Gegend ,verschandelt‘. Dann heißt es von der einen Seite: ,Das ist Architektur, und die Leute, die das nicht verstehen, sind alle von vorgestern, die wissen ja nicht, was Architektur ist.‘ Und da stellen sich für mich die Fragen: Wie groß ist die Freiheit, die beschränkte Freiheit, der Architektur? Wer beurteilt, was jetzt Kunst ist oder was schön ist und wo der Inhalt zählt? (...) Teilweise stelle ich fest, dass die Menschen in Gruppen geteilt und einfach in ein Eck gestellt werden. Man sagt: ,Ja, das sind genau die, die keine Ahnung haben, das sind die Vorgestrigen.‘ Und alle anderen sind die Modernen, die Aufgeschlossenen, die zukunftsweisend und -blickend sind.“ Purin, S. 16 51 „Die Regionalplanungsgemeinschaft Bregenzerwald wurde 1970 in Bezau mit dem Ziel gegründet, die übergemeindliche Zusammenarbeit in der Region in sämtlichen Belangen zu fördern.“ Republik Österreich: Einreichdokument Weltkulturerbe, S. 24 52 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz 53 Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus

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Bregenzerwald vor allem den engen Bezug zur historisch gewachsenen Bausubstanz der Bauernhäuser und die vorbildliche Einbettung des Neuen in den Bestand der Dörfer betont.53 Diese Studie nimmt die dichte Präsenz Zeitgenössischer Architektur im Bregenzerwald jedoch weniger als ästhetische Steigerung des durch die historischen Bauernhäuser geprägten Bildes der Kulturlandschaft und Bestätigung ihrer „Intaktheit“ denn als Indiz eines tiefgehenden Bruchs in der Tragfähigkeit der traditionellen wirtschaftlichen und kulturellen Säulen der ländlichen Gesellschaft. Die anläßlich der UNESCO-Bewerbung (das 250 Seiten umfassende Schriftstück wird im Folgenden Einreichdokument genannt) kürzlich neu aufgearbeitete und in ein breiteres Bewußtsein gehobene Geschichte des Bregenzerwaldes zeigt, daß dieser Bruch in der bäuerlich-handwerklichen Lebensform, für den der Auftritt der Zeitgenössischen Architektur in den 1980er Jahren ein Indiz bildet54, nur die jüngste einer langen Kette grundlegender wirtschaftlicher und politischer Wandlungen ist, denen die Bevölkerung des Bregenzerwaldes seit seiner Besiedlung im späten Mittelalter ausgesetzt war und die seine Landschaft fortgesetzt umprägten. Die vom Einreichdokument ausgeblendete, akute und flächendeckende Gefährdung der Bauernhäuser des Bregenzerwaldes55 könnte ein Hinweis darauf sein, daß dieser aktuelle Bruch der finale für seine agrarische Kulturlandschaft ist. Die vorliegende Studie richtet mit der Hälfte ihrer Fallbeispiele ein besonderes Augenmerk auf den Bregenzerwald. Gerade ihr Forschungsblickwinkel scheint geeignet, exemplarische Schwierigkeiten im Modernisierungsprozeß der Region und einige der angewandten Lösungsstrategien, unter denen der Einsatz Zeitgenössischer Architektur eine Vorrangstellung einnimmt, zu dokumentieren und in einem sozialwissenschaftlichen Reflexionsraum zu interpretieren. Die typischen „Strukturprobleme“ des Bregenzerwaldes, die großteils deckungsgleich sind mit denen anderer ländlicher Räume in den Alpen, wie Abwanderung der jungen Generation in städtische Räume, Abbau von Infrastruktur, Verfall der historischen Bausubstanz, Aufgabe landwirtschaftlich genutzter Flächen etc.56, führen in anderen Regionen des Alpenraums bereits zur Verödung ehemals intensiv genutzter Lebensräume.57

54 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus 55 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 56 Auch wenn die Gefährdung der Bausubstanz, der die Bregenzerwälder Bauernhäuser seit dem Verlust ihrer vitalen Funktion als Wohn- und Arbeitsstätte einer Agrargesellschaft ausgesetzt sind, im Einreichdokument nicht explizit erwähnt ist, so hat doch die UNESCO-Bewerbung die Gründung der Arbeitsgruppe Alte Bausubstanz initiiert, die auch nach dem Rückzug der Bewerbung fortbesteht und im Frühjahr 2010 eine erste Fachtagung veranstaltete. Vgl. www.altebausubstanz.at und Berchtold 57 Die Bewertung der zu beobachtenden Verödung

spaltet in der benachbarten Schweiz gegenwärtig die der Raumplanung zugewandte Architektenschaft. Während die Städtebauliche Studie Schweiz (Diener u.a., 2006), für die das ETH-Studio Basel verantwortlich zeichnet, nüchtern eine zukünftige Nutzung dieser verödeten Kulturräume als „Resorts“ und „Alpine Brachen“ prognostiziert, vertritt Gion Caminada, durch seinen Lehrstuhl an der ETH-Zürich ebenfalls exponiert, mit seinem Forschungsschwerpunkt Alpine Kultur eine entgegengesetzte Haltung, die Strategie einer Aufrechterhaltung der ortsspezifischen Lebensqualität, wenn nicht sogar Rekultivierung dieser ländlichen Räume.

Substanzverfall der traditionellen Hauslandschaft

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Grenzen und Gebiet des Bregenzerwaldes sind sowohl naturräumlich als auch durch die Verkehrserschließung bestimmt. Binnenregionen entstehen durch die Besiedlungsgeschichte und den Grad der wirtschaftlichen und politischen Selbstbestimmung seiner Bevölkerung, ihrer historisch gewachsenen „Unabhängigkeit“ also. Diese Abgrenzungskriterien ergeben jeweils unterschiedliche Gebietsausdehnungen für die Gesamtregion. Deren größte besitzt der Bregenzerwald nach der Zugehörigkeit seiner Gemeinden zur Regionalplanungsgemeinschaft (REGIO) Bregenzerwald, die das Gebiet im Einreichdokument so beschreibt: Der Bregenzerwald, im Nordosten des Bundeslandes Vorarlberg gelegen, bildet weder eine administrative Einheit, noch ist er durch politische oder geographische Grenzen eindeutig umrissen. Die politische Abgrenzung (...) besteht im Norden und Nordosten aus der Staatsgrenze zu Deutschland. Das Gelände ist hier aber landschaftlich offen und mit dem benachbarten Allgäu verbunden. Von Ost bis West bilden dann Gebirgszüge natürliche Grenzlinien. Im Osten ist es das Kleine Walsertal sowie die Landesgrenze zu Tirol. Das Arlberggebiet mit der Gemeinde Lech bildet die südöstliche Grenze und im Süden schließt sich das Große Walsertal an. Im Westen bildet das Rheintal, größtenteils die Gemeinde Dornbirn, die Grenze. Im Nordwesten bildet die Rotach die Grenze zur Gemeinde Langen (...). Das Relief des Bregenzerwaldes steigt von Nord nach Süd an. (...) Das Ortszentrum mit der geringsten Seehöhe befindet sich in Egg (560 m), während der Ortskern von Warth auf 1.495 m liegt. Der Bregenzerwald gliedert sich in die drei Gebiete Vorderwald, Mittelwald und Hinterwald und umfaßt 24 Gemeinden (inkl. Buch und Langen).58

Innerhalb dieser Maximalausdehnung, die für das heutige Regionalmarketing maßgeblich ist, ist vor allem der Ausschluß des Vorderwaldes59 aus der historisch gewachsenen Identität der „Wälder“ bedeutsam. Der Hintere oder Innerbregenzerwald60, die „Freie Bauernrepublik“61 des achtzehnten Jahrhunderts, wie auf der Bezegg-Säule62 verzeichnet, durch die Bayernherrschaft zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts beendet, ist dasjenige Gebiet des Bregenzerwaldes, auf welches sich bis heute die Identität seiner Bewohner stützt. Wenn in der oben zitierten naturräumlichen Umgrenzung des Bregenzerwaldes auch von seiner landschaftlichen Offenheit gegen das Allgäu die Re58 Republik Österreich: Einreichdokument, S. 24 59 Das Einreichdokument (Republik Österreich, S. 48 ff) nennt die Gemeinden Sulzberg, Doren, Krumbach, Langenegg, Lingenau, Riefensberg, Hittisau und Sibratsgfäll. Die Subersach, die bei Egg in die Bregenzerach mündet, bildet die südliche Grenze des Vorderwaldes. 60 Die Bezeichnungen Hinterer Bregenzerwald und Innerbregenzerwald sind synonym im Gebrauch. Hinterbregenzerwald ist die Bezeichnung des Gerichtsbezirks Bezau lt. Karte in Barnay (1988), S. 34. Das in der zitierten Gebietsumfassung des Einreichdokuments genannte Binnengebiet „Mittelwald“ (als „vordere Hälfte“ des Inneren oder Hinteren Bregenzerwaldes) ist ohne historische Grundlage und dient allein der Orientierung im organisatorischen Gebilde

desjenigen regionalen Umgriffs, den die REGIO Bregenzerwald repräsentiert. 61 Walter Lingenhöle hält die populäre These einer bäuerlichen „Frühdemokratie“ im Bregenzerwald für „zumindest anfechtbar, wenn nicht voll widerlegbar“, indem er zwischen Selbstbestimmung der Region und derjenigen ihrer Bewohner unterscheidet: „Zwar galt auch der Wald einst als Besitz feudaler Macht, jener der Grafen von Bregenz und Feldkirch, doch hatten sich die Wälderbauern schon während des Hochmittelalters so viel politisch-ideelle wie materielle Freiheit erworben, daß ihnen alles, Regierung wie Verwaltung, selbst zustand. Ihre Rechtsprechung erfolgte ohne ein Obergericht, sie besaßen den Blutbann, also das Recht auf Todesstrafe, und ebenso das Recht auf Begnadigung. (...) Die Aufschlüsselung der ,Freihei-

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de ist, so wird doch seine Abgeschlossenheit zum Rheintal und damit zu den städtischeren Zentren Vorarlbergs weniger deutlich, als sie sich demjenigen darstellt, der, von Bregenz oder Dornbirn herkommend, den Bregenzerwald erreichen will. Die sich entlang der Bregenzerach auffädelnden Orte seiner mittelalterlichen Besiedlung63 Egg, Andelsbuch und den Gerichts- und damit Hauptort Bezau oder das oberhalb des Talgrundes gelegene Schwarzenberg erreicht man entweder durch Überwindung des Losenpasses, Bödele genannt, der mit seinen von 1140 m Paßhöhe aufsteigenden Nordhängen winters als veritables „Schneeloch“ bekannt ist, oder durch die langgezogene, tief eingeschnittene und von einer kurvenreichen Straße gesäumte Schlucht der Schwarzach, dem Schwarzachtobel, dessen Verkehrskapazität zugunsten des regionalen Wirtschaftraums neuerdings durch einen Tunnel vervielfacht worden ist. Der historische Hauptzugang in den Bregenzerwald, das Tal der Bregenzerach, ist heute unpassierbar, seit die an ihrem Uferhang geführte Eisenbahntrasse der Wälderbahn 1980 nach wiederholten Murenabgängen nicht wiederhergestellt und 1985 schließlich offiziell aufgelassen wurde. Daneben gibt es noch den verschlungenen Weg durch den Vorderwald über Langen und Doren und, vom Hochgebirge im Süden herkommend, die Paßzugänge bei Damüls, Schröcken und Warth. Noch heute, im Zeitalter des Autoverkehrs und moderner Asphaltstraßen, bildet also eine spürbare, zeit- und kraftraubende Schwelle, ein den Naturgewalten ausgesetzter Riegel im Landschaftsrelief, die Grenze des Bregenzerwaldes gegen das übrige Vorarlberg. „Kaum irgendwo in den Alpen scheint die Mischung von Hügelland und Gebirge auf so kurzer Strecke so geglückt wie hier“64, beschreibt Walter Lingenhöle das Landschaftsbild des Bregenzerwaldes als Komposition. Die Wandlungen, denen dieses seit der Zeit der mittelalterlichen Besiedlungskampagnen unterworfen ist, erschließen sich dem, der diese Landschaft, zumindest in ihrer sich dem Augenschein darbietenden Oberfläche, nicht als naturgegeben, sondern als Erzeugnis intensiver landwirtschaftlicher Nutzung begreift. ten und Rechte von alters her‘ ergibt ein leicht geändertes Bild der politischen Praxis: Hier regierten ein Landammann, neben ihm standen ein Landwaibel und 24 Ratsherren sowie 48 Volksvertreter, und sie gehörten allesamt oder größtenteils den wohlhabenden Familien des Tales an, bildeten also eine Art Oligarchie. Und das lag doch weit entfernt von dem, was dann die politische Aufklärung Ende des achtzehnten Jahrhunderts gefordert und in Ländern wie Frankreich und den Vereinigten Staaten von Nordamerika kurze Zeit verwirklicht hat: wahre Volksherrschaft.“ Lingenhöle, S. 10 62 Die im gotischen Stil gehaltene steinerne Gedenksäule auf der Bezegg, halben Weges zwischen Andelsbuch und Bezau gelegen, ist eine historisierende Schöpfung des neunzehnten Jahrhunderts und sym-

bolisiert den ehemaligen Standort des Bregenzerwälder „Rathauses“. Ernst Hiesmayr bezweifelt ihre Ortstreue: „Die Bezeggsäule von Schmid steht nicht am historischen Standort.“ Hiesmayr (1995), S. 44 Ihre Aufschrift: „An dieser Stelle stand das hölzerne im Jahre 1807 abgebrochene Rathaus des Innerbregenzerwaldes in welchem der frei gewählte Landammann und Rath durch Jahrhunderte die Angelegenheiten der Gemeinden nach altem Landsbrauch beraten, beschlossen und verwaltete haben. 1871.“ Eigene Abschrift 05. 09.2006 63 Die zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Studie aktuellsten Erkenntnisse zur Besiedlungsgeschichte des Bregenzerwaldes referiert Moosbrugger (2009) in einem empfehlenswerten Aufsatz. 64 Lingenhöle, S. 9 f

Kulturelle Abgeschlossenheit

Agrarisch geprägtes Landschaftsbild

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Schwabenkinder

Auer Zunft

Heimarbeit in der Stickereiindustrie

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So sind die heute prägenden immergrünen Grasmatten der Tal- und Hochweiden in ihrer Ausschließlichkeit ein relativ neues Element, denn die „Fettkäserei“, die die heutige monofunktionale Ausrichtung der Landwirtschaft auf Milcherzeugung ermöglicht hat, wird aus dem Schweizer Emmental und dem Appenzell erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts importiert.65 Davor prägt Ackerbau mit Getreide, Kartoffeln und Flachs wenigstens die Hälfte der landwirtschaftlich genutzten, dem ursprünglich alles bedeckenden Wald durch Rodung abgewonnenen Flächen. Die Schwierigkeiten, sich von den Erträgen dieser Böden zu ernähren, die Armut also, der die bäuerliche Bevölkerung des Bregenzerwaldes großteils ausgesetzt ist, wird durch ihre bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gängige Praxis charakterisiert, ihre Kinder als „Schwabenkinder“ den Sommer über auf den wohlhabenden Höfen des Allgäu zu verdingen66, nachdem auf Kindermärkten, etwa im württembergischen Ravensburg, für sie ein Platz gefunden worden ist. Die allsommerliche Auswanderung Hunderter arbeitsfähiger Männer als Handwerker im Baugewerbe, aus den Dörfern Au und Schoppernau etwa sind zeitweise bis zu neun Zehntel der männlichen Bevölkerung darunter67, ergänzt das Bild der traditionell kargen bergbäuerlichen Existenz. Seine Organisationsform findet der Bregenzerwälder Handwerkerstand seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts als Auer Zunft, die 1707 als „Viertellade“ der Tiroler Hauptzunft, mit Sitz in Innsbruck, anerkannt wird. Die Zunft, die von Anfang an alle Bauberufe umfaßt, ermöglicht ihren Unternehmerpersönlichkeiten, hochrangige kirchliche Aufträge als „Generalunternehmer“ auszuführen und in den eineinhalb Jahrhunderten bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, einer Zeit, die als Folge des Dreißigjährigen Krieges und der Gegenreformation mit einer Blütezeit des katholischen Kirchenbaus zusammenfällt, den südwestdeutschen und deutschschweizer Raum mit ihrem Münsterschema architektonisch zu prägen.68 Diese „Bauschule“ der Bregenzerwälder Barockbaumeister bildet den historischen Bezugspunkt einer bis heute wirksamen Kategorisierung der Zeitgenössischen Architekten Vorarlbergs durch Friedrich Achleitner als zweiter Vorarlberger „Bauschule“.69 Ein weiteres Zubrot ergänzt die schmale Kost der Bregenzerwälder Bevölkerung seit dem neunzehnten Jahrhundert, intensive Heimarbeit für die Stickereiindustrie. „Fergger“ genannte Vermittler organisieren Rohstoff und Aufträge und sorgen für den Absatz der Produkte in der benachbarten

65 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 66 Wirthensohn dokumentiert in seinen Lebensbildern jüngst Verstorbener noch einige Dorfbewohner Thals, deren Kindheit von einer Verdingung als „Schwabenkind“ geprägt gewesen war. Vgl. etwa Lebensbild Max Schmuck, in: Wirthensohn, Jb. 1998/99 67 Vgl. Die Bregenzerwälder Baumeister der Barockund Rokokozeit, www.au-schoppernau.at Stand 03.10.2008

68 Vgl. Oechslin (1973) 69 „Wenn man heute von einer Bauschule spricht, dann darf man nicht vergessen, daß es sich dabei nicht um eine akademische Tendenz, sondern um eine Erfahrungswelt am Rande der Gesellschaft (denn diese Gruppe baut vorwiegend für Leute, die unter normalen Umständen kaum bauen könnten) handelt, also wirklich um eine Bauschule im alten Sinne des Begriffs.“ Achleitner (1984) S. 223

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Schweiz. Nicht etwa die traditionelle „Nahtstubat“, von der etwa Franz Michael Felder berichtet, gibt hierfür die Arbeitsform, sondern vielmehr ein im Geist und mit den Mitteln der Industrialisierung gestalteter, technisch geprägter Arbeitsplatz. Sperrige Stickereimaschinen werden von den Bauern auf Kredit erstanden, zu deren Aufstellung am Bauernhaus eigene Anbauten errichtet. Die auszuführenen Stickereientwürfe entspringen keineswegs der Kreativität der Ausführenden, sondern sind vorkonfektionierte Halbzeuge, durch Aufdrucke oder Lochkartensteuerung der Maschinen standardisiert.70 Die armutsbedingte saisonale Auswanderung der Bauhandwerker ebenso wie der Austausch, den die Fergger mit den Wirschafts- und Kulturzentren der Nachbarländer pflegen, bringen nicht nur Geld und Arbeit in den Bregenzerwald, sondern auch die aufklärerischen Ideen und emanzipatorischen politischen Konzepte, für die die Französische Revolution 1789 ein Signal gegeben hatte, das die politischen Diskussionen, die Revolutionen und Reformansätze Europas im neunzehnten Jahrhundert prägen sollte. Franz Michael Felder und sein Schwager Kaspar Moosbrugger, Bauern in Au und Schoppernau, im Hinteren Bregenzerwald gelegen, sind die zentralen Persönlichkeiten einer politischen Emanzipationsbewegung, die auch für den Bregenzerwald erstmals politische Reformen und eine Linderung der Not durch gerechtere Wirtschaftsformen einfordert.71 Konkret initiiert Felder die Gründung von Käsereigenossenschaften, die zugunsten der Milchbauern wirtschaften und damit schließlich die Monopolstellung der einheimischen „Käsebarone“ im Käsehandel mit der Lombardei brechen.72 Der genuine Reformansatz Felders liegt in seiner Zusammenschau der strukturell bedingten Not des einheimischen Bauernstandes mit den Umwälzungen der Arbeitswelt, die die Industrialisierung mit sich bringt.73 Als einer der letzten Reformdenker des neunzehnten Jahrhunderts imaginiert Felder den ländlichen Bauernstand und das in den Städten neu entstehende Industrieproletariat als gemeinsam agierende politische Kraft, ein sozialreformerisches Potential, dessen Energie im Auseinanderfallen der beiden gleichermaßen von den Modernisierungseffekten der Industrialisierung betroffenen und in der Politik unterrepräsentierten Gesellschaftsklassen in gegensätzliche politische Lager wirksam zersplittert werden konnte. Die bauliche Landschaft des Bregenzerwaldes bleibt architektonisches „Niemandsland“ bis zur Mitte der 1980er Jahre und damit rund zwei Jahrzehnte länger als diejenige des benachbarten Vorarlberger Rheintals. Das ausgeprägte Traditionsbewußtsein seiner Bevölkerung, die wirtschaftliche Tragfähigkeit ihrer bäuerlich und handwerklich bestimmten Lebensform halten gemeinsam mit der geographischen Abschottung die Modernisierungseffekte aus 70 71 72 73

Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf Vgl. Walser Vgl. Bilgeri, Bd. IV, S. 438 ff „Felder war der letzte gewesen, der sich die So-

lidarität von Agrikultur und Industrie zu weiter, allseits segensreicher Entwicklung hatte vorstellen können.“ Walter Methlagl: Der Traum des Bauern Franz Michael Felder; Bregenz 1984, S. 115 (zit. in: Walser)

Franz Michael Felder

Architektur im Bregenzerwald

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Exemplarische Bedeutung des „Strickhüsle“

Das Rheintal und die Industrialisierung Vorarlbergs

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dem benachbarten Rheintal lange von der Region fern. So bleibt für das Wohnen neben dem typologisch gebundenen Bauernhaus das anonym geplante, in Eigenleistung errichtete und formal anspruchslose „Baumeisterhaus“ vorherrschend. Neben diesem gemauerten Haustyp rückt ein hölzernes Fertighaus aus dem Kaufmann Holzbauwerk in Reuthe, „Strickhüsle“ genannt, das parallel zum Auftreten der Zweiten Baukünstlergeneration im Bregenzerwald und außerhalb Verbreitung findet, in unseren Fokus. Das „Strickhüsle“ bildet in Material, Grundriß und Fassade den regionalen Bauernhaustyp ab und repräsentiert neben dieser traditionellen Konnotation seines Bautyps in fertigungstechnischer ebenso wie in sozialer Hinsicht spezifische Grundzüge derjenigen handwerklichen Baukultur, die unserer Analyse der architektonischen Baukultur als Gegenbild dient. Dieser exemplarischen Bedeutung und nicht seinem Verbreitungsgrad in der baulichen Landschaft ist das inhaltliche Gewicht geschuldet, das dem „Strickhüsle“ in der vorliegenden Studie eingeräumt wird.74 Kirchliche und staatliche Verwaltungs- und Schulbauten sowie vereinzelte Gewerbebauten stellen seit den 1960er Jahren eng begrenzt bleibende Arbeitsfelder für Architekten dar.75 Die Ansässigkeit einer technologisch modernen Holzindustrie und das wirtschaftlich ebenso wie gesellschaftlich präsente Holzhandwerk im Bregenzerwald prägen entscheidend die Entwicklung, die das Land seit den 1980er Jahren zu einem europaweiten Vorreiter Zeitgenössischer Architektur werden lassen. Anders als in den bis hierher betrachteten Vorarlberger Talschaften fällt der geographische Landschaftsraum, den der Rhein auf den letzten fünfzig Flußkilometern vor seiner Mündung in den Bodensee konstituiert, nicht mit einem Kulturraum gleicher Ausdehnung zusammen. Zivilisationsgeschichtlich ist das Rheintal Durchgangsraum. Es erschließt wichtige Alpenpässe und gewinnt damit seine Bedeutung als zentral im Alpenbogen gelegene Wegeverbindung zwischen süd- und nordalpinen Kultur- und Wirtschaftsräumen. Der landschaftliche Raum des Rheintals entlang der Vorarlberger Westgrenze zerfällt politisch in die drei Staaten Österreich, Schweiz und Liechtenstein, die ihrem Anteil am Rheintal jeweils unterschiedliches kulturelles Gewicht zuweisen. Während für Vorarlberg hier die städtische Kultur des Landes liegt, ist für die Schweizer Uferseite dieser Abschnitt des Rheintals kulturelles Hinterland der weiter nordwestlich liegenden Kantonshauptstadt St. Gallen. 74 Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz, und Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus 75 Walter Johler nennt in seiner Lebensbeschreibung des in Andelsbuch geborenen, „bedeutendsten Vorarlberger Architekten der Zwischenkriegszeit“, dem Holzmeister-Schüler Alfons Fritz (1900–1933), Gewerbetreibende, Geschäftsleute, Ärzte und Lehrer

als Bauherren. Aus der Reihe seiner Werke entfallen lediglich zwei Einfamilienhäuser auf den Bregenzerwald. Zu dem von ihm entworfenen „Wälderhaus“, einem Wochenendhaus für den Fabrikanten Arthur Hämmerle auf dem Bödele (1932), vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus.

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Auch wenn sein nächtliches Lichtermeer demjenigen, der nachts, vom Bregenzerwald herkommend, das Bödele überschreitet oder vom schweizerischen Appenzell den Abstieg nach Altstätten antritt, das Bild einer einzigen durchgehenden Stadt nahelegt76, zerfällt seine in gleichförmiger Dichte bebaute Fläche, eine Dichte, die man sonst von städtischen Randgemeinden kennt77, verwaltungstechnisch, ebenso wie in der Identität seiner Bewohner, in 29 selbständige Gemeinden.78 Vier davon besitzen den Rang von Städten: Bregenz, Dornbirn, Hohenems und Feldkirch. Rechnet man den Walgau, das Tal am Unterlauf der Ill, die in Feldkirch in den Rhein mündet, als dessen südlichen Ausläufer noch zum Vorarlberger Rheintal hinzu, dann ist innerhalb dieses früh industrialisierten Siedlungsgebietes Bludenz die fünfte Vorarlberger Stadt dieses Raumes, unter denen keine mehr als 50.000 Einwohner aufweist. Das Vorarlberger Rheintal bildet mit seiner im europäischen Vergleich früh entwickelten Textilindustrie einen der Hauptstandorte der Industriekultur Österreichs. Christoph Bertsch, Kunsthistoriker an der Universität Innsbruck, betont seinen exemplarischen Rang: „Vorarlberg besitzt die größte Anzahl bedeutender Fabriken des neunzehnten Jahrhunderts in Österreich, es spielt in Österreich dieselbe Rolle wie England im Vergleich zum Kontinent oder das Rheinland im Verhältnis zum übrigen Deutschland.“79 Fabrikbauten und deren Erhaltung als Kulturdokumente, Anliegen, für die Bertsch sich einsetzt, werden im Kontext der Konnotationen des Baumaterials für unsere Studie bedeutsam.80 Vorerst interessiert hier nicht die Architektur der Produktionsstätten, sondern diejenigen eher unauffälligen baulichen Folgen, die den sozialen Umwälzungen infolge der Industrialisierung entspringen. Bertsch greift unter diesen Effekten vor allem zwei heraus und bilanziert beide als Verluste: Der soziale Verlust einer Differenzierung der Berufsarten, „Handwerker, Tagelöhner, besitzlose und entwurzelte Bauern, (...) alle werden zu leblosen Handlangern in einem großen, maschinell funktionierenden, kasernenartig reglementierten Betrieb“81. Der andere Verlust ist derjenige des angestammten Wohnorts, der im Fall des Bauern gleichzeitig die Basis seiner Selbstversorgung dargestellt hatte. Die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte, die das Arbeits-, vor allem aber das Lohnangebot der Industrie in Form von Geld auslöst, ein Angebot, das seine Attraktivität aus dem Kontrast zur weitgehend geldlosen Wirtschaftsform der agrarischen Gesellschaften gewinnt82, nimmt im Lauf des neunzehnten 76 Die Studie Vision Rheintal etwa unterlegt ihm eine solche Wunschidentität als Denkmodell. 77 „Europäisches Laboratorium der Nicht-Verdichtung“ nennt die stellvertretende Leiterin des französischen Architekturinstituts Marie-Hélène Contal das Vorarlberger Rheintal. In: Kapfinger (2003), S. 3

78 Das Motto von Vision Rheintal ist „29 Gemeinden – Ein Lebensraum“ 79 Bertsch (1980), S. 129 80 Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz 81 Bertsch (1987), S. 20 82 Vgl. Krammer/Scheer; ausführlich im Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf

Soziale Folgen der Industrialisierung

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Industrie und Landwirtschaft

Landflucht und Wohnungsnot

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Jahrhunderts dramatische Ausmaße an und erzeugt an den Standorten der Fabriken und, außerhalb Vorarlbergs, in den durch die Industrialisierung modernisierten Städten eine drängende Wohnungsnot. Im durchgängig ländlich strukturierten Vorarlberg erkennen die Fabrikherren bereits früh die Vorteile, die ihnen aus der Aufrechterhaltung einer Nebenerwerbslandwirtschaft ihrer Arbeiter erwachsen. Ihre Strategie, die langfristig den Fortbestand der Landwirtschaft sichert und gleichzeitig die Entstehung eines Industrieproletariats unterbindet, verhindert wirksam die politische Formierung der Vorarlberger Arbeiterschaft und damit eine Etablierung der Sozialdemokratie im Land.83 Daneben bietet sie den Fabrikherren während konjunktureller Engpässe die Möglichkeit, radikale Lohnkürzungen vorzunehmen84, ohne gleichzeitig die Obsorge für ihre Arbeiter und deren Familien übernehmen zu müssen. Die Existenzsicherung der Arbeiterschaft kann während der wiederkehrenden Krisen, der die Textilindustrie im Lauf ihrer Etablierung ausgesetzt ist, an deren bäuerliche Parallelwirtschaft delegiert werden. Auch wenn die Effekte der Landflucht85 auf diese Weise abgemildert werden, wird die Wohnungsnot verstärkt „durch eine große Anzahl italienischer Einwanderer, insbesondere aus dem Trentino, die ebenfalls in der Vorarlberger Textilindustrie Beschäftigung“ 86 finden. So sehen sich die Fabrikanten Vorarlbergs genötigt, ihre Produktionsstätten um Arbeiterhäuser87 und Werkssiedlungen88 zu erweitern. Neuartige Siedlungsgebilde entstehen, die sowohl die patriarchalische Stellung des Fabrikherrn als auch die hierarchische Differenzierung der Arbeiterschaft zum sozialräumlichen Bildprogramm89 ihrer Architektur erheben.90 Bertsch weist darauf hin, daß neben der unmittelbaren Behebung der Behausungsnot mit diesen Wohnbaumaßnahmen auch Effekte der sozialen Befriedung verknüpft sind. Die Kopplung von Arbeitsund Mietvertrag verdoppelt für die Arbeiter im Fall von Arbeitskämpfen das Risiko91, indem es sie der Gefahr aussetzt, über Arbeitsplatz und Lohn hinaus auch ihre Wohnung, die häufig auch die Familie beherbergt, zu verlieren.92 83 Greussing (1984). Vgl. dazu auch Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf, Anm. 117 84 Barnay (1988), S. 311 85 Zwei Effekte sind zu unterscheiden: Am Ort der Zuwanderung und am Ort der Abwanderung; Barnay (1988, S. 90) beschreibt die Abwanderung der Bregenzerwälder Bauern ins Rheintal. 86 Bertsch (1980), S. 25; vgl. auch Reinhard Johler 87 Vgl. Bertsch (1983/84) 88 Ebd. 89 Die „Meisterhäuser“ der Fabriksiedlungen finden eine Entsprechung am Bauhaus Dessau, wo die Villen der Dozenten ebenfalls als „Meisterhäuser“ bezeichnet werden. Darin mag einerseits eine Erinnerung an vormoderne Handwerksmeister anklingen, ebensosehr aber die soziale Wohnungshierarchie aus den Fabrik-

siedlungen des neunzehnten Jahrhunderts, nun in die Industrieaffinität der 1920er-Jahre-Architekturmoderne übertragen. 90 Je nach Größe und Prosperität der Fabrikanlagen können aus solchen Voraussetzungen ganze Städte entstehen, so etwa die tschechische Batá-Schuhstadt Zlín. 91 Bertsch (1980), S. 25/26 92 Im größeren Rahmen der staatlichen Finanzierung von Eigenheimen (Frankreichs) beobachtet Bourdieu auch in der Gegenwart solche bewußt herbeigeführten Effekte einer neuen Hörigkeit. Vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus, Anm. 32 93 Zur politischen Konnotation des neuen Arbeitsfeldes, das gleichzeitig eine Neubestimmung des berufsständischen Selbstverständnisses verlangt hatte,

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Die Entstehung moderner Architektur als integraler Teil der Moderne ist ursächlich verbunden mit der Entwicklung der Industrialisierung zu einer alle Lebensbereiche durchdringenden und prägenden Kultur. Erst die Industrialisierung erzeugt die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen und damit den Reformbedarf des Bauens in seinen kulturellen und wirtschaftlichen Aspekten, in dessen Rahmen eine moderne Architektur auftreten und sich in den 1920er Jahren zu einer weltweiten Bewegung mit umfassendem Zuständigkeitsimpetus formieren kann. Das Vorarlberger Rheintal als Architekturlandschaft bietet denjenigen baulichen Bestand, der erlaubt, nicht nur die Industriekultur als Element der modernen Architekturgeschichte des Landes, sondern auch soziale Hintergründe der akademischen Geschichtskonstruktion der modernen Architekturbewegung im Forschungsfeld zu verorten. Die vorliegende Studie richtet ihre sozialwissenschaftlich bestimmte Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ insbesondere auf den Anspruch heutiger Architekten, durch ihre Bauformen normativ in einem die Lebensweise reformierenden Sinn zu wirken. Dieser Anspruch ist, gemessen an der Tradition, auf die der Berufsstand zurückblickt, ein sehr junger und genuin moderner. Erst die Kumulation aus sozialen Umwälzungen, die die Industrialisierung mit sich bringt, und der politischen Neuformierung Europas im Gefolge des Ersten Weltkriegs haben einerseits den drängenden Bedarf nach städtischem Wohnraum und andererseits die staatlichen Institutionen entstehen lassen, diesen Bedarf systematisch zu decken. Erst indem die Staaten Europas, unter denen wir hier vor allem Österreich und Deutschland betrachten, zur Bewältigung der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg Programme massenhaften Wohnbaus initiieren und Bauämter zu deren Durchführung einrichten, wird die „Wohnungsfrage“ in ihrer Erstreckung vom städtebaulichen bis zum Einrichtungsmaßstab zur zentralen Herausforderung für Architekten.93 Eine Folge dieses neuen „sozialen Interesses“ der Architektenschaft, das primär als staatlicherseits gesetztes und vgl. ausführlicher in Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus. 94 Konrad Wachsmanns Wendepunkt im Bauen (1959) ist eine jener Schriften, in denen ebendiese programmatische Erneuerung der Architekturformen im „Geist“ einer industriellen Produktionsweise postuliert ist. 95 Beispiele für diesen Schwenk der beruflichen Orientierung hin zu einem social engineer bieten Lebensläufe von Architekten an der Schwelle des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Adolf Loos etwa übernahm in einem fortgeschrittenen Stadium seiner beruflichen Karriere für einige Jahre die Leitung des Wiener Siedlungsamtes und hatte sich in dieser Funktion nunmehr anstelle des individuellen und luxuriösen Bedarfs seiner bisherigen personellen

Bauherren dem Wohnbau für das anonyme Existenzminimum zuzuwenden. Sein prototypischer Entwurf für ein „Haus mit einer Mauer“ entstand in diesem Kontext. 96 Vgl. Abschnitt Architektenstand, Kap. Architektur? 97 Unter den Verlusten an Privilegien, die der Architektenstand gegenwärtig erleidet, ist für Österreich an erster Stelle das Außerkraftsetzen der HOA (Honorarordnung für Architekten und Ingenieurkonsulenten) zum Jahresende 2006 zu nennen. An ihre Stelle trat eine unverbindliche, aufwandsspezifische Berechnungsgrundlage, die HIA („Honorar Information Architektur“, 2008 erstmals in gedruckter Form publiziert, 2010 in überarbeiteter Fassung neu aufgelegt). Vgl. Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 26

Architekturmoderne als Reformbewegung

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nicht als gesuchtes anzunehmen ist, ist der Verlust der Übereinstimmung von Bauherr und Nutzer. Der Architekt verliert an diesem „Wendepunkt“94, an dem sich gleichzeitig die akademische Architektur von der Pflege historischer, bis in die Antike zurückreichender Bauformen abwendet, um eine neue Verankerung in einer „gegenwärtigen“ Formkultur zu suchen, und als weltweite Bewegung formiert, sein bis dahin bestimmendes Gegenüber im personellen Bauherrn.95 An seine Stelle tritt eine „Vision“ vom modernen Menschen, diejenige „soziale Verantwortung“96, auf die der Architektenstand heute seinen exponierten gesellschaftlichen Status stützt, ein Privileg, das gegenwärtig, im Gefolge des Rückzugs, den der Staat als Privilegierender aus seiner Versorgerrolle antritt, bereits wieder im Abbau begriffen ist.97 Aufgrund der Umstände ihrer Entstehungszeit ist diese Vision „genetisch“ verknüpft mit einer neuen, immer städtischen und betont technizistischen neuen Lebenswelt, die nun auch dann die Entscheidungen der Architekten leitet, wenn sie in traditionellen Auftragsverhältnissen zu personellen Bauherren stehen. Die industrielle Produktion mit ihren Folgen für die Priorität von Geldwirtschaft, die Warenhaftigkeit aller Gegenstände, die weltweite Konkurrenz der Produktionsstandorte, die Mobilität des modernen Menschen, die zugleich Entwurzelung ist, seine fokussierte Wahrnehmung und soziale Vereinzelung, bestimmt die Kultur dieser neuen Lebenswelt. Die Architekturlandschaften Vorarlbergs bilden daraus jeweils prototypische Effekte ab, sodaß wir, vor allem in der Beziehung zwischen Bregenzerwald und Rheintal, die in der öffentlichen Wahrnehmung als landschaftlich, sozial und ökonomisch gegensätzlich inszeniert ist, ein Feld vorfinden, das uns erlaubt, auf kleinem Raum und in hoher Dichte die Rolle Zeitgenössischer Architektur als gesellschaftlichem „Modernisierungsmotor“ zu studieren.

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89 2.2 Genossenschaftlicher Wohnbau Um die allumfassende Zuständigkeit der Architekten für die Belange der Lebensraumgestaltung zu verstehen, das ihr gegenwärtiges Selbstverständnis kennzeichnet, notierten bereits die beiden vorangegangenen Abschnitte erste Aspekte der Entwicklung ihres Berufsstandes zu einer Reformbewegung.1 Stichworte hierfür lieferten die sozialen Umwälzungen im Gefolge der Industrialisierung, die Kritik ihrer Warenkultur als kultureller Mißstand, mehr noch der von ihr ausgelöste Wohnraumbedarf als sozialer Notstand. Zur Behebung dieser Folgen formiert sich die Architektenschaft der Moderne seit den 1920er Jahren als reformatorische Bewegung2 und wird gleichzeitig von staatlichen Bauverwaltungen zur Umsetzung von Wohnbauprogrammen bisher nicht dagewesener Größenordnung eingesetzt. Auch in der Rückschau der Architekturhistoriker ist die zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in England beginnende Industrialisierung Europas für die moderne Architekturbewegung, wie sie sich in den 1920er Jahren etabliert, das konstituierende Ereignis. In dem Vorzug, den sie der Gegenwartsgegenüber einer Vergangenheits- und Geschichtsbezogenheit gibt, steht die Industrialisierung für den Ausgangspunkt einer gegenwärtigen Kultur. Während die Programmschriften der modernen Architekturbewegung die mechanisierte Produktionsweise und die Konsequenzen, die daraus für die Formgebung zu ziehen sind, in den Mittelpunkt rücken, sind es jedoch vor allem die von der industrialisierten Arbeitswelt ausgelösten sozialen Umwälzungen, die den Wohnbau als prägendes Arbeitsfeld eröffnen. Erst dieses Arbeitsfeld wiederum schafft den zentralen Rechtfertigungsgrund des Anspruchs auf universelle Zuständigkeit für den Rahmen des alltäglichen Lebens, damit für die Gestaltung der gesamten baulichen, ja dinglichen Umwelt, von der Wohnung und ihrer Einrichtung bis zur Stadt, den Architekten seither erheben. Nicht vergessen werden darf, daß neben dieser Geschichte der Architekturmoderne, wie sie der spezifische Blick der Kunsthistoriker3 erzeugt hat, eine staatlich gesetzte Komponente existiert, der sowohl eine Verwaltungslogik4 als auch parteipolitische Programmatik5 zugrundeliegt. Erst der Staat 1 Der Anspruch heutiger Architekten, in der Ausübung ihres Berufes gesellschaftsverändernd zu wirken, ist ein zentrales Thema der vorliegenden Studie. Architektur- und designhistorische Vertiefungen liefern folgende Abschnitte: Architektenhaus des Kapitels Haus (Ästhetische Erziehung), Architektur im Dorf des Kapitels Dorf (Architektur und Religion), Externe Entwerfer (Der neue Mensch), Serienproduktion (Standardprodukte) sowie Möbel und Raum (Wohnen lernen) des Kapitels Handwerk. Vgl. auch Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 33 2 Die größte Öffentlichkeitswirkung besitzen in den 1920er Jahren die nationalen Werkbund-Organi-

sationen und ihre in Bauausstellungen vorgestellten Prototypen moderner Wohnbauten. Auf fachlicher Ebene formuliert der CIAM (Congrés Internationaux d’Architecture Moderne), gegründet 1928, jeweils zeitgemäße Richtlinien, insbesondere für den Städtebau. 3 Rudolf Schwarz charakterisiert diesen Blick als „optisch plastische Empfindungen“, um die „Kunstwissenschaftler“ als „Ästheten“ zu charakterisieren, denen „ziemlich gleichgültig [ist], welchen Inhalt oder meinetwegen Zweck unsere Werke haben“. Schwarz (1953) S. 11 4 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung Kapitel Dorf

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Einfluß staatlicher Wohnbauprogramme

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ist imstande, seiner Architektenschaft ein so vollständig andersartiges Arbeitsfeld zuzuweisen, wie es der Sozialwohnbau 6 für eine Profession darstellt, die bis zum Ersten Weltkrieg fast ausschließlich mit individuellen Wohnhäusern eines Großbürgertums betraut und damit auf eine dialogische Beziehung zu individuellen Auftraggebern geeicht war.7 Indem der Staat zur Bewältigung der Wohnungsnot im Gefolge des Ersten Weltkriegs Wohnbauprogramme initiiert und Bauämter zu deren Durchführung einrichtet, werden Architekten erstmals in großem Maßstab mit dem Aufgabenfeld Sozialwohnbau konfrontiert und damit mit einer Auftragssituation, in der Auftraggeber und Bewohner programmatisch auseinandertreten. Das soziale Interesse der Modernen Architekturbewegung, das mit dieser Anonymisierung des Nutzers verknüpft ist, muß also in hohem Maß als ein staatlich gesetztes und nicht als gesuchtes angenommen werden. Es bildet zunächst die durch Anonymität gekennzeichnete Beziehung der staatlichen Verwaltung zu den Staatsbürgern ab und verknüpft diese mit einem Sendungsbewußtsein des Künstlerstandes, mit dem dieser die im Zuge der Aufklärung entmachteten religiösen Institutionen beerbt.8 Erst vor diesem Hintergrund läßt sich die öffentliche Äußerung eines angesehenen Vorarlberger Architekten, wegen der dort versammelten baulichen Häßlichkeiten am liebsten „mit dem Bagger durchs Rheintal fahren“ zu wollen, als repräsentativer Ausdruck seines Berufsverständnisses einordnen. „Das darf ich zu Hause gar nicht erzählen“, entfuhr seinem Gegenüber, einem Schweizer Sozialwissenschaftler, dessen Vortrag die Podiumsdiskussion mit dem Architekten eingeleitet hatte. Dessen Anspruch, das „Häßliche“ nicht nur identifizieren, sondern aus dem Landschaftsbild eliminieren zu dürfen, um es als „Schöneres“ wiederzuerrichten, mochte sich dem Schweizer Gast vor dem Hintergrund der demokratischen Bürgersouveränität seines Heimatlandes als Widerschein totalitärer Verhältnisse darstellen.9

5 Zur sozialistischen Konnotation der WohnbauModerne der 1920er Jahre vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus. Die politische Voraussetzung der Wohnbauprogramme des „Roten Wien“ der 1920er Jahre hat Hans Werner Scheidl in der zeitgeschichtlichen Kolumne der Presse „Die Welt bis gestern“ vor kurzem bündig zusammengefaßt: „... Dazu war erst eine Trennung vom ,schwarzen‘ niederösterreichischen Umland nötig. Bisher gehörte Wien zu Niederösterreich. Die säuberliche Trennung geschah durch ein Verfassungsgesetz 1921. (...) Das niederösterreichische Bauernland hatte jetzt eine klare ,schwarze‘ Mehrheit, die von den Proletariern nicht mehr gefährdet werden konnte. Im ,roten‘ Wien hingegen durften nun die Sozialdemokraten quasi allein regieren. Bis 1934.“ Vgl. Scheidl 6 Höhns ordnet den Begriff Sozialwohnbau dem

Wohnungsbau des Nationalsozialismus zu. Der Wiener Massenwohnbau der 1920er Jahre, für Österreichs Wohnbaumoderne der konstituierende institutionelle Rahmen, wird als Gemeindebau bezeichnet. Vgl. Höhns 7 Vgl. Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur?, Anm. 65 Eine Fortwirkung dieser historisch bedingten sozialen Positionierung des Architektenstandes kann in dessen Fixierung auf solitäre, antikontextuelle Entwurfsresultate gesehen werden. 8 Der Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, widmet sich der Beziehung zwischen Architektur und Religion in ihren sozialen Aspekten. 9 Wie Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 43 10 Vgl. die Studien von Dietrich, Merz /Mätzler und Sagmeister

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Vorarlberg nimmt in der Entwicklung seiner modernen Architektur, ebenso wie in der Entwicklung ihrer Protagonisten zu einer gesellschaftlichen Reformbewegung einen Sonderweg ein, der zeitverzögert einsetzt und damit der architektonischen Avantgarde des Landes andere politische und soziale Umfelder bietet als andernorts derjenigen der 1920er Jahre. Nachdem das Land zwar eine intensive und frühe Industrialisierung durchläuft, diese sich aber nicht in einem großstädtischen, sondern einem kleinstädtischen und dörflichen Siedlungsmilieu entfaltet, entwickelt sich nach dem Ersten Weltkrieg weder ein die Städte prägender Massenwohnbau noch eine prägnante Architekturmoderne, wie sie etwa in Wien oder in anderen Großstädten die staatlichen Bauprogramme der 1920er Jahre kennzeichnet. Von wenigen architektonischen Einzelstücken abgesehen, modernen Villen und innerstädtischen Geschäftshäusern, bleibt die Form des Bauens traditionell gebunden. Anstatt moderne Wohnblöcke, verdichtet zu städtischen Wohnvierteln, entstehen zu lassen, werden die kommunalen Wohnbaukampagnen der 1920er Jahre in Vorarlberg, quantitativ nicht vergleichbar mit denjenigen Wiens, als Randsiedlungen, Siedlungen aus normierten Einfamilienhäusern auf großen Grundstücken, realisiert. Der agrarischen Lebensform entlehnt, gehört eine weitgehende Selbstversorgung der Siedler zum ideologischen Programm dieser Kampagnen.10 Ein den Bauprogrammen des Roten Wien vergleichbarer, städtisch konnotierter Massenwohnbau in verdichteter Bauform entsteht in Vorarlberg erst ab 1939 im Rahmen der Südtirolersiedlungen.11 Auch wenn den Vorarlberger Südtirolersiedlungen damit der Rang der modernsten12 Wohnbauten zukommt, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Land entstehen, wird ihr Beitrag zur Architekturgeschichte des Landes, jedenfalls aus österreichischer Perspektive, als bemerkenswert gering eingestuft.13 Diese Geringschätzung mag zunächst aus der Verknüpfung von Schöpfer und Werk begründet sein, die den Blickwinkel der Architekturhistoriker prägt und dem als Schöpfer allein der Architekt und als Werk allein der Entwurf, die den Niederungen der Baustelle und den Beschränkungen des Materials vorauseilende Gestaltvision, gilt. 11 Im Vergleich der Größenordnungen ist die jeweilige Gesamtbevölkerungszahl zu berücksichtigen. Dem Resultat des Wohnbauprogramms im Roten Wien der 1920er Jahre von rd. 60.000 Wohnungen stehen rd. 10.000 Wohnungen gegenüber, die von 1939 bis 1943 in Vorarlberg als Südtirolersiedlungen errichtet worden sind. 12 Höhns stellt die Modernität der österreichweit entstehenden Südtirolersiedlungen auf der Basis ihrer Quantität und der Rationalisierung des Baubetriebs fest: „Was hier zu Beginn des Krieges die seit den Jahren der ,Systemzeit‘ weitgehend daniederliegende Wohnungsbau-Produktion des Landes [Öster-

reich] in kürzester Zeit überrollt, ist alles andere als eine nostalgische Variante im Wohnungsbau: Es ist ein Bauboom, der sich mit dem des expandierenden ,roten‘ Wien der Zwischenkriegszeit messen kann und der eine neue Gründerzeit einleitet, organisiert von Technikern, deren oberstes Ziel Rationalisierung lautet, auf der Ebene des Städtebaus ebenso wie im Maßstab architektonischer Details.“ Höhns, S. 286 13 Bedingt durch seine Einordnung in eine Moderne Architektur in Deutschland seit 1900 schätzt Höhns den architektonischen und architekturhistorischen Wert der Südtirolersiedlungen weit bedeutender ein, als Achleitner. Höhns, S. 285

Vorarlberger Sonderweg

Randsiedlungen anstelle von Geschoßwohnbau

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Friedrich Achleitner, der diesen Standpunkt mit seinem nationalen Register Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmt, dokumentiert unter den Vorarlberger Südtirolersiedlungen, allesamt entworfen unter Leitung des deutschen Chefarchitekten Fritz Vogt, nur diejenige in Bregenz als größte des Landes und kommentiert bezeichnenderweise deren Architekturform nicht spezifisch im Kapitel Vorarlberg, sondern summarisch, zusammen mit der Werkssiedlung der Reichswerke Hermann Göring in der oberösterreichischen Stadt Steyr (1939–45).14 Seine Klassifizierung „alldeutsche Modifikation ländlichen Biedermeiers“, verbunden mit dem Nachsatz „Heimatschutzstil der Stuttgarter Schule“, erzeugt neben der personellen diejenige ästhetische Abgrenzung, die die Vorarlberger Südtirolersiedlungen als Fremdkörper aus der Architekturgeschichte des Landes ausgrenzen: als deutsche (nationsfremde), nichtregionale (regionsfremde), historistische (zeitfremde) und schließlich bürgerliche (aufklärungsfremde) Architekturform. Aus dem spezifischen Blickwinkel der vorliegenden Studie, die Architektur nicht allein als Kulturtechnik, sondern ebensosehr als Technik, eine Gesellschaft zu regieren15, als social engineering16 betrachtet und die darüber hinaus innerhalb einer „gesellschaftlichen Architekturpraxis“ das Bauen in seiner logistischen und materialspezifischen Bedeutung wenigstens gleichwertig neben den „Entwurf“ stellt, treten jedoch neben den Trennstellen, die Achleitner betont, prägnante Verbindungslinien in Erscheinung, die geeignet sind, die Vorarlberger Südtirolersiedlungen neu zu bewerten und als unverzichtbaren Bestandteil der Architekturgeschichte des Landes anzusehen. Einem sozialwissenschaftlich bestimmten Verständnis von Architektur folgend, finden wir solche Nahtstellen auf der Institutionenebene und in der Baupraxis. Es sind die Siedlungsgesellschaften17 als diejenigen konkurrenzlosen Repräsentanten jeglichen großmaßstäblichen Wohnbaus, die die Architekten der Generation Hans Purins am Beginn ihrer Berufspraxis als institutionelles Umfeld vorfinden und gegen die sie ihre Architekturauffassung zu profilieren beginnen. Siedlungsgesellschaften wie die Vogewosi sind die institutionellen Nachfolger des nationalsozialistischen Sozialwohnbaus und damit für Vorarlberg, das im Gegensatz zu Wien keinen „sozialistischen“ Massenwohnbau kennt, die aus den landesspezifischen Gegebenheiten historisch gewachsenen und staatlich legitimierten Träger für den Wohnbau. 14 Achleitner (1980), S. 108/109 15 Zum Verhältnis von Architektur und Staat vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 16 Im politikwissenschaftlichen Sinn als Anstrengungen zur Veränderung oder Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen verstanden. 17 Siedlungsgesellschaften sind gemeinnützige Bauträger. Ihnen obliegt der öffentliche Wohnbau, Errichtung, Instandhaltung und Verwaltung von Mietwohnanlagen. Gewinne werden nur im gesetzlich vorge-

schriebenen Rahmen erwirtschaftet und, etwa im Fall der Vorarlberger Vogewosi, sofort in neue Projekte investiert. Haupteigentümer der Vogewosi, die aktuell (2008) 15.385 Wohnungen verwaltet, ist mit einem Anteil von 70,95% das Land Vorarlberg. www.de.wikipedia.org/wiki/Vogewosi; 60 Jahre VOGEWOSI, in: Wirtschaftszeit 04/2008; Eine Vorarlberger Institution in: www.vogewosi.at 18 GW: Z 178 ff 19 GW: Z 165 ff

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Eine Moderne in der Architektur ist unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in der Vorarlberger Gesellschaft nicht repräsentiert. Auch die Kommunikation innerhalb der sozialen Elite, die die modern eingestellten Architekten des Landes verkörpern, ist zwischen der in den 1920er und -30er Jahren tätigen Generation und ihrem „Nachwuchs“, der zu Beginn der 1960er Jahre die Hochschulen verläßt, abgerissen. So zerfällt etwa für Gunter Wratzfeld eine kulturelle Kontinuität in der Architekturmoderne Vorarlbergs in die wahrnehmbare Repräsentation durch Bauten und eine fehlende Vermittlung durch Persönlichkeiten. Für ihn, der in den 1960er Jahren seine Berufslaufbahn angetreten hat, sind die wenigen Beispiele von Einfamilienhäusern in moderner Architektursprache, die es aus der Vorkriegszeit im Land gibt, durchaus präsent. Es gibt ja ein paar hervorragende Bauten aus den dreißiger Jahren im Land Vorarlberg, oder, ob das Dönz /Reznicek in Bludenz waren oder Ströbele in Bregenz, die waren ja guat, die Dinger.18

Die Architekten jener Zeit stehen jedoch als Ansprechpartner oder präsente „Vaterfiguren“ in Bezug auf formale Haltungen nicht mehr zur Verfügung. Zwischen der Vorkriegs- und der Nachkriegs-Architektengeneration reißt die Kommunikation tatsächlich ab. Die Leute, die in den dreißiger Jahren ihre Häuser im Stil der Zeit gebaut haben, die waren ja, um nicht zu sagen, geächtet, aber das waren Außenseiter. (...) Also die Vorarlberger Architekten (...) wie Ströbele, die haben nach dem Krieg nicht mehr Fuß gefaßt. Die waren, mit denen konnte man auch schlecht ein Gespräch aufbauen, die hatten selbst auch keine Beziehung mehr zu dem, was sie in den dreißiger Jahren gemacht haben.19

Auch wenn die Nachkriegsgeneration damit in gewisser Weise einen berechtigten Anspruch stellen könnte, als „Gründungsgeneration“ zu gelten, erhebt zumindest Wratzfeld keinen solchen, sondern setzt aus seiner Sicht eine, wenn auch nur in Spuren vorhandene Moderne fort, die er im Land vorfindet. Es ist das gesellschaftliche Reformprojekt, welches sich in moderner Architektur repräsentiert, das für diejenige Architektengeneration, der Purin und Wratzfeld angehören, einen Neubeginn erfordert. Einen Neubeginn, der erschwert ist durch die formale Charakteristik des baulichen Bestandes, dessen traditionalistische Gestalt die staatlichen Repräsentanten darin bestärkt, ebendiese formale Haltung als Vorarlberger Bautradition fortzusetzen. Die Baubehörden, das wichtigste Gegenüber der Architekten bei der Realisierung moderner Bauten, sind in den 1960er Jahren personell und ideell weiterhin auf die Südtirolersiedlungen und ihre Ästhetik eingestellt. Die Architekturmoderne der Nachkriegszeit in Vorarlberg hat sich damit gegen den Widerstand staatlicher Repräsentanten als Subversion zu etablieren und nicht, wie im Wien der 1920er Jahre, als Staatsbaukunst zur Repräsentation der neugeschaffenen Ersten Republik Österreichs.20

„Stunde Null“ der Vorarlberger Architekturmoderne?

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Vorarlberger Arbeitersiedlungen

Als von der Industrialisierung geprägte Landschaft ist das Vorarlberger Rheintal derjenige Ort, an dem gemäß dem Geschichtsmodell der „orthodoxen Moderne“21 auch eine moderne Architektur zu Hause wäre, hätte die Industrialisierung ein großstädtisches anstelle eines dezentralisierten ländlichen Siedlungsgebiets zu ihrem Ausgangspunkt genommen. Die Arbeitersiedlungen, die im Gefolge der hier gegründeten Textilfabriken entstehen, bleiben in Vorarlberg moderat in der Größe und werden, dem kleinstädtisch-dörflichen Umfeld sowie dem dominanten politischen Konservatismus22 geschuldet, nicht zu den modernen Wohnvierteln, die für Österreich neben der Hauptstadt Wien vor allem in Industriestädten wie Linz oder Graz eine das Stadtbild prägende Architekturmoderne schaffen.23 Die konservative Sozialpolitik der Vorarlberger Fabrikherren, die auf eine Aufrechterhaltung einer Nebenerwerbslandwirtschaft des einheimischen Anteils ihrer Arbeiterschaft setzt, vermeidet so die Herausbildung einer neuen sozialen Klasse, eines Industrieproletariats, und dessen politischer Solidarisierung unter der Fahne der Sozialdemokratie. Mit einem Industrieproletariat fehlt in Vorarlberg das soziale Pendant zum funktionalistischen Massenwohnbau und damit diejenige „notleidende Klasse“, die andernorts das gesellschaftliche Reformprogramm einer Architekturmoderne der 1920er Jahre legitimiert hatte.24

Massenwohnbau für Südtiroler

Es sind in Vorarlberg nicht die „modernen“ 1920er Jahre, sondern erst die NS-Zeit ab 1938, die mit der Einwanderung der Südtiroler„Optanten“25 einen den kommunalen Wohnbaukampagnen der 1920er Jahre in Wien, Frankfurt 20 Die Bedeutung der 1920er-Jahre-Moderne Österreichs ist hinsichtlich ihrer politischen Voraussetzungen unabhängig von derjenigen Deutschlands zu sehen. Mit dem Wiener Wohnungsbau der 1920er Jahre geht gleichzeitig eine neue Staatsgründung einher, die weit schwierigere Bedingungen stellt als in Deutschland der Übergang von einer Monarchie zur Demokratie. Dies verleiht der österreichischen 1920er-Jahre-Moderne einen Gründungshabitus, der, eher als mit der deutschen, etwa mit der finnischen Moderne vergleichbar ist, insofern, als hier der Moderne die Aufgabe zufällt, das neuerwachte Selbstbewußtsein eines demokratisch verfaßten Staates zu verkörpern. 21 Vittorio Magnago Lampugnani: Einleitung zu ders.: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Bd. 1: Reform und Tradition 22 Dietrich weist in seiner Studie über die Vorarlberger Randsiedlungen der 1920er Jahre nach, daß dieser organisierte, „massenhafte“ Einfamilienhausbau Vorarlbergs eine bewußte, auch politisch konnotierte Gegenposition zum Modell des Wiener Wohnungsbaus darstellt. (Dietrich, S. 50) Wratzfeld teilt mit, daß in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs diese Vorbehalte gegenüber

dem „modernen“ Wohnbau der 1920er Jahre aufgrund von dessen politischer Konnotierung weiterbestehen. (GW: Z 231 ff) Die Abwesenheit einer Wohnbau-Moderne in Vorarlberg bis in die 1960er Jahre ist also nicht nur einer passiv wirkenden „Fortschreibung“ der ländlich bis kleinstädtisch geprägten Siedlungsstrukturen des Landes, sondern auch einer aktiven, politisch motivierten „Abwehr“ zuzuschreiben. 23 Wratzfeld erwähnt neben dem kommunalen Massenwohnbau die Werkbundsiedlungen, die Ende der 1920er Jahre in europäischen Großstädten errichtet wurden, um typologische Vorbilder für den modernen Wohnbau zu schaffen. Nach seiner Einschätzung ist die als Weißenhofsiedlung bekannte Stuttgarter Werkbundsiedlung „noch prägnanter und (...) vor allem städtebaulich sicher noch besser“ als die Wiener Werkbundsiedlung. (GW: Z 516 ff) Wratzfelds Einschätzung einer Dominanz Deutschlands in der Entwicklung der Architekturmoderne kommt auch in seiner Bemerkung zu Roland Rainers Architekturlehre zum Vorschein, der auf „jene(r) Entwicklung, die speziell in Wien gemacht worden ist“, schon auch aufgebaut habe, „nicht nur auf dem Bauhaus“. (GW: Z 511 ff)

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oder Berlin vergleichbar großen und ebenso schlagartig zu deckenden Wohnungsbedarf schafft und die Südtirolersiedlungen damit für Vorarlberg zum prägenden Typ eines verdichteten städtischen Siedlungsbaus werden lassen. In dieser Eigenschaft eines prägenden Typs sind sie unmittelbares Vorbild und Anknüpfungspunkt für den Vorarlberger Wohnungsbau der Nachkriegszeit durch die Siedlungsgesellschaften. Wratzfeld: Aus dieser baugeschichtlichen Entwicklung heraus hat sich das einfach nach dem Krieg fortgesetzt und der soziale Wohnbau hat sich nicht stark unterschieden von dem sozialen Wohnbau, der im Dritten Reich gemacht worden ist. Ja, was ist dazugekommen, irgendwo ein paar Balkone, nicht. Aber sonst nicht viel.26

Die Bruchlosigkeit des Übergangs vom Nationalsozialismus zur österreichischen Zweiten Republik auf dem Sektor des Vorarlberger Wohnungsbaus ist nicht nur in der Architekturform feststellbar. Wichtiger und nachhaltiger erscheinen die institutionellen und personellen Kontinuitäten. Siedlungsgesellschaften wie die Vogewosi werden nach dem Krieg formal neu gegründet27, behalten jedoch den Wohnungsbestand aus der Zeit des Nationalsozialismus und, wichtiger noch, ihre institutionelle Dominanz auf dem Sektor des Wohnungsneubaus. Neben den Siedlungsgesellschaften gewährleisten die Baubehörden eine Aufrechterhaltung der konservativen Formideale der NS-Zeit. Hier dürfen personelle Kontinuitäten angenommen werden, die aus der NS-Zeit in die 24 Das pädagogische Projekt einer Ästhetischen Erziehung der Arbeiterschaft durch funktionalistisch gestalteten Wohnbedarf – und sein Scheitern – arbeitet Moos exemplarisch an der Person Sigfried Giedion heraus. Vgl. Moos, S. 795 25 „Vorarlberg, das unter den österreichischen Bundesländern seit über zwei Jahrzehnten den größten Zuwanderungsüberschuß aufweist, hat seine Zugezogenen in mehreren Wellen erhalten. Waren in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und nach 1950 in erster Linie wirtschaftliche Motive für die Zuwanderung ausschlaggebend, so kamen zwischen 1940 und 1950 infolge des Zweiten Weltkrieges rund 20.000 Personen aus politischen Gründen nach Vorarlberg, deren größte Gruppe die Südtiroler Optanten (rund 9200 Personen) bildeten...“ Greber, S. 259 GW: Z 277 ff 26 Daneben werden weiterhin Werkssiedlungen gebaut. Daß auch diese dem formalen Trend des staatlich geförderten Wohnungsbaus folgten und sich durch „ideologische Anleihen bei der Siedlungspolitik der Nationalsozialisten“ auszeichneten, dokumentiert Bertsch am Beispiel der „Dr. Fritz Schindler Siedlung“, die 1950 in Kennelbach in Form eines „Miniaturdorfs“ errichtet wurde. Bertsch (1994), S. 17 ff 27 Eine institutionelle Kontinuität aus der NS-Zeit in die österreichische Zweite Republik der Nachkriegszeit läßt sich für die Tiroler Siedlungsgesellschaft

Neue Heimat Tirol feststellen, die 1939 zur Schaffung von Wohnraum für die Südtiroler Umsiedler („Optanten“) geschaffen worden war. Als ehemaliges deutsches Eigentum sprach sie der österreichische Staatsvertrag von 1955 der Republik Österreich zu, die die Gesellschaft 1968 zu gleichen Teilen an das Land Tirol und die Stadtgemeinde Innsbruck übergeben hat. Heute ist die Neue Heimat Tirol laut Darstellung ihrer homepage www.neueheimattirol.at der „größte Bauträger Westösterreichs“. Die Weiterverwendung des Namens „Neue Heimat“ erscheint absurd, da er die Funktion des Wohnungsbaus durch Siedlungsgesellschaften im Dienst der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik konserviert. Die Vogewosi betont in ihrem Internetauftritt ausdrücklich, daß „keine rechtliche Identität mit früherer Gesellschaft“, der 1939 gegründeten Vogewosi, existiert. Diese war bereits 1943 in die nationalsozialistische Neue Heimat Tirol eingegliedert und damit als eigenständiges Unternehmen aufgelöst worden. Nach der Neugründung der Vogewosi 1948 erfolgte 1957 der Rückkauf ihres 1943 in die Neue Heimat Tirol eingeflossenen, aber in Vorarlberg gelegenen Siedlungsbestandes (größtenteils Südtirolersiedlungen) durch das Land Vorarlberg und 1969 schließlich die Übertragung dieses Bestandes an die neue Vogewosi. Die übrigen in Vorarlberg tätigen Siedlungsgesellschaften nennt Wratzfeld in: GW: Z 1291 ff.

Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Zweiter Republik

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Nachkriegszeit herüberreichen. Sie bestimmen thematisch wesentlich jene Auseinandersetzungen, die die Architektengeneration der 1960er Jahre zur Durchsetzung ihrer Konzepte zu führen hatte. Wratzfeld: Das war in deren Köpfen drinnen, oder, und ein nicht-gesprosstes Fenster war für die schon a Todsünd. Also, da bist schon g’straft worden.28

Voraussetzungen für die Südtirolereinwanderung nach Österreich

Die politische Voraussetzung für die Einwanderung der Südtiroler nach Österreich schafft das Hitler-Mussolini-Abkommen vom 23. Juni 1939, das vorsieht, Mussolinis Bestrebung einer vollständigen „Italianisierung“29 des bei den Friedensverhandlungen von St.-Germain 1919 dem Königreich Italien zugeschlagenen Südtirol30 mit seiner deutschsprachigen Bevölkerung durch Aufnahme des auswanderungswilligen Anteils dieser Bevölkerung zu unterstützen. Diese Unterstützungszusage ist als deutsche Gegenleistung für das Stillhalten Italiens beim „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 zu sehen.31 Um Befürchtungen auf italienischer Seite zu zerstreuen, Südtirol könnte in den „Anschluß“ Österreichs einbezogen werden, anerkennt Hitler anläßlich eines Italienbesuchs am 7. Mai 1938 Mussolini gegenüber die Brennergrenze als endgültig.32 Bei der Umsetzung des Abkommens von 1939 ergeben sich beiderseits der Grenze rasch organisatorische Schwierigkeiten. Nachteilige Folgen für 28 GW: Z 284 ff 29 „Die Italianisierung bezeichnet den Versuch der ab 1922 regierenden faschistischen Regierung Italiens, die im Rahmen des Irredentismus einverleibten Gebiete mit nichtitalienischer Bevölkerungsmehrheit sprachlich und kulturell italienisch zu dominieren und ihrer gewachsenen Identität zu berauben. Frühzeichen waren schon ab 1921 während des Bozner Blutsonntags bemerkbar.“ www.wikipedia.org/wiki/ Italianisierung; Stand 30.09.2008 Greber zitiert einen Ausspruch des italienischen Ministerpräsidenten Salandra von 1920, also zwei Jahre vor Mussolinis Regierungsübernahme von König Viktor Emmanuel, die am 28. Oktober 1922 erfolgte: „Nachdem wir den Brenner mit den Waffen erobert haben, müssen wir ihn jetzt durch und durch italienisch machen.“ Greber, S. 261 30 Im Londoner Geheimvertrag vom 26. April 1915 zwischen Italien und der Entente war Italien für seinen Kriegseintritt gegen die Donaumonarchie neben anderem auch die Brennergrenze zugesagt worden. „Die italienische Einverleibung vollzog sich gegen den ausdrücklichen Willen der Südtiroler Bevölkerung: Sämtliche Südtiroler Gemeinden verlangten im Februar 1919 in einer Denkschrift an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson den Verbleib bei Österreich (...). Durch den Friedensvertrag von St. Germain hatten über 220.000 Deutsche (sic!) und knapp 10.000 Ladiner die italienische Staatsbürgerschaft anzunehmen.“ Greber, S. 261

31 „Die Anerkennung der Brennergrenze muß jedoch auch als Dank Hitlers an Mussolini („Duce, das vergesse ich Ihnen nie“) für dessen neutrale Haltung bei dem Anschluß Österreichs gesehen werden.“ Greber, S. 263 32 „Durch den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 war die deutsch-italienische Freundschaft bezüglich dem Südtiroler-Problem einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. Denn einerseits wurden in Südtirol Erwartungen, andererseits in Italien Befürchtungen geweckt, der Anschluß würde sich später auch auf Südtirol erstrecken. Um die italienischen Bedenken zu beseitigen, anerkannte Hitler am 7. Mai 1938 auf seinem Italienbesuch (...) die Brennergrenze als endgültig.“ Greber, S. 262 Bezüglich des Widerspruchs, der zwischen der „Lebensraum-Politik“ des Dritten Reichs und seinem Verzicht auf einen Anschluß Südtirols an das Gebiet des Deutschen Reichs besteht, weist Greber darauf hin, daß Hitler bereits in Mein Kampf erklärt hatte, von einer Wiedergewinnung Südtirols abzusehen. Greber, S. 263 Auf italienischer Seite war die Umsiedlungsidee ein Rückgriff auf ältere, extrem nationalistische italienische Forderungen, die bis in die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zurückreichen, noch ehe ein ethnisches Problem Deutschsüdtirol bestand. Greber, S. 263 33 Greber, S. 259

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eine zügige Umsetzung des Umsiedlungsprogramms zeigt insbesondere der im Jahr des Abkommens vollzogene Kriegseintritt Deutschlands, dem das verbündete Italien 1940 folgt. So ist 1943, als in Italien die faschistische Macht besiegt ist, erst etwa ein Drittel der Südtiroler Bevölkerung umgesiedelt.33 Voraussetzung für die Identifizierung des auswanderungswilligen Bevölkerungsanteils Südtirols ist die 1939 in Form einer Volksbefragung durchgeführte „Option“. Bis zum 31. Dezember 1939 müssen alle Südtiroler entscheiden, ob sie deutsche Reichsangehörige werden oder Italiener ohne jegliche Minderheitenrechte bleiben wollen.34 Ein weit überwiegender Teil der Südtiroler35 entscheidet sich für die deutsche Staatsbürgerschaft und damit für eine Auswanderung.36 Fest steht, daß die Menge an Auswanderungswilligen in der Südtiroler Bevölkerung, die die Optionsauswertung erkennen läßt, für die italienischen Behörden völlig unerwartet kommt und ein wirtschaftlicher Ruin der Provinz als Folge der Auswanderung befürchtet wird. Das Augenmerk der Politiker richtet sich dabei vor allem auf den Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung, den die einheimische Bauernschaft leistet, sowie die im Vergleich zu anderen Bevölkerungsteilen hohen Entschädigungszahlungen als Gegenwert ihrer Höfe. Die Auswanderung der Bergbauern wird 34 „Optionserklärungen wurden später noch bis Juni 1940 entgegengenommen.“ Greber, S. 264 35 Das genaue zahlenmäßige Ergebnis dieser Befragung ist zwischen deutscher und italienischer Seite strittig. Während deutsche Quellen die Quote der Deutschlandoptanten mit 86% angeben, liegt der Prozentsatz in italienischen Angaben bedeutend niedriger. 36 Auch für die Interpretation des Optionsergebnisses gibt es mehrere Auslegungen. Wratzfeld, dessen Sichtweise durch seine Kenntnis des Schicksals eigener Südtiroler Verwandter geprägt ist, einem „Großonkel in Bozen, der war Weinbauer und dem ist nichts geschehen während dieser Zeit“, gibt in unserem Gespräch primär den Wunsch nach wirtschaftlichen Verbesserungen und erst nachgeordnet Affinitäten zum Nationalsozialismus als Motivationen der Auswanderungswilligen an. Den Bauern innerhalb der Südtiroler Bevölkerung rechnet er wegen ihrer Verhaftung an Grund und Boden die größte Heimatverbundenheit zu. GW: Z 300 ff Greber betont in seiner Interpretation vor allem die Auswirkung der Diskriminierungen, denen die deutschsprachigen Südtiroler seit Beginn der italienischen Herrschaft über ihr Heimatland ausgesetzt waren: „Der überwältigende Mehrheitsentscheid für das Deutsche Reich ist als eine klare Absage an die italienische Nationalisierungspolitik zu verstehen, und nicht, wie von italienischer Seite mehrfach ausgesprochen, als ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus.

Daß in Südtirol nach beinahe zwanzigjähriger faschistischer Unterdrückung das Bewußtsein von einer Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis stark vorhanden war, ist nur verständlich. Ebenso darf die Begrüßung der deutschen Truppen während deren Besetzung Südtirols 1943 bei sehr vielen Südtirolern nicht als Kundgebung für die nationalsozialistische Ideologie gesehen werden; sie sahen nun vielmehr die drohende Gefahr der Umsiedlung schwinden. Außerdem wurde von italienischer Seite der Option für Deutschland durch kurzfristige Entlassungen der Südtiroler aus dem öffentlichen Dienst, Kündigungen von Pacht- und Mietverträgen und durch eine Äußerung des Bozner Präfekten Mastromattei am 20. Juni 1939 Nachdruck verliehen: „Diejenigen, welche von der Möglichkeit, für Deutschland zu optieren, keinen Gebrauch machen, werden in die Provinzen südlich des Po verpflanzt werden.“ Die massive Propaganda für die Option und das Beispiel angesehener Persönlichkeiten trugen im übrigen zum klaren Votum für Deutschland bei.“ Greber, S. 266 Am wenigsten erscheint diejenige Interpretation durch die Quellenlage gedeckt und verallgemeinerbar, die von einer „erzwungenen Aussiedlung“ spricht, wie sie der Historiker Erwin A. Schmidl für einen nicht näher bezeichneten „Teil“ der deutschsprachigen Südtiroler angibt. In: „Duschen aus der Dose“; Die Presse, 27.10. 2007, Spectrum, S. IV

„Option“

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Italianisierung Südtirols

in der Folge zunehmend weniger gefördert, statt dessen konzentriert sich das Augenmerk der italienischen Behörden auf „unruhige Elemente“, die Südtiroler Intelligenz. Daneben scheint die Bevölkerung der Städte und größten Ortschaften und die Obst- und Weinbauern in den Talschaften mit geringeren Schwierigkeiten durch Italiener ersetzbar als die Bergbauern. Bereits seit 1935 war begonnen worden, in Bozen eine Industriezone zu errichten und so die Voraussetzungen zur Schaffung eines Industrieproletariats in der bis dahin vorwiegend agrarischen Südtiroler Gesellschaft durch Masseneinwanderung von Süditalienern nach Südtirol herzustellen. Obwohl es, Greber zufolge, vor allem Himmler ist, der in seiner Funktion als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums die italienischen Forderungen mit eigenen Vorstellungen einer ethnischen Radikallösung noch übertrifft, treten auch auf deutscher Seite rasch Schwierigkeiten auf, hier in der Bereitstellung des erforderlichen Wohnraums, die den auf politischer Ebene vereinbarten Zeitplan auszuhebeln drohen.

Gründung der Vogewosi

Zu einer Vorarlberger Geschichte wird der Bau der Südtirolersiedlungen nicht auf der Ebene der Architektur, sondern derjenigen der Baupraxis. Es ist der Vorarlberger Architekt, Bauunternehmer und frühe Nationalsozialist37 Alois Tschabrun, der in dieser Situation die Initiative ergreift und mit der am 27. 04.1939 gegründeten „Vorarlberger gemeinnützigen Wohnungsbau- und Siedlungsgesellschaft“, kurz Vogewosi, seine Praxis und in früheren Siedlungsprojekten erworbene organisatorische Kompetenz38 im Siedlungsbau einsetzt. Bereits im Frühjahr 1939 zieht die Gründung der Vogewosi die Zustimmung von siebzehn Gemeinden zum Bau von insgesamt fünfhundert Eigenheimen und zwanzig Mietwohnungen nach sich. Das Abkommen zwischen Hitler und Mussolini über die Umsiedlung der Südtiroler wertet bereits ein knappes halbes Jahr später den massenhaften Wohnungsbau zum „Kriegswichtigen Projekt“ auf und bezieht Tschabruns Vogewosi neben der Tiroler Neuen Heimat 39, der Alpenländischen Heimstätte und der Siedlungsgesellschaft der Stadt Salzburg in die Pläne des Innsbrucker Gauleiters Hofer zur Errichtung von Südtirolersiedlungen ein. Durch sein reichsweit beachtetes Bautempo sollte Tschabrun für Vorarl37 „Im Sommer 1933 trat er der NSDAP-Ortsgruppe Nenzing bei. Zu einer offiziellen Aufnahme in die Partei kam es allerdings nicht mehr, da die NSDAP in Österreich am 19. Juni 1933 verboten wurde.“ Tschabruns aktive Rolle als Propagandist der nunmehr illegalen Nationalsozialisten führte 1934 zu einer Verurteilung und einem insgesamt einjährigen Gefängnisaufenthalt. Nach dem „Anschluß“ Österreichs dankte die Partei Tschabrun „mit der Verleihung des Blutordens und mit der Berufung zum Leiter einer neu geschaffenen Raumordnungsstelle bei der Vorarlberger Landesregierung“. Pichler (2007), S. 270 ff

38 Pichler dokumentiert ein erstes, unter Tschabruns Regie in Selbsthilfe errichtetes Projekt in Weil am Rhein für 60 Siedler aus dem Jahr 1935. Die Finanzierung war durch Sperrmark erfolgt, Gelder von Konten deutscher Juden, die die Besitzer selbst nach Sperrung durch die Nationalsozialisten nicht mehr abheben durften. Pichler (2007), S. 272 39 Höhns zufolge ein Unternehmen der nationalsozialistischen Deutschen Arbeitsfront. Höhns, S. 286 40 Pichler (2007), S. 276 ff 41 Greber, S. 259 42 Vgl. dazu die ausführliche Schilderung bei Pichler (2007).

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berg in der Folge weit größere Anteile am Gesamtkontingent der zu errichtenden Südtirolersiedlungen zugesprochen bekommen, als ursprünglich vorgesehen war. 1941, als sich das staatlich unterstützte Wohnbauprogramm kriegsbedingt verlangsamt und schließlich zum Stillstand gekommen war, sind es 2096 Wohnungen in 430 Häusern in Bregenz, Lochau, Hard, Dornbirn, Lustenau, Götzis und Feldkirch.40 Weit größere Anteile der auswandernden Südtiroler sind nach Vorarlberg gekommen, als politisch vorgesehen war. Schließlich sind es 9200 Südtiroler als größte Gruppe unter den insgesamt 20.000 Einwanderern, die aus „politischen Gründen“41 zwischen 1940 und 1950 nach Vorarlberg kommen, was zehn Prozent der Vorarlberger Bevölkerung entspricht. Bemerkenswert für den hier betrachteten Kontext ist weniger das weitere Schicksal Alois Tschabruns42, als die völlige Ausblendung seiner Person und Rolle aus den architekturbezogenen Dokumentationen der Vorarlberger Südtirolersiedlungen, soweit sie im Rahmen der vorliegenden Studie auffindbar waren. In Umkehrung der tatsächlichen Abhängigkeiten43 weist Wratzfeld dem Chefarchitekten Fritz Vogt – „der hat die ganzen Vorarlberger Architekten sozusagen in einem Büro vereint“44 – sogar die Initiative und zentrale Rolle beim Bau der Südtirolersiedlungen zu. Achleitner45 beschränkt sich in seinem Standardwerk auf die Bregenzer als größter Vorarlberger Südtirolersiedlung46 und gibt neben Vogt lediglich einen zweiten „Entwerfer“, Helmut Erdle, an. Darüber hinaus finden die Vorarlberger Südtirolersiedlungen in den Lebenserinnerungen des nationalsozialistischen „Landschaftsanwalts“ Alwin Seifert47, Verfasser des noch heute im Rahmen der Vorarlberger Bauernhausforschung zitierten Werks Das echte Haus im Gau Tirol-Vorarlberg, Erwähnung, auch hier nur unter Vogts Autorenschaft.48 Nach dem Krieg wird die 1948 neugegründete Vogewosi erneut zu einer der größten Siedlungsgesellschaften Österreichs und schafft in ihrer institutionellen Dominanz jene Voraussetzung, gegenüber der die Purin-Generation der Vorarlberger Architektenschaft als „Baukünstler“ ihr Profil gewinnt.49 Erst Ende der 1960er Jahre beginnen neben den Siedlungsgesellschaften auch private Bauträger50 mit großmaßstäblichem Wohnbau im Land.

Bilanz des Südtirolerprogramms

Tschabrun, Vogt, Erdle

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43 Vgl. die Rede Vogts zum 90. Geburtstag seines ehemaligen „Chefs“ Tschabrun in: Alois Tschabrun: Marktstraße 51, Dornbirn –Ein politischer Freiraum; Bregenz 1993, S. 78 ff; Hinweis auf diese Quelle bei Pichler (2007). 44 GW: Z 382 f 45 Achleitner (1980), S. 415 46 Gegenüber Achleitners Charakterisierung der architektonischen Formensprache der Vorarlberger Südtirolersiedlungen („Heimatschutzstil“, vgl. Anm. 14) scheint mir Wratzfelds Interpretation, der die Augsburger Fuggerei (1516–25 errichtete, erste europäische „Sozialsiedlung“) als konkretes Vorbild angibt, die treffendere zu sein. Das „Bild“ der Fuggerei faßt zusätzlich das archetypische Modell einer patriarchalischen Fürsorge und damit jene politisch inszenierte Haltung gegenüber den „heim ins Reich“ geholten Südtirolern, die auch der Name der Tiroler Siedlungsgesellschaft Neue Heimat vermittelt. Für die Unentrinnbarkeit einer solchen „Fürsorge“ stehen sowohl die noch heute allabendlich geschlossenen Tore der Augsburger Fuggerei als auch die symbolhaften Torbögen über den Erschließungsstraßen der Vorarlberger Südtirolersiedlungen. 47 Zur rassistischen und speziell antisemitischen Orientierung Seiferts findet sich in seinen hier zitierten Lebenserinnerungen ein verschlüsselter Satz, der sich demjenigen erschließt, der den umschriebenen Fachausdruck „Jud“ kennt: „Die Sichtflächen [einer

Natursteinmauer] zu ,beleben‘ dadurch, daß einzelne Steine ,aufgestellt‘ werden, ist ein schwerer Kunstfehler; in der Zunftsprache der Steinmetzen haben diese Aufsteller sehr treffende Namen, die sie als nichthineingehörig kennzeichnen.“ Seifert (1962), S.78 Vgl. auch Abschnitt Holzbau – Massivbau, Kapitel Holz, Anm. 17 48 „Ein schwäbischer Architekt [Fritz Vogt, dessen Herkunft Wratzfeld mit Ravensburg, Achleitner mit Stuttgart angibt] hatte für jene Südtiroler, die für Deutschland optiert hatten und nun aus Südtirol auswandern mußten, Siedlungen zu bauen. Tiroler Architekten warfen ihm vor, daß er nicht tirolisch baue mit breiten Giebeln, mit Erkern, Balkonen und Fresken. Ich wurde als Gutachter nach Innsbruck gebeten und mußte dem anwesenden Gauleiter Hofer sagen, daß man Kleinwohnungen nicht in der Art bauen könne, daß man von einem mächtigen Unterinntaler Bauernhof eine Giebelscheibe abschneide. Die Vorarlberger Siedlungen des schwäbischen Architekten seien vorbildlich; bei den Tirolern merke man an Kleinigkeiten, daß er eben ein Schwabe sei und kein Baier.“ Seifert (1962), S. 144 f 49 Purin, S. 15 50 Nach Auskunft von Peter Greußing war Rhomberg unter den ersten privaten Bauträgern, die diesen Entwicklungsschritt vollzogen haben. (PG: Z 4 ff) Vgl. auch Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus.

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101 2.3 Baukünstler Um 1965 kam der Architekt und Autor Friedrich Achleitner erstmalig nach Vorarlberg, machte uns mit seinem Architekturführerprojekt bekannt und wollte u.a. auch unsere Bauten sehen. Nach einer der ersten Fahrten durch das Land, auf der ich ihn begleitete, sagte er am Abend: „Ist euch eigentlich bewusst, dass das, was ihr da macht, etwas ganz Einmaliges ist?“ Mir war es jedenfalls nicht bewusst. Ich fand das alles ganz normal und nichts Besonderes...1

Am Beginn dieses Abschnitts steht eine einfache Frage: Wer oder was sind die Vorarlberger Baukünstler? Dem Leser sollte im Forschungsfeld, dessen „Architekturgeschichte“ im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits siedlungsgeographisch und im zweiten Abschnitt, bezogen auf den Wohnbau, institutionengeschichtlich skizziert worden ist, nun auch für die Architekturentwicklung der Vorarlberger Nachkriegszeit und ihrer Fokussierung auf die Gruppe der „Baukünstler“ diejenige Grundorientierung geboten werden, die ihm erlaubt, das Phänomen, in dessen Diskussion er im Folgenden verwickelt werden wird, innerhalb eines Rahmens übergeordneter und unbezweifelter Tatsachen zu verorten. Den Autor stellt bereits die Frage selbst und mehr noch der Anspruch „objektiver“ Orientierung vor ein Dilemma, das in der Eingangsszene illustriert ist. Hans Purin, im Juni 2010 verstorbene Kernfigur2 einer ersten Generation jener „Vorarlberger Baukünstler“, hat uns dieses Ereignis überliefert, das als Initialzündung des Vorarlberger Architekturwunders gelten darf. Das angedeutete Dilemma, das der Anspruch architekturhistorischer Orientierung schafft, liegt darin begründet, daß die Szene die Konturiertheit der Bedeutung von Architektur und folglich auch jegliche Objektivität im Nachvollzug ihrer Geschichte auflöst. Zwischen den Blickwinkeln der beiden Akteure, die Purin hier einander gegenüberstellt, dem aus Wien angereisten Architekturhistoriker, der soeben eine Entdeckung gemacht hat, und dem Erzähler selbst, einheimischer Baukünstler3 ohne Architektenstatus und in diesem Moment noch völlig mit dem Gegenstand jener Entdeckung verschmolzen, die die bislang unberührte Normalität seiner Lebenswelt ist, stellt sich Architektur als Produkt einer Zuschreibung von Eigenschaften dar, die sie innerhalb ihres baulichen Umfelds erst bemerkenswert und als Exemplarisches bedeutsam macht. Mag der Architekt in seinem Entwurf noch so qualitätsbewußt und berufsethisch korrekt gehandelt haben, es ist erst der Architekturhistoriker, der über die Aufnahme des entstandenen Werkes in den Kanon befindet, mit diesem Akt die Qualität, Architektur und damit Kunst zu sein, bestätigt4 und gleichzeitig dem Geltungs- und Wirkungsanspruch des Architekten als Person, ebenso wie dem Wert- und Schutzanspruch seines Werkes, gesellschaftliche Legitimität und Durchsetzungskraft verleiht.5 Im Fall unseres Forschungsgegenstandes, der Vorarlberger Baukunst, als Phänomen einer gesellschaftlichen Architekturpraxis betrachtet, ist die Entwicklung, die mit Achleitners „Entdeckung“ beginnt und die Vorarlberger

Architektur als Produkt von Zuschreibung

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Kriterien für die Einordnung in den Kanon

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Architektenschaft heute in die Position einer normativ wirksamen Institution setzt, zunächst mit der Konstruktion eines gesellschaftlichen Architekturbegriffs von ausschließlich regionaler Gültigkeit verbunden, auf dessen inhaltliche Eckpunkte wir weiter unten zurückkommen werden.6 Auch wenn der Architekturhistoriker somit als Akteur in die Forschungsperspektive eingesetzt ist, darf seine Qualitätsselektion, die er zur Fortschreibung des aktuellen und der kritischen Rekapitulation des historischen Kanons durchführt, keineswegs als Willkürakt, darf seine subjektive Position nicht als ungebunden angenommen werden. Seine Entscheidung darüber, welcher einheimische Architekt – oder Handwerker – legitimerweise Vorarlberger Baukunst schafft und warum etwa den Architekten der in Städten und Dörfern des Landes gebauten Wohnhochhäuser aus den 1970er Jahren7 ebenso wie denjenigen rustikaler Hotelbauten in den Tourismusorten des Oberlandes der Zugang verwehrt wird8, ferner, wer von den Auswärtigen9 dazugehört und warum etwa Holzbauer mit seinem Landhaus10, ebenso wie 1 Purin, S. 16 2 Vgl. Kapfinger (2010) 3 Baukünstler bezeichnet in Österreich den Träger des Magisterabschlusses eines Architekturstudiums. Der Begriff Vorarlberger Baukünstler erhielt erst im Zusammenhang mit dem Befugnisstreit der 1980er Jahre seine heutige Bedeutung als Bezeichnung einer Architektengruppe. Vgl. Anm. 79 und 86 4 Es ist fester Bestandteil des innerfachlichen Diskurses, die Rolle von Architekturgeschichte und -theorie, speziell die bewertende und klassifizierende Wirkung ihres Kanons, für die Praxis des Faches als Fremdbestimmung zu kritisieren. Eine Stellungnahme mit langer Nachwirkung hat etwa Rudolf Schwarz in seinem Aufsatz „Bilde, Künstler, rede nicht“ abgegeben, in der er die „Kunstwissenschaft“ als „überzählige Geisteswissenschaft“ im Bett der Baukunst tituliert. Schwarz (1953/1) S. 11 Auch Otl Aicher hat sein Befremden darüber zum Ausdruck gebracht, „daß design und architektur in der theorie von den kunsthistorikern verwaltet werden“. Aicher (1991), S. 19; vgl. auch Kapitel Architektur?, Abschnitt Architektenstand, Anm. 3 Daß dieser Diskurs und damit jegliche Infragestellung der Deutungshoheit in Händen der Architekturtheoretiker im Forschungsfeld kaum in Erscheinung tritt, mag daran liegen, daß sowohl Friedrich Achleitner als auch Otto Kapfinger als denjenigen Persönlichkeiten, die den Theoriediskurs um Architektur maßgeblich bestimmen, selbst ausgebildete Architekten sind und damit als schreibende im Feld der bauenden Architekten Akzeptanz als ihresgleichen genießen. 5 In einem Interview, das Friedrich Achleitner anläßlich seines 80. Geburtstags gab, bestätigt er diese Wirkung seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert als unbeabsichtigten Effekt:

(Leeb:) „Herr Achleitner, in Ihrem Architekturführer vorzukommen, ist für Architekten sehr wichtig, weil quasi nicht existiert, was nicht drinsteht. (Achleitner:) (...) Wenn das Bundesdenkmalamt etwas im ,Achleitner‘ findet, sagt man ,Vorsicht!‘, und wenn nicht, dann nicht. (...) Die Textilschule in Dornbirn ist nur nicht abgerissen worden, weil in meinem Architekturführer fünf Zeilen enthalten waren.“ Achleitner (2010) 6 Mittlerweile verschmilzt dessen Bedeutung wieder mit dem Spektrum überregionaler Kategorien, um den Protagonisten internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. 7 Hubert Matt unternimmt am Beispiel einer Analyse des Bregenzer „Sternhochhauses“ den Versuch, Achleitners Architekturbegriff in einen Gegensatz zu den baulichen Effekten einerseits des (technologischen) Modernisierungsschubes zu stellen, den Vorarlberg nach 1945 erfahren habe, andererseits zu einer „Sozialgeschichte der Moderne (...) und zwar ihrer Verläufe jenseits ihrer Zentren“. In: Bertsch (1994), S. 67 8 Eine „politische“ Haltung Achleitners tritt umso mehr gegenüber einem konservativen Umfeld, wie Vorarlberg es darstellt, hervor. So ordnet etwa Oswin Wachter Achleitner in seinem Leserbrief zum Montafoner Architekturstreit dezidiert Positionen politischer Lager und ihrem „Kulturkampf“ zu: Achleitner, als „engagierter 68er“, identifiziere „in jedem Haus, das mit Giebel und Balkon gebaut wurde, ein Relikt aus der Nazizeit“. In: Das Kleine Blatt, 7. Juni 2005 9 Von den genannten Beispielen fallen Holzbauers Vorarlberger Landhaus und das „Strickhüsle“ in den von Achleitner bearbeiteten Zeitabschnitt, die anderen in denjenigen Kapfingers. 10 Das Bregenzer Landhaus ist der Sitz von Vorarlberger Landesparlament und Verwaltung. 11 Moos, S. 812

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Zumthor mit dem Kunsthaus der Landeshauptstadt, nicht aber Nouvel mit seinem (heute als solchem genutzten) Finanzamtbau Aufnahme findet, warum das Fertighaus SuSi als Architektur, das Strickhüsle des Kaufmann Holzbauwerks aber nicht als Architektur anzusehen ist, ist wiederum bestimmt durch seine Verpflichtung gegenüber der Entwicklung Moderner Architektur zu derjenigen gesellschaftspolitischen Position, die sie zu einem Reformprojekt werden ließ. „Im Zusammenhang wovon und im Hinblick worauf“?11 Mit dieser Fragestellung hat Stanislaus von Moos die architekturhistorischen Schriften Sigfried Giedions12, verstanden als aktiven Einsatz für die gesellschaftliche Exponierung der Architekturavantgarde der 1920er Jahre, analysiert. Mißt man Achleitners13 Rolle mit ähnlichen Maßstäben wie von Moos diejenige Giedions, ist also zu fragen, welchen Standpunkt Achleitners (und anderer beteiligter Theoretiker) derjenige Bedeutungsumfang signalisiert, den er den Begriffen „Vorarlberger Bauschule“ und „Vorarlberger Baukünstler“ zuweist, bezogen auf welchen gesellschaftlichen Idealzustand also er seine Architekturgeschichte14 formuliert und damit implizit als gesellschaftliche Wirkungsgeschichte von Architektur angelegt hat. Architekturgeschichte in einem wissenssoziologischen Sinn verstanden, hat somit die Geschichte der gesellschaftlichen Institution Architektur in ihrer Auswirkung auf den wissenschaftlichen Blickwinkel des Fachs einzubeziehen und den Umstand, daß Architektur in den 1920er Jahren von „bloßer Baukunst“ zu einem gesellschaftlichen Reformprojekt geworden ist, indem ihre Protagonisten sich als Bewegung organisiert und konstituiert haben15, als affirmativen Subtext der Architekturgeschichte mitzulesen. Erst dieser Subtext nämlich präfiguriert die Interpretation der spezifischen Position von Architektur als Leitstern der kulturellen Moderne, erklärt die charakteristische Exponierung von Avantgarde innerhalb der Architekturmoderne und legitimiert deren gesellschaftspolitische Ziele, ebenso wie die Mittel, diese zu erreichen, als eigentliche Funktion zeitgenössischer Kunst.16 12 Sigfried Giedion (geb. 1888 in Prag, gest. 1968 in Zürich) gehört zu den einflußreichsten Architekturhistorikern des 20. Jahrhunderts. „Giedions Werk stellt eine originelle Synthese zwischen kunst- und architekturgeschichtlicher Forschung und der Verteidigung der Avantgarde-Architektur der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts dar, die er – ebenso wie das Design – mit konkreten Aktionen unterstützte.“ An den Architekturhochschulen Harvard und Zürich wirkte er als Dozent, von 1928 bis 1956 war er Generalsekretär des CIAM, den er mitbegründet hatte. (Historisches Lexikon der Schweiz, online-Ausgabe, Stand 16.02.2009) Giedions Hauptwerke sind Space,Time and Architecture (1941), deutsch Raum, Zeit, Architektur (1965) und Mechanization Takes Command (1948), deutsch Die Herrschaft der Mechanisierung (1982).

13 Friedrich Achleitner, geb. 1930 im oberösterreichischen Schalchen, ist nach seinem Studium bei Clemens Holzmeister bis 1958 als freischaffender Architekt in Arbeitsgemeinschaft mit Johann Georg Gsteu tätig. Gleichzeitig profiliert er sich mit seiner Mitgliedschaft in der Wiener Gruppe (1955–1964) als Literat. 1965 beginnt er die Arbeit an seinem architekturhistorischen Lebenswerk. Seine Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert ist als Führer in drei Bänden angelegt, wovon der dritte, Wien, wiederum dreibändig angelegt ist. Vgl. www.azw.at, Stand 05.08.2010 Vgl. auch Friedrich Kurrent: Laudatio anläßlich der erstmaligen Verleihung des Österreichischen Preises für Architekturpublizistik an Friedrich Achleitner am 19.12.1980; in: Kurrent (2010), S. 51 ff Zu Achleitners Lehrtätigkeit vgl. Anm. 14

Architekturgeschichte ist auf einen gesellschaftlichen Idealzustand hin formuliert

Gesellschaftsreform als Subtext moderner Architekturgeschichte

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Rolle des Staates

Die Stilisierung einer künstlerischen Avantgarde zu Initiatoren einer Gesellschaftsreform unterschlägt in ihrer impliziten Gleichsetzung von Avantgarde mit Revolution notwendigerweise speziell die aktive Rolle des Staates. Zur Aufhellung dieses blinden Flecks widmet unsere Studie der Beziehung zwischen Architektur und Staat besondere Aufmerksamkeit, indem sie danach fragt, ob die architekturgestützte Gesellschaftsreform mit oder gegen den Staat erfolgt oder etwa der Modernisierung der staatlichen Verwaltung selbst dient. Eng mit diesen auf den Staat, seine Autorität, seinem Bild vom Staatsbürger und seiner Haltung gegenüber der Moderne bezogenen Fragen verknüpft ist wiederum der Bedeutungsumfang des Begriffs Architektur, insofern, als der Staat dessen Legitimität bezüglich der Berufs- und Standesprivilegien der Architekten bestimmt.17

Architektur als Bedeutung, Architektur als materielle Form

Architektur ist nicht nur Zuschreibung, sondern immer auch Werk: Material, im Streben nach „Schönheit“ geformt. Der Rang der Bedeutungszuschreibung gegenüber den Materialaspekten erschließt sich durch die Frage, wozu Architektur ins Werk gesetzt wird und worauf ihre „Schönheit“ deutet. Im Hinblick auf die soziale Relativität des Schönheitsbegriffs18 ist also zu fragen: Für wessen Augen ist sie schön und zu wessen Gunsten verherrlicht sie was? Achleitner setzt diesbezüglich in seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert klare und dezidiert soziokulturelle Polaritäten: Nicht das„Bürgertum“ und erst recht nicht dessen „Oberschicht“ sei Träger einer (in ihren 14 Der Begriff „Architekturgeschichte“ ist im Zusammenhang mit Achleitners Hauptwerk Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, das er selbst als „Architekturführer“ bezeichnet, zu problematisieren, ebenso sein Rollenverständnis, das vor allem als Kritiker profiliert ist (vgl. zuletzt Kurrent [2010], S. 51 ff). Seine Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert als Grundlegung einer modernen Vorarlberger „Architekturgeschichte“ zu betrachten, wie in diesem Abschnitt angenommen, erscheint vor allem durch Achleitners Methode gerechtfertigt, seine Darstellung, ebenso wie die Auswahl der dokumentierten Bauten, historisch anzulegen und zu begründen.Weiterhin gibt Achleitners Rolle in der Architekturlehre, sein Lehrstuhl für Architekturgeschichte, den er 1983–1998 an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien innehatte, Anhaltspunkte dafür, ihn als Architekturhistoriker und sein Hauptwerk als „Architekturgeschichte“ anzusehen. Gegen eine solche Einordnung spricht vor allem der fehlende zeitliche Abstand zum Forschungsgegenstand, die durch den Anspruch, einen Architekturführer zu schaffen, begründete Methode, in Dokumentation und Interpretation der Bauten bis an die Gegenwart heranzureichen. Letztlich trägt die Zuweisung aus dem wissenschaftlichen Umfeld, der Rang, den sein Werk durch das wissenschaftliche Vakuum erhält, in dem es steht,

dazu bei, es zumindest in den Rang der „einzig verfügbaren“ Architekturgeschichte Vorarlbergs einzusetzen. Eine architekturgeschichtliche Dissertation zur ersten Generation der Vorarlberger Baukünstler, 2003 begonnen, die eine wesentliche Forschungslücke schließen sollte, konnte bedauerlicherweise nicht abgeschlossen werden. Neben Achleitners Werk, Bertschs Forschungsergebnissen, vor allem zur Vorarlberger Industriearchitektur, aber auch zur Architekturgeschichte des Landes im zwanzigsten Jahrhundert, und den Arbeiten regionaler Kunsthistoriker, vor allem Sagmeisters, sowie den angeführten Studien zu den Südtirolersiedlungen existieren Diplom- und Magisterarbeiten zum Thema (v.a. Dietrich, Mangold, Merz/Mätzler). Vgl. das Literaturverzeichnis der vorliegenden Studie. 15 Vgl. Banham 16 Lampugnani kommentiert diese implizite Präfiguration der Architekturgeschichtsschreibung, auf Deutschland bezogen, als „orthodoxe Architekturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts“; in: Lampugnani (1992), S. 10. 17 Das Etikett „Vorarlberger Baukünstler“ legt in seiner Vermeidung des Begriffs „Architektur“ diesbezüglich bereits eine erste Spur. 18 Vgl. Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur?

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Zielen nicht näher bezeichneten) „eigenständigen und unverwechselbaren Entwicklung“19 der Vorarlberger Nachkriegsarchitektur, sondern „Randgruppen“20. Intellektuelle und Künstler stellt er damit als die neuen Tonangeber eines Wertesystems dar, in dem (Bau-)Kunst ihre soziale Rolle als „Bewegerin“ erhält. Große Teile der vorliegenden Arbeit werden sich mit der Frage auseinandersetzen, auf welches Ziel hin diese „Bewegung“ gerichtet ist. Neben der Scheidung, die Achleitner zwischen „Randgruppen“ und „Bürgertum/Oberschicht“ der Bauherrschaft trifft, zieht er eine zweite und ebenso prägnante soziale Trennlinie, diesmal auf der Produzentenseite des Vorarlberger Baugeschehens: diejenige zwischen Architekten und gegen sie „konkurrenzierenden“ Handwerkern.21 Es ist nicht nur ein Austriazismus, mit dem er diese Polarität sozialer Baukulturen feststellt, sondern auch ein spezifisch österreichischer Referenzhintergrund 22, der darin aufscheint. Es ist derjenige, den Adolf Loos in seinen Schriften vertreten hat, wenn er die Frage, wer denn nun den Ausdruck der Gegenwart gestalte, zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“ unterscheidet, ersteres dem Handwerk und zweiteres der Kunst zuordnet.23 Von Moos:

Randgruppen statt Oberschicht

Konkurrenz zwischen Architekten und Handwerkern

So verteidigte er z.B. zu Hochzeiten der Wiener Sezession das Handwerk und die Industrie [in ihrer Rolle als Schöpfer einer zeitgemäßen Ästhetik] gegenüber den Versuchen des Werkbunds, „Kunst“ in den Alltag der anonymen Güterproduktion zu bringen. Loos: „Sie sind es, weil noch kein unberufener sich als vormund in diesen werkstätten aufzuspielen versuchte.“24

Achleitners Implikationen lassen hinter dieser „Wiener Position“ denjenigen Zielhorizont erkennen, den er als Funktion von Architektur in ihrer Eigenschaft als reformatorisches Medium voraussetzt und seinen Werturteilen unterlegt. Von Moos hat diesen Zielhorizont für Sigfried Giedion „Die eigene Zeit und ihre Schwierigkeit, zu sich selbst zu finden“ genannt. Sein Kulturkampf galt dem „tragischen Erbe des neunzehnten Jahrhunderts“, dessen offizielle Kunst, dessen Kunstgewerbe und dessen Architektur, wie er meinte, auf weite Strecken im Widerspruch standen zum „Wesen“ ihrer Epoche, weil die künstlerischen und architektonischen Formen dieses „Wesen“ – um das Vokabular einer späteren Generation zu benutzen – ideologisch verschleierten. Ziel war die Gleichstimmung der Formen von Zivilisation und Kultur, von Technik und Kunst. Elemente dieser „verborgenen Einheit“ galt es unter den „Verschüttungen“ des „herrschenden Geschmacks“ hervorzuholen und der eigenen Zeit als Richtlinie künftiger Entwicklungen vor Augen zu führen...25 19 Achleitner (1980), S. 392 20 Achleitner (1980), S. 399 21 Ebd. 22 Dieser „österreichische“ Referenzhintergrund besitzt angelsächsische Wurzeln. So ist etwa Adolf Loos’ publizistisches ebenso wie sein architektonisches Werk dicht besetzt mit Verweisen auf englische und US-amerikanische Vorbilder. 23 Mit dieser Positionsbestimmung hat Loos, als Architekt sprechend, zu einer Kunstgegnerschaft der Architektur aufgerufen, die, da aus der Kunstdisziplin

Architektur heraus formuliert, nur eine „Erneuerung“ der Kunst selbst meinen kann, die sich am Handwerk zu orientieren hat. Ihr Ziel ist einerseits die Rekonstitution von Kunst als Sonderfall, mithin ihr Rückzug aus dem Alltag (Loos zufolge ist Architektur nur bei besonderen Bauaufgaben, dem Denkmal und dem Grabmal, „Kunst“), andererseits die Neukonstituierung von Architektur als Nichtkunst, als „Hintergrund“, wie Hermann Czech, als heutiger Vertreter der Loos’schen Haltung, formuliert. 24 Moos, S. 799

Gleichstimmung von Zivilisation und Kultur

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Mitte der 1960er Jahre beginnt Friedrich Achleitner in Vorarlberg ebenso wie im übrigen Österreich, Material für sein Lebenswerk Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert zu sammeln. Der Architekturhistoriker nimmt in diesem Prozeß neben seiner klassischen Rolle des distanzierten Beobachters und Chronisten, ähnlich wie bereits Giedion, die Rolle eines Förderers für sich in Anspruch, der die Gegenwartsentwicklung des dokumentierten Ereignisses aktiv mitgestaltet. Die untrennbare Allianz aus Architekturgeschichtsschreibung und Architekturproduktion gehört seither wesentlich zum Charakter des Vorarlberger Phänomens. Das Eingangskapitel erörterte den Umstand, daß Architektur nicht etwa eine „natürliche Eigenschaft“ von Bauwerken oder, in Summe, einer baulichen Landschaft ist, sondern eine akademisch geprägte Formkunst, die sich durch Bezugnahme ihrer Werke auf ein Kunstfeld, indiziert durch spezifische Ordnungen, rechtlich und sozial gesehen durch Etablierung eines Berufsstandes befugter Repräsentanten auszeichnet. Architekturgeschichte gehört zum festen Bestand dieser Kulturtechnik, deren Gesamtheit aufeinander bezogener Teile ebenda bereits als System Architektur bezeichnet wurde. Als etablierte wissenschaftliche Disziplin 26 schafft Architekturgeschichte die jeweils gültigen Wahrnehmungs- und Bewertungskonventionen zur Beschreibung und Bestimmung von Architektur und fixiert den Kanon der exemplarisch bedeutsamen Werke. Dieser Kanon prägt durch seine Vorbildfunktion ganz wesentlich die Ausbildung des Architekten 27, das Selbstverständnis des Berufsstandes, welches die Ausübung seiner Profession prägt, und die Rezeption zeitgenössischer Architekturen im standesinternen Fachdiskurs. Insbesondere für die Architekturentwicklung Vorarlbergs seit den 1960er Jahren hat über diese konstituierende Rolle hinaus, die Architekturgeschichte im akademischen Betrieb der Architektenausbildung einnimmt und Achleitner als Wiener Hochschullehrer maßgeblicher Vorarlberger Architekten verkörpert, dessen Einflußnahme „vor Ort“28 eine kaum zu quantifizierende, aber nichtsdestoweniger spürbare Rolle gespielt. In Gesprächen mit exponierten Architekten des Landes ist immer wieder von Gutachten29 Achleitners die Rede, die die „üblicherweise“ strittigen Baugenehmigungsverfahren durch Hinweis auf den kulturellen Wert des 25 Moos, S. 811 26 Zur Entwicklung von Architekturgeschichte als selbständiger Disziplin vgl. Anm. 4 27 Gunter Wratzfeld geht in unserem Gespräch ausdrücklich auf die Verpflichtung gegenüber der Bauhaus-Moderne ein, die sein Lehrer Roland Rainer seinen Studenten mitgegeben habe (GW: Z 139 ff). Wörtlich in Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?, Anm. 45 28 Wratzfeld erwähnt etwa die Beteiligung Achleitners an der Jury des Wettbewerbs für die Bregenzer Achsiedlung (GW: Z 506 ff). In Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert ist die Ach-

siedlung, als größter Sozialer Wohnbau Vorarlbergs der Nachkriegszeit, im unmittelbaren Anschluß an die Bregenzer Südtirolersiedlung veröffentlicht. 29 Vgl. die Gespräche mit Norbert Mittersteiner (RNM: Z 838 ff) und Helmut Kuess (HK: Z 102 ff) 30 Schall (S. 121) dokumentiert etwa Achleitners Vortrag bei den Wäldertagen in Egg 1973 sowie dessen Rezeption in Vorarlberger Medien. Die lange und polarisierende Nachwirkung der öffentlichen Auftritte Achleitners wurde zuletzt im Rahmen des Montafoner Architekturstreits deutlich. Im Rahmen der hier versammelten Dokumente in: Walter Fink (2005), der sich auf Achleitner in dessen Rolle als „Architektur-

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Streitgegenstandes positiv beeinflussen. Er kann in solchen Auseinandersetzungen seine Autorität über den Architekturbegriff der Provinzialität lokaler Behördenvertreter entgegenstellen. Noch heute wirken Achleitners Vorträge30, in denen er die Ästhetik moderner Bauten propagiert und gegen rustikales Bauen polemisiert, in der Einschätzung Zeitgenössischer Architektur nach, wie sie sich für die nichtfachliche Öffentlichkeit darstellt. Auch sein Nachfolger im Amt des österreichischen „Architekturpapstes“31, Otto Kapfinger32, das dieser spätestens als Autor des zweiten Vorarlberger Architekturführers angetreten hat, beschränkt sich nicht auf kritische Rezeption und historische Einordnung, sondern weitet mit Kommentaren zur aktuellen architektonischen Entwicklung Vorarlbergs und „Impulsreferaten“33 zu deren Zukunft die Doppelrolle des Architekturkritikers und -historikers zu der eines Moderators aus. Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert ist ein unabgeschlossenes, auf drei Bände angelegtes Werk, das in Band eins und zwei die einzelnen Bundesländer, im dritten Band, selbst wiederum dreibändig angelegt, die Hauptstadt Wien behandelt. Der Architekturbestand jedes Bundeslandes wird zunächst durch textliche Würdigung nach Bautenkategorien, die für das gesamte Werk einheitlich sind, anschließend nach Orten gegliedert, in Einzelbauten erfaßt, die durch Angabe von Architekt und Baujahr gekennzeichnet sind. Diese vom Autor gewählte Systematik erschließt sich aus dem historischen Kontext ihres Bearbeitungszeitraums. Mit seinen Forschungsreisen, Architektengesprächen und Bautenbegehungen führt Achleitner seit den 1960er Jahren für das infolge des Ersten Weltkriegs auf einen Bruchteil seiner ursprünglichen Fläche verkleinerte Österreich die erste Bestandsaufnahme und „Zählung“ durch. Er zieht für die Zweite Republik in ihrem Selbstverständnis als Kulturnation eine Bilanz der dem Land verbliebenen architekturrelevanten Bauten und stellt den aktuellen Vitalitätsgrad seiner architektonischen Kultur fest. Das entstehende österreichweite Register führt erstmals einen erweiterten Blick ein, der die Selbstbezogenheit und Wahrnehmungsverengung der papst“ beruft, oder den Leserbrief Wachters, vgl. Anm. 8 31 Walter Fink (2005) 32 „Otto Kapfinger ist der Architekturkritiker und -theoretiker und Zusammensteller für Vorarlberg. Er hat die letzten Jahre die Szene in Vorarlberg begleitet, kommentiert und verarbeitet.“ Moderator Rudolf Sagmeister: Psychogramm des Bauens, Öffentliches Podiumsgespräch in der Ausstellung Konstruktive Provokation im Kunsthaus Bregenz am 08.03.2005. Weitere Teilnehmer: Hugo Dworzak (Architekt), Hans Haid (Volkskundler), Bernhard Tschofen (Kulturwissenschaftler). Transkript einer eigenen Tonaufnahme

Otto Kapfinger, 1949 im niederösterreichischen St. Pölten geboren, gründete 1970 noch während seines Architekturstudiums an der Technischen Hochschule Wien zusammen mit Angela Hareiter und Adolf Krischanitz die Architektengruppe Missing Link, die bis 1980 bestand. Seit seinen regelmäßigen Publikationen in der Tageszeitung Die Presse in den 1980er Jahren tritt er als Architekturkritiker in Erscheinung. Begonnen mit dem Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980 schreibt er das nationale Architekturregister Achleitners in jeweils auf ein Bundesland bezogenen Einzelbänden fort.

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Bundesländer aufbricht. Im nationalen Maßstab erhält Achleitners Werk damit den Rang eines Modernisierungsbausteins der Nachkriegszeit34, der Qualitätsreferenzen und konkrete Bestandsdaten als Basis der Kultur- und Wohlstandsentwicklung Österreichs liefert.35 Wie bereits festgestellt, ist Achleitners Architekturgeschichte selektive „Qualitätsdokumentation“ und nicht, auch nicht repräsentativ, Abbild der baulichen Landschaft in ihrer quantitativen und funktionellen Zusammensetzung. Ihrem Volumen nach prägende Bauten wie Hochhäuser, Industriegebäude, Bahnanlagen, landwirtschaftliche Bauten, Hotelbauten etc. fehlen im „Achleitner“ streckenweise völlig. Andere, für das Gesamtbild unerhebliche Bauten nehmen dagegen in seinem Bild des Vorarlberger Architekturbestandes breiten Raum ein. Vor allem die Bewertung der Einfamilienhäuser fällt auf. Vermutlich wäre es möglich, allein mit dem Kapitel „Einfamilienhäuser“ eine informative Vorarlberger Baugeschichte zu schreiben. Dieses Thema Nr. 1 im Ländle zeigt nicht nur eine erstaunliche Vielfalt, sondern hat auch (im Gegensatz zu anderen Bundesländern) zu einer eigenen Entwicklung geführt, sodaß man ohne Übertreibung von einer regionalen Architektur sprechen kann, die sich immer mehr ihrer Eigengesetzlichkeit und Tradition bewußt wird, ohne – und das ist ebenso bedeutend – vordergründig traditionalistisch zu sein.36

Bedeutung des Einfamilienhauses

Die offensichtliche Überbewertung der Einfamilienhäuser gegenüber den tatsächlichen baulichen Dominanten Vorarlbergs erschließt sich aus der Rolle der Bautenkategorien als Repräsentanten gesellschaftlicher Initiativkräfte. Achleitners Auswahl und Einordnung der dokumentierten Werke ist gleichzeitig als Botschaft zum Veränderungsbedarf der kulturellen Verhältnisse zu lesen, ein Subtext, der Achleitners Architekturbegriff seine politische Dimension verleiht.37 33 Kapfinger (2003) 34 Hans Zeisels Bestimmung von Soziographie aus ihrer historischen Entstehung als Voraussetzung staatlicher Entwicklungspolitik (vgl. Jahoda /Lazarsfeld/Zeisel, S. 113 ff) erlaubt, auf Achleitners Werk übertragen, dieses als folgenreiche Beschreibung eines Potentials innerhalb eines Bündels anderer Potentiale zu betrachten. Sein Selektionsakt, die Dokumentation ausgewählter Beispiele, ist es, der auf Verwaltungsebene staatliche Förderung oder Schutzanstrengungen auf ebendiese Exemplare lenkt. Achleitner bestätigt dies rückblickend in Achleitner (2010), vgl. Anm. 5. Der Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf befaßt sich u.a. mit diesem Effekt, der auf die Politik handlungsleitend wirkt und bis in die Ebene der Gesetzgebung reicht. 35 „Das Achleitner-Archiv ist das bedeutendste Archiv der österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Das Archiv wurde 1999 von der Stadt Wien angekauft und dem Architekturzentrum Wien zur öffentlichen Aufbereitung und wissenschaftlichen Weiterbearbeitung übergeben. (...) Die zugeordneten Materialsammlungen setzen zum Großteil in den sechzi-

ger Jahren des 20. Jh. ein und werden bis dato fortgesetzt. (...) Bestand: 22.340 Karteikarten Objekte 2.690 Architektenkarteikarten 66.500 Foto-Negative 37.800 Diapositive 13.800 Foto-Abzüge 570 Plandarstellungen 250 Begehungspläne ...“ www.azw.at: Achleitner-Archiv, Stand 05.08.2010 36 Achleitner (1980), S. 397; 37 Achleitner steht mit dieser Position nicht allein. Ernst Hiesmayr, auch er Wiener Hochschullehrer heute tonangebender Vorarlberger Architekten der zweiten Baukünstlergeneration, berichtet von seiner Jurierung des Ersten Bauherrenpreises für Vorarlberger Einfamilienhäuser 1987: „Die Identität der Bewohner, meist aus dem Mittelstand, mit ihrem offenen Wohngefüge, war für mich ein ganz großes Erlebnis. Am Abend befiel mich eine Euphorie wie selten in meinem Leben. Die Euphorie stand unter dem Tenor, es gibt Hoffnung auf einen Ausbruch aus der Konvention.“ Ernst Hiesmayr (1991/3), S. 173 38 Purin (2004), S. 15

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Vorarlberg, dessen bauliche Landschaft sich nach dem Zweiten Weltkrieg „frei“ von einer regionalen Architekturmoderne aus den 1920er Jahren zeigt und damit bezüglich (gescheiterter) sozialistisch konnotierter Gesellschaftsutopien ein unbeschriebenes Blatt ist, kann unter den österreichischen Bundesländern am ehesten in die Rolle eines nationalen Zukunftslabors eingesetzt werden, das die Wirksamkeit von Architektur in ihrer Reformfunktion zu erweisen hat. Vor allem im Hinblick auf diese Laborsituation, die Achleitner konstituiert, indem er Vorarlbergs Kulturentwicklung unter den österreichischen Bundesländern eine Spitzenposition zuweist, als kultur- und sozialpolitisches Programm also, und nicht im Rahmen kunsthistorischer Kategorien, definiert Achleitner – und seine Nachfolger –, was in Vorarlbergs Baugeschehen als Architektur Bedeutsamkeit und damit als Leitkultur gesellschaftliche Durchsetzungskraft erhalten soll. Die Begriffe „Vorarlberger Baukunst“ ebenso wie ihre personelle Verkörperung im „Baukünstler“ sind unter diesen Voraussetzungen vor allem gegenüber denjenigen Konventionen zu profilieren, die bisher der Gestaltungshoheit traditioneller Eliten unterworfen waren: Der Kopplung von Wohlstand und politischem ebenso wie kulturellem Einfluß innerhalb der Auftraggeberschaft, dem Einflußbereich des Handwerks als dem traditionellen Verwalter des Baugeschehens und seiner Kultur, gegenüber dem Staat und seiner Bauverwaltung, die diese Traditionspflege fördert, sowie, auf den Berufsstand der Architekten bezogen, gegenüber den „alten Platzhirschen“38 unter den einheimischen Architekten, ihrer Standesvertretung, und schließlich, auf die Zukunft gerichtet, innerhalb der Hochschulausbildung des Architektennachwuchses. Wir haben uns bis hierher auf die Person Friedrich Achleitner konzentriert, um an dem Phänomen „Vorarlberger Baukunst“ denjenigen Aspekt herauszustellen, der es als Produkt eines Eingriffs von außen39 erscheinen läßt, als Interpretation einer endemischen Situation durch eine Brille, die geprägt ist durch die sozialreformerische Funktionalisierung des Mediums Architektur. Diese Funktionalisierung wird als Implikation eines Begriffs von Architektur verstanden, der im Zuge ihrer Neudefinition als Ausdruck der industrialisierten Moderne formuliert, im Verlauf der 1920er Jahre in Programmen fixiert und zu diesem Zweck konstituierten Institutionen zur Verbreitung anvertraut worden ist. 39 Kapfinger befaßt sich mit der Rezeptionsgeschichte der Vorarlberger Architektenszene als „Bauschule (...) die nie eine war“ (in: Kapfinger [2003], S. 9). Mit dieser Titelwahl profiliert er seine eigene Position gegen diejenige Achleitners. Zu Achleitners Begriff einer zweiten Vorarlberger „Bauschule“ vgl. Abschnitt Land und Ländle, Anm. 69, dieses Kapitels.

An Kapfingers Position fällt sein durchgängiger Versuch auf, das Vorarlberger Architekturphänomen ethnologisch, als Folgeerscheinung alemannischer Stammeseigenschaften, der „sprichwörtlichen Mentalität“ seiner Angehörigen, speziell ihrer „Tugenden und Tüchtigkeiten“, zu deuten. Kapfinger (1999), S. 5 und 6; ebenso in Kapfinger (1992), S. 6; Kapfinger (2003), S. 17, u.a.m.

Zukunftslabor Vorarlberg

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Pädagogik des gesellschaftlichen Erziehungsprozesses

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Achleitner ist es, der Vorarlberg zum „Labor“ erklärt und das Experiment formuliert, das dort stattfinden soll. Die Vorarlberger Baukünstler werden hierin zu Katalysatoren einer gesellschaftlichen Versuchsanordnung der Moderne. Der Inhalt des Experiments, sein Entwicklungsziel, ist die Gleichstimmung von Zivilisation und Kultur durch Kulturalisierung dieser Zivilisation. Das anonyme Industrieprodukt, die industrialisierte Produktionsweise und die industrielle Arbeitsform sollen (endlich) ihr Pendant in einer Lebensform erhalten, die Zeit soll in einer neuen Einheit zu sich selbst finden. Die Methode des Experiments, das, nachdem es als gesellschaftlicher Erziehungsprozeß formuliert ist, auch als seine „Pädagogik“ zu bezeichnen wäre, setzt voraus, möglichst große Bevölkerungsanteile zu erreichen. Das Mittel hierzu ist, Wohnbau zu ästhetisieren, die Gesellschaft, vor allem deren neu zu erreichende untere Schichten40, in ästhetisierte Wohnumgebungen zu versetzen, deren Räume, dingliche Formen und Oberflächen ebendiese Inhalte vermitteln, indem sie sie dem Körper einschreiben, zu inkorporiertem Erfahrungswissen werden lassen, mit dessen Hilfe die Erziehung schließlich zur Selbsterziehung werden kann.41 Mit dieser Rekapitulation des gesellschaftlichen Architekturbegriffs der Moderne, wie Achleitner ihn seiner Österreichische[n] Architektur im 20. Jahrhundert unterlegt hat, ist jedoch unsere Eingangsfrage „Wer oder was sind die Vorarlberger Baukünstler?“ erst teilweise, nämlich in bezug auf ihre Indienstnahme zugunsten des Experiments Moderne, beantwortet. Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, solche Quellen zu versammeln, die die Purin-Generation und ihr Umfeld vor ihrer Historisierung zu beschreiben imstande sind. Wir schließen zu diesem Zweck nochmals an diejenige Voraussetzung an, für die die Vorarlberger Südtirolersiedlungen innerhalb der Architekturentwicklung des Landes stehen, als Voraussetzung, die die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs prägt und diejenige Situation schafft, in die Hans Purin und seine Altersgenossen mit dem Beginn ihrer Berufslaufbahn eintreten. Die Politik des Nationalsozialismus hatte in Österreich nicht nur materielle Bauwerke, die für Vorarlberg zu den ausgedehntesten seit den Fabrik40 Moos dokumentiert an Sigfried Giedions Zürcher Wohnbedarf, daß noch im Lauf der 1930er Jahre die Avantgarde der Architekturmoderne erkennen mußte, daß jenseits des intellektuellen, gehobenen Mittelstandes, der von jeher ihre soziale Trägerschicht gewesen war, alle kulturgestützten Reformutopien fruchtlos geblieben waren. „Die Moderne blieb – im Gegensatz zu ihrem Programm – vorläufig eine Sache der Elite.“ (S. 795) Zu den „Wohnausstellungen“ der 1920er Jahre vgl. Abschnitt Reform des Handwerks: Möbel und Raum, Kapitel Handwerk 41 Für eine systematische Untersuchung solcher Phänomene und ihrer Interpretation als subtiler For-

men von Machtausübung steht der französische Soziologe Michel Foucault. 42 „Nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich sind die Bestimmungen der österreichischen Bauordnungen und damit auch der Vorarlberger Landesbauordnung über die Zuständigkeit der Baubehörden durch die Verordnung über baupolizeiliche Zuständigkeiten in den Reichsgauen der Ostmark, DRGBl. I S. 485/1941, mit Wirkung vom 1. Oktober 1941 aufgehoben worden. Durch diese mit Gesetzeskraft ausgestattete Verordnung waren auch die Aufgaben der gemeindlichen Baupolizeibehörden auf die Landräte übergegangen.“ Amt der Vorarlberger Landesregierung, Franz Vögel (Hg.), 1974, S. 12

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anlagen des neunzehnten Jahrhunderts gehören, sowie dominante Institutionen für den Wohnbau hinterlassen, sondern auch das Baurecht der österreichischen Bundesländer, vor allem aber seine Durchführungsbestimmung im „Baupolizeirecht“ durch deutsches Baurecht ersetzt.42 Der prägnante Unterschied zwischen beiden nationalen Rechtssystemen, welcher hier von Interesse ist, ist der jeweilige Grad der Zentralisierung von Entscheidungsgewalt und damit die Positionierung der effektiven Gestaltungsmacht für die bauliche Landschaft innerhalb der Hierarchie des staatlichen Verwaltungsapparats. Im Deutschen Reich lag diese Gestaltungsmacht, als Genehmigungsautorität für Wohnhäuser geringer Größe, bei den Landratsämtern43 (vergleichbar den Bezirkshauptmannschaften der österreichischen Verwaltungshierarchie), im Vorarlberger Baurecht dagegen bei den Gemeinden, personifiziert durch ihre Bürgermeister. 1948 schafft die Vorarlberger Landesregierung „übersichtliche Klarheit“44 in einer Situation, die seit 1945 durch das Nebeneinander von „reichsrechtlichen Vorschriften gleichzeitig mit solchen des Landes auf dem Gebiete der Baupolizei“45 bestanden hatte, und setzt die Vorarlberger Landesbauordnung in ihrer Form von 1887 wieder in Wirksamkeit.

Nationale Rechtssysteme

Ausdrücklich verknüpft der Gesetzgeber mit diesem Akt eine gesellschaftliche Verantwortung, indem er ihn als Demokratisierung des Rechts auf Kulturausübung interpretiert. Dementsprechend leitet er den veröffentlichten Text der Verordnung durch einen Appell ein, der in unserer Darstellung als konstituierender Text für die Wiederaufbauzeit gelten soll. Durch die Rückübertragung eines bedeutenden Teiles der baupolizeilichen Zuständigkeiten auf die Gemeinden ist bewußt die Beurteilung der baulichen Gestaltung wieder mehr in das unmittelbare Empfinden des Volkes gerückt worden. Leitgedanke hierfür war das berechtigte Vertrauen, daß gleich wie in vorausgegangenen Zeiten auch in Zukunft das Volk selbst am besten eine volks- und landschaftsverbundene Bauweise als kulturelles Erbe seiner Vorfahren treu verwalten wird.46

Gunter Wratzfelds Befund, die Konfrontation zwischen der ersten Architektengeneration nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vorarlberger Bauverwaltung sei vor allem durch traditionalistische Formpräferenzen auf Behördenseite geprägt gewesen, die eine Kontinuität der NS-Ideologie in die Nachkriegszeit hinein schufen47, stellt sich im Licht dieses Textes differenzierter dar: Mag auch seine Feststellung für die Verwaltungsebene der Bezirkshauptmannschaften zutreffen, so wird jedoch ebendiese durch die Wiedereinführung 43 Diese Zuordnung der Genehmigungsautorität besteht im heutigen Deutschland fort. Gemeindliche „Ortsbildsatzungen“ verschaffen jedoch gegenwärtig denjenigen Gemeinden, die solche erlassen, im Baugenehmigungsverfahren eine Vorrangstellung gegenüber den Landratsämtern und damit eine Genehmigungsautorität Erster Instanz. 44 Amt der Vorarlberger Landesregierung, Franz Vögel (Hg.), 1974, S. 12

45 Ebd. Genaueres findet sich im geschichtlichen Überblick der Einleitung zum Vorarlberger Baugesetz von 1974; Amt der Vorarlberger Landesregierung, Franz Vögel (Hg.), 1974, S. 12 46 Amt der Vorarlberger Landesregierung, Helmut Pontesegger (Hg.), 1948, S. 5 f 47 GW: Z 284 ff 48 Vgl. Krammer/Scheer

Bezirkshauptmannschaft wird Zweite Instanz im Genehmigungsverfahren

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Souveränität des ländlichen Raumes

Institutionalisierung des Selbstbaus

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der Vorarlberger Landesbauordnung in ihrem Einfluß in die zweite Reihe zurückgedrängt, indem ihr die Gemeinden und ihre Bürgermeister als Erste Instanz im Baugenehmigungsverfahren erneut vorgeordnet werden. Vorarlberg wird in diesem staatlichen Dezentralisierungsakt, der die kulturelle Gestaltungsmacht in Form von Baugenehmigungsrecht der Souveränität der ländlichen Gemeinden und damit der breiten Bevölkerung unterstellt, die wiederum geprägt ist durch den Bauern- und den Handwerkerstand, als ländliches Milieu bestätigt. Neben dieser wiedereingesetzten Rechtstradition ist das Bauen in diesem ländlichen Milieu durch eine praxische Tradition gekennzeichnet, den Selbstbau. Solange die ländliche Gesellschaft als traditionelle Agrargesellschaft „funktioniert“, in der Bauern und Handwerker in symbiotischer Wirtschaftsbeziehung zusammenleben48, ist ländliches Bauen Bestandteil der Selbstversorgung und als solches ein zentrales Medium der Gemeinschaftspflege.49 Die Rekonstitution der gemeindlichen Rechtsautorität als lokale Baupolizei vervollständigt diese Kompetenz der ländlichen Selbstverwaltung ein letztes Mal innerhalb der Vorarlberger Moderne zu einer sehr weitgehenden Souveränität des ländlichen Raumes, wie sie gegenwärtig nur noch die Verfaßtheit des benachbarten Schweizer Staates in der Rechtsposition, die er den Gemeinden innerhalb der Eidgenossenschaft zuweist, lebendig erhält.50 Gleichzeitig wird in diesem Vorgang deutlich, daß diese Souveränität keine natürliche, sondern eine staatlicherseits gewährte, damit eine gegebenenfalls einschränkbare ist. Der Selbstbau als individualisierte selbstverständliche Kompetenz der traditionell unspezialisierten ländlichen Gesellschaft findet anläßlich herausragender Ereignisse zu einer Bündelung durch Institutionalisierung: in der „Fronarbeit“51, traditionell vor allem anläßlich dörflicher Kirchenneubauten sowie zur Schaffung von Infrastruktur und zur Behebung von Schäden im Gefolge von Naturkatastrophen eingesetzt, sowie, hier bereits politisch konnotiert, im gemeinschaftlichen Eigenheimbau der Siedlerbewegung, die in Vorarlberg anläßlich der Errichtung von Randsiedlungen in den 1920er Jahren in Erscheinung tritt. Es wurde bereits erwähnt, daß diese das konservative politische Gegenmodell Vorarlbergs zu den „sozialistischen“ Wiener Gemeindebauten der Ersten Republik darstellen.52 In dieses gesellschaftliche Umfeld treten Hans Purin und seine Altersgenossen, aus dem Architekturstudium in Wien oder Graz zurückkehrend, ein. Diejenigen unter ihnen, auf denen später Achleitners Blick ruhen und sie, alle-

49 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 50 Aus der Sicht von Avenir Suisse ist die Gemeindeautonomie ein zentrales Modernisierungshindernis

auf dem Weg zu ökonomischer Konkurrenzfähigkeit der Schweiz im globalen Maßstab. 51 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, Anm. 41

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samt „Roland-Rainer-Schüler“ 53, als „Schrittmacher“ 54 entdecken wird (Hans Purin, Rudolf Wäger, Gunter Wratzfeld 55), sind hinsichtlich ihres Wissensprofils Doppelexistenzen56 aus Handwerkern und Planern, näher am Berufsbild des Zimmerer- bzw. Maurermeisters57, der mit seiner Meisterprüfung auch das Recht zu planen erwirbt, als an demjenigen Selbstbild des Architekten, wie es ihre Folgegeneration vertreten wird, in deren typischem Bildungs- und Erfahrungsspektrum das handwerkliche Selbstverständnis fehlt. Hans Purins Darstellung seines beruflichen Werdegangs ist so häufig erzählt58, daß sie den Rang eines weiteren konstituierenden Textes für die Architekturentwicklung der Vorarlberger Nachkriegszeit für sich beanspruchen darf. Darin schildert er, daß ebendieses „baumeisterliche“ Wissensprofil ein folgenreiches Abgrenzungsmerkmal gegenüber den „Platzhirschen“, den etablierten Architekten, darstellt, die es demnach im Lande gab, auch wenn sie bisher in keiner Architekturgeschichte Vorarlbergs namentlich gemacht werden. Folgenreich ist es vor allem bezüglich der Bauaufgaben, die Purin zugänglich sind gegenüber jenen, die unzugänglich bleiben: Zu letzterer Kategorie gehören der Soziale Wohnungsbau, fest in der Hand der Vogewosi 59, sowie die öffentlichen Bau- und klassischen Architektenaufgaben, worunter insbesondere der Schulbau hervorsticht.60 52 Dietrich, vgl. vorhergehender Abschnitt , Anm. 22 53 Achleitner (1980), S. 399; Achleitners Attribut „Roland-Rainer-Schüler“, mit er seine Gruppierung begründet, steht auf seiten der Gruppierten ein unterschiedlicher Grad von Identifikation mit dem „Meister“ gegenüber. Während in Gunter Wratzfelds beruflicher Identität die Figur Rainer stark präsent ist (GW: Z 141 ff), gibt Rudolf Wäger seinem zweisemestrigen Studium als Gasthörer bei Rainer untergeordneten Rang und teilt mit, „daß sich das für mich nicht so lohnte. Dort erwartete ich mir mehr.“ Mangold, S. 92 54 Ebd. 55 In seinem Beitrag über Vorarlberg „Vernunft, Handwerk, soziales Engagement“ fügt Achleitner dem Dreigestirn Purin, Wäger, Wratzfeld noch Jakob Albrecht hinzu. Achleitner (1982), S. 210 56 Ein Begriff Josef Pergers 57 Dem Zimmererberuf entstammen u.a. Rudolf Wäger und Leopold Kaufmann, dem Maurerberuf Hans Purin und Gunter Wratzfeld, in der Nachfolgegeneration Norbert Mittersteiner. Hans Purin ist in unserem Gespräch ausführlich auf seine handwerkliche Grundbildung eingegangen: „Ich hab zwar in einer Zimmerei auch gearbeitet, aber (...) ich hab Maurerei gelernt. Und war bei einem Baumeister, die haben auch eine Zimmerei gehabt. Und hab immer gern auch in der Zimmerei, aber ich hab meine Lehre und meine Prüfungen im Maurerfach gemacht.“ HP: Z 790 ff 58 Veröffentlicht sind Hans Purins Erzählungen seines beruflichen Werdegangs etwa in: Füßl (1992), S. 11, und Purin (2004).

59 Dieser, nach dem Wegfall des ideologisierten Architekturprogramms im nationalsozialistischen Staatsapparat nach Purins Einschätzung formal verkümmernd. Vgl. Purin (2004), S. 15. Purin bringt seine Wertschätzung der Südtirolersiedlungen und ihrer Wohnqualitäten, aus eigener Erfahrung berichtet, in seinem Gespräch mit Füßl (1992, S. 15) zum Ausdruck. Hierin ist zugleich dokumentiert, daß das Wohnerlebnis, das die Südtirolersiedlungen „vermitteln“, zum positiv besetzten, inkorporierten Erfahrungswissen zentraler Protagonisten der Vorarlberger Architektenszene und als solches zum Referenzbestand ihrer Architektur gehört. Inwieweit sich in diesem Architekturwissen der Umstand manifestiert, daß es sich beim Bauherrn der Südtirolersiedlungen um Organe eines totalitären Staates und bei dieser Architektur um ideologisch hochgradig aufgeladene Programme handelt (wie Höhns deutlich macht), Programme, denen ein dezidierter Erziehungsanspruch hin zu einem staatlicherseits formulierten Menschenbild unterlegt ist, ist eine Frage im thematischen Umfeld von „Architektur und Staat“, die bis auf weiteres offen bleiben muß. 60 Die exponierten Planerpersönlichkeiten aus Purins Generation könnten also anhand ihrer Spezialisierung auf Sektoren des Baugeschehens in die Wohnhausplaner Purin und Wäger (bei beiden tritt in unterschiedlichem Ausmaß der Sakralbau hinzu) und die durch Einbezug in öffentliche Bauaufgaben näher am modernen Architektenprofil tätigen Kaufmann, Albrecht, Sillaber/Fohn, Wratzfeld u.a. gruppiert werden.

Hans Purins Geschichte

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Beruf wird Stand

Die Frage der Zugehörigkeit zum Berufsstand der Architekten, verknüpft mit der Zuständigkeit für bestimmte Planungsaufgaben, drängt sich der Generation Purins insofern auf, als das Ereignis der Architektenkammergründung in ihre Zeit fällt. „Beruf wird Stand“61, die mit dieser staatlich gesetzten Form der Professionalisierung als Institutionalisierung verbundene Tendenz betont vor allem die akademisch vermittelten Ausbildungsgrundlagen des neuen Berufsstandes. Ein Abrücken vom Handwerk ist die Folge, ebenso eine implizite Solidarisierung mit dem Staat und seinen Entwicklungszielen vor allem insofern, als der Staat die dem Architektenstand vorbehaltenen Privilegien gewährt.62

Reform des Handwerks

Wenn hier Akademisierung mit „Abrücken vom Handwerk“ gleichgesetzt wird, dann soll das Anlaß sein, eine Eigenart der Beziehung zum Handwerk zu erwähnen, die Purin und Wäger in ihren Selbstauskünften wiederholt anführen: „Die haben ihre Häuser gemauert und haben ihre Hallen betoniert. Zimmerer.“63 Das Handwerk habe sich in der Nachkriegszeit so weit von seinen Wurzeln im eigenen Material entfernt, daß es erst wieder dorthin, zum Eigenen, zurückgeführt werden mußte, um als Partner des Planers brauchbar zu sein. Die Beziehung zum Handwerk, in Zusammenschau der Doppelexistenzen, die die Planer selbst verkörpern mit dem Befund eines Traditionsverlustes im Handwerk, zeigt sich als Wissenstransfer in einem Planerhabitus des Voranschreitens, insbesondere auf dem Feld der Konstruktion: Der Planer fordert das Handwerk in seinen handwerksgerechten Konstruktionen zu Spitzenleistungen auf dessen Feld heraus.64 Purins erfolgreicher Versuch, Rohbau und Ausbau zu vereinen, dem Zimmermann Tischlergenauigkeit abzufordern, um Zimmertüren – ohne Stock – direkt am konstruktiven Skelett anschlagen zu können65, Wägers Abmagerung jenes konstruktiven Skeletts auf unglaublich zart erscheinende Pfostenquerschnitte von acht mal acht Zentimetern66, setzen architektonische Qualitätsmarken auf dem Feld des Handwerks selbst, im ingenieurnahen Konstruktionsmetier des Handwerkers.67 Die Voraussetzung 61 Der Beginn der Pflichtmitgliedschaft in der Architektenkammer fällt mit dem Beginn der Berufspraxis der Purin-Generation zusammen und stellte für diese ein kostspieliges Hindernis dar. Damit stellt sich der Kampf gegen den Deutungsund Verwaltungsanspruch der Kammer als generationsspezifischer dar. Der Architekt und Hochschullehrer Friedrich Kurrent hat das Ereignis und seine Konsequenzen kommentiert: „Seit 1957 wurde die Architektenkammer zur Pflichtvereinigung für Architekten. Seither ist Architekt (orig. in Versalien) kein Beruf mehr, sondern Stand. Die standeseigenen und standespolitischen Themen wurden somit der alten ,Zentralvereinigung der Architekten‘ der ,ZV‘ weggenommen.“ In: Zur Gründungsgeschichte der Österreichischen Gesellschaft für Architektur; www.oegfa.at, Stand 23.07.2010

62 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 63 HP: Z 604 ff; ähnlich äußert sich Rudolf Wäger in: Mangold, S. 92 64 Rudolf Wäger teilt mit, daß hierfür zunächst eine Rekonstruktion zwischenzeitlich verlorengegangenen Wissens im Umgang mit Holz erforderlich gewesen sei. Gespräch mit Marina Mangold, S. 92/93 65 So etwa in der Halde-Siedlung in Bludenz. 66 So etwa in der 1977/78 errichteten Reihenhaussiedlung Reichenaustraße 96–100 in Lustenau. Vgl. Psychogramme des Bauens, Programm der Dialogführung Architektur in Vorarlberg am 8. Juli 2005 mit Robert Fabach, raumhochrosen 67 Gleichzeitig stellt dieser Vorgang eine Umdeutung des Wissenskonvoluts der handwerklichen Tradition dar. Die „Konstruktion“ wird nun selbst Formträger.

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zu einer solcherart definierten Reform des Handwerks bietet diejenige Kompetenz, die Purin und seine Altersgenossen noch im Wissensspektrum einer einzigen Person vereinen, die Folgegeneration jedoch in drei und mehr spezialisierte Berufe aufsplitten wird.68 Das Stichwort Technologie gibt Gelegenheit, einige „zivilisatorische“ Tendenzen anzuführen, die das Zeitbild der Purin-Generation prägen. Es sind technologische Innovationen im Produktions-, Mobilitäts- und Kommunikationsbereich, die den steigenden individuellen Wohlstand der Nachkriegsgesellschaft mit Geräten unterfüttern und zur Entgrenzung und Vermischung bisher aufrechterhaltener traditioneller Territorien führen. Die Stadtflucht der städtischen, die die Landflucht der ländlichen, aus der mechanisierten Landwirtschaft zunehmend herausfallenden Bevölkerung ablöst, ist vor dem Hintergrund steigenden allgemeinen Wohlstands ursächlich mit der Technisierung der Lebensformen und der Ausdifferenzierung neuer Lebensstile im Verlauf der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs verbunden.69 Aus heutiger Sicht archaisch erscheinende Praktiken einer Agrargesellschaft, in der die Zugtiere gerade erst von Traktoren abgelöst werden70, müssen also als Gegenbild ebenso in das Umfeld der Purin-Generation und der technizistischen Sachlichkeit ihrer Wohnhäuser hineinprojiziert werden wie archaisch erscheinende Alltagsgegenstände, etwa die laubsackgepolsterten Betten in den Interieurs des ländlichen Vorarlberg jener Zeit. Sagmeister berichtet, daß die Mehrzahl der Raiffeisenbankdirektoren des Bregenzerwaldes noch in ihrer Jugend, bis weit in die Nachkriegszeit, allnächtlich auf Buchenlaub schliefen.71 Purin und seine Altersgenossen, selbst Randgruppe innerhalb der neu institutionalisierten Architektenschaft ihrer Zeit, finden ihr Gegenüber im intellektuellen Milieu der Vorarlberger Gesellschaft72, das sie sich durch ihre Konzentration auf kostensparende Konzepte als Bauherrenschicht erschließen. Achleitner findet in deren Kulturausdruck eine Bestätigung ihrer sozialen Einheitlichkeit: 68 Vor allem im Licht von Wratzfelds Wahrnehmung der Situation der 1960er Jahre (GW: Z 571 ff), das Handwerk als Technologieträger und insofern auf der Höhe der Zeit befindliche Institution zu sehen, wobei er das Kaufmann Holzbauwerk im Bregenzerwald an die Stelle eines handwerksinternen Fortschrittsmotors setzt, wird die Romantisierung deutlich, die den Handwerksbegriff der Folgegeneration kennzeichnet. Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz 69 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf 70 Krammer/Scheer dokumentieren den „Ersatz tierischer durch mechanische Zugkraft in der österreichischen Landwirtschaft“ durch statistische Angaben zum Anstieg der Traktorenanzahl im Vergleich zu dem der landwirtschaftlichen Zugtiere. Während 1953 noch zwölfmal mehr Zugtiere als Traktoren einge-

setzt waren, war 1962 etwa ein Gleichstand erreicht worden. 1972 schließlich hatte sich das Verhältnis umgekehrt. Nun war die Zugtieranzahl auf ein Fünftel des Standes von 1953 reduziert, die Traktorenanzahl auf das Achtfache des Standes von 1953 gesteigert worden. S. 111 71 Sagmeisters Befund entstand in Gesprächen anläßlich einer Ausstellung zum Bauen und Wohnen in Vorarlberg seit dem Mittelalter, veranstaltet von den regionalen Raiffeisenbanken. Mit Dank an Rudolf Sagmeister für die zeitliche Präzisierung „50 oder 60er Jahre“, mitgeteilt am 19.01.2011. Vgl. auch Sagmeister (1987), Abb. 19–21 72 Purin grenzt 1991 rückblickend seine Bauherrenschaft mehrheitlich auf eine spezifische Berufsgruppe ein:„Ich würde sagen, in 50% unserer Einfamilienhäuser und Kleinwohnanlagen sitzen Lehrer.“ Füßl, S. 11

Technologisierung der Zivilisation

Intellektuelles Bauherrenmilieu

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Wer damals diese ersten Häuser besuchte, fand überall ähnliche Bilder an den Wänden, die gleichen Schallplatten herumliegen und dieselben Bücher in den Regalen. Diese Kultur wurde aber auch bald ein Statussymbol, es wurde einfach schick, im verglasten Holz zu wohnen.73

Auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten74, die gesellschaftliche Position und das kulturelle Ausdrucks- und Abgrenzungsbedürfnis75, nicht zuletzt auch den Grad der handwerklichen Kompetenz auf dem Feld des Selbstbaus dieser spezifischen Gesellschaftsschicht stimmen sie das architektonische Programm ihrer Entwürfe ab. Die zweite Baukünstlergeneration und ihr Umfeld

Die zweite „Generation“ der Vorarlberger Baukünstler76 ist jene, auf deren Bauten und gesellschaftliche Integration sich die vorliegende Studie vorwiegend bezieht, wenn sie von Zeitgenössischer Architektur und ihren Architekten spricht, denn sie ist es, die heute die Vorarlberger Architekturszene institutionell ebenso wie medial repräsentiert und wirtschaftlich dominiert. Ebenso wie der Begriff „Vorarlberger Baukünstler“ ist auch die Untergliederung der Architektenschaft des Landes in „Generationen“ vor allem dem Bemühen zuzuordnen, das beobachtete Phänomen methodisch zu erfassen.77 Bereits die erste Baukünstlergeneration Vorarlbergs, als Kohorte Hans Purins zu betrachten, war höchst inhomogen und mehr durch landesspezifische Bedingungen charakterisiert als durch ein gemeinsames Programm. Vor allem bezüglich ihrer Beziehung zum Handwerk, also der Selbstkategorisierung ihres Bauens entweder als Handwerklichkeit oder als Technologisierung78, den Auftragsschwerpunkten im privaten beziehungsweise öffentlichen Bauen sowie ihrer Haltung zum Architektenstand zerfällt diese Generation in weit auseinanderliegende Positionen und ebensolche Karriereverläufe. Eine Folge, die die Gründung der Architektenkammern mit ihrer Definition sowohl der Kompetenzen als auch der Privilegien des Berufsstandes nach sich zieht und sowohl staatliche Einflüsse als auch solche der Architektenausbildung in ihrer Wirkung bündelt, ist eine Homogenisierung dessen, was der Architekt sein Selbstverständnis nennt.79 Die parallel stattfindende Akademisierung der Ausbildung80 schwächt insbesondere die (soziale) Nähe zum Handwerk, der Entwurf gewinnt gegenüber der Konstruktion an Bedeutung, der Architekt wird künstlerischer.81 Auch in der zweiten Generation der Vorarlberger Baukünstler gibt es solche Planer mit handwerklichem Ausbil-

73 Achleitner (2003), S. 4 74 Purin: „Es mußte möglich sein, mit geringen Mitteln auch ein anständiges, vertretbares Haus herzubringen.“ In: Füßl, S. 11 75 Die Werkschau der schwedischen Architektin Wenche Selmer (1920-1998) im Frauenmuseum Hittisau 2009/10 hat in den gezeigten, bewohnt fotografierten Innenräumen eine frappierende Übereinstimmung in der Auswahl von Möbeln und textilen Ausstattungsgegenständen mit Innenraumaufnahmen

von Bauten der ersten Vorarlberger Baukünstlergeneration gezeigt. (Unter diesen darf die Aufnahme des Wohnraums Franz Bertels in Purins Bludenzer Siedlung Halde den Status einer Ikone für sich beanspruchen.) Damit ist ein Hinweis gegeben, daß sich nicht nur das formale Interesse der Architekten (vgl. etwa GW: Z 153 ff, Rudolf Wäger, in: Mangold, S. 91), sondern auch der schichtenspezifische Romantizismus jener Bauherrengeneration, deren gemeinsamen Habitus Achleitner identifiziert, auf Skandinavien richtete.

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dungs- und Sozialhintergrund, die diejenige Position vertreten, für die Rudolf Wäger innerhalb der ersten Generation steht. Unter den Gesprächspartnern, die das Material der vorliegenden Arbeit lieferten, repräsentiert Norbert Mittersteiner diesen Typus des Vorarlberger Baukünstlers. Während jedoch Friedrich Achleitner als Chronist der ersten Nachkriegsgeneration die handwerkliche Position82 noch in seinem Geschichtsbild der Vorarlberger Architektur verankert, setzt der Chronist der Folgegeneration, Otto Kapfinger, in seinem Architekturbegriff neue inhaltliche Schwerpunkte, vor allem, indem er ausdrücklicher, wenn auch als Negation, die Nähe zu den akademischen Debatten herstellt und den Bezugsrahmen seiner Qualitätsselektion internationalisiert.83 Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Unterscheidung der Planergenerationen mit einer Erbordnung der Historiker, ihrer generationsspezifischen Interessenslage und ihrer konstituierenden Texte korreliert. So fällt der Generationensprung zwischen der ersten und der zweiten Baukünstlergeneration mit dem Erscheinen, damit dem archivalischen Abschluß des ersten Bandes von Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert im Jahr 1980 zusammen.84 Zwei Jahrzehnte später, in Kapfingers zweitem Vorarlberger Baukunstführer von 1999, ist dann die zweite Generation mit ihren Werken historisiert.

76 Gemeint sind hier die um 1955 geborenen Architekten: z.B. Carlo Baumschlager (*1956), Helmut Dietrich (*1957), Dietmar Eberle, (*1952), Anton Fink (*1951), Roland Gnaiger (*1952), Hermann Kaufmann (*1955), Helmut Kuess (*1952), Wolfgang Ritsch (*1956), Much Untertrifaller jun. (*1959); vgl. Kapfinger (2003), Umschlag. 77 Kapfinger darf als Urheber dieser Systematisierung in „Generationen“ gelten. Vgl. seinen konstituierenden Text, in mehreren Modifikationen seit seiner Erstverwendung als Laudatio Vorarlberger Baukünstler 1991 anlaßbezogen mehrfach ergänzt und aktualisiert (Kapfinger 1991, 1999, 2003). 78 Eine an industrieller Technologie orientierte Entwurfshaltung weist Achleitner innerhalb der ersten Generation der Vorarlberger Planerszene vor allem Gunter Wratzfeld zu. Vgl. Achleitner (1971) 79 So könnte der Befugnisstreit zwischen der Vorarlberger Planerschaft der 1980er Jahre und der Architektenkammer interpretiert werden, der den Anlaß zur Gründung des Vereins Vorarlberger Baukünstler (Rudolf Wäger über die Gründung der Gruppe 16, „unter der Fuchtel eines Baumeisters – in diesem Falle war es mein jüngerer Bruder, der uns den Stempel gab“, [in: Mangold, S. 93]) gegeben hatte: Als Widerstand derer, die eine „sozial gewachsene“ Planungswirklichkeit repräsentieren gegenüber einer Institution, die eigene Regeln für eine zukünftige, staatlich

moderierte Planungswirklichkeit zu etablieren bestrebt ist. Vgl. auch Anm. 49 80 Die Gründung einer Architekturfakultät an der Universität Innsbruck im Jahr 1969 steht für diese Akademisierung, die mit einem sprunghaften Ansteigen der Architektenzahl verbunden ist. Vgl. Abschnitt Ein anderes Haus, Kapitel Haus, Anm. 2 81 Die Beziehung der Architektengenerationen Vorarlbergs untereinander stellt sich trotz äußerlich zur Schau getragener Geschlossenheit in der direkten Konfrontation als konfliktgeladen dar. Eine latente Kritik der Älteren gegenüber den Jüngeren tritt immer dort zutage, wo Angehörige der Purin-Generation dazu aufgefordert werden, die gegenwärtige Architekturproduktion im Land zu kommentieren. Solche Äußerungen sind u.a. dokumentiert in: Kapfinger (2001), Mangolds Gespräch mit Rudolf Wäger (Mangold, S. 90) und Purin (2004). 82 Eine Position, die keine „formulierte“ ist! Charakteristisch für das Handwerk ist, daß ihm das Medium Theorie fehlt. Eine Folge ist ein eklatanter Wettbewerbsnachteil in einer Bildungslandschaft, die so gut wie ausschließlich auf einen Bildungsbegriff setzt, dessen Inhalte sich sprachlich oder in Bildern darstellen und vermitteln lassen: Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, zum Bildungsbegriff speziell Anm. 49 83 Kapfinger (1999), Zum Geleit

Generationensprung der Planer und die Erbordnung der Historiker

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In dem Versuch, den der zweite Teil dieses Abschnitts unternimmt, inhaltliche Schwerpunkte zu formulieren, die geeignet sind, den Architekturbegriff der ersten von demjenigen der zweiten Baukünstlergeneration zu unterscheiden, um so den zeitgenössischen Architekturbegriff, wie er heute in Vorarlberg etabliert ist, aus seiner regionalen Entstehungsgeschichte heraus zu beschreiben, fallen konstituierende Ereignisse ins Auge, die, über zwei Jahrzehnte verteilt, den Generationswechsel unter den Planern begleiten und der zweiten Generation ihr Thema geben. Wieder sind Staat, Handwerk, Gesellschaft und Architektenstand die Kategorien, in denen sich der regionale und generationsspezifische Architekturbegriff bildet und als charakteristisches Profil beschreiben läßt. Als konstituierende Ereignisse sollen hier das Vorarlberger Raumplanungsgesetz von 197385, der „Befugnisstreit“ von 198486, die Kunstpreisverleihung des Landes Vorarlberg an Hans Purin von 199187 und die von 1985 bis 1997 ausgestrahlte Fernsehserie PlusMinus88 gelten. Hatte die gesetzgebende Versammlung im Jahr 1948 einen betont demokratischen und dezidiert ländlichen Begriff von Baukultur an den Beginn der Wiederaufbauzeit im Gefolge des Zweiten Weltkriegs gesetzt, so setzt das Landesparlament fünfundzwanzig Jahre später, mit dem Vorarlberger Baugesetz, das 1972 die mehrfach novellierte Landesbauordnung von 1887 ablöst, vor allem aber dem Raumplanungsgesetz von 1973 neue Prioritäten, die den Demokratisierungsschritt von 1948 in wesentlichen Punkten revidieren. Anstatt die Baukultur weiterhin durch das Volk „treu verwalten“89 zu lassen, indem er eine sehr weitgehende Gemeindeautonomie ins Recht setzt, erscheint es dem Staat nun angebracht, die Baukultur und das von dieser geprägte „Orts- und Landschaftsbild“ künftig in die Hände von Spezialisten zu legen und eine zentrale Landesstelle zu deren Koordination zu schaffen. Die Erkenntnis des Gesetzgebers, daß die Landschaft mit vermehrter Aneignung durch individuelle Bauherren zunehmend ihre ökonomische Verwertbarkeit als ästhetisches Bild verliert und folglich als „öffentliches Gut“ unter Schutz gestellt werden muß 90, stellt sich gleichzeitig als Abwendung des Staates von der Gestaltungskompetenz seiner Bürger dar.91 Das damit korrelierende neue Bild der Architekten von einem idealen Staat profiliert die

84 Die Siedlung „Im Fang“ in Höchst markiert als ältestes Bauwerk des zweiten Architekturführers gleichzeitig den Auftritt der zweiten Baukünstlergeneration und repräsentiert ihren spezifischen Architekturbegriff, der sich eklatant von demjenigen der ersten Generation unterscheidet. Ein hierdurch entstehender Dissens zwischen den Planergenerationen, vor allem der Vorwurf der älteren gegenüber der jüngeren, den mühsam „resozialisierten“ Holzbau durch materialfremde Konstruktionen erneut in Verruf zu bringen, thematisiert Kapfinger (2001). 85 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung Kapitel Dorf

86 Merz/Mätzler (S. 74 ff) geben zwei Artikel aus der zeitgenössischen Presseberichterstattung zum Befugnisstreit wieder: „Unbefugte Kunst“ in: Profil 8/84 sowie „Keine Einzelfälle“ in: Profil 9/84. Achleitner äußert sich in seinem Vortrag beim Österreichischen Architektentag 1984 zum Befugnisstreit. Achleitner (1984), S. 222 87 Vgl. Kapfinger (1992); Füßl (1992) 88 Vgl. Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 41 89 Einleitung Landesbauordnung 1948, wie Anm. 35 90 Ausführlich im Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf

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zweite Generation der Vorarlberger Baukünstler gegenüber ihren „Vätern“ und wird 1991 anläßlich der Kunstpreisverleihung des Landes Vorarlberg an die Gruppe der Baukünstler explizit formuliert. Im Kontext seiner Zielvorgabe, „wo es um einen kulturellen Wiederaufbau geht. Und dem wird man auch einiges [an vorhandener Bausubstanz] opfern“ 92, fordert der Vertreter der zweiten Planergeneration eine Politik, „die die Gesellschaft koordiniert und gestaltet“.93

Das Bild der Architekten vom Idealstaat

Die Praxis bereits der ersten Generation der Baukünstler, die Bürgermeister der Gemeinden in ihrer Eigenschaft als Erste Instanz im Baugenehmigungsverfahren „auszuschalten“, indem der Berufungsweg, die Anrufung der Bezirkshauptmannschaft als Zweiter oder des Landeshochbauamts als Dritter Instanz, als „Normalweg“ 94 etabliert wird, entmachtet systematisch die lokalen Baubehörden und damit diejenige Rechtsinstitution, die – in einem Korrekturakt des nationalsozialistischen Verwaltungszentralismus – 1948 mit der Vorarlberger Landesbauordnung wiedereingesetzt worden war. Die Praxis der Bezirkshauptmannschaften, dieses Verfahren durch ihre durchwegs positiven Entscheidungen zum Erfolgsmodell werden zu lassen95, stellt sich als „interne“ Modernisierung der staatlichen Verwaltung dar. Die Kommunen verlieren ihre Autonomie, um in gegeneinander konkurrierende „Regionen“96 zusammengefaßt werden zu können.97

Erfolgsmodell Berufungsweg

91 In der Broschüre Gemeinsam Bauen, die sich 1984 in der Absicht, eine (Selbst-)Beschränkung des Baulandverbrauchs zugunsten des Gemeinwohls zu popularisieren, mit „Beispiele[n] verdichteter Bauweise in Vorarlberg“ an potentielle Bauherren wendet, illustriert die Vorarlberger Raumplanungsstelle mittels statistischer Daten den Umstand, daß „innerhalb von drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Vorarlberg mehr Häuser gebaut wurden, als 1945 bestanden hatten. (...) So entstand etwa 1/5 des Gebäudebestandes von 1981 in der Dekade 1961 bis 1971 und fast 1/4 zwischen 1971 und 1981. Annähernd die selbe Entwicklung ist auch im Wohnungsbau festzustellen, wobei hier der weitaus überwiegende Teil der Wohnungen in Form von Einfamilienhäusern erstellt wurde. Die Siedlungsausbreitung ging daher in der Vergangenheit äußerst flächenaufwendig und zudem meist auch ungeordnet vor sich. Dies gilt insbesondere für die Talsohlen von Rheintal und Walgau, in denen die für die Besiedlung in Anspruch genommenen Flächen bis 1980 etwa den dreifachen Umfang von 1950 erreicht haben, obwohl die Bevölkerung in dieser Zeit ,nur‘ 73% zugenommen hat. Die Folge davon war eine Zersiedlung weiter Landesteile mit (...) äußerst nachteiligen städtebaulichen, landschaftlichen und ökonomischen Erscheinungen. Um dieser Entwicklung zum flächenverschwendenden Ausufern der Besiedlung Einhalt zu gebieten, sollte daher auch aus

raumplanerischer Sicht in verstärktem Maße auf verdichtete Wohn- und Siedlungsformen zurückgegriffen werden...“ Häusler, S. 4 92 Füßl, S. 15 93 Ebd. 94 „Am Anfang waren Baubewilligungen fast ausschließlich über den Berufungsweg zu erhalten.“ Purin (2004), S. 15 95 „Wenn der Bauherr dahinter stand, konnte man die kommunale Behörde außer acht lassen; man sagte sich: die sind nicht maßgeblich, wir gehen in der Instanz weiter. Bei den oberen Behörden – wie Bezirkshauptmannschaft oder Land – haben wir eher Chancen, um einen Plan durchzubringen.“ Rudolf Wäger in: Mangold, S. 93 Hans Purin nennt unter den „günstigen Voraussetzungen“ der Vorarlberger Architekturentwicklung u.a. „Eine Landeshochbaubehörde und Raumplanungsstelle mit qualifizierten Fachleuten, von denen unsere Berufungen in letzter Instanz positiv erledigt wurden.“ Purin (2004), S. 16 96 Regional governance ist eine der Erscheinungsformen von „Output-Steuerung“, wie sie Radtke als gegenwärtige Zeiterscheinung diagnostiziert. Sie setzt eine „Gleichschaltung“ von Stadt und Land voraus. Der ländliche Raum verliert mit seiner „Rückschrittlichkeit“ gleichzeitig seine Autonomie.

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Architekten als Leistungsdarsteller

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Jener Erziehungsanspruch der modernen Architekten, der ihre gesellschaftliche Selbstpositionierung bestimmt, ändert mit dem Generationenwechsel seine Pädagogik. Hatte sich diese in der ersten Baukünstlergeneration noch auf den personalen Bauherrn konzentriert, um dessen intellektueller Geisteshaltung einen ihr gemäßen individuellen Lebensrahmen als Entfaltungsraum zuzuweisen, wobei die bauästhetische „Qualitätslosigkeit“ des Umfeldes als unveränderlich98, wenn nicht sogar für den Avantgardestatus notwendig toleriert worden war, so findet die zweite Generation mit ihrem Berufseintritt zu Beginn der 1980er Jahre neue Rahmenbedingungen vor. Hatte der Staat mit dem Vorarlberger Baugesetz und dem Raumplanungsgesetz von 1972/73 bereits dem einzelnen Staatsbürger als repräsentativem Kulturträger eine Absage erteilt, so umarmt er 1991 mit der Vergabe des Internationalen Kunstpreises des Landes Vorarlberg an Hans Purin, in den dieser die im Befugnisstreit als Verein solidarisierte Gruppe der Baukünstler einbezieht, seine architektonische Avantgarde und positioniert sie in diesem Akt als „Leistungsdarsteller“ neu.99 Jenes pädagogische Modell, das Achleitner mit seiner Hervorhebung des Einfamilienhauses innerhalb der Bautenkategorien noch als erzieherische Hefe und damit als Aussender eines Inputs im Teig einer Gesellschaft von Individuen vor Augen gehabt haben mag, genügt den Anforderungen der 1990erJahre an eine Profilierung Vorarlbergs als zukunftsfähige Wirtschaftsund landschaftlich intakte Wohn- und Tourismusregion nicht mehr.100 Erziehungswissenschaftler kennzeichnen den Wandel, der sich in der schulpädagogisch moderierten Beziehung des Einzelnen zu seinem Staat im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends vollzieht, als signifikanten Methodenwechsel, nämlich der Umstellung einer Input- auf eine Output-Steuerung.101 Als dessen Vorwegnahme kann die gegenüber der ersten Baukünstlergeneration gewandelte Selbstpositionierung jener jungen Vorarlberger Architektengeneration interpretiert werden, die mit der Kunstpreisvergabe von 1991 ins Licht der Öffentlichkeit gestellt wird. 97 Zum gegenwärtigen „allgemeinen Trend zur Dezentralisierung“ staatlicher Verwaltungsstrukturen vgl. Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 47 98 „Es gibt eine gewisse Anerkennung von oben und von unten, wobei uns klar war und ist, daß wir immer für eine Minderheit arbeiten werden. Es wird nie so eine Breite bekommen, daß ein jeder in unserem Sinn gute Architektur macht. Damit muß man sich abfinden. Das ist aber auf der ganzen Welt so, nicht nur in Vorarlberg.“ Hans Purin in: Füßl (1992), S. 10 99 Landesrat Guntram Lins formuliert in seiner Ansprache zur Preisverleihung die „Aufgabe des Architekten“ als „sichtbar zu machen, was hinter den Mauern verborgen oder geborgen ist“. Vgl. Lins, S. 8 100 Die Vorausschau auf den bevorstehenden EUBeitritt Österreichs (vollzogen 1995) wurde etwa im

Sektor des Handwerks bereits seit 1991 in wirtschaftlicher Hinsicht kommentiert und vorbereitet. Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk 101 Radtke, S. 238 Der Autor stellt den Paradigmenwandel der Schulpädagogik im Gefolge des Bologna-Prozesses in den Rahmen einer Rückkehr zu einem gesellschaftlichen Disziplinarregime, das vor allem mit ökonomischen Kräften in Wechselwirkung stehe. Dieser Prozeß reiche bis in die 1980er Jahre zurück und sei darauf gerichtet, insbesondere die Demokratisierungen durch die 1968er Generation rückgängig zu machen. 102 Ausdrücklich ist diese Wende in Carlo Baumschlager und Dietmar Eberles Rückblick auf die Baukünstlervergangenheit formuliert. Vgl. Waechter-Böhm (2000), S. 125 ff

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Sie fordern programmatisch – und erhalten – nun umfassende Beteiligung an jenem „System“, dessen Effekt auf den Einzelnen, seine individuelle Entwicklungsmöglichkeit zu beschneiden, ihre Väter noch durch alternative Wohnformen und umfassende Partizipationsmodelle am Bauprozeß zu überwinden gesucht hatten. Tritt die zweite Generation im Verlauf der 1980er Jahre zunächst noch in die Fußstapfen der Altersgenossen Hans Purins, indem sie mit Selbstbausiedlungen an das intellektuelle mittelständische Bauherrenmilieu anschließt, das jene für das Wohnen im „Architektenhaus“ erschlossen hatten, so vollzieht sie im Verlauf der 1990er Jahre Maßstabssprünge sowohl in der Erschließung neuer Bautenkategorien, ihren Bürogrößen, als auch in einer Internationalisierung ihrer Projekte, der sie denjenigen Bestandteil des regionalen Architekturbegriffs ad acta legen läßt 102, welcher die Absolutstellung von Ästhetik zugunsten „breiter“ Nutzerbeteiligung vorübergehend in den Hintergrund der architektonischen Anstrengung gedrängt hatte. Eine gesellschaftliche Neuplazierung von Architektur ist die Folge dieses Aufbruchs derjenigen Vertreter der zweiten Baukünstlergeneration, die sich „neues Terrain“ zu „erobern“103 gedenkt: „Dann sind die Partner kommunale Auftraggeber, Großinvestoren, Versicherungen, Banken, große Bauträger, Generalunternehmer.“104 Der ins Auge gefaßte „Entwicklungs- und Bildungsprozeß“105 ist ein kulturpolitischer im Maßstab des gesamten Landes. „Wir können also relativ problemlos bei den Einfamilienhäusern bleiben oder (...) die echten Probleme in diesem Land anpacken. (...) Wenn es nämlich um Raumplanung, Städtebau, Siedlungsbau, ordentlichen Verwaltungsbau geht, dann stehen wir einigermaßen am Anfang.“106 Hatte Achleitner 1980 den gesellschaftlichen Initiativkern der architektonischen Kultur Vorarlbergs noch außer-, genauer unterhalb von „Bürgertum“ und „Oberschicht“107 vorgefunden und daneben dessen Verankerung im Sozialmilieu des Handwerks betont, so identifiziert Kapfinger zwei Jahrzehnte später bereits wieder „Teile der hochkulturellen Elite“108 als deren gesellschaftliche Trägerschicht. Hatte Achleitner noch eine Teilhabe und Mitgestaltungsrolle des Handwerks an der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs propagiert, so beschränkt sich Kapfinger auf die Feststellung, daß das Bauhandwerk den Anspruch der Architekten „mitvollzogen“109 habe. Mögen dies auch graduelle Unterschiede sein, so legen sie doch jeweils dezidiert den Kreis derjenigen Bevölkerungsteile fest, die zur aktiven Mitgestaltung der eigenen räumlich-dinglichen Lebensumgebung, zur „Ausübung von Ästhetik“110 legitimiert und aufgefordert sind.111 Der Wandel, dem die Größe dieses Kreises unterliegt, gehört als wirksamster Effekt, den Architektur als soziale Praxis hervorruft, zu den Generalthemen des hier anschließenden Hauptteils unserer Studie. Vorarlberg bietet uns dazu die Möglichkeit eines Blicks in eine nahe Zukunft, sofern diejenigen Kreise, die von seiner Landesfläche auf Europa abstrahlen, als Darstellung seiner Rolle als gesellschaftlichem Labor „in der die eigene Zeit (...) zu sich selbst“ 112 findet, genommen werden.

Wer darf bauliche Ästhetik ausüben?

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103 Füßl, S. 12 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Wie Anm. 19 und 20 108 Kapfinger (1999), Zum Geleit, 4. Seite 109 Kapfinger (1999), Zum Geleit, 3. Seite 110 Bernhard Steger hat herausgearbeitet, daß Ottokar Uhls Auseinandersetzung mit Partizipation am Planungsprozeß um ebenjene Grenzziehung zwischen Ausübung und Betrachtung von Ästhetik kreist: „[Uhls] Forderung ist, dass die Fähigkeit zu ästhetischer Handlung prinzipiell allen Menschen zugesprochen wird. Er stellt den Vorbehalt in Frage, nur Künstler und Architekten wären als schöpferische Persönlichkeiten in der Lage, ästhetisch zu handeln. (...) Ästhetik ist also nicht, wie Uhl gerade im Zusammenhang mit seinen partizipativen Ansätzen im Wohnbau

vorgeworfen wurde, ein nachrangig zu behandelnder Teil der Architektur, sondern sie ist vielmehr so wichtig für den Menschen, dass eine Verkürzung der ästhetischen Aktivität auf die Betrachtung von Objekten ein unzulässiges Vorenthalten von Chancen auf Lebensentfaltung darstellt.“ Steger (2007/1), S. 185 Die vorliegende Studie berührt verschiedene Aspekte der Partizipationsfrage u.a. in Modernisierung des Holzbaus des Kapitels Holz, in Architektenhaus des Kapitels Haus, in Strukturen des Gemeinschaftslebens sowie Beratung, Planung, Steuerung des Kapitels Dorf sowie Externe Entwerfer des Kapitels Handwerk. 111 Monika Gentner stellt in einem Gespräch zwischen namhaften Architekturjournalisten Österreichs deren unterschiedlichen Blickwinkel auf diese Legitimationsprozesse einander gegenüber. Gentner, S. 13 ff 112 Moos, S. 811

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3 Holz

3.1 Holz als Baustoff Wie sie kaum es erfleht, faßt starrende Lähmung die Glieder, und mit geschmeidigem Bast umzieht sich der schwellende Busen. Grünend erwachsen zu Laub die Haare, zu Ästen die Arme; fast hängt, jüngst noch flink, ihr Fuß an trägem Gewurzel!1

Die Zeitgenössische Architektur Vorarlbergs ist in den 1970er und 80er Jahren als „neuer Regionalismus“2 mit einer „ganz neuen Sicht des Holzhausbaus“3 in Erscheinung getreten. 1982, als das Phänomen bereits erste internationale Aufmerksamkeit erregt, weist ihm Friedrich Achleitner diese beiden Kennzeichen zu, nämlich für das im Zuge der Postmoderne neu erwachte Interesse am Regionalen substantielle Beiträge zu liefern sowie den Holzhausbau wieder gesellschaftsfähig zu machen. Es sollte sich erweisen, daß damit für diese Architekturszene eine Etikettierung geschaffen worden ist, die ihr bis heute anhaftet. Achleitner belegt seine Charakterisierung an dieser Stelle lediglich durch eine Handvoll Einfamilienhäuser, die er allesamt in den Gemeinden des Rheintals findet. Eine größere Zahl von Objekten hatte er in seinem zwei Jahre zuvor erschienenen ersten Band des nationalen Inventars Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert4 versammelt, dem Band, der neben Oberösterreich, Salzburg und Tirol das Bundesland Vorarlberg umfaßt. Dort präzisiert er seine Sicht einer neuen Rolle, die dem Holzhausbau zufällt. Nach der Feststellung, daß das „sogenannte bürgerliche Wohnen im architektonischen Bereich zur völligen Bedeutungslosigkeit und Ignoranz der Entwicklungen abgesunken ist“5, ortet er„gerade in Vorarlberg“ die neuen Träger einer architektonischen Kultur in „Randgruppen oder jungen Bauherrn mit geringen Mitteln.(...) Es fällt auf, daß sich diese neue Entwicklung in Vorarlberg fast ausschließlich auf dem Gebiete des Holzhausbaus abspielt.“6 Die vorliegende Studie gibt den Themen Holz und Handwerk breiten Raum und folgt damit der Spur Achleitners. Der vorangegangene Abschnitt Baukünstler hat verdeutlicht, daß an dieser Spur nicht allein das analytische Moment, sondern ebensosehr die Setzung neuer gesellschaftlicher Werte und die Schaffung daran geknüpfter Einflußsphären von Interesse sind. Den

Holzbau und Regionalismus

Holzbau als Träger architektonischer Kultur

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Rahmen bildet eine Modernisierung, die sich vor allem im ländlichen Raum als grundstürzende Veränderung traditioneller Lebensformen abzeichnet. Erst vergleichsweise spät, nämlich seit Mitte der 1980er Jahre, sickert der „neue“ Holzhausbau auch in den Bregenzerwald ein,7 der, topographisch abgeschirmt, bis dahin die traditionelle Selbstversorgung seiner bäuerlich-handwerklichen Gesellschaft weitgehend aufrechterhalten konnte und, zumindest im privaten Wohnhausbau, für die akademisch-internationalistischen Einflüsse unempfindlich geblieben war8, die Architektur ebenso bestimmen, wie sie durch sie verkörpert werden. So führt Achleitners 1980 abgeschlossene Beispielsammlung architektonisch relevanter Einfamilienhäuser Vorarlbergs für den Bregenzerwald nur ein einziges Objekt auf, das Haus Dietrich in Mellau, 1969–71 entstanden, ein Werk Rudolf Wägers.9 Fünfundzwanzig Jahre später registriert eine durchaus dokumentarisch gemeinte Beschreibung, die den Bregenzerwald als Handwerksstandort ins Auge faßt, eine in voller Blüte stehende zeitgenössische Holzbauarchitektur als selbstverständliche Gesellschaft der alten Bauernhäuser, als ihre kulturelle Fortschreibung, wenn nicht gar Steigerung. So fahren wir über sanft gewelltes Land mit weidenden Kühen und durch Dörfer mit den für die Region typischen alten Schindelhäusern. Dazu gesellt sich eine neue Architektur, die das Überlieferte nicht alt aussehen läßt, sondern dessen Vorzüge in zeitgemäßer Sprache fortschreibt und so den Ruf der Vorarlberger Bauschule in die Welt trägt.10

Wir könnten mit diesem Bild einer offensichtlich glücklichen Romanze zwischen Alt und Neu, das im untersuchten Raum gern präsentiert wird, einer sich dem Augenschein darbietenden, harmonischen Konstellation aus einer neuen Holzarchitektur, die im Wald zu sich gefunden und, zu Hause unter ihren Vorvätern, den ehrwürdigen Wälderhäusern angekommen, eine Hochblüte erlebt, zu der ganz Europa, wenn nicht die Welt, aufblickt, unsere Studie beenden, noch bevor sie begonnen hat, und uns darauf beschränken, in einem Abspann die handelnden Personen und ihre Darsteller zu nennen. Doch zögern wir, noch bevor The End die Leinwand füllt, spätestens an der für die Versicherung vorgesehenen Stelle, daß während der Dreharbeiten keine Tiere zu Schaden kamen. Just die erwähnten und für das Bild der intak1 Ovid Metamorphosen 1/ 547- 550 nach der Übersetzung von Reinhart Suchier; Leipzig: Philipp Reclam, 1986 2 Achleitner (1982), S. 210 3 Ebd. 4 Achleitner (1980), S. 397 5 A.a.O., S. 399 6 Ebd. 7 Haus Eugster in Langenegg, Bj. 1984, Architekt Anton Fink. Nach Auskunft der Bauherren das erste moderne Holzhaus im Bregenzerwald, vgl. Gespräch mit Ehepaar Eugster (ALE). Zur Beurteilung dieser

Einschätzung sind die spezielle Situation der 1980er Jahre und die Rolle dieser Generation von Bauherren und Architekten für den sozialen Wandel zu berücksichtigen, dem die dörflichen Gesellschaften des Bregenzerwaldes zu dieser Zeit unterlagen. Vgl. hierzu das Kapitel Dorf. 8 WS 2: Z 267 ff 9 Achleitner (1980), S. 400 Im Hinblick auf eine Vorbildwirkung für die nachfolgende Architektengeneration wären daneben Bauten Leopold Kaufmanns aus dieser Zeit, etwa sein Jagdhaus in Reuthe, zu nennen.

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ten bäuerlichen Landschaft so maßgeblichen Kühe nämlich fielen im Sommer 2007 reihenweise einer Seuche zum Opfer und mußten noch auf dem Vorsäß notgeschlachtet werden.11 Der Almabtrieb geriet zum Trauerzug, und die laufende UNESCO-Bewerbung, die Intaktheit der traditionellen Dreistufen-Milchwirtschaft des Bregenzerwaldes zum Weltkulturerbe12 zu erheben, erfuhr einen empfindlichen Rückschlag. Als Ursache der Katastrophe kam ans Licht, daß die so ursprünglich erscheinende Vorsäß- und Almwirtschaft vielerorts nur noch äußerlicher Deckmantel für eine Hochleistungsmilchproduktion mit entsprechend überzüchtetem, krankheitsanfälligem Vieh13 gewesen war: Märchenwelt ade. Unter heutigen Bedingungen, den Lebens- und Wirtschaftsbedingungen einer hochindustrialisierten Gesellschaft des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts muß vorausgesetzt werden, daß auch die sich dem Auge darbietende Idylle das Ergebnis einer interessensbestimmten Gestaltung ist, und selbst, wo es sich um den Anblick „unberührter“ Naturschönheiten handelt, diesem eine Schutzanstrengung vor unmittelbar verwertendem Zugriff vorangegangen sein muß. Zumeist steht dieser Schutz wiederum im Dienst einer indirekten Verwertung. Achleitner hat hierfür den Begriff Vermarktung von Landschaft geprägt.14 Speziell im Umfeld des Holzes wirken gesellschaftliche Kräfte, zu denen wirtschaftliche und politische ebenso gehören wie diejenigen von Tradition und Mythos, da in den Holzeigenschaften noch heute der Mond und selbst die Sterne am Werk gesehen werden. Holz verkörpert eine Nutzung der Naturkräfte, deren Erschließung von modernster Technik bis in esoterische Sphären reicht. Zeitgenössischer Architektur fällt in diesem Kontext die Rolle zu, die genannten Kräfte zu moderieren, zu beeinflussen, auch zu beschwören und aus ihrer sozialen Konstitution als Bewegung heraus eigene reformerische Intentionen ins Spiel zu bringen. Die Darstellung der vorgefundenen Verhältnisse erfordert eine weitgehende Entflechtung und Herauspräparierung einzelner, besonders prägnanter Phänomene. Daher durchstreift dieser Abschnitt zunächst den mythologischen Hintergrund einer gemeinsamen Wesenheit von Mensch und Baum, wie sie in traditionellen Bezeichnungen und Ritualen des Holzbaus und in Volksbräuchen lebendig geblieben ist. Historisch gesehen prägt den Holzbau vor allem die Konfrontation der ersten Siedler mit dem alles bedeckenden Wald. Die heutige Kulturlandschaft 10 Claudia Schwarz in: Gögl (2005), S. 44 11 Das Schwarzenberger Gemeindeblatt berichtet von mehr als 100 Stück Vieh, die im Sommer 2007 auf der Alpe Mittelargen geschlachtet werden mußten. s’Gmuondsblättle, Ausgabe Nov. 2007, S. 4 12 http://regio.bregenzerwald.at/antrag

13 Greussing (2007), S. 14 f Ähnlich kritisch wie Greussing setzt sich Kurt Bereuter, Beirat im Kulturforum Bregenzerwald, mit der modernisierten Alpwirtschaft der Region auseinander. Vgl. Bereuter 14 Achleitner (1980), S. 312

Umwelt als Produkt von Gestaltung

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ist Ergebnis einer tiefgreifenden Umgestaltung der ursprünglichen Naturlandschaft, die im Bregenzerwald erst spät, im Zuge der spätmittelalterlichen Besiedlung der Talgründe von Bregenzerach und ihren Nebenflüssen beginnt.15 Die wirtschaftliche Verwertung des Holzes steht im untersuchten Raum heute im Spannungsfeld zwischen einer mittlerweile globalisierten Holzwirtschaft und kommunal initiierten Signalprojekten, die, der Globalisierung entgegengesetzt, betont kleinräumiges Wirtschaften demonstrieren. In diesem Zuge werden solche Qualitäten im heimischen Holz, speziell der Weißtanne, herausgestellt und gepflegt, die der Weltholzmarkt mit seiner Nivellierungstendenz nicht mehr zu bieten imstande ist. Im Bregenzerwald hat eine differenzierte Materialsprache des Holzes mit ihrer bis zur ursprünglichen Besiedlung zurückreichenden Tradition der Holzverarbeitung in vielfältiger Form in das soziale Verhalten Eingang gefunden. Zeitgenössische Architektur integriert solche Aspekte in ihre Entwürfe, um so für die Beteiligten eine vertraute Basis zu schaffen, die eine Identifikation mit ihrer Formensprache erleichtert. Baum- und Menschengestalt

Wer dem Holz als Baumaterial und Baum und Wald als dessen Herkunftsorten nachgeht, dem gerät die Gegenüberstellung mit dem Baum womöglich zum Gestaltvergleich, zur Entdeckung eines Verwandten im Baum.16 Dieser tritt je nach den Umständen der Begegnung als Freund und Beschützer oder als bedrohlicher Feind in Erscheinung. Im Mythos der Daphne, die sich in ihrer äußersten Bedrängnis der Verfolgung durch den verliebten Apoll mittels Verwandlung in einen Lorbeerbaum entzieht, erreicht diese in den Baum hineingelegte Verwandtschaft zum Menschen ihre äußerste Nähe; die Verschmelzung des menschlichen mit dem Baumkörper vollzieht sich vor den Augen des abgewiesenen Verehrers und mit diesen vor den unseren. Das Eingangszitat dieses Abschnitts entstammt Ovids literarischer Bearbeitung dieser Szene in seinen Metamorphosen. Gian Lorenzo Bernini, italienischer Bildhauer und Baumeister des Barock, hat diese fließende Gestaltverwandlung, jenen Moment der simultanen Präsenz von Mensch und Baum, als Apolls „Atem (...) schon ihr Haar auf den Schultern“17 berührt, in Marmor fixiert wie das Standbild einer Filmszene. Andere Zeitumstände und andere individuelle Antriebe verschaffen etwa in Stephan Balkenhols Holzplastiken der menschlichen Figur durch ihren wahrnehmbar bleibenden Stamm des Baumes eine ähnliche Gleichzeitigkeit der Erscheinung, die immer auch den Subtext von der Reanimation des toten Holzes als Effekt des künstlerischen Tuns erzählt.18 Selbst weit jenseits

15 EW 2: Z 47 f 16 In ihrem Aufsatz über exklusiven Möbelbau im Bregenzerwald findet Renate Breuß eine Identifikationsbrücke des Tischlerkunden mit dem hölzernen Auftragsstück in der Menschenähnlichkeit der Bäu-

me: „Mit dem Menschen verbindet sie eine gerade Gestalt mit Fuß und Krone.“ Breuß (2006/1), S. 7 ff 17 Wie Anm. 1, 1/542 Berninis Skulptur Apollo und Daphne, geschaffen 1622–1625, steht heute in der Villa Borghese in Rom.

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solch subtiler künstlerischer Strategien findet sich das Thema der Wesenseinheit von Mensch und Baum bei trivialen und scheinbar voraussetzungslosen Stücken, wie den gelegentlich an Straßenrändern alpenländischer Tourismusorte angebotenen, in bizarr geformte Wurzelstöcke geschnitzten Fratzen. Und wenn wir dieses Motiv neben den griechischen schließlich auch in den germanischen und slawischen Mythen19 und daneben sowohl in den anonymen Volksmärchen als auch den Kunstmärchen moderner Autoren wiederfinden, unter denen mit Collodis Pinocchio, Tolkiens Herr der Ringe und zuletzt Rowlings Harry Potter20 nur die populärsten genannt sind, so darf wohl mit Berechtigung von einem Urbild unseres Kulturkreises gesprochen werden.

Wesenseinheit von Mensch und Baum als Urbild unseres Kulturkreises

Das Christentum tritt der archaischen Vorstellungswelt, die eine Beseelung der gesamten Natur voraussetzt, von Anfang an entschieden entgegen und setzt in der für ihre Erlösungslehre zentralen Szene vom Kreuzestod des Gottessohns ein radikales Gegenbild an deren Stelle. Dort, wo noch in der Daphnegestalt die gemeinsame Naturhaftigkeit von Mensch und Baum dargestellt ist, bildet beim Christustod das leb- und seelenlose Holz, als Material der Kreuzesbalken, den rahmenden Bildgrund für den bald darauf gleichfalls leblosen Körper. In dieser Konstruktion, die das Christuskreuz ist, und der neuen Religion, die es zu ihrem zentralen Symbol erhebt und die bald ganz Europa und darüber hinaus dessen Kolonien erobern wird, tritt uns mit ihrer Lehre vom Menschen als einzig beseeltem Wesen gleichzeitig ein neues Verhältnis zur Natur, deren Teil der Mensch nun nicht länger sein will und deren Produkte er von nun an unter dem Aspekt ihrer Materialhaftigkeit betrachtet, erstmals entgegen. In der Folge schafft dieser neue Blick des Menschen auf die „im christlichen Bereich“ nunmehr „säkularisierte“21 Natur die moralische Grundlage für die Entwicklung der modernen Technik. Die Natur liegt von diesem neuen, rationalen Standpunkt aus „wie ein riesiges Feld vor dem Menschen, auf dem er sich als Forschender oder Ausbeutender nach Belieben bewegen kann...“22 Ohne sich zu einem generalisierenden Verdammen der modernen Technik hinreißen zu lassen, ist der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt23, der diese Interpretationen entwickelt hat, in seinen Tübinger Vorlesungen zur vorsokratischen Philosophie immer wieder auf diesen Wandel in der Naturbeziehung des Menschen im Zuge der Entwicklung des europäischen Denkens hin zum Rationalismus eingegangen, ein Wandel, der unsere heutige Zivilisation bestimmt.

Christentum und unbeseelte Natur

18 Matthias Winzen: Wo steht der Bildhauer?, in: Stephan Balkenhol, Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Baden-Baden; Köln: Snoeck, 2006 19 Vgl. u.a. Johann, S. 9 f 20 Die Erscheinungsdaten der genannten Werke

sind über ein Jahrhundert verteilt: Pinocchio erschien erstmals 1883 bei Paggi, Florenz, in Buchform. Lord of the Rings 1954/55 bei Allen & Unwin, der erste Band von Harry Potter 1997 bei Bloomsbury, London. 21 Schadewaldt, S. 208

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Die rationale Weise des Sich-zur-Welt-Verhaltens hat sich gegen alle Widerstände von Mystik, Bildlosigkeit, auch von romantischen Strömungen, die immer wieder einbrachen, durchgesetzt und beherrscht unsere ganze Kultur heute, zumal in den Formen der Technik, deren Macht und Kraft ebenso wie das tief Bedenkliche, was sie auch an sich hat, auf dieser Ratio beruht. Die Technik ist in ihrem Wesen nichts anderes als der bis in seine letzten Konsequenzen durchgeführte Logos, angewendet auf die Beherrschung der Natur, wobei letztere zum bloßen Objekt degradiert wird... 24

Das angesprochene Schwanken der Naturbeziehung des Menschen zwischen rationaler Ausbeutung und einer entgegengesetzten Haltung, die Schadewaldt in „romantischen Strömungen“ identifiziert, findet sich einerseits in den Praktiken der Holzverarbeitung nachgezeichnet, die im untersuchten Gebiet anzutreffen sind, andererseits in den mannigfaltigen Baumbräuchen. Baumbräuche

Wo Lorbeerkranz und kunstvolle Maizweige25, jene in Prozessionen zum Apollonfest getragenen, mit Lorbeer, Kugeln und Bändern geschmückte Olivenstäbe, im antiken Griechenland noch an die in der Daphnegestalt verkörperte, lebendige Einheit von Mensch und Baum erinnerten, da spinnen sich im christlichen Mittelalter nun Legenden um die vier Holzarten des Kreuzes, dessen Splitter man als Reliquien verehrt, und fassen seine tote Materialhaftigkeit als Gegenstand theologisch-mystischer Betrachtungen auf.26 Alle lebendigen Baumheiligtümer der einheimischen Kulte hatte man im Zuge der Missionierung gefällt und mit der Axt zu beweisen gesucht, daß es sich bei den verehrten Bäumen um nicht mehr als profanes Holz handle und daher der Anspruch auf eine Seele dem Menschen allein gebühre. Überliefert ist etwa die Fällung der Donareiche, einem Baumheiligtum der germanischen Chatten, an die Wynfrith, der spätere Bonifatius, von Papst Gregor II. zum Bischof derjenigen Völker ernannt, „die noch der Sorge eines christlichen Hirten entbehren“, im Jahr 723 die Axt legte.27 Und doch veranlassen uns noch heute die Reste vorchristlicher Kulte alljährlich und allerorten zum Aufrichten von Maibäumen, von Weihnachtsbäumen und zu anderen, jenseits aller Rationalität angesiedelten Verrichtungen. Beim bis heute gepflegten Brauch des „Bloch“ im Schweizer Kanton Appenzell-Außerrhoden wird ein besonders schönes Exemplar der im Winter gefällten Tannen mit solcher Feierlichkeit im Festzug durch die Dörfer geleitet, als müßte man einem lebenden Baumwesen Abbitte tun. „Die ältesten Schilderer des Brauchs (...) vermuten, daß das Blochziehen auf eine uralte kultische Handlung zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Freya zurückgehe.“28 Das Fortbestehen des Mythos innerhalb der ansonsten vom Rationalismus geprägten Beziehung zur Natur wurde zur Zeit des Nationalsozialismus durch politische Instrumentierung kontaminiert. Die von politischer Ideologie gesättigte Naturbetrachtung des Nationalsozialismus sah im Wald „die Wurzeln des deutschen Volkstums verankert. (...) Er ist uns Sinnbild der Heimat und der Unvergänglichkeit unseres Vaterlandes“29. 22 A.a.O., S. 209 23 1900–1974, geb. in Berlin, seit 1950 in Tübingen 24 Schadewaldt, S. 185

25 Andresen, S. 690 26 Wagner, Rübel, Hackenschmidt, S. 147 27 Fischer, S. 59

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Aus der Antike sind nur wenige Holzbauteile erhalten.30 Doch ungeachtet der im Vergleich zu Stein und Metall vergänglichen Beschaffenheit seiner Substanz finden sich in der Literatur jener Zeit, etwa bei Plinius d. Ä., der die Veredelung billiger Hölzer durch Furniere ablehnt31, Zeugnisse einer hochentwickelten antiken Holzbaukultur. Der Umstand, daß heilige Bäume und Haine als Wohnort von Göttern und Seelen verehrt werden, führt wohl zum Schutz solcher Bezirke32, schränkt indes die Nutzung des Holzes als Baumaterial keineswegs ein. Vielmehr läßt sich etwa aus der Entwicklung der griechischen Sprache ableiten, die mit dem Begriff hyle zunächst Holz oder Wald und später Materie, „das Ungeformte“33, ausdrückt, daß die europäische Kultur anhand der Bearbeitung des Holzes überhaupt erst ihr Selbstverständnis als formende und bauende Kultur entwickelt hat. Der Umstand, „daß der griechische Tempel aus einer Holzarchitektur hervorgegangen ist“34, was aus der Beschaffenheit seiner seit Ende des siebten vorchristlichen Jahrhunderts in Stein übertragenen Elemente abgeleitet wird, die nur im Holzbau eine tektonische Funktion erfüllen, kann als späte Illustration dieses Vorganges gesehen werden. Diese intensive Aufladung des Holzes mit der an ihm gewachsenen Kulturentwicklung bleibt trotz kirchlicher Anstrengungen, der Natur ihre Beseeltheit abzusprechen, bis in unsere Tage erhalten. Tradition und Technik des Holzbaus konservieren insbesondere das Bewußtsein von der Menschenähnlichkeit der Baumgestalt. So nennt der Sprachgebrauch das Strebenkreuz der Fachwerkwand im alemannischen und fränkischen Fachwerkbau den „Wilden Mann“35 und beschreibt die untereinander verdübelten Rundstämme der „Dippelbaumdecken“36 als „Mann an Mann“ liegend. Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch an das grüne, oft mit bunten Bändern geschmückte 28 Maeder, S. 72 ff 29 Solche patriotischen Appelle wurden dem „Naturfreund“ selbst in so unverdächtig erscheinenden Werken wie dem 1937 vom Cigaretten-Bilderdienst herausgegebenen Sammelalbum Aus Wald und Flur ans Herz gelegt. Durch ihre Beanspruchung insbesondere der germanischen Mythen für die Rechtfertigung einer gleichsam naturgegebenen Dominanz des „Tausendjährigen Reiches“ verleihen sie bis heute jeder Auseinandersetzung mit solcher Mythologie einen schalen Beigeschmack.(Walter Nöldner: Aus Wald und Flur – Pflanzen unserer Heimat; Hamburg: CigarettenBilderdienst, 1937) 30 Spuren von Holzbauteilen sind als Hohlformen in den antiken Vesuvstädten nachweisbar, im Original erhalten sind einige Türen aus dem 5. Jh. n. Chr., Reste einer Falttür in Herculaneum sowie am gleichen Ort ein bes. schönes Beispiel röm. Holzfachwerks. Andresen, S. 1315 31 A.a.O. S. 1314 32 Johann, S. 9 f 33 Schadewaldt, S. 206 f

34 Andresen, S. 1315 35 www.wikipedia.org nennt unter dem Stichwort „Mann (Fachwerk)“ noch weitere, jeweils regional gebräuchliche Bezeichnungen solcher Strebenkreuze: Mann, Halber Mann, Mann mit Fuß- und Kopfverband, Hessenmann, Schwäbisches Männle, Schwäbisches Weible, Schwäbisches Kindle. In Württemberg wird die Mannform als „Dambedei“ bezeichnet, in Graubünden als „Tambeda“. An dieser Stelle wird auch auf die unheilabwehrende Wirkung hingewiesen, die speziell dem „Wilden Mann“ zugesprochen wurde. (Stand 30.01.2008) Swoboda dokumentiert ein spätgotisches Riegelwerk mit sogenannten Wilder-Mann-Verstrebungen an einem Bauernhaus in Fiß/Tirol (Swoboda [1986], S. 45); nachdrücklich weist Swoboda darauf hin, daß der Fachwerkbau innerhalb Österreichs in Vorarlberg seine größte Verbreitung besitzt, und widmet Vorarlberger Beispielen große Teile des dritten Bandes seiner Alte[n] Holzbaukunst in Österreich. 36 www.fachwerk.de: Stichwort „Dippelbaum“. (Stand 30.01.2008)

Holz als ungeformte Materie

Überleben des Mythos im Holzbau

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Bäumchen, mit dem zum Aufrichtfest des Holzbauwerks dessen First geschmückt wird. Es verkündet nicht nur den Anspruch der Zimmerleute auf ein vom Bauherrn ausgestattetes Richtfest, indem es bei allzu langem Zögern des Spenders durch ein dürres Exemplar ersetzt wird, sondern ist auch als in die Gegenwart reichende Erinnerung an die kulturale Kette zu verstehen, die Wald, Baum, Holz und Mensch gemeinsam in die Natur zurückbindet.

Waldrodung als Schaffung von Kulturlandschaft

Die Sonderstellung, die Holz unter den traditionellen Baumaterialien einnimmt, die neben ihm alle flechtbaren Gräser, den Lehm im ungebrannten oder zum Ziegel gebrannten Zustand, Stein und Metalle umfassen, läßt sich auch aus seiner Nähe zur archaischen menschlichen Siedlungstätigkeit ableiten, die ihren Begriff von Kultur noch eher mit dem Ackerbau als dem Hausbau verbindet. Wer je in Mitteleuropa siedeln wollte, mußte zunächst Wald roden. Damit schuf er Voraussetzungen in zweierlei Hinsicht: die freie Fläche zur Errichtung des Hofes und zugleich das hierzu benötigte Bauholz. Die Rodung rund um den Einzelhof und die Substanz seines Hauses entstanden in ein und demselben Vorgang. Mittlerweile beobachten wir im Alpenraum den umgekehrten Vorgang überall dort, wo ehemalige Rodungsflächen in hochgelegenen Grenzertragsregionen bereits wieder aufgegeben und vom Wald zurückerobert werden. Erst außerhalb Europas, unter besonderen Bedingungen, wie sie der Untergang der sozialistischen Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre bot, sind solch ursprüngliche Siedlungsvorgänge wie das mit dem Hausbau einhergehende Roden des Waldes noch gelegentlich erlebbar. Konkret war es die wiedergewonnene Freiheit der Religionsausübung, die zu dieser Zeit Voraussetzungen für eine Klostergründung mitten im unwegsamen Birkenwald Zentralsibiriens schuf. An diesem abgeschiedenen Ort, fünf Flugstunden östlich von Moskau, war der Wald noch so weglos und der Untergrund den Sommer über so sumpfig, daß sich jeder Transport von Baumaterial verbot. Der Lada des Popen und einige Motorsägen waren die einzigen technischen Hilfsmittel für die Siedler, und der kurze Aufenthalt, der uns auf einer Reise im Jahr 1994 dort gegönnt war, zeigte, daß sie zum Bau der kleinen Siedlung inmitten der Wildnis ausreichten. Ein Jahrtausend zuvor mögen die ersten Kolonisten, die vom Kloster Mehrerau und vom Allgäu her in den Bregenzerwald vordrangen37, ähnlich begonnen haben; einzelne Bäume im Dickicht des Urwalds gefällt, die Stämme zu Brettern geschnitten. Die Wände der ersten Häuser im Blockbau errichtet und Türen, Böden und Läden zum Verschluß der Fenster aus den Brettern gezimmert. Der Transport von Stämmen über größere Strecken war, wie es heute noch im Bergwald mancherorts der Fall ist, nur auf dem schneebedeckten, gefrorenen Winterboden mit Hilfe von Zugtieren möglich. So verbinde ich die Anfänge der Besiedlung des Bregenzerwaldes mit dem Bild aus Sibirien: wegloser Wald, da und dort eine Rauchsäule, die aus

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dem Kamin eines Blockhauses aufsteigt. Das Haus selbst ist zwischen den Stämmen noch unsichtbar, denn die Lichtung umschließt die locker gruppierten Bauten ganz eng. Was heute die Kulturlandschaft prägt, die zusammenhängende Rodung für Acker und Weide, fehlt in diesem Zustand noch. Der freie Raum ist noch nicht geschaffen. Im untersuchten Gebiet ist heute der traditionelle Holzbau mit seinen vielfältigen, zwischen Menschen- und Baumgestalt vergleichenden Bildern verdrängt worden durch einen abstrakten, technisch geprägten Holzbau, der an internationalen Maßstäben nicht nur orientiert ist, sondern diese maßgeblich mitbestimmt. An die Bedingungen der ursprünglichen Besiedlung des Tales erinnert nur noch sein Name Bregenzerwald. Doch liegt im Umgang der hier lebenden Menschen mit dem Holz nach wie vor eine Selbstverständlichkeit, die weit mehr ist als der Restbestand einer abgestorbenen Tradition, mehr auch, als irgendein demonstratives Verhalten, das ein emsiges, tourismusorientiertes Regionalmarketing zur Produktion einprägsamer Bilder inszeniert, in deren Motivkatalog mittlerweile neben Bauernhäusern und Almhütten auch das schnittige, in idyllische Landschaft gebettete Architektenhaus Aufnahme gefunden hat. Der Graubündner Architekt Gion Caminada beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit einem regional verankerten Holzbau und beschreibt anläßlich einer Handwerksausstellung im Bregenzerwald das im ländlichen und insbesondere landwirtschaftlichen Holzbau verankerte Selbstverständnis: Das einzige Rohmaterial, das die Region in genügender Menge liefert, ist Holz. (...) Holz wird aus einem „Selbstverständnis“ heraus verwendet. Die einheimischen Handwerker und auch die Bauern können mit diesem Material umgehen. Es gibt auch eine gute Infrastruktur zur Verarbeitung des Rohstoffes Holz. 38

Gespräche mit Bauherren von Holzhäusern, mit Unternehmern aus dem Holzbaugewerbe und mit Bürgermeistern und Gemeindevertretern zweier Dörfer sind diesem Umgang mit dem Holz, auch den Vorbehalten gegenüber dem Holzbau, der insbesondere in den Nachkriegsjahrzehnten als unsolide verschrieen war, nachgegangen, um für Qualitäten, Kompetenzen und Strategien, auch für wiederbelebte traditionelle Rituale, und insbesondere für die typischen Rollen der tonangebenden Spezialisten, Zimmerern wie Architekten, angemessene Begriffe und Beschreibungen zu finden. Insbesondere dort, wo Selbstverständlichkeit herrscht, lauerte hierbei eine Falle, die Bruno Reichlin für eine Begriffsbestimmung der Alpinen Architektur benannte, nämlich den Umgang mit dem Holz und dessen baulichen Manifestationen vordergründig als „Bild“ zu nehmen und dessen Entstehung als „natürliche Absonderung von Land und Leuten“ zu interpretieren.39 Die 1980er Jahre haben den Holzbau auf breiter Basis reanimiert, ihm neues soziales Renommee verschafft und ihn zunächst zum Kennzeichen einer jungen, ökologisch bewegten Bauherrengeneration erhoben. Jenseits aller

Holz als vertrauter Baustoff

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Gefühlswerte, grenzwissenschaftlichen Argumente und Mystizismen, die den Holzbau bis heute begleiten, spricht für die Nutzung des Holzes als Baumaterial auch aus der Sicht heutiger, ortsansässiger Bauherren vor allem der Umstand, daß es einfach da ist. Wiederholt sind mir bei der Bearbeitung von Wohnhausplanungen für ein Bregenzer Architekturbüro Bauherren begegnet, die mit der Aufforderung nach Verarbeitung schlagreifer Bäume oder bereits am Waldrand nahe des Bauplatzes bereitliegender Stämme in die ersten Besprechungen ihres Projekts gekommen sind. Auch im Gespräch mit dem Ehepaar Eugster aus Langenegg taucht das eigene Holz, hier dem elterlichen Wald Frau Eugsters entstammend, auf: Wir hatten ja keine fixe Vorstellung, und der [Architekt] hat uns dann den Vorschlag gemacht, mit dem Holz. Und wir sind also darauf praktisch gleich eingestiegen. (...) Holz ist kein Problem, das hat man bei uns. Das haben wir dann von den Eltern bekommen, das mußten wir nicht bezahlen. Aus eigenem Wald? LE Ja. Das war natürlich auch ein Punkt. AE Es war nicht so, daß wir das Holz aus dem eigenen Wald drinnen haben wollten, aber es war gut, daß wir es nicht kaufen mußten. Also, es war vielleicht ein Grund, sich für ein Holzhaus, und gegen ein Ziegelhaus zu entscheiden? AE Ja. Aber wenn der Architekt gesagt hätte, er baut uns irgendein gemauertes Haus, wir hätten auch ja gesagt.40

Das eigene Holz repräsentiert die Familie

Zum Ausdruck kommt hier, daß Arno Eugster (AE), der Lehrersohn, zum Holz keinen vitalen Gefühlsbezug hat. Für ihn steht im Vordergrund, daß es ein Baumaterial ist, das er geschenkt bekommt. Im Sinn einer Identifikation mit dem Wald ihrer Eltern, den sie wohl seit Kindheit kennt, spricht statt dessen seine Frau Leopoldine (LE) auf den Aspekt des „eigenen Holzes“ an. Die Verknüpfung mit der Person des Vaters und Schwiegervaters, der sich sowohl über die im Haus sichtbar belassenen Dekkenbalken freut, die sein Holz zeigen41, wie auch darüber, daß er in seinen Kenntnissen über den richtigen Zeitpunkt des Holzfällens geschätzt wird42, läßt den Baustoff Holz hier vor allem in einer sozialen Funktion auftreten. Sosehr der Hausbau für die Eugsters zum Streitfall mit Nachbarschaft und Gemeindeobrigkeit wird, so sehr schafft er gleichzeitig Solidarität und neue Verwurzelung in der Familie. Das eigene Holz ermöglicht materielle und tätige Unterstützung durch die Eltern und deren Anerkennung durch sichtliche Wertschätzung. All diese Aspekte individueller Identifikation betreffen die stoffliche Substanz, die Materie des Holzes, nicht die Form, in der es am Haus in Erscheinung tritt. Eine Voraussetzung, daß Holz in diese soziale Funktion eingesetzt werden kann, bietet der breit gestreute private Waldbesitz in den Talschaften Vorarlbergs.43 Auch auf kommunaler Ebene, in den untersuchten Dörfern des Bregenzerwaldes, finden wir vergleichbare Identifikationsmuster. Hier treten sie jedoch intentionaler auf, als Mittel, um vorhandene Bindung zu stärken, neue Bindung zu schaffen und so Argumente für das Bleiben der Bewohner in den ständig von Abwanderung und Überalterung bedrohten Dörfern zu erzeugen. In Langenegg, wo auch das Eugster-Haus steht, gab der Bau zweier

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kommunaler Holzbauten Anlaß zu ausführlichen Gesprächen mit Bürgermeister Peter Nußbaumer sowie dem ausführenden Generalunternehmer Bertram Dragaschnig, einem gelernten Zimmermann. Charakteristisch für dieses Bauprojekt war die Auflage der Gemeinde, ausschließlich Holz aus eigenem Wald zu verwenden. Dragaschnigs Erzählung des notwendigen Ausweichens auf den Wald der Nachbargemeinde, „die Gemeinde Langenegg hat bei weitem nicht soviel [Tanne]“44, drückt aus, daß das Material Holz ein Identitätsbestandteil der Gemeinde ist. Es ist nichts, was die Gemeinde lediglich besitzt oder womit sie sich schmückt, sondern es ist Teil der Substanz der Gemeinde. Auch in anderen Gesprächen unseres Forschungsprojekts tauchen solche Begriffe auf, die die Deckungsgleichheit zwischen Dorf und Wald im Bewußtsein ihrer Bewohner dokumentieren:

Holz gehört zur Substanz der Gemeinde

Das ganze Haus ist mit Weißtanne gemacht. Decken, Wände, alles Weißtanne. Aus der Gemeinde. Großteils aus dem Pfarrwald.45

Holz ist somit auch auf kommunaler Ebene das Material, das da ist, also nicht gekauft werden muß. Ernst Wirthensohn erzählt von einem Fall, in dem es zum Zweck der Schulhauserweiterung von der Kirche gestiftet wird. Pfarrwald ist eine Herkunftsangabe, die ganz und gar zum dörflichen Leben gehört. Dieses unmittelbare Vorhandensein macht das Bauen mit Holz in kommunalen Bauprojekten wieder als „selbstverständliche“ Wahl vermittelbar und läßt es im privaten Hausbau erneut zum „naheliegenden“ Baumaterial werden. So einfach die Verarbeitung des „vor der eigenen Haustür“ gewachsenen Holzes zunächst erscheint, so schwer fügt es sich in den modernen Planungsund Bauprozeß ein. Im Versuch, das Naheliegende zu tun, zeigt sich, wie sehr das Fernliegende inzwischen das Bauen bestimmt, konkret die globale Verfügbarkeit erstklassigen Materials, das der internationale Holzgroßhandel bietet. Dieser Überfluß wird durch billigen Transport über beliebige Strecken erzeugt und ermöglicht ausdrücklich auch den Materialfluß in Gegenrichtung, also die Rückgabe bei kundenseitiger Unzufriedenheit. Solche Voraussetzungen sind längst als Normalfall in die Praxis von Planung, Ausschreibung und Vergabe von Bauaufträgen sowie der Qualitätssicherung eingeflossen. Die archaische Konstellation eines ländlichen Holzbaus, die noch der Bauernhof inmitten seiner Rodung verkörpert hat, in der Hausbau und Materialgewinnung in kürzestmöglicher Distanz zueinander stehen müssen, um den zeit- und kraftraubenden Transport des Baumaterials zu vermeiden, hat die Bauwirtschaft unter den aktuellen Bedingungen eines 37 38 39 40 41 42

EW 1: Z 47 ff Caminada, S. 5 Reichlin (1996), S. 87 ALE: Z 379 ff ALE: Z 1087 ff ALE: Z 1097 ff

43 Für solche Bauwerber, die keinen eigenen Wald besitzen, hat der Waldverband Vorarlberg die Broschüre Leitfaden für den Einkauf von Heimischem Holz, Bregenz 2006, herausgegeben. 44 BD: Z 33 f 45 EW 2: Z 188 ff

Eigenes Holz im modernen Bauprozeß

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globalisierten Rohstoffmarktes in ihr Gegenteil verkehrt. Die räumliche Distanz zwischen Gewinnung und Verarbeitung der Rohstoffe und der Umstand, daß der zu ihrer Überbrückung erforderliche Transport mit Hilfe staatlich subventionierter Treibstoffpreise zum vernachlässigbaren Faktor erklärt werden kann, ist auch im Holzbau das typische Merkmal heutiger Wirtschaftsweise geworden. Industrialisierung im Holzbau zeichnet sich neben maschinengestützter „Ernte“ und fabrikmäßiger Verarbeitung des Holzes46 also vor allem durch die geographische Trennung von Gewinnung, Verarbeitung und Verwendung des Holzes aus. Weltforstwirtschaft

Intensive wirtschaftliche Nutzung des Waldes und weltweiter Holzhandel sind kein genuin modernes Phänomen, sondern haben bereits zur Versorgung sämtlicher Weltreiche seit der Antike die materielle Grundlage geliefert.47 Weniger als Überraschung denn als Teil einer Normalisierung erscheint es also, wenn der enorme Materialbedarf, den heute vor allem das aufstrebende China entwickelt, nach dem europäischen Stahl mittlerweile auch sein Holz erfaßt hat. „Es gibt längst eine Weltforstwirtschaft“, resümiert Bernhard Dierdorf, Vorsitzender des „Bundes Deutscher Forstleute“ unter der Überschrift „China hat Interesse am deutschen Wald“ im Wirtschaftsteil einer deutschen Tageszeitung.48 Zunächst erstaunlich, nämlich als Anachronismus und erklärungsbedürftige wirtschaftliche Unvernunft erscheinen angesichts der jederzeit verfügbaren Sortimente einer weltweit vernetzten Holzwirtschaft vielmehr solche Voraussetzungen, wie sie am Waldrand bereitliegende Baumstämme, die Materialstellung von Bauholz seitens der Gemeinde bei den Kommunalbauten in Langenegg oder die Stiftung des Bauholzes durch die Kirche bei der Schulhauserweiterung in Thal bieten, Voraussetzungen, die bewußt die Marktgesetze außer Kraft setzen. Vernünftig werden sie erst im Kontext von Erfahrungen, wie der Zerstörung von regionaler Infrastruktur durch den Konkurrenzdruck einer globalisierten Wirtschaft, der sich etwa am kontinuierlichen Sinken des Holzpreises gegenüber der realen Kaufkraft bemerkbar macht. Um die „Kaufkraft eines geernteten Festmeters Rundholz vom Anfang der siebziger Jahre zu erreichen, müssen heute 2,5 bis 3 Festmeter geerntet werden“49, stellt eine Beschreibung des Technologiestandes der österreichischen Forstwirtschaft nüchtern fest und stellt auf die rhetorische Frage „Wie kann eine Branche einer solchen Entwicklung überhaupt standhalten?“ Strategien der Forstwirtschaft vor, die sich von denen anderer Industriezweige nicht unterscheiden: „Senkung der Kosten durch Zukauf von Dienstleistungen und Personalabbau, Erhöhung der Produktivität mit neuen Holzernteverfahren, Intensivierung und Schaffung neuer Geschäftsfelder.“50 Die kommunalpolitisch initiierte Reaktivierung kleinräumiger Holzwirtschaft reagiert auf die existenzbedrohende Verschlechterung der Lebensbedingungen, die die im ländlichen Raum lebenden Menschen durch solche

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Prozesse erleiden. Die derzeit noch vereinzelten Signalprojekte sind eine Strategie, den von Verlust und Demontage seiner Infrastruktur bedrohten ländlichen Raum gezielt zu schützen. Gebaute Beispiele solcher Initiativen mehren sich in Vorarlberg inzwischen. Mit dem Kindergarten Langenegg und der Schulhauserweiterung in Thal wird sich die vorliegende Studie im Anschluß näher befassen, das Gemeindezentrum in Ludesch ist ein weiteres, vielfach publiziertes Beispiel. Auch in der benachbarten Schweiz werden Projekte mit ähnlicher Zielsetzung realisiert, so in Urnäsch, einem Dorf im Kanton Appenzell-Außerrhoden, wo aus gemeindeeigenem Holz, hier mit Vorarlberger Architekten-Know-how, ein Feriendorf entstand. An erster Stelle jedoch ist das Graubündner Bergdorf Vrin zu nennen, seit Jahrzehnten bearbeitet von dem Architekten Gion Caminada, der das Dorf demonstrativ als seinen Lebens- und Arbeitsort aufrechterhält und mit seiner kommunalpolitischen, sozialen und architektonischen Kulturarbeit ein Zeichen gegen die Abwertung des ländlichen Raumes zu „Resorts“ der Freizeitgestaltung von Städtern setzt. Die Sonderstellung dieser Projekte zeigt sich in ihrer Präsentation und öffentlichen Wahrnehmung. Entgegen der sonstigen Architekturberichterstattung im Feuilleton der Tageszeitungen wird über solche Signalprojekte 46 Eberl, S. 11 47 Ebenfalls ist der mit dem Holzhandel verbundene Transport von Bau- und Edelhölzern über weite Strecken keineswegs eine Neuentwicklung der modernen Weltwirtschaft. Bereits die frühen Hochkulturen am Nil und jene zwischen Euphrat und Tigris waren aufgrund klimatisch bedingter Holzknappheit auf den Import nicht nur exotischer Schmuckhölzer, sondern auch von Hartholz für den Schiffsbau und von Bauholz angewiesen. Aus dem Libanon wurden Zedern, aus Nubien Ebenholz und Zypressen sowie Koniferen aus Armenien nach Ägypten transportiert, nach Babylon Teakholz aus Indien eingeführt. Die Phönizier verbreiteten den Handel mit seltenen Hölzern über den ganzen Mittelmeerraum, wichtiger für den Handel wurde jedoch bald der Ex- und Import von Nutzhölzern, insbesondere für den Schiffsbau. Makedonien, in der klassischen Zeit Griechenlands Hauptausfuhrgebiet für Holz, erhielt in der römischen Kaiserzeit bereits Konkurrenz durch die waldreichen Donauprovinzen. Andresen, S. 1315 Und so, wie in unseren Breiten die Rodung des Waldes zur Schaffung von Acker- und Weideland, des Waldes, der noch um das Jahr 1000 die Fläche Österreichs zu 95% bedeckte (vgl. Johann), die Landschaft radikal veränderte, ebenso prägte der intensiv betriebene Schiffsbau und sein Holzbedarf die Küsten des Mittelmeeres, die mit zunehmender Entwaldung auch ihren fruchtbaren Boden durch Erosion verloren. (Vgl. etwa Braudel: Schiffe und Wälder, in: Die Welt des Mittelmeeres; Frankfurt: Fischer, 1990; S. 45)

In Österreich setzte eine Intensivierung der Nutzung des Waldes, der in vorindustriellen Zeiten vor allem der Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Bau- und Brennholz gedient hatte, im achtzehnten Jahrhundert durch den sprunghaft gestiegenen Holzbedarf der Montanindustrie für Grubenbauten, insbesondere jedoch zur Holzkohleerzeugung, ein. Auch die Salinen benötigten zum Aussieden der Salzsole Brennholz in solchen Mengen,„daß sogar die schönsten Nutzholzbestände nicht nur an Fichte, sondern auch an Lärche und Zirbe als Hallholz in die Sudpfannen (...) wanderten“. Johann (2002) Doch erst, nachdem zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts als Folge großer Kahlschläge „erhebliche landeskulturelle Schäden wie katastrophale Murenabgänge und Überschwemmungen“ (ebd.) aufgetreten waren, erhielt der Schutz des Gebirgswaldes im Interesse der Landeskultur eine gesetzliche Grundlage. „Mit dem Forstgesetz vom 3. Dezember 1852 [wurde] ein Jahrhundertwerk geschaffen, das bis zum Jahr 1975 Gültigkeit hatte. (...) Als oberste Maxime galt dabei, daß die Waldfläche Österreichs in ihrem vollen Umfang erhalten bleiben sollte“ (ebd.). Der Wald wurde in seiner wirtschaftlichen Nutzung hierdurch nicht beschränkt, sondern diese vor allem mit den Interessen der Agrarkultur sowie dem Schutzbedürfnis der Siedlungen koordiniert. 48 Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. 06. 2007, S. 12 49 Eberl, S. 11 50 Ebd.

Kleinräumiges Wirtschaften zum Schutz des ländlichen Kulturraums

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auch im Wirtschafts- oder Inlandsteil überregionaler Tageszeitungen berichtet. Nicht mehr die Form der Neubauten und der Architekt als ihr Autor stehen im Mittelpunkt, wie in üblichen Architekturrezensionen, sondern ihre wirtschaftliche Bedeutung sowie die Rolle des Bauherrn: Profitieren wird auch die Holzwirtschaft: Für Gebäudehüllen und Innenausbau wurden 2700 Kubikmeter einheimisches Holz aus Weiß- und Rottannen verarbeitet und dank dem Feriendorf konnte ein Fernwärmeverbund realisiert werden...51 Bedingungen für die Umsetzung kleinräumiger Holzwirtschaft

Konkret bedeutet die Rückkehr zu einer kleinräumigen Wirtschaftsweise eine Beschränkung auf die Materialressourcen des eigenen Waldes. Den Beteiligten, Bauherren ebenso wie Architekten, Unternehmern und Behörden, verlangt dieser Schritt die Bereitschaft ab, gewohnte Verfahren und absichernde Normen außer Kraft zu setzen, vor allem jedoch, auf Vorleistungen durch Forstwirtschaft und Holzhandel zu verzichten, die auf der Basis enormer Holzmengen und internationaler Bezugsquellen imstande sind, einheitliche Holzsortierungen anzubieten und zu gewährleisten. Die Auseinandersetzung mit einem Gesamtkonvolut an vorhandenem Material, dem ganzen Stamm, und bei größeren Projekten, dem Bestand einer zusammenhängenden Waldfläche schlagreifer Bäume, bringt ökonomische Kriterien in den Planungs- und Bauprozeß zurück, die als Teil einer modernen Arbeitsteilung längst „überwunden“und an Spezialisten delegiert zu sein schienen. Insbesondere die Notwendigkeit, Qualität zu definieren und den Aufwand ihrer Erzeugung ökonomisch zu beurteilen, steht wieder im Mittelpunkt, da die „objektiven“ Sortierklassen des internationalen Holzhandels auf die ortsabhängige Beschaffenheit lokaler Holzbestände nicht anwendbar sind. Mario Nußbaumer, Gemeindeangestellter in Langenegg, schildert im Gespräch die Konsequenzen: Also das, alles Holz aus Langenegg, alles Weißtanne. Und was vielleicht nicht jedem auffällt, Weißtannenholz ist sehr sehr astig. Wo sind die Äste? Das war ein großes Bemühen, eben so wenig wie möglich Äste drinnen zu haben. Das ist fast, fast unbezahlbar. Weil so viel Ausschuß entsteht? So viel Ausschuß, und man muß schon schauen, wo die Bäume wachsen, sie sollten eher im Schatten gewachsen sein und langsam gewachsen sein und eben halt nur die schönsten Stücke.52

Kleinräumiges Wirtschaften und Qualität

Qualität wird zwischen sozialen Gruppen verhandelt

Zur Schaffung spezifischer, also vom verfügbaren Holzbestand ausgehender Qualitätskriterien werden dem schlagreifen Wald repräsentative Stämme entnommen, diese zu Brettern gesägt und die typische Asthaltigkeit des Holzes festgestellt. Projektspezifische Sortierklassen werden festgesetzt und diese der Repräsentativität der auszustattenden Räume zugeordnet. Bertram Dragaschnig erläutert bei der Führung durch den Langenegger Kindergarten, wie sich das Verfahren im Bau niederschlägt: „Also, das ist die zweite Wahl, oder, das ist das Aussortierte vom oberen Stock.“53 Hierarchien sind zu definieren und im Fall dieses Projekts, das im Keller des kommunalen Kindergartens das Probelokal der Blaskapelle beherbergt, auch zwischen den Anspruchsgruppen des Dorfes auszuhandeln: die erste

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Wahl in den „oberen Stock“, dem Kindergarten, die zweite Wahl in den Proberaum darunter, dessen Innenausbau von den Musikern selbst ausgeführt wurde. Für den Unternehmer Dragaschnig, der das Holz von der Gemeinde zu beziehen hatte, bedeutete die Bauherrnentscheidung, vom üblichen Materialbezug aus dem Holzgroßhandel abzuweichen, erhöhtes Risiko: Die Ausschreibung heißt „Klasse A“, und da haben wir uns geeinigt auf „quasi astfrei“. Das heißt, wir haben bei der Wandvertäfelung 33% Verschnitt. Wir haben im Normalfall 15% (...). Das sind Kosten, die man nicht weiterverrechnen kann, die bleiben an uns hängen. (...) Wenn man dieses „quasi astrein“ will, braucht man sehr, sehr viel Holz.54

Die Auseinandersetzung mit den natürlichen Eigenschaften des Materials bestimmt den Qualitätsbegriff. Wer sich astfreies Weißtannetäfer leisten kann, verfügt über viel Material, ist „reich“ genug, die asthaltigen Bretter aussortieren zu können. Die schmalen Fassadenlatten des Langenegger Kindergartens funktionieren überhaupt nur astfrei. „Wenn da ein Ast drin wär, dann hätt mer da einen Knick drin.“55 erklärt Dragaschnig. Für die repräsentative Außenansicht wurde hier eine Verfeinerung der Form entwickelt, die nur mit der höchsten Sortierqualität herstellbar ist.

Qualität als Ausnahmeerscheinung

Der Ausführungsplanung fallen in dieser neuen Ökonomie des kleinräumigen Wirtschaftens neue Aufgaben zu. So ist zur Maximierung der Ausbeute nutzbaren Holzes aus dem vorhandenen Materialkonvolut die Koordination der Maßquerschnitte von sichtbarem Verkleidungs- und unsichtbarem Konstruktionsholz ein wichtiger strategischer Schritt, der jedoch weit intensivere Zusammenarbeit zwischen Architekt und Statiker voraussetzt, als sie heutige Planungsprozesse normalerweise bieten.56 Die Maßkoordination ist der Erkenntnis geschuldet, daß effektive Qualitätssortierung erst beim Sägevorgang erfolgen kann, somit erste und zweite Wahl immer gleichzeitig entstehen und unmittelbar an der Säge sortiert werden müssen. Es ist jedoch nicht nur das Wissen um seine Herkunft, die in den betrachteten Signalprojekten dem Holz Identität verleiht und der lokalen Holzwirtschaft Arbeit vor Ort gibt, es offenbaren sich in der lokalen Verarbeitung auch spezifische Eigenschaften des einheimischen Holzes: „Es gibt in Tschechien auch Weißtanne, aber wenn du dort Holz kaufst und für den Sichtbereich verwendest, da haben wir eine ganz andere Holzfarbe...“57 So verbot sich Dragaschnig insbesondere, einen durch den hohen Verschnittanteil auftretenden Materialengpaß durch einen spontanen Anruf beim Großhändler zu überbrücken.

Ökonomische Materialnutzung als Ziel von Planung

Da haben wir es dann so gemacht, daß wir mit dem Waldbesitzer in den Wald gegangen sind, die Tanne, die Tanne und die Tanne wollen wir haben, oder, und die haben nachmittags die Motorsäge gestartet, den Baum gefällt, sofort auf die Säge.58 51 Lebenszeichen aus dem Hinterland–Erstes Appenzeller Feriendorf als Chance für Urnäsch: Neue Zürcher Zeitung, 15./16.03.2008, S. 18

52 MN: Z 299 ff 53 BD: Z 116 f 54 BD: Z 120 ff

Ortsspezifische Qualität

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138 Qualität als Ergebnis qualifizierter Verarbeitung

Riftschnitt

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Die Qualität des Holzes als Bauholz entwickelt sich aus einer Wechselwirkung zwischen natürlicher Beschaffenheit des Baumes, Einflüssen aus den Bedingtheiten des Ortes und der qualifizierten Verarbeitung des gefällten Stammes. Natürliche Eigenschaften wie Holzfarbe und Astanteil sind durch Sortierarbeit in ihrer Erscheinung beeinflußbar. Ausschließlich der qualifizierten Verarbeitung unterliegt dagegen das Schnittbild des Holzes. Dragaschnig betont, daß nicht jeder Säger imstande sei, den Stamm so aufzuschneiden, daß größtenteils Riftschnitt, also stehende Jahresringe, entstehen. Das Sägen zur Erzeugung von Riftschnitt dauere länger, da der Stamm stufenweise zerlegt werden müsse, gesägt und zwischendurch gedreht werde. Das Riftschnittbrett ist, im Verwendungskontext Zeitgenössischer Vorarlberger Architektur, ästhetisch gewünscht, denn es zeigt ein „schlichtes“ Schnittbild. Weiterhin sind auch seine Verarbeitungs- und Gebrauchseigenschaften verbessert: Das Brett schüsselt nicht, bleibt formstabil und gibt weniger Spieße ab, da die Fasern fest im Holzverbund verankert sind. Dragaschnig erläutert während des Rundgangs im Langenegger Kindergarten den komplexen Vorgang seiner Erzeugung: Es werden zuerst Model geschnitten, zehn Zentimeter breite Dielen, aus dem ganzen Block. (...) Daß die Jahresringe immer stehend sind. (Zeigt an der Wand:) der Fladrige, der ist schon falsch geschnitten. Den gibts automatisch, im Randbereich, aber eigentlich, gewünscht, wurde das. Da muß man hergehen, also diese Model schneiden, dann werden sie gelegt, auf doppelte Stärke geschnitten, also, die Rohware doppelt, dann wird getrocknet, und erst dann, wenn mans hobelt, trennt mans auf...59

Mehrfach erwähnt Dragaschnig im Gespräch den entscheidenden Einfluß ausführender Handwerker auf die Holzqualität, ihre Fachkenntnis und Erfahrung, „zu welchem Zeitpunkt mans trocknet, zum Beispiel“60, ihr Blick dafür, „wie der Model dann ausschaut“61. „Also, der wo das Holz sortiert, der muß Holzfachmann sein, damit man so ein Ergebnis erzielt, wie wir es hier haben. Wir haben ganz einen hervorragenden Säger.“62 Offensichtlich wohnt dem Holz als Baustoff das Potential inne, an besonders vielen Punkten seiner Verarbeitungskette zugänglich zu sein für „einfühlende“ Bearbeitung. Die Summe des händischen Wissens der Bearbeiter hebt spürbar die Qualität des fertigen Holzbaus. 55 BD: Z 293 ff 56 Die Ungewöhnlichkeit des Vorgangs innerhalb der modernen Verfahrenspraxis wurde im Fall des Feriendorfs Urnäsch vom Schweizer Sägereiverband bestätigt: Eine ähnlich genaue Ausschreibung habe es auf seinem Sektor in der Schweiz bisher nicht gegeben. Festgestellt werden konnte bei diesem Projekt auch, daß die Beschränkung auf ein begrenztes, dem eigenen Wald entstammendes Holzkonvolut nicht nur im modernen Wirtschaftlichkeitsdenken, sondern ebenso in der technischen Ausrüstung der Sägereien gegen den Strom der Zeit gerichtet ist. Automatisierte, auf maximale Nutzholzausbeute getrimmte Sägeanlagen kontrollieren zwar jedes ge-

sägte Brett mittels automatischer Bilderfassungsgeräte, um den Stamm möglichst effektiv auszunutzen, die lokale Herkunft der Stämme auf dem Holzlagerplatz, erst recht der Säge- und Hobelware geht in dieser Verfahrensweise jedoch zwangsläufig unter, spätestens, sobald die Holzprofile in die Lagerhallen des Großhandels einsortiert sind. 57 BD: Z 175 ff 58 BD: Z 170 ff 59 BD: Z 147 ff 60 BD: Z 209 61 BD: Z 210 62 BD: Z 202 ff 63 Wie Anm. 52

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Sie zeigt sich vor allem demjenigen Betrachter und Nutzer, der mit Holz vertraut ist. So schätzt vor allem derjenige astfreies Weißtanne-Täfer, der den hohen natürlichen Astanteil dieser Holzart kennt. Mario Nußbaumer hatte zu Beginn seiner Führung auf eben diesen Qualitätsaspekt hingewiesen: „Und was vielleicht nicht jedem auffällt...“63 In der Wahl des Zeitpunkts für die Holzfällung, dem Beginn der Verarbeitungskette im Wald, verbindet sich natürliche Voraussetzung und qualifizierte Verarbeitung mit archaischer Naturbeobachtung. Insbesondere die Beachtung der Mondzyklen64 bei der Bestimmung des Fällzeitpunkts führen auf ein zunächst dubios erscheinendes Feld. Die im Land verbreitete Orientierung von Alltagsverrichtungen am Mondkalender, so, „daß man nach Auskunft aus Vorarlberg selbst beim simplen Brennholzaufschlichten (...) auf übergehenden Mond und Hornzeichen (etwa Steinbock) achten sollte, damit die Scheiteln rasch und anhaltend austrocknen“65, bietet eine Zielscheibe wohlfeilen Spotts von außerhalb der Landesgrenzen. „Mondholz“ ist also ein Vorarlberger Thema. Die wissenschaftlich feststellbare Verbesserung der physikalischen Eigenschaften des Holzes durch Beachtung der Mondzyklen bei der Bestimmung des Fällzeitpunkts, nämlich Dichte, Trocknungs- und Schwindverhalten, die für seine Verwendung als Bauholz von Relevanz sein könnten, werden gegenwärtig nicht systematisch genutzt. Bürgi und Leuthold begründen dies mit „deutlich ausgeprägteren“ Einflüssen aus Standort und Klima auf die Holzqualität.66 Die in ihrer Studie geäußerte Geringschätzung einer Praxisrelevanz der verbesserten physikalischen Holzeigenschaften von „Mondholz“ erscheint angesichts neuer maschineller Meß- und Sortierverfahren für Bauholz überholt, da diese nun imstande sind, auch die Holzfestigkeit zu berücksichtigen. Als Folge dieser Entwicklung könne zukünftig im Holzbau, speziell „in der Dimensionierung, im Materialeinsatz wesentlich wirtschaftlicher“ gearbeitet werden67, betont Dr. Erich Wiesner, Obmann des Fachverbandes der Holzindustrie Österreichs. Vorläufig wird „Mondholz“ im Holzmarketing noch vor allem als Produkt mit hohem Identifikationspotential für den Endverbraucher aufgebaut. Mit der Möglichkeit, anhand des Mondkalenders den Fällzeitpunkt selbst bestimmen zu können, womöglich gemeinsam mit dem Waldbesitzer und Säger vor Ort die schlagreifen Bäume selbst auszusuchen, streben aktuelle Marketinginitiativen im Untersuchungsgebiet und in benachbarten Regionen die Schaffung neuer Bindungen zwischen Einzelbauherren und der regionalen Holzwirtschaft an. Den Rahmen solcher Initiativen bildet eine Strategie zur Stützung der Wettbewerbsfähigkeit von Gebirgsregionen und ihrer durch Standortnachteile bedrohten Holzwirtschaft. Ihre Träger, regionale Forstwirtschaftsverbände, etwa Vorarlbergs, aber auch des benachbarten Schweizer Kantons Graubün-

Qualität durch Wahl des Zeitpunkts der Holzfällung

Wissenschaftliche Erforschung der Mondeinflüsse auf die Holzqualität

Wirtschaftlichkeit der Nutzung von Gebirgswäldern

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den, identifizieren Einschränkungen der Wirtschaftlichkeit von Forstbetrieben in Bergregionen vor allem in der kurzen jährlichen Vegetationsperiode. Die Folge ist geringere Produktivität gegenüber den Nutzwäldern tiefer gelegener Regionen.68 Unter den einschränkenden Faktoren seiner wirtschaftlichen Nutzung ist zunächst die Funktion des Gebirgswaldes als Schutzwald zu nennen, die Flächenrodungen, wie sie wegen des Geräteeinsatzes wünschenswert wären, weitgehend verbietet. Statt dessen muß in besonders sensiblen Lagen einzel64 Die komplexe Bewegung des Erde-Mond-SonneSystems wird bezüglich der Erscheinung des Mondes aus Erdperspektive in drei separat zu betrachtenden Mondzyklen beschrieben. (Zürcher, S. 59 f) Der synodische Mondrhythmus (29,531 Tage) beschreibt den Lauf des Mondes um die Erde und seine Erscheinungsformen als Neu-, Halb- und Vollmond je nach Stellung zur Sonne. Diese Mondphasen werden als zu- bzw. abnehmender Mond bezeichnet. Während jedes Erdumlaufs ergibt die Neigung der Mondbahn zur Erdachse eine Überlagerung mit einem zweiten, dem tropischen Mondrhythmus, der sich gegenüber dem Erdhorizont in einem täglich höher bzw. in der zweiten Zyklushälfte kontinuierlich niedriger erscheinenden Mondlauf zeigt. Der tropische Monat dauert 27,32158 Tage, ist also rund zwei Tage kürzer als der synodische. „Aufsteigender“, „über sich gehender“, schweizerisch „obsigehnder“ Mond bezeichnen die erste Hälfte des tropischen Monats, „absteigender“, „unter sich gehender“ oder „nidsigehnder“ Mond seine zweite Hälfte. Noch eine dritte Einflußebene findet in den Mondbeobachtungen seit jeher Erwähnung. Der siderische Mondrhythmus, der den Mond im Verhältnis zum – aus Erdperspektive – dahinterliegenden Sternenhimmel beschreibt. Die Periode eines Monddurchlaufs durch die zwölf Tierkreiszeichen hat nahezu diesselbe Länge wie ein tropischer Mondzyklus, nämlich 27,32166 Tage. Diese schwer zu fassenden Phänomene, die bereits drei Himmelskörper bieten, welche auf gegeneinander verkippten Bahnen elliptisch umeinander kreisen und selbst wiederum rotieren, sind eingebettet in außerhalb jeder menschlichen Erfassbarkeit liegende Periodizitäten der Sternbewegungen, die etwa den Tierkreiszeichen zugeordnete Sternbilder unendlich langsam über den von der Erde aus sichtbaren Himmelsausschnitt verschieben. Zusätzlich zu solch astronomisch nachweisbaren Verschiebungen verunklären Veränderungen in der Kalendersystematik die Überprüfung überlieferter Regeln, die sich aus der jahrtausendealten Himmelsund Naturbeobachtung ergeben. Der Zeitsprung von immerhin zehn Tagen, den Papst Gregor XIII. zur Korrektur des seit der Zeitenwende gültigen Juliani-

schen Kalenders anordnete, indem er auf den 4. Oktober 1582 unmittelbar den 15. Oktober folgen ließ, bedeutete die Verschiebung des Kalenders gegenüber den Mondzyklen um einen Drittel Monat. (Klaus Bartels: Was sonst hält 2000 Jahre? in: Die Presse, 23.02. 2008, Spectrum S. 1) Ob Bauernregeln und andere Volksweisheiten, die Himmelsbeobachtungen mit dem Kalender koordinieren, um Zeitpunkte für bestimmte Verrichtungen anzugeben, solche Sprünge jeweils mitvollzogen haben ist immerhin fraglich. Ausführlich zitiert eine 2005 von der Landwirtschaftskammer Vorarlberg gemeinsam mit dem Vorarlberger Waldverband herausgegebene Broschüre „Mondphasenholz – Holz vom richtigen Zeitpunkt“ solche Regeln und nennt weiterführende Literatur. Eine Reihe wissenschaftlicher Versuchsreihen, in jüngster Zeit insbesondere am Dept. Forstwissenschaften der ETH Zürich unter der Leitung Ernst Zürchers, aber auch an der Universität Florenz und andernorts, untersuchen die Beziehungen zwischen synodischem und tropischem Mondzyklus, dem Fällzeitpunkt und den resultierenden Holzeigenschaften. So konnten periodische Durchmesserschwankungen von Stämmen sowohl lebender als auch gefällter Bäume im Rhythmus der Gezeitenkurve des jeweiligen Ortes erkannt werden, weiterhin Variationen des Trocknungsverhaltens sowie der Dichte des Holzes. Die zwischen „günstiger“ (abnehmender + absteigender) und „ungünstiger“ (zunehmender + aufsteigender) Mondstellung festgestellten Dichteschwankungen von immerhin durchschnittlich 10% interpretiert Zürcher als das mit dem Mondlauf schwankende Vermögen der Zellwand, Wasser zu binden. „Diese fällzeitbedingten Unterschiede sind zunächst für unsere holzphysikalischen Kenntnisse erstaunlich. Eine zu prüfende Erklärung dazu wäre, daß das Holz einmal das Wasser leichter verliert und dadurch eine tiefere Dichte erhält, abwechslungsweise mit Phasen, wo das Wasser stärker an die Zellwand gebunden bleibt, mit höheren Dichten als Resultat.“ Zürcher, S. 61 f 65 Hell, S. 15 66 Bürgi, Leuthold, S. 17 67 Tschavgova (2002), S. 18 68 Vgl. Bürgi, Leuthold

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stammweise durchforstet werden, um die Fähigkeit des Waldes zu Bodenstabilisierung und Lawinenschutz nicht zu gefährden. Dazu kommt Unzugänglichkeit großer Waldflächen durch steile Hangneigung und ihre fehlende Erschließung durch Forstwege. Weitere Nutzungseinschränkungen erlegen Naturschutzinitiativen und Anforderungen an ein „intaktes Landschaftsbild“ aus der touristischen Nutzung der Landschaft der Waldbewirtschaftung auf. Verstärkt wird die Benachteiligung gegenüber der Forstwirtschaft im Tief- und Flachland noch dadurch, daß die erwiesenermaßen höhere Qualität des langsamer gewachsenen, engjährigen Gebirgsholzes in den Normen des internationalen Holzhandels nicht spezifisch erfaßt wird und sich somit die höheren Produktionskosten nicht durch höheren Holzpreis kompensieren lassen. Speziell in Vorarlberg ist als weiterer einschränkender Faktor der hohe Anteil der in den Wäldern vertretenen Weißtanne zu sehen. Durch die Globalisierung der Holzmärkte hat diese Holzart in den letzten zwanzig Jahren ihre einstmals führende Marktposition innerhalb des Verbreitungsgebiets, das im nördlichen Voralpenraum neben Vorarlberg vor allem die angrenzende Ostschweiz, in Süddeutschland insbesondere den Schwarzwald sowie das französische Elsaß umfaßt, verloren. Hauptursache für diesen Wertverfall ist ihr, europaweit betrachtet, geringes Vorkommen.69 Gegenüber der dominierenden Fichte schränken den Wert der Weißtanne daneben Mehraufwände für die Holztrocknung ein, die zunehmend kostenmäßig ins Gewicht fallen, seit die Trocknung heutigen Bauholzes fast ausschließlich mit Hilfe technischer Verfahren erfolgt. In Vorarlberg wird der aktuelle Wertverfall zusätzlich dadurch dramatisiert, daß der Schritt der Holzwirtschaft in die Globalisierung zusammenfällt mit der Schlagreife großer Teile der Weißtannebestände in den Wäldern, die aufgrund fehlender Nachfrage zu überaltern drohen. Insbesondere im Bregenzerwald ist es jedoch gelungen, die Suche nach einer zeitgemäßen Identität der Region mit einer Vermarktungskampagne zugunsten der Weißtanne zu verknüpfen, dergestalt, daß Weißtanne heute zum Synonym für heimisches Holz aufgebaut werden konnte. Wer heute im Bregenzerwald Zeitgenössische Architektur besucht, begegnet der Weißtanne fast zwangsläufig. Ihre Verbreitung als Einkleidung zeitgenössischer Bauten ist mittlerweile derart hoch, daß sie alle anderen Holzarten zu verdrängen scheint. So selbstverständlich der Zustand dieser totalen Präsenz erscheint, als so außergewöhnlich entpuppt er sich bei jedem Schritt zur Seite, der einen Blick von außen ermöglicht. So verursachte meine Anfrage bei einem Lackhersteller im benachbarten Bundesland Tirol nach einer Bemusterung seines Materials auf Weißtannefurnier zunächst Ratlosigkeit am anderen Ende der Telefonleitung. Weißtannefurnier, hieß es, sei in Tirol nicht erhältlich, denn diese Holzart diene dort ausschließlich als Brennholz.

Weißtanne

Wiederentdeckung von Weißtanne als Bauholz

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Schwierige Verarbeitung der Weißtanne

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Ähnlich unwillig reagierten die Holzlieferanten für das Feriendorf Urnäsch im Schweizer Kanton Appenzell-Außerrhoden auf den Wunsch der aus Vorarlberg stammenden Architekten nach Bauholz in Weißtanne. Der Grund lag im schlechten Holzpreis, der wegen fehlender Nachfrage für Weißtanne dort zu erzielen ist. Daß auch im Bregenzerwald die bauliche Verwendung der Weißtanne keine kontinuierliche Tradition besitzt, sondern Resultat einer Wiederentdeckung ist, deutet sich bereits in den ersten Gesprächen der vorliegenden Studie an, als Arno Eugster die landläufige Ablehnung der Waldbesitzer gegenüber dieser Holzart erwähnt: „Also ursprünglich hat man immer gesagt, Tanne, nein, pflanz ja keine Tannen an.“70 Bertram Dragaschnig bestätigt diese Vorbehalte für die verarbeitenden Handwerker: „Zu der Zeit, wo ich die Zimmermannslehre gemacht hab, war Weißtanne nur Konstruktionsholz. Nicht für Fassade, (...) nur Konstruktionsholz, alles andere war Brennholz.“71 Es ist die Fichte, die als verbreitetste Holzart in den Nutzwäldern zur Beurteilung von Weißtanne herangezogen wird. Vor allem in der Unterscheidung zur Fichte definiert sich der „Charakter“ des Weißtannenholzes, seine Harzfreiheit, sein Geruch, der frei wird, wenn man die Handfläche an der Brettoberfläche reibt, seine größere Härte, die größere Splitterneigung der Brettkanten und die Eigenschaft durchschnittener Äste, aus dem Brett nicht herauszufallen, sich jedoch durch schwarze Verfärbung stärker abzuzeichnen, wie überhaupt das Weißtannenholz stärkere Verfärbungen zeigt, als das der Fichte.72 Die im Verarbeitungssektor geäußerten Vorbehalte liegen vor allem in der schwierigeren Verarbeitung des Weißtannenholzes begründet.73 Hier ist zuvorderst das wesentlich höherere Gewicht des frisch geschlagenen Holzes zu nennen, ein Nachteil gegenüber der Fichte, der bereits den Abtransport der gefällten Stämme aus dem Wald erschwert. Dragaschnig erläutert, wo die Konsequenzen dieser höheren Wasseraufnahme der Weißtanne auch in der Weiterverarbeitung spürbar sind: Man kann zum Beispiel Weißtannenholz und Fichtenholz nicht gemeinsam in eine Trockenkammer geben. Dann ist die Weißtanne kaputt. (...) Die hat viel mehr Feuchtigkeit, viel mehr Wasser. Wenn man Weißtanne zu schnell trocknet, dann zerspringt einem der ganze Balken.74 69 www.weisstanne.info/de/verein/forumwta.php Stand Feb. 2008 70 ALE: Z 1106 ff 71 BD: Z 60 ff; bestätigt durch Peer (2006), S. 4 72 BD: Z 35 ff 73 In Bregenzerwälder Handwerkerkreisen ist jedoch auch die Position vertreten, dem Weißtannenholz rundweg seine „Vorteile“ gegenüber Fichtenholz abzusprechen und es gegenüber diesem als minderwertig zu klassifizieren. In solchen Argumentationen wird Fichtenholz aufgrund seines Harzgehalts eine höhere Dauerhaftigkeit etwa für Fassadenschindeln bescheinigt sowie sein harziger Duft als atmosphäri-

scher Beitrag betont, demgegenüber Weißtanne in frisch verbautem Zustand eine Ausdünstung kennzeichne, die an Katzenurin erinnere. (Gespräche mit F., Bodenlegermeister mit Geschäftssitz in Dornbirn und Andelsbuch, 15./18.04.2008) 74 BD: Z 103 ff 75 BD: Z 158 ff 76 BD: Z 178 ff 77 BD: Z 112 ff 78 BD: Z 188 f 79 Markus Faißt in: Gnaiger /Stiller, S. 73 80 BD: Z 64 ff Vgl. auch Breuß (2006 / 2), S. 18 f

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Das langsame Trocknen, das war leider nur (...) im Kaltbereich möglich, im Dachstuhlbereich. Da ist es dann natürlich, über ein Jahr, ausgetrocknet. 75 Wenn man sie zu schnell trocknet, die Weißtanne, dann verschließt sie sich, die kapselt ab, die ist zu. Dann ist sie oberflächlich trocken, und die Feuchtigkeit aus dem Kern, die kommt nicht mehr heraus. Dann mißt man nur die Oberfläche, die zwei Zentimeter, aha, die ist trocken, 10%, dann legt man die heraus, und nach einer Woche mißt man wieder, dann hat die 25%. (...) Und das ist nicht mehr zu trocknen, also die Weißtanne macht zu.76

In Dragaschnigs Schilderung erscheint derjenige, der mit Weißtanne umzugehen weiß, als besonders qualifizierter Fachmann. „Also, Weißtanne ist mit Vorsicht zu bearbeiten. Man kann sie bearbeiten, aber man muß überlegen.“77 Die Weißtanne, die separiert und am besten überhaupt langsam an der Luft anstatt im Ofen zu trocknen ist, erscheint aus dem Blickwinkel des Unternehmers und in Konfrontation mit heutiger, beschleunigter Bearbeitungspraxis als „altmodisches“ Holz, als Holz, das Zuwendung fordert, als Gegenüber mit schwierigem Charakter, bockig und empfindlich gegenüber Fehlbehandlung. „Wenn die Weißtanne beleidigt ist, dann ist sie beleidigt.“78 All diesen Schwierigkeiten für denjenigen, der sie zu Bauholz verarbeitet, stehen jedoch Vorteile gegenüber, die die Weißtanne für den Landschaftsschutz insbesondere gegenüber der Fichte hat. Als Schutzwaldbaum, wegen ihres tief in den Boden reichenden Wurzelballens79 insbesondere zur Hangsicherung geeignet, so Dragaschnig, wurden in der Region um die Jahrhundertwende, voriges Jahrhundert, viel Weißtannen gesetzt, (...) weil die schlechten Boden sehr gut verkraften, (...) Nordhänge, und vor allem diese Rutschhänge, die es im Vorderen Bregenzerwald gibt.80

Auch wenn hier festgestellt wird, daß die Weißtanne Böden verträgt, auf denen andere Baumarten weniger gut gedeihen81 und die Bodenbeschaffenheit des Vorderen Bregenzerwaldes dem entgegenkommt, gilt doch keinesfalls der Umkehrschluß Mario Nußbaumers: „Wir haben Weißtannenholz, das wächst nur im Wald unserer Region.“82 Ein solcher Fehlschluß deutet vielmehr auf den Erfolg der aktuellen Verwertungskampagne hin, die Dragaschnig im Gespräch erläutert. Infolge der umfangreichen Pflanzungen war der Anteil an Weißtanne in den Wäldern relativ groß geworden, dem, als diese Bestände schlagreif geworden waren, wegen der geschilderten Schwierigkeiten in 81 Umgekehrt ist Weißtanne auf Urgestein in ihrem Wachstum eingeschränkt, wie Landwirte über die Weißtannenbestände beiderseits des Steirer Ennstales berichten. Der Oberlauf der Enns trennt die Nördlichen Kalkalpen, denen das Dachsteinmassiv angehört, von den Zentralalpen, in denen Urgestein den unmittelbaren Untergrund für die Vegetationsschicht bildet. 82 MN: Z 125 ff 83 BD: Z 60 ff Vgl. auch Anm. 73 84 Im Mittelpunkt der Kampagne steht ihr Duft, das astreiche Schnittbild der Bretter, die Kontaktauf-

nahme durch Berühren des Holzes. Zirbenholz wird darin zum „Wohlfühl- und Geniesserholz“ stilisiert. (Zirbe – für Holzgenießer; Innsbruck: Holzcluster Tirol, 2004) Von einem Einsatz von Zirbe als Ausnahmeerscheinung innerhalb der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs berichtet Vorderwinkler (2006), S. 12 f 85 So wirbt die Weißtanne-Broschüre mittels zahlreicher Architekturaufnahmen zeitgenössischer Bauten für die universelle Verwendbarkeit dieser Holzart am Bau: Aktionsgruppe Vorarlberg, Entwicklungsverein Natur- und Kulturerbe Vorarlberg e.V. (Hg.): Weißtanne – heimisch edel ökologisch modern; Schruns, 2004

Weißtanne als Schutzwaldbaum

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der Verarbeitung, verstärkt durch die bereits spürbaren Effekte der Globalisierung der Holzmärkte, ein „relativ schlechter Preis“ gegenüberstand. Waldbesitzerverband und Landwirtschaftskammer reagierten darauf mit einer Kampagne zur Aufwertung des Weißtannenholzes als Bau- und Möbelholz. Dann sind die Architekten eingestiegen, haben Weißtannengeschichten neu gemacht, und zuerst einmal Möbel, Weißtannenmöbel, gibts ja eine eigene Gruppe, und so ist das gekommen, auf den Urgedanken zurück, weil es früher nämlich Weißtannenfassaden gegeben hat, und so sind wir jetzt wieder bei der Weißtannenfassade.83 Vermarktungsstrategie zugunsten der Weißtanne

Der Vorarlberger Weißtanne-Boom ist also das Ergebnis einer erfolgreichen regionalen Vermarktungsstrategie, der es gelungen ist, einen Imagewandel vom Brennholz zum hochwertigen, für alle Teile eines Hauses gleichermaßen geeigneten Holzes zu erzeugen. Ähnliches wird seit der Zirbentagung im Jahr 2000 in Tirol mit ebenfalls schlagreifen Schutzwaldbeständen an Zirbe versucht.84 Vergleicht man, wie die beiden Holzarten als „regionaltypische Arten“ in der jeweiligen zentralen Werbekampagne präsentiert werden, wird der unterschiedliche Stellenwert deutlich, den Zeitgenössische Architektur in der öffentlichen Wahrnehmung der beiden benachbarten Bundesländer besitzt. Ihre Präsenz in Vorarlberg macht Architektur zum geeigneten Medium, die Vermarktungskampagne der regionalen Holzwirtschaft zugunsten der schlecht bewerteten Weißtanne zu stützen.85 Der folgende Abschnitt verbreitert diesen Befund einer sozialen Vermittlerrolle Zeitgenössischer Architektur vom Holz als Baustoff auf den Holzbau als Bauweise. Indem Holzbau durch seinen demonstrativen Einsatz im architektonischen Kontext eine neue gesellschaftliche Bewertung und damit eine Auszeichnung gegenüber anderen Bauweisen erfährt, erscheint er wiederum geeignet, die Neupositionierung gesellschaftlicher Anspruchsgruppen zu repräsentieren. Der dritte Abschnitt dieses Kapitels richtet den Blick auf den Holzbau als Signalgeber für außerhalb des Bauens liegende politische Weichenstellungen.

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145 3.2 Holzbau – Massivbau Es war einmal... „Ein König!“ werden sofort meine kleinen Leser sagen. Nein, Kinder, ihr habt Euch geirrt. Es war einmal ein Holzscheit.1

Mit dieser Persiflage eines klassischen Märchenanfangs läßt Carlo Collodi seinen weltberühmt gewordenen Pinocchio beginnen. Indem er das Holzscheit, aus dem gleich seine Titelfigur geschnitzt werden soll, als Gegenbild des von den Lesern erwarteten Königs vorstellt, kennzeichnet er Holz als gewöhnlichen, unedlen und profanen Stoff. Und auch wenn dieses charakterisierende Schlaglicht für einen genau umrissenen dramaturgischen Zweck geschaffen ist, nämlich die Sensation des Auftritts seiner Hauptfigur zu steigern, liefert sie über die literarische Indienststellung hinaus ein exaktes Abbild der mit den Materialien verknüpften Wertmaßstäbe in der außerhalb der Märchensphäre liegenden Welt. Deren Könige nämlich bevorzugten Stein, ersatzweise Ziegel für ihre luxuriösen Wohnsitze und deren Umfeld, die Städte. „Als Peter der Große St. Petersburg gründete und in Stein ausführen ließ, verbot er gleichzeitig dem Rest seines Reiches, in Stein zu bauen, was zur Festschreibung des ,hölzernen Rußlands‘ beitrug“2, ist dem Lexikon des künstlerischen Materials über die gegensätzliche Konnotation von Stein und Holz zu entnehmen, die den europäischen Kulturraum kennzeichnet, denn „eine umgekehrte Haltung kann man in Japan und Ozeanien feststellen, wo Holz für höchste Aufgaben reserviert und entweder seinen kultischen Zweck gerade durch seine Verrottung erfüllt oder aber durch permanente Erneuerung in demselben Material und derselben Form verewigt wird“3. Betrachten wir, versehen mit geschärftem Blick durch den fernöstlichen Vergleich, nach den aristokratischen Repräsentationsbauten nun auch die Kultbauten in der europäischen Architekturgeschichte hinsichtlich ihrer Materialwahl, so finden wir die Spuren des Holzes noch im griechischen Tempelbau, der den ursprünglichen Holzbau sowohl in seiner Konstruktion4 als auch als Bild in seinem Kanon fixiert. Bereits die römische Baukunst verdrängt jedoch die tektonische Erinnerung an den Holzbau und setzt Konstruktionen an deren Stelle, die den Stein selbst in seinen technischen Möglichkeiten, vor allem in den neuen Bogen- und Gewölbekonstruktionen, ausreizen. Seither erinnern höchstens die Pflanzenformen im Kanon, etwa der korinthischen Kapitelle, oder morphologische Verwandtschaften der Säulenkanneluren mit den Pflanzenbündelsäulen der ägyptischen Baukunst an eine 1 Carlo Collodi: Pinocchio. Die erste Buchausgabe erschien 1883 bei Paggi, Florenz. 2 Wagner, Rübel, Hackenschmidt, S. 145 3 Ebd.

4 Eine Gegenüberstellung von Holz- und Steinkonstruktion im Gebälk eines griechischen Tempels findet sich etwa in: Auguste Choisy: Histoire de l’architecture, 1899 (zit. in: Frampton, S. 4)

Baustoffwahl als Ausdruck sozialer Wertmaßstäbe

Holzbau in der Kultarchitektur Ostasiens

Holzkonstruktionen im antiken Tempelbau

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Holzkonstruktionen im Industriebau

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auch in Europa ehemals hölzerne Kultarchitektur. Beispiele hochentwickelter regionaler Traditionen hölzerner Kirchenbaukunst von den nördlichen Rändern des europäischen Kulturraums, wie sie die norwegischen Stabkirchen5 oder die russischen Holzkirchen6 repräsentieren, bestätigen als Ausnahmen, was sich ansonsten flächendeckend zeigt: Europäische Sakralarchitektur manifestiert sich durch den Stein als Baumaterial7 oder in Ziegel gebaut, jedenfalls „massiv“.8 Die Suche nach weiteren Baugattungen neben denjenigen für Aristokratie und Kirche, die rein dem Massivbau zuzuordnen wären, fördert höchstens noch im Ingenieur-, speziell dem Brückenbau, Treffer zutage und scheitert ansonsten. Sogar die Entwicklung des Industriebaus für die im Vorarlberger Rheintal seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts aufstrebende Textilindustrie zeigt, daß die Material- und Konstruktionswahl zwischen Holz- und Ziegelbau sich parallel zur steigenden sozialen Reputation entwickelt, die die neue Produktionsform, und mit ihr seine Besitzer, erfährt. Die Architektur der Fabriken bildet das Sozialprestige der Fabrikherren bereits in den frühesten Bauten der Vorarlberger Textilindustrie indirekt ab, als die neue Produktionsweise noch unter hohem Rechtfertigungsdruck gegenüber den in sie investierten Hoffnungen und Kapital steht. Sie verzichtet zu dieser Zeit auf jegliche Repräsentationsgeste und wählt folglich das Holz als verfügbaren und zweckmäßigen Baustoff.9 So berichtet Christoph Bertsch von schlichten Holzriegelbauten, die die ersten Fabriken beherbergen, die Spinnerei Juchen (Rhomberg & Lenz) in Dornbirn etwa, deren erster Bauabschnitt 1812 vollendet ist.10 Die Entwicklung von Holzbau zu Stein und Ziegel, damit von regionaler Bautradition hin zu international gültiger Repräsentationsarchitektur, mithin von einer Beschränkung auf die Zweckerfüllung hin zu bausprachlichem Ausdruckswillen, läßt im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts auch in Vorarlberg zunehmend Fassaden und Gebäudekomplexe zur Aufnahme der Spinnund Websäle der Textilfabriken entstehen, die sich an der Bautypologie der Aristokratie, an barocken und klassizistischen Schloßarchitekturen, orientieren.11 5 Herausragende erhaltene Exemplare präsentiert die dänische Zeitschrift Living Architecture in ihrer Ausgabe 19; Kopenhagen, 2004 6 Vgl. Lissenko 7 Oechslin überliefert mit der Feststellung Sigfried Giedions von 1928 „Der Begriff Architektur ist mit dem Material Stein verbunden“, daß die moderne Architekturbewegung zunächst in Zweifel zog, ob der in dieser Weise konnotierte Begriff „Architektur“ für das zeitgemäße Bauen in „Eisen und Eisenbeton“ überhaupt weiterhin brauchbar sei. Oechslin (1995), S. 64 8 Als Ausnahmen dokumentiert Swoboda zwei Holzkirchen und zahlreiche untergeordnete sakrale Bauten, wie Glockentürme und Kapellen in Holz.

9 Eine in Holz erbaute Textilfabrik in Hohenems / Vorarlberg dokumentiert Swoboda (1986): „Ein vollständig verschindelter Ständerbau mit steilem Satteldach, einer Mittagsglocke und einer Wanduhr. Ende des 19. Jahrhunderts erbaut.“ 10 Bertsch (1987/1), S. 25; vgl. auch Abschnitt Land und Ländle, Kapitel Vorarlberg, Anm. 79 11 „1831/32 wird in Nenzing die Spinnerei Getzner, Mutter & Cie. erbaut. (...) Die Anlage ist zehn Achsen lang, vier Geschosse hoch, der Mittelteil wird – zum ersten Mal in der Vorarlberger Fabrikarchitektur – von einem Dreieckgiebel betont...“ Bertsch (1987/1), S. 28 12 Bundesdenkmalamt (1983), S. XXI Vgl. auch Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus

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Holzbau – Massivbau

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Umgekehrt bildet auch das bäuerliche Bauen Vorarlbergs, auf den ersten Blick die typische Holzbau-Gattung, als solche kunsthistorisch wohlgeordnet und in fein gegliederten „Hauslandschaften“ aufgearbeitet12, diese Kopplung der Baustoffwahl an den Grad des jeweiligen Wohlstands und an materielle Voraussetzungen im buchstäblichen Sinn ab. Hans Purin schildert diesen Zusammenhang im Gespräch:

Holzbau und Bauernhaus

Das Holz war immer ein bißchen eine armselige Bauerei. Das billigere Bauen war mit Holz früher. Ja, aber die landwirtschaftlichen Bauten, die waren doch sicher immer aus Holz, oder? (...) Ja, aber wohlhabende nicht, also zum Beispiel ein großer Gutshof (...), der hat dann massiv gebaut, auch die Ställe und die Scheunen. Und hats solche Höfe in Vorarlberg gegeben, so große? Ja. Aber, wahrscheinlich eher im Rheintal dann, oder? Ja, zum Beispiel in Feldkirch, oder zu Frastanz gehörts eigentlich, der Letze, wo die Buddhisten sind, das ist ein Gutshof. (...) Es hat schon einige und das Übliche waren natürlich Holzbauten, das ist klar, Bregenzerwald, und Montafon und überall, da waren ja nur die, im Montafon habens dann nur die Küche gemauert, nur die Brandgefahr, hat man dort, äh, gesehen.13

Später im Gespräch illustriert Hans Purin die Folgen dieser „armseligen Bauerei“, als die er den traditionellen bäuerlichen Holzbau schildert. Das Gespräch umkreist an dieser Stelle die Typologie der Bregenzerwälder Bauernhäuser und die Rolle ihres „Schopfes“: Das ist diese schmale, Veranda-artige Gschicht, mit den Fenstern. Das hat zwar viele Vorteile, aber es beeinträchtigt schon die Beleuchtung der Stube natürlich. (...) Im Winter haben sie es natürlich zugemacht, damits nicht hineinschneit, jetzt haben sie Glas, das war ja früher nicht machbar, weils zu teuer gewesen wär.14

Armseliges Bauen heißt demnach, den Mangel an Alternativen zum reichlich vorhandenen Holz durch Einbußen an Komfort ertragen zu müssen, konkret infolge des hohen Glaspreises die Öffnungen mit Holzläden verschließen zu müssen und die Winterszeit mit reduziertem Tageslicht zu verbringen. Andere Zeitumstände und persönliche Motivationen ließen für dasselbe Forschungsfeld, die Bauformen der Bauernhäuser Vorarlbergs, auch ganz andere Interpretationen und Ordnungskategorien entstehen, als sie der aktuelle Dehio, das exemplarische Inventar des Bundesdenkmalamtes, uns Heutigen präsentiert. Sie zeigen die wechselnde Zuordnung des Holzbaus – einerseits als Ausdruck einer Baugattung und andererseits als Kennzeichen des regional verfügbaren Wohlstands – als Folge des vom jeweiligen Bauforscher verfolgten Dokumentationszieles. Nicht nur die Sozialgeschichte stellt neuerdings den vorherrschenden, kunsthistorisch geprägten Standpunkt in Frage, der insbesondere den bäuerlichen Holzbau als regionale „Holzbaukultur“ auffaßt, ein Blickwinkel, der den Umstand einer regionalen Materialbeschränkung zu einer quasi-künstlerischen Enscheidung umdeutet und hier als Fehlübertragung von der Interpretation „hoher“ Architektur, die immer auf Künstlerpersönlichkeiten und

Holzbaukultur und wissenschaftliche Zuschreibung

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Rezeption bäuerlicher Baukulturen Vorarlbergs im Nationalsozialismus

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ihre Entscheidungen zurückführbar ist, auf die Betrachtung regionaler, „anonymer“ Baukulturen zu betrachten ist. Eine besonders bizarre, gleichwohl folgenreiche interpretatorische Verzerrung erfuhr die Rezeption bäuerlicher Bautraditionen in der intensiven Forschungs- und Dokumentationstätigkeit des Nationalsozialismus.15 Gerade die von Künstlerpersönlichkeiten unabhängige, anonyme ländliche Baukultur schien geeignet, einen objektiven, wissenschaftlich dokumentierbaren Nachweis der rassischen Überlegenheit des deutschen Volkes zu erbringen. Großzügig interpretierte Stammesterritorien, insbesondere der „Baiern“, erlaubten, den gesamten Alpenraum in diesen kulturell begründeten Anspruch auf quasi natürliche Vorherrschaft einzuschließen. Der bäuerliche Holzbau des Bregenzerwaldes, den der „Reichslandschaftsanwalt“ und Dozent für landwirtschaftliches Bauwesen an der Münchner Technischen Universität Alwin Seifert16 in seinem Werk Das echte Haus im Gau Tirol–Vorarlberg dokumentiert, scheint mit dem nationalsozialistischen Überlegenheitsdogma nur schwer vereinbar gewesen zu sein. Darauf deuten einerseits Rechtfertigungszwänge gegenüber dem unübersehbar hochentwickelten russischen Holzbau, die im Text dieses Werkes zum Ausdruck kommen: Wir wissen heute, daß dieser jetzt überwiegend slawische Holzbau germanischen Ursprungs ist. Mag auch die urslawische Herrenschicht, von der nur noch die Sprache und ein Anteil blauer Augen und heller Haare geblieben ist, aus der nordischen Heimat einen Holzbau mitgebracht haben, so ist das Haus der grossen ostischen Massen ein Flechtwerkhaus mit Lehmbewurf geblieben...17

Kulturhistorischer Nachweis des rassischen Überlegenheitsdogmas der NS–Ideologie

In das„Alpenländische Baugesicht“, das der selbe Autor in seiner „Bibel“18, der Aufsatzsammlung Im Zeitalter des Lebendigen19, vorstellt, werden aus der Dokumentation Das echte Haus im Gau Tirol–Vorarlberg dann auch nur die in Mauerwerk aufgeführten Bauernhäuser übernommen20, so ein „Romanisch-alemannisches Bauernhaus von 1691 in Gaschurn im Montafon“21 als einziges Vorarlberger Beispiel. Wenn nicht die ihm anhaftende Armseligkeit, so war es doch zumindest die substantielle Vergänglichkeit des Holzbaus, die ihn ungeeignet erscheinen lassen mochte, den Ewigkeitsanspruch eines „Tausendjährigen Reiches“ zu repräsentieren. Die vorgestellten, in Mauerwerk aufgeführten Bauernhäuser dagegen können zwanglos Bildern trutziger Burgen und ländlicher Schlösser gegenüber13 HP: Z 813 ff 14 HP: Z 1122 ff 15 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf, Kapitel Dorf, Anm. 32 16 Nerdinger (1993), S. 101 f Zur Biographie Seiferts und seiner Rolle im NSStaat vgl. vor allem Zeller 17 Seifert (1943), S. 25 f 18 „Bauern im Erzgebirge hielten es wie eine Bibel.“ Seifert (1962), S. 135 19 Seifert (1941)

20 Die Veröffentlichungsdaten für Im Zeitalter des Lebendigen (1941) bzw. Das echte Haus im Gau TirolVorarlberg (1943) deuten auf eine umgekehrte Reihenfolge, doch ist anzunehmen, daß in den letzten Kriegsjahren keine geordnete Verlagstätigkeit mehr existierte. Daneben ist davon auszugehen, daß die publizierten Dokumentationen im Verlauf mehrerer Jahre gesammelt wurden, sodaß das Veröffentlichungsjahr der Werke keinen letztgültigen Anhaltspunkt für die Chronologie der gewonnenen Erkenntnisse darstellt.

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gestellt werden, um in der „ungegliederten Geschlossenheit der Erscheinung, die kennzeichnend ist für den gesamten ostmärkischen Raum“22, einerseits eine ungeachtet der sozialen Schicht gemeinsame „Baugesinnung“ zu suggerieren, andererseits den „Adel“ einer naturgegebenen Überlegenheit auch der anonymen „Architektur“ der alpenländischen Bauernhäuser zu unterstellen. Aus diesem Blickwinkel erst, der Rezeption „anonymer“ Bauernhäuser durch die Bauforscher des Nationalsozialismus, unter denen Alwin Seifert neben seinen Publikationen vor allem durch seine in der Nachkriegszeit wiederaufgenommene Lehrtätigkeit23 Nachwirkung erzielt24, erhält der bäuerliche Massivbau durch seine Vergleichbarkeit mit Bauten der Aristokratie das Prädikat „Architektur“ und mit diesem eine Erhebung in den Adelsstand der zeitlos gültigen Kulturzeugnisse. Dem Holzbau kommt in dieser Betrachtungsweise lediglich die Rolle einer Frühform und entwicklungsmäßigen Vorstufe des Massivbaus zu. Aus einer Warte mit entgegengesetzter Blickrichtung, der des Holzbauforschers, wird diese Charakterisierung der Bauweisen, wie sie der Spiegel ihrer gesellschaftlichen Bewertungshierarchie abbildet, bestätigt. Otto Swoboda, der in seinem dreibändigen Werk Alte Holzbaukunst in Österreich eine vollständig hölzerne bäuerlich-ländliche Baukultur einschließlich zahlreicher Vorarlberger Beispiele dokumentiert, mit dem besonderen Verdienst, neben dem Hausbau auch die gewöhnlichsten Nutzbauten wie Zäune, Trockengestelle und Lagerbehälter für Mais, Getreide und Heu oder Tierställe in den Blick zu nehmen, also die bauliche Prägung der bäuerlichen Kulturlandschaft insgesamt zu fokussieren, beklagt in seinem Nachwort zum ersten Band den Umstand, daß „die Denkmäler alter Holzbaukunst (...) weder Eingang in die österreichische Kunstgeschichte [fanden], noch (...) in den Verzeichnissen der Kunstdenkmäler unseres Landes erwähnt“ wurden.25

21 A.a.O., S. 179 22 A.a.O., S. 190 23 Nerdinger dokumentiert die Entwicklung der Lehrtätigkeit Seiferts an der Technischen Universität Münchens: „1934 wurde Seifert vom Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen Fritz Todt als ,Landschaftsanwalt‘ zum Bau der Autobahnen, der neuen ,Straßen Adolf Hitlers‘ gerufen. Todt versuchte, Seiferts Stellung auch an der Hochschule zu verbessern und eine Ernennung zum a.o. Professor (...) 1936 zu erreichen. Verliehen wurde Seifert aber zu Hitlers 50. Geburtstag wie vielen anderen nur der Professorentitel. (...) Mit der Emeritierung Hermann Bucherts 1941 übernahm Seifert das Fach Landwirtschaftliches Bauwesen (...).1943 sagte Roderich Fick angeblich Seifert den Lehrstuhl Hermann Bucherts zu, es kam aber zu keiner Berufung mehr. Alwin Seifert gab aus Ärger darüber seinen Lehrauftrag 1944

auf. Nach 1945 wurde daraus die Legende eines ihm angeblich aus politischen Gründen verweigerten Lehrstuhls. 1949 erhielt er wieder einen Lehrauftrag.“ Nerdinger (1993), S. 102 24 Wer Seiferts Zitat aus Anm. 17 „im Ohr“ hat, wird einen Widerhall dieser in Stammes- und Rassekategorien einordnenden Wahrnehmung noch in Franz Harts Baukonstruktion für Architekten (Stuttgart 1951) wiedererkennen, wenn dieser in der Einleitung des Kapitels Hölzerne Dachgerüste schreibt: „Das Sparrendach kommt aus dem holzbauenden Norden. In seiner Urform ist es Dach und Hütte zugleich. Im germanischen Holzbau setzt es sich auf die Schwelle, die den oberen Abschluß der Fachwerkwand bildet...“ Franz Hart hatte ab 1946 einen Lehrauftrag an der Technischen Universität München inne, von 1948 bis 1978 war er o. Professor für Hochbaukonstruktion. 25 Swoboda (1975), S. 211

Eine vollständig hölzerne, bäuerliche Baukultur

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150 Resozialisierung des Holzbaus durch Architektur

„Tradition“

Aufruf von Tradition zur Herstellung von Regionalität

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Die festgestellte Geringschätzung des Holzbaus, im Kontext der akademischen Architekturrezeption zum Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 formuliert, kennzeichnet als Hintergrundatmosphäre und Zeitstimmung diejenige Ausgangslage, in der die Vorarlberger Architekten der ersten Baukünstlergeneration Holzbau als „Architektur“ resozialisieren. Diese Resozialisierung ist gleichzeitig als soziale Aneignung zu betrachten, als Verschiebung der Deutungsmacht über den Holzbau vom Handwerk auf Architektur, vom agrarisch-ländlichen auf ein akademisch-städtisches Milieu. Wir haben einen solchen Prozeß von Aneignung und Umdeutung bereits mit der Rolle Friedrich Achleitners, wie er sie als Architekturhistoriker ausfüllt, in Verbindung gebracht. Achleitner hatte die Architektur der Einfamilienhäuser in Vorarlberg als gesellschaftliches Modernisierungspotential ebenso festgestellt wie als Rolle gesetzt. Daneben hatte er Handwerker ebenso wie Architekten an seinem politischen Architekturbegriff beteiligt gesehen.26 Darin ist die Einbeziehung von Handwerkern keine gleichrangige, sondern eine temporär zugelassene, wie der letzte Abschnitt dieses Kapitels an der „Differenz“ zwischen Handwerk und Architektur herausarbeiten wird. Zentral steht in diesem Umdeutungsvorgang der Begriff „Tradition“. Für den Blickwinkel der vorliegenden Arbeit ist Tradition27 ein Zivilisationszustand, der vor allem durch einen Mangel an Alternativen gekennzeichnet ist. Erst die rückwirkende Betrachtung der Zeugnisse dieses Zustands unterschiebt ihren Produzenten mit dem Begriff „Tradition“ gleichzeitig die fiktive Möglichkeit einer Wahl. Im Zeitalter universeller Verfügbarkeit gewinnt die Rekonstitution einer ortsspezifischen Unterscheidbarkeit neue ökonomische Bedeutung. In diesem Rahmen, der bestimmt ist durch die als notwendig erachtete Schaffung von Abgrenzungsmerkmalen, die Identifikation innerhalb eines Rahmens nunmehr tatsächlich gegebener Wahlmöglichkeiten erzeugen, als Mittel der Profilierung von Regionen, gewinnt Holzbau in Vorarlberg seine zeitgenössische Bedeutung und erhält Architektur ihre Funktion als Medium der Formulierung sozial und ökonomisch signifikanter Kultur- und damit Abgrenzungsmerkmale. Bereits im neunzehnten Jahrhundert war Holzbau als architektonisches Identitätsmerkmal, als „nationaler“ Baustil Österreichs entdeckt und eingesetzt worden. „Bahnhöfe und Industriebauten wurden in Fachwerk errichtet, bürgerliche Villen erhielten ein mit Brettern vorgetäuschtes Fachwerkdekor.“28 Die Gegenüberstellung von Holzbau und Massivbau zur sozialen und ökonomischen Bewertung des Holzbaus als Bauweise ist heute insofern eine Frage von „Tradition“, als diese zur kulturalen Konturierung eines spezifischen ökonomischen Profils der jeweiligen Region, als Aspekt von Regionalität, aufgerufen wird. Die Konzentration auf Ressourcen regionaler Rohstoffe, Kompetenzen und Betriebsstrukturen auf wirtschaftlicher sowie Materialien und Formen

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auf kultureller Ebene erhält erst vor dem Hintergrund ihrer Alternative, der globalen Verfügbarkeit, als marktwirtschaftliche Konkurrenzsituation spätestens seit den 1990er Jahren präsent, sowie der Auflösung von Tradition29, wie er mit dem Prozeß der Modernisierung einhergeht, ihre Rechtfertigung. Als solche gewinnt Regionalität in Förderinitiativen gesellschaftlichen Nachdruck und als verwaltungstechnisches Modell für ein zukünftiges, postnationales Europa ihre zeitgemäße politische Legitimität.30 Wir werden im Hinblick auf die zeitgenössische Holzbauarchitektur Vorarlbergs daher im Folgenden Aspekte von Regionalität herauspräparieren, wie sie in den Forschungsgesprächen angesprochen worden sind.

Regionalität als politisches Zukunftsmodell eines postnationalen Europa

Im ersten Abschnitt dieses Kapitels, Holz als Baustoff, sind Vorarlberger und Schweizer Kommunalbauten vorgestellt worden, die als Signalprojekte das Prinzip kleinräumigen Wirtschaftens auf Gemeindeebene demonstrieren. Es sind Holzbauten, die gezielt regionale Rohstoffressourcen nutzen und sowohl die Gewinnung als auch die Verarbeitungskette des Baumaterials demonstrativ in das unmittelbare räumliche Umfeld der Baustelle zurückholen. Mario Nußbaumer, Gemeindesekretär in Langenegg:

Demonstration wirtschaftlicher Autonomie durch Verwendung lokaler Rohstoffe

Das ganze Holz, das in diesen Bauten verwendet ist, haben wir bei Landwirten eingekauft, ortsansässigen, also das ist aus dem Ort, dieses Holz, und das wurde dem Generalunternehmer zur Verfügung gestellt.31

Der genannte Generalunternehmer, Bertram Dragaschnig, erschließt im Gespräch weitere Aspekte kleinräumigen Wirtschaftens, darunter solche der Neudefinition von Qualität im Rahmen eines vorhandenen Materialkonvoluts. Insbesondere die Etablierung astfreier Sortierung als höchster Qualität interpretiert Dragaschnig als positive Maßnahme zugunsten regionaler Wirtschaftsförderung. „Also, das ist jetzt wieder für die Sägeindustrie sehr gut, für den Waldbesitzer sehr gut, weil er viel Holz verwertet.“32 Eine Baukonstruktion, die viel Holz enthält und mit Holz möglichst viele Anforderungen abdeckt, reduziert den Bedarf nach anderem Material. Etwa erfordert eine Massivholzwand weniger Dämmmaterial als eine Pfosten-Riegel-Wand. Betont „holzhaltige“ Konstruktionen reduzieren also Transportaufwand und wirtschaftliche Abhängigkeit und steigern regionale Autonomie. „Tradition“ wird insofern aufgerufen, als die neue Form kleinräumigen Wirtschaftens an vergangene Zeitumstände erinnert, in denen Transport von 26 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg 27 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 28 Sagmeister (1990), S. 35 29 Sagmeister verdeutlicht, daß die Traditionalisierung des Holzbaus als nationaler Baustil Österreichs mit dem Verschwinden derjenigen Lebensformen einhergeht, die die Voraussetzung der traditionellen Bauformen bildeten: „Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde der Forschung der drohende Verlust und das allmähliche Verschwinden der alten Holzbauten bewußt. Mehrere großangelegte Publika-

tionen, die heute noch zu den Standardwerken über den Holzbau zählen, erschienen um 1900: z.B. J. W. Deininger: Das Bauernhaus in Tirol und Vorarlberg, und Georg Baumeister: Das Bauernhaus des Walgaus und der walserischen Bergtäler Vorarlbergs einschließlich des Montavon.“ Ebd. 30 Zum Thema Regional Governance vgl. Anm. 47 und 68 im Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 31 MN: Z 127 ff 32 BD: Z 1001 ff

Massivholzkonstruktionen unterstützen die wirtschaftliche Autonomie waldreicher Regionen

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Handwerksbetriebe als regionsspezifische Ressource

Konkurrenzschutz

Regionalität als Marketinginstrument

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Baumaterial deshalb unterblieb, weil er technisch nicht möglich oder wirtschaftlich nicht leistbar war. Neben den Rohstoffressourcen ist der Bestand handwerklicher Betriebe eine wichtige soziale Ressource der Region. Wir werden im Kapitel Handwerk die sozialen Komponenten des „territorialisierten“ Handwerks33 näher untersuchen, seine Verwurzelung in ortsansässigen Familien sowie jene in gewachsenen Kundenbeziehungen.34 Vergleichbar der Konkurrenzsituation, den der global konstituierte Rohstoffmarkt gegenüber der lokalen Forstwirtschaft35 erzeugt, findet auch die Vergabe von Handwerkerleistungen für öffentliche Bauten mittlerweile im streng reglementierten Rahmen EU-weiter Ausschreibungen statt. Die vor allem aus politischer Sicht erwünschte36 Beteiligung ortsansässiger Handwerker an kommunalen Bauprojekten erfordert daher besondere Betreuung dieser Betriebe, insbesondere ihren Schutz vor überregionaler Konkurrenz. Mario Nußbaumer: „Wir haben alle zusammengeholt, wir haben ihnen die Ausschreibung vorgestellt und auch gesagt, sie sollen sich zusammentun, weils für einen eh zuviel ist, und gemeinsam anbieten. Und das haben sie auch gemacht.“37 Im Fall der Langenegger Gemeindebauten ist es gelungen, über die in der Generalunternehmerausschreibung beschriebenen Qualitätsanforderungen, vor allem die Vorbedingung, lokal gewonnenes Holz zu verwenden, eine Voraussetzung zu schaffen, die nur regional ansässigen Firmen lösbar erschien. Dementsprechend haben trotz EU-weiter Ausschreibung der Generalunternehmerleistungen ausschließlich Firmen aus der Region angeboten. Die Werkstätten der beteiligten Handwerksbetriebe liegen nunmehr allesamt „in Sichtweite“ der Baustelle, ihr „guter Name“ innerhalb der Region steht für qualitätvolle Arbeit.38 Von materialbezogenen und gewerblichen Ressourcen als Aspekten von Regionalität richten wir nun unser Augenmerk auf ästhetische. Im Eingangsabschnitt dieses Kapitels, Holz als Baustoff, haben wir den Architektureinsatz der Vorarlberger Forstwirtschaft39 zugunsten einer erfolgreichen regionalen Aufwertung von vordem gering bewertetem Weißtanneholz in den Blick genommen. In ähnlicher Weise stellen auch andere gewerbliche Bauherren die Kernkompetenz von Architektur, bauliche Formen zu ästhetisieren und deren Bewertung in den Kontext eines Kunstfeldes zu stellen, in den Dienst ihrer ökonomischen Interessen. 33 Vgl. Abschnitt Arbeitsform undWissensaneignung, Kapitel Handwerk, Anm. 11 ff 34 A.a.o. vor allem Anm. 10–13 35 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff dieses Kapitels, Anm. 48 ff 36 Eine solche Zielvorgabe steht im Konflikt mit einer typisch unternehmerischen, derjenigen von Baukostenminimierung. 37 MN: Z 481 ff

38 Die Familiennamen der Betriebsinhaber sind in den Handwerksbetrieben der untersuchten Region überwiegend identisch mit den Firmennamen: Dragaschnig nennt mit den erzeugten Bauteilen gleichzeitig die verantwortlichen Personen. BD: Z 14 ff und 213 ff 39 Aktionsgruppe Vorarlberg, Entwicklungsverein Natur- und Kulturerbe Vorarlberg e.V. (Hg.): Weißtanne – heimisch edel ökologisch modern; Schruns, 2004

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Jürgen Sutterlüty und seine gleichnamige Vorarlberger Supermarktkette sind bereits im ersten Abschnitt Architektur als Kunst des ersten Kapitels vorgestellt worden. Unter den Gesprächspartnern, die Beiträge für die vorliegende Arbeit geliefert haben, steht Sutterlüty im inhaltlichen Rahmen des Kapitels Holz für die Position, eine Indienstnahme von Architektur als Mittel der Marktplazierung eines Anbieters von Verbrauchsgütern mit Regionalität zu verknüpfen: Mit Hilfe der architektonischen Gestalt seiner Bauten soll seine Supermarktkette, die aus Egg im Bregenzerwald stammt, als „heimisches“ Unternehmen gegen überregionale Konkurrenten profiliert werden und demonstrieren, „daß man Bestandteil der Region sein will“40. Als Mittel hierzu dient das Supermarktgebäude in Holz. Wir sind hier in einer Holzregion, es hat natürlich auch ganz spezifisch den Zugang zum Holz. Wir haben den Auftrag gegeben, bitte, mit dem Baustoff Holz wollen wir uns intensiver auseinandersetzen.41

Sutterlüty verknüpft hier den „Wald“ seiner Unternehmensherkunft mit dem „Holz“ als repräsentativem Ausdruck hierfür. Wie könnte es anders sein, als daß der, der aus dem „Wald“ kommt, im Holzhaus „wohnt“? Der „spezifische Zugang“ ist der tagtägliche Umgang, die Kompetenz aus einer gewachsenen Vertrautheit. Der Pfarrer ist es nicht, der mit solcher Vertrautheit charakterisiert ist, auch nicht der Lehrer, nicht die Akademiker, sondern der Bauer und der Handwerker. Der Kirchbau ist nicht aus Holz, selten das Pfarrhaus. Das Schulhaus ähnelt dem Pfarrhaus, denn es braucht nicht Stall noch Scheune, ist aber bereits aus Holz, beim Bauernhaus schließlich ist Holz obligatorisch, auch beim Gasthaus, in aller Regel ein ehemaliges Bauernhaus.42 Holz markiert also ein Segment sowohl in der sozialen Hierarchie als auch in der Bautentypologie. Es grenzt das hierher Gehörige, das hier Gewachsene vom Fremden und Aufgesetzten ab, repräsentiert also nicht die Obrigkeit mit ihren gemauerten Postämtern, Gemeindeämtern, Behördenbauten, Bahnhöfen und Autobahnbrücken. In seiner Vergänglichkeit meint es auch eher das Zeitgebundene, das Kalendergebundene, das Lebensgebundene und nicht das Überzeitliche, Ewiggültige, Monumentale derjenigen Bautengattungen, die sich traditionell durch akademische Architektur repräsentieren. Sutterlütys Wortwahl „Auseinandersetzung“ und „Bestandteil sein wollen“ grenzt seinen Begriff von Regionalität vom passiven „Bestandteil der Region sein“ ab. Diese Differenzierung wird ein weiteres Mal betont, wenn von den qualifizierenden Eigenschaften des beauftragten Architekten, „der auch ein heimischer Architekt ist“, heißt, daß dieser „sich mit diesen Dingen auch intensiv auseinandersetzt“43. 40 JS: Z 120 ff 41 JS: Z 124 ff 42 Diese vereinfachende Hierarchisierung traditioneller dörflicher Gebäudetypen ist dem Dorf Thal im Vorderen Bregenzerwald entnommen, dessen Untersuchung im Kapitel Dorf dargestellt ist. Im Fall ande-

rer Dörfer und der jeweiligen Lebens- und Erwerbsform dörflicher Würdenträger kann die gesellschaftliche Hierarchie des Baustoffeinsatzes von diesem Modell abweichen. Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf, Anm. 92

Materialbezogene Hierarchie dörflicher Haustypen

Bestandteil der Region sein wollen

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Zugehörigsein ist also durch Handeln, durch Tätigsein zu erwerben und findet ihr Vorbild im Engagement für Vereine oder etwa der Freiwilligen Feuerwehr. Zugehörigsein heißt also nicht (nur) hier geboren sein oder gar nur hier wohnen, sondern mitarbeiten. Mitarbeiten aber im Sinne der Region, indem man mit der heimischen Substanz (weiter-)arbeitet und dieses vertraute Merkmal betont, anstatt etwa ein „fremdes“ Element einzubringen. Und da haben wir Vorgaben, (...) was die Wertschöpfung betrifft, in der Sutterlüty als heimisches Unternehmen sagt: Beschäftigt werden ausschließlich heimische Unternehmen und der (heimische) Werkstoff ist auch zu verwenden.45

Betonung regionaler Wertschöpfung

Im Folgenden deutet Sutterlüty die „Entwicklung von Märkten“, also die Baupolitik seines Unternehmens, als Prüfstein, an dem Kunden seine Glaubwürdigkeit in bezug auf den Regionalbezug ablesen. Diese Glaubwürdigkeit soll durch demonstratives regionales Wirtschaften erzeugt werden: „Wir bringen die Wertschöpfung zurück in die Region.“46 Indem Sutterlüty betont, die Wertschöpfung solle in die Region zurückgeholt werden, stellt er seine Praxis in Gegensatz zu einem Normalzustand, in dem die Wertschöpfung außerhalb der Region stattfindet. Seine Strategie ist, auf dem Feld der eigenen Bautätigkeit seine Solidarität mit der Region zu zeigen. Der Baustoffbedarf für seine Bauten soll nicht nur heimisches Material zeigen, sondern auch in der Region erzeugt sein.47 Auch die Baukörpertypologie seiner Supermärkte interpretiert Sutterlüty durch Kriterien von Regionalität: Wir haben, wenn wir die Objekte uns anschauen, das sind eigentlich bescheidene Baukörper, die eigentlich sehr geradlinig ausgerichtet sind, die aber im Endeffekt das Image des Unternehmens auch weitertragen sollen.48

Die „Bescheidenheit“ des Supermarktgebäudes suggieriert dem Kunden, daß hier Waren zu angemessenen Preisen verkauft werden. Das Holz als Baumaterial bringt neben dem „bescheidenen“ Baukörper noch das Natürliche und das Handwerkliche als Konnotation mit und ist für Sutterlüty damit allgemein-architektonischen Gebäudekonzepten, wie sie seine Konkurrenten 43 JS: Z 134 ff Die Wahl des heimischen Architekten ist damit Teil einer demonstrativen Haltung oder wird in diesem Sinn interpretiert. Die Architektenwahl wird Teil einer Marketingstrategie, die dem Kunden empfiehlt, das Heimische dem Nichtheimischen vorzuziehen. Im weiteren Gesprächsverlauf teilt Sutterlüty mit, der Architekt sei vor der Bearbeitung der Gewerbebauten bereits mit der Planung für das eigene Wohnhaus betraut gewesen. 44 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 45 JS: Z 257 ff 46 JS: Z 272 ff 47 Tatsächlich dürfte sich das „heimische Material“ an Sutterlütys Supermarktbauten auf unsichtbare Massivholz-Konstruktionsbauteile beschränken, denn weder Glas noch Stahl wird in Vorarlberg erzeugt

und auch die auf Holz basierenden Plattenwerkstoffe (OSB-Platten, MDF-Platten, Dreischichtplatten) der inneren Wandbekleidungen sind importierte Halbfabrikate. Nicht einmal die äußere Fassade aus Akazienbrettern, wie sie jedenfalls der erste Bau des Typs in Weiler trägt (Kapfinger 2003 /1), zeigt Holz aus regionalen Vorkommen. Die Entscheidungen zugunsten von Materialien des internationalen Baustoffhandels dürften von massiven Preisvorteilen bestimmt worden sein. Trotzdem symbolisieren sie „heimische Wertschöpfung“. Unabhängig vom hier betrachteten Einzelfall bestätigt Peter Greußing, daß die ästhetische Kategorie „heimische Bauform“ nicht zwangsläufig heimisches Material erfordert: „Das Thema ,Holz‘ (...) vermittelt auch ein bißchen den touch des Heimischen, auch wenn das Holz aus Slowenien kommt.“ (PG: Z 626 ff) 48 JS: Z 115 ff

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einsetzen49, überlegen. Holzbau wirkt in seinen Augen konkreter, spezifisch regionaler, anschaulicher, beheimatender als diese. „Bescheiden“ und „geradlinig“50, Merkmale, denen hier die Aufgabe zugewiesen ist, das Regionale zu stützen, stehen im Gegensatz zu repräsentativ, auftrumpfend, demonstrativ, formal gesehen zu gekurvt, gebaucht, verwinkelt, in referenzieller Hinsicht zu weithergeholt. Eine Umschreibung der gewünschten „Einfachheit“ könnte etwa sein „sich auf die Zweckerfüllung beschränkend“. Das verbindet das Bauwerk für den Supermarkt mit dem Heustadel eher als mit dem Pfarrhaus, stellt ihn also auf typologischer Ebene in die Kategorie der Zweck- und Bergebauten und grenzt ihn von derjenigen der Wohn- und Repräsentationsbauten ab. Auf einer abstrakteren Ebene scheidet Sutterlütys Kategorisierung aber auch akademische Architektur mit ihren komplexen Verweisen, Formzitaten und ihrer „Weltverarbeitung“ aus dem für ihn relevanten Spektrum des Regionalen aus. Schließlich könnte sich auch bereits ein autoreferenzieller Effekt hier dokumentieren: Es gibt bereits so viele „Holzkisten“ in der Architekturlandschaft von Bregenzerwald und Vorarlberger Rheintal, daß sie als regionaler Typ etabliert und somit selbst Bild und Repräsentant des zeitgenössisch Regionalen und seines ästhetisch konnotierten Begriffs von „Landschaft“51 geworden sind, wie ehemals die Heustadel für die Kulturlandschaft der Agrargesellschaft.52 Mit der Vorarlberger Holzwirtschaft, ebenso wie mit dem Unternehmen Sutterlüty, haben wir solche Bauherren als Akteure betrachtet, die Holzbauarchitektur als Argument zugunsten ihres Produktmarketings einsetzen. Mit den beteiligten Architekten tritt gleichzeitig eine Bewegung mit sozialreformerischem Impetus53 auf den Plan. Mein Gesprächspartner Peter Greußing, Geschäftsführer eines international tätigen Bau- und Bauträgerkonzerns mit Vorarlberger Wurzeln, stellt speziell auf den Bregenzerwald bezogen fest, daß deren Anliegen, einer Popularisierung moderner Form als Vorreiterin einer „zeitgemäßen“ Lebensform Vorschub zu leisten, Holz als Identifikationsmittel ideal entgegenkomme: Das ist jetzt ein Gebiet, wo das Giebeldach seine Berechtigung hat,weil alles vom Bauernhaus abstammt, und von dorther eigentlich naheliegend wäre. Wenn Sie schauen, wieviele Objekte da drinnen in gestandenen Gemeinden mit Flachdächern gemacht werden, wo ich zum Teil selber sage, das ist eigentlich schon mutig, (...) also in Verbindung mit irgendwelchen Holzgeschichten, (...) also, da stellen eben Baustoffe den Bezug zum Bestand her.54 49 Vgl. die Gegenüberstellung mit dem Architektureinsatz der Tiroler Supermarktkette M-Preis im Abschnitt Architektur als Kunst des Kapitels Architektur? 50 Wie Anm. 48 51 Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus 52 Sutterlüty könnte ja auch ein überdimensionales „Bauernhaus“ aufstellen, um seinen Supermarkt zu behausen, also die vertraute Gebäudeform als Identi-

fikationsbrücke nutzen, eine Strategie, die Hoteliers in den alpinen Touristenzentren mit Erfolg einsetzen. Ein solches „traditionelles“ Gewand finden wir auch in Münchner Brauereigaststätten. Diese kleiden ihre Kellnerinnen in „Tracht“, um die Herkunft des angebotenen Bieres aus einer regionalen Kultur zu signalisieren. 53 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg

Architektursprache des Regionalen

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156 Nutzung der Materialsprache des Holzes zur Vermittlung Zeitgenössischer Architektur

Sägerauher Weißtanneboden

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Greußing ist mit Sutterlüty darin einig, daß Holz eine Brücke vom zeitgenössischen Gebäude zum Bauernhaus und damit zur historischen Handwerkstradition des regionalen Bauens zu schlagen imstande ist. Das Holz als Fassadenoberfläche wirke hier stärker auf die Wahrnehmung als die Baukörperform. Eine solche Strategie von „Architekturvermittlung“ unterstellt, daß Laienwahrnehmung vor allem Oberflächenwahrnehmung, die Materialität der Fassadenoberfläche also wirksamer für die Urteilsbildung sei als die Baukörperform. Die architektonisch dargestellte Materialkontinuität überdecke den Bruch in der Formkontinuität, den Zeitgenössische Architektur programmatisch vollzieht, indem sie etwa Flachdächer dort einsetze, „wo das Giebeldach seine Berechtigung hat“. Es wäre jedoch eine naive Vereinfachung der im Forschungsfeld vorgefundenen Verhältnisse, anzunehmen, allein das Vorhandensein einer hölzernen Fassade am modernen Baukörper sei bereits Garant für Identifikation und Akzeptanz Zeitgenössischer Architektur im Sozialmilieu der ländlichen Bevölkerung. Tatsächlich sind die ersten „Architektenhäuser“, die seit den 1980er Jahren im Bregenzerwald auftauchen und den Holzbau als Bauweise ländlicher Wohnhäuser reanimieren, zunächst als „Städel“55 verunglimpft und damit von einer Warte der sozialen Einordnung aus beurteilt worden, für die das traditionelle bäuerliche Leben insgesamt als überholt, besser: als überwunden, galt, jedenfalls als ungeeignete Referenz für soziale Profilierung im Dorf.56 Zeitgenössische Architektur im Bregenzerwald nutzt Holz nicht nur als Identifikationsbrücke zwischen ihren Formschöpfungen und der Baukörpertypologie traditionell-bäuerlicher Holzbauten, sondern schafft mit diesem Baustoff Wohn- und Aufenthaltsumfelder, die Werte und Praxen einer traditionellen Erfahrungswelt aufrufen, die die einheimische Bevölkerung im Umgang mit Holz entwickelt hat. Als anschauliches Beispiel eines solchen Brückenschlags Zeitgenössischer Architektur in traditionelle Wohnumfelder dient uns der sägerauh belassene Holzboden aus unbehandelten Weißtanne-Dielen. Ein solcher Bodenbelag ist im 2000 eröffneten Kulturhaus der Gemeinde Hittisau erstmals im Kontext Zeitgenössischer Architektur eingesetzt57 worden. Seither erfreut er sich, zunächst vorwiegend im Bregenzerwald58, inzwischen auch als motivischer ebenso wie gegenständlicher Exportartikel59 zunehmender Verbreitung.

54 PG: Z 710 ff 55 EW 1: Z 679 56 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“ Kapitel Haus, Anm. 11 ff 57 HolzKultur Hittisau; Hittisau: 2004, S. 8 58 Verwendung in kommunalen Bauten: Volksschule Doren (Arch. Cukcrowicz /Nachbaur), Kindergarten Langenegg (Arch. Fink /Thurnherr), Musikproberaum im Kindergarten Egg (Arch. Dietrich /Untertrifaller),

Angelika-Kauffmann-Museum Schwarzenberg (Arch. Dietrich /Untertrifaller), Gemeindeamt Sulzberg (Arch. Gruber) u.a. 59 Nachdem die Dielen für die ersten Einsätze sägerauher Weißtanneböden in Bregenzerwälder Kommunalbauten noch jeweils objektspezifisch gefertigt worden sind, haben Vorarlberger Holzgroßhändler solche Dielen mittlerweile in ihr Standardsortiment aufgenommen und liefern sie nun auch nach Deutschland.

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Im hier betrachteten Kontext, dem Aufruf traditioneller Praxis im Umgang mit Holz durch Zeitgenössische Architektur, erscheint der Umstand bezeichnend, daß die Initiative zur Wahl des sägerauhen Weißtannebodens für den Kulturhaus-Neubau nicht etwa vom Architekten, sondern aus dem Hittisauer Gemeinderat gekommen war. Als Referenz dieser Empfehlung hatte die dem Kulturhaus benachbarte Pfarrkirche gedient, für deren Gestühl sich ein solcher Boden seit Generationen bewährt hatte.60 Auch in anderen Dörfern des Bregenzerwaldes ist der Holzboden der Pfarrkirche die jedem Dorfbewohner vertraute Referenz für die Robustheit roh belassener WeißtanneDielen.61 Die Führung durch den Kindergarten-Neubau in Langenegg durch Bertram Dragaschnig hatte Gelegenheit gegeben, technische, baurechtliche und soziale Hintergründe über diesen auch hier eingesetzten Boden zu erfahren. Wichtigste Qualitätsvoraussetzung sind im Riftschnitt gesägte Bretter. Die „stehenden“ Jahresringe, die diese Art des Sägens erzeugt, gewährleisten einen festen Verbund der Holzfaser im Brett und verringern das Ablösen von Spießen in der Benutzung.62 Die sägerauhe Oberfläche der Dielen, durch das quer zur Faserrichtung laufende Sägeblatt der Bandsäge strukturiert, bildet Druckstellen aus der Benutzung weit weniger auffällig ab als gehobelte Oberflächen. Die Aufrauhung betont daneben die angenehme Oberflächentemperatur von Weichholz beim Kontakt mit Hand und Fuß. So vertraut heute mediale Bilder sind, die auf dem Holzboden sitzende Schulkinder zeigen63, und so einleuchtend die Übertragung der in den Pfarrkirchen bewährten Böden in kommunale Bauten nachträglich erscheint, war doch ein umfassender Vermittlungsprozeß zur Schaffung dieser Akzeptanz nötig. Mario Nußbaumer war als Gemeindeangestellter für die behördliche Abnahme des Langenegger Kindergarten-Neubaus zuständig und weist im 60 Diesen Hinweis verdanke ich Doris Gruber und Michael Stöckler, Bregenz. Ausdrückliche Erwähnung findet der „Dielenboden im Kirchenraum“ und seine Behandlung, „Dieser Boden besteht aus heimischem Massivholz mit unbehandelter Oberfläche und wird von Zeit zu Zeit mit Bürsten auf traditionelle Art und Weise gesäubert“, in: HolzKultur Hittisau, Hittisau 2004, S. 7 61 Eine Schweizer Exkursionsgruppe, mit der ich selbst im Sommer 2006 den Kindergarten in Egg besichtigte, wurde von unserem aus dem Ort stammenden Führer auf die Pfarrkirche verwiesen, nachdem die Besucher Interesse für den sägerauhen Weißtanneboden gezeigt hatten. Der Boden der Egger Pfarrkirche war zehn Jahre zuvor renoviert und erneut mit den bewährten, hier sogar stammbreiten, konisch besäumten Weißtannebrettern ausgestattet worden. 62 Die zunächst widersinnig erscheinende Arbeitsweise, wie sie hier praktiziert wurde, das bereits auf Endmaß gehobelte Brett nachträglich durch einen

Streifschnitt mit der Bandsäge aufzurauhen, erklärt Dragaschnig mit „optischen Gründen, und die Splitterungen, die das Holz hat, die sieht man dann nicht mehr“. (BD: Z 1138 ff) Neben dieser ist die Fertigungsweise verbreitet, in doppelter Stärke getrocknete Model mit der Blockbandsäge aufzutrennen und auf diese Weise die sägerauhe Oberfläche zu erzeugen. Um die ausgerissene untere Brettkante zu versäubern, wird hier anschließend der Kamm, an der oberen Brettkante die Nut angefräst. Zum Fertigungsvorgang vgl. auch Anm. 59 im Abschnitt Holz als Baustoff dieses Kapitels 63 „Wenn man da draufsitzt, der ist warm, angenehm“ (BD: Z 338 ff). Der von Dragaschnig beschriebene Effekt wird auch in Breuß’ Publikation hervorgehoben. In der Volksschule des Nachbarorts Doren brächten die Schüler große Teile des Unterrichts auf dem dort ebenfalls sägerauhen Boden sitzend zu. Breuß (2004)

Pfarrkirche als Referenz

Riftschnitt als Voraussetzung

Neubewertung von Hygienefragen in der Genehmigungspraxis

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Gespräch auf Genehmigungshindernisse hin: „Normalerweise würden da Vorschriften entgegen stehen.“64 Auch Bertram Dragaschnig bestätigt für das selbe Objekt, daß der Einsatz des Bodens „erstmalig auch im Kindergarten“65 ursprünglich behördlichen Schutzvorstellungen entgegenstand.66 Verletzungsgefahr durch Holzspieße aus der sägerauhen Bodenoberfläche insbesondere im Bewegungsraum des Kindergartens, bestehende Hygienevorschriften und die eingeschränkte Reinigungsmöglichkeit waren dagegengehalten und den Einwänden durch Verweigerung der baubehördlichen Abnahme Gewicht verliehen worden. Daß im Gegenzug das ansonsten gebräuchliche Versiegeln der Oberflächen durch Lacke, die Definition gesundheitsfördernder Hygiene als „Abwaschbarkeit“ also, mittlerweile einen Bewertungswandel erfährt, da in den zugrundeliegenden Verfahren und Materialien weit größere Gesundheitsgefahren nachgewiesen worden sind als durch Verletzungsgefahr und Reinigungserschwernis, wie sie offene Holzoberflächen bieten, erläutert Nußbaumer an Beispielen jährlich wiederkehrender Zwangsschließungen von Schulgebäuden aufgrund festgestellter Schadstoffkonzentrationen in ihrer Raumluft. Normalerweise, wenn man zu dem Zeitpunkt der Bauphase in so ein Gebäude geht, geht man dann später mit Kopfweh heraus. Alles lackiert, alles versiegelt, Lösemittel tonnenweise. Die dann auch Jahre später in der Raumluft vorhanden sind. (...) Warten wir wieder bis zum Herbst. Im September, Oktober vergeht bei uns kein Jahr, daß irgendeine Schule, die den Sommer über saniert wurde oder neugebaut worden ist, daß es Probleme gibt mit Kopfweh, oder Übelkeit und diese Räume dann gesperrt werden und Raumluftmessungen durchgeführt werden. Das ist in jedem Jahr mindestens eine Schule, wo es in diese Richtung Probleme gibt. Die werden in den Sommerferien gerichtet, da werden die Böden neu versiegelt und lackiert. Jeden Sommer mindestens eine Schule. In Vorarlberg. Zu hohe Konzentration in der Raumluft, sei es von einem Kleber, sei es die Versiegelung von einem Parkett oder was. Und die ganzen Lösemittel, die man da draufstreicht, von einer Lackierung, oder so, haben bis zu sechs Jahren Ausdünstung. 67 Wertewandel und Fortschrittskritik

Es ist ein breites gesellschaftliches Umdenken, das Zeitgenössische Architekten hier aufgreifen und in den durchaus konflikthaltigen Konsequenzen, die Archaismen innerhalb moderner Lebensumfelder programmatisch auslösen, zur Diskussion stellen. Das Wiedergewinnen von Qualitätsstandards vormoderner Lebensumfelder erfordert, den Mechanismus der Moderne außer Kraft zu setzen, das technisch Fortschrittlichste als das jeweils Beste zu bewerten. Es setzt die Bereitschaft voraus, das Prinzip technischen Fortschritts selbst einer Kritik auszusetzen. Die Neubewertung von Gesundheitsaspekten ist nur ein Aspekt, der mit der neuentwickelten Kompetenz im Umgang mit unbehandelten Holzoberflächen verknüpft ist. Es ist auch die Eigenhändigkeit, die daran wieder aufgenommen wird und meinen Gesprächspartnern Mario Nußbaumer und Bertram Dragaschnig bemerkenswert erscheint: „Den Weißtanneboden gibts im Bregenzerwälderhaus als Dielenboden, im Schopfbereich, der wird mit Seife, mit Schmierseife und Wasser gebürstet, wenn man das da macht, dann ist der, zum ersten gehen die ganzen Fasern vom Sägen weg, dann wird der da,

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kommt auch ein Grauschimmer.“68 Die traditionelle Pflege dieses Bodens, die seiner Oberfläche erst Glätte und Härte und damit Tauglichkeit für den Wohnbereich verleiht, ist das Bürsten mit Kernseife. Im modernen Haushalt und seiner Reinigungspraxis gelten solch händische Bearbeitungstechniken längst als überholt. Erst der angesprochene neue Begriff von „Gesundheit“ führt zum Umdenken, empfiehlt, die Ungewohntheit und Komforteinbuße in Kauf zu nehmen, um damit gleichzeitig die neu bewertete Qualität des Wohnumfelds wieder in die eigene Zuständigkeit, Verantwortung und Praxis einzubeziehen. Der traditionelle Kontext gibt der Wahl des Bodens eine zusätzliche soziale Dimension: er erinnert an die Hausarbeit der Bauersfrauen, die daran geknüpfte soziale Profilierung und die ihr zugeordneten Rollenbilder. Eine junge Frau, die in Au gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Volksschullehrer des Dorfes, ein denkmalgeschütztes, von den Eltern ererbtes Bauernhaus bewohnt und regelmäßig ihren Holzboden mit Kernseife bürstet, erzählt, daß die vom Putzen sichtlich „weiße Schwelle“ ehemals im sozialen Leben des Dorfes als sichtbares Zeichen für die Tüchtigkeit der Hausfrau stand.69 Mit aller Vorsicht muß also darauf hingewiesen werden, daß das zu beobachtende Interesse an der Wiedererweckung traditioneller Oberflächen der raumbestimmenden Materialien auch eine Neubewertung traditioneller Rollenbilder innerhalb der modernen Identität der Frauen berührt.70 In solchen Erscheinungen manifestieren sich Bestrebungen, innerhalb unserer von Individualisierung, Diversifizierung, demokratischem Mitbestimmungsrecht und disparatem Nebeneinander von Lebensstilen und Kulturen, also von höchster Uneinheitlichkeit geprägten Leben die Rückkehr einer zumindest ästhetischen Vereinheitlichung zu wünschen. Die Verunsicherung, die mittlerweile aus den zunehmend auch im Alltag sich zeigenden Fehlfunktionen der Entwicklung unserer technisch geprägten Zivilisation entspringt, wirkt als Triebkraft solcher Versuche, in traditionellen Praxen eine neue Beheimatung zu finden.71 Der Umgang mit Holz im heutigen Bauen auf dem Gebiet des Bregenzerwaldes ist, parallel zu den immer auch präsenten 64 MN: Z 362 f 65 BD: Z 227 ff 66 „Wir haben den Segen der Behörde nicht bekommen.“ Ebd. 67 MN: Z 338 ff 68 BD: Z 315 69 Gespräch mit Anne-Marie Bär am 09.07.2004 70 Auch Rainer geht auf den Zusammenhang zwischen regionaler Baukultur und sozialem Verhalten ein, wenn er in seiner Dokumentation der Dörfer des Nordburgenlands, innerhalb einem im Vergleich zur Holzbaukultur des Bregenzerwaldes gänzlich steinernen baukulturellen Umfeld also, zu Beginn der 1960er Jahre eine vergleichbare, dort und zu dieser Zeit noch ursprüngliche Praxis vorfindet und beschreibt:

„Dieses Weiß [der Hausmauern] wird überdies ganz offenbar bis heute von der Bevölkerung nicht als ,Farbe‘, nicht als Architekturelement, sondern ganz einfach als Reinigungsmittel aufgefaßt. Denn jährlich zu Ostern und nach zufälligen Verunreinigungen oft mehrmals im Jahre werden die Fassaden von den Frauen selbst gekalkt, und dabei werden oft auch die Stufen, werden Teile des Pflasters, werden die Steinbänke vor dem Tor, Baumstämme, Plastiken usw. mitgeweißt, so daß sie schließlich von vielen dünnen, schützenden Häuten aus Kalk überzogen sind“ (Rainer [1961], S. 6). Die Untersuchung Rainers erscheint selbst als Teil und Merkmal des Niedergangs der traditionellen ländlichen Lebenskultur. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist sie an diesem Ort vollständig aus dem Straßenbild verschwunden.

Neubewertung traditioneller Frauenrollen

Wunsch nach Rückkehr ästhetischer Einheitlichkeit des Lebensumfeldes

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Industrialisierungs- und Marketingeinflüssen auf die Holzwirtschaft, auch von solchen Kräften geprägt, die gegen den Strom der Zeit gerichtete Haltungen entwickeln. Regionalität als Wertegemeinschaft

„Geschmack“

Holz und Stein trennt – als Grundlage materialbezogener Bauweisen genommen – ein soziales Gefälle. Dieses betrifft unsere Frage „Was ist Architektur?“ insofern, als nicht erst mit den Theoretikern der 1920er-Jahre-Architekturmoderne ebendieser gesellschaftlichen und technischen Bewertung der Materialien eine Architektur-konstituierende Eigenschaft zugeschrieben worden ist.72 Holz ist in dieser Kategorisierung sowohl von sozial hochstehenden Zwecken, allen voran dem Sakralbau 73, als auch von künstlerisch hochstehenden Werken ausgenommen worden. Daß es sich dabei um gesellschaftliche Zuschreibungen und nicht um objektivierbare Eigenschaften handelt, sollte unser Vergleich mit fernöstlichen Kulturen des Holzbaus und deren ganz anderen Materialkonnotationen illustrieren. Nicht erst, seit Bourdieu mit seinem gesellschaftlichen Kulturbegriff das profane, körperlich empfundene „Schmecken“, etwa von Speisen, und das sublimierte „Geschmacksurteil“, das zur Beurteilung der Gegenstände künstlerischen Tuns eingesetzt wird, in einer gemeinsamen Kategorie vereint hat74, müssen „Wert“, die Aufwiegbarkeit von Gegenständen in Geld, ebenso wie „kultureller Wert“ als aufeinander bezogene Produkte gesellschaftlicher Vereinbarungs- und Setzungsprozesse verstanden werden. Die Resozialisierung des Holzbaus, die Achleitner für Vorarlbergs Architekturszene ebenso festgestellt wie konstituiert hat, beschränkt sich folglich nicht auf „Empfundenes“, auf das ästhetische Urteil gegenüber vergrauenden 71 Ein vergleichbarer Prozeß wie auf dem Feld der Nahrungsmittelproduktion, ein Vorgang, der hier mit Schlagworten wie artgerechte Tierhaltung, biodynamische Nutzpflanzenkultur, Fair Trade nur angedeutet ist und längst über die „Hofläden“ einzelner Bauern hinausgewachsen ist und die Supermarktketten erreicht hat, geschieht derzeit im Baustoffsektor. Hier sind es die Dämmstoffe, vor allem aber das Bauholz, die für Marketingstrategien zugänglich sind, die das Natürliche, Gesunde und die Identität der Bestandteile betonen. Die fortschreitende Industrialisierung und Globalisierung erzeugen mit ihrer räumlichen Trennung von Gewinnung, Verarbeitung und Verwendung der Baustoffe zunehmende Verunsicherung in einer Verbraucher-, hier: Bauherrengeneration, die mit Nachrichten von Umweltskandalen großgeworden und durch den Hinweis auf Gesundheitsgefahren, etwa aus Holzschutzmitteln, aus Leimbestandteilen von Spanplatten etc., alarmiert worden ist. 72 Oechslin verweist im angesprochenen Zusammenhang auf Sigfried Giedions 1928 erschienenes Werk Bauen in Frankreich: Bauen in Eisen. Bauen in Eisenbeton. Oechslin (1995), S. 64

73 Otto Bartnings evangelische Heilandskirche in Dornbirn (Achleitner [1980], S. 425), ein Holzbau von 1930/31, kann in dieser Hinsicht weniger als Ausnahme denn als Bestätigung des angesprochenen Prinzips genommen werden. In ihren betont bescheidenen Bauten präsentiert sich die evangelische Kirche in Vorarlberg als Minderheitenbekenntnis. Indem Bartning für seinen Kirchenbau die im Vorarlberger Rheintal traditionelle Wohnhauskonstruktion, den Fachwerkbau, verwendet, stellt er die Kirche als „Haus“ dar, und zwar nicht Gottes, sondern der Menschen, der Gemeinde. Dies markiert einen spezifisch protestantischen Zugang zum Christentum, der in Abgrenzung zum dominierenden Katholizismus Vorarlbergs besonders deutlich hervortritt. Im vorliegenden Fall dürfte jedoch die gewählte Architekturform nur eingeschränkt vom sozialen Umfeld bestimmt gewesen sein. Niederstätter (2010, S. 16) weist darauf hin, daß der Dornbirner Kirchbau „nahezu ein Duplikat“ einer 1909 vom gleichen Architekten entworfenen Bergkapelle in Schenkenhein/ Tesarov (Tschechien) sei. 74 Bourdieu (1979), S. 17 ff

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Massivholzfassaden oder ebensolchen Holzböden etwa.75 Es drückt sich ebensosehr in der geldwerten Beurteilung des Holzbaus, in Baustoff- und Bauleistungspreisen oder in Versicherungssummen und Kreditkonditionen sowie deren zugrundeliegenden Risikoabwägungen aus. Regionalität bietet uns einen Betrachtungsrahmen, der erlaubt, einen solchen gesellschaftlichen Wertewandel auf einen geographischen Gültigkeitsraum zu beziehen. Stattgefunden hat dieser Wandel, seit Gunter Wratzfeld gezwungen war, sein erstes Haus in Watzenegg „als Notlösung“ in Holz zu materialisieren. Zu der Zeit war Holzbau wesentlich billiger, als wie der Bau durch den Baumeister. (...) Ich hab ein Vorprojekt gemacht, das war ausschließlich mit Baumeisterarbeiten gedacht, und das mußte ich verwerfen, weils nicht leistbar war.76

Innerhalb der mittlerweile vergangenen vier Jahrzehnte ist Holzbau „eher teurer“77 als Massivbau geworden. Peter Greußing kann daher die heutige Situation des Holzbaus, wie er sie in Vorarlberg vorfindet, in einen Gegensatz zum angrenzenden Deutschland stellen und Vorarlberg als regionale Wertegemeinschaft auch auf dem Kapitalsektor seiner Wirtschaft darstellen. In Deutschland, [wo] so und soviel Sparkassen zum Beispiel einen Holzbau weniger finanzieren, als wie einen Massivbau. Weils Holz ist, und bei uns ist da überhaupt kein Unterschied.78

Der zeitgenössische Vorarlberger Holzbau mit den an ihn geknüpften Werten ist damit Indikator und Mittel einer fortgeschrittenen Regionalisierung Europas, Produkt und Bestandteil einer Entwicklung auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene, an deren gegenwärtigem Stand Zeitgenössische Architektur und regionales Handwerk gleichermaßen mitgewirkt haben.

„Wert“

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75 „So ist das gekommen, auf den Urgedanken zurück, weil es früher nämlich Weißtannenfassaden gegeben hat, und so sind wir jetzt wieder bei der Weißtannenfassade, man sieht es bei diesem Gebäude ganz schön, ohne Vordach wohlgemerkt, aber das haben die Architekten ganz bewußt so gewählt, und zwar richtig gewählt. Das Haus wird einheitlich grau. (BD: Z 81 ff) Beim Kindergartenbau in Langenegg ist die graue Holzfassade der architektonisch angestrebte Zustand. Daß solches nicht selbstverständliches Allgemeingut ist, zeigt der Blick über die Grenze Vorarlbergs: Anderswo sind Holzbauten mit Dickschichtlasuren oder Putzschichten „geschützt“, wird die verwitternde Fassade als Mangel, als Verfallszustand, als Zeichen mangelnder Pflege und deshalb als Anzeichen von Unmoral betrachtet. Leopoldine Eugster deutet Dementsprechendes an, wenn sie über das neue Nachbarhaus mit seiner unbehandelten Holzfassade spricht. (ALE: Z 761 ff) Generationenspezifische Aspekte dieses Wertewandels spricht Schmidinger an. (WS 1: Z 619 ff) Dragaschnigs Verweis auf den „Urgedanken“, die Fassaden alter Bauernhäuser, zeigt einerseits die Abstraktion, die das historische Vorbild in seiner „Verarbeitung“ zum Architektenentwurf erfahren hat, andererseits den Umstand, daß im vorliegenden Fall keine soziale Abgrenzung von den „einfachen Leuten“ und ihrer „armseligen Bauerei“ (Purin) mehr für nötig befunden wird. 76 GW: Z 418 ff; vgl. auch Prechter (2004)

77 BD: Z 529 78 PG: Z 586 ff Greußing spricht im Kontext mehrgeschossiger Wohnbauten in Holz die regional unterschiedlichen Bewertungen von Holz- und Massivbau an, wie sie sich im Medium von Bau- und Brandschutzvorschriften darstellen. Die Einstufung von Holzbau als brandgefährdete Bauweise ist sein traditioneller Nachteil gegenüber dem Massivbau. Aspekte der historischen Entwicklung im Forschungsfeld geben die Erörterungen zur Vereinödung im Vorderen Bregenzerwald wieder: Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitels Dorf, Anm. 113 Der Hinweis auf die Brandgefahr im Holzbau ist zentrales Argument in der aktuellen Werbekampagne der Massivbauindustrie Bau massiv. So illustriert etwa ein aus Streichhölzern mit betont roten Zündköpfen gebautes Satteldachhaus den Slogan „Feuer läßt den Massivbau kalt“. (Als ganzseitige Anzeige u.a. veröffentlicht in der Vorarlberger Gratiszeitung Wann & Wo am Sonntag, 10.05.2009, S. 72) Die Öffentlichkeitsarbeit der österreichischen Holzwirtschaft ist demgegenüber bemüht, durch technisch bestimmte Aufklärungsarbeit solche Argumente als konkurrenzbestimmtes Schüren verbreiteter Vorurteile zu entkräften. Vgl. dazu etwa die wiederkehrenden Brandschutzthemen der Holzbauzeitschrift zuschnitt, so etwa 8.2002, S. 19, das Themenheft 14.2004 „Holz brennt sicher“ oder das Sonderheft „Brandschutzvorschriften in Österreich“, März 2012.

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163 3.3 Modernisierung des Holzbaus Handwerker, Architekten und Bauherren leisten jeweils spezifische Beiträge zu derjenigen Modernisierung des Holzbaus, die Achleitner als den genuinen Kern der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs identifiziert und damit zu deren konstituierendem Thema erhoben hat.1 Der folgende Abschnitt ist solchen Beiträgen gewidmet. Als „spezifisch” werden sie verstanden, indem den Akteuren ein Gruppeninteresse unterstellt wird. Die daraus formulierte Position, ein jeweils zeitgebundenes Modell für Fortschritt, nutzt den Holzbau als Medium. Als solches eignet er sich besonders wegen seiner Fähigkeit, universelle Ansprüche zu integrieren. Insbesondere in Vorarlberg sind die traditionellen Beschränkungen des Holzbaus in einem Modernisierungsprozeß aufgehoben worden, einerseits seine soziale Beschränkung auf das ländlich-agrarische Milieu, andererseits seine technische Einschränkung gegenüber anderen Baustoffen, die ihn nun auch für vielgeschossige und weitgespannte Konstruktionen und Gebäudetypen geeignet erscheinen lassen. Neben seinen zeitgenössischen, industrialisierten Verfahrensweisen bleibt der Holzbau weiterhin vollständig handwerklich organisierbar. Für seine niedrigschwellige Zugänglichkeit steht vor allem der breitgestreute private Waldbesitz, der in Vorarlberg das Holz als Baustoff in die unmittelbare Verfügbarkeit breiter Bevölkerungsanteile stellt und den Holzbau sowohl für einzelne Bauherren, für Selbstbaugruppen, als auch im politischen Maßstab von Regionen zum Medium für Selbstversorgungsmodelle macht. In diesen Modellen demonstrieren der Holzbau und seine Praxis exemplarische Haltungen gegenüber demjenigen Fortschrittsmodell, das Zukunftsorientierung in immer stärkerer Spezialisierung der Arbeit, immer höherem Mechanisierungsgrad der Produktion, immer höherem Verfügbarkeitsgrad aller Rohstoffe und immer stärker ausgeprägter Warenhaftigkeit aller genannten Faktoren definiert: dem volkswirtschaftlichen Konsensmodell der westlichen Industrienationen. Indem dieses ökonomische Konsensmodell industriegestützt ist, erhält insbesondere die gesellschaftliche Positionierung des Handwerks politische Bedeutsamkeit als Alternative. Stärker noch als das Zimmermannshandwerk, weil institutionell ungebundener, haben Selbstbauinitiativen, die in Vorarlberg vor allem in Bauherrengemeinschaften zur Errichtung überschaubarer Wohnhausgruppen vorwiegend in den 1970er und 1980er Jahren in Erscheinung getreten sind, solche alternativen Haltungen praktiziert. Auch wenn sich ihre Modelle auf das Wohnen beschränken, liefern sie uns doch insofern bemerkenswerte Antworten auf Fragen der Produktion, der individuellen Repräsentation und der sozialen Funktion von Arbeit und ihrer Organisationsformen, weil darin die Position des Einzelnen gegenüber Gemeinschaft und Gesellschaft im Vordergrund steht.

Universalität des Holzbaus

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Architekten und Handwerker als konkurrierende Experten

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Trotz seiner Universalität ist dem zeitgenössischen Holzbau Stellvertretercharakter zu unterstellen, dessen publizistische und politische Aufmerksamkeit2 vor allem seine Funktion als Signalgeber für solche Weichenstellungen unterstreicht, die außerhalb der unmittelbaren Sphäre des Bauens liegen, denn der Anteil, den er innerhalb der österreichischen Bauwirtschaft hält, ist nach wie vor gering.3 Diesseits solcher Aspekte der Repräsentation ökonomischer Interessen, für die der Holzbau als politischer Signalgeber steht, spannt der folgende Abschnitt ein wechselwirksames Feld zwischen Handwerkern, Architekten und Bauherren in ihrem Auftreten als gesellschaftlichen Akteursgruppen auf, dessen Beobachtung Antworten auf unsere Frage „Was ist Architektur?“ gibt. Auch hier verdienen speziell die Ansprüche des Handwerks und diejenigen selbstbauender Bauherren Beachtung. So erlaubt die Modernisierung des Holzbaus, eine Entwicklung in der Beziehung zwischen Architektur und Handwerk zu beobachten, die dadurch gekennzeichnet ist, daß seitens der Architektenschaft der Gestaltungsraum des Handwerks eliminiert und dessen Position innerhalb des Bauens auf diejenige „optimierter Fertigung“ reduziert wird.4 Gerade das traditionelle Selbstverständnis des Handwerks geht jedoch von einer gegenteiligen Positionierung aus, die für sich reklamiert, den Planungs- und Bauprozeß in allen seinen Aspekten, technischen, kulturellen, ebenso wie ökonomischen, abzudecken. Gesellschaftlich gesehen tritt das Handwerk in diesem Anspruch gegen einen ebensolchen der Architekten5 und insbesondere deren „totalen“ Kontrollanspruch6 an. In wissenssoziologischer Perspektive stellt die Beziehung zwischen Handwerkern und Architekten also eine Konstellation „konkurrierender Experten“7 dar. Wenn in diesem Abschnitt von der „Differenz“ zwischen Architektur und Handwerk die Rede ist, so schafft der Rahmen, den der Baustoff Holz diesem Kapitel gibt, eine Konzentration auf Aspekte von Baupraxis und Baustelle und 1 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Anm. 6 2 Förderlich für die überproportionale Aufmerksamkeit wirkt etwa die sorgfältig gestaltete und redigierte Zeitschrift der österreichischen Holzwirtschaft zuschnitt. Auch wenn es von politischer Seite weder auf natonaler noch auf Bundeslandebene eine aktive Holzbauförderung gibt, so wirkt etwa die positive Bewertung im Punktesystem der Ökoförderung als indirekte Förderung. 3 Seitens der Konkurrenten des Holzbaus, dem Verband Österreichischer Beton- und Fertigteilwerke, wird der Anteil von Holzbau am Wohnbausektor der österreichischen Bauwirtschaft (2010) mit 20% beziffert. In der gleichen Quelle (Homepage des Verbandes) werden etwa für Finnland 80% angegeben. Pro Holz Austria, die Arbeitsgemeinschaft der österreichi-

schen Holzwirtschaft, weist 2011 den Holzbauanteil im österreichischen Wohnbau (nach Bauvorhaben) mit 40% aus. In: ProHolz Austria (2011), S. 8 4 Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk. In diesem Vorgang wird Zeitgenössische Architektur als Ressource zur Gewinnung sozialen Ansehens eingesetzt. Deutlich wird dies etwa, wenn ein exponierter Vorarlberger Architekt die „Tatsache, dass Handwerkern und Ausführenden in Vorarlberg ein hoher sozialer Status eingeräumt wird“, von deren „hohe[r] Vertrautheit mit den Essenzen der zeitgenössischen Architektur“ herleitet. In: Natter, S. 85 5 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, und Abschnitte Reform des Handwerks, Kapitel Handwerk

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deren technischen und organisatorischen Gesetzlichkeiten, wohingegen solche der sozialen Repräsentation momentan in den Hintergrund treten. So soll an dieser Stelle der Befund, daß die Differenz zwischen Architektur und Handwerk eine manifeste Komponente sozialer Schichtenzugehörigkeit aufweist, lediglich als Hinweis deponiert werden. Der Abschnitt Baukünstler des vorangegangenen Kapitels Vorarlberg hat bereits auf den Wandel in der Beziehung zum Handwerk hingewiesen, der dem generationsspezifischen Kompetenzprofil der Architekten8 und der gesellschaftlichen Neupositionierung ihrer Berufsgruppe als „Stand“ entspringt, sowie auf die Interessen, die der Staat als Akteur in diesen Wandel einspeist. Die folgenden Kapitel Haus, Dorf und Handwerk werden diese soziale Differenz im Kontext der Modernisierung des ländlichen Raumes thematisieren, einem Prozeß, der Architektur als einerseits akademisch, andererseits städtisch konnotiertem Bauen seit den 1980er Jahren nun auch für dörfliche Gesellschaften des untersuchten Raumes zum Thema werden läßt. Die Gruppe der selbstbauenden Bauherren steht im folgenden Abschnitt für die Frage nach der Position des Einzelnen in der Gesellschaft, für die sich das Bauen, und darin vor allem der Holzbau, in vielfältiger Form als Schauplatz eignet. Die Frage, ob und inwieweit der Einzelne eigenhändig imstande ist, sich selbst zu behaupten und seine Familie zu behausen, stellt sich nicht nur in agrarischen Gesellschaften9 und gegenüber den Naturkräften, sondern wiederkehrend auch als Gestaltform der Frage nach der Beziehung zwischen dem Einzelnen und seinem Staat: Je kleiner der Einzelne und sein Gestaltungsraum innerhalb des gesellschaftlichen und staatlichen Gefüges ist, in dem er lebt, desto subversiver erscheint die Rekonstitution seiner individuellen Selbstbestimmung. Beide Elemente, die elementare „Behausungsfrage“ und 6 Anhand des „Gartenhausproblems“ beschreibt Bertram Dragaschnig diesen Kontrollanspruch als räumliches Phänomen, als Zone, aus der übrigen Welt ausgegrenzt, in der besondere Gesetze, diejenigen der Architektur, herrschen. Das Spielhaus des Kindergartens Langenegg gibt den Anlaß der Erzählung. „Das hat die Gemeinde in Eigenleistung gemacht. (...) Man hat eh schon umgebaut, teilweise. (...) Das ist einfach nicht konsequent fertiggedacht. Das ist nämlich genau der Unterschied.“ (BD: Z 400 ff) Das „Gartenhausproblem“ (ebd.) tritt an der Zonengrenze auf, dort, wo die Kontrollgewalt des Architekten endet, wo Architektur und Nichtarchitektur aufeinandertreffen. Dort, wo das Gestalten innerhalb eines höheren Bezugssystems, das bedeutungsvolle Gestalten, aufhört und das bloß Zweckmäßige, das Belanglose oder der individuelle Geschmack ihr Recht behaupten. Das Gartenhaus wird zum Problem, indem es den Bezirk der Architektur durch seine Gewöhnlichkeit kontaminiert. Sein Erscheinen auf den

Fotos des architektonischen Werkes, das im Bild eine gemeinsame „Wirklichkeitsebene“ suggeriert, gilt unter Architekten als Sakrileg. Dragaschnig schlägt daher vor, Abstand zu schaffen: „Kran her und anhängen und weg. (...) Wenigstens ein Stück weit weg.“ (Ebd.) Dragaschnig macht deutlich, daß die Existenz solcher architektonisch kontrollierter Territorien auch seitens kommunaler Amtsträger als Zone besonderer Gesetze und damit als Einschränkung ihres eigenen, staatlich legitimierten Kontrollanspruchs wahrgenommen wird. Ihre Befürchtung, „dann haben wir nichts mehr (...) mitzureden“, beeinflusse als „Hauptargument“ die Entscheidung zur Durchführung von Architektenwettbewerben. (BD: Z 346 ff) Vgl. dazu die Abschnitte Architektur im Dorf und Beratung, Planung, Steuerung im Kapitel Dorf 7 Berger/Luckmann, S. 124 f 8 Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg

Architekt oder Zimmermann als soziale Frage

Selbstbauende Bauherren repräsentieren den Gestaltungsraum des Einzelnen in der Gesellschaft

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diejenige der sozialen Selbstbehauptung, sind in der Selbstbaubewegung verknüpft. Nicht zufällig tritt diese als Ausdruck von Institutionenkritik10 derjenigen Generation gesellschaftlich in Erscheinung, die als erste Nachkriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs in einer Kritik der Autoritäts- und Staatshörigkeit ihrer Väter sowohl ein verbindendes Selbstverständnis als auch einen gesellschaftlichen Reformbedarf formuliert. Auch das institutionelle Wesen von Architektur wird hierbei in den Blick genommen und unter dem Stichwort „Partizipation“11 als Frage nach Rolle, Bedürfnissen und Gestaltungspotential der „Planungsbetroffenen“12 aufgeworfen. Architektur ist nicht Handwerk

Architektur ist, vom Handwerk her gesehen, etwas Hinzugefügtes.13 Bertram Dragaschnig, Bauunternehmer, Bauträger und Generalunternehmer mit Sitz in Schwarzenberg, in seinem Firmenprofil eher als „Manager“ handwerklicher Leistung denn selbst als Handwerksbetrieb einzustufen, kennzeichnet in unserem Gespräch dieses Hinzugefügte als quantifizierbaren Mehraufwand innerhalb des Planungs- und Organisationsaufwands seiner Projekte. Diese Zusammenarbeit mit einem Architekten (...) die kost’ immer mehr Geld, als wenn ich jetzt mit einem Bauträger [arbeite]. Der Anspruch vom Architekten, um den zu erfüllen, das verlangt bei uns im Büro dreißig Prozent Mehraufwand.14

Vor allem „zu verstehen, was will der Mann eigentlich“15, sei für ihn „das größte Problem“16, ein Hindernis, das es zu überwinden gilt, bevor es darangehen kann, die Architektenvorgabe baulich umzusetzen und ebendarin seine „Stärke“17 als Unternehmen zu zeigen. Dragaschnig sucht, diese Verständnishürde, die er jeweils bezogen auf einen individuellen Architekten sieht, durch Anbahnung einer längerfristigen Arbeitsbeziehung zu überwinden: „Wenn Du ein Einfamilienhaus machst, mit einem Architekten, eines, dann kennst Du den Herrn noch nicht. Aber wenn Du fünf machst, oder zehn–“18 Doch auch nach zehn Häusern mit demselben Architekten seien die Details nicht „Standard“, und ebendas ist in Dragaschnigs Augen typisch für die Zusammenarbeit mit dem Architekten, daß immer„neue G’schichten dabei“19 sind. Für sein Firmenprofil, das sich innerhalb der regionalen Bauwirtschaft über außergewöhnliche „Qualität“ positioniert, ist der Architekt deren Referenz und die Praxis der Zusammenarbeit mit ihm daher eine zentrale Kompetenz. „Qualität“ meint hier den Perfektionsgrad der Ausführung, die Genauigkeit, die durch Detailplanung ebenso wie durch Fertigungsperfektion unter 9 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf 10 Vgl. Temel 11 Steger (2007/1), S. 204 ff 12 A.a.O., S. 193 13 Umgesetzt findet sich diese „Dualität“, die aus der Sicht des Handwerks zwischen Architektur und Handwerk besteht, in der Praxis der „Auer Zunft“ als

historischer Standesorganisation des Bauhandwerks. In ihren Lehrgängen importiert sie Architektur über Vorlagenbücher aus Architekturtraktaten italienischer Provenienz. Baukörper und Fassade, Grundriß und Ansicht, werden in dieser handwerklichen Architekturpraxis voneinander gelöst und, ähnlich wie die Versalien und Minuskeln unserer Schrift aus unterschiedlichen Kulturen und Herkunftstraditionen stammend

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der Kontrolle qualifizierter Bauleitung zu gewährleisten ist. Von Architektur geht für Dragaschnig eine Herausforderung für das handwerkliche Können in seiner Ausdehnung auf dessen organisatorisches Umfeld aus. Die erzielten Ergebnisse sind für ihn Indikator für die Einstufung seines Unternehmens gegenüber der regionalen Konkurrenz: „Wo lieg ich am Markt. Wie lieg ich preislich, vor allem qualitativ, ich laß mich gerne von einem Architekten (...) überprüfen. Paßt die Qualität.“20 Der Architekt kann die Rolle des Qualitätsprüfers nur einnehmen, die Zusammenarbeit mit ihm nur Prüfstein werden, wenn auch die Rahmenbedingungen und Anforderungen von diesem definiert werden, innerhalb derer Qualität zu realisieren ist. Diese Rahmenbedingungen sind demnach architektonische. Gerade in ihrer Fremdheit innerhalb des handwerklichen Feldes, auf dem sie zu realisieren sind, liegt die Herausforderung, einerseits an die Kompetenz des Handwerkers in der Detailplanung, andererseits an seine Materialbeherrschung in der Ausführung. Das gleichermaßen architektonische wie handwerkliche Kunststück am Kindergartenbau in Langenegg, daß die in engem Horizontalraster ausgeführte Lattenverkleidung der Fassade an der Stelle, wo sie, in die Eingangshalle hineingezogen, „wie selbstverständlich“ die in die Wand eingelassenen Holztritte der nach oben führenden Freitreppe aufnehmen, der Fassadenraster also gleichzeitig zum Stufenraster wird, ist ein solcher „architektonischer“ Rahmen, ein totales Formkonzept als „höheres System“, dem sich alle Teile des Bauwerks unterzuordnen haben, ein System, das Rohbau und Ausbau ebenso wie Außenfassade und Innenwand, Baukörper und Raum, als untrennbares Ganzes darstellt. In seiner Rekapitulation des komplexen Planungsablaufs für den Kindergartenbau illustriert Dragaschnig gleichzeitig seine Feststellung von Architektur als „Mehraufwand“ gegenüber handwerklich bestimmtem Bauen. Die Detailplanung war da eine ganz interessante Geschichte. Grundsätzlich hat den Detailplan der [Architekt] gemacht. Aber das ist dann so gelaufen, daß es Besprechungen gegeben hat, wo das Schema Polierplan da war, der [Mitarbeiter Dragaschnigs] dazu, und der Zimmermann. Und dann hat man das Ganze überarbeitet, diese Pläne, und nach denen wurde dann gebaut. Also, die Detailpläne wurden nocheinmal mit dem Know-how von uns, mit dem Zimmermann zusammen überarbeitet. Und das hat man dann ’baut.21

Um den Architektenentwurf baubar zu machen, geht der Ausführung eine doppelte Planung voraus, werden die Architektenpläne, mit dem Know-how des Zimmermanns angereichert, bei Dragaschnig nochmals gezeichnet.22 und weiterhin unterscheidbar, zu einer Zweckgemeinschaft neu verwoben: „Die Zunft der Zimmerleute gehört zu den ältesten und bedeutendsten Zünften. Die einzelnen Meister (...) waren nicht nur die ausführenden Handwerker, sondern auch die entwerfenden Planer und Baumeister. (...) In der Auer Zunft waren ursprünglich Maurer und Zimmerleute, später auch Steinmetze organisiert.“ Sagmeister (1990), S. 7

14 15 16 17 18 19 20 21

BD: Z BD: Z Ebd. Ebd. BD: Z BD: Z BD: Z BD: Z

844 ff 826 ff

831 844 712 254

ff ff ff ff

Architektur als Prüfstein für Ausführungskompetenz

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Daß in diesem intensiven Verschränkungsvorgang von architektonischer und handwerklicher Planung Architektur an eine primäre, Handwerk und Materialgerechtigkeit an eine sekundäre Hierarchieposition gesetzt bleibt, wird gerade im Holzbau deutlich, der in den Materialeigenschaften des Holzes ein „System“ mit mindestens ebenso komplexen Bedingungen zu beachten hat, wie es das formale System der Architektur zu schaffen imstande ist. Die „Harakirigschicht“23 der Gehrungskante, mit der die Bretter des horizontalen Innenwandtäfers aus massiven Weißtannebrettern, architektonisch als ebenso dimensions- wie eigenschaftslose Oberfläche dargestellt24, am Langenegger Kindergartenbau „um die Ecke laufen“, ist nur ein Beispiel von unzähligen in der zeitgenössischen Vorarlberger Holzbauarchitektur, die diese Dominanz von Architektur über die handwerklich „vernünftige“ und gemäß den Holzeigenschaften „richtige“ Lösung veranschaulicht25, die zugrun22 Der Einbezug des Zimmermanns und seiner Kompetenz in die Architektenplanung dient gleichzeitig dazu, „Handwerklichkeit“ als architektonisches Stilmittel nutzen zu können. 23 BD: Z 446 24 Ein vergleichbarer Fall für einen solchen Konflikt konkurrierender „Systeme“ ist gelegentlich dort zu beobachten, wo eine Schindelfassade ohne Beachtung traditionellen Verarbeitungswissens in einen architektonischen Kontext gesetzt ist. An Bauernhäusern überdauern Schindelfassaden mehr als ein Jahrhundert (BD: Z 1184 ff), sofern der Zusammenhang zwischen Wetterseite, Orientierung der Häuser und dem Fassadenmaterial beachtet ist. Die Schindeln als aufwendigstes und repräsentativstes Material erhalten im traditionellen Bauen die am besten geschützte Hausseite. Am architektonisch aufgefaßten Baukörper umkleidet die „Oberfläche“ diesen allseitig, was die Schindelfassade nicht zu leisten imstande ist, sodaß sie, sofern nicht durch ein Vordach geschützt, an der Nord- oder Wetterseite alsbald faulig zu werden droht. 25 Wolfgang Schmidinger beschreibt im Gespräch den Bau seines eigenen Hauses als Zeitpunkt, zu dem der Zimmermann sich von den bewährten Konstruktionen („Bugung“: WS 1: Z 1417 auch „Strickhüsle“: a.a.O., Z 1530 ff) bereits entfernt hat, auf dem neuen, theoriegestützten Feld („Holzbaukunstbücher“, a.a.O. Z 1419), der „Skelettbauweise“ ( a.a.O., Z 1413) jedoch noch keine Sicherheit gewonnen hat. Der Architekt ist der Impulsgeber, der den Handwerker veranlaßt, sich dem Programm „ab heute wird anders gebaut“ (a.a.O., Z 1496) anzuschließen. Radikalität und Provokation kennzeichnen die Haltung des Architekten. Schmidinger stellt diesen Wendepunkt in den Rahmen eines Generationswechsels unter den Betriebsinhabern der regionalen Zimmereien. Die Folge ist eine Spaltung der Handwerkerschaft in Konserva-

tive, „die dem Anerlernten treu bleibt“ (a.a.O., Z 1559), und Experimentierfreudige: „Ich hab auch noch nicht die Erfahrung, daß es nicht geht.“ (a.a.O., Z 1569) Vgl. auch Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus, Anm. 58 26 „Trotzdem war die Tatsache, daß sich auf einer alten handwerklichen Tradition eine innovative Holzindustrie entwickelt hatte, keine schlechte Voraussetzung für eine neue, von diesem Materialbereich geprägte Baukultur. Noch dazu kamen einige Architekten direkt aus dem Umfeld dieses Baugewerbes oder waren sogar selbst ausgebildete Zimmerleute. Man muß aber vor dem einfachen Schluß warnen, daß diese produktionstechnische Gelegenheit automatisch für eine architektonische Kultur fördern sein muß. Analog würde dies bedeuten, daß die Vorarlberger Textilindustrie selbstverständlich einen hohen Standard des Landes im Modedesign bringen müßte. Abgesehen davon gibt es genug Regionen in Österreich, die ebenfalls seit Jahrhunderten mit der Holzverarbeitung leben und keine regionale Architektur hervorgebracht haben. Ja, es ist gerade umgekehrt: Lange ansässige Produktionsbereiche neigen durch die Tradierung zur Verkrustung und Erstarrung. Man könnte im Hinblick auf das Phänomen dieser ersten Entwicklung augenzwinkernd behaupten: Obwohl es in Vorarlberg eine ausentwickelte Holzbauindustrie gegeben hat, ist eine lebendige Architektur entstanden.“ Achleitner (1993), S. 110 Ähnlich äußert sich Sigfried Giedion zum Verhältnis von Handwerk, Architektur und Kultur: „Aber Länder mit großen Holzbeständen gibt es viele, ohne daß daraus ein neuer künstlerischer Antrieb erwächst. Dafür bedarf es eines besonderen Impetus, der nicht aus dem Boden allein kommen kann. Der Mann, der in Finnland neues Leben in eine alte, primitive Tradition zu bringen verstand, war der Architekt Alvar Aalto.“ Giedion (1948), S. 549

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deliegende gesellschaftliche Hierarchie ebenso wie die bleibende Differenz zwischen Architektur und Handwerk.26 Einen Effekt dieser Differenz sieht Dragaschnig, selbst ausgebildeter Zimmermann, vor allem im Prestigegewinn der Vorarlberger Zimmereien, den diese aus der Chance beziehen, im eigenen Land in großem Umfang Architektur zu realisieren. Aus Vergleichen mit den ebenfalls holzreichen Nachbarregionen, einerseits dem Bundesland Tirol, andererseits dem Allgäu jenseits der Grenze zu Deutschland, beschreibt er den Vorarlberger Holzbau als Sondersituation: „Eigentlich müßte man für Vorarlberg eine eigene Holzbauzeitschrift machen.“27 Vor allem „wenn wir über den Arlberg rüberfahren“28, nach Tirol, dessen Holzbaubetrieben er gleichrangige technische Kompetenz bescheinigt, gehe „der Holzbau in der Hochwertigkeit ganz massiv nach unten.“29 Seine Präzisierung „von der architektonischen Hochwertigkeit“30 erhebt Architektur an dieser Grenze zum vorrangigen Unterscheidungsmerkmal, während er gegenüber den deutschen Zimmereien zusätzlich ein technisches Kompetenzgefälle sieht, das sich bereits „im Vorbeifahren“ an der Bauweise der Betriebsgebäude zeige, „wie diese Konstruktionen, allein schon, wie diese Lager ausschauen, die die haben, wie bei uns vor fünfzehn, zwanzig Jahren“.31 Mit der Gestaltung der Betriebsgebäude32 identifiziert Dragaschnig einen prägnanten Indikator für die spezifische Modernisierung des Vorarlberger Holzbaus. Architektur, obwohl durch die in den Forschungsgesprächen befragten Handwerker als vom Handwerk getrennte Sphäre gekennzeichnet, konnte in ebendiesen „fünfzehn, zwanzig Jahren“33 zum repräsentativen Ausdruck des regionalen Holzhandwerks werden, ein Vorgang, der die eigene, die handwerkliche Repräsentationssprache, und mit ihr die „Sprachkompetenz“ der Handwerker, verdrängt hat. Handwerklichkeit ist in diesem Vorgang zum architektonischen Stilmittel mutiert. Die bauliche Repräsentation der Vorarlberger Holzbaubetriebe unterliegt seither den wechselnden Moden Zeitgenössischer Architektur. Für die unmittelbare Zukunft warnt Dragaschnig vor negativen Folgen dieser Fremdbestimmung, der sich das Holzhandwerk mit seiner Kopplung an die Architektur unterworfen hat: Wobei wir da schon aufpassen müssen, das geht in Richtung an Dich, oder an Euch, als Techniker, das ist schon eine Herausforderung an das Detail, das zu lösen und umzusetzen, oder, das zu konstruieren, weil wir schon vielfach am Rande des Machbaren sind. Muß man aufpassen. Daß wir dort nicht, uns da nicht irgendwann im Holzbau ein Eigentor schießen.34 27 28 29 30 31 32 der

BD: Z 461 ff Ebd. Ebd. Ebd. BD: Z 492 ff Hans Purin und auch Rudolf Wäger weisen wieund wieder auf die Zeit vor dem Architekturboom

hin, als selbst die Zimmerer ihre eigenen Betriebsgebäude in Massivbauweise errichteten. Aus der Sicht des Architekten stellt sich die Veränderung seither als Bestätigung der Annahme dar, daß das Handwerk erst durch Architektur zu sich findet. Vgl. dazu Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg, Anm. 63 33 Wie Anm. 31

Prestigegewinn der Vorarlberger Zimmereien

Architektur repräsentiert Handwerk

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„Rand des Machbaren“

Sein Appell an den Architekten als „Techniker“ impliziert gleichzeitig eine Warnung vor dem Architekten als Formalisten. Die Mißachtung der Materialeigenschaften im architektendominierten Holzbau, dessen Schadensfolgen am betrachteten Kindergartenbau noch geringfügig und als „Revisionsteile“35 und notwendiger Nachbesserungsbedarf vom Bauherrn toleriert sind, droht, bei weiterer Ablösung der architektonischen Formensprache von den Materialeigenschaften des Holzes, eine Verselbständigung, die immer korreliert mit abnehmendem Konstruktionsverständnis der Architekten36, sich als Vertrauensverlust und damit als wirtschaftlicher Einbruch des Vorarlberger Holzbaus auszuwirken.

Handwerk ist nicht Architektur

Indem Architektur Handwerk repräsentiert und als Moderne Architektur gleichzeitig diejenige historisch gewachsene Dualität des Bauens abgestreift hat, die zwischen Rohbau und Kunstbau unterschieden und den Bau in genau abgrenzbare, dem Architekten oder dem Handwerker zugeordnete Sphären gegliedert hatte, greift sie mit dem Rohbau37 und ihrem Anspruch, diesen neu zu ordnen, um ihn in dieser Ordnung selbst zum Kunstbau zu erheben, auf die zentrale Kompetenz des Handwerks zu. Ernst Wirthensohn hat diese Kompetenz im Gespräch beschrieben und in Abgrenzung von Architektur deutlich gemacht, was, in seiner Perspektive des dörflichen Architekturförderers, Handwerk „ist“. Der Zimmermann fühlt sich als Experte am Bau. Und der hat das gelernt als Lehrling, und hat so seine Bauten vor sich, und denkt sich halt ja so, werd ich, könnt man es machen.38

Prinzip des Vorbilds – Prinzip des Machens

Wirthensohns Äußerung beantwortet eine Frage nach den „Vorbildern“ des Zimmermanns, einem Stichwort, das sich durch Wirthensohns Beschreibung selbst als „Architektenkonzept“ des Fragestellers entpuppt, nämlich als Wahrnehmungssystem mittels eines Referenzprinzips, innerhalb dessen ein Gebäude auf das andere verweist, was zusammengenommen ein Netz von Bezügen ergibt, das die innerfachliche Kommunikation und Rangordnung der Architekten bestimmt. Wirthensohn macht deutlich, daß es für dieses Referenzprinzip, das ein ästhetisches ist, beim Zimmermann keine Entsprechung gibt. Nicht ein Bildgedächtnis, wie beim Architekten, stehe im Vordergrund des Bewußtseins, der Zimmermann treffe seine Entscheidungen pragmatisch, aus der Logik der Baustelle heraus. Als Referenzen habe er zwar seine eigenen Bauten parat, diese jedoch in Gestalt von Bauerfahrung und das heißt, nicht ästhetisch, als Bild, sondern als Wissen um Material, dessen Eigenschaften und Leistungsfähigkeit. Zu diesem Wissen gehört in histori34 BD: 467 ff 35 BD: Z 254 36 Vgl. die Feststellungen zum Wandel in der Beziehung zum Handwerk und damit verbunden, im Kompetenzprofil des Architekten, der die zweite von der ersten Vorarlberger Baukünstlergeneration unter-

scheidet im Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg. Vgl. auch Kapfinger (2001) 37 Zum „Rohbauargument“ vgl. Hüter (1981), S. 134, und Abschnitt Möbel und Raum, Kapitel Handwerk 38 EW 1: Z 582 ff

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scher Perspektive bereits die Gewinnung des Materials39, heute noch seine Wahl, seine Behandlung und Verwendung in der Konstruktion und Ausstattung des Bauwerks. Diesen unterschiedlichen Wissensarten, die Wirthensohn uns in seiner Gegenüberstellung von Architekt und Zimmermann vor Augen führt, sind ebenso unterschiedliche Inhalte des Begriffs „Tradition“ zugeordnet. Die die Architektenwahrnehmung spiegelnde Frage, ob das Handwerk eine traditionelle Form konserviere, beantwortet Wirthensohn mit der Feststellung, der Handwerker entscheide danach, „wie man es immer gemacht hat“.40 Der Vorstellung von Tradition als typologisch-formalem Konzept stellt Wirthensohn damit ein Prinzip gegenüber, das mit einem bildgestützten Traditionsverständnis inkompatibel ist: das Prinzip des Machens. Die Gesetzmäßigkeit des Herstellens ist primär prozeßhaft und erst sekundär ergebnisorientiert. Nicht die zu erreichende Form, gar einer typologisch gebundenen Form, sondern die Art und Weise, Materialien zu bearbeiten, sie zusammenzufügen und Schutzmaßnahmen zugunsten ihrer Dauerhaftigkeit zu schaffen, ist der rote Faden, der, Wirthensohn folgend, den Zimmermann in seinen Entscheidungen leitet. „Tradition“ bezieht sich in dessen Wissenssystem nicht auf Form, sondern auf bewährte Verarbeitungsweisen.41 Zwangsläufig erzeugt ein solches materialgestütztes Verarbeitungswissen andere Strategien und Ergebnisse als das Bildwissen des Architekten. Wirthensohn vergleicht im Gespräch den Umbau des Schulhauses in Thal, wie er bereits von einem Bautrupp örtlicher Handwerker in Angriff genommen worden war42, mit demjenigen Prozeß und seinem Ergebnis, der durch die nachträgliche Einsetzung eines Architekten schließlich zustande gekommen ist. Erstere Verfahrensweise zeichnet sich durch enge Bindung an das Vorhandene aus. Die Bausubstanz wird repariert, verbessert und verschönert. Demgegenüber ist die Herangehensweise des Architekten durch eine Loslösung vom Bestand und dessen Wahrnehmung als „Zwangsjacke“ gekennzeichnet. Ein Überspringen dieser unmittelbaren Zwänge erfordert einen Blick, den die Abstraktion der Aufgabe im Zwischenschritt des Entwurfs hervorbringt. Das trainierte Bildgedächtnis des Architekten setzt darüber hinaus das Objekt zum Archiv der kanonischen Werke 43 in Bezug. 39 „Zu den Aufgaben der Zimmerleute gehörte früher auch das Schlagen des Holzes im Wald...“ Sagmeister (1990), S. 15 40 EW 1: Z 589 ff 41 Schmidinger stellt dieses „traditionelle“ Verarbeitungswissen im Gespräch als permanent in Optimierung befindliches Wissenskonvolut dar. Als Handwerker distanziert sich Schmidinger vor allem von der Grobschlächtigkeit, in der Bauern mit Holz umgehen: Fehlende Holztrocknung, fehlender Zuschnitt, fehlende Gliederung in Friese, Überlap-

pung der Bretter kennzeichneten deren unfachmännische Holzverarbeitung und führten zu geringer Lebensdauer holzverkleideter Scheunenfassaden. Parallel zur Renaissance des „traditionellen“ Holzeinsatzes im Kontext Zeitgenössischer Architektur ist im Forschungsfeld also eine wiedergewonnene Kompetenz der qualitätvollen, weil materialgerechten Verarbeitung (Trocknung, Sortierung, Zuschnitt, konstruktiver Holzschutz) zu beobachten, die die junge Handwerkergeneration für sich in Anspruch nimmt. (WS 1: Z 647 ff)

Traditionskonzepte

Bildverhaftung gegenüber Werkstattverbundenheit

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Wenn Wirthensohn im Fall des Bauauftrages für ein Wohnhaus auch beim Zimmermann voraussetzt, daß dieser „ein bißchen“ plane, so ist diese Planung doch nicht auf skulpturale Aspekte des Bauwerks und der Referenzialität von dessen Gestalt gerichtet, sondern geschieht im Hinblick auf sein Gemachtwerden. „Machen“ ist Wirthensohns entscheidender Begriff. Den abstrakten Formgesetzen und Referenzbezügen, die das Handeln des Architekten bestimmen, stellt er in seiner Charakterisierung des Zimmermanns die Gesetze des Herstellens und der Materialbehandlung entgegen. Atelier steht gegen Werkstatt. Bild gegen Bau.44 Innenansichten außerarchitektonischer Zugänge zum Bauen

Unter den Gesprächspartnern, die für die vorliegende Arbeit gewonnen werden konnten, bieten vor allem Bertram Dragaschnig, Wolfgang Schmidinger und Norbert Mittersteiner Innenansichten außerarchitektonischer Zugänge zur Baupraxis. Dies erlaubt, im Folgenden einige Eigengesetzlichkeiten aufzuführen, die dem handwerklichen Bauen und dem Selbstbau eigen sind. Beide Sphären erlauben Rückschlüsse auf Architektur. Das war so, daß das Haus am vorderen Eck, da vorne, um einen halben Meter konisch, hinten schmäler wie vorne, und das vordere Eck war dreißig Zentimeter auf dem Nachbargrund. Das hat mein Vater in einem halben Tag alleine hinübergeschoben. Am Morgen begonnen und am Mittag wars Haus drüben. (...) Mit Steher, zum Aufdrehen, und mit drei so Eisenrohren. So langen. (...) Da haben wir die Decke betoniert, die Decke, die jetzige Betondecke, so wie sie laut Plan hingehört. Und dann wars Haus dreißig Zentimeter verschoben. Dann haben wir das Haus abgelassen, auf Rollen gestellt und hinübergeschoben.45

Die Szene, welche Bertram Dragaschnig uns hier vor Augen stellt, ist Bestandteil der Revitalisierung eines vom Verfall bedrohten, denkmalgeschütz42 „Da war schon das Material bestellt, zum Teil.“ (EW 1: Z 563 ff) 43 Vgl. Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 64 44 Indem die vorliegende Arbeit mit dem zeitgenössischen Architekturbegriff gleichzeitig dessen regionale Entwicklung über mehrere Generationen von Baukünstlern ins Auge faßt, kann festgestellt werden, daß seit Einführung des Computers als Entwurfswerkzeug, dem auf Produktionsseite computergesteuerte Fräsmaschinen u.ä. gegenüberstehen, ein Technologiesprung, der auf Mitte der 1990er Jahre zu datieren ist, die Bildhaftigkeit Zeitgenössischer Architektur sprunghaft ansteigt. Der Grad der Werkstattverbundenheit ihrer Protagonisten sinkt im gleichen Maß wie die Anschaulichkeit der Konstruktionen. Für Vorarlberg beschreiben Anton Kaufmann und Hermann Kaufmann diese Entwicklung; in: Zschokke (2001) Wie „Werkstattverbundenheit“ noch für jene „baumeisterliche“ Architektengeneration in Erscheinung getreten ist, die in Vorarlberg Hans Purin und seine Altersgenossen repräsentieren, identifiziert der Augsburger Schlossermeister Albert Pfiffner im

Habitus des Architekten Thomas Wechs. Dieser habe sich vor Beginn von Handwerkerbesprechungen regelmäßig einen Stuhl mitten in die Werkstatt stellen lassen, sich dort niedergelassen und für eine halbe Stunde jegliche Störung verbeten. Erst nach dieser rituell wiederkehrenden Meditation, der intensiven Versenkung in die Betrachtung der Werkstattarbeit, sei er zur Besprechung seiner Entwürfe mit dem Schlosser bereit gewesen. Gunter Wratzfeld, wie Purin Vertreter der ersten Vorarlberger Nachkriegs- Architektengeneration, legt im Gespräch ausdrücklich Wert auf die Kenntnisnahme seiner handwerklichen Vorbildung „als Maurer und als Zimmerer“. (GW: Z 95 ff). Währenddessen ist für Gerhard Gruber als Vertreter der „dritten“ Generation der Umstand, daß es „in Vorarlberg einige Architekten [gebe], die kein Architekturstudium abgeschlossen, [sondern] vielleicht eine Zimmermannsausbildung haben“ (GG: Z 559 ff), vor allem als Bestandteil des regionalen Geschichtsbildes, mit dem der Berufsstand seine „breite“ gesellschaftliche Verankerung begründet und als Selbstverständnis pflegt, von Relevanz. 45 BD: Z 1288 ff

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ten Strickhauses, des ehemaligen Mesnerhauses am Dorfplatz der Vorderwälder Gemeinde Lingenau.46 Dragaschnig hat das Haus in ruinösem Zustand gekauft und seine Sanierung als Bauunternehmer selbst geplant und durchgeführt. Die gewerbliche Neuwidmung als Optikerladen mit darüberliegender Augenarztordination, für deren Vermietung er in weitem Umkreis potentielle Interessenten kontaktierte, darf unter dem Gesichtspunkt einer Neuschaffung hochwertiger regionaler Nahversorgungsstrukturen als vorbildlich gelten. Um zeitgemäße, ebenerdig zum Dorfplatz liegende Ladenräume anbieten zu können, ersetzte Dragaschnig den ursprünglichen, gemauerten Keller mit seinen niedrigen Lagerräumen durch ein neues Untergeschoß. Dessen weitgespannte Stahlbetondecke erlaubt nun, die Geschäftsfläche, die wegen des Hanggrundstücks platzseitig ebenerdig erschlossen werden kann, großzügig zum Dorfplatz zu öffnen. Zum anschaulichen Beispiel eines handwerklichen Zugangs zum Bauen wird das Projekt durch seinen Umgang mit dem historischen Holzbau. Ein Konzept, wie dasjenige Dragaschnigs setzt eine selbstverständliche Vertrautheit mit der traditionellen Konstruktion voraus, die erst erlaubt, das Risiko seiner Durchführung kalkulierbar zu machen. Ein Haus aufzubocken, bis das neue Untergeschoß betoniert ist, es daraufhin auf der neuen Betondecke zu verschieben, um die historische Überschreitung der Grundstücksgrenze zu korrigieren, setzt eine planerische Herangehensweise voraus, deren Wissensfundament auf praktizierter Eigenhändigkeit beruht. In der Lässigkeit, mit der Dragaschnigs Vater schließlich als Einzelner und ohne Zuhilfenahme von Maschinenkraft das Haus bewegt, offenbart dieses Wissensfundament sein souveränes Potential. Es ist kein Bildgedächtnis, das im Hintergrund eines solchen Wissens steht, sondern ein Gedächtnis an Prozesse eigenen Tuns, an Interaktionen von Hand und Material47, sowie die Einbettung des eigenhändig Handelnden in ein soziales Milieu, das kollektive Erfahrung präsent hält. Die Teilnahme an Situationen gemeinsamer Arbeit, etwa, wenn ein gestricktes Bauernhaus, je nach zu überwindender Strecke zerlegt oder unzerlegt, innerhalb des Dorfes verschoben oder transportiert wird48, mag ebenso Grundlagen hierfür schaffen wie die Präsenz traditioneller Gebäudetypen im eigenen Lebensumfeld. In ein solches bäuerlich-handwerkliches Erfahrungs- und Wertemilieu stellt das Kaufmann Holzbauwerk in den 1980er Jahren seine zeitgemäße Weiterentwicklung des gestrickten Bauernhauses, das „Strickhüsle“. Es ist ein 46 Von einer funktionellen Erweiterung der traditionellen Fensterkonstruktion an diesem Haus, die ihren Ausgangspunkt in der handwerklichen Vertrautheit mit der traditionellen Konstruktion nimmt, wird im Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus die Rede sein. 47 Vgl. Perger, zit. in Abschnitt Holz als Werkstoff, Kapitel Handwerk, Anm. 25

48 Im Bregenzerwald sind Verschiebungen von Bauernhäusern in Erzählungen präsent. Die Dokumentation bäuerlicher Hauslandschaften aus der benachbarten Schweiz gibt Auskunft über ihre Wurzeln in ländlichen Rechtsordnungen, die das Haus der „Fahrhabe“ zuordneten. Hermann, S. 74

Eigenhändigkeit

Soziales Milieu kollektiven Erfahrungswissens

Industrialisierung des Handwerks, Industrialisierung des Bauens

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Reform des Handwerks durch seine Industrialisierung

Wettbewerbsvorteile des Vorarlberger Holzbaus

Das Kaufmann Holzbauwerk als regionales Kompetenzzentrum

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Fertighaus, das auf dem Sektor der Einfamilienhäuser als hölzernes Konkurrenzprodukt gegen die Dominanz der gemauerten „Baumeisterhäuser“50 antritt, die in dem sozialen Wandel, der den ländlichen Raum in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs prägt, die ursprünglich fast ausschließlich auf Holz beruhende ländliche Baukultur des Bregenzerwaldes zu verdrängen droht.51 Bemerkenswert erscheint das Strickhüsle nicht nur als Indikator sozialer Befindlichkeiten, als Haustyp, der dem Umstand Rechnung trägt, daß seine ländlichen Bewohner nun zwar außeragrarischen Berufen nachgehen, jedoch nach wie vor die Vertrautheit der typologisch gebundene Raumstruktur des Bauernhauses zur eigenen Beheimatung und seine baulichen Attribute zur Repräsentation suchen.52 Neben diesen sozialen Aspekten des Wohnens, Thema der folgenden Kapitel, richtet der Kontext Modernisierung des Holzbaus unser Interesse auf das Strickhüsle als Manifestation industrieller technologischer Entwicklungen innerhalb des Handwerks. Diese modernisieren die Arbeitsweise des Handwerkers gegenüber seiner „händischen“ Tradition, indem sie ihn an Maschinen und mit diesen an Industriekomponenten bindet. Daneben erlauben sie, dem Holz durch industrielle Verfahren kontrollierbare Qualitäten und technische Möglichkeiten abzugewinnen, die bisher anderen Baustoffen vorbehalten waren53, und so dem Holzbau im Wettbewerb der materialgebundenen Sparten der Bauwirtschaft, gegenüber Massivbau und Stahlbau, Vorteile verschaffen.54 Im Prozeß des Wissenstransfers aus dem Industriebetrieb Kaufmann Holzbauwerk in die regionalen Zimmereien, der diejenige Modernisierung des Zimmererhandwerks trägt, die, in Abgrenzung von ihrer händischen Tradition als seine „Mechanisierung“ bezeichnet werden könnte, nimmt das Holzbauwerk die Rolle eines regionalen Kompetenz- und Fortbildungszentrums ein. Bertram Dragaschnig illustriert diese Rolle durch seine Feststellung, daß die späteren Geschäftsführer der führenden Bregenzerwälder Zimmereibetriebe über wenigstens zwei Generationen ihren Berufsstart im Holzbauwerk genommen haben. 49 In Regionen mit Getreideanbau sind dies etwa Kornkästen, die zum Schutz vor Mäusen luftig auf Stützen und auskragende Steinplatten gestellt, in ihrer funktionsgebundenen Leistungsform das Potential der Strickbaukonstruktion demonstrieren, ohne innige Grundberührung dauerhaft standfest zu sein. 50 „Das Holzhaus und nach wie vor das Baumeisterhaus, das waren eigentlich so die Alternativen, die es gab.“ (WS 1: Z 408 ff) Die Alternative, die Schmidinger hier vorstellt, ist eine Konstruktions- und Materialalternative, nicht etwa eine Formalternative: Holz oder Ziegel. Nicht das Ungewisse liegt vor dem Häuslebauer, wenn er sich ans Werk macht, sondern das eine oder das andere steht

zur Wahl, beide Alternativen existieren als Typus, für beides gibt es einen Ansprechpartner im unmittelbaren sozialen Umfeld: den Zimmermann oder den Baumeister. 51 „Die ersten gemauerten Häuser bei uns sind erst nach dem Krieg gebaut worden. Es gibt [davor lediglich] die Kirche und es gibt die Kapelle, gemauert.“ (EW 1: Z 261 ff) Wirthensohns Hinweis auf die Zeitgebundenheit von Konstruktion und Baumaterial ist vor allem im Hinblick auf die „Allgäuerhäuser“ in Langenegg bedeutsam: Die Tradition des ausschließlichen Holzbaus endet mit dem Zweiten Weltkrieg. Mit ihm beginnt die „Ära“ des gemauerten Hauses.

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Das ausschlaggebende, daß der Vorarlberger Holzbau soweit ist, regional der Bregenzerwald sich vom Holzbau so abhebt, wurde der Grundstein vor vielen Jahren gelegt durch den Josef Kaufmann, den Gründer vom Holzbauwerk Kaufmann. Weil, gehen wir es einmal durch, Sohm Thomas, Berlinger, und eine Generation vorher Forcher, Zimmermeister, die sind alle aus dem seinen Betrieb, Holzbauwerk Kaufmann heraus entstanden. (...) Das war wirklich, eine Denk-, eine Denkzentrale da drin, für Holzbau.55

Im Hinblick auf die Frage, was Handwerk gegenwärtig „ist“, fällt auf, daß ein solcher Kompetenztransfer nicht nur die mechanisierte Fertigungsweise und die Verwendung industrieller hergestellter Holzbauteile, etwa Leimbinder, sondern auch Konzeptmerkmale industrieller Planung, insbesondere ihre Produktfixierung, auf das Zimmererhandwerk und sein modernisiertes Selbstverständnis überträgt. Wolfgang Schmidinger hat im Gespräch darauf hingewiesen, daß jedenfalls Sohm bereits im Holzbauwerk die Produktion des „Strickhüsle“ geleitet hatte.56 Sowohl Sohm als auch Berlinger bieten nun Systemhäuser aus eigener Produktion und liefern damit ein Beispiel für die aktuelle Verwischung der Unterscheidbarkeit von Industrie- und Handwerksbetrieb im modernisierten Holzbau. Die EU-Bürokratie leistet mit ihrem Begriff „Small and Mediumsized Enterprises“ (SMEs), der Handwerks- ebenso wie Industriebetriebe bezeichnet, dieser Entwicklung Vorschub, indem sie den Begriff „Handwerk“ für die europäische Wirtschaftsrealität faktisch abgeschafft hat.57

Aufhebung der Unterscheidung von Industrie- und Handwerksbetrieb

Wir haben bis hierher versucht, Handwerk durch seine Produktionsweise zu beschreiben, und festgestellt, daß ebendiese im Zuge eines Mechanisierungsprozesses, für den wiederum der „moderne“ zivilisatorische58 Fortschritt

Handwerkliche Form?

52 Vgl. Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus 53 Innerhalb der Forschungsgespräche bestätigt Peter Greußing die Expansion des Vorarlberger Holzbaus auf bisher anderen Sparten vorbehaltene Gebäudetypen, insbesondere den Hallenbau (PG: Z 625 ff). Diesem typologischen Sprung folge derzeit ein weiterer, in den mehrgeschossigen Wohn- und Verwaltungsbau (ebd.). Mit Blick auf das Kaufmann Holzbauwerk stellt Gunter Wratzfeld im Gespräch die Vorarlberger Holzbaukompetenz als ununterbrochene Kontinuität dar (GW: Z 570 ff). Seine Einschätzung zu einem funktionierenden Zimmermannshandwerk scheint im Widerspruch zur Einschätzung Hans Purins zu stehen, der das „Verschwinden“ des traditionellen Zimmermannshandwerks in der fraglichen Zeit betont. Beiden Beurteilungen liegen unterschiedliche Interessenslagen zugrunde: Purin betrachtet eher die traditionell handwerklichen, Wratzfeld eher die industriell gestützten Qualitäten, so die Vorfertigung und den Montagebau. Die Hinweise, die die Forschungsgespräche der vorliegenden Arbeit auf das Kaufmann Holzbauwerk und seine Rolle als Modernisierungsmotor des regio-

nalen Holzbaus in technischer und, mit Blick auf das erfolgreiche „Strickhüsle“, auch in sozialer Hinsicht geben, stehen im Gegensatz zum offiziellen Geschichtsbild der Vorarlberger Architektenschaft. Dieses schreibt ebendiese Reform dem Wirken der Architekten zu: „Ein Niedergang des Handwerks habe in den 1960er Jahren stattgefunden, da seien die Zimmerer aufs Aufstellen von Dachsparren beschränkt gewesen, es gab eine gewisse Abwehr gegen das Bregenzerwälderhaus – „das ewige Knarren“ –, man habe im Massivbau fast Gegenposition beziehen wollen. Der Wendepunkt sei mit den Pionieren der Vorarlberger Bauschule...“ Kaiser, S. 10 54 PG: Z 625 ff Dragaschnig weist am Kindergartenbau für Langenegg darüber hinaus darauf hin, daß der Vorarlberger Kompetenzvorsprung innerhalb des internationalen Holzbaugewerbes mittlerweile so groß sei, daß EU-weite Ausschreibungen zur Ausführung kommunaler Holzbauten ländlicher Gemeinden wegen ihrer hoch gesteckten Ausführungsanforderungen ausländische Konkurrenz von der Angebotsabgabe ab- und damit aus der Region fernhalte. Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau dieses Kapitels, Anm. 38

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den Rahmen bildet, zunehmend industrieller geworden ist. Das Strickhüsle bietet uns nun die Möglichkeit, nach der Beziehung zwischen Handwerk und Form zu fragen und damit in einer Unterscheidung von handwerklicher zu architektonischer Form nach der Unterscheidung von Handwerk und Architektur. Die Industriehaftigkeit seiner Produktionsweise, die das Kaufmann Holzbauwerk kennzeichnet, hat mit dem Strickhüsle ein Produkt erzeugt, das seine Identität nicht nur in der Fertigungsweise „das waren einfach schon verleimte Dielen, verleimte Blöcke, komplett gehobelt, (...) also Maschinenstrick“59 und dem Dienstleistungsangebot des erzeugenden Betriebes, sondern auch in Gestaltmerkmalen besitzt. Dabei handelt es sich beim Strickhüsle nicht um einen fixierten Bautyp, sondern um ein System, das im Rahmen der Produktionsmöglichkeiten Spielraum für Varianten „nach Wunsch und Größe“60 des Kundenbedarfs bietet. Indem gerade im modernisierten Zimmererhandwerk die Unterschiede zwischen Industrie- und Handwerksbetrieb verschwimmen, erscheint es zulässig, einige spezifische Merkmale handwerklicher Form an dem Industrieprodukt Strickhüsle61 herauszuarbeiten. Wolfgang Schmidinger hat dieses aus der Sicht des Handwerkers beschrieben, um dem Auftritt der „Architektenhäuser“ im Bregenzerwald, als Überwindung einer „Stagnation“ interpretiert, gerade vor dem Hintergrund von Strickhüsle und Baumeisterhaus erzählerisches Profil zu verleihen.62 Baukörper und Fassadenphysiognomie des Strickhüsle zeichnet sich Schmidinger zufolge gerade durch fehlende Originalität aus und darin, daß es den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit folgt: Übliche Fensterteilungen, Balkontüre, irgendwo so eine Loggia, oder so einen Balkonteil, ziemlich wuchtige Dächer, also, wie man einfach sich ein Haus (...) vorstellt, noch vor Jahren. Wenn man zu Euch hinausfährt, in Lindau über die Grenze geht, noch mehr sieht. (...) Wenn Du eines kennst, dann kennst Du alle.63

Das Hauptmerkmal der Wand- und Deckenoberflächen seiner Räume, das gehobelte Konstruktionsholz, prägt die Wohnatmosphäre wesentlich, ist jedoch als eine direkte Folge von Produktions- und Materialentscheidungen64

55 BD: Z 520 ff 56 WS 1: Z 362 ff 57 Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk, Anm. 12 58 Die Unterscheidung zwischen „Zivilisation“ und „Kultur“, wie Adolf Loos sie in seinen Schriften trifft und Stanislaus von Moos sie interpretiert hat, ist im Abschnitt Baukünstler des Kapitels Vorarlberg als Kennzeichen einer Wiener Position des architekturgeschichtlichen Blickwinkels dargestellt, den auch Friedrich Achleitner vertritt. Vgl. ebd., Anm. 22 ff 59 WS 1: Z 378 ff 60 WS 1: Z 384 61 Das Holz-Fertighaus des Kaufmann Holzbauwerks erscheint vor allem vor dem Vergleichshinter-

grund anderer industriell produzierter Typenhäuser „handwerklich“, da es in der industriellen Fertigung nicht nur eine ehemalige Handwerkstechnik und deren konkrete Anwendung übernimmt, systematisiert und verbilligt, sondern auch den regionalen typologischen Kontext aufrechterhält. Im Kontrast dazu basiert etwa das MAN-Profilblechhaus der unmittelbaren Nachkriegszeit, von dem in Augsburg noch einige wenige Exemplare existieren, auf der genuin industriellen Technologie der Eisenbahnwaggon-Fertigung, die mit dem Fertighaus lediglich „probeweise“ auf ein anderes Produkt übertragen worden ist. 62 Vgl. dazu auch Abschnitt Landhaus im Kapitel Haus

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und nicht, wie im architektonischen Entwurf, als Ergebnis einer ästhetischen Setzung einzustufen.65 Im Hintergrund steht statt dessen der betriebswirtschaftlich geleitete Entscheidungrahmen des Handwerkers, „alles aus einer Hand“66 anzubieten, im Sinn einer weitestmöglichen Eigenproduktion also Formentscheidungen den Fertigungsmöglichkeiten der eigenen Werkstatt zu unterstellen. Der Mechanisierungsgrad der Produktion ist hierzu lediglich ein Mittel, die Unterscheidung zwischen Handwerks- und Industriebetrieb in dieser Hinsicht vor allem quantitativ, als Frage nach den bearbeitbaren Auftragsumfängen von Relevanz. Was Handwerks- und Industriebetrieb demgegenüber prägnant zu unterscheiden vermag, ist die Position des Kunden. Während der Handwerksbetrieb im direkten Auftragsverhältnis zu seinem Kunden steht und für diesen und nach dessen Wünschen produziert, steht beim Industriebetrieb ein „Markt“ an der Stelle des Kunden, mit der Folge einer Standardisierung des Fertigungsergebnisses als „Produkt“. Erst die konkrete Konstellation aus eigener Werkstatt und direktem Kundenauftrag macht also den Handwerker zum Handwerker und unterscheidet seinen Betrieb von einem Industriebetrieb. Insofern ist Handwerk vor allem als soziale Kategorie zu betrachten.67

63 WS 1: Z 395 ff und 543 ff 64 „Das Überzeugendste [der Strickbauweise] war, für die, daß das so schnell geht, dann, daß das preislich, glaub ich, in einem, in einem Rahmen war, und daß man so, daß das innen gleich fertig ist, also, das heißt, da waren Decken, der Zimmermann hat den Boden gelegt, drauf gelegt, (...) und dann war er fertig, und das hatte (...) was faszinierendes an sich, und daß das jetzt zuviel Holz, oder zuwenig Holz (...) ist, (...) die waren oft, die Leute, in einem gemauerten Haus gewohnt haben, (...) das war nicht so das Thema.“ (WS: Z 470 ff) Im Kontrast zu atmosphärischen Betrachtungsweisen, wie sie in dem Begriff „Wohnatmosphäre“ aufscheinen, schafft die Strickbauweise eine unmittelbare Nähe zu den traditionellen Bauernhäusern der Region. Nicht Form, Grundriß oder Fassade, nicht ästhetische Kriterien, sondern die materielle Substanz und Konstruktion der Hauswände wird darin aufgerufen. 65 „War alles Fichte, nicht wie heute, bei der Tanne, wo es manchmal völlig astlos sein soll, sondern da sinds schon solchen Ästen, ganz gut behagelt, also eigentlich ziemlich, ziemlich urig.“ (WS 1: Z 489 ff) Hier liefert Schmidinger ein Argument, das die „Architektenhäuser“ nicht nur als „Anderes“ um seiner selbst willen kennzeichnet: Die heute favorisierte Verwendung astfrei sortierter Weißtanne ist gegenüber dem Fichtenholz der Strickwände und Massiv-

holzdecken im „Strickhüsle“ eine Verminderung oder Vermeidung des „Urigen“. Gegenüber beiden Massivholzvarianten demonstriert Schmidingers eigenes Wohnhaus mit seiner Birkensperrholz-Täferung eine weitere Steigerung innenräumlicher Eleganz. Vom Strickhaus zum Architekten-Holzhaus gibt es also einen Niveausprung in der „Feinheit“. Auch gegenüber dem traditionellen Bauernhaus zeigt sich das Strickhaus als Rückschritt, da statt einer Täferung das sichtbare Konstruktionsholz die Wandoberfläche bildet. Das Architektenhaus mit seinem Skelettbau und dessen Zwang zur Wandverkleidung holt diesen Rückschritt wieder auf. Und stellt Fortschritt auf dem Feld der Wohnatmosphäre als einen rekonstruktiven dar. Die Rekonstruktion als eine, die einen spezifischen regionalen Kulturverlust wieder aufholt, sich damit als „Reparatur“ versteht. 66 Kirmeier stellt die Vermeidung fertigungsspezifischer Spezialisierung als zukunftsträchtigstes Kompetenzmerkmal von Handwerk gegenüber Industrie dar. Vgl. Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk, Anm. 85 67 Zu dieser sozialen Definition von Handwerk gehört ein territorialer Aspekt, die Verankerung des Handwerksbetriebes am Ort durch Familie und einen gewachsenen Kundenstamm.Vgl. Abschnitt Arbeitsform und Wissensaneignung im Kapitel Handwerk. 68 Wie Anm. 60 69 WS 1: Z 448 ff

Formentscheidung als Fertigungsentscheidung

Handwerk als soziale Kategorie

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Auflösung von Handwerk als sozialer Kategorie

Handwerklichkeit als architektonisches Stilmittel

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Aus dieser Perspektive ist das Kaufmann Holzbauwerk in seiner Strickhüsle-Fertigung noch überwiegend als Handwerks- anstatt als Industriebetrieb zu identifizieren, denn es bietet das Fertighaus „nach Wunsch und Grösse“68 im Rahmen des individuellen Kundenauftrags an, eine Flexibilität, die im Einzelfall auch eine Architektenbeteiligung zuläßt.69 Die Beteiligung des Architekten als Voraussetzung hingegen, wie Architektur sie erfordert, stellt Handwerk insofern in ein neues Beziehungsgefüge, als sie den direkten Kundenbezug des Handwerkers auflöst und der Person des Architekten die zentrale Kommunikations- und Entscheidungsposition zuweist. Indem der Handwerker somit an eine nachgeordnete Position aller Entscheidungsprozesse zurückfällt, geht er nicht nur seiner Formkompetenz und damit seines individuellen Werkstattprofils als Qualitätsausweis verlustig, sondern gleichzeitig seiner Selbstbehauptung gegenüber der industrialisierten Konkurrenz. Handwerklichkeit löst sich in dieser sozialen Konstellation vom individuellen Handwerker und seiner Werkstatt ab und mutiert zum architektonischen Stilmittel, zum disponiblen Aspekt innerhalb des architektonischen Entwurfs und dessen Verpflichtung gegenüber dem formalen Referenzgefüge von Architektur. Jegliche „Reform des Handwerks“ durch Architektur oder andere akademisch gestützte Institutionen70 ist, von dieser Befundlage her betrachtet, lediglich als Wiederherstellung einer formalen oder stilistischen Handwerklichkeit zu bezeichnen, die sich so lange allein auf die erzeugten Produkte beschränken wird, als sich der Architekt als Person nicht aus dem Beziehungsgefüge zwischen Handwerker und Kunde zurückzieht und damit dem Handwerker mit dessen Entscheidungssouveränität im Kundenauftrag auch seine soziale Position zurückgibt.71 In unserer Darstellung, die in diesem Abschnitt die zeitgenössische Modernisierung des Holzbaus untersucht und mit diesem Sektor des Bauens gleichzeitig technologische und soziale Veränderungen des Handwerks in den Blick nimmt, steht die Arbeitsform, die ihre Bauherren an der Höchster Siedlung Im Fang praktiziert haben, für die Rekonstruktion eines Begriffs von Handwerk, der, um die gesuchte „Autonomie“ als Voraussetzung einer alternativen Lebensform zu bieten, zwangsläufig ein vormoderner sein muß. Bereits während meines Architekturstudiums hatte uns ein aus der Schweiz stammender Entwurfsdozent auf die Siedlung hingewiesen. Insbesondere eine „architektonische“ Interpretation des Selbstbaus hatte in seiner Erzählung zentralen Rang eingenommen: die eigenhändige Anfertigung aller 70 Der Bregenzer Publizist Hans-Joachim Gögl widmet sich in seiner Reihe Landschaft des Wissens internationalen Beispielen von Handwerksreform, die als „Entwicklungshilfe“ im Rahmen einer Rekonstitution zeitgenössischer Perspektiven für den ländlichen Raum gelten können. Im hier verhandelten Kontext

vgl. vor allem den Beitrag Von der Wissenschaft zur Genossinnenschaft; Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit (Türkei). In: Gögl (2006), S. 296 ff. 71 Vgl. auch Abschnitt Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk

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Ausbauteile durch die Bauherren, verbunden mit Notwendigkeit und Chance ihrer Neugestaltung. Die Fensterkonstruktion der Siedlung erhielt in dieser Darstellung den Rang eines Schlüsseldetails, ihre einfachen, sichtbar aufgeschraubten Lappenbänder, mit denen die Flügel am Stock angeschlagen sind, sowie die Kofferverschlüsse zu deren Verriegelung gerieten dem Dozenten zum formalen Manifest eines programmatischen Dilettantismus.72 Nach mehreren, über Jahre verteilten Besuchen vor Ort gab die vorliegende Arbeit schließlich den Anlaß für ein Gespräch mit dem Ehepaar Mittersteiner als am Ort verbliebenen Mitbauherren der Siedlung. Meine „Informiertheit“ in bezug auf die Fensterkonstruktion entpuppte sich als Produkt einer akademistischen Formdiskussion. An seiner Stelle erschloß die sich entspinnende Diskussion nun Einblicke in ebenjene soziale Rolle des Holzbaus, in der er imstande ist, den potentiellen Gestaltungsraum des Einzelnen gegenüber Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat als individuelle Erfahrung zu erschließen. Hierin tritt die traditionelle, auf Eigenhändigkeit beruhende Arbeitsform des Handwerks als Selbstbestimmungspotential in Erscheinung. Gegenüber der zeitgenössischen Dominanz von Industrie und Technologisierung des Alltagslebens mit ihrer Tendenz zur Entmündigung des Einzelnen und der Partikularisierung seiner Kompetenzen73 wird dieses Potential zur exemplarischen Alternative. Was wir gemacht haben ist, (...) untersucht, was sind die Voraussetzungen für ein gutes Fenster. Und zu dieser Zeit hat es das Isolierglasfenster schon gegeben, oder, mit einem K-Wert von 2,5 oder 2,8 oder 3, oder. Und wir wissen, normale Kastenfenster bringen diese Werte auch her. Aber ein normales Fenster kann man nicht mit dieser Ausrüstung bauen. Also, mit einer Kreissäge kann man das nicht machen, oder. Weil, das normale Isolierglasfenster, das heutige, oder, besteht zu einem Drittel aus Holz, das andere ist das Glas und das dritte (...) sind Beschläge, oder. (...) Also, mit dem Kastenfenster kann man Wärmedurchgangswerte erzielen, wie mit dem damaligen Isolierglasfenster. Das Isolierglas war damals auch sehr teuer. Jetzt haben wir also (...) die Technik, das Können vom Tischlermeister (...) verwendet und die (...) Schließtechnik einfach reduziert, oder. Wir hatten ja keine sehr großen Fensterflächen als bewegliche Teile. Einen Flügel mit einem Meter Höhe kann ich mit einem Verschluß zumachen und eine Türe über zwei Verschlüsse, oder. Also, das [unser] Fenster hat damals so viel gekonnt,wie das gute neue Isolierglasfenster.74

72 Für den akademischen Architekturdiskurs ist dieses Werk mehrfach codiert: Als Werk von Bauherrenpartizipation, als eigenhändiges Werk von Architekten, daneben als zeitgenössischer Kommentar zur sozialen Rolle von Architektur, als Signal eines neuen sozialen Rollenverständnisses der Architekten sowie als künstlerischer Beitrag, dessen Form- und Konstruktionslösungen durch Ready-Made-Referenzen des Kunstfeldes ihren semantischen Wert erhalten. Vgl. auch Bauer 73 Ganzheitliches Bauen heißt hier: Das Haus im Wald beginnen. Norbert Mittersteiner: „Wir haben damals einen Holzverkäufer beauftragt, (...) der hat das im Winter eingeschlagen, (...) Nordhang in Laterns, also hohe Lage, wintergeschlägert, gekauft, und wir

haben das dann einsägen lassen nach unserer Holzliste und die Teile, die einfach für Innenausbau waren, getrocknet und gehobelt. (...) Also, da hat nicht der Zimmermann irgendwas gebracht, oder, sondern wir haben das so bestellt. Wir wollten das so, und es hat auch funktioniert. Also, rechtzeitig den Holzeinschlag mit organisiert, oder.“ (RNM: Z 425 ff) Auf Massivbau übertragen, würde dieses Prinzip das eigenhändige Ziegelbrennen erfordern, die Spur der Hand im feuchten Ton, oder, nicht ganz so utopisch, den eigenhändigen Lehmbau, wie er wegen seiner „Begreifbarkeit“ in österreichischen ArchitekturSchulprojekten praktiziert wird. Vgl. auch Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus, Anm. 54

Programmatischer Dilettantismus als ästhetische Subversion

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180 Technologisches downsizing zugunsten von Eigenfertigung

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Gegenüber der verbreiteten Dilettantismus-Interpretation, für die der Architekturprofessor hier nur stellvertretend steht75, stellt Norbert Mittersteiner nun die Fensterentwicklung aus seiner Erinnerung an die fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Planungszeit als Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse der Anforderungen und einer Anpassung des Fertigungsvorgangs an die vorhandenen technischen Möglichkeiten dar. Vergleichsmaßstab ist die Leistungsfähigkeit herkömmlicher Isolierglasfenster zur Zeit des Hausbaus. Die Herausforderung besteht darin, hinsichtlich der Wärmedämmung Gleichwertiges zu erzeugen, ohne die hochspezialisierten Fräsmaschinen spezialisierter Fensterbaubetriebe zur Verfügung zu haben. Der eingeschlagene Entwurfsweg löst die mehrfache Funktionsbündelung auf, die das Isolierglasfenster darstellt, zerlegt die Industriekomponenten Verbundscheibe und Dreh-/Kippbeschlag in Einzelfunktionen, um jede einzeln „handwerklich“ zu lösen. Zugunsten eines einfachen Fertigungsprozesses werden darüber hinaus Aspekte des Reinigungskomforts (Fensterputzen von innen) und konventionelle ästhetische Ansprüche76 reduziert. Ebenso wie sich das Feld des Entwurfs als wissenschaftlich abgesichert zeigt, entpuppt sich auch der Herstellungsprozeß bei näherem Hinsehen als handwerklich fundierter. Eine Familie von Handwerkern leistet die technische ebenso wie die soziale Absicherung.77 Anstelle einer Baustelle als einzigem Ort und der Baukreissäge als einzigem Werkzeug, wie die Dilettantismuslegende überliefert, finden wir uns in einer Holzwerkstatt mit professioneller Maschinenausstattung wieder. NM Mein Schwiegervater, also ihr Vater, war Wagnermeister, (...) also Wagner und Karosseriebauer. Der hat ein technisches Verständnis, weiß, wie man Fenster und Türen baut. Und ist Holzfachmann. (...) RM Ja, und er hat natürlich die Werkstatt. (...) In der Schreinerwerkstatt mit den Spezial-, den guten Maschinen konnten wir arbeiten. NM Aber nicht wie beim Fensterbauer, mit einem Automaten, oder so, oder. Also, er war kein Fensterbauer, sondern ein Holzfachmann. RM Also nicht mit der Baukreissäge, sondern das war eine Spezial-, also gute Kreissäge.78

Selbstbau ist nicht Handwerk

Die Eigenbau-Fenster sind fünfundzwanzig Jahre nach Ihrer Herstellung noch allesamt funktionstüchtig und an ihrem Platz. „Alle, oder, außer an zwei Orten, da haben wir anstatt der Fenster eine Tür hineingemacht.“79 In dieser Situation, der nutzungsbedingten baulichen Änderung, zeigen sich die Eigenbauten als anachronistisches, de-industrialisiertes Erzeugnis. 74 RNM: Z 168 ff 75 Offensichtlich ist, daß „Dilettantismus“, als Bewertung ihres Selbstbau als ungenügendem Ergebnis verstanden, im Rahmen unseres Gesprächs nicht zum erstenmal im Raum steht. Als vorbeugende Verwahrung dagegen ist der wiederholte Hinweis beider Ehepartner auf die Hinzuziehung von „Könnern“ (RM: Z 103) bzw. von „guten Fachleuten“ (NM: Z 153) zu deuten.

76 Der zur Fensterverriegelung eingesetzte Kofferverschluß ebenso wie die primitiven Aufschraubscharniere demonstrieren Hippie-Attitüde, Häßlichkeits-Ästhetik, Ready-Made-Zitat, Formungsverweigerung. Anstelle der außer Kraft gesetzten „konventionellen“ Wertmaßstäbe gewinnt die Strategie auf dem Feld der Kunst und ihren Konventionen der ästhetischen „Subversion“ umsomehr an Wert. Vgl. dazu Bauer. Zur Referenzierung im Rahmen des

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„Da hat man natürlich andere Türen hineingemacht, oder, Isolierglastüren. Weil das macht ein Schreiner ja nicht mehr so, oder. Die können das mit diesen Automaten nicht mehr machen.“80 Die Feststellung wirft ein charakteristisches Licht auf die zeitgenössische Veränderung der handwerklichen Kompetenz: sie hat sich mittlerweile von ihrer ursprünglichen Konzentration auf die Kenntnis eines spezifischen Rohstoffs natürlichen Ursprungs hin zu einer Prägung durch Maschinenabhängigkeit verschoben. Der Handwerker: ein Automatenbediener, so stellt er sich in Reinelde Mittersteiners Wahrnehmung dar. Es ist Zeit, Auseinandersetzung und Muße, die der Selbstbauer dem Handwerker voraus hat, auch die Freiheit von Reglementierung, von Normen, Gewährleistungspflichten und berufsständischen Ordnungen. Es ist der fehlende Effektivitätsdruck, der Selbstbauer und Handwerker voneinander unterscheidet. Norbert Mittersteiners Versuch, über den Kostenvergleich gegenüber zugekauften Isolierglasfenstern für den praktizierten Selbstbau zu argumentieren, scheitert am Widerspruch seiner Ehefrau. Diese anerkennt zwar den Umstand, daß auch die Frauen der Bauherrengemeinschaft bei der Errichtung der Siedlungsbauten mitarbeiten konnten und würdigt die Wichtigkeit dieser Erfahrung, doch verweigert sie der geübten Praxis jede wirtschaftliche Relevanz. Aber, die Arbeit, die man damals gemacht hat, also, das waren viele Stunden, die man dort geschafft hat, oder, also, wenn man das zählt, ist das Fenster auch gleich teuer gekommen, wie ein Isolierglasfenster, das denke ich ganz sicher, oder. Aber wir haben die Möglichkeit gehabt, auch Frauen haben dort mitgeschafft, wir haben das selber verkittet, alle diese Sachen. Es war eine Herausforderung. Ich sehe das heute so, oder. Es war wichtig, es war ein Experiment, es war wichtig, das zu probieren, das zu machen, es war auch Ideologie, oder. Eindeutig, oder. Das sehe ich heute wirklich so. Ja, wir haben die Möglichkeit gehabt, das in dieser Werkstatt zu machen und da einfach auch mitzuschaffen, oder. Aber wenn man das zahlen hätte müssen, dann wäre das nicht dafürgestanden. Dann wäre das einfach gleich teuer, also ganz sicher, oder. 81

Der Auffassungsunterschied zwischen den Eheleuten liegt darin begründet, daß Norbert Mittersteiner die Arbeitsstunden ihrer Eigenleistung nicht als potentielle Stunden externer Erwerbsarbeit ansetzt, sondern eine Art geldloser Lebensform zur Beurteilung des Vorgangs heranzieht, ein alternatives Gesellschaftsmodell, dem am ehesten die historische bäuerliche Lebensform, deren Selbstversorgertum und die damit verbundene Selbstbestimmtheit nahekommt.

„Kunstfeldes“ vgl. auch Kapitel Architektur?, Abschnitt Architektur als Ordnung, Anm. 41 77 Die verbreitete Rezeption der Siedlung als „gebasteltem“ Werk unausgebildeter Laien darf als ideologisch verselbständigte Lesart gelten. Sie spiegelt den Wunsch, dem Einzelnen die Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung zurückzugewinnen, die ihm eine Entmündigung durch „Experten“ abgesprochen hat. Das Gefühl empfindlich beschnittener Gestaltungs-

räume, als Institutionenkritik jener Generation institutionalisiert, die in den 1980er Jahren in das Berufsleben eintritt, wird projiziert auf die Selbstbaugruppe, die spätere Cooperative, deren Selbsthilfe dabei, um als übertragbares Handlungsmodell verwertbar zu sein, als Dilettantismus unterschätzt werden muß. Nur so kann es die Illusion nähren, ohne Erlerntes, aus dem „Naturgegebenen“ heraus, bereits kompetent und handlungsfähig zu sein.

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Wer die Dinge des eigenen Bedarfs selbst erzeugt, braucht an der Lebensform des Gelderwerbs und der damit verbundenen Entfremdung vom Produkt seiner Arbeit nicht oder nur in untergeordnetem Maß teilzunehmen. Somit ist für ihn auch der Vergleich mit Erwerbsarbeit und dessen Geldwert anstelle der Arbeitsform zugunsten der Selbstversorgung nicht zutreffend, denn es ist ein Vergleich mit einer Lebensform, zu deren Inhalten seine eigene Praxis die Alternative darstellt.82 Auf unsere Frage nach Handwerk und Architektur wirft das Selbstbauexperiment der Siedlung Im Fang ein bezeichnendes Licht. Das Handwerk ist technologisch und damit in seinem Leistungsangebot den durch die Industrie vorgegebenen Standards und Konventionen gefolgt. Zeitgenössische Architektur wirkt auch in dieser Hinsicht, bezogen auf eine Neusetzung der gesellschaftlichen und ökonomischen Rolle des Handwerks, als Modernisierungsmotor. Es ist eine Modernisierung, deren soziale Effekte, wie uns das Gegenbild des Selbstbauexperiments zeigt, den Einzelnen immer größeren Abhängigkeiten und immer größeren Beschneidungen seiner Kompetenzen zur Selbstversorgung aussetzt, für die das vormoderne Handwerksmodell noch den Rahmen geboten hatte. 83 Norbert Mittersteiner bilanziert das Experiment als Zugewinn an Freiheitsgraden in der Lebensführung: 84 Durch die Möglichkeit der Finanzierung sind uns viele andere Wege offen geblieben, oder. (...) Wir wissen, daß einfach für die Wohnbauförderung, für den Kredit zahle ich mindestens das zurück, was ich aufnehme, oder, und für einen Bausparvertrag zahle ich das Doppelte zurück, oder, und für frei finanzierte Kredite damals ungefähr das Vierfache. Also, jetzt kann ich mir das aussuchen, oder, über meine Lebensarbeitszeit, welches Finanzierungsmodell wähle ich. (...) In Summe war es damals für die relativ kurze Zeit sehr viel Arbeit und nachher muß ich für die normalen Kosten auch arbeiten, also da bin ich über die ganzen Jahre sehr gut gefahren. Auch wenn es einfach für die Bauzeit eine doppelte Belastung war.85 Rollenwandel der Architektur im Modernisierungsprozeß des Vorarlberger Holzbaus

Die gedankliche Voraussetzung, den Selbstbau der Siedlung Im Fang zum Abschluß des Kapitels Holz als Aspekt ihrer Architektur zu betrachten – und dafür spricht nicht nur der Umstand ihrer umfänglichen Rezeption im Fachdiskurs der Architekten, sondern auch die Tatsache, daß die Planer unter den Bauherren großteils soeben ein Architekturstudium durchlaufen hatten –, erlaubt, dieses Modell als Station in die Rekapitulation eines Rollen78 RNM: Z 126 ff 79 RNM: Z 227 ff 80 Ebd. 81 RNM: Z 201 ff 82 Ottokar Uhl hatte ähnliche Freiheitsgrade, die Norbert Mittersteiner aus der Arbeitsform bezieht, in der individuellen Entfaltung gesehen, die „ästhetisches Handeln“ bietet, und Architektur die Rolle zugesprochen, diese Möglichkeit zu gewähren oder zu verweigern. Vgl. Anm. 11 83 Eine ganz buchstäbliche „Flexibilität“ bietet das

im Eigenbau errichtete Holzhaus im Fall gewandelter Nutzungsanforderungen. Das Holz als Baumaterial ermöglicht auch „ungelernten“ Bauherren, große Teile der Erhaltungs- und Anpassungsarbeitungen selbst durchzuführen. So teilt etwa Ernst Wirthensohn gerade Kinderzimmer ab, als ich ihn zu unserem zweiten Gespräch zu Hause abhole (EW 2: Z 1358 ff und 1528 ff). Auch das Ehepaar Mittersteiner berichtet beiläufig von mehrfachen eigenhändigen Umbauten, die ihr Haus im Lauf seiner Lebensdauer bereits erfahren habe.

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wandels zu stellen, den Architektur innerhalb der Modernisierung des Vorarlberger Holzbaus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollführt hat. Ein kontinuierliches Element im Sinn unserer Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ ist darin zu sehen, daß sie in jeder ihrer Rollen die jeweils herrschende Rationalität gesellschaftlich vermittelt. „Handwerk“ und „Industrie“ bilden in dieser Vermittlung Chiffren für Haltungen gegenüber einem jeweils gültigen Begriff von zivilisatorischem86 Fortschritt, wie er sich im Modus der Lebensform abzeichnet. Der Architekt, der den jeweiligen Zivilisationszustand demonstrativ „erleidet“, ebenso wie seine Architektur als signalhaftes „Resultat“ dieses Zustands sind untrennbare Bestandteile dessen, was Architektur als ihre gesellschaftliche Aufgabe definiert. Die „baumeisterlichen“ Architektenpersönlichkeiten der ersten Vorarlberger Baukünstlergeneration87 hatten ihre Rolle einerseits in einer Wiederherstellung der Repräsentativität hölzerner Wohnhäuser innerhalb gewandelter sozialer Strukturen und damit in einer Abstreifung des am Baustoff Holz haftenden bäuerlichen Image, andererseits in einer Öffnung des Zimmermannshandwerks hin zu zeitgemäßen industrienahen Verfahren gefunden. Als Moderator von Selbstbaugruppen88 thematisiert der Architekt im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre diejenige Bruchstelle in der Fortschrittseuphorie der Nachkriegszeit, die von zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaftlern zu einer umfassenden Kulturkritik ausgeweitet worden war. Die Rekonstruktion einer vormodernen handwerklichen Praxis verleiht innerhalb der Sphäre des Bauens einer Suche nach Alternativen zu dem zunehmenden Verlust individueller Gestaltungsspielräume Ausdruck. Ein vorübergehender Reflex streift dabei auch die institutionelle Verfaßtheit von Architektur selbst und stellt ihren kultural legitimierten Dominanzanspruch durch Versuche in Frage, Partizipationsmodelle sogar innerhalb ihrer Zentralkompetenz, dem ästhetischen Spielfeld des Entwurfs89, zuzulassen. Spätestens seit den 1990er Jahren schwingt das Pendel individueller Emanzipationsbestrebungen und der Bereitschaft traditioneller gesellschaftlicher Institutionen, diese zu fördern, wieder zurück. Der zunehmend von Wirtschaftspolitik bestimmte Staat fordert dem Einzelnen vermehrte Einordnungsbereitschaft zugunsten eines Allgemeinwohls ab, das mit ökonomischer 84 Bourdieu stellt in Der Einzige und sein Eigenheim (1998) die Schaffung von Unfreiheit durch eine Überschuldung aus Immobilienkauf als politische Strategie dar. Vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus, Anm. 32 85 RNM: Z 734 ff 86 Wie Anm. 58 87 Von Achleitner unter „Roland-Rainer-Schüler“ subsumiert, vgl. Anm. 53 und 55 im Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg 88 Diese Rolle ist auch in der Ersten Generation

der Vorarlberger Baukünstler keineswegs unumstritten. Vgl. Rudolf Wägers Abgrenzung gegen Hans Purins diesbezügliche Haltung, die er am Ende seines Interviews mit Martina Mangold äußert. Vgl. Mangold 89 Wie Anm. 11 Vgl. hierzu auch die abschließenden Erörterungen von Abschnitt Architektur im Dorf, Kapitel Dorf 90 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 91 Wie Anm. 34

Moderation von Selbstbaugruppen

Ästhetische Partizipation

Architektur als Visualisierung ökonomischer Standortqualitäten

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Holz

Wettbewerbsfähigkeit gleichgesetzt wird, und nimmt Architektur zu dessen Vermittlung und Visualisierung in Dienst.90 Die Beschneidung der Gestaltungskompetenz desjenigen Handwerkers, der die Zusammenarbeit mit Architekten eingeht, ist ebenso Ausdruck dieser Entwicklung wie die Feststellung der aus dem Handwerk stammenden Gesprächspartner, die gegenüber den Gesetzmäßigkeiten der Materialeigenschaften zunehmende Verselbständigung der Architekturform drohe, den erreichten gesellschaftlichen Vertrauensstandard zugunsten des regionalen Holzbaus erneut zu verspielen.91 Die folgenden Kapitel beleuchten konkrete Effekte dieser jüngsten Entwicklung auf dem Feld der individuellen Behausung, in ihren Auswirkungen auf die Modernisierung des ländlichen Raumes sowie dem gewandelten Selbstverständnis seiner Kommunen, um abschließend zum Holzhandwerk zurückzukehren. Dort wird dessen Tischlersparte und seine gegenüber den Zimmerern größeren Freiheitsgrade im Antwortspektrum der Frage ins Auge gefaßt, was zeitgemäße Modernisierung nach dem gesellschaftlichen Vertrauensverlust, den Industrialisierung, Technologisierung und Kapitalisierung seit den 1970er Jahren erlitten haben und fortgesetzt erleiden, denn sei.

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4 Haus

4.1 Bauernhaus Wüst aufs Laund foan, san nur Heisa1

Das Kapitel Haus nimmt in der vorliegenden Studie eine zentrale Stellung ein. Mit dem Haus ist derjenige Gegenstand ins Auge gefaßt, dessen Entwurf die zentrale Kompetenz des Architekten bildet und, jedenfalls aus Sicht des Berufsstandes, auch dessen gesellschaftliche Zuständigkeit und Rolle bestimmt.2 Dem gleichermaßen elitären wie objektfixierten Blick der Architekten – als sozialer Anspruchsgruppe aufgefaßt – ist im Rahmen der hier verhandelten Fragestellungen ein zweiter gegenüberzustellen, der das Haus aus größerer Distanz, als Bestandteil der Kulturlandschaft, betrachtet. Neben baulichen und raumplanerischen Aspekten treten nun soziale Konstruktionen als Ursache von Bewertung und Wandel, dem die Gestalt von Haus und Landschaft gleichermaßen unterliegt, vor unser Auge. Das Oberösterreicher Duo Attwenger formuliert solche Wirkungsweisen in seiner eingangs zitierten Liedzeile auf kürzestmögliche Weise. Lakonisch und mit dem Unterton einer Verdrossenheit, der jene „Vielen“3 repräsentiert, die für sich selbst nur geringe Gestaltungsspielräume sehen, ist hier das „Land“, die Kulturlandschaft, in seiner sozialen Eigenschaft, Allgemeingut zu sein, angesprochen und festgestellt, daß diese Eigenschaft, die bisher Zugänglichkeit geboten hatte, durch die mittlerweile omnipräsenten „Häuser“ im Verschwinden begriffen sei. Das Bauernhaus steht in seiner Beziehung zur Kulturlandschaft zu den von Attwenger angesprochenen „Häusern“ in denkbar größtem Gegensatz,

1 In: Wüst auf Attwengers Album Dog (2005) 2 Rambow umreißt das Selbstbild des Berufsstandes mit einem Auszug der Architektenkammer-Homepage des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen: „Der Architekt ist mit seinem Aufgabenspektrum in hohem Maße der Gesellschaft verpflichtet. Er steht im Schnittpunkt der Wünsche und Forderungen seiner Bauherren und der Gesellschaft. Diese miteinan-

der zu vereinbaren und die jeweils beste Lösung zu finden, ist der Anspruch, der an Architekten im Alltag gestellt wird.“ Rambow (2000), S. 11 f 3 „Andererseits trägt die neue Kunst dazu bei, daß im eintönigen Grau der vielen die wenigen sich selbst und einander erkennen...“, in: Ortega y Gasset: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst; zit. in Bourdieu (1979), S. 62

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Haus

indem die Kulturlandschaft hinter dem Bauernhaus nicht verschwindet, sondern mit ihm und durch die Wirtschaftsform, die es repräsentiert, überhaupt erst in Erscheinung tritt. Diejenigen Häuser, die Attwenger in ihrer Liedzeile als „Parasiten“ dieser Kulturlandschaft beschreiben, sind in diesem Kapitel durch das Merkmal Architektur und damit durch die Beteiligung berufsständisch ausgewiesener Architekten in zwei Gruppen geschieden: „Anonyme“, also ohne Architektenbeteiligung entstandene Häuser, im zweiten Abschnitt als „Landhaus“4 bezeichnet, und die tatsächlichen „Architektenhäuser“. Auf letztere beziehen sich Publikationen, die das Architekturland Vorarlberg dokumentieren, in einer Weise, als gäbe es unter den Neubauten, die im Lande entstehen, überhaupt nur solche Häuser und als seien ihre Beschaffenheit und ihre Qualitäten ausschließlich dem Wirken der beteiligten Architekten geschuldet. Auch die vorliegende Arbeit fokussiert die Architektenhäuser. Indem sie an deren Architektur nicht die autonome Kunst, die allein vom Individuum verantwortet wird, sondern eine ihr zugrundeliegende gesellschaftliche Vereinbarung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt, werden die Beziehungen sichtbar, die die Architektenhäuser mit den anderen Typen ländlicher Häuser innerhalb der regionalen Kulturlandschaft verbinden, den im Bregenzerwald immer noch landschaftsprägenden Bauernhäusern ebenso wie den zahlenmäßig dominanten Häusern anonymer Provenienz. Gefragt ist in diesem Kapitel also, welche impliziten Wissensbestände aus dem gesellschaftlichen Umgang mit dem präsenten Bauernhausbestand und der Praxis des anonymen ländlichen Hausbaus in die Zeitgenössische Architektur Vorarlbergs Eingang gefunden haben. Der Bauernhausbestand bildet für die Bewertung der modernen Haustypen ländlicher Regionen, nicht nur Vorarlbergs, nach wie vor die primäre Referenz. Die gemauerten „Landhäuser“ demonstrieren den sozialen Aufstieg ihrer Bewohner ebenso gegenüber den Bauernhäusern wie die „Architektenhäuser“ ihren Anspruch, die bäuerlich-handwerkliche Holzbautradition mit zeitgemäßen Mitteln fortzusetzen. Aufgrund dieser zentralen Position innerhalb der jeweiligen Wert- und Legitimationskonstruktionen, den das traditionelle Bauernhaus innehat, steht es am Beginn unseres Kapitels Haus. 4 Ohne Beziehung zur Bezeichnung Landhaus, mit der in Vorarlberg das Amtsgebäude von Landtag und Landesregierung in der Landeshauptstadt Bregenz bezeichnet wird. Daß Achleitner in seinem Kommentar zu diesem Bauwerk den Begriff Landhaus nicht verwendet (Achleitner 1980, S. 412), stützt die Annahme einer regionalen Sonderverwendung des Begriffs. Eine soziale Charakterisierung dieses historischen Typs, dessen Bezeichnung Haus die als Ganzes Haus tradierte, patriarchalische Organisationsform der dort zusammenlebenden sozialen Gemeinschaft faßt, gibt Schütte, S. 123

Gotthard Frühsorge verwendet in seinem Standardwerk Die Kunst des Landlebens den Begriff Landhaus für den Landsitz des Adels, architektonisch als Schloß zu beschreiben. Daß die Kunst des Landlebens im Verlauf seiner Geschichte einen sozialen „Abstieg“ durchläuft, klingt im Untertitel von Frühsorges Werk an: Vom Landschloß zum Campingplatz. So scheint es gerechtfertigt, in vorliegender Arbeit das zeitgenössische ländliche Haus in einem ebenso vordergründigen und ahistorischen Sinn als Landhaus zu bezeichnen, wie es der populäre Begriff „Landhausstil“ meint.

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Bauernhaus

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Die Landschaft, insbesondere die Konstellation Haus in der Landschaft, von der die Liedzeile Attwengers handelt, tritt je nach betrachtetem Haustyp in eigenen, charakteristischen Aspekten in Erscheinung. Beim Bauernhaus ist sie landwirtschaftliche „Nutzung“, die gleichermassen die vollzogene Verwandlung von Natur- in Kulturlandschaft repräsentiert, wie sie diese menschengemachte Ordnung gegenüber einer drohenden „Rückverwilderung“ aufrechterhält. Der „Landschaftsverbrauch“ durch massenhaften privaten oder gewerblichen Hausbau steht in Konkurrenz zur landwirtschaftlichen Nutzung, da er, rechtlich gesehen, die Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen zu Bauland voraussetzt. Weitaus deutlicher als bei landwirtschaftlich genutzten Flächen tritt bei der bebaubaren Grundparzelle der private Grundbesitz gesellschaftlich in Erscheinung. Auf das brachliegende Wohnraumreservoir des baulichen Bestandes und sein Potential, den Umwidmungsdruck zu reduzieren, dem die landwirtschaftlichen Flächen unterliegen, macht neuerdings die Initiative Alte Bausubstanz aufmerksam. Sie tritt als Schutzinstitution der agrarisch geprägten Bregenzerwälder Kulturlandschaft auf und vertritt das Anliegen, Landschaft als gemeinschaftliches Gut wieder ins gesellschaftliche Bewußtsein zu rufen.5 Während unterschiedslos sowohl „anonyme“ als auch von Architekten geplante Häuser die neu gewidmeten Bauparzellen der Dorfränder besetzen, ist eine dritte charakteristische Art der Landschaftsbeziehung fast ausschließlich den Architektenhäusern vorbehalten und unter diesen jenen gesucht formalistisch entworfenen Exemplaren, die aufgrund ihrer Medienpräsenz die gesamte Gattung öffentlich repräsentieren. Sie nutzen die Landschaft als Bild, zu dessen exklusivem Genuß jene Häuser die „Kamera“ sind, und stellen so die Landschaft symbolisch in den Dienst des Bewohners. Nach außen signalisiert eine exponierte Positionierung des Baukörpers diese individuelle Inanspruchnahme der Landschaft, die die europäische Tradition des adligen „Ansitzes“ auf einen modernen, bürgerlichen Maßstab heruntertransponiert hat.

Haus und Landschaft

Mit dem traditionellen Bauernhaus tritt uns kein einzelnes Haus entgegen, sondern das Einzelexemplar eines Typs, der innerhalb einer geographischen Region eine Einheitlichkeit aufweist, die alle strukturellen Baudetails umfaßt und lediglich in der Dekoration individuelle Nuancen erkennen läßt. Die typbildende Ordnung ist eine vor- oder überindividuelle, deren Gesetzmäßigkeiten nicht in den Gewohnheiten und kurzlebigen Wünschen der jeweiligen Bewohner begründet liegen, wie die der Architektenhäuser. Vielmehr sind es

Bauernhaus als Typ

5 Alte Bausubstanz ist der programmatische Name einer Arbeitsgruppe der REGIO Bregenzerwald unter Leitung Markus Berchtolds, initiiert vom Schwarzenberger Bürgermeister Armin Berchtold. Die Initiative ist aus dem LEADER Programm gefördert („Bran-

chenübergreifende Initiativen zur Entwicklung der ländlichen Gebiete“, LEADER ist eine seit 1991 bestehende Gemeinschaftsinitiative der Europäischen Union). Vgl. Berchtold (2008)

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Eigenschaften des verfügbaren Baumaterials, das die maximalen Deckenspannweiten bestimmt, der menschlichen Körpergröße, die die Raumhöhe vorgibt, der Wirtschaftsweise, die eine bestimmte Form, Einteilung und Anbindung des Wirtschaftsgebäudes empfiehlt, der Wetterlagen, Windrichtungen und Geländeneigungen am Ort6, an denen das Haus ausgerichtet wird. Der regionale Typ des Bauernhauses entwickelt sich über Jahrhunderte hinweg durch soziales Handeln unter naturgegebenen Bedingungen am seitens der Obrigkeit bestimmten Ort der Besiedlung. Die Lebensdauer des Bauernhauses überdauert bei weitem die Lebensspanne seiner Erbauer. Die nachgeborenen Generationen richten sich im Vorgefundenen ein7, zu dem das „Stüble“ ebenso gehört wie die seit jeher dort hausende Tante 8, oder passen das Haus neuen Gegebenheiten an, wenn ein Zubrot, häusliche Stickerei etwa, umfängliche Maschinen ins Haus bringt9, neue Wirtschaftsweisen, wie die Umstellung von Ackerbau zu Milcherzeugung10 und der Fortschritt der landwirtschaftlichen Technik11 dies erfordern. Hauslandschaften

Sobald Bauernhäuser in einem architektonischen Kontext betrachtet werden, stößt man unweigerlich auf die gleichermaßen volkskundliche wie denkmalpflegerische Kategorie der „Hauslandschaften“, zu deren Erkundung die „Hausforscher“ eigene institutionelle Arbeitskreise etabliert haben. Auch in den Forschungsgesprächen der vorliegenden Arbeit prägt die Kategorie der Hauslandschaften die Gespräche mit Architekten, sobald Bauernhäuser zur Sprache kommen. Der Begriff bezeichnet die Kategorisierung der Bauernhäuser nach der Ordnung ihrer Grundrisse, Dachformen und Baukörper zu Typen und deren Zuordnung zu den geographischen Kulturräumen ihres Auftretens. Für deren Erforschung und Beschreibung sowie ihrer Interpretation in einem stammesgeschichtlichen Rahmen, nämlich der „alemannischen Identität“, steht in Vorarlberg vor allem der Volkskundler Karl Ilg12, Verfasser der vierbändigen Landes- und Volkskunde Vorarlbergs aus den 1960er Jahren. In zahlreichen Aufsätzen zu Hauslandschaften und Bauernhaustypen des WS: Z 678 f; Die einheitliche Ausrichtung am Wetter setzt sich bis zum typologisch gebundenen Fassadenmaterial fort. Der Schindelpanzer, Kennzeichen Bregenzerwälder Bauernhäuser, seit im neunzehnten Jahrhundert erstmals industriell produzierte Eisennägel verfügbar waren, ist im Normalfall dem im Strickbau errichteten Wohnteil vorbehalten und damit als aufwendigstes und repräsentativstes Material gleichzeitig den am besten geschützten Fassadenflächen. Vgl. Peer (2006) 7 Christian Hörl verdanke ich den Hinweis darauf, daß das Bauernhaus in traditionellen agrarischen Gesellschaften kein „Lebenshaus“, sondern auf eine Bewohnung im Takt der Generationen ausgerichtet ist. Der Bauer und seine Familie bewohnt das Bau6

ernhaus, solange er den Hof bewirtschaftet. Das Elternpaar verläßt mit der Hofübergabe das Haus und zieht in den „Austrag“, sei es ein eigenes Haus auf dem Hofgrundstück oder, so im Bregenzerwald, eine seitlich an das Haus angebaute Raumschicht (Gespräch am 22. 11. 2009). 8 HP: Z 1106 f 9 EW 1: Z 359 ff 10 Die technische Voraussetzung hierfür, die Übernahme der Fettkäserei im Bregenzerwald von Appenzeller Sennen, wird im Einreichdokument an mehreren Stellen erläutert, z.B. S. 104. Vgl. auch EW 1: Z 304 ff 11 „Bauernhäuser mit einem riesigen Heustockvolumen hinten, alle schon aufgestockt, aufgeblasen auf diese modernen Anforderungen...“ (WS 1: Z 944 ff)

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Landes gilt sein Interesse vor allem derjenigen Bautradition des Vorarlberger Oberlandes, die er ursächlich mit aus der Schweiz eingewanderten Walsern verknüpft.13 Auf die Umstrittenheit des Konzepts einer „alemannischen Identität“ des Landes und seine zentrale Bedeutung für den Konflikt zwischen den Protagonisten „offizieller“ Landesgeschichtsschreibung einerseits und einer jungen Generation von Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaftlern andererseits, für die institutionell das Umfeld der Johann-August-Malin-Gesellschaft steht, wurde bereits im Kapitel Vorarlberg hingewiesen. Auch für die Entstehungsgeschichte der bäuerlichen Hauslandschaften gibt es aus diesem Kreis ein wissenschaftliches Gegenkonzept zur dominanten, stammesgeschichtlichen Interpretation Karl Ilgs und der von ihm vertretenen traditionellen Volkskunde. Markus Barnay stellt der „völkischen“ Theorie „der Übereinstimmung zwischen Rechtsverhältnissen, Ortsnamen, Bauernhausformen oder Dialekten einerseits und der Abstammung der jeweiligen Bevölkerung“14 andererseits Erkenntnisse aus der „Rheinischen Kulturraumforschung“, namentlich Franz Steinbachs aus den 1920er Jahren, gegenüber, welcher die genannten Erscheinungen „zwangloser durch natürliche, politische oder kirchliche Verkehrsräume und Verkehrsströmungen“15 erklärt. Das Nebeneinander solcher Erklärungsmodelle gibt gleichzeitig den Blick darauf frei, daß Hauslandschaften selbst Konstruktionen kulturräumlichen Denkens16 und der diesem verbundenen wissenschaftlichen Institutionen sind.17 12 Karl Ilg (1913–2000) leitete von 1949 bis 1985 das Institut für Volkskunde der Universität Innsbruck und initiierte 1958 die Gründung des Österreichischen Fachverbands für Volkskunde. www.wikipedia.org/wiki/Karl_Ilg Peter Strasser würdigt speziell die Verdienste Ilgs um das „Montafonerhaus“: „Nach 1945 prägte der aus Vorarlberg stammende (...) Karl Ilg, (...) aufbauend auf seine Habilitationsschrift über die Walser in Vorarlberg (1946), mit rund 40 Publikationen über die volkstümliche Architektur den Fortgang der Hausforschung auch im Montafon. In diese Zeit fällt auch die Festlegung des Begriffs des Montafoner Hauses.“ In: Haas, S. 8 13 Unter den befragten Architekten ist es Hans Purin, der die „Umstrittenheit“ Ilgs als Hausforscher mitteilt (HP: Z 904 f). Trotzdem ist gerade im Gespräch mit Purin festzustellen, daß Ilgs Konzept einer Verknüpfung von bäuerlicher Hauslandschaft und ethnischer Abstammung zum festen Bestandteil der Identitätskonstruktion geworden ist, die der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs zugrundeliegt. Purin: „Die Montafoner sind aus einem anderen Kulturraum bei uns eingewandert, (...) Walser, und die Montafoner sind auch Rätoromanen, und das ist einfach abstammungsmäßig.“

Hieraus leitet sich für ihn eine Hierarchie der stammesspezifischen Haustypologie ab: „Die strenge Ordnung, wie sie das Rheintalhaus, oder wie sie das Wälderhaus hat, haben sie nicht.“ (HP: Z 860 ff) Diese höchste, „strenge Ordnung“ des Wälder Bauernhauses läßt sich, etwa bei Hiesmayr, heutiger regionaler Architektur als „genetischer Code“ unterlegen. Ausgewählte Beispiele Zeitgenössischer Architektur schließt er direkt an die Analyse Bregenzerwälder Bauernhäuser an und verknüpft damit beides zu einer plausiblen Erzählkette. Hiesmayr (1995) Merz /Mätzlers Studienarbeit (1986) zeigt, daß diese Erzählung von einer Neuen Tradition bereits als vorarlbergspezifisches „Grundlagenwissen“ im Architekturstudium der Wiener Hochschulen angekommen ist. Die Konstruiertheit der „Identität“, die sich die Zeitgenössische Vorarlberger Architektur geschaffen hat, zeigt sich u.a. darin, daß andere Holzbautraditionen der Region, so der Fachwerkbau im Rheintal, eine genuin Vorarlberger Eigenart innerhalb Österreichs, außer acht gelassen werden, obwohl diese Tradition, technisch gesehen, den Skelettkonstruktionen der „Architektenhäuser“ wesentlich näher steht als der Strickbau der Bauernhäuser. Vgl. Swoboda (1986) 14 Barnay (1988), S. 16

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Vor allem zwei architektonische Konsequenzen lassen sich in den Äußerungen der befragten Architekten zum regionalen Bauernhausbestand isolieren: eine bewahrende Haltung durch Beachtung oder Erzeugung einer Stilreinheit, also eine Betonung der erkannten typologischen Eigenart18, die bis zum Versuch einer Neuschöpfung „im Geist des Alten“ reicht, wie sie Ortsbildsatzungen zumeist verkörpern.19 Mit dieser konservierenden Haltung konkurriert innerhalb der Architektenschaft eine zweite, die die Erkenntnis des Verschwindens der den Bauernhäusern zugrundeliegenden Lebensform zum Ausgangspunkt einer Forderung nach einem Neubeginn nimmt. Die Haltung, den Verfall der verbliebenen historischen Substanz als zeitnotwendigen Wandel billigend in Kauf zu nehmen, vertritt innerhalb der Forschungsgespräche Architekt Gerhard Gruber. Also wir müssen einfach so bauen, glaube ich, wie die Leute aktuell ihr Geld verdienen, ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dort müssen wir bauen, und so müssen wir bauen. Und wenn das Alte da drinnen keinen Platz mehr hat, dann tuts mir echt leid fürs Alte. Ich würde das für mich sehr radikal sehen. Diese alten Häuser haben halt das Problem, daß sie sehr groß sind, daß sie nicht gut teilbar sind, daß sie akustische Probleme haben und und und. Und wenn man sie zu sehr verändert, sind sie natürlich nicht mehr das, was sie waren, und damit stellt sich auch die Frage nicht. Gewisse werden erhalten bleiben, im Zentrum, die Wirtshäuser, und alle, die vitale Funktionen haben.20

Insbesondere den bereits vollzogenen Wandel innerhalb der landwirtschaftlichen Wirtschaftsweise macht Gruber geltend. „Daß die Landwirtschaft

15 A.a.O., S. 17 16 Bernhard Tschofen, Gespräch am 28. 11.2009 17 Heinrich Götzger thematisiert diesen Umstand als Die Frage nach der Typengliederung im gemeinsam mit Helmut Prechter verfaßten Das Bauernhaus in Bayerisch-Schwaben (1960): „Ein unausgesprochenes Wunschbild der Bauernhausforschung ist eine einfache Typenlehre. Man hat eine solche zunächst versucht, indem man bestimmte Erscheinungsformen bestimmten Volksgruppen zuordnete und also von (...) scheinbar stammesmäßig gebundenen Eigenformen sprach.Vorschub leistete dieser Auffassung das zahlenmäßig geringe Veröffentlichungsmaterial, das sich für weite Gebiete mit nur wenigen Aufnahmen begnügen mußte, die dann stellvertretend zum Typ erklärt wurden. Eine weitere Schwäche war es, daß das Augenmerk sich zunächst hauptsächlich auf architektonisch bemerkenswerte Objekte richtete. Es wurde dabei übersehen, daß solche hervorstechenden Vertreter (...) vielfach stark von der zeitgemäßen Hocharchitektur der Kloster- und Herrenbaumeister her bestimmt sind. Die Masse der Erscheinungen des bäuerlichen Bauens wurde aber damit nicht getroffen. (...) Wo (...) ärmerer Boden und engende Kleinteilung des Besitzes, Herrenanspruch und wirtschaftliche Ungunst [herrschten] (...), da kann eine weit in die Vergangenheit reichende formenstarke Entwicklung

nicht vorausgesetzt werden. Es wird dafür umso dankbarer sein, in einem solchen Gebiet (...) die laufende Entwicklung des Bauernhauses unter den Einflüssen der Gegebenheiten wie Landschaft, Klima und Wirtschaft zu verfolgen. Als sich der Begriff einer stammesmäßigen Typenfassung als unzulänglich erwies und man doch versuchen mußte, ähnliche Erscheinungen im großen zusammenzufassen, wurde der Begriff der ,Hauslandschaft‘ (eigentlich ,Hausformenlandschaft‘) geprägt. Man entdeckte für einzelne Gebiete, unabhängig meist von heutigen verwaltungsmäßigen Abgrenzungen, den Zusammenhang gleicher oder ähnlicher Hauptformen in Gehöftanlage und Grundriß, Gefüge und äußerlichem Bild. (...) R. Hoferer hat (...) für Bayern eine Reihe von Hauslandschaften herausgearbeitet. Er erkennt in ihren Grenzen teilweise Zusammenhänge mit alten Territorialgrenzen...“ Götzger/Prechter, S. 297 Zur territorial fokussierten Grundlagenforschung im Kontext bäuerlicher Hauslandschaften gehören Erkenntnisse zum Einfluß des Zentraldirigismus. Vgl. dazu Moser (1991). Die „Vereinödung“ im Vorderen Bregenzerwald, die diesem zuzuordnen ist, dokumentiert Blank (1999). Einen europäischen Vergleichsmaßstab historischer „Aneignungen“ bäuerlicher Bauformen setzt Aigner (2010)

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nichts mehr zu tun hat mit diesem idyllischen Bild von der Landschaft, das wir haben, wenn wir Heimatfilme anschauen, oder so die Häuser anschauen, sondern es ist einfach ein Gewerbebetrieb.“21 Die baulichen Folgen dieser „gewerblichen“ Neuorientierung der bäuerlichen Wirtschaftsweise stehen in seiner Darstellung für eine unaufhaltsame Modernisierung des ländlichen Kulturraums. Wenn man schaut, in der Landschaft, die radikalsten Bauten sind die neuen Landwirtschaftsbauten, oder. (...) Halt meistens im negativen Sinn, aber es sind die radikalsten Bauten, die am meisten eingreifen in die Landschaft. (...) Da gibts unglaubliche Kubaturen, die da irgendwo auf der Wiese stehen. (...) Das Gebäude ist wie eine Maschine, das dort steht und das benutzt er [der Bauer] als Produktionsmittel.22

Gruber rührt in seiner Schilderung an die ursprüngliche Bedeutung von Kultur als „Landbau“, einer Begriffsdeutung, die Landwirtschaft als Schöpferin der Kulturlandschaft mittels Rodung des Waldes und Urbarmachung des Bodens erkennt. Der Bauer dominiert noch heute die Gestaltung der Landschaft, indem er deren Bewirtschaftung den aktuellen technischen Möglichkeiten zugänglich macht. „Ganz klar, da wird drainagiert, begradigt, Bäume ausgerissen. Das sind einfach Rationalisierungsmaßnahmen.“23 Daß er mit seinem pragmatischen Zugriff, dem jede Feldhecke, jeder Bach und Tümpel ein Hindernis für die maschinelle Bearbeitung ist, innerhalb des sozialen Wandels des ländlichen Raumes, der sich neben dem von Gruber angesprochenen technischen und wirtschaftlichen Wandel vollzieht, zunehmend in Konflikt nicht nur mit dem Naturschutz24, sondern auch mit dem „romantischen“ Bild der Landschaft gerät, das dem architektonischen Hausentwurf zugrundeliegt und dessen Bewohner charakterisiert, ist ein Thema, das uns durch dieses Kapitel begleiten wird. Eine dritte Haltung zur „Hauslandschaft“ gewinnt ihre Handlungsspielräume aus der Intention, auf den Bautenbestand des ländlichen Raumes insgesamt zuzugreifen. Die bereits erwähnte Bregenzerwälder Arbeitsgruppe Alte Bausubstanz, eine Abspaltung aus jener Arbeitsgruppe, die sich rund um die – mittlerweile eingestellte – Bewerbung des Bregenzerwaldes um den Weltkulturerbestatus formiert hatte, betrachtet die gesamte Bausubstanz 18 Ein Beispiel hierfür gibt Haus Moosbrugger in Mellau, saniert 1995–97 nach einer Planung Helmut Dietrichs. Vgl. Werkraum-Zeitung Nr. 3 /2001, S. 13 19 Als Extrempunkte eines Spektrums dokumentierter Haltung zu Zeitgenössischer Architektur können die aktuellen Ortsbildsatzungen der Gemeinden Langenegg in Vorarlberg (vgl. Anm. 58, Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf) und Bad Wiessee in Oberbayern betrachtet werden. 20 GG: Z 1074 ff 21 GG: Z 1053 ff Überraschend, aber plausibel weist Gruber in seiner Analogie zum Heimatfilm darauf hin, daß auch die alten Häuser eine Art realer Zeitkapsel sind, die

aufgrund ihrer Lebensdauer, ihres Beharrungsvermögens im Strom der Zeit Spuren vergangener Lebensformen in die Gegenwart transportieren. Die Kulturlandschaft ist in diesem Sinne per se konservativ, indem sie das Vergangene bewahrt. Dieser Umstand bewirkt, daß wir, je ländlicher, desto mehr, immer in einem „historischen“ baulichen Umfeld leben. 22 GG: Z 1104 ff 23 GG: Z 1127 ff 24 Grubers Darstellung läßt den charakteristischen Naturbezug der ökologischen Bewegung aufscheinen, wie er etwa in den 1980er Jahren in Wieland /Bode / Diskos Grün kaputt – Landschaft und Gärten der Deutschen (München: Raben, 1983) formuliert wurde.

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der Region Bregenzerwald als vitales Potential.25 Mittels Aufklärung über die landschaftszerstörerischen Folgen einer fortschreitenden Zersiedelung durch Neubauten setzt sie bei der gesellschaftlichen Praxis an, Häuser wider alle ökonomische Vernunft und häufig sogar um den Preis ihres substantiellen Verfalls im Familienbesitz zu halten, eine Praxis, der eine Verknüpfung von Haus und familiärer Identität zugrundeliegt.26 Das Haus umfaßt die Identität seiner Bewohner

Das Haus als Erinnerungsbatterie

Die Ablösung vom individuellen Bedürfnis der Bewohner als Charakteristikum des historischen Hausbaus zeigt sich in der Alltagssprache dort, wo die Herkunft der Menschen mit ihrem Geburtshaus verknüpft wird und aus dem im Begriff „Elternhaus“ vereinten sozialen und lokalen Herkunftsangaben tatsächlich das Haus herauslöst und es an die Stelle der Familie setzt. „Und da hats dann einen Mann gegeben“, berichtet Gerhard Gruber, „den Sinz, Pfarrer Sinz später, und der, der kommt aus Thal, der kommt aus dem Gebäude, wo jetzt die Schule steht. Es ist nicht das gleiche Gebäude, aber das Vorläufergebäude, das ist dann umgebaut worden.“27 Pfarrer Martin Sinz und seine Leistung, der Parzelle Thal die identitätsstiftende Erhebung zur eigenen Pfarrgemeinde zu verschaffen, sowie die zeitgenössische Fortsetzung der sozialen Neukonstitution des Dorfes, als welche sich der „Selbsthifeverein Dorfgemeinschaft Thal“ versteht, wird uns als exemplarischer Fall durch das Kapitel Dorf begleiten. Gruber stellt hier Sinz’ Herkunft dar, als würde er eine Familie beschreiben, statt dessen benennt er ein Haus. Und nachdem das Haus selbst nicht mehr existiert28, verweist er in seiner Erzählung auf das Nachfolgehaus, das mit dem eigentlichen Sinz’schen Geburtshaus nur noch den bebauten Ort gemeinsam hat. Gruber schafft so in seiner Erzählung eine Herkunftskonstellation, in der das Haus an seinem Ort eine Art von Mutterrolle spielt, „aus“ der die Hauptperson der Erzählung stammt. Dasselbe Muster verwendet Ernst Wirthensohn, Bauherr des ersten „Architektenhauses“ am Ort und in dieser Rolle gleichzeitig „Architekturvermittler“. Hier spricht er als Historiker, zur Charakterisierung der selben Person: „Das ist also dieser Nachfolgebau vom Geburtshaus von Martin Sinz.“29 Im weiteren Gespräch über diesen Nachfolgebau, der die Schule des Dorfes Thal ist, taucht die den Häusern einbeschriebene Erinnerung in Gestalt sozialer Erfahrung nochmals auf, sodaß die den Häusern zugeschriebene Eigenschaft, „Erinnerungsbatterie“ zu 25 Vgl. Berchtold 2008 26 „Das Haus ist nicht zu trennen von der Hausgemeinschaft, der Familie als beständiger sozialer Gruppe, und von dem gemeinsamen Vorsatz, sie weiterzuführen. Bekanntlich verweist das Wort Haus in bestimmten, namentlich bäuerlichen und adligen Kulturtraditionen gleichzeitig auf die materielle Behausung und auf die Familie, die dort gehaust hat, haust oder hausen wird, die soziale Wesenheit, deren Transzendenz gegenüber den Einzelpersonen gerade die Tatsache bekräftigt, daß sie einen Besitzstand an

materiellen und symbolischen Gütern – insbesondere einen Namen, der oft von dem der Angehörigen abweicht – in direkter Linie zu vererben hat.“ Bourdieu (1995), S. 27 27 GG: Z 19 ff 28 Abbildung und Beschreibung von Martin Sinz’ Geburtshaus veröffentlicht Ernst Wirthensohn (1999/1), S. 60 ff. 29 EW 2: Z 3 ff 30 EW 2: Z 185 ff 31 ALE: Z 120 ff

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sein, am Beginn dieses Kapitels, das sich mit dem impliziten Wissen zu den Häusern befaßt, festgehalten werden kann. Das war nach der Machtübernahme das HJ-Zimmer. Da war die Hitlerjugend drin. Die alten Leut sagen: HJ-Zimmer.30

Auch Arno Eugster, ebenfalls Bauherr eines „ersten Architektenhauses“ an seinem Ort, der Gemeinde Langenegg, weist auf ein benachbartes Haus, diesmal um seine eigene Herkunft zu illustrieren. Das ist mein Elternhaus da drüben.31

Die Sichtverbindung macht den benennbaren Ort zum Ort, auf den man zeigen kann und dessen unübersehbare Existenz den Wahrheitsgehalt der verbalen Aussage belegt. Gleichzeitig rückt mit diesem Vorgang des Zeigens die Gestalt des sichtbaren Ortes in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Gestalt ist das Identifikationsmerkmal des Hauses, aber auch Gegenstand von Beurteilung und Einordnung, von Repräsentation. Das Haus als sichtbarer Ort stellt höhere Ansprüche, als der nur benannte Ort. Sein Aussehen wird bedeutsam, er setzt sich der visuellen Beurteilung aus, seine Gestalt wird gleichzeitig mit der Identifikation zum sozialen Auftritt.

Bau, Baugestalt und Identifikation des Ortes

Wo die Häuser aneinandergerückt sind, im Dorf oder in der „Parzelle“, dem Weiler, tritt zu den anthropomorphen und den materialimmanenten Konstituierungsbedingungen sowie der Anforderung, Schutz vor den Naturgewalten zu bieten, eine Aufeinanderbezogenheit der Bewohner mehrerer Häuser hinzu. Die Stellung der Bauernhäuser zueinander zeigt eine Gesellschaft, die einander anblickt. Wolfgang Schmidinger erläutert die Funktion des Dorfbrunnens als gemeinsamen Fixpunkt, indem er von seinen Eltern berichtet und damit stellvertretend eine Generation unter den heutigen Bewohnern charakterisiert, die dieses „einander An- und Zuschauen“, das die Häuser ermöglichen, als lebensnotwendige soziale Teilhabe verinnerlicht haben:

Beziehungen zur sozialen Gemeinschaft

Die Häuser (...), viele laufen dann wirklich so auf die Mitte zu, (...) auf die Tränke zu und es gibt irgendwie fast in jedem Haus (...) in irgend einer Form das einsichtig, dieser Platz und der Lebensraum und wenn man zufährt, (und umfährt) jedes Haus, sieht man das, weil, der (geht) dorthin, der geht dahin, der fährt dahin, das hat auch nicht mit Neugier, sondern schon in einer gewissen Form, in einer Kommunikation zu tun. Ich weiß, meine Mutter, (...) die ist einmal irgendwie in diese Ferienwohnung gezogen, für gewisse Zeit, mit meinem Vater, die (...) sieht wunderschön in den Wald, und Berge, und so weiter. Und die hat (lacht) das gar nicht ausgehalten da oben, weil einfach vorne war (...) dieses gewohnte Kommen und Gehen und Weggehen und Ankommen und Weglaufen und Kinder und, und Lkws und Berufsverkehr. Das war, das hat die, in die Richtung, gar nicht ausgehalten. Das heißt, das hat eigentlich das kleine Dorf geliefert, oder liefert das Dorf.32

Architekt Hans Purin stellt fest, daß für diese Teilnahme am sozialen Leben der Straße, die Schmidinger zufolge gleichzeitig eine Teilhabe an der jeweiligen Gesellschaft ist, die Ausrichtung der Stube selbst und innerhalb der Stube die Plazierung des Tisches in der vorderen Ecke die Voraussetzung und die Folge sind, gleichzeitig, daß das zugrundeliegende soziale Verhalten vergangen ist:

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Das Sitzen da, und der Blick, oder, daß man da immer hinausschauen kann, wenn man in der Ecke sitzt, daß man, wer kommt, wer geht. Früher war das wichtiger, heute interessiert man sich nimmer so.33

Die Ausrichtung des Hauses auf den „einsamen“, exklusiven Blick in die Landschaft, die für Schmidingers Eltern noch das Abgeschnittensein von der sozialen Gemeinschaft bedeutet hat, ist bei den Häusern, die im Gegensatz zu den Bauernhäusern tatsächlich von ihren Bewohnern erbaut werden, die Regel und vor allem in den Architektenhäusern seit den 1960er Jahren als neues soziales Ideal institutionalisiert.34 Der Abkehr vom Sichtbezug zur Dorfgemeinschaft, die diese Ausrichtung zu den Aussichtslagen bedeutet, tritt im Inneren der Häuser ein vermehrter Anspruch auf Privatheit der einzelnen Bewohner, ein Rückzug vor der Familie an die Seite. Vom Wechsel der Grundrißtypologie, der diesen Rückzugsanspruch spiegelt und ihn konkret ermöglicht, die die ihrerseits typisierten Architektenhäuser gegenüber dem regionalen Bauernhaustyp vollziehen, wird in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels die Rede sein. Stube

Trennung von Kochstelle und Ofen

Unter Forschern – und Architekten – gilt das Bregenzerwälder Bauernhaus als das höchstentwickelte Österreichs.35 Hans Purin stellt diesen Entwicklungshöhepunkt aus seiner Sicht als Architekt dar, dessen Erfahrung geprägt ist vom planerischen Umgang mit alten Bauernhäusern anläßlich ihrer Adaption an heutige Wohnbedürfnisse. Die Stube als „Herzstück“ des Bauernhauses widersetzt sich der Modernisierung am hartnäckigsten. Ihre traditionelle Form und Einrichtung stellt aus Purins Sicht einen „Endpunkt“ dar. Seine eigene Leistungsfähigkeit als Entwerfer erscheint ihm kraftlos gegenüber diesem evolutionären „Endstadium, oder, und das kann ich nicht mehr verbessern, das kann ich nur noch verschlimmbessern, wenn ich da was mache. Wird nichts mehr.“36 Die bautypologische Voraussetzung für die Stube der Bregenzerwälder Bauernhäuser ist die Errichtung einer Wand zwischen Flur und Stube, eine Maßnahme, die die Feuerstelle in den Flur verlegt.37 Obwohl weiterhin im Zentrum des Hauses gelegen, ist das entwicklungsgeschichtlich zunächst 32 WS 1: Z 1122 ff 33 HP: Z 1049 ff 34 Gunter Wratzfelds Haus Watzenegg ist ein Beispiel für diese Abwendung von der Dorfgemeinschaft zugunsten des Panoramablicks, wie die neue Besitzerin im Gespräch vom 15.11.2004 bestätigt. Ausführlicher im Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels. 35 Gnaiger /Stiller, S. 9 36 HP: Z 1092 ff 37 Mit Flur ist im Bregenzerwälder Bauernhaus der geräumige Zugangsraum bezeichnet, der sowohl die Stiege ins Obergeschoß als auch die Küche aufnimmt. In der Hausforschung wird der Haustyp als „Flurküchenhaus“ bezeichnet. Als Funktionsraum des Wohnens stellt er zusammen mit den übrigen Räumen

des Erdgeschosses eine „Matrix miteinander verbundener Räume“ und damit einen archaischen Grundrißtyp her, den Evans kultur- und vor allem sozialgeschichtlich vom „Korridorgrundriß“ unterscheidet. Vgl. ausführlicher im Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels. 38 Purin betont die bautechnische Notwendigkeit des Kaminaustritts am First, insbesondere bei Dachdeckungen aus Holzschindeln. (HP: Z 1040 ff) 39 WS 1: 513 ff 40 Purin weist auf Karl Ilgs diesbezügliche Forschungsergebnisse hin. (HP: Z 906 ff) 41 HP: Z 1063 ff 42 HP: Z 937 ff 43 HP: Z 1053 ff

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offene Feuer mit seiner Rauchentwicklung, die die Strickwände und die Holzdecke der Flurküche schwarz beizt, aus der Stube verbannt. Stubenseitig grenzt der gemauerte Ofen an den zentralen Kamin des Hauses.38 Die Feuerung des Ofens erfolgt vom Flur aus. Wolfgang Schmidinger faßt die soziale Komponente dieser Entwicklung zusammen, wenn er feststellt, die „Feuerstelle ist eine zentrale Anordnung und (...) das Raumprogramm geht drumherum“39 und damit in den rings um den Kamin gruppierten Räumen Flurküche, Stube, Gaden, noch den archaischen „Einraum“ identifiziert.40 Purin weist auf die Wärmeökonomie der Raumgruppierung um den zentralen Ofen hin. „Im Sommer, also unterm Jahr hat man den Ofen nicht geheizt, aber da war vom Herd, von der Küche, war da, ist da der Rauch, die Abgase, über so einen, gekacheltes System weggeführt worden, das hat dann die Stube ein bißchen temperiert, damit sie am Abend, hat man ja gekocht (...) und am Mittag hat man gekocht, und dann war die Stube immer ein bißchen wärmer, als die übrigen Räume.41 Der quadratische Stubengrundriß läßt sich, ausgehend vom Ofen in der inneren Raumecke, mittels einer gedachten Diagonale zur gegenüberliegenden Ecke, wo der Herrgottswinkel über den eckbankumschlossenen Tisch wacht, als zwei symmetrische Dreieckshälften beschreiben. Hans Purin: Ganz wichtig natürlich, die Stube als quadratischer Raum, (...) das ist ein symmetrischer Raum. (...) Der hat immer vier Fenster, zwei Türen, und (...) die Symmetrieachse geht über die Diagonale, die Dreiecke sind symmetrische Hälften. (...) Und wenn man das stört, das geht bis in die Einrichtung, wenn man dort irgendwas anders macht, dann stimmt der ganze Raum nimmer. Man darf kein Fenster zumachen. (...) Die Bank war eingebaut, der Tisch war frei, und das andere, es hat ein Sofa gegeben (...). (Zeichnet) Das ist halt der quadratische Raum, oder, und dann ist, da im Eck ist der Ofen, der von außen geheizt ist und der in das andere Zimmer hineinreicht und dann gibts da eine Tür und da eine Tür, dann, da ist der eingebaute Kasten, das sieht man im Bregenzerwald in jedem Gasthaus, dann ist die Eckbank mit dem Tisch und da ist die, ist die Couch, manchmal hat man noch eine Uhr eingebaut. Jetzt sieht man schon, wenn da die Diagonale durchgeht, oder, daß das – und diese vier Fenster sind halt auch sehr wichtig, oder. 42

Die Symmetrie umfaßt Fenster und Türen und auch die Möblierung in einer Weise, daß jedes traditionell an einem Ort fixierte Stück in der gegenüberliegenden Dreieckshälfte seine Entsprechung findet. Die Stube mit ihrer Ordnung, die allen Dingen des Lebens ihren Platz zugewiesen hat, bildet eine Gesellschaft ab, die diese Ordnung „lebt“. Nicht nur der Alltag spiegelt sich in dieser Ordnung der Gegenstände, auch der Lebenszyklus der Menschen. Wo es in der Elternschlafkammer neben der Stube, dem Gaden, eine Verbindungstür in den zentralen Hausflur gibt, wird diese so lange vom Kasten verstellt, bis ein Verstorbener hindurchzutragen ist. Im Schlafzimmer, das war früher der Brauch, die Türe da, da gibts ja auch eine Tür, in die Küche, in den Küchenflur raus, und die war aber immer zu, da hat man einen Schrank davorgestellt. Und da hat man, wenn jemand gestorben ist, hat man ihn da, das war dann der Totenausgang, den haben sie nicht gern durch die Stube hinausgetragen, oder, wenn man da gestorben ist, der Hausherr, oder die Hausfrau.43

Totentür

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Die räumliche Ordnung des Bauernhauses enthält damit auch Dispositionen für den Verlauf des Lebens zum Tod hin und den angestammten Platz der Lebensalter: vom Kinderbett zur Eckbank, zur Ofenbank, ins Elternbett und als Toter durch die eigens dafür reservierte Tür ins Freie, auf den Friedhof.44 Fenster

Bauweise und Gebrauchseigenschaften

Zur Stube gehört neben ihrem Wandtäfer und der Einrichtung, die bis auf die Stühle ortsfest ist, das Fenster. Es ist, wie die gesamte Einrichtung, ein Produkt des Tischlers. Das traditionelle Fenster des Wälder Bauernhauses ist möglicherweise sein anspruchsvollstes Element, eine Spitzenleistung des traditionellen Tischlerhandwerks der Region.45 Bertram Dragaschnig, aus dem Zimmererhandwerk stammender Bauunternehmer, der bereits im Kapitel Holz aufgetreten ist, vermutet, daß es heutzutage „bloß eigentlich zwei Fensterbauer [gibt], die es wirklich können“.46 Wie das Kassettentäfer, mit dem das Innere der Stube ausgestattet ist, wie der Schindelpanzer, der seit dem neunzehnten Jahrhundert die Fassade des Wohnteils schützt, sind auch die Fensterrahmen nicht lackiert, sondern aus unbehandeltem Weichholz, Fichte, Weißtanne oder Lärche. Wie das Innentäfer und der Holzboden der Stube sind sie in den Reinigungsvorgang einbezogen, der sich traditionell mit Wasser, Seife, Bürste und Stahlwolle vollzieht, sodaß die feinen Sprossen jahrzehntealter Fenster in ihrer graugelblichen Farbe und den von der Stahlwolle abgeschliffenen Kanten an von Wellengang, Sand und Kieseln bearbeitetes Treibholz erinnern. Die feinen Sprossen sind häufig vom jahrzehntelangen Bürsten so dünn gewetzt, daß nur noch das Fensterglas sie an ihrem Platz hält. Neben dieser Belastung, der Seifenlauge und den Reinigungsgeräten von innen, Regen und Schnee von außen standzuhalten, ist es vor allem ihre komplexe Beweglichkeit, die dem Fensterbauer Meisterschaft abverlangt. Um sommers herausnehmbar zu sein, sind die außenseitigen Flügel der Kastenfenster in ihrem Stock, der traditionell einen festen Mittelpfosten hat, nur mittels Sturmhaken befestigt, also unbeweglich. Die winterliche Lüftungsöffnung ermöglicht im inneren wie im äußeren Flügel das „Schieberle“, die unteren zwei Drittel der Flügelverglasung, die in einem separaten Schiebeflügel gefaßt und entlang seines Gegenstücks, der Quersprosse des Fensterflügels, der für den Schiebeflügel zum Stock wird, geführt, zur Seite zu schieben und so zu öffnen ist. Und wäre diese Beweglichkeit auf kleinstem Raum, dieses Aus- und Einhängen des Win44 Bauherr S., dessen Umbau eines denkmalgeschützten Wälderhauses in Schwarzenberg ich 2008 betreuen durfte, erzählt von Aufbahrungen verstorbener Familienmitglieder in der Stube, wenn die Besucher zu zahlreich für die Größe des Gadens (des neben der Stube gelegenen Elternschlafraums) waren. Das anschließende Waschen von Boden, Wandund Deckentäfer führt den Raum wieder der alltäglichen Verwendbarkeit zu. Vom rituellen Reinigen mit

Wasser, Seife und Bürste ist auch im Abschnitt Holz als Baustoff des Kapitels Holz die Rede. 45 Vgl. Bundesdenkmalamt (2002) 46 BD: Z 1224 ff 47 BD: Z 1352 ff 48 Ebd. 49 ALE: Z 418 ff 50 BD: Z 1222 ff 51 Ebd.

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terfensters mit seinem Schieberle, das Drehen des Hauptflügels am Eisenbeschlag des inneren Flügels, der wiederum das Schieberle zu tragen und zu führen hat, noch nicht genug Anspruch an das Holz und seine Formstabilität trotz fortgesetzten Quellens und Schrumpfens beim Naßwerden und Trocknen, erläutert Bertram Dragaschnig eine letzte Finesse, die erst zutage tritt, wenn ein Glas zerspringt. Da sind Holzdübel drinnen, das ist der Zapfen, und ein Holzdübel drinnen. (...) Ist nicht geleimt. (...) Naa, wenns geleimt wär, dann könnt mans, wenn eine Scheibe kaputt ist, nimmer auswechseln. (...) Ja, wenn es jetzt so ist, daß die Scheibe kaputt geht, schraubt man das weg, schlägt die Dübel durch, nimmt den Rahmen auseinander, setzt eine neue Scheibe ein und schiebts wieder zusammen.47

Mit seinem Nachsatz „Es braucht eine dementsprechende Holzqualität, daß der Schiebeflügel wieder geht“48 lokalisiert Dragaschnig eine Grundlegung dieser handwerklichen Spitzenleistung bereits beim Holzeinschlag im Wald. Es mutet wie Barbarei an und ist doch nur bäuerlicher Pragmatismus unter den Vorzeichen der sozialen Umwertungen, die die Nachkriegsjahrzehnte des Zweiten Weltkriegs auch dem Bregenzerwald brachten, wenn Dragaschnig erzählt, daß das von ihm sanierte Bauernhaus in Lingenau erst nach dem Freilegen des Strickbaus beim Entfernen des verwitterten Schindelpanzers seine alte Fensterteilung offenbart hatte. Um das neue Angebot billiger und größerer Isolierglasfenster nutzen zu können, waren die Vorbesitzer dem jahrhundertealten Strickbau mit der Motorsäge zuleibe gerückt. Die modernen Fenster hatten die traditionellen Kastenfenster schäbig wie die abgetragene Kleidung eines Verstorbenen aussehen lassen. Arno Eugster, als Lehrersohn in einem modernisierten Bauernhaus aufgewachsen, fügt dem Bild vom zeitgemäßen Wohnen der 1960er Jahre, dem das Bauernhaus nur noch beengende Hülle war, weitere Mosaiksteine hinzu: Ich komme eigentlich nicht von einem Bauernhof, sondern nur aus einem Bauernhaus. Das Haus, in dem ich gewohnt habe, mein Elternhaus, sieht innen ganz anders aus, das ist innen tapeziert. Da gibts eigentlich kein Holz. Das ist ein Holzhaus, aber es ist alles verkleidet. (...) Außen sind Eternitplatten drauf und innen ist alles tapeziert und Gipsdecken und so weiter, also, da sieht man kein Stückchen Holz. Nur an der Stiege vielleicht.49

Dagegen kann sich Dragaschnig, als er im Jahr 2005 fragt, „Wie saniert man, wenn man saniert?“ 50, bereits auf eine zwei Jahrzehnte währende „Resozialisierung“ des Wälder Bauernhausfensters stützen und davon ausgehen, daß seine Investition, „so ein Fenster kostet bißl mehr wie tausend Euro“51, sich durch die Vermietung an eine Arztpraxis wieder amortisiert. Den Zeitpunkt einer gesellschaftlichen Bewußtseinswende, die sich am zunächst unbedeutend scheinenden Baudetail, dem Umgang mit den traditionellen Fenstern der historischen Bauernhäuser, manifestiert und einen Bruch im Fortschrittsglauben der Industriegesellschaft markiert, hat Renate Breuß in einem Interview mit Tischlermeister Anton Mohr aus Andelsbuch rekonstruiert. Mohr stellt hier nicht die technische Problemstellung selbst, sondern die Rückkehr einer Wertschätzung gegenüber traditioneller handwerklicher

Resozialisierung des traditionellen Fensters

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Arbeit und mit ihr gegenüber dem traditionellen Bauteil am eigenen Haus, in den Mittelpunkt seiner Einschätzung. Dieser als Resozialisierung des traditionellen Handwerks (in den Erscheinungsformen Arbeitsform und Produkt) beschreibbare gesellschaftliche Wandel betrifft ihn als Handwerker und Obmann des lokalen Handwerkervereins ganz direkt. Bedeutsam ist vor allem die Freiwilligkeit dieser Rückkehr zum handwerklichen Produkt, eine „aufgeklärte“ Resozialisierung, die sich unterscheidet von der historischen Situation einer Handwerklichkeit aus Mangel an Alternativen. 1980 haben wir in Au das erste Haus mit Schiebefenster gemacht, vorher hätte man Dich ausgelacht. (...) Mein Vater hat immer wieder solche Sanierungen gemacht, also alte Fenster geflickt. Das hat sich immer nur in einem Vorsäß oder eher unbeachteten Objekten abgespielt. Daß man ein Wohnhaus wieder mit solchen Fenstern ausgestattet hat, das ist das erste Mal 1980 passiert. Vorher hat man wirklich bloß die großen Scheiben eingesetzt, also diese Fensterchen rausgeworfen und die großen Scheiben reingetan – in ein Wälderhaus.52 Funktionsbegriff des Handwerks

Die Entscheidung zwischen industriell oder handwerklich hergestelltem Fenster trifft der Bauherr. Dieser Entscheidung liegt eine gesellschaftliche Einschätzung der Tauglichkeit des Industrieprodukts zugrunde und ein technikbezogener Fortschrittsoptimismus, der offenbar zu diesem Zeitpunkt brüchig zu werden beginnt. An dieser Stelle, die mit dem Fenster der Wälder Bauernhäuser durch eine Resozialisierung eines genuin handwerklichen Bauteils markiert ist, ist auf einen Scheideweg zwischen handwerklicher Tradition und akademischer Traditionspflege hinzuweisen. Die handwerkliche Tradition ist durch eine Flexibilität gekennzeichnet, die die überlieferte Konstruktionsweise in einem bestimmten Umfang als modifizierbare Verfügungsmasse zu nutzen imstande ist. So entdeckt Dragaschnig am historischen Fenstertyp ein Potential in bezug auf die moderne Anforderung des Schallschutzes. „Akustisch ganz gut, die Fenster. Dort am Dorfplatz, wo viel Verkehr ist, ist überhaupt kein Problem.“53 So ändert er dessen Konstruktion gemäß dieser Funktionserweiterung soweit ab, daß aus dem ehemals sommers auszuhängenden „Vorfenster“ das äußere Flügelpaar eines vollwertigen Kastenfensters wird. Ich sag mal so, im Wälderhaus ist das nicht original, da war das äußere Fenster ohne Beschlag, zum Wegnehmen. (...) Ich brauche es schallmäßig. Das ganze Jahr. Und daß man es putzen kann, haben wir es als Drehflügel gemacht. Ohne daß man die Proportionen (verändert), die Proportionen sind wirklich aus dem, da gibts ein Heft vom Bundesdenkmalamt, wo das Fenster drin ist, wo die Proportionen wirklich stimmen.54

Bedingt durch ihre charakteristische, wissenschaftlich-akademische Wahrnehmung „konservieren“ die Kunsthistoriker des Bundesdenkmalamtes lediglich die Form eines als exemplarisch angesehenen Einzelstücks55, indem sie diese zur starren, weil auf die sichtbare Oberfläche reduzierten Norm erheben. Funktionalität der Bauernhäuser

Das Bauernhaus ist nicht nur ein Haus. Neben seiner typologischen Einbindung in die regionale Hauslandschaft betrifft dies auch den Funktionsbegriff, der für die Gestalt des Bauernhauses eine andere Bedeutung besitzt

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als für die des modernen Hauses. Das Bauernhaus könnte als funktionell unterdeterminiert bezeichnet werden. Es zeigt in seiner Funktionalität, besser, seinem Funktionspotential, eine große Variabilität. Das Bauernhaus ist nicht nur ein Haus, indem es gleichermaßen Arbeitswie Lebensort ist. Die Gemeinsamkeit von Leben und Arbeiten findet sich sowohl im Haus des Bauern als auch in demjenigen des Handwerkers. Häufig ist im Bregenzerwald der Fall anzutreffen, daß ein ehemaliges Bauernhaus nun Wohnung und Werkstatt eines Handwerkers beherbergt. Die offene Funktionalität des Hauses spiegelt die zwischen bäuerlichem und handwerklichem Arbeiten changierende Wirtschaftsweise der ländlichen Bevölkerung, indem sie diese einerseits ermöglicht und andererseits daraus entstanden ist.56 Auch die ältesten Schulhäuser waren zunächst Bauernhäuser57, die traditionellen Gasthäuser sind es bis heute.58 Gegenüber dem heute gebräuchlichen, modernen Funktionalitätsbegriff, der nur diejenige Form anerkennt und zuläßt, die sich der jeweiligen Zweckbestimmung möglichst eng anschmiegt und mit diesem Design andere Funktionen zugleich ausschließt, ist in der alten Hauslandschaft der Bauernhäuser ein anderer Funktionalitätsbegriff angelegt und mit ihm ein Prinzip, dasselbe Ding, das Haus, über Jahrhunderte zu nutzen, es durch geringfügige, bestandserhaltende Adaptionen den aktuellen Anforderungen anzupassen und damit in fortgesetzter Brauchbarkeit zu erhalten: größere Fenster im Fall des Schulhauses, steileres Dach bei gestiegenem Platzbedarf, Anbauten zur Aufnahme von Stickmaschinen, Vergrößerung des Wirtschaftsteils, um neuen Maschinen oder umfangreicherer Viehhaltung gerecht zu werden. Das fortgesetzte Weiterverwenden dieser Häuser – das sie eher denn als individuelles Werk als Produkt einer Gesellschaft erscheinen läßt – gibt dem Wohnen darin eine Atmosphäre, die wesentlich durch die präsenten Spuren der Vorbewohner geprägt ist. Bauernhäuser sind im Untersuchungsgebiet noch allgegenwärtig. Sie treten heute in den Gesprächen mit Bauherren vor allem als alte, zunehmend verfallende Häuser in Erscheinung. Noch sind sie bewohnbar und stehen, sofern von den eigenen Bewohnern bereits verlassen, Feriengästen zur Verfügung, aber auch denjenigen Familien, die, weil ohne eigenen Hausbesitz, dauerhaft zur Miete wohnen. Leopoldine Eugster berichtet von einer solchen typischen Situation im Nachbarhaus: „Das ist sicher schon... zweihundert Jahre. Das stand jetzt zwanzig Jahre unbewohnt. Also, nur mit Gästen. Und seit einem Jahr wohnt eine Frau drinnen. Auch eine Lehrerin. Die ist jetzt da eingezogen.“59 52 53 54 55 56

Breuß/Metzler (2001), S.10 f BD: Z 1239 ff BD: Z 1340 ff Vgl. Anm. 41 WS 2: Z 104 ff

57 GG: Z 1269 ff 58 „Und (nachdem) über den Kirchenbau offensichtlich soviel Umtrieb war, haben beide dann eine Wirtschaft gemacht, beide Bauern. Daraus sind diese Gasthäuser entstanden.“ (EW 2: Z 496 ff)

Erfahrungen mit dem Leben im Bauernhaus

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Die Wohnerfahrung im Bauernhaus ist in der Generation der befragten Bauherren und Architekten als implizites Wissen noch präsent. Im Gespräch mit dem Ehepaar Eugster etwa kommt zum Vorschein, daß beide Eheleute in Bauernhäusern aufgewachsen sind. So prägt diese eigene Wohnerfahrung auch das Wohnen im neuen Haus auf vielfältige Weise60, ebenso wie der Bestand der Bauernhäuser in den ästhetischen Normen der Gesellschaft präsent bleibt. „Jedes Bauernhaus hat außen unbehandelte Schindeln. Und die werden mit der Zeit grau (weist auf ein altes Bauernhaus in der Nachbarschaft hin, das vom Fenster aus zu sehen ist).“61 Auch Norbert Mittersteiner, wie Bertram Dragaschnig bereits im Kapitel Holz vertreten, ist im Bauernhaus aufgewachsen. „Das war eigentlich verfallen, also alt, und man hat nie was gemacht, wir waren da in Miete.“ Trotz seiner Bewertung des Zustandes, „eine Bude, also wirklich, man würde jetzt sagen, also schlimmstes Ghetto (lacht), irgendwie, weil das so alt war und schlecht und ungepflegt“62, hat er später mit der eigenen Familie erneut ein Bauernhaus zur Miete bewohnt, in dem er ähnliche Zustände vorfindet. Das war irgendwie abgewohnt, und da war kein gescheites Klo, und kein Bad war drin, und die Verhältnisse, der Besitzer hat gesagt, die Spritzer an der Decke, die sind noch von unseren Kindern. Die Budel, also von der Flasche. Aber die Kinder waren fünf Jahre jünger als wir. Also, sehr heimelig.63

Seine Bewertung fällt positiv aus, denn er findet im Bauernhaus eine Atmosphäre und Potentiale vor, die Begegnungen erleichtern, indem sie undeterminierten Raum, im Gegensatz zum als Privatsphäre determinierten Raum der Architektenhäuser64, bereitstellt und so die Erfahrung gemeinschaftlichen Lebens ermöglicht. Das war die Mutter, die Beziehungen, es war immer ein offenes Haus, ich hab immer Freunde, und Freundinnen, und alles, es war immer sehr beengt, oder, aber man hat immer in dem Haus Kontakt pflegen können und dürfen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.65

Auch Gespräche mit eigenen Bauherren bestätigen die soziale Grunderfahrung, die darauf beruht, daß die Stube im Bauernhaus der allgemeine Aufenthaltsort war. Zwar zogen sich die Kinder „zum Lernen“ in die Schlafkammern zurück, doch hielt man sich dort, wegen mangelhafter Heizmöglichkeit, nicht länger als nötig auf.66 Für Norbert Mittersteiner bildet das Leben im Bauernhaus nicht nur den Hintergrund für erste soziale Erfahrungen, sondern auch für die Erkenntnis, daß eigenhändige Arbeit die Lebensdauer des Hauses verlängert. In der Siedlung Im Fang67 ist die Ordnung der Hausgemeinschaft, der zusammen 59 60 61 62 63 64 65 66

ALE: Z 767 ff Vgl. Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels ALE: Z 763 ff RNM: Z 1171 ff RNM: Z 1195 ff Vgl. Abschnitt Architektenhaus dieses Kapitels RNM: Z 1184 ff Gespräch mit Frau E., 28.09. 2009

67 Neben den eigenen Forschungsgesprächen mit dem Ehepaar Mittersteiner finden sich Interviews mit den Bewohnern der Siedlung Im Fang in: Mayr (1997). 68 RNM: Z 345 ff 69 RNM: Z 410 ff 70 Der Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, thematisiert diesen Aspekt.

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wohnenden fünf Familien, Bestandteil der „Architektur“ der Siedlung. Ausgehend vom erlebten Verfall durch unzureichende Verantwortlichkeit und mangelnde Pflege, die er in den gemieteten Bauernhäusern kennengelernt hatte, betont Mittersteiner die Verantwortlichkeit und Verpflichtung zur eigenhändigen Erhaltung, die als Bestandteil jener Hausordnung institutionalisiert ist.68 Weil die Wertschätzung wirkt sich einfach sehr stark aus in der Haltbarkeit, oder.69

Es ist ein Widerschein des Lebens im Bauernhaus innerhalb der modernen Sphäre, die die Architektenhäuser der 1980er Jahre bilden.70

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4.2 Landhaus Das Landhaus repräsentiert den neuen Bewohnertyp des Dorfes

Solange das traditionelle Bauernhaus seine Allgegenwart im ländlichen Kulturraum bewahrt, bildet es den Bezugspunkt für die gesamte Baupraxis dieses Raumes. Das Bauernhaus stellt darin das präsente Gegenüber für ein vielgestaltiges Spektrum formaler Abgrenzungen und Annäherungen dar, auch dort, wo es sich bei den Neubauten um reine Wohnhäuser handelt. Dabei muß gerade der massenhafte Bau solcher reiner Wohnhäuser, von Häusern also, die nicht gleichzeitig Arbeitsstätte sind, wie es das Haus des Bauern oder dasjenige des Handwerkers war, als Indikator eines radikalen Wandels der ländlichen Gesellschaft verstanden werden, einer Gesellschaft, deren Geschlossenheit einst den einheitlichen Bauernhaustyp hervorgebracht hat. Dieser grundlegende soziale Wandel, der eine Neubewertung ländlicher Räume erforderlich werden läßt, nimmt im Verlauf der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs je nach Region einen unterschiedlichen Verlauf. Seine extremen Ausprägungen können als Umwandlung der ehemaligen Bauerndörfer zu Pendlerwohnorten und damit „Vororten“ naher Städte oder zur Bildung stadtähnlicher Agglomerationen, wie sie etwa das Vorarlberger Rheintal darstellt, beobachtet werden. In stadtfernen Regionen tritt derselbe Prozeß als Entvölkerung der Dörfer und Verödung der Kulturlandschaft in Erscheinung. Beiden Extremen ist gemeinsam, daß der ländliche Raum und seine Gesellschaft, parallel zum wirtschaftlichen und sozialen Bedeutungsverlust, den die Landwirtschaft im gleichen Zeitraum erfährt1, seine ehemalige wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit verliert.2 Das ländliche Einfamilienhaus, sowohl das „anonyme“ als auch das „Architektenhaus“, ist ein zentraler Indikator für diesen Prozeß, da es einen neuen Bewohnertyp der Dörfer repräsentiert. Dieser erwirtschaftet sein Einkommen nicht mehr ausdrücklich oder nur noch zufällig im und für das Dorf. Er nutzt das Dorf nur noch als Wohnort.3

Das Ende des Wälderhauses

Bislang gibt es keine Institution, die der Frage nachgeht, wann das letzte traditionelle Bregenzerwälder Bauernhaus gebaut worden ist. Die Kunstgeschichte, in Gestalt des Denkmalschutzes am ehesten für die Erforschung der 1 Krammer/Scheer widmen sich dem stufenweisen Abbau der Vorrangstellung von Landwirtschaft, die diese als bestimmende Lebens- und Wirtschaftsform des ländlichen Raumes „seit der Aufhebung der feudalen Herrschaftsordnung“ innegehabt habe. „Erst sehr spät zerbrach diese Form der ländlichen Arbeitsund Lebenswelt endgültig, als ab ca. 1950 industrielle Formen der Technik in der Landwirtschaft verstärkt Fuß faßten.“ Krammer /Scheer (1977), S. 111 2 Der angedeutete Prozeß einer beschleunigten Verstädterung des ländlichen Raumes manifestiert sich etwa in der groß angelegten Analyse „Die Schweiz –

Ein städtebauliches Porträt“, durchgeführt vom ETHStudio Basel und 2006 publiziert. Ausführlicheres dazu im Kapitel Dorf. 3 Die sinkende Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes macht ihn von Subventionen abhängig und damit zum Gegenstand einer ökonomischen Rentabilitätsbeurteilung im politischen Rahmen. Vgl. Klingholz (2009), der für seine Analyse die ländlichen Regionen der „neuen Bundesländer“ Deutschlands, das Gebiet der ehemaligen DDR, ins Auge faßt. Die vorliegende Studie widmet sich im Kapitel Dorf ausführlicher dem Thema.

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„Hauslandschaften“ zuständig, findet ihre Attraktionen eher im ältesten statt im jüngsten Baudatum.4 Die Architektenschaft reduziert die Frage auf den baulichen Typ des Bauernhauses, wiederum, ohne sich die dahinterliegende soziale Konstruktion zu vergegenwärtigen, ein romantischer und genuin akademischer Ansatz, der gegen Ende dieses Abschnitts unter dem Stichwort Chalets nochmals aufgegriffen werden wird.5 Wer sich der Frage nach dem Ende des Wälderhauses widmet, müßte wohl zunächst Anlässe für den Neubau eines Bauernhauses unterscheiden: Den Ersatz nach Zerstörung, etwa durch Brand, am alten Ort oder die neue Hofgründung am neuen Platz.6 Nachdem das Land längst verteilt ist, ist letzteres nur durch Teilung eines vorhandenen Grundbesitzes denkbar, und hier strebt die Vereinödung7 seit dem achtzehnten Jahrhundert, verstärkt unter bayerischer Herrschaft zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts betrieben, bereits in die Gegenrichtung, zur Vergrößerung der bereits bis zur Gefährdung der Existenzsicherung zerstückelten Gründe. Meine wichtigsten Gesprächspartner für diesen und die nachfolgenden Abschnitte dieses Kapitels sind Leopoldine und Arno Eugster, ein Lehrerehepaar in der Vorderwälder Gemeinde Langenegg. Arno Eugster, Hauptschuldirektor in der Nachbargemeinde Doren, stellt das Ende des Wälderhauses indirekt als Ende des diesem zugeordneten sozialen Standes und dessen traditioneller Lebensform dar. Es hat alte Bauernhäuser gegeben. Und neue Bauernhäuser hat niemand gebaut, höchstens nur ein Teilbereich wurde erneuert. Und alle, auch solche, die alte Bauernhäuser erneuert haben, haben dann vorne, vor das Bauernhaus, oder hinten am Wirtschaftstrakt, ein Allgäuerhaus hingestellt. Solche Balkone! Kein einziges Bauernhaus hat zum Beispiel Balkone. Und die neuen Bauernhäuser haben dann alle vorne und hinten Balkone gehabt.8

Die geschilderte bauliche Collage, die durch das Anstückeln des Wirtschaftsteiles eines Bauernhauses mit einem „Allgäuerhaus“ zustande kommt, eines gemauerten, weiß verputzten Hauses mit Balkon, verwischt die Grenze zwischen dem Bautyp des Bauernhauses und dem reinen Wohnhaus, das dieses „Allgäuerhaus“ ansonsten darstellt.9 Hinter dieser Verwischung der Bautypen tritt eine gesellschaftliche Verwischung ins Blickfeld, die die 4 Im Gespräch mit der für den Bregenzerwald zuständigen Denkmalschutzbeauftragten (25. 06. 2009) wurde deutlich, daß der Schutz des substantiellen Originals die denkmalpflegerischen Kräfte vollständig bindet. Das Inventar der denkmalgeschützten Objekte ist nicht öffentlich zugänglich, um die geschützten oder zum Schutz vorgesehenen Häuser und Ensembles nicht zum Gegenstand von Verwertungsinteressen zu machen. Im Dehio Vorarlberg sind lediglich Ausschnitte aus diesem Inventar verzeichnet, dessen letzte Auflage 1983 ist jahrzehntealt. Das Grundbuch bietet außerhalb der internen Unterlagen

des Bundesdenkmalamts den einzigen „Überblick“ aller denkmalgeschützten Objekte eines Raumes. 5 Das Wochenendhaus Hämmerle auf dem Bödele, 1932 von Architekt Alfons Fritz geplant, ist eines derjenigen Häuser, die unter Architekten als „Letztes Wälderhaus“ gehandelt werden. Abgebildet in: Sagmeister (1990), S. 37 6 Zu den Bedingungen neuer Hofgründungen im Alpenraum vgl. Werner Meyers Aufsätze zum Schweizer „Landesausbau“, auch als „Binnenkolonisation“ bezeichnet. Historisches Lexikon der Schweiz, OnlineAusgabe

Verwischung baulicher Typen

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traditionellen Grenzen zwischen den Berufen bzw. sozialen Ständen auflöst, im konkreten Fall demjenigen des Bauern gegenüber dem Industriearbeiter oder, umfassender, demjenigen, der „das Land“ nur mehr bewohnt und nicht mehr bewirtschaftet.

Auflösung der Tradition

Eine durchgehende Zäsur, ein datierbares „Ende des Wälderhauses“ ist für die untersuchte Region demnach nicht feststellbar und erschiene in seiner Beschränkung auf den baulichen Typ auch als naive Wahrnehmungsverengung, sobald der parallel stattfindende soziale Wandel als Ursache zur Kenntnis genommen ist. Vielmehr findet um 1980 ein wenigstens zwei Jahrhunderte zurückreichender und mit den zentralen Modernisierungsfaktoren der mitteleuropäischen Gesellschaften, für die hier zunächst die Begriffe Aufklärung und Industrialisierung nur schlagworthaft stehen sollen, vielfach verflochtener Prozeß seinen Höhepunkt, der die Auflösung dessen bewirkt hat, was der kunsthistorisch geschulte Blick als Tradition ansieht. Er bewirkt die Auflösung einer durch Alternativlosigkeit gekennzeichneten Lebensform, mit ihrer im Mangel begründeten Verfeinerung der Selbstversorgung, durch Hinzutreten von Wahlmöglichkeiten, die als Folge steigender individueller Mobilität nun auch im ländlichen Raum verfügbar werden. André Gorz weist darauf hin, daß mit diesem Prozeß eine tiefgreifende Desorientierung des Einzelnen verbunden ist, dem das intuitive Verständnis seiner Lebenswelt abhanden kommt.10 Gorz ortet in diesem Verlusterlebnis den ursprünglichen Gründungsanlaß der ökologischen Bewegung. Mit dem undatierbaren „Ende des Wälderhauses“ geht eine soziale Epoche zu Ende, die durch eine Dominanz des Bauernstandes in der ländlichen Gesellschaft gekennzeichnet war. Die dieser Lebensform zugeordnete Wirtschaftsweise hat im Charakter unserer Kulturlandschaft ein bis heute sichtbares Nachbild hinterlassen. An deren Stelle tritt eine soziale Mischung, ermöglicht vor allem durch die gestiegene individuelle Mobilität, die die ehemalige räumliche Segregation von städtischer und ländlicher Gesellschaft aufgelöst hat. Im untersuchten Feld tritt vor allem der zunehmend selbstbewußte Auftritt einer Akademikerschicht in der ländlichen Gesellschaft prägnant in Erscheinung.11 Der Lehrer ist derjenige Akademiker, der neben dem Pfarrer eine etablierte soziale Position im Dorf besitzt. Mit dem Ausbau des Schulsystems im ländlichen Raum und dem damit einhergehenden Bau von Hauptschulen und Gymnasien12, nimmt die Zahl der Lehrer, die im Dorf leben, zu.

7 Vgl. etwa Blank (1999) 8 ALE: Z 705 ff 9 Die klar unterscheidbare bauliche Typologie, wie sie die Kunstgeschichte erzeugt hat, erscheint bereits für das traditionelle Bauernhaus als besonders unpassend. Insbesondere die universelle Funktionalität,

die den selben baulichen Grundtyp als Bauernhaus, als Gasthaus, als Handwerkerhaus und als Schulhaus brauchbar macht, spricht gegen eine solche einseitig an formalen Kriterien orientierte Kategorisierung. 10 André Gorz: Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung; in: Gorz, S. 31 ff

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Daneben schreitet der Trennungsprozeß von Wohn-und Arbeitsort fort. Pendlersiedlungen entstehen, die keine einheitliche bauliche Identität mehr aufweisen, deren Häuser vielmehr als beziehungslose Summe der vertretenen Individualitäten in Erscheinung treten. Der ländliche Raum, seine soziale Identität, seine wirtschaftliche Zukunft, seine formale Gestalt, wird neu „konstruiert“. Das ländliche Einfamilienhaus ist ein Medium in diesem Verhandlungsprozeß. Um den Einfluß von Architektur auf dieses Medium zu beurteilen, ist dem Bauherrn eine weit höhere Wirkmacht zuzuschreiben als dem Architekten. Der Bauherr ist derjenige, der den Architeken wählt, ihn ins Dorf holt, um sich selbst im sozialen Umfeld neu zu positionieren. Erst durch den Bauherrn wird Architektur, hier das substantielle Haus mit seinen hinterlegten sozialen Signalen, zur „sozialen Konstruktion“.

Trennung von Wohn- und Arbeitsort

Im ländlichen Hausbau ist die prägnanteste Neuerung der Massivbau, der in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs neben den Holzbau tritt. Bis dahin hatte der Holzbau als traditionelle, das örtliche Material verarbeitende Bauweise den Bau der Wohn- und Wirtschaftsgebäude ausschließlich beherrscht. Als Form von Armut und Mangel, als „armselige Bauerei“13 und keineswegs als freie, gar formal bestimmte Entscheidung, interpretiert Hans Purin den bäuerlichen Hausbau in Holz. Neben den Gutshöfen des Rheintals, die er nennt, sind es vor allem die in Mauerwerk aufgeführten Kirchenbauten, die als signifikante Ausnahmen in der historischen Holzbaupraxis vom Wohlstand ihrer Bauherren künden. Wenn hier formuliert wird, daß der Massivbau neben den Holzbau tritt und nicht an seine Stelle, so ist damit ein weiteres Mal die charakteristische Sondersituation des Bregenzerwaldes angesprochen. Denn auch der Holzbau dieser Region durchläuft in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs eine eigene, industriell geprägte Modernisierungsphase, für die das Kaufmann Holzbauwerk in Reuthe steht. Maschinenstrick als technische Neuerung und Strickhüsle, Fertighäuser in Form verkleinerter Bauernhäuser14, leben weiter, auch wenn das gemauerte, das Baumeisterhaus, quantitativ bald weit überwiegt. Das Verbreitungsgebiet der Strickhüsle, deren Zahl Wolfgang Schmidinger auf zweihundert schätzt15, ist nicht systematisch untersucht. Die Forschungsgespräche der vorliegenden Studie deuten lediglich den Umstand an, daß die Strickhüsle vor allem im Innerbregenzerwald, also im unmittelbaren Umkreis ihrer Produktionsstätte, dem Kaufmann Holzbauwerk, gebaut worden sind.

Technische Modernisierung des Hausbaus

11 ALE: Z 198 ff 12 Achleitner (1980) nennt für den Neubau der Hauptschule Egg (Jakob Albrecht, Karl Büsel) die Baujahre 1961 /62; etwa zehn Jahre später erhielt die selbe Gemeinde ein Gymnasium, das zum Ausgangsort der Wäldertage wurde. Weitere Neugründungen

weiterführender Schulen entstanden im selben Zeitraum (für den Bregenzerwald) in Doren, Lingenau und Bezau. 13 HP: Z 817 14 WS 1: Z 358 ff 15 WS 1: Z 405

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Anonymes Bauen

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Die angedeutete technische Modernisierung des ländlichen Hausbaus, für den das Baumeisterhaus und das Strickhüsle als sein Pendant aus dem Zimmermannshandwerk steht, liegt in der Hand der Bauhandwerker und findet ohne Architektenbeteiligung statt. Beginnend mit den Lehrern ländlicher Schulen gewinnt seit den 1980er Jahren eine neue, akademisch gebildete soziale Schicht in den Dörfern des Bregenzerwaldes an Einfluß. Dieser Gesellschaftsschicht entstammen die Bauherren, die den Architekten und seinen Entwurf dazu nutzen, ihrer sozialen Rolle erstmals einen sichtbaren Auftritt zu geben. Sobald der bauliche Hintergrund, vor dem die „Architektenhäuser“ auftreten, nicht mehr lediglich als „anonymes Bauen“16 subsumiert, sondern sein Zustandekommen gesellschaftlich analysiert wird, kann ein ähnlicher Wandel, wie er für die Bauherren innerhalb der Dorfbevölkerung beschreibbar ist, auch innerhalb der Bauwirtschaft festgestellt werden: die Bauhandwerker, die ländlichen Zimmerer und Baumeister, verlieren ihre bis dahin unangefochtene Souveränität als Designer-Maker, als Planer und Ausführende in Personalunion, an ein neues arbeitsteiliges Prinzip. In dessen Folge wird die Form des Hauses aus dem handwerklichen Produktionsprozeß ausgelagert und ihr Entwurf an einen akademisch gebildeten Formspezialisten, den Architekten, vergeben. Der Handwerker wird auf die Rolle des Herstellers reduziert.17 Dem Ehepaar Eugster zufolge werden in ihrem Wohnort Langenegg, einer Vorderwälder Gemeinde, während der gesamten Nachkriegszeit bis zum 16 Die unter Kunsthistorikern und Architekten verbreitete Bezeichnung Anonymes Bauen, synonym Naive Architektur, kann als Verweigerung einer Namensnennung seitens derjenigen interpretiert werden, die einerseits alle Zugänge zum Archiv verwalten, andererseits nur ihresgleichen als legitime Autoren anerkennen. Daß die Nichtnennung des Autorennamens für das handwerkliche Bauen auf ein Nichtbekanntsein des Namens zurückführbar ist, sollte als Hindernis nicht gelten dürfen. Eher scheint eine Hierarchisierung der Art der Leistung nach vorzuliegen, die im einen Fall, in dem eine geistige Leistung, wie im Architektenentwurf, vorliegt, anerkannt und durch Verzeichnung im Archiv gewürdigt wird, im anderen Fall, wo eine Leistung des Machens vorliegt, die für Handwerker typisch ist, und die in besonderen Fällen, etwa den komplexen Zimmermannskonstruktionen für Dachstühle und Brücken, die denen der Architekten (sofern sie als Ingenieure verstanden werden) nicht nachstehen, nicht anerkannt und nicht verzeichnet wird. Gerade der Fall der handwerklichen Konstruktionen scheint einen Hinweis darauf zu geben, daß als legitime geistige und damit archivwürdige Leistung

vor allem eine Formerfindung gelten darf, und, wiederum gemessen an dem, was als Naive Architektur subsumiert wird, eine Formerfindung, die sich ausdrücklich und kenntnisreich, also nicht etwa lediglich intuitiv, wie es ländliche Handwerker tun, wenn sie Rocaillen auf Bauernschränke oder „die Stirn der Totenschädel“ (Döllgast 1951 /2) malen, auf einen historischen Formkanon beruft, indem sie diesen zitiert und variiert. Der Scheidung zwischen legitimer und illegitimer Kunstfertigkeit, zwischen namentlich genannten Autoren und der Masse der Anonymen dient also die Institution der Akademie. Einzig sie verleiht das Privileg, legitimes geistiges Eigentum, als einzig dauerhaft gültiges, für sich beanspruchen zu dürfen. Auch hier wird der Sonderweg der zeitgenössischen Vorarlberger Architektur deutlich, der, wenigstens in seinen Anfangsjahrzehnten, ebendiese Scheidung zwischen akademischen und handwerklichen „Architekten“ verweigerte. Dies könnte als Widerstand aufgefaßt werden, den eine ländliche Gesellschaft gegen ein von der städtischen Gesellschaft etabliertes Herrschaftsprinzip leistete, das Prinzip der klassifizierenden Macht der Akademie.

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Bau ihres eigenen Hauses 1984 ausschließlich gemauerte Häuser, „Allgäuerhäuser“, gebaut. Ihr Kennzeichen, das sie von den Bauernhäusern des Bregenzerwaldes18 abhebt, ist der geschnitzte Zierbalkon, ein Attribut, das Leopoldine Eugster vor allem als soziales Signal, als Statussymbol, deutet. Es war aber auch ein Zeichen nach außen von Reichtum. Der Balkon mußte wahnsinnig mit einem aufwendigen Geländer verkleidet sein. Geschnitzt, vor allem geschnitzt. Aber ohne Funktion. Da konnte man nicht einmal einen Liegestuhl hinausstellen oder Wäsche aufhängen.19

Auf meine Nachfrage hin beschreibt Arno Eugster die „Allgäuerhäuser“ genauer, nennt ihre Indifferenz bezüglich Standort, Himmelsrichtung und Einfügung, Merkmale, die für ihn Folge eines planerischen Schematismus sind. Das war ein möglichst billiger Plan. Weil der mußte nicht abgewandelt werden, das wurde einfach irgendwo hingebaut. Ob das Richtung Süden gestanden ist, oder nicht, hat überhaupt keine Rolle gespielt. Sondern es konnte einfach irgendwo hingebaut werden. Und wenns so nicht ging, hat man es einfach gedreht. Damits gepaßt hat, und die Garage an der Straße steht, und nicht irgendwo, im Freien.20

Personifiziert wird die formale Uniformität der „Allgäuerhäuser“ in ihrem alleinigen Planer, dem Gemeindesekretär.21 Arno Eugster macht deutlich, daß in dessen Planungspraxis der Rechtsakt im Mittelpunkt steht, der im Vorgang der Baugenehmigung den behördlich genehmigten Plan zur amtlichen Urkunde stempelt. Bis hierher konnte dargestellt werden, daß das erstmalige Auftreten reiner Wohnhäuser ein Indikator für den tiefgreifenden sozialen Wandel des ländlichen Raumes ist. Sobald dieser neue Haustyp den neu auftretenden sozialen Schichten zur Profilierung dient, wird er zum Medium in diesem Umstrukturierungsprozeß. Insbesondere die von den neuen dörflichen Bauherren, zumeist Akademikern, beauftragten Architekten verdrängen sowohl die nebenberuflichen Planer, so den erwähnten Gemeindesekretär, als auch den bis dahin souveränen ländlichen Bauhandwerker aus seiner umfassenden Zuständigkeit für den Hausbau. 17 Vom Haus des Zimmermanns spricht u.a. Ernst Wirthensohn in EW 1: Z 595 ff. Ein zu diesem Bedeutungsverlust des Bauhandwerks vergleichbarer Prozeß ist im Forschungsraum auch in anderen Handwerkssparten festzustellen. Vgl. Abschnitte Reform des Handwerks, Kapitel Handwerk 18 Die Gemeinde Langenegg liegt im Überschneidungsgebiet zweier bäuerlicher Hauslandschaften. Die traditionellen Bauernhöfe des Dorfes, wie auch der Nachbardörfer Krumbach und Doren, folgen entweder dem Vorbild des Innerbregenzerwaldes, das durch den Zugang durch den traufseitigen Schopf gekennzeichnet ist, oder dem vom Allgäu her kommenden Mittelflurtyp mit seinem giebelseitigen Zugang. „Nördlich der Subersach, im Vorderen Bregenzerwald, beginnt das Verbreitungsgebiet des Vorderwälder Einhofes, der, ob seiner Ähnlichkeit mit den Höfen jenseits der Grenze, auch Allgäuerhaus genannt wird“, vermerkt dazu der „Dehio“ für Vorarlberg

(1983), S. XXV; tatsächlich weist dieser Bauernhaustyp, im Gegensatz zu dem des Innerbregenzerwaldes, gelegentlich einen giebelseitigen Balkon im Dachgeschoß auf. An den älteren Exemplaren der von Eugster Allgäuerhäuser genannten gemauerten Wohnhäusern ist zu beobachten, daß mittels holzverkleideter Dachgeschoßfassaden und mittig in der Giebelfront plazierter Balkone zunächst das Bild des Vorderwälder, vom Allgäu beeinflußten Bauernhaustyps übernommen worden ist. Spätere Exemplare weisen dann „freiere“ Anordnungen derselben Attribute auf. Auffällig an diesen „Weiterentwicklungen“ sind vor allem die verlängerten, asymmetrisch die Hausecke umgreifenden oder dreiseitig umlaufenden Balkone. 19 ALE: Z 721 ff 20 ALE: Z 735 ff 21 ALE: Z 172 ff 22 PN: Z 490 ff

Planungsmonopol des Gemeindesekretärs

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Im Abschnitt Architektenhaus werden gesellschaftliche Funktion und Programm des titelgebenden Haustyps eingehender untersucht werden. Um seinen sozialen Ort möglichst genau zu treffen, muß die Gegenüberstellung Handwerkerhaus – Architektenhaus jedoch zunächst durch eine Differenzierung des letzteren ergänzt werden, auf die Peter Nußbaumer, Bürgermeister von Langenegg, im Gespräch hinweist. Nußbaumer hat sein Haus gleichzeitig mit dem Ehepaar Eugster gebaut. Seine Erzählung verdeutlicht, daß die heute im Untersuchungsgebiet verallgemeinerte und bereits für Eugsters gültige Zuordnung von Architektur mit moderner und betont schlichter Form die tatsächlichen Verhältnisse unzulässig vereinfacht. Architektur und Architektenhaus kann und konnte gleichermaßen rustikal und schmuckreich heißen: Die Architekten haben unterschiedliche Epochen, oder? Ich habe ein Haus zuhause, das hat ein Riesenvordach, das würde man heute nicht mehr machen, Tiroler Baustil, das hat auch ein Architekt geplant, aus dem Walsertal. Ein Riesenbalkon, 36 Laufmeter. Ich habe jedem gesagt, du kannst von mir sofort 30 Laufmeter Balkon kaufen, das Geländer, brauch ich nicht. Aber: Baustil siebziger Jahre.22

Der Haustyp, den Nußbaumer hier beschreibt, insbesondere sein ausladendes Vordach23 und der Balkon als hervorgehobenes Merkmal, rückt ihn zunächst dem „Allgäuerhaus“ an die Seite. Seiner kulturgeographischen Herkunftsbezeichnung „Tiroler Baustil“ zufolge nimmt er formale Anleihen bei traditionellen Bauernhäusern und überträgt diese auf ein reines Wohnhaus. Bezogen auf die geographische Lage des konkreten Bauplatzes, der Gemeinde Langenegg, läßt sich jedoch das rustikale24 „Tirolerhaus“ vom ebenso rustikalen „Allgäuerhaus“ durch die Entfernung unterscheiden, die die jeweils kennzeichnenden Attribute von ihrem Ursprungsort trennen, also durch deren kulturelle wie soziale Exotik. Daß das „Allgäuerhaus“ ein „einheimisches“ Haus ist und sein soll, läßt sich sowohl durch die an seiner Produktion Beteiligten begründen, zu denen 23 Im Forschungsraum gebräuchlicher Ausdruck für Dachüberstand. 24 Im Begriff „rustikal“, der besonders häufig in Immobilienanzeigen Verwendung findet, ist die Herablassung des Städters gegenüber der „bäurischen“ Lebensart und ihrem, aus seiner Sicht, ungehobelten Ausdruck eingeschlossen. Je mehr die bäuerliche Lebenswelt zum Thema wird, das sich im „rustikalen“ Ambiente abbildet, umso mehr dient dieses Bild in der gesuchten Grobheit seiner Zeichnung gleichzeitig der Aufwertung des einen zu Lasten des anderen gesellschaftlichen Standes. Sein kulturhistorischer Vorläufer ist in den vielfältigen „Darstellungen“ des ländlichen Lebens als baulicher Staffage des räumlichen Umfeldes der historischen adligen Landhäuser zu finden, wie sie etwa Frühsorge in den Cottages dokumentiert, die im Umfeld englischer Herrenhäuser den Bediensteten Behausung, aber gleichzeitig, als Bestandteil einer to-

talen landschaftsarchitektonischen Schöpfung, ihrer Herrschaft den Anblick „idealer“ dörflicher Baulichkeiten bot. In: Frühsorge, S. 107 f Auch das höfische Leben des französischen Adels weist mit den „Schäferhütten“ im Schloßpark von Versailles solche bildlichen wie erlebnismäßigen Aneignungen ländlicher „Primitivität“ auf. Vergleichbar im Rahmen einer Begriffsbestimmung des „Rustikalen“ ist diese Erscheinungsform durch das Phänomen des sozialen Sprungs, dem der bäuerliche Haustyp mit seiner Delokalisierung unterzogen wird.Vergleichbar ist wohl auch der durch den sozialen Sprung ausgelöste Kitzel, den das Erlebnis des Exotischen und Primitiven, als Ursprüngliches rezipiert, bei den Adressaten des Vorgangs, den aristokratischen Teilnehmern am höfischen „Schäferspiel“ ebenso, wie den städtisch-bürgerlichen Bewohnern der rustikalen, also die bäuerliche Lebenswelt abbildenden „Chalets“ während ihres Landaufenthalts auslöst.

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der Gemeindesekretär ebenso gehört wie die lokalen Handwerker, als auch durch die charakteristischen formalen Anleihen bei den Bauernhäusern seines unmittelbaren Umfeldes, des Vorderen Bregenzerwaldes. Die Bezeichnung „Allgäuerhaus“ deutet dabei weniger auf ein im Allgäu beheimatetes Vorbild als vielmehr auf die Tatsache, daß der Vorderwald vom Allgäu her besiedelt worden ist, mit der Folge, daß der Bauernhaustyp mit Mittelflur und giebelseitigem Balkon diesseits wie jenseits der Landesgrenze anzutreffen ist. Ganz anders liegen die Verhältnisse beim „Tirolerhaus“. Bürgermeister Nußbaumer und sein am Gespräch teilnehmender Gemeindesekretär (MN) verbinden dessen Auftreten zunächst mit einer spezifischen Form des Tourismus. In den siebziger und achtziger Jahren hat man ganz stark einen Tiroler oder Bayerischen Baustil gebaut, rustikal, also großer Balkon, viel Holz... MN Schnitzereien... (...) PN War von siebzig bis zwotausend relativ stark vertreten. Es gibt jetzt auch einen anderen Tourismus mittlerweile. Der Tourist, der nach Österreich, oder der in unsere Gegend kommt, ist ein nachhaltigerer Tourist, der die Landschaft liebt, der das Natürliche liebt und der die alten Häuser auch liebt. Es ist nicht dieser Event-Tourismus.25

Die Erklärung setzt als selbstverständlich voraus, daß das Selbstbild der einheimischen Bauherren vom Fremdbild ihrer Besucher und deren Erwartungshaltung geprägt ist. Voraussetzung für diese Erwartungshaltung ist die Delokalisierung und Durchmischung derjenigen formalen Anleihen, die die ländlichen Wohnhäuser alpinen Bauernhaustypen entnehmen, um sie einem formal diffusen „Alpinen Stil“26 einzuverleiben. Indizien für den Beginn einer solchen „Delokalisierung“, dem Loslösen des regionalen bäuerlichen Haustyps von seinem angestammten geographischen und sozialen Ort finden sich bereits bei der Vorarlberger Landesausstellung von 1887: Gezeigt wurde dort ein „Montavonerhaus“, das der Präsentation von Parkettböden diente und das nach der Ausstellung verkauft wurde.27 Peter Strasser28 stellt dieses Ereignis in eine weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichende Praxis, „Musterhäuser“ und „ursprünglich“ wirkende Gebäudeensembles bei Welt-, Landes- und Gewerbeausstellungen zu präsentieren.29 Als Folgen dieser Praxis beklagt Adolf Loos30 1914 in seinem Essay Heimatkunst ästhetische Anbiederungen, die das nichtbäuerliche Bauen seit den 1870er Jahren auf dem Lande unternehme. Seinem Urteil liegt die Erkenntnis eines Wandels der ländlichen Sozialstruktur unausgesprochen zugrunde, 25 PN: Z 563 ff 26 Vgl. Achleitner (1996), S. 20 f, zit. in Abschnitt Rustikalproduktion im Bregenzerwald, Kapitel Handwerk, Anm. 58 Vgl. außerdem Tschofen (2004) 27 Sagmeister (1990), S. 35 28 Peter Strasser publiziert regelmäßig kulturgeschichtliche Aufsätze im thematischen Umfeld der

Architektur, vorwiegend für das Vorarlberger Oberland. 29 „Das Ethnographische Dorf mit einem Vorarlberger Bauernhaus bei der Wiener Weltausstellung 1873, das Dörfli bei den Schweizer Landesausstellungen in Genf 1896, Bern 1914 und in Zürich 1939 sowie der Schweizer Pavillon und das Village Suisse bei der Weltausstellung in Paris 1900.“ Strasser in: Haas (2001).

„Alpiner Stil“

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da er die Architekten als Verursacher nennt und diese in seiner Darstellung den Handwerksmeistern gegenüberstellt. Diese naivtuerei, dieses absichtliche zurückschrauben auf einen anderen kulturzustand ist würdelos und lächerlich und war daher den alten meistern fremd, die nie würdelos und lächerlich waren, (...) während die kindischen versuche der architekten in den letzten vierzig jahren, der natur mit steilen dächern, erkern und anderem rustikalen gejodel entgegen zu kommen, schmählich gescheitert sind.31 „Chalets“

Kurt W. Forster32 hat die Geschichte dieser Affinität, die den Berufsstand der Architekten mit der „anonymen volkstümlichen Architektur“ verbindet, bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichend rekonstruiert. Die bloße Vorstellung einer anonymen volkstümlichen Architektur beruht auf einer Reihe von Bauten, die, wie die Generationen einer Familie, von einem fernen Ursprung herstammen, ohne je die Kennzeichen dieser Herkunft ganz zu verlieren. Obwohl ihre Baumeister unbekannt blieben, lassen die erhaltenen Bauten bezüglich ihres Zwecks und Charakters nichts zu wünschen übrig. Sie weckten das Interesse der Architektenzunft, noch bevor sie zum Gegenstand der Historiker wurden. Der Berliner Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) zeichnete ländliche Bauten im Tirol, in der Schweiz, in Italien und England und pries ihre robusten Formen in seinen Kommentaren, etwa wenn er sie mit den Monumenten der klassischen Antike vergleicht: Die Alphütte, sowohl die kleine unbedeutende, als die zierlichste große Wohnung eines Patriziers eines kleinen Ortes, ist ein classisches architektonisches Werk, wie ein altgriechischer Tempel, und gewiss war sie zu Perikles’ Zeit schon ganz ebenso gebaut. Schinkels Wertschätzung war nicht nur eine Sache der persönlichen Vorliebe, sondern bildete schon bald den Ansatz für eine Reihe von „Schweizerhäusern“, wie sie genannt wurden, die in Berlin und andernorts entstanden, gefolgt von einer Welle von Chaletbauten in vielen Ländern, die bis weit ins 20. Jahrhundert anhielt. Diese Häuser von größtenteils fiktivem alpinen Ursprung fanden sogar bei den Schweizern selbst Anklang, die nun ihrerseits begannen, Chalets zu bauen. Die Wirkung solch synthetischer Bautypen liegt gerade darin, daß sie sich nicht nur weit verbreiteten, sondern selber den Platz der Originale einnehmen, die zu sein sie beanspruchen.33

Schinkels Rezeptionsakt, Bauernhäuser mit antiken Kultbauten zu vergleichen und damit mit diesen auf eine gemeinsame kulturelle Stufe zu stellen, macht das traditionelle ländliche und genuin bäuerlich-handwerkliche Bauen einer akademisch geprägten Wahrnehmung und Wertschätzung zugänglich. Handwerk wird in diesem Akt zu Architektur erklärt. Diese Umetikettierung erstreckt sich jedoch nicht auf ihre Urheber, die ländlichen Handwerksmeister in ihrer Eigenschaft als Erbauer und Planer und deren etwaiger sozialer Aufwertung, sondern ausschließlich auf den formalen Kanon ihrer Werke. Die Unterscheidung der sozialen Herkunft von Handwerk und Architektur sowie 30 Die ausführliche Bezugnahme der vorliegenden Studie auf Adolf Loos’ Schriften bliebe einseitig ohne Kennzeichnung Loos’ als Figur, dessen Lebenswandel, nachweislich im Alter, als moralisch verwerflich angesehen werden muß. Loos’ Verurteilung wegen wiederholter sexueller Handlungen mit minderjährigen Mädchen rief jüngst Otto Brusatti in Die Presse anläßlich von Loos’ siebzigstem Todestag in Erinnerung und interpretiert diesen Umstand als eigentlichen Grund ausbleibender „offizieller“ Würdigung Loos’ in Österreich.

Trotzdem halten wir Loos’ essayistisches Werk, im vorliegenden Kontext insbesondere seine Schriften zu Handwerk und Architektur, wegen der gedanklichen Schärfe seiner Analysen, der Differenziertheit seiner Darstellungen und der historisch-sozialen Lagerung seiner Wahrnehmungsperspektive als theoretischen Bezugspunkt zur Diskussion der Architekturmoderne Österreichs für unverzichtbar. Mit dem „Fall Loos“ befaßt sich ausführlich Klaralinda Ma in: Podbrecky /Franz (Hg.), S. 161 ff 31 Adolf Loos: Heimatkunst; in: Loos, S. 336 f

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die Verwurzelung und Gründung der handwerklich erzeugten, traditionellen Formen in der lokalen Gesellschaft werden in diesem Vorgang ignoriert, um den Formenschatz plündern und dem akademischen Fundus der Architektur, allgemeiner, der Kunst, zugänglich machen zu können.34 Ein in die Vorarlberger Architektenszene hineinwirkender Fall einer solchen Aneignung sind die Untersuchungen an Tessiner Dörfern aus den 1970er Jahren, deren Aufzeichnungen, Sammlungen von Grundrißaufnahmen und Fassaden der dort vorgefundenen Häuser am Lehrstuhl Aldo Rossis an der ETH Zürich zu Haustypen systematisiert und in diesem Abstraktionsvorgang, der die sozialen, herstellungs- und materialspezifischen Kontexte neutralisierte, der architektonischen Formenlehre inkorporiert wurden.35 Im „Landhaus“ des Forschungsgebietes vermischen sich also wenigstens zwei Phänomene unterschiedlicher sozialer Herkunft. Die soeben nachgezeichnete Einverleibung des volkstümlichen, genauer, ländlich-handwerklichen Formenschatzes in die akademische Architektur, die als zweite Traditionslinie im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts neben den klassischen Formenkanon tritt. Ausgehend von der englischen Arts & Crafts-Bewegung etabliert sich auf dieser Basis eine „romantische“ Fraktion innerhalb der Architektenschaft, die nicht nur die im Entstehen begriffene Moderne Architektur wesentlich mitbestimmt, sondern auch als Heimatschutzbewegung eine akademische Gegenposition zu dieser herausbildet. Neben dieser akademischen ist eine aus dem Bauhandwerk kommende Praxis auszumachen. Diese modernisiert den ländlichen Hausbau zunächst in technischer Hinsicht mittels eines Wechsels vom Holzbau zum Massivbau bzw. eines Ersatzes der handwerklichen Einzelanfertigung zur industriellen Vorfabrikation. Ihre formale Orientierung an den lokalen Bauernhäusern beschränkt sich auf äußerliche Attribute, die die modernisierten Wohnhäuser ihrer baulichen Umgebung wieder einzugliedern und sie kompatibel zu den Wohngewohnheiten und Repräsentationsbedürfnissen der Bauherren zu machen suchen. Im Untersuchungsgebiet sind diese beiden Praxen des rustikalen Landhausbaus exemplarisch durch das „Tirolerhaus“ des Montafoner Architekten bzw. das „Letzte Wälderhaus“ des Architekten Alfons Fritz sowie, andererseits, durch die „Allgäuerhäuser“ vom Zeichentisch des Langenegger Gemeindesekretärs bzw. die „Strickhüsle“ aus dem Kaufmann Holzbauwerk repräsentiert. Gemeinsam formen sie den Hintergrund, vor dem mit Beginn der 1980er Jahre auch im Bregenzerwald diejenige Architektengeneration tätig wird, deren Hausentwürfe heute als Zeitgenössische Vorarlberger Architektur subsumiert werden.

Praxen des rustikalen Landhausbaus

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32 Kurt W. Forster, geb. 1935 in Zürich, unterrichtete an den Universitäten Yale und Stanford sowie am MIT und an der ETH Zürich. Daneben stand er u.a. als Direktor der Accademia di architettura in Mendrisio vor. 33 Forster, S. 349 34 Interpretationen der Bauform des Bauernhauses im Kontext antiker Tempelbauten finden sich u.a. bei Seifert (ausführlich in Abschnitt Holzbau–Massivbau, Kapitel Holz), in zeitgenössischen Schriften zur Vorarlberger Architektur etwa bei Hiesmayr. Dieser kom-

mentiert die Bauaufnahmen von Wälder Bauernhäusern und Alphütten durch architekturgeschichtliche Herleitungen ihrer Bauform, etwa des „klassischen Giebel[s]“ (S. 136) und Dekoration: „Der klassische Zahnschnitt ist bewußt dekorativ eingesetzt, vom Bauherrn und Zimmermann vor Baubeginn entschieden. Der Zahnschnitt ist ein Erbe des vorchristlichen Tempelbaues...“ Hiesmayr (1995), S. 118 Achleitner (1996) bestätigt die angesprochene Rolle der Akademien und Kunsthochschulen. 35 Reichlin, Steinmann (1977), S. 49 ff

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213 4.3 „Ein anderes Haus“ Im sozialen Wandel des ländlichen Raumes, den bereits die massenhaft auftretenden „Landhäuser“ anzeigen, sucht speziell die wachsende Schicht der Akademiker ihren Einfluß innerhalb der dörflichen Bevölkerung auszubauen. Das moderne Architektenhaus schafft diesem sozialen Konflikt, der den Bregenzerwald um die Wende der 1970er zu den 80er Jahren1 erreicht, ein Austragungsfeld2, das der Langenegger Bürgermeister Peter Nußbaumer am Beispiel des „Mordswirbels“ um das erste Exemplar dieses Typs in seinem Dorf schildert: „Dann hat man eine Baueinstellung gemacht (...) und ein Riesenverfahren. In der Folge hat das Haus im Jahr darauf den Staatspreis für Architektur bekommen.“3 Bemerkenswert erscheint dieser Vorgang deshalb, weil die Begründung des Preises vor allem die „überzeugende Einfügung“ des Hauses „in ein bäuerliches Ensemble“4 würdigt und damit ebenjene Eigenschaft, die die lokale Baubehörde in Abrede gestellt und die Gemeindevertreter veranlaßt hatte, in dem „Riesenverfahren“ bis zum behördlichen Abbruchbescheid zu gehen. Offensichtlich stellen diese beiden Haltungen gegenüber demselben Objekt einen Fall konfligierender Plausibilitäten dar, gegensätzlicher Ansichten darüber, was für den öffentlichen Auftritt der Bewohner, den ein Haus immer darstellt, angemessen und zulässig sei. Der Analyse dieser unterschiedlichen Bewertungen desselben Gegenstandes, des Wohnhauses, das das Ehepaar Eugster 1982–84 nach Plänen seines Architekten in Langenegg gebaut hat, dient der folgende Abschnitt. Dem Blickwinkel der Bauherren kommt hierbei das Hauptgewicht zu, um den Akt der Positionierung innerhalb des sozialen Umfelds deutlich zu machen, der im Bau jedes Hauses liegt. Der Architekt tritt nur mittelbar auf, er ist Randfigur des Konflikts vor Ort. Speziell die ersten Exemplare der modernen Architektenhäuser im Bregenzerwald, als statement ihrer Bauherren betrachtet, das sich an die unmittelbare soziale Umgebung, die Bevölkerung des Dorfes richtet, sind innerhalb der Umstände ihrer Entstehungszeit eine eingehendere Betrachtung wert. Ihre „Fremdheit“ erlaubt, das erzieherische Selbstverständnis gegenüber der Gesellschaft gleichsam in Reinform wahrzunehmen, das ihre Architekten, 1 Die Wäldertage, 1973–79 ausgehend vom damals neu gegründeten Gymnasium Egg, können mit ihrer betont kritischen Positionierung gegenüber der etablierten ländlichen Gesellschaft als Indikator dieses sozialen Konflikts betrachtet werden. Vgl. Schall, S. 117 ff 2 Einen Anhaltspunkt zum Umfang dieses sozialen „Umbaus“ gibt der Vorsitzende der österreichischen Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, Georg Pendl, in seinem Beitrag anläßlich des 40-jährigen Bestehens der Fakultät für Bauingenieurwesen und Architektur an der Universität Innsbruck

in konstruktiv 273/2009, S. 26: Nachdem in den 1960er Jahren „Tirol noch nicht einmal ein Hoffnungsgebiet der Architektur“ gewesen sei, sei die Architektenzahl während des mittlerweile 40 Jahre währenden Bestehens der Architekturfakultät Innsbruck, Tirol und Vorarlberg zusammengenommen, etwa auf das Zehnfache gewachsen, sodaß „heute über 400 Kollegen (...) ein Auskommen“ hätten. 3 PN: Z 444 ff 4 Originaltext des Preises der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs von 1985, deren gerahmte Urkunde im Haus Eugster hängt. (ALE: Z 356 ff)

Angemessenheit des öffentlichen Auftritts

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deren Formbegriff und seine Verankerung im akademischen Kunstkontext charakterisiert. In den drei Jahrzehnten seither hat die soziale Etablierung und zahlenmäßige Verbreitung das moderne Architektenhaus im Bregenzerwald zum dörflichen „Normalfall“ werden lassen, der in den Anfängen noch deutlich spürbare Anspruch einer Ästhetischen Erziehung der dörflichen Gesellschaft ist, folgt man den Selbstinterpretationen der regionalen Architektenschaft, einer „Kultur der Kooperation“ zwischen den am Bau beteiligten Institutionen und Berufsgruppen und einer sozialen Integration gewichen.5 Es darf jedoch bezweifelt werden, daß der Umstand, daß Architektenhäuser in Vorarlberg keine offenen Feindseligkeiten mehr auslösen, tatsächlich darauf hindeutet, daß Architektur in der breiten Bevölkerung mittlerweile als die bessere Alternative erkannt worden ist. Die Forschungsgespräche der vorliegenden Arbeit deuten vielmehr darauf hin, daß die sozialen Konflikte, in denen das Provokationspotential von Architektur als „Argument“ zugunsten des Umbaus der ländlichen Gesellschaft instrumentiert wurde, mittlerweile zugunsten derjenigen sozialen Schicht entschieden werden konnten, deren Repräsentationsrepertoire Architektur angehört und die inzwischen die fraglichen Institutionen auch des ländlichen Raumes dominiert.6 Mir selbst erschloß sich beim Besuch des Eugster-Hauses in Langenegg zunächst nicht einmal ansatzweise dessen revolutionäres Potential, wie es mir Bürgermeister Nußbaumer zuvor eindrücklich geschildert hatte. Das Holz der Fassade ist inzwischen stark gedunkelt, sodaß sich das Rot der Decklatten kaum mehr von deren Grundton abhebt. Von der Straße aus sieht man zunächst die Garage, die frei neben dem Wohnhaus steht und diesem in Fassaden- und Dachausbildung verwandt ist. Neben dem Garagentor stellt eine überdachte Brücke den Zugang zur Haustür her. Ein rautenförmiger Glasausschnitt zeigt Spitzengardinen, die auch die anderen Fenster zieren. Mit einem Druck am Türgriff stehe ich in einem verglasten Windfang, werde von Frau Eugster begrüßt, die Treppe hinuntergeführt, wo der Hausherr wartet. Wir stehen in einer zweigeschoßigen, holzgetäferten Halle, an die sich der Wintergarten anschließt. Sofort beginnt das Ehepaar zu erzählen, wie schlecht dieser funktioniere, im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt für Pflanzen sei und vor allem Arbeit mit Putzen der Glasscheiben verursache. Herr Eugster führt mich ums Haus herum und durch alle Räume, bevor wir 5 Das Selbstverständnis dieser „Kultur der Kooperation“ formuliert aus Architektensicht etwa Wolfgang Ritsch als Vorsitzender des Vorarlberger Architekturinstituts in seinem Beitrag Ganzheitliches Bauen. In: Kapfinger (2003), S. 4 6 Vgl. Kapitel Dorf 7 Sagmeister (1990). In: Kontinuität und Bruch, S. 37, nochmals in Der neue Holzbau, S. 43 8 ALE: Z 706 f

9 Ebd. 10 Peter Greußing bestätigt diese Legitimationsstrategie, speziell im Bregenzerwald, „das ist jetzt ein Gebiet, wo das Giebeldach seine Berechtigung hat, weil alles (...) vom Bauernhaus abstammt“, Flachdachbauten mittels Holzfassade in die von den hölzernen Bauernhäusern dominierte bauliche Umgebung einzufügen, „da stellen eben Baustoffe den Bezug zum Bestand her“. PG: Z 713 ff

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uns im Wohnzimmer zum Gespräch über die bewegte Baugeschichte des Hauses niederlassen. Versehen mit der Bildunterschrift „Der Neubau fügt sich selbstbewußt in das Ensemble bestehender Bregenzerwälder Bauernhöfe ein“, zeigt Sagmeisters Holzbaukunst in Vorarlberg7 ein winterliches Farbfoto des Eugster-Hauses, an dem die frische Holzfarbe darauf schließen läßt, daß es kurz nach Fertigstellung aufgenommen ist. Das Bild ist von der Talseite mit einem starken Teleobjektiv fotografiert, das die umliegenden Bauernhäuser nah an den Neubau heranrückt. Es zeigt einen langgestreckten Baukörper mit eineinhalb Vollgeschossen, denn das obere Geschoß wird bereits vom Dach angeschnitten. Das ziegelgedeckte, flachgeneigte Satteldach, weder durch Gaupen noch durch Dachfenster unterbrochen, sitzt mit deutlichen Überständen an Traufe und Ortgang auf dem Baukörper, auf einer Seite deutlich verlängert, um die giebelseitig angebaute Holzterrasse im Obergeschoß zu überdecken. Die Fassade ist als senkrechter, unbehandelter Bretterschirm mit roten Deckleisten ausgeführt. Nach Süden, an die talseitige Traufseite angebaut, bildet der Wintergarten das markanteste von mehreren angefügten Elementen, an seinem Fassadenanschluß von einem mehrteiligen Fenster mit einem auffälligen Segmentbogenabschluß umrahmt. Daneben zeigt die Südfassade drei weitere hochrechtekkige Fenster mit Quersprosse und einen liegenden Schlitz, das Küchenfenster, einen kleinen vorspringenden Balkon und eine Stahltreppe, die von dieser Seite aus die Terrasse mit dem Garten verbindet. Die der gedeckten Terrasse gegenüberliegende Giebelfassade ist streng symmetrisch auf beiden Geschossen von je zwei hochformatigen Fenstern durchbrochen, ein Motiv, das zusammen mit der flachen Dachneigung eine Erinnerung an klassische Architekturformen wachruft und das Haus stilistisch der in den 1980er Jahren architektonisch dominierenden Postmoderne zuordnet. Arno Eugster begründet seine Wahl, in Holz zu bauen, sowohl als Abgrenzung von den gemauerten „Allgäuerhäusern“ als auch als Wiederaufnahme der abgebrochenen Traditionslinie der Bauernhäuser: „Neue Bauernhäuser hat niemand gebaut.“8 Wenn alte Bauernhäuser modernisiert oder vergrößert worden seien, dann durch Zubau eines „Allgäuerhauses“, eines gemauerten, weiß verputzten Hauses mit Balkon.9 Als erstes neues Holzhaus am Ort appelliert sein eigenes Haus demgegenüber daran, die einheimische Bautradition zu reanimieren. Die Merkmale dieses „neuen Bauernhauses“ in Gestalt eines Wohnhauses sind die Holzfassade in Kombination mit Farbe, der Verzicht auf den repräsentativen Schnitzbalkon der Allgäuerhäuser und die Einfügung des Hauses in das natürliche Gelände. Der Architekt, so berichtet das Ehepaar Eugster, argumentierte zugunsten einer Verwendung des Holzes aus dem Wald der Bauherrenfamilie ebenfalls mit den Holzkonstruktionen der umliegenden Bauernhäuser.10 Über die Brücke des Materials waren aus seiner

Das Bauernhaus als Wahrnehmungsreferenz

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Sicht sowohl eine Identifikation mit dem Haus seitens der Bauherren als auch eine Bindung an die lokale Bautradition herstellbar.

Das Architektenhaus als „Stadel“

Auch dem sozialen Umfeld der Bauherren dienen die traditionellen Bauernhäuser als primäre Referenz der Wahrnehmung. Dies wurde bereits für die rustikalen Landhäuser dokumentiert, deren weiß geputztes Mauerwerk den sozialen Aufstieg ihrer Bauherren gegenüber der in den hölzernen Bauernhäusern verkörperten Lebensform demonstriert. Ebenso gilt es für die Bewertung der modernen Architektenhäuser und deren Anspruch, die Bautradition der Bauernhäuser fortzusetzen. Die kritische Prüfung dieses Anspruchs seitens der Dorfbevölkerung ist in Form von Kommentaren erzählerisch überliefert. Ihre Beurteilung sieht von allen Abstraktionen akademisch geprägten Denkens ab, wie sie Bauherr und Architekt selbstverständlich pflegen, um das konkret Sichtbare am wahrgenommenen Neuen in Kategorien der eigenen Erfahrung einzuordnen, Kategorien, die im vorliegenden Fall aus einer genauen Kenntnis der substantiellen Beschaffenheit der lokalen Bauernhäuser und ihrer traditionellen Bauweise hervorgegangen sind. Aus dieser Warte, die sich allein auf das Sichtbare stützt, erscheint das Architektenhaus, der Skelettbau seiner Wände ebenso wie der Bretterschirm der Fassade, als minderwertige Bauweise. Der holzsparende Ständerbau war traditionell den Feldstadeln und dem Wirtschaftsteil des Bregenzerwälder Bauernhauses vorbehalten, während dessen „gestrickten“ Wohnteil sowohl die hochwertigere Konstruktion als auch die hochwertigere, die geschindelte, Fassade auszeichnete. In einem solchen Vergleich mit dem traditionellen Bauernhaus also erscheint die Errichtung eines Wohnhauses im Ständerbau als Abstieg vom Haus zum Stadel, der in etwa bedeutet, sein Bett im Heu aufzuschlagen. Daß einer nicht mehr baut als ein Bauernhaus, sondern weniger, dafür hatte Arno Eugsters Nachbarschaft nur Spott übrig. Als die Balken gestanden sind, haben viele Leute gesagt, „der baut ja nur einen Stadel, kann man da im Winter überhaupt wohnen? Da kann man doch gar nicht wohnen.“11

Eine solche Reaktion der Dorfbevölkerung ist kein Einzelfall. Wolfgang Schmidinger überliefert für die abgemagerten, weil statisch optimierten Holzskelette, als die die Rohbauten der ersten modernen Architektenhäuser in der Landschaft standen, die landläufige Bezeichnung „Zahnstocherhäuser (...), daß man irgendwie dachte, hoffentlich hält das überhaupt“12, eine Einschätzung, die die Landbevölkerung in der Überzeugung einte, „das sind keine Häuser“13. Wie das Haus des Ehepaars Eugster mit einem Bretterschirm verkleidet, wird auch das Holzhaus Ernst Wirthensohns von der Bewohnerschaft seines Dorfes, Thal bei Sulzberg, mit Geringschätzung quittiert: Manche empfinden es als Stadel. (...) Also, es fängt einmal schon so an, daß nur noch Stadelbauten so geschirmt werden. Also, verputzt ist repräsentativ. Dann, daß es nicht gemalt ist. Daß man es vergrauen läßt. Das ist wieder ein Zeichen der Städel.14

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Die Einschätzung der Langenegger Nachbarschaft des Ehepaars Eugster, ebenso wie jener Thaler Dorfbewohner, die das Holzhaus der Wirthensohns als „Stadel“ bezeichnen, läßt einen Rückschluß auf jene zu, die diese Einschätzung äußern.15 Ernst Wirthensohn zufolge suchen die Wünsche der Dorfbewohner, die ohne Architekt bauen, vor allem die Repräsentativität der Massivbauweise in Kombination mit ungewöhnlichen Fenster- und Baukörperformen und aufwendigem Dach, das sich durch „möglichst viele Giebel“16 auszeichnet. Die Vermutung, die die Attribute der „Landhäuser“ zunächst nahelegt, ihre Bewohner würden traditionelle Häuser bevorzugen, läßt sich nach deren Einschätzung der Architektenhäuser nicht mehr aufrechterhalten. Offenbar wird statt dessen erstrebt, eine Verbesserung gegenüber dem Traditionellen zu erzielen. Es ist anzunehmen, daß jene soziale Schicht, die im Baumeister oder Zimmermann den Fachmann für den Hausbau einschließlich seines Entwurfs findet, mit dem Traditionellen noch die präsente Erinnerung an die Ärmlichkeit des bäuerlichen Lebens und die Härte seiner Arbeitsbedingungen verknüpft. Hier ist das Bauernhaus, und umsomehr das in den Architektenhäusern identifizierte Bild des „Stadels“, eindeutig als zu Überwindendes und nicht als Erstrebenswertes besetzt. Ernst Wirthensohn, befragt, was denn gegenüber den Architektenhäusern die „Formvorstellung“ der bauenden Handwerker sei, lenkt mit seiner Antwort weg von den oberflächenfixierten Formkategorien der Architektenhäuser. Ein Wohnhaus? (...) Halt ein vereinfachtes, modernisiertes, angeblich herpassendes Haus. Aber, da wirds wirklich schwierig. Also, ich glaube, daß die Vorstellungen da ziemlich vage sind.17

Das „modernisierte, angeblich herpassende“ Haus ist das komfortable, den technischen Möglichkeiten und räumlichen Ansprüchen der Zeit entsprechende Haus. Sein „Hausgesicht“ spiegelt selbstverständlich die gelebte Kultur seiner Erbauer. Architektur setzt demgegenüber die Anerkennung von Kunst und aus dieser insbesondere diejenige der Form als ebenso notwendigen Lebensbestandteil voraus wie die Technik. Die Atmosphäre und die Bekleidung als ebenso notwendig wie die Wärmequelle, den Regenschutz, die Öffnung für das Tageslicht. Gerade jedoch diese voneinander abweichenden Definitionen des Notwendigen und Schönen offenbaren den sozial klassifizierenden Effekt von Kultur aufgrund ihrer Wurzeln in Bildung und Herkunft.18 Bauen verschafft diesen Unterschieden jene Öffentlichkeit, die sie zum Herd sozialer Konflikte werden lassen.19 11 ALE: Z 555 ff 12 WS 1: Z 582 ff 13 WS 1: Z 330 14 EW 1: Z 679 ff 15 „Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede,

die sie zwischen schön und häßlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrrät.“ Bourdieu (1987), S. 25 16 EW 1: Z 683 ff 17 EW 1: Z 607 ff 18 Vgl. Bourdieu (1970)

Handwerkerhaus

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Aus den Erzählungen der Bauherren geht hervor, daß die Geringschätzung, mit der die neuen Architektenhäuser noch quittiert wurden, solange lediglich ihre Rohbauskelette zahnstocherdünn in der Landschaft standen, bald wütender Ablehnung wich, sobald mit den Fassaden die neuen „Hausgesichter“ erkennbar wurden. Wolfgang Schmidinger, der hier mit seinem Tischlereiumbau in Schwarzenberg und dem benachbarten Neubau seines Wohnhauses die Pionierphase der modernen Architektur für den Innerbregenzerwald vertritt, interpretiert mit seiner Feststellung, daß nächtens der verglaste First seines Hauses zwar kein Licht mehr einlasse, wohl aber durch diesen Dachschlitz Licht nach außen dringe, sein Haus als Laterne.20 Verbunden mit dem Hinweis, daß sein Haus diejenige erste Generation der modernen Bregenzerwälder Architektenhäuser repräsentiert, die erstmals „andersartige“ Fensterformen hatten, „Bullaugen“21, „eigenwillige Glasstreifen“22, „die ersten Schlitze“23, kann das Entsetzen imaginiert werden, das die Grimassen, die diese neuen Fassaden nicht nur bei Tage schnitten, sondern auch nachts, zähnefletschenden Halloweenkürbissen gleich, in der Landbevölkerung auslösen. Anders als jene Spukgestalten verschwinden die neuen Architektenhäuser nicht einfach wieder, sondern beanspruchen, als dauerhafter Bestandteil der allen gemeinsamen Kulturlandschaft auch, diese mitzuprägen. In den langwierigen Auseinandersetzungen um sein Haus in Langenegg, das Arno Eugster zufolge „sowieso schon spektakulär war und es lange gedauert hat, bis wir es ohne Änderungen bauen konnten, da waren alle schon am Limit im Bauausschuß, wirklich am Limit“24, löst das Finish, das der Bauherr eigenhändig seiner Hausfassade verleiht, indem er den Deckleisten des Bretterschirms einen roten Anstrich gibt, die endgültige Eskalation des Streits um die Baugenehmigung aus. Dieser Farbanstrich spielt in allen Erzählungen über die dramatischen Vorgänge, die den Bau des Hauses begleitet haben, die Hauptrolle. Angesichts des heute gedunkelten Zustands der Fassade ist das Provozierende dieser Maßnahme nicht mehr unmittelbar nachzuvollziehen. Erschwerend kommt hinzu, daß der Bauherr zu ihrer Begründung zunächst mit der Wiederaufnahme einer lokalen Tradition argumentiert, indem er sich auf die farbigen Fensterläden der Bauernhäuser bezieht. Also, wir haben keine Läden. Alle Bauernhäuser haben Läden, das da drüben hat grüne, das andere hat blaue, das andere hat rote (...). Also haben wir gedacht, machen wir die Deckleisten rot.25

19 Alain de Botton dokumentiert die Rolle ästhetischer Beheimatung, wie sie sich einerseits aus der Warte ihrer Anbieter, andererseits aus jener der Betroffenen darstellt, am Beispiel der ästhetischen Aneignung von LeCorbusiers Arbeiterhäusern im französischen Pessac durch ihre Bewohner (Botton, S. 164 ff). Anita Aigner stellt die Rückeroberung der Originalgestalt jener Architekturikonen, wie sie die staat-

liche Denkmalbehörde intendiert, in den Kontext gesellschaftlicher Einflußsphären. (Vortrag Vernacularization and back. Appropriation and Preservation of Modernist Social Housing – Case Study Pessac. Tagung „Alltagsarchitektur“ am 13. 05. 2011 TU Wien) 20 WS 1: Z 15 21 WS 1: Z 240 22 WS 1: Z 346

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Leopoldine Eugster ist es, die im Gesprächsverlauf die provokante Erscheinung des Hauses kurz nach seiner Fertigstellung erwähnt. Es war natürlich viel auffälliger, als es jetzt ist. Jetzt ist es ja abgewittert. (...) Es war eben ein kräftiges Rot. Und dadurch, daß die Latten eng aneinander sind, hat man, wenn man schräg hineinschaut, nur rot gesehen.26

Der von ihr beschriebene Eindruck prägt offensichtlich auch Bürgermeister Nußbaumers Erinnerung, wenn er vom „roten Holzschirm“27 des Hauses erzählt. Sein Gemeindesekretär insistiert zwar sofort, „nur die Decklatten (...), die schmalen, hat er rot, also in roter Farbe...“, wie auch Herr Eugster seiner Frau gleich ins Wort gefallen war, „aber ein Haus schaut man gerade an, und nicht aus einem bestimmten Winkel“28, doch ist davon auszugehen, daß die Langenegger Bevölkerung und ihr Bauausschuß mit einem „roten Haus“ inmitten des Dorfes konfrontiert gewesen ist. Farbe taucht in Eingabeplänen nicht auf, sie dienen primär der Prüfung technischer Aspekte eines Hausentwurfs, seine Erschließung, den Brandschutz und die Statik betreffend, und erst nachgeordnet dessen formaler Beurteilung.29 Individualisierung durch Farbe war demnach für die „jungen Wilden“ der frühen 1980er Jahre, zu denen Bürgermeister Nußbaumer Eugsters Architekt zählt30, ein probates Mittel, die genehmigungsrechtlichen Möglichkeiten der Baubehörden, auf die Gestaltung eines neuen Hauses Einfluß zu nehmen, zu unterlaufen. Wenige Jahre zuvor hatte die Cooperative ihr Erstlingswerk, die Siedlung Im Fang in Höchst31, in einem ebenfalls strittigen Baugenehmigungsverfahren bereits mit einem nachträglich rot gestrichenen Eternitdach der behördlichen Kritik entzogen und es mit dieser bewußten Verhäßlichung32 – Norbert Mittersteiner:„Das war natürlich wahnsinnig grausig“33 – gleichzeitig höchst wirkungsvoll in einem „antibürgerlichen“ Kunstkontext in Szene gesetzt.34 Bereits Bürgermeister Nußbaumers Bemerkung, „das Land war sehr konservativ“35, hatte darauf schließen lassen, daß der Hausstreit keine reine Ästhetikdebatte dargestellt, sondern eine politische Dimension enthalten hatte, daß Rot also im Langenegger Fall auch als politisch besetzte Signalfarbe gedeutet werden darf. Dabei ist nicht anzunehmen, daß das Rot eine Solidarisierung der akademisch sozialisierten Bauherren mit den Nöten eines 23 WS 1: Z 336 24 ALE: Z 213 ff 25 ALE: Z 229 ff Am Ort gibt es neben den farbigen Fensterläden der Bauernhäuser eine weitere Referenz für traditionellen Einsatz von Farbe, ein historisches, denkmalgeschütztes Haus an der Hauptstraße, das durch seinen roten Fassadenanstrich auffällt. Eugster datiert dessen Restaurierung lang nach dem Bau des eigenen Hauses. „Ja, das ist viel später gemacht worden. (...) Das ist Stierblut.“ (ALE: Z 243 ff) 26 ALE: Z 261 ff 27 PN: Z 440 28 ALE: Z 267 ff

29 „Also, es war in der Baubeschreibung nicht drin. Nicht rot gezeichnet.“ ALE: Z 269 ff 30 PN: Z 435 31 Die Siedlung Im Fang in Höchst wurde 1978–79 von ihren Planern und deren Lebensgefährten mit großem Selbstbauanteil errichtet, vgl. das Gespräch mit Ehepaar Mittersteiner. 32 Zum Häßlichen als ästhetischer Strategie der Kunst vgl. u.a. Klemm (2006) 33 RNM: Z 1010 f 34 Norbert Mittersteiner führt Friedrich Achleitners Bestätigung des baukulturellen Werts der Siedlung als ausschlaggebend für den Erfolg im Genehmigungsverfahren an. RNM: Z 838 ff

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Farbe als antikonservatives Signal

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Proletariats signalisiert, sondern daß gegenüber demselben Gegner wie jenem der Arbeiterbewegung, dem ländlich-konservativen, bäuerlich und kirchlich dominierten Milieu, Stellung bezogen wird.36 Arno Eugsters Charakterisierung der baulichen Umgebung, in die er sein rotes Haus setzt, läßt die Farblosigkeit der Allgäuerhäuser als Stellvertreter einer überlebten Weltanschauung erscheinen. „Weil alle außen Mauern gehabt haben, und mit einem Weißputz verputzt. Es hat auch niemanden gegeben, der einen rosaroten Putz oder einen gelben Putz verwendet hätte. Oder einen grauen.“37 Den deutlichsten Hinweis darauf, daß ebendiese als Unbeweglichkeit erlebte Haltung durch das „Farbe ins Spiel bringen“38 aufzubrechen war, daß also Farbe bereits per se als antikonservatives Signal gelten darf, gibt Dieter Macek in einem Podiumsgespräch, das die Vorgänge rund um die Wäldertage der 1970er Jahre in Erinnerung ruft.39 Die Wäldertage und ihre Rolle, für den Bregenzerwald erstmals ein Forum für Kritik an den etablierten Werten der ländlichen Gesellschaft zu bieten, werden weiter unten in diesem Abschnitt nochmals zur Sprache kommen. Hier soll jedoch erwähnt werden, daß Macek, Egger Bahnhofsvorstand und zentraler Aktivist dieser Veranstaltungsreihe, durch seine betont bunt zusammengewürfelte Alltagskleidung eine ebenso ausdrücklich antikonventionelle Rolle eingenommen hatte wie Arno Eugster mit dem roten Fassadenanstrich seines Hauses. Maceks Erzählung ist zu entnehmen, daß einem bestimmten Einsatz von Farbe wenigstens ein Jahrzehnt vor dem Bau des Eugster-Hauses bereits seine provokante Konnotation gegenüber der etablierten konservativen Gesellschaftsschicht des Bregenzerwaldes verliehen worden war. Im Rückgriff auf die lokale Farbtradition, die farbigen Fensterläden der Bauernhäuser, bleibt zu fragen, was genau die provokante Wirkung ausgelöst hat, anders formuliert, welcher Einsatz von Farbe als Traditionselement, welcher als Provokationssignal funktioniert. Der Wunsch nach Schmuck verbindet Eugsters Farbeinsatz mit den gleichzeitig gebauten rustikalen Häusern und ihren Schnitzereien am Balkongeländer. Im Gegensatz zu diesen, die ihr Vorbild aus der lokalen Bautradition lediglich üppiger wiedergeben, tritt Farbe am Ort in dieser Verwendungsform nicht auf. Als Abstraktion einer lokalen Tradition werden statt dessen die mehrfarbigen Bretterschirme von Holzhäusern aus anderen Kulturkreisen, etwa den Holzbautraditionen Skandinaviens und Osteuropas, auch vorstädtischen ländlichen Villen der Jahrhundertwende, die im Wiener Umland und in Fremdenverkehrsorten Innerösterreichs zu finden sind, als Referenzen ins ländliche Vorarlberg importiert.40 Entscheidend für die Wahrnehmung durch das soziale Umfeld ist die Flächigkeit der Farbwirkung gegenüber dem üblichen punktuellen Farbeinsatz, wie er von den Fensterläden der Bauernhäuser an den ansonsten unfarbigen, durch den natürlichen Holzton ihrer Schindelpanzer geprägten Fassaden vertraut ist. Doch auch das flächige Rot könnte auf ein traditionelles Motiv bezogen werden, den Ochsenblutanstrich derjenigen Fassaden, die im

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neunzehnten Jahrhundert keinen Schindelpanzer erhalten hatten41 und deren gestrickten Außenwänden der rostrote Anstrich einen Witterungsschutz bot.42 Als Auslöser der Provokation bleibt demnach lediglich die neue, verfremdende Zusammensetzung bekannt erscheinender Elemente, die Collage als Gestaltungsprinzip, das vor allem demjenigen vertraut ist, dem auch ein Denken und Identitätskonstruktionen, die auf punktuellem Verankern in verschiedenartigen, teils fernliegenden Feldern beruhen, die erst durch Bildung zugänglich und verknüpfbar werden, vertraut ist. Bourdieu sieht gerade im Motiv des Spielerischen, der assoziativen Sprünge, der Zitate und dem Prinzip der Abstraktion dasjenige kulturelle Signal, welches sein Gegenüber, dem die Referenzen zum Lesen der gewählten Formensprache unvertraut und unzugänglich sind, als ungebildet bloßstellt und damit sozial ausschließt.43 Arno Eugster bestätigt diese Auslegung in seiner Beantwortung der Frage, warum gerade den modernen Architektenhäusern, und nicht etwa den „Tirolerhäusern“ als den anderen Exoten im ländlichen Vorarlberg jener Zeit, solcher Widerstand entgegenschlägt. Es ist ihr Impetus, „besser“ zu sein als ihre Umgebung. Ich würde sagen, der wichtigste Grund war eigentlich der Neid. Neid worauf? Daß jemand ein anderes Haus hat als alle anderen. Das besser ins Grüne paßt, und man (ins Grüne) auch wirklich einen direkten Zugang hat. Und das mit einfachen Mitteln, wir sind keine Millionäre. Daß man mit genau gleichviel Geld auch ein ganz anderes Haus bauen kann. Das funktional wirklich ins Gelände paßt.44

Mit dem modernen Architektenhaus wird eine neue Qualität ins Dorf eingeschleppt, die das bisher Genügende schlagartig als Minderwertiges „entlarvt“. Das Haus verkörpert gerade durch seine demonstrative Bescheidenheit45, die vor allem mit der Wahl des Holzbaus den baulichen Fortschritt der umgebenden gemauerten Neubauten wieder rückgängig macht, jene 35 PN: Z 460 36 Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Vorarlberg vgl. Greussing (1984) 37 ALE: Z 781 ff 38 Ebd. 39 Eigene Aufzeichnungen zur Podiumsveranstaltung am 27. 04.2007 im Domizil in Egg. 40 „Architekten und Baumeister reagierten auf die Nachfrage mit einem Laubsägestil, der sich vom Semmering bis St. Moritz mit Elan an die Ausbeutung bäuerlicher Motive machte, wobei der Gesichtskreis bis England und in die Türkei erweitert wurde.“ Achleitner erwähnt in seinem Aufsatz Über das Verhältnis von Bauen und Landschaft, aus dem hier zitiert ist, nicht die dazugehörige kräftige Farbigkeit. In: Achleitner (1977), S. 64 41 Peer (2006) weist darauf hin, daß erst die Verfügbarkeit industriell produzierter Nägel im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts die Voraussetzung für die

Verkleidung der Strickbaufassaden mit Holzschindeln geboten hatte. 42 Zum Ochsenblutanstrich vgl. Peer, ebd. 43 „Tatsächlich scheint alles dafür zu sprechen, daß die ,populäre Ästhetik‘ (...) auf dem Postulat eines bruchlosen Zusammenhangs von Kunst und Leben gründet, (...) gegen jede Art formalen Experimentierens und gegen alle Effekte, die dadurch, daß sie gegenüber den einschlägigen Konventionen (...) eine Distanz einführen, auch zum [Betrachter, orig. ,Zuschauer oder Leser‘] auf Distanz gehen...“ Bourdieu (1987), S. 23 44 ALE: Z 538 ff 45 Auch Ernst Wirthensohn zeigt eine solche betont bescheidene Haltung in der Beantwortung meiner Frage nach seinem Wunsch an den Architekten, die erst in der Zusammenschau mit der erzielten Wirkung den dahinterstehenden Erziehungsimpetus sichtbar werden läßt. (EW 1: Z 693)

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höhere Ebene von Ansprüchen, die seine Bewohner gegenüber ihrer Umgebung in eine erzieherische Position setzen. Eugster verwendet zur Charakterisierung dieser Haltung den Begriff des „Anderen“, der bereits Adolf Loos als Titel seiner eigenen Zeitschrift gedient hatte, eines Organs, das mittels polemischer Traktate die Kultur seiner Wiener Umgebung als rückständig gegeißelt und die „Einführung der abendländischen Kultur in Österreich“ gefordert hatte.46 Provokation durch Einbeziehung eines Architekten

Doch lange vor dem abschließenden Fassadenanstrich hatten die Bauherren eine Übertretung begangen, in der Arno Eugster die eigentliche Wurzel des Widerstands gegen das Haus identifiziert. AE Daß überhaupt ein Architekt beteiligt war. LE Es gab ja in Langenegg keinen. AE Daß überhaupt ein Architekt beteiligt war!47

Während seine Frau die Hinzuziehung eines Architekten eher als Notwendigkeit aufgrund eines fachlichen Mangels vor Ort darstellt, betont Arno Eugster die soziale Konfrontation dieses Akts. Dort, wo kein Architekt erwünscht ist, weil lokale Zuständigkeiten existieren, taucht erstmals ein solcher auf. Wo man bisher alles unter sich regelte, indem „der Gemeindesekretär (...) alle Pläne gezeichnet hat“48, führt plötzlich ein Bauherr aus der Mitte der Dorfgesellschaft den Blickwinkel von außen ein. Die bis dahin praktizierte Autarkie und Selbstzufriedenheit ist damit exponiert, die eingespielten Verfahren sind auf eine Bühne gezerrt, die sie Vergleich und externem Urteil aussetzt. Erst im Zusammenwirken mit der formalen Abweichung, die der Hausentwurf darstellt, erhält die Verfahrensabweichung, „einen Architekten zu nehmen“, Dauerhaftigkeit. „Den damaligen Konflikt gibts immer noch, zwischen dem damaligen Bauausschuß, und diesem Bauherrn“49, kennzeichnet Bürgermeister Nußbaumer die mittlerweile drei Jahrzehnte währende Auseinandersetzung. Obwohl als Lehrer am Ort angesehen, erstrecken sich die Sanktionen der Dorfbevölkerung sogar auf Arno Eugsters Vater: Leute, mit denen mein Vater zum Beispiel ziemlich gut ausgekommen ist, die haben nicht mehr geredet mit ihm. Nie mehr. (...) Er war vierzig Jahre lang Lehrer in Langenegg. Der Bauausschuß und die Gemeindevertreter sind alle bei ihm in die Schule gegangen. Sie haben nicht mehr mit ihm geredet.50 Konvention und Abweichung

Was aber bedeutet der Umstand, daß die Dorfgemeinschaft mit faktischem Ausschluß reagiert, für die Bedeutung eines Hausbaus innerhalb des Dorfes? Zunächst, daß das einzelne Haus immer auch das Dorf und den herrschenden sozialen Konsens repräsentiert, in dem jeder Einzelne für die Gemeinschaft steht. Der Abweichler begibt sich zwangsläufig der sozialen Unterstützung. Solidarität der Dorfgemeinschaft ist nur unter der Bedingung der Anerkennung ihrer Konventionen zu erwarten. Indem der Konventionsbruch in Form eines Hausbaus geschieht, setzt der Konventionsbrecher den Maßnahmen des Ausschlusses seinen Widerstand durch Beharren am und im Ort entgegen. Er zwingt sein Umfeld, mit der Abweichung zu leben, fordert Toleranz, Akzeptanz des Abweichenden

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neben dem Konsens oder Assimilation, Aufnahme des Abweichenden in den Konsens durch Erweiterung desselben.51 In Erzählungen stößt man jedoch auch auf solche Fälle, in denen eine solche Herausforderung der Dorfgemeinschaft mit dem Anzünden des „abweichenden“ Hauses im Bauzustand quittiert worden ist.52 Im Vergleich zu den lebenslangen Folgen für die Bauherrenfamilie ist der Architekt von dieser sozialen Auseinandersetzung, in der sein Entwurf als Streitgegenstand die Rolle des Mediums einnimmt, wenig betroffen. Standesintern steigt sein Prestige sogar durch solche Auseinandersetzungen, die ihn als kompromißlosen Kämpfer für „die Sache der Architektur“ ausweisen.53 Die Pose des Revolutionärs, die Arno Eugster gegenüber seinem Umfeld einnimmt, hält er auch nach Jahren noch aufrecht. Die Pose ist nicht nur durch den Architektenentwurf zugewiesen, sondern auch angenommen und durch ihn als Akteur bestätigt. Das Haus hat ihm eine exponierte soziale Rolle verschafft, die er gerne beibehält. LE Aber ich kann mich doch erinnern, der Bürgermeister war doch da, der alte, und da haben wir versprechen müssen, daß wir die Latten, wenn wir die erneuern, daß die nicht mehr rot gemalt werden. Das hast Du doch versprechen müssen. AE Ja, aber ich habe sie inzwischen schon einmal nachgemalt.54

Auch andere Gespräche mit Bauherren weisen darauf hin, daß vor allem sie und nicht der Architekt 55 es sind, die das Provokationspotential von Architektur gezielt einsetzen. So erwähnt Wolfgang Schmidinger „ein paar offene Jugendgeschichten, wo es darum geht, zu sagen, ich steig jetzt grad aus Provokation auch auf diese Dinge ein.“ 56 Andere Bauherren vermeiden ebenso bewußt solche Auseinandersetzungen, wie Jürgen Sutterlüty, in dessen Architektureinsatz die Akzeptanz seiner Supermarktbauten aus Kundensicht im Vordergrund steht.57 46 Dem Herausgeber von Loos’ nachgelassenen Schriften, Franz Glück zufolge, erschienen von das andere lediglich zwei Ausgaben. Loos, S. 465 47 ALE: Z 195 ff 48 ALE: Z 185 ff 49 PN: Z 504 ff 50 ALE: Z 518 ff 51 LE: Er empfindet es natürlich viel ärger als ich, weil er ist Langenegger. Ich bin keine Langeneggerin und für mich war das nicht so schlimm. AE: Du hast einfach die Leute nicht so gekannt. Was zum Beispiel der Bürgermeister gesagt hat, der jetzige. (ALE: Z 563 ff) Frau Eugster, die aus dem Nachbarort Doren stammt, ist von den Anfeindungen wesentlich weniger betroffen als ihr Ehemann, der im Ort aufgewachsen ist, dem die Nachbarn gleichzeitig die Kindheitsfreunde sind. Dieses Prinzip der räumlichen Nähe, die erst das eigene Handeln zum sozialen Handeln macht, zum Verhalten also, das das Beobachtetwerden einbezieht, indem es die soziale Wirkung des eigenen Verhaltens mitkalkuliert, gilt auch in umgekehrter

Richtung. Das Beharren auf den roten Deckleisten als Auflehnungsgeste funktioniert nur in einem Umfeld, das die Auflehnung entsprechend „quittiert“. 52 Notiz zum Gespräch mit D., ein Wäger-Haus in Lustenau betreffend. 53 Georg Pendl (vgl. Anm. 2) formuliert diese Haltung als kulturelle Verantwortung des Architektenstandes gegenüber der Gesellschaft: „Nicht alles zu machen, was verlangt wird oder Geld bringt, sondern eben etwas tun, was vertreten werden kann, wohinter Frau und Mann stehen können. Dadurch entsteht wohl doch etwas wie ein kultureller Druck auf die Gesellschaft insgesamt und auf die Bauherrschaft, die Politik, die Beamtenschaft, Entscheidungsträger und Investoren oder wie sie alle heißen mögen im Besonderen. Dieser kulturelle Druck führt letztlich zu einer Veränderung der kulturellen Landschaft.“ 54 ALE: Z 591 ff 55 ...wie die Fachliteratur mit ihrer Fixierung auf die Person des Architekten suggeriert... 56 WS 1: Z 326 ff

Das Haus verleiht dem Bauherrn die Rolle eines Revolutionärs

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Es gibt damit ebensoviele Motive zu solcher Provokation wie Bauherrenbiographien, was die Möglichkeiten, allgemeingültige Aussagen daraus abzuleiten, zunächst verstellt. Erst die räumliche Zusammenschau und die Feststellung einer zeitlichen Übereinstimmung der individuellen Profilierungen lassen aus den Einzelereignissen eine „Bewegung“58, eine soziale Zeiterscheinung am besonderen Ort werden und erlauben, Zeitgenössische Architektur als Mittel wahrzunehmen, solche Profilierungen zu befördern. Reaktionsfeld Familie

Sowohl bei Eugsters als auch bei Wolfgang Schmidinger bietet neben dem weiteren sozialen Umfeld der Nachbarschaft und des Dorfes die eigene Familie das unmittelbare Reaktionsfeld für den Konflikt. Bei Eugsters bewirkt der Konflikt um das Haus ein spürbares Zusammenrücken der Familie. Konkret wird von einer Festigung der Beziehung des Sohnes zu seinem Vater durch dessen Solidarisierung berichtet, als der Sohn mit der Dorfgemeinschaft in Konflikt gerät, sowie von einem Geltendmachen des väterlichen Einflusses im Gemeinderat. Der Schwiegervater wird durch die Wertschätzung einbezogen, die seine Holzspende und seine Kenntnisse in deren Verarbeitung beim Bau des Hauses erfahren. Schmidinger hingegen nutzt seine Baumaßnahme für eine Emanzipation innerhalb der Famile. Für ihn sind die sozialen Vorgänge der 1980er Jahre, die sich am Auftauchen der ersten Architektenhäuser kristallisieren, als Anlaß willkommen, einen Generationenkonflikt auszutragen. Der Dachgeschoßausbau im Elternhaus bietet Wolfgang Schmidinger die Chance, innerhalb der Großfamilie, die in dem Haus, das auch die Tischlerei beherbergt, zusammenlebt und arbeitet, für sich einen abgrenzbaren Raum zu gewinnen.59 Die Umsetzung erfolgt schrittweise über sechs Jahre hinweg und verleiht seiner Persönlichkeitsprofilierung innerhalb des Familienverbandes sichtbaren Ausdruck. Sein erster Schritt, der Bau eines Lifts, schafft eine direkte Verbindung vom Erdgeschoß ins Dach. Entscheidend scheint hierbei, auf dem Weg in sein zukünftiges Büro nicht jedesmal die Wohnungen von Onkel und Eltern durchqueren zu müssen. Zusätzlich zementiert die Besetzung des vorhandenen Transportschachts durch den Lift den persönlichen Anspruch auf den Dachraum, indem sie jede Wiederaufnahme der ehemaligen Holztrocknung dort blockiert. Nachdruck und inhaltliche Kontur gibt Schmidinger seiner in57 JS: Z 360 ff, vgl. auch Abschnitt Architektur als Kunst im Kapitel Architektur? 58 „Nicht zuletzt wird dabei sichtbar, wie derartige Ausstellungen [ Konstruktive Provokation im Bregenzer Kunsthaus] selber zur Genese und Konsolidierung solcher ,Baukulturen‘ beitragen. Im Medium der Ausstellung versammelt sich, was eigentlich nur als Nebeneinander disparater Kräfte und Gruppierungen einst wirksam war. Das Unterfangen dieser Ausstellung, neues Bauen im Vorarlberg vorzuführen, ist in-

sofern architekturpolitischer Natur – es macht aus dem Sammelsurium nunmehr ein ,Netzwerk‘ zusammengehörender Akteure. Treffend spricht Otto Kapfinger in der zur Ausstellung erschienenen Broschüre von der ,Entstehung und Wirkung einer Schule, die nie eine war‘. Das Postulat einer herrschenden ,Baukultur‘ ist insofern immer auch (architektonische) Selbst-Behauptung innerhalb eines heterogenen gesellschaftlichen Umfelds.“ Roesler, S. 70 59 WS 1: Z 203 ff

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nerfamiliären Emanzipation, indem er sich mit derjenigen Bauherrenfraktion solidarisiert, von deren Existenz bereits das Ehepaar Eugster berichtet hatte: einer über die Dörfer des Bregenzerwaldes verstreuten Interessensgemeinschaft. AE Die anderen Bürgermeister im Bregenzerwald haben sich zusammengetan und überlegt, wie sie so etwas in ihren Gemeinden verhindern können. Und andere Leute, die bauen wollten, sind zu uns gekommen und haben gefragt: „wie habt ihr das gemacht, daß das durchgegangen ist?“ LE Ja, es sind viele jüngere Leute gekommen, die ähnlich bauen wollten, zum Anschauen. AE Und haben gefragt: „Wie geht das, daß man so etwas durchbringt?“ Also, es hat unheimlich Aufruhr erregt in der ganzen Region, das stimmt.60

In dem „Aufruhr“, den die Vorgänge um das Eugster-Haus in der Region auslösen, kristallisieren sich zwei Gruppen mit gegensätzlichem Interesse heraus. Die Bürgermeister als lokale Baubehörde solidarisieren sich, um Strategien zu entwickeln, vergleichbare Abweichungen in ihrem Einflußbereich zu verhindern, vor allem, um die sichtbar gewordenen Lücken im baurechtlichen Instrumentarium zu schließen. Arno Eugster berichtet etwa von gerichtlich vereidigten Sachverständigen als neuen Spezialisten im baurechtlichen Verfahren61, Bürgermeister Nußbaumer von der Bestellung eines Gestaltungsbeirats für den Bauausschuß.62 Die andere Gruppe sind Bauwillige. Diese interessieren sich für Strategien der Subversion, dafür, wie man es anstellt, ein „anderes“ Haus genehmigen zu lassen. Leopoldine Eugsters Wahrnehmung der Ereignisse konzentriert sich nicht auf den Konflikt, sondern auf das Entstehen einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Die Interessierten sind „junge Leute“ wie sie selbst, mit ähnlichen Interessen. Vergleichbar ihrer eigenen Situation auf der Suche nach Vorbildern für das Wohnen kommen diese „zum Anschauen“. Arno Eugster ergänzt die Erzählung seiner Frau sogleich wieder um den Konfliktaspekt. Für ihn ist die Wirkung ihres Hauses in der Region vor allem „Aufruhr“. Seine eigene Rolle, aus dieser Wahrnehmung abgeleitet, ist die eines Auslösers, wenn nicht Anführers des Aufruhrs63, die exponierte Rolle eines Einzelkämpfers gegen die soziale Norm: „Und wenn ich nicht so stur wäre, wären die jetzt hier nicht rot.“64

Genese der „Bewegung“

Bereits Arno Eugsters Selbsteinschätzung, mit dem Bau seines Hauses in gewisser Weise die Bautradition der regionalen Bauernhäuser reanimiert zu haben, deutet darauf hin, daß der Aufruhr in der Region nicht einfach als Widerstand einer konservativen Landbevölkerung gegen „moderne“ Einflüsse zu interpretieren ist. Auch Wolfgang Schmidingers Erzählung läßt eine Schizophrenie zwischen den Kategorien des Neuen und des Revolutionären

Neues Bauen als konservative Revolution

60 ALE: Z 599 ff 61 ALE: Z 311 ff 62 PN: Z 459 ff, ausführlich im Kapitel Dorf 63 Vgl. die Ausdrücklichkeit, mit der Arno Eugster feststellt, daß ihr Haus tatsächlich das erste seiner

Art in der Region war. (ALE: Z 50 ff) 64 ALE: Z 626 ff; Bürgermeister Nußbaumer bestätigt diese Interpretation von Arno Eugsters Selbstwahrnehmung: „Das ist heute noch eine Genugtuung für ihn.“ (PN: Z 504 ff)

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erkennen. Seine Darstellung einer Podiumsdiskussion in Bezau anläßlich der ersten modernen Häuser im Umfeld stellt ihren Architekten, den Schmidinger im Anschluß selbst beauftragt hatte, in den Brennpunkt öffentlicher Kritik. Das war, glaub ich, zu der Zeit grad der Friseur in Bezau, (...) und was ich nicht ganz sicher weiß, ob der Gemeindesaal Hittisau als erstes öffentliches Gebäude bereits, gestanden hat. (...) Beides war (...) in aller Munde, und ist viel geschimpft worden drüber und hat Bürgerversammlungen gegeben, und gab anläßlich von dieser Handwerksausstellung in Bezau eine Podiumsdiskussion mit schlimmen Beschimpfungen vom Architekten, (...) und (...) die Rebellion, die so irgendwie gegen dieses Neue losging, das hat mich fast noch ein bißchen bestärkt, (...) vielleicht hatte ich da noch ein paar offene Jugendgeschichten, wo es darum geht, zu sagen, ich steig jetzt grad aus Provokation auch auf diese Dinge ein.65

Schmidinger schildert die soziale Reaktion auf das Entstehen der Neuen Architektur als „Rebellion gegen das Neue“. Rebellisch seien die Verhinderer, nicht die Schöpfer des Neuen. Seine Reaktion, „auch auf diese Dinge“ einzusteigen, bedeute Provokation gegenüber der Rebellion der gesellschaftlichen Mehrheitsfraktion. Seine Diskussion mit dem Vater anläßlich der Umbauten am Elternhaus, die mit dem Dachgeschoßumbau begannen, klärt den scheinbaren Widerspruch auf. Vorne (...), da war ein Blumenbalkon, in Beton, draußen, den galts, irgendwie herunterzusägen, (...) hier war eine Eternitfassade, hält zweihundert Jahre, hat man gesagt, und vorher war Schindel, (...) und als so das irgendwie kam, hier soll wieder ein Holz angebracht werden, war einfach total die alten Muster da, daß die sagen, „ich mein, wir sind ja nicht blöd, irgendwie, wir hatten Schindeln, die sind alle faul geworden, und jetzt, seit der Eternit oben ist, ist Ruhe, mit dem Ding, und du kommst jetzt, und möchtest uns weismachen, daß auf die Wetters-, Westseite, daß da eine Holzfassade hinauf soll“. Und das war schon eine (lacht) ein, ziemlicher, nicht nur ein Dialog, sondern ein Kampf (...) und heftige Diskussionen.66

In diesen Umbauten, für die Schmidinger bei seinem Architekten Entwürfe bestellt hatte, stellt sich das Neue als eigentlich konservative, als traditionserneuernde Position dar, als Rückbau einer bereits durchgeführten Modernisierung. „Tradition“ wird hier die Rolle zugesprochen, das Neue zu legitimieren. Wir finden eine vergleichbare Argumentation in Arno Eugsters Anspruch, das Konfliktpotential seines eigenen Hauses liege im Wiedereinführen von Merkmalen, die „ganz was Altes“67 seien. Es mag eine Rolle spielen, daß die Generation Schmidinger und Eugster inzwischen erfahren mußte, daß die Industriematerialien Eternit und Beton die Erwartungen an Dauerhaftigkeit nicht erfüllen, die die Vätergeneration ihnen noch zugetraut hatte. 68 Festzustellen ist jedenfalls, daß die „soziale Revolution“, die sich im Bregenzerwald am Auftreten der modernen Architektenhäuser zeigt, inhaltlich an eine zu dieser Zeit bereits etablierte Gesellschaftskritik der ökologischen Bewegung69 anschließt. Etablierung neuer Werte

Der provokante Auftritt der neuen Häuser läßt zusammen mit den Selbstauskünften ihrer Bauherren, soweit sie dem akademischen Milieu entstammen, einen erzieherischen Impetus gegenüber ihrem dörflichen Umfeld erkennen.

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Erziehung setzt einen Vorsprung des Erziehers vor seinem Zögling voraus, sodaß zu fragen ist, woraus die Bauherren – und ihre Architekten – die Legitimation zu jenem Erziehungsimpetus ableiten, der in der Form ihrer Häuser, ihrem provokativen Anderssein, zum Ausdruck kommt. Die Literatur zur Geschichte der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs bietet dazu als Erklärung an, daß die Bauherren der ersten Architektengeneration neben Graphikern und Künstlern vor allem Lehrer gewesen seien70, die mehrheitlich bei Professor Franz Bertel an der Pädagogischen Akademie in Feldkirch ausgebildet und durch diesen mit den Grundlagen der modernen Architektur vertraut gemacht worden seien.71 Diese Interpretation, die etwa Arno Eugster, während seiner Lehrerausbildung selbst Schüler Bertels, für seine Person ausdrücklich bestreitet72, beantwortet nicht die Frage nach der Wurzel des Erziehungsimpetus, sondern setzt die erzieherische Wirkung Moderner Architektur als eine Art natürlicher Überlegenheit „inmitten der traditionellen, dekorativen Bauweise“73 einfach voraus. In dem Versuch der vorliegenden Studie, den Auftritt Zeitgenössischer Architektur weniger als kulturellen Fortschritt denn als Indikator eines sozialen Wandels zu interpretieren, spielen die komplexen Modernisierungseffekte, dem die ländliche Gesellschaft unterworfen ist und die in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs mit steigender Geschwindigkeit unübersehbar werden, eine zentrale Rolle. Stichworte für diese Modernisierung sind zuvörderst der Statusverlust der Landwirtschaft als dominierender Existenzform des ländlichen Raumes74, einem sozialen und wirtschaftlichen Abstieg, dem das ländliche Handwerk folgt, bevor dieses, zumindest was das Tischlerhandwerk Vorarlbergs betrifft, im Export in die Nachbarländer Schweiz und Liechtenstein, neue Absatzmärkte erschließt.75 Die heute typischen, täglichen oder wöchentlichen Pendlerbewegungen zwischen Stadt als Arbeits- und dem Land als Wohnort sind Folgen der steigenden individuellen Mobilität, die erst erlaubt hat, Lebens- und Arbeitsort zu trennen. Das Wohnen verselbständigt sich durch diese Trennung, die sowohl beim Handwerker als auch, stärker noch, beim Bauern, der kein „Wohnzimmer“ kennt, noch vereint waren.76 Die staatliche Bildungspolitik beschert dem ländlichen Raum eine flächendeckende Ausstattung mit höheren Schulen77, wodurch sowohl die Zuzügler mit den aus der Stadt gewohnten 65 WS 1: Z 303 ff 66 WS 1: Z 616 ff 67 ALE: Z 701 68 WS 1: Z 620 69 Zu den Entstehungsbedingungen der ökologischen Bewegung vgl. André Gorz: Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung; in: Gorz (2009), S. 31 70 Vgl. etwa Kapfinger (2003), S. 9 71 Nora Vorderwinkler widmet sich in ihrem Aufsatz Zwei Wegbereiter, ein Exkurs ausführlich der Dar-

stellung von Franz Bertels „zentrale[r] Rolle für die Verbreitung moderner Baugedanken in Vorarlberg“. Vorderwinkler (2003), S. 25 72 ALE: Z 433 ff 73 Strasser (2004), S. 77 74 „Hier leben weniger Vollerwerbsbauern als in Wien“, erwähnt etwa Kapfinger in seiner Einleitung zum Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980 (1999). 75 Vgl. Abschnitt Rustikalproduktion im Bregenzerwald, Kapitel Handwerk

Wandel der ländlichen Gesellschaft

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Standards versorgt werden als auch der ländlichen Bevölkerung selbst zu ihrer landwirtschaftlichen oder handwerklichen Existenzform die Alternative „akademische Bildung“ nahegelegt wird.78 Die infolgedessen wachsende Bildungsschicht innerhalb der ländlichen Gesellschaft gerät, den Bregenzerwald betreffend, seit den 1970er Jahren zunehmend in Konflikt mit den traditionell etablierten Werten und Institutionen. Die „Wäldertage“79, ausgehend vom neugegründeten Gymnasium in Egg, schaffen dieser Kritik erstmals ein öffentliches Forum. Bisher als „normal“ geltende, in der ländlichen Gesellschaft etablierte Verhaltensformen – etwa gewalttätige Erziehungspraktiken80, Tabuthemen wie Jugendsexualität81, aber auch Repräsentationsformen wie die rustikale Architektur des ländlichen Tourismus82 – werden dort als „Landprobleme“83 thematisiert. Die bisher tonangebende und mit Gestaltungsautonomie ausgestattete Gesellschaftsschicht findet ihren Habitus damit als personifiziertes „Problem“ an den Pranger gestellt. Lehrer als Exponenten des sozialen Wandels

Lehrer sind diejenigen Exponenten des Wandels, die die Werte der Gebildeten im ländlichen Milieu sowohl vermitteln als auch in ihrer Lebensweise verkörpern. Daß diese Doppelrolle traditionell zur Figur des Dorflehrers gehört, wird aus einer Erzählung Ernst Wirthensohns deutlich, der den reformpädagogischen Unterrichtsmethoden seines eigenen Lehrers Wilhelm Fritz in Thal nachträgliche Wertschätzung entgegenbringt und die Überzeugungskraft dieser pädagogischen Praxis nicht zuletzt auf die betont „alternative“ Lebensweise Fritz’ zurückführt.84 Das „Wohnen“ ist ein Bestandteil des Alltagslebens, der sowohl dem Bauern als auch dem Handwerker fremd ist. Es gehört, zusammen mit der Architektur als Fachdisziplin eines ästhetisierten Wohnens, statt dessen zum Habitus der Gebildeten.85 Das „andere Haus“ des Lehrerehepaars Eugster 76 Vgl. Selle (1993) 77 Statistische Zahlen für Vorarlberg seit Ende der 1960er Jahre dokumentiert Schall, S. 9: „Ein wesentlicher Faktor für das Entstehen kritischer Kulturund Politikinitiativen war auch in Vorarlberg die Expansion des Systems höherer Schulen...“ 78 Vgl. dazu Schmidingers Schilderung der Berufslaufbahn seines Bruders. Dieser sei zum Studieren nach Wien gegangen, während die Generation des Vaters noch vollzählig ihr Auskommen im Umfeld des Familienbetriebes gefunden habe. (WS 2: Z 621) 79 Vgl. Schall, S. 117 ff 80 Dieter Macek berichtet etwa von Jugendlichen, die von ihren Eltern blutig geschlagen worden waren. Eigene Notizen zur Podiumsveranstaltung am 27.04.2007 im Domizil in Egg. 81 Wäldertage 1974, vgl. Schall, S. 124 82 Friedrich Achleitner hält bereits bei den ersten Wäldertagen, 1973, einen Vortrag zum Bauen im

ländlichen Raum, den die Neue am 29.10.1973 resümiert: „Das bauliche Jodlertum, jenes entsetzliche, plakative Klischee des Alpinen Bauens, sollte der Vergangenheit angehören.“ Schall, S. 121 f 83 Eine im Frühjahr 1973 in Egg gegründete Arbeitsgruppe Landprobleme fungierte als Gründungsinitiative der Wäldertage. Schall, S. 119 84 EW 2: Z 240 ff 85 „Nichts hebt stärker ab, klassifiziert nachdrücklicher, ist distinguierter als das Vermögen, beliebige oder gar vulgäre (weil oft zu ästhetischen Zwecken vom Vulgären angeeignete) Objekte zu ästhetisieren, als die Fähigkeit, in den gewöhnlichsten Entscheidungen des Alltags – dort, wo es um Küche, Kleidung oder Inneneinrichtung geht – und in vollkommener Umkehrung der populären Einstellung die Prinzipien einer ,reinen‘ Ästhetik spielen zu lassen.“ Bourdieu (1987), S. 25 86 ALE: Z 203 ff

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gewinnt vor allem aus diesem Kontext heraus seine Bedeutung eines Indikators für den skizzierten sozialen Wandel des ländlichen Raumes. Arno Eugsters Ablehnung, seine Lehrerexistenz als Erklärung seines „revolutionären“ Hausbaus gelten zu lassen, rückt statt dessen sein Akademikertum in den Mittelpunkt: In Langenegg gabs sowieso nur ganz, ganz wenige Akademiker. (...) Alle waren eigentlich Handwerker.86

Wirksam wird die Existenz beider Ehepartner als Lehrer vor allem, indem sie ihre private Lebenspraxis zum Vorbild für ihre Schüler erheben und damit selbst als Multiplikatoren für den Habitus der Gebildeten wirken. Zunächst hatte Arno Eugster jene Frage, die sich auf die Auswirkung seines Hauses auf die Lehrertätigkeit richtet, rundheraus abgelehnt.87 Außer in Gesprächen mit Kollegen komme das Haus in der Schule nicht vor. Bekräftigend weist seine Frau auf den räumlichen Abstand zwischen Schule und Haus hin: „Doren ist dort und Langenegg ist da.“88 Dann aber ereignet sich ein Dialog zwischen den Eheleuten, der schließlich beider spontan geäußerte Ablehnung einer pädagogischen Demonstration durch das Haus in ihr Gegenteil kehrt. LE Wenn jetzt Schüler (...) vorbei kommen, dann sagen sie immer am nächsten Tag, „Mensch, Fräulein, haben Sie ein tolles Haus!“ Das gefällt also, den jetzigen Kindern gefällt das. Grad heuer wieder sind sie für die Schiwoche (mit dem Bus gekommen und haben mich) geholt. Ein paar Tage später haben sie gesagt: „Sie wohnen in einem tollen Haus“ (lacht). AE Also, das ist schon typisch, wenn ich jedes Jahr zur (Schiwoche) fahre, dann lasse ich mich mit dem Bus da her bringen, da steig ich aus, dann sehen sie es, immer die Drittklässler. Und alle sagen mir eigentlich jedes Jahr dasselbe, auch jetzt noch. Das sagt eigentlich doch, daß es was Besonderes sein muß, das Haus. Da steht nirgends eines, das so ähnlich ausschaut.89

Architektur gewinnt ihre Bedeutung und Brauchbarkeit für die angesprochenen sozialen Auseinandersetzungen aus dem Ansehen, das ihr durch das Herkommen aus der Sphäre der Kunst und der gesellschaftlichen Rolle des Künstlers erwächst. Kunst nämlich, so hat es bereits Friedrich Schiller 1795 in seinen Briefen Zur ästhetischen Erziehung des Menschen90 formuliert, diene dazu, die ungebildeten Menschen mit Werken zu umgeben, die sie zu Höherem, zu einer Existenzform als selbstbestimmte Individuen, erziehen. 87 Arno Eugster bezieht die statistische Feststellung, daß unter den Bauherren jener Generation überproportional viele Lehrer gewesen seien, offensichtlich auf seine mit dem Hausbau verbundene Absicht. Und lehnt die Unterstellung, er habe aufgrund seines Lehrerberufs ein „Architektenhaus“ als pädagogische Demonstration gebaut, vehement ab. Seine späteren Äußerungen zu diesem Kontext (Stichwort „Bertel“, ALE: Z 428 ff) lassen vermuten, daß er vor allem ablehnt, für die Sache der Architektur „vor den Karren gespannt worden zu sein“. Bildungskanon und Lehrplan entlasten den Lehrer von der Verant-

wortung für die Inhalte seiner Lehre. Offensichtlich möchte Eugster jedoch der Verantwortung für sein Haus nicht entbunden werden, es statt dessen als Individuum verantworten. 88 ALE: Z 659 ff Diese Bemerkung Leopoldine Eugsters illustriert die Kleinräumigkeit der lokalen Gesellschaftsstruktur: Doren und Langenegg sind Nachbarorte, vom Haus der Eugsters besteht Sichtverbindung zur Hauptschule in Doren. 89 ALE: Z 664 ff 90 Schiller, S. 305 ff

Ästhetische Erziehung

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Dieses Prinzip einer sozialen Funktion der Kunst, während der Spätaufklärung und damit vor dem Hintergrund der Französischen Revolution formuliert91, das eine bis in die Moderne hinein gültige Legitimation für den moralischen Vorsprung des Künstlers innerhalb seiner Gesellschaft darstellt92, dieses Prinzip, das für Schiller eine Idealform des Staates zu erstreben hat, damit bereits politisch aufgeladen ist und in den staatlichen und kirchlichen Autoritäten seine natürlichen Gegner identifiziert93, trägt in sich die Legitimation des unangepaßten und provokanten, gar revolutionären Habitus des Künstlers, höchst brauchbar zur Instrumentierung in sozialen Auseinandersetzungen, von denen hier die Rede ist, sowohl auf der Ebene der Familie als auch des Dorfes.94 Insbesondere die Form und weniger der Inhalt ist, Schiller zufolge, das Mittel, das der Kunst zum Zweck der Erziehung verfügbar ist.95 Die Form, als klassische vom Griechentum her legitimiert96 und als solche nicht kontaminierbar durch zeitgemäße, kurzlebige Inhalte, ist die eigentliche Botschaft des Kunstwerks, hier des architektonisch formulierten Hauses, das in seinem „Anderssein“ seine Normalform als Ausdruck des skizzierten Selbstverständnisses von Künstlertum gefunden hat, eines Künstlertums, das für unseren Kulturkreis auch der sozialen Rolle von Architektur ihre Legitimation und ihren Vertretern den standesgemäß unangepaßten Habitus verleiht:97 Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf; leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben. (...) Denke sie dir, wie sie sein sollten, wenn du auf sie zu wirken hast, aber denke sie dir wie sie sind, wenn du für sie zu handeln versucht wirst. (...) Wo du sie findest, umgib sie mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen, schließe sie ringsum mit den Symbolen des Vortrefflichen ein, bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet.98

91 Antje Büssgen interpretiert die von Schiller geforderte Sittlichkeit als Gegensatz zu der realen Barbarei, die dieser im eskalierenden Revolutionsgeschehen des Nachbarlandes wahrgenommen hatte. Büssgen, S. 2 ff 92 So Martin Heidegger in seiner Freiburger Vorlesungsreihe 1936 /37 zu Schillers Briefe[n] zur ästhetischen Erziehung des Menschen, S. 12 ff. 93 „Der zahlreichere Teil der Menschen wird durch den Kampf mit der Not viel zu sehr ermüdet und abgespannt, als daß er sich zu einem neuen und härtern Kampf mit dem Irrtum aufraffen sollte. Zufrieden, wenn er selbst der sauren Mühe des Denkens entgeht, läßt er andere gern über seine Begriffe die Vormundschaft führen, und geschieht es, daß sich höhere Bedürfnisse in ihm regen, so ergreift er mit durstigem Glauben die Formeln, welche der Staat und das Priestertum für diesen Fall in Bereitschaft halten.“ Schiller, a.a.O., Achter Brief, S. 327 f 94 Die nächsthöhere Ebene, die des Staates, speziell der sowjetkommunistischen Staatsform, und der „Kunst als Waffe“ gegen die während der 1920er Jahre europaweit aufkeimenden Faschismen thematisiert

Robert Cohen in Exil der frechen Frauen, Berlin: Rotbuch, 2009 95 Bourdieu identifiziert in der „ausschließlichen Aufmerksamkeit für die Form“ sowohl die Wurzel für den sozial klassifizierenden Effekt des Umgangs mit Kunst als auch die Basis ihrer Funktionalisierung für Zwecke der Erziehung. Bourdieu (1987), S. 21 ff 96 „Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.“ Schiller, a.a.O., Neunter Brief, S. 329 f 97 Ein Nebenaspekt dieser Legitimation ist das Traditionsbewahrende, das der Kunst aufgetragen ist, während das Utopische eher zur Rolle der Technik gehört, was Kunst und Technik zu Opponenten macht. 98 Schiller, a.a.O., Neunter Brief, S. 331 f

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231 4.4 Architektenhaus Der gesellschaftliche Wettbewerb um Einflußsphären im ländlichen Raum bestimmt auch in diesem Abschnitt unsere Betrachtung des Auftritts Zeitgenössischer Architektur. In der bisherigen Gegenüberstellung exemplarischer Sichtweisen der konkurrierenden Bildungsschichten ist deutlich geworden, daß die „bodenständige“ Position des Handwerks technisch gesehen die fortschrittlichere ist, während die „weltfremde“ der akademisch sozialisierten neuen Bewohner des Dorfes im Vergleich dazu romantisch, konservativ und bestandserhaltend auftritt. Die akademische Position, die sich durch Architektur repräsentiert, achtet das „handwerkliche Erbe“ so sehr, daß sie dieses gegen die Handwerker selbst verteidigt und es gegen den Strom der Zeit rekonstruiert. Der selbstverständliche Umgang mit Material und Werkzeug ist für den Akademiker eine zutiefst fremde Welt1, zu der er vor allem mittels betrachtender Reflexion ihrer Artefakte als material culture2 Zugang sucht, während seine eigentliche Heimat immateriell ist, die geistige Tradition, der Fortschritt der Ideen. Das Idealbild ihrer Verwirklichung ist eine dinglich konservative, „authentische“ Umgebung. Die Lebenswirklichkeit des Bauern und Handwerkers jedoch, denen der Neon-Ring als Wohnküchenlicht genügt und deren Leben Arbeit und nicht Wohnen ist, widerspricht eklatant dem Bild, das die neuen Bewohner stadtnaher Dörfer mit Landleben verbinden. Architektur tritt aus dem Blickwinkel unserer Studie als Mittel in Erscheinung, das Dorf diesem Bild anzunähern.3 Es sind Blicke aus zwei unterschiedlichen Wahrnehmungstraditionen auf dieselbe Welt, die hier aufeinandertreffen. Charles Rennie Mackintosh, einer der Gründerväter der Architekturmoderne, setzte noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts steinerne „schottische Burgfassaden“ gegen die technisch modernen Gußeisenbauten der Industrie- und Handelsstadt Glasgow und reklamierte für sich, „zeitgemäß“ zu bauen.4

1 Der finnische Architekt Juhani Pallasmaa spiegelt diesen Gegensatz der Habitusformen von Handwerkern und „Geistesarbeitern“ auf die Spaltung zwischen Kopf und Hand im Körperbezug des Einzelnen und analysiert die gesellschaftliche Bedingtheit der jeweils eigenen Körperbeziehung am Begriff embodied knowledge. Vgl. Pallasmaa (2009), mit Dank an Oliver Lowenstein für diese Quelle Zum Thema des Körperbezugs von Wissensformen vgl. auch den Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf. 2 Material culture bezeichnet einen Forschungsbereich der Kulturwissenschaft, der insbesondere in der akademischen Tradition des angelsächsischen Sprachraum beheimatet ist. Deutsche Übersetzungen sind

etwa Dingkultur. Der museumsgerechten Sammlung von Dingen und ihrer Auswertung zum Verständnis fremder Völker oder vergangener Zeiten entspringend, wie sie das neunzehnte Jahrhundert pflegte und in den ersten Weltausstellungen auf die Repräsentation der Gegenwart übertrug, interessiert sich die zeitgenössische Forschung zur material culture für den Zusammenhang zwischen Dingen und gesellschaftlichem Leben, also für die Frage, wie sich Gesellschaften in ihrer Dingkultur abbilden. Victor Buchli faßt als wissenschaftlicher Leiter der Material Culture Group at University College London deren Forschungsstand im Material Culture Reader (Oxford 2002) zusammen. Vgl. auch Düllo (2008) 3 Vgl. Abschnitt Architektur im Dorf, Kap. Dorf

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Definitionsmacht über das Zeitgemäße

Vergleichbare Konflikte um die Definitionsmacht über das Zeitgemäße sind es, die die vorliegende Studie betrachtet. Innerhalb ihres Forschungsfeldes drückt sich in ebendiesen Konflikten eine soziale Veränderung des Dorfes aus. Neben den Bauern und Handwerkern, die am Wohnort produzieren oder ihrem Gewerbe nachgehen, wird das Dorf zunehmend Nur-Wohnort, Pendler-Wohnort. In dieser Umschichtung, die neben Zuzug mit einem bildungsmäßigen Aufstieg der jüngeren Generation der Einheimischen einhergeht, wird eine neue Bewohnerschicht etabliert, die anderen Lebensmodellen, Vorbildern und Werten folgt als die ursprünglichen Dorfbewohner. Der Architekt gehört zu den Folgeerscheinungen dieses Wandels in der Sozialstruktur des ländlichen Raumes. Architektur erscheint aus dieser Perspektive als Zivilisationskrankheit, als Degenerationserscheinung des traditionellen Dorfes. Der nachfolgende Abschnitt ist der Perspektive des Architekten vorbehalten. Es soll danach gefragt werden, welches historisch gewachsene Wissen, welche impliziten Denkweisen und welches Selbstverständnis dem Architekten in seiner Ausbildung eingepflanzt werden, anders formuliert, wie der Architekt systematisch programmiert ist und welche dieser Systemeigenschaften von Architektur sich als Habitus dieser Disziplin im Architektenhaus dokumentieren, insbesondere demjenigen im ländlichen Raum, das für Vorarlberg charakteristisch ist. Das typologische Denken der Architekten, der Naturbezug und schließlich die Wohnlichkeit der von ihnen entworfenen Häuser sind inhaltliche Eckpunkte der Erörterung.

Typologie

Typologie ist eine genuin akademische Wahrnehmungsform. Sie entspringt einer Wissenschaftlichkeit, die Ordnungen bildet und Gesetzmäßigkeiten konstruiert, indem sie Vorgefundenes „aufgrund einer umfassenden Ganzheit von Merkmalen, die den Typ kennzeichnen“ 5 zu Gruppen ordnet. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 6 weist neben dieser Einbettung in die Wissenschaft auf eine Beziehung zur Technik hin. Nicht nur, daß sprachgeschichtlich die Bildung der Kurzform Typ aus Typus mit dem Auftreten der industriellen Serienfertigung zusammenfällt.7 Der Begriff Typ erhält auch mit seiner Ableitung aus einer fabrikmäßigen Produktionsweise einen Gehalt, der mehr als die nachträgliche Zuordnung, wie sie der Wissenschaft eignet, das Vorgestaltet-Einheitliche der sprachgeschichtli4 Gemeint ist hier das ehemalige Glasgow Herald Building, heute als Lighthouse Sitz eines international renommierten Architektur- und Designmuseums. Dieses zeigte 2008 eine Ausstellung mit dem Titel Building Biographies, die Architecture in Scotland 2006–2008 zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Architekturen, u.a. aus Vorarlberg, gegenüberstellte. Dem Ansatz des Kurators Oliver Lowenstein, einen Zusammenhang zwischen ländlicher Architektur und lokaler Handwerkskultur herzustellen, wurde in

der britischen Fachpresse „Romantizismus“ vorgeworfen (Mitteilung Lowenstein). Eine Monographie zu Mackintoshs Leben und Werk liegt u.a. von Alan Crawford vor: Charles Rennie Mackintosh; London: Thames & Hudson, 1995/2002 5 Duden, Großes Fremdwörterbuch, 3. Auflage; Mannheim: Dudenverlag, 2003 6 Leipzig: Hirzel, 1952; Bd. 22 7 „Besonders geläufig wurde die kurzform typ als wort der modernen technik, die besondere bauart (mo-

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chen Wurzel Gepräge bzw. Schlag, vom „Schlagen“ der Münzen herkommend, ausdrückt, einem Akt, der Herrschaft repräsentiert und als solcher den Typ gegenüber dem Individuum auszeichnet, eine Bedeutung, die dann begrifflich auf die nach einheitlicher Matrize gegossenen Bleilettern, die Typen, übertragen wird.8 Typologisches Denken kann damit neben dem Kategorisieren von Vorgefundenem aufgrund erkannter Gemeinsamkeiten, Kennzeichen eines wissenschaftlichen Habitus, auch in der Vorgestaltung von Mustern zur Herstellung von Serien, grundlegendes Kennzeichen einer mechanisierten Produktionsweise, beobachtet werden. Die Entwurfstechniken, derer sich Architekten bedienen, sind in hohem Maß von typologischen Denkweisen gekennzeichnet, eine Folge der akademischen Architekturlehre, die der Architektur eine scharfe Abgrenzung gegenüber allem nichtakademischen, vor allem dem handwerklichen Bauen, verschafft. Typologisches Denken kann dem architektonischen Entwurf unterschiedliche Ordnungskategorien von Typen zugrundelegen. So erwähnt mein Gesprächspartner Hans Purin den Gegensatz zwischen freistehendem Haus und Atriumhaus, der ihn im Wettbewerb um das Evangelische Pfarrhaus auf dem Bregenzer Ölrain beschäftigt habe. Purin erzählt, sein Konkurrent habe „einen freistehenden Bau gemacht, der war relativ mitten im Grundstück drinnen, (...) ein mehrgeschossiger Bau, mit Balkonen“9, wohingegen sein eigener Entwurf, der schließlich den Zuschlag erhielt, gegenüber dieser „konventionellen“ Lösung bei der Einschätzung der spezifischen Arbeitsbedingungen eines Pfarrers ansetze. Ich habe (...) angeregt, man sollte ein introvertiertes Haus machen, der Pfarrer hat sehr viel mit Menschen zu tun, und sollte in freien Stunden in einer abgeschiedenen, nicht daß, wenn man im Garten sitzt, daß einen die ganze Umgebung schon sieht, (...) ein Atriumhaus.10

Der Haustyp, den Purin wählt, ist historisch und funktionell konnotiert, indem er auf das Stadthaus der Antike sowie auf den Bautyp des Klosters verweist. So kann Purin, trotz moderner Bauweise, über den architekturgeschichtlich kanonisierten Typus eine Bezugnahme zur Geschichte des Bauplatzes, dem Areal der Bregenzer Römerstadt, herstellen. Purin unterlegt dem Ergebnis seiner funktionellen Überlegungen, die das berufstypische dellform) serienmäszig hergestellter fabrikate aller art bezeichnend.“ A.a.O., S. 1963 8 Daß nicht nur Münzen und die Träger von Uniformen, sondern auch Schrifttypen die Rolle nationaler Repräsentation übernehmen können und die Formen dieser Repräsentation wiederum dem Wandel wissenschaftlicher Erkenntnisse unterworfen sind, kam im Deutschland der NS-Zeit in der zunächst ausschließlichen Verwendung von Frakturschriften für amtliche Druckwerke zum Ausdruck. „So absurd

es klingen mag, diese zur deutschen Schrift deklarierten Lettern bezeichnete man wenige Jahre später zu Beginn des Zweiten Weltkriegs als Schwabacher Judenlettern und verbietet 1941 ihre weitere Verwendung. Zur Normalschrift im gesamten Schrifttum einschließlich der schulmäßigen Schreibschrift wird statt dessen die nichtarische Antiqua erklärt.“ Stiebner/ Leonhard (Hg.): Bruckmann’s Handbuch der Schrift; München: Bruckmann, 1977; S. 57 9 HP: Z 47 ff

Typologie und die Entwurfstechnik der Architekten

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Bedürfnis des Bauherrn nach einem privaten Rückzugsbereich ebenso umfassen wie ökonomische Erwägungen, „weil ich bin immer ein bißl sparsam mit dem Grund, und war der Meinung, man sollte das so anordnen, daß möglichst viel Freifläche bleibt“11, damit eine „Lesart“, deren Vokabular, die architektonische Typenlehre, sich den „Gebildeten“ nicht nur erschließt, sondern deren soziale Schicht im Vorgang des Erkennens bekannter Formen auch als Gruppe Eingeweihter gegenüber allen Nichteingeweihten auszeichnet.12 Während Purins Entwurfspraxis ein weitgefaßtes Verständnis vorbildgebender Typen sichtbar werden läßt13, das den von der Antike her entwickelten Kanon der Kunstgeschichte als Referenzraum nutzt und damit Architektur mittels Anlehnung an die Kategorien der Kunstgeschichte mit der akademischen Denktradition verknüpft, legt Architekt Gunter Wratzfeld eine Ebene engerer typologischer Bezüge frei, solche, die die kanonbildende Ordnungsmethode der Kunstgeschichte selbst auf die Architekturmoderne überträgt und diese damit als autoreferenzielles Binnenbezugssystem innerhalb eines kunstgeschichtlichen Rahmens erkennbar werden läßt. Wratzfeld „erklärt“ das konstruktive Konzept seines ersten nach dem Studium realisierten Entwurfs, dem Wohnhaus für seinen Bruder im Dornbirner Ortsteil Watzenegg von 1965, einer auf ein Betonskelett aufgeständerten „Holzschachtel“, indem er „sehr frühe Skizzen von Mies van der Rohe, wie er ein Haus an den Hang stellt“14, anführt und unterbricht das gemeinsame Gespräch so lange, bis er dieses „Beweisstück“ in einem Buch seiner Bibliothek findet: „Ältere Geschichte, aber bitte.“15 Im Vorgang des Aufprägens dieses Musters nobilitiert sein Entwurf das „billige Haus“ als kanonische Architektur. Indem Wratzfeld ferner seine verbürgte, wenngleich verborgene Quelle namentlich macht, stellt er sich selbst in die Nachfolge ihres Urhebers, eines Gründervaters der Architekturmoderne. Die Auskünfte beider Architekten lassen typologisches Denken in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen, des Nutzens wissenschaftlicher Ordnungskategorien wie des Aufprägens vorgestalteter Muster, als zentrale Kategorie sowohl der Wahrnehmung als auch ihrer Entwurfspraxis erkennen. Diese zentrale Rolle der Typologie kann als Indikator herangezogen werden, architektonisches von nichtarchitektonischem Bauen zu unterscheiden. 10 HP: Z 59 ff 11 HP: Z 49 ff 12 Bourdieu zitiert Ortega y Gassets Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst: „Die neue Kunst ist nicht für jedermann wie die romantische, sie spricht von Anfang an zu einer besonders begabten Minderheit...“, vgl. Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur?, Anm. 37 13 Purin hält das typologische Konzept des Pfarrhauses auch für eine gänzlich andere Funktion, als Betreutes Wohnen, für geeignet. Sein Folgeentwurf

sah vor, den Haustyp, in Form einer kleinen Siedlung vervielfältigt, an das Pfarrhaus anzuschließen. Die vom Typus ausgehende Denkweise, eine Kompetenz, die wiederum typisch für den Berufsstand der Architekten ist, trägt in sich offenbar die Tendenz zur Wiederholung, zur Bildung von Serien (HP: Z 164 ff). Vgl. die Wortherkunft, Anm. 7 14 GW: Z 500 ff 15 Ebd. 16 GG: Z 1093 ff 17 Ebd.

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Aus der zentralen Rolle typologischen Denkens erschließt sich, diesmal aus Architektensicht, ein weiterer Aspekt derjenigen Argumentationsposition, die die Architektenhäuser als die legitimen Erben der Bauernhäuser einsetzt, einer Position, der wir bei der Betrachtung des Eugster-Hauses bereits als Anspruch des Bauherrn begegnet sind. In meinem Gespräch mit Architekt Gerhard Gruber über Bezüge zwischen den traditionellen Bauernhäusern und der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs ist es für ihn „ganz klar, daß (...) diese kistige Vorarlberger Architektur“ aus „dieser knappen Form der traditionellen Architektur“16 herkomme. Ebenso selbstverständlich nimmt er als Voraussetzung seiner Genealogie, die „traditionelle Architektur“, die der Bauernhäuser nämlich, überhaupt als Architektur wahrzunehmen und damit das traditionelle handwerkliche Bauen, dem die Bauernhäuser entstammen, der Architektur als Referenzraum einzuverleiben. Gruber fährt fort, indem er nicht nur die „kistige“ Kontur der modernen Baukörper, sondern auch deren Konstruiertheit von der Bauweise der Bauernhäuser herleitet.

Architektenhäuser als legitime Erben der Bauernhäuser

Und grade dieses Konstruktive, das die Vorarlberger Architektur hat, kommt ja aus der Tradition des Holzbaus. Man weiß ja, daß man einen Holzbau konstruieren muß, und nicht einfach planen kann. Da gehts um Spannweiten und um Dimensionen, das ist in einem anderen Material viel weniger ein Thema.17

Im Gegensatz zur Wahrnehmung der Langenegger Dorfbewohner, die zur Beurteilung des Eugster-Hauses zwischen Stadel- und Wohnhauskonstruktion differenziert und in dieser Unterscheidung eine Hierarchie zwischen Arbeitsund Wohnhaus aufgestellt hatten, die gleichzeitig Tier- und Menschenhaus unterscheidet, spielen in Grubers Wahrnehmung die Maßstäbe dieser Differenzierung, die auf dem Wertegerüst der agrarischen ländlichen Gesellschaft beruht, keine Rolle. „Das Konstruktive“, der Umstand, daß im Holzbau gemäß den Materialeigenschaften des Baustoffs Holz entworfen, also „konstruiert“ werden muß, ist für ihn bereits gültiges Verbindungsglied und weiterer Nachweis einer legitimen Erbfolge zwischen Bauernhäusern und der Zeitgenössischen Architektur des Landes. Das typologische Denken, Voraussetzung einer folgenreichen Argumentationsstrategie, die nicht nur die Anwesenheit, sondern letztlich die beanspruchte Vorrangstellung von Architektenhäusern im ländlichen Raum legitimiert, offenbart sich gerade im Vergleich mit den von der ländlichen Bevölkerung geäußerten Bewertungen als Kategorie, die sich ausschließlich auf Aspekte der Form bezieht und zugunsten dieses Primats der Form alle anderen Ansprüche zurückweist. Solche Ansprüche sind etwa die der Funktion, die das Bauernhaus als Verbindung von Wohn- und Wirtschaftshaus vom reinen Wohnhaus, das das Architektenhaus ist, unterscheidet, oder jegliche soziale Tradition, die etwa die „Allgäuerhäuser“ zu den legitimen Nachfolgern der Bauernhäuser erklären könnte, da deren Bauherren die soziale Schicht der ursprünglichen ländlichen Bevölkerung repräsentieren.18 Der soziale Konflikt, mit dem das Auftreten der Architektenhäuser im Bregenzerwald einhergeht und der spätestens mit dem Einsetzen von

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Gestaltungsbeiräten in den meisten Bauausschüssen der Dörfer zugunsten der neuen Bewohner und deren ästhetischen Kriterien entschieden wird19, könnte eine Eigenart der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs erklären, die sich im Bregenzerwald besonders deutlich zeigt: ihre Einheitlichkeit. Gerade im Vergleich mit zeitgenössischen architektonischen Kulturen anderer ländlicher Regionen präsentieren sich die Exemplare derjenigen Vorarlbergs als untereinander besonders ähnlich. Die fast durchgängig Satteldächer über langgestrecktem Baukörper tragenden Häuser weisen in ihren Fassaden eine extrem reduzierte Variationsbreite durchwegs unbehandelter Holzverkleidungen auf: senkrechte oder waagrechte Bretter- oder Lattenschirme sowie Schindeln. Gelegentlich findet sich in diesen neuen Holzfassaden noch die Teilung der Bauernhäuser in Vorder- und Hinterhaus zitiert, wobei im Raumprogramm des Einfamilienhauses kaum adäquate Nutzungen zu finden sind, die an die Stelle des Wirtschaftstrakts eines Bauernhauses treten könnten.20 Die Lakonik dieser Ästhetik, ihr simpler formaler Code, erlaubt gerade im Einfamilienhausbau, dessen Planung sich die Architekten mit einer Fülle von Planungsbüros mit mehr oder weniger großer Nähe zu den ausführenden Zimmereien teilen, die „Einbürgerung“ und Vervielfältigung der ursprünglich akademisch eingeführten neuen Form und damit ihre Metamorphose zu einem verbindlichen Typus. In neu ausgewiesenen Baugebieten vermischen sich mittlerweile die holzverkleideten Einfamilienhäuser architektonischer und handwerklicher Provenienz zu einem ununterscheidbaren nachbarschaftlichen Gesamtbild.21 Das „Zusammenrücken“der Architektenhäuser zu einer gemeinsam identifizierbaren Gruppe, zu dessen Erklärung hier ihre Positionierung als soziale Repräsentanten in der Nachfolge der Bauernhäuser und deren Bewohnern herangezogen worden ist, rückt gerade die formalen Probleme, die aus dem Einlösen der beanspruchten Nachfolge entspringen, einer Nachfolge, die immer öfter auch eine substantielle ist, wenn zugunsten eines Neubaus ein altes Bauernhaus abgebrochen wird, in unseren Gesichtskreis. Wolfgang Schmidinger benennt mit der Bewältigung der Größenunterschiede zwischen den traditionellen Bauernhäusern und den neuen ländlichen 18 Bourdieus Hinweis, daß das Primat der Form ein Hauptmerkmal von Kultur in ihrer Funktion als Mittel der sozialen Abgrenzung ist, gewinnt hier an Kontur. Sowohl das von Sagmeister veröffentlichte Foto des Eugster-Haus als auch die Begründung des Architekturpreises für das Eugster-Haus begründen die „gelungene Einfügung“ ausschließlich mit der äußeren Form des Hauses. 19 Vgl. Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf 20 Beim Umbau des Gasthauses Krone in Thal, ei-

nem ehemaligen Bauernhaus, hatte die an der Stelle des Wirtschaftstrakts neuerrichtete Haushälfte den Architekten vor das Problem gestellt, den Charakter eines Wirtschaftstrakts zu wahren und trotz dessen typischer Fensterlosigkeit Erschließungs- und Lichtöffnungen für die neuen Nutzungen, zu denen ein erdgeschossiges Banklokal gehört, zu schaffen. 21 So etwa in der Parzelle Itter der Bregenzerwälder Gemeinde Andelsbuch. 22 WS 1: Z 945 ff 23 Ebd. 24 Ebd.

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Häusern, die reine Wohnhäuser sind, das augenfälligste dieser „Formprobleme“. Sein eigenes Haus bildet zusammen mit einem von einer Verwandten und deren Familie bewohnten Neubau, seiner Tischlerei und einigen alten Bauernhäusern, einen Weiler am Rand der Gemeinde Schwarzenberg. Der Weiler als Siedlungsform eines Bautenensembles schafft hier, zusammen mit der erhöhten Betrachtungsposition, die die oberhalb vorbeiführende Hauptstraße herstellt, die übergeordnete Wahrnehmungskategorie, die die Baukörpergröße sowohl der Bauernhäuser, „mit einem riesigen Heustockvolumen hinten, alle schon aufgestockt, aufgeblasen auf diese modernen Anforderungen“22, wie auch der Einfamilienhäuser, und ihr Verhältnis in Größe und Stellung zueinander, in den Vordergrund rückt. Die Frage, wie das Volumen der neuen Häuser über das eigentliche Raumprogramm hinaus zu vergrößern und damit im Zuge einer erstrebten Einheitlichkeit zwischen Alt und Neu an das der benachbarten Bauernhäuser anzunähern ist, wird an dieser Stelle als prototypisches architektonisches Problem erkennbar. Neben der Plazierung der beiden Neubauten im Vordergrund der Bauernhausgruppe war die Einbeziehung der Garage sowie einer Terrasse auf deren Dach in den Baukörper eines der beiden Neubauten die Lösung des Formproblems, „das mickrige Einfamilienhaus“ gegenüber dem „Bauernhaus, das sind ja riesigen Kisten“, in eine „Verhältnismäßigkeit“23 zu bringen. Der Unüblichkeit der Anforderung, ein Haus über sein Raumprogramm hinaus zu vergrößern, ist sich Schmidinger bewußt, sodaß er ausdrücklich die Lösung nicht als „Prestigebau“ oder Folge eines „architektonischen Verständnis[ses]“24 der Bauaufgabe interpretiert wissen will, sondern als Maßnahme zur Einhaltung ortsplanerischer Maßstäblichkeit. Von den Formproblemen, den der selbstähnliche25 Typus des Bregenzerwälder Architektenhauses mit sich bringt, haben wir bis hierher die Behandlung der Fassade und deren Material, ihre zitathafte Zweigeteiltheit und den Baukörper, seine Größe, Proportion und Stellung, angesprochen. Der Bezugsrahmen unserer Betrachtung des Architektenhauses bleibt auch beim dritten Aspekt, seinem Grundriß, das traditionelle Bauernhaus der Region. Wieder ist es Wolfgang Schmidinger, der die typischen Grundrisse der Architektenhäuser als Bruch mit der Tradition einer in der regionalen Wohnpraxis26 überlieferten Raumkonstellation des Hauses darstellt. Die typischen Grundrißorganisation der Architektenhäuser, der Notwendigkeit ihrer zugunsten der Länge betont schmalen Baukörper folgend, grenzt er von der traditionellen Raumkonstellation der Bauernhäuser ab, indem er den „Erschließungsflur auf die ganze Länge, (...) nordseitig“ als neues Grundrißelement nennt, an dem „südseitig die ganzen Zimmer angeordnet“ sind, „in einer Reihe“27. 25 Der hier verwendete Begriff der Selbstähnlichkeit entstammt einem Hinweis Groneggers auf Goethes naturwissenschaftliche Schriften, die ein besonderes Augenmerk auf dieses Merkmal legen.

26 Soweit zur Charakterisierung des bäuerlichen Daseins der Begriff „Wohnen“ angebracht ist. 27 WS 1: Z 521 ff 28 WS 1: Z 513 ff

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Noch in den „Strickhüsle“ aus dem Kaufmann Holzbauwerk, ebenso wie in den Baumeisterhäusern, hatte man die Raumkonstellation der regionalen Bauernhäuser aufrechterhalten, „die alte Geschichte, Feuerstelle ist eine zentrale Anordnung, und das Raumprogramm geht drumherum“28, und sich damit eine vertraute Geborgenheit im familiären Lebensumfeld bewahrt, die das Erwerbsleben jener „Häuslebauer“ mit dem Abstreifen des bäuerlichen oder handwerklichen Daseins der Vätergeneration verloren hatte. Du bist darin aufgewachsen, und hast, eine Raumaufteilung, und ein Raumkonzept, einfach übernommen, in der Form, wie Du das so kennst. (...) Das war aber dabei sehr wenig angelernt, sondern das war eher instinktiv. Oder einfach nie anders gesehen.29

Die Architektenhäuser brechen mit dieser über Jahrhunderte hinweg bis in die 1980er Jahre von der regionalen Gesellschaft „instinktiv“ bewahrten Anordnung der Räume zueinander und ersetzen sie durch ihr „modernes“ Konzept. Die Erfindung der Privatheit

Der britische Architekturhistoriker Robin Evans30 hat nachgewiesen, daß ebendieses Ersetzen solcher älterer Hausgrundrisse, die durch untereinander verbundene Räume charakterisiert sind, durch „Korridorgrundrisse“ kein lokales Phänomen darstellt. Im Hinblick auf das im Grundriß des Hauses angelegte soziale Potential interpretiert Evans diesen Fortschritt, indem er den „Gesamteffekt der Architektur der letzten beiden Jahrhunderte“ gleichsetzt mit einer „allgemeinen Lobotomie, vorgenommen an der Gesellschaft insgesamt, wodurch weite Teile der gesellschaftlichen Erfahrung ausgelöscht worden sind“31. Die Neuerung der Korridorgrundrisse, die hier für den Bregenzerwald festgestellt wird, ist an diesem Ort als verspäteter Ableger einer kulturhistorisch zu fassenden Entwicklung der europäischen Architektur angekommen. Zu deren Ursprung in einer religiös geprägten Vorgestaltung des Alltagslebens legt Ernst Wirthensohn die Spur. „Fast wie ein Kloster da oben“32, charakterisiert er die Atmosphäre des Obergeschosses seines eigenen Architektenhauses mit seinen Einzelzimmern. 29 Ebd. 30 Robin Evans wurde 1944 in Ilford geboren. Er studierte an der Architectural Association und an der University of Essex, wo er 1975 über das Thema Frühgeschichte der Gefängnisarchitektur promovierte. Er lehrte an der AA und verschiedenen amerikanische Universitäten. Eine Sammlung seiner Aufsätze Translations from Drawing to Building and Other Essays (1970–1990) ist 1996 in London erschienen. 31 Evans (1996, S. 97) spielt hier auf „einen chirurgischen Eingriff in das Gehirn eines Menschen“ an, „bei dem die Nervenbahnen zwischen dem Thalamus und dem Stirnhirn zusammen mit Teilen der grauen Substanz zerstört werden. Bei diesem gleichermaßen

recht schnell und einfach durchzuführenden und andererseits irreversibel tiefen Eingriff kommt es zu einer Veränderung der Persönlichkeit bei gleichzeitiger Vernichtung der Emotionalität und jeglichen Antriebs.“ http://tamagothi.wordpress.com/2009/08/09/lobotomie/ Wikipedia (Stand 10.09.2009) läßt wissen, daß zwischen den 1940er und den 1980er Jahren weltweit etwa eine Million Menschen lobotomiert wurden. Stanley Kubrick thematisiert diese vor allem in den angelsächsichen Ländern geübte Praxis in seinem Film A Clockwork Orange (Drehbuch Anthony Burgess, Großbritannien, 1971). 32 EW 2: Z 1512

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Es ist die soziale Erfindung der Privatheit, die den Deutungshintergrund für jenen Bruch in der Grundrißtypologie liefert, den das akademische Bauen der Architektenhäuser mit sich bringt und der dieses einmal mehr als Bauen für eine neue soziale Schicht darstellt. Diese neue Schicht, gebildeter und städtischer orientiert als das soziale Umfeld, das sie an ihrem neuen Wohnort, den Dörfern, vorfindet, bringt ein neues Verhältnis zum Wohnen in der Landschaft mit, zu dem die solitärhaften Baukörper der Architektenhäuser ebenso gehören wie die inszenierten Ausblicke in die Landschaft aus deren Innerem. Vom Bruch mit der sozialen Gemeinschaft des Dorfes, den die Architektenhäuser durch ihre Abwendung vom Dorfzentrum inszenieren, und dem Vorzug, den ihre Bauherren bei der Bauplatzwahl den Aussichtslagen geben, war bereits im Abschnitt „Bauernhaus“ die Rede. In den linear organisierten Flurgrundrissen dieser Häuser tritt dieser Haltung eine Vereinzelung innerhalb der Familien hinzu. Beiden Maßnahmen gemeinsam ist, daß anstelle der gesuchten Nähe zur sozialen Gemeinschaft, die noch die Situierung der Bauernhäuser innerhalb der Dörfer ebenso wie deren Grundrißorganisation geprägt hatte, dem nunmehr in seine „Zelle“ zurückgezogenen Bewohner statt dessen ein neues Gegenüber angeboten wird: die Landschaft. Gotthard Frühsorge33 hat nachverfolgt, daß für die Lebensform des ländlichen Adels seit dem siebzehnten Jahrhundert ein spezifischer Naturbezug charakteristisch und als kollektive Kulturtechnik dieser sozialen Elite eng und in wechselseitiger Steigerung mit der Entwicklung eines Formenkanons ländlicher Architektur verknüpft ist. Das „Landleben“ tritt darin vor allem als Rückzugsort gegenüber der städtischen Gesellschaft in Erscheinung, das die ländliche Architektur zu „einer neuen Bauaufgabe der Privatheit“34 werden läßt, ein soziales Programm, das wiederum der akademischen Architekturtheorie einverleibt und damit der Architekturlehre zugänglich gemacht wird.35 Als solcher, als Kanon, geht dieser ehemals den ländlichen Adel kennzeichnende, betrachtende Naturbezug, dessen architektonischer Vollzug die Natur in eine bewohnte Landschaft überführt, noch als habitueller, unbeobachteter Entwurfsreflex in die heutige Architektur ländlicher Häuser ein – und 33 Gotthard Frühsorge, Jahrgang 1936, lehrte zuletzt Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. Eine der wenigen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen des deutschsprachigen Raums, die sich bisher der Architektur als einer „sozialen Praxis“ gewidmet hat, ist seine Arbeit Die Kunst des Landlebens. Indem der Autor hier den Adel als isolierbare soziale Schicht und speziell dessen ästhetisierte und spezifisch ländliche Lebensform ins Auge faßt, gewinnt die Architektur, die jene Schicht beauftragt, die Kontur eines Speichermediums sozial wirksamer Formen, ein Gedanke, den auch die vorliegende Studie verfolgt.

Frühsorges aus der kulturhistorischen Untersuchung gewonnener Begriff von „Architektur“ trennt streng zwischen dieser und allem nichtarchitektonischen Bauen. So kann, ohne die kategorialen Verwirrungen, die Begriffe wie Naive Architektur etc. hinterlassen, tatsächlich die Akademie als Ort einer Kanonbildung und ihre Wirkung auf den „Input“, den der Architekt seinem Entwurf mitgibt, identifiziert werden. 34 Frühsorge, S. 142 35 Frühsorge führt etwa „das in ganz Europa immer wieder zitierte Musterbuch dieses Bauprogramms“ auf, Jacques François Blondels Lehrwerk De la Distribution des Maisons de Plaisance von 1737/38. Frühsorge, S. 142 f

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in Vorarlberg ist, schon wegen des allgegenwärtigen Berg- und Seepanoramas, fast jede Architektur in diesem Sinne „landschaftlich“. Das Korsett seiner ursprünglichen sozialen Exklusivität sprengend, gewinnt diese „soziale Konstruktion der Natur“ durch ihre Spiegelung in den regionalen Architektenhäusern den Rang einer allgemeingültigen, wertebildenden Norm. Naturbezug

Bereits die Bauherren des Eugster-Hauses in Langenegg hatten den Neid, den das Haus in der Nachbarschaft erregt hatte, mit der Neuerung begründet, daß ihr Haus gegenüber den „Allgäuerhäusern“ des Dorfes, „ins Grüne (...) wirklich einen direkten Zugang“ biete. Arno Eugster stellt diese Neuerung als spezifisch „architektonische“ Eigenschaft seines Hauses dar: Der Zugang zum Grünen (...), so wie er es bei uns ist überall, sogar bei den Kindern, so kann man ohne Architekt eigentlich nicht bauen.36

Mit seiner Bewertung dieses Unterschieds, „daß man mit genau gleichviel Geld auch ein ganz anderes Haus bauen kann. Das funktional wirklich ins Gelände paßt“37, bestätigt er nicht nur, daß der Neid der Nachbarn im höheren „Wert“ seines eigenen Hauses einen würdigen Gegenstand findet, sondern interpretiert den Naturbezug seines Hauses als dessen zentrale „Funktion“.38 Ähnlich äußert sich Ernst Wirthensohn über sein Haus. Ich glaube, die vier Außenplätze sind überhaupt das Beste im ganzen Haus. Ich kenne kaum Häuser, die das so schön, neue Häuser, die das so schön gelöst haben.39 Das Haus als Plattform zur Naturbetrachtung

Natürlich kann man sich auch ohne Haus in die Wiese setzen. Doch offensichtlich ist es eine besondere Qualität, dazu über eine gebaute Plattform zu verfügen. Eine noch höhere, diese Plattform auch zu bewohnen. Innerhalb dieser Wertehierarchie gewinnt Architektur ihre Qualität aus ihrer Entgegensetzung zur Natur. Erst in Entgegensetzung zur Natur kann durch Architektur das „Wesen“ eines Hauses als Gebautes dargestellt werden.40 Erst das Bauwerk wiederum fokussiert die Wahrnehmung der Natur dergestalt, daß sie zur Landschaft wird. Ernst Wirthensohn konkretisiert diese Wechselbeziehung der ästhetischen Konstruktionen in der Erläuterung seines Bauplatzes. „Die Geländekante hier, das ist alles natürlich. Und drum ist das auch ein schöner 36 ALE: Z 500 ff 37 ALE: Z 544 ff 38 Roland Rainer, einflußreicher Hochschullehrer wichtiger Vorarlberger Architekten, bringt in seiner 1948 erschienenen Schrift Ebenerdiges Wohnen das in der Architekturmoderne angelegte Bild des „Stadtmenschen“ zum Ausdruck, der sich „immer mehr zu jenem Freiluftwesen wandeln will, das er ursprünglich einmal gewesen ist.“ Rainer (1948), S. 13 39 EW 2: Z 1295 ff 40 Elisabeth von Samsonow verdeutlicht in ihrem Vortrag Herstellung eines Nabels – Eine mnemotechnische Operation, ausgeführt von einem Architekten, daß die Entgegensetzung zur Natur mittels Hausbau bereits in demjenigen Zivilisationsschritt vorwegge-

nommen wird, in dem der Rückzug der vorgeschichtlichen Jagdgesellschaft aus der freien Savanne in den Schutz einer Höhle geschieht. Die Autorin nennt die damit verbundene zivilisatorische Errungenschaft die „hypnotische Revolution“ (S. 66). Erst die Höhle nämlich schaffe die Voraussetzung jenes Sicherheitsgefühls, das die Herausbildung des „lang anhaltenden Tiefschlaf[s]“ und des „mit ihm zusammenhängenden Traumbewusstsein[s]“ ermögliche, das wiederum Voraussetzung sei zur Herausbildung einer „magischen“ Sphäre innerhalb der menschlichen Existenzerfahrung. Von Anfang an spalte sich auf dieser Grundlage das Bauen in sakrale und profane Räume. In: Tausch (2003) 41 EW 2: Z 1255 ff

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Platz. Ein bißchen abgehoben.“41 Erst das Haus, das die Geländekante zugunsten einer abgehobenen Lage nutzt, markiert diese vordem unauffällige geologische Bruchkante im Terrain als „schönen Platz“. Daß am „Wie“ dieses Naturbezugs des Hauses das gesellschaftliche Ansehen seiner Bewohner gemessen wird, kommt nicht nur im Neid zum Ausdruck, mit dem das Architektenhaus im Dorf bedacht wird, sondern bereits im Widerstand, der seinen Bauherren in dessen Entstehungszeit begegnet. So berichtet Wolfgang Schmidinger von Auseinandersetzungen mit dem Bauausschuß der Gemeinde Schwarzenberg, die sich an der vom Architekten vorgeschlagenen Stellung des Hauses innerhalb der Topographie des Bauplatzes, einem über die Länge des Hauses „ungefähr vom obersten [Punkt des Hauses] bis da runter einmeterfünfzig (...) abfallende[m]“42 Hang und vor allem dem Umstand entzündeten, das Haus in dessen Kontur einzufügen, ohne zuvor ein Plateau auszubilden. Die Forderung der Genehmigungsbehörde, „da vorne einen Hügel an[zu]schütten, daß das nicht so, dieser Keller nicht so herauskommt“43, deutet auf ein gesellschaftliches Schönheitsideal, das gleichzeitig das „Normale“ definiert. Das normale, gesellschaftskonforme Haus verfügt über einen ebenen Haussockel, denn es steht auf ebenem Grund und nicht am Hang. Diese historisch gewachsene Bewertungskategorie deutet auf die Besiedlungsgeschichte zurück, in der für das Dorf der ebene Siedlungsgrund gewählt worden ist. Der ebene Talgrund ist der Platz für die Gemeinschaft. Am Hang stehen folglich die Häuser der Einzelgänger und der Zuspätgekommenen.44 Dieser traditionellen Regel von der Wahl eines Bauplatzes hat die Architekturmoderne Bilder entgegengesetzt, die das vereinzelte Haus als neues Ideal propagieren, bevorzugt in unberührt erscheinender, wildromantischer Natur errichtet. Frank Lloyd Wrights Haus Kaufmann von 1935–39, nach seinem Bauplatz über einem pittoresken Wasserfall als „Fallingwater“ zu Weltruhm gelangt45, mag hierfür als Archetyp gelten. Auch unser Untersuchungsgebiet bietet in den Gebirgsgegenden Vorarlbergs solche in unwegsam scheinende Natur hineinkomponierte Häuser. Eines davon, das Haus, das Gunter Wratzfeld für die hoch über dem Rheintal gelegene Hangkante in Watzenegg entworfen hat, wurde hier bereits vorgestellt. Dessen neue Bewohner sind sich bewußt, daß das Abwenden von der Gemeinschaft der Preis ist, den der Ausblick kostet, den man als Einzelner, Einsamer, genießt und für 42 WS 1: Z 1385 ff 43 Ebd. 44 Der Bregenzerwald bietet kaum ebenes Bauland. „90% der Landesfläche Vorarlbergs ist Berggebiet“ (Kapfinger [2003], S. 116). Nach der Besiedlung des weiten Talgrundes, in dem das Dorf Andelsbuch „als herrschaftliches Zentrum der Besiedlung“ des Bregenzerwaldes liegt, bedeutete die erste „frühe Aus-

baustufe“ der Besiedlung, zu der die Gründung von Schwarzenberg gehört, bereits ein Ausweichen der Siedlungsflächen in die Hanglagen (Einreichdokument, S. 121). Das einzeln stehende Bauernhaus am Hang ist in vielen Gemeinden „Normalfall“. Im Vorderwald ist diese Siedlungsform Folge einer staatlichen Maßnahme, der Vereinödung. Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf?, Kapitel Dorf, Anm. 111

Der ebene Haussockel

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sich als Privileg beanspruchen kann.46 Als Privileg auch deshalb, weil das Hausinnere und die gebauten Terrassen, der Privatraum also, der einzig ebene Grund ist. Außerhalb des Hauses ist steiler Hang, unwegsames Gelände. Hereinholen der Natur ins Haus

Wintergarten

Deutlicher noch als durch das „Markieren“ der Naturumgebung durch das Haus selbst, das die Natur zur Landschaft transformiert, vollzieht sich die Aneignung der Natur im Wunsch, sie ins Haus hereinzuholen. Frühsorge markiert diesen Schritt der kulturellen Praxis für die soziale Schicht des Adels historisch mit dem erstmaligen „Bewohnen“ der Orangerien, die im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts fester Bestandteil der adligen Landsitze und etabliertes Statussymbol ihrer Besitzer geworden waren.47 Frank Lloyd Wright hat mit seinen Pflanztrögen, mit denen er die Wohnräume seiner Prairiehouses entlang der Außenfassaden ausstattete, diese Domestizierung der Natur für die architektonische Moderne erstmals erprobt.48 Seine Nachfolger in Europa, die Architekten prototypischer Villen, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, wie Mies van der Rohe mit dem Haus Tugendhat, 1930 in Brünn gebaut, oder Egon Eiermann mit seinem eigenen Wohnhaus in Berlin49 zeigten Architekten wie Bauherren nicht nur, daß in städtischer Lage der dem Wohnraum angelagerte Wintergarten die Naturumgebung ersetzen kann, sondern auch, daß dieser, im neunzehnten Jahrhundert bereits als Element großbürgerlicher Architektur etabliert, auch in die ästhetische Welt der europäischen Architekturmoderne paßt. Vor diesem Hintergrund kann mein Gesprächspartner Norbert Mittersteiner, Baukünstler und einziger am Ort verbliebener Gründungsbauherr der für die Zweite Generation der Vorarlberger Architektenszene konstituierend gewordenen Siedlung Im Fang in Höchst, die charakteristischen Wintergärten der Siedlung als architektonisches Element vorstellen, das auf der Zeichenebene Kontinuität eher als Experiment symbolisiert. „Es hat natürlich in abgewandelter Form diesen Wintergarten immer schon gegeben. Oder, das gibts bei den Stadthäusern.“50 Mittersteiner verharrt in seiner Argumentation nicht auf der spezifisch architektonischen Ebene der visuellen Zeichen, sondern erschließt einen Erfahrungszugang, den er auf eine breite soziale Basis stellt, indem er die bäuerliche Bevölkerung ebenso wie die Bewohner 45 Dieses Bild von Fallingwater (House for Edgar J. Kaufmann, Bear Run, Pennsylvania, 1935–1939) ist vor allem aus einer einzigen fotografischen Perspektive, damit umso einprägsamer, verbreitet worden. Trotz des Umstandes, daß seine Lage, die USA, keine direkte Beziehung zum Untersuchungsgebiet zu besitzen scheint, weist etwa Wratzfelds Bezugnahme auf Mies van der Rohe dorthin. Dem Untersuchungsgebiet geographisch näher liegen pittoreske Architektenhäuser im Alpenraum, etwa Haus Böhler in Oberalpina nahe dem Schweizerischen St. Moritz (1916–18) von Heinrich Tessenow.

In Österreich trägt vor allem Lois Welzenbacher die 1920er-Jahre-Moderne in malerische Gebirgslagen. Vgl. Reichlin (1996) 46 Gespräch mit Ehepaar G., den heutigen Besitzern von Wratzfelds Haus Watzenegg, am 15.11. 2004 47 Frühsorge widmet den Orangerien und Palmenhäusern ein eigenes Kapitel. (S. 49 ff) 48 Dort, neben Frank Lloyd Wright selbst, vor allem durch den österreichischen Emigranten Richard Neutra weitergepflegt. Das Foto eines Neutra-Hauses von 1947 ziert den Umschlag von Roland Rainers Ebenerdige Wohn-

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der kurz zuvor errichteten Bregenzer Sozialwohnsiedlung An der Ach als Zeugen aufruft. Man kennt die Erfahrung, man setzt sich gerne in den Wintergarten. Es gibt auch beim Bauernhaus den Schopf, oder, das Löble, (...) also den überdeckten Bereich, früher mit der Klappe zum Zumachen. (...) Das hats auch in der Siedlung an der Ach, für die einzelnen Wohnungen, Wintergärten, Veranden, (...) das Element hat man dort schon überlegt.51

Die dargestellte Universalität dieser Wohnerfahrung legitimiert das eigentliche architektonische Experiment der Siedlung Im Fang, den Wintergarten von seiner bisherigen, räumlich peripheren Position erstmals ins Zentrum eines Einfamilienhauses zu stellen. Mittersteiner: „So genau wußten wir nicht, wie sich das Ganze in der Wohnpraxis bewährt.“52 Die architektonische Notwendigkeit dieses Positionswechsels ergibt sich aus der Konstellation der in der Siedlung neben- und übereinander geschachtelten fünf Häuser. Der in jedem Haus zentral positionierte Wintergarten reduziert die Notwendigkeit, die Außenfassaden mit Fenstern zu versehen, da er ähnlich einem Atrium den angrenzenden Wohnräumen Belichtung und Belüftung bietet und so erst die dichte Packung ermöglicht, die die fünf Häuser der Siedlung zu einem gemeinsamen Gebäudekomplex zusammenwachsen läßt. Indem der Wintergarten die Wohnräume mit Licht und Luft versorgt, somit zum notwendigen und unentrinnbaren Funktionselement der Wohnpraxis erhoben wird, tritt der zeittypische Charakter dieses Experiments in der Naturbeziehung zutage, in welche er den Bewohner setzt. Der zentral positionierte Wintergarten hebt die Abschirmungswirkung des Hauses gegenüber der Natur so weit auf, daß der Bewohner erneut in eine handelnde Position gegenüber ihren Kräften eingesetzt wird. Mittersteiner: Das ist wie die Schuhe wechseln, oder. Wenns kalt ist, muß man halt wärmere Schuhe anziehen, oder. Und wenns naß ist, andere, oder. Und das muß man halt handhaben.53

Diese Handhabung setzt die Bereitschaft voraus, sich einem solchen Einfluß auszusetzen und auf die Impulse der ins Haus hereinwirkenden Naturkräfte aktiv zu reagieren, zugunsten einer Freiheit zu handeln, die Notwendigkeit zu handeln, anzuerkennen: Sonnenschutz rauf/runter, Klappen unten, Klappen oben auf/zu, Innentüren, Außentüren auf/zu. häuser. In Rainers Kommentar zu dieser Bildwahl tritt neben einer Übernahme eines ehemals aristokratischen Habitus des naturnahen Wohnens durch das Bürgertum der innerakademische Konflikt zwischen der modernen und der heimatschützerischen Architektenfraktion in Erscheinung, die beide gleichermaßen die Definitionsmacht über die legitime Naturbeziehung ihrer Formensprache für sich beanspruchen: „Der ebenerdige Palast des reichen Mannes von heute; mit allen Mitteln moderner Technik ist die Grenze zwischen Haus und Garten aufgehoben, damit man buchstäblich in der Natur wohnen kann. So

wird in fast abstrakter Konsequenz das heutige Wohnideal greifbar gemacht und gleichzeitig dem bekannten Begriff des ,landschaftsgebundenen‘ Bauens bewußt eine andere Art von Harmonie zwischen Haus und Umgebung gegenübergestellt.“ (S. 62) 49 Rainer bildet das Haus in Ebenerdige Wohnhäuser (S. 59) ab: „Der vom Haus umschlossene Raum unter freiem Himmel und der wie ein Garten gestaltete Flur des Hauses demonstrieren die Gleichwertigkeit äußerer und innerer Wohnräume.“ 50 RNM: Z 541 ff 51 Ebd.

Zeittypische Form der Naturbeziehung

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Also, das funktioniert, oder. Aber es ist natürlich klar, wenn man den Wintergarten zu hat, oder, und die Klappen zu sind, dann kriegt er eine Temperatur von sechzig Grad, oder. Aber drum muß man das einfach handhaben, oder. Also, das ist nicht automatisiert, genauso, wenn die Sonne scheint, das ist ja das Tolle, in der Übergangszeit, macht man halt die Türen nach innen auf und dann kommt die Wärme in den Raum herein.54

Der Vergleich mit dem existentiellen Interagieren mit den Naturkräften, das etwa der Bauer oder seine städtische Schrumpfform, der Schrebergärtner, vollzieht, läßt die Handhabung des Wintergartens als symbolisches Handeln erkennen. Es erhält aus der Bezugswelt jener Bewohner und Bauherren seine generations- und bildungsspezifische Kontur, die, aufgeschreckt, politisiert und zu Protesten animiert durch den globalen Lagebericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“55, in Zusammenschlüssen wie derjenigen der Atomkraftgegner und der ökologischen Bewegung eine eigenverantwortlich handelnde Position gegenüber dem Technizismus der westlichen Industrienationen und ihren politischen Entscheidungsträgern zurückzugewinnen sucht. Der Widerstand gegen diese Zerstörung der Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen (...) steht am Ursprung spezifischer Teile der ökologischen Bewegung: Netzwerke gegenseitiger Hilfe für Kranke, Bewegungen zugunsten alternativer Medizinen, Bewegung für das Recht auf Abtreibung, Bewegung für das Recht, in Würde zu sterben, Bewegungen zum Schutz der Sprachen, Kulturen und Regionen usw. Die tiefe Motivation ist immer, die Lebenswelt zu schützen: vor der Herrschaft der Experten, vor der Quantifizierung und der monetären Bewertung, vor der Ersetzung der Autonomie- und Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen durch Beziehungen des Marktes, der Klientel, der Abhängigkeit.56 Symbolik der Naturbeziehung

Als für das Forschungsfeld charakteristische Form einer Bewegung innerhalb des Spektrums, das Gorz hier aufspannt, können die zahlreichen Vorarlberger Selbstbauinitiativen genannt werden, denen auch die hier betrachtete Siedlung Im Fang ihre Entstehung verdankt. Diese darf als Sonderfall gelten, da es sich bei den selbstbauenden Bauherren mehrheitlich um Architekten und deren Lebensgefährten gehandelt hatte. Die avantgardistische Architektur der frühen 1980er Jahre, die in Vorarlberg mit dem Eintritt einer „Zweiten Generation“ von Baukünstlern ins Berufsleben zusammenfällt, konstruiert Elemente, die einer „kritischen“ Generation und Bildungsschicht erlaubt, sich in eine symbolisch aufgeladene, gleichermaßen handelnde wie „leidende“ Naturbeziehung zu stellen. Doch auch vor dem Hintergrund der zeittypischen Kritik an einer die Natur ausbeutenden Hochtechnologie geben sich die architektonischen Mittel hierzu als Produkt einer technisch-wissenschaftlichen Ingenieursausbildung zu erkennen. Ihr Geist, ihre Konstruiertheit, entstammt derselben Rationalität, und, im Blick auf die technischen Hochschulen, denselben Orten der 52 RNM: Z 558 ff 53 RNM: Z 701 ff 54 RNM: Z 655 ff 55 Der Vorläufer von Die Grenzen des Wachstums ist 1972 der Bericht einer Gruppe britischer Wissenschaftler Blueprint for Survival. Gorz (2009), S. 39

56 André Gorz: Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung, in: Gorz (2009), S. 38 57 RNM: Z 638 ff 58 WS 1: Z 1441 ff 59 WS 1: Z 586

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Wissensvermittlung wie diejenigen Gegenstände, die die Position der erklärten weltanschaulichen Gegner markieren, ihre Autos, Atomkraftwerke und Rüstungsgüter. Wir wissen ja, daß jeder Wintergarten, jeder Raum, wo also starke Sonneneinstrahlung ist, daß da einfach, die sind immer über zwei Geschosse, das heißt, es ist einfach eine Thermik möglich, wir haben unten eine Zuluft und oben eine Abluft. Und, das ist unterschiedlich gelöst, aber im Prinzip, die Abluft geht über das Unterdach vom Dachstuhl, oder, wird das abgelüftet über den First, oder. Wir haben also wirklich eine sechs, sieben Meter hohe Temperatursäule, abfallende, oder, damit die Thermik wirklich funktioniert. Und die Abschattung haben wir, das ist auch ein unbedingtes Muß, daß Wintergärten, insbesondere die Dachverglasungen, beschattet werden müssen, und die Beschattungen haben wir innen gemacht, oder. Nachdem einfach die warme Luft nach oben weggeht, war es möglich, daß das Temperaturpolster zwischen Sonnenschutz (und Dachverglasung) einfach abgefahren werden kann. Also, das funktioniert.57

Mittersteiners hier wiedergegebene druckreife Erläuterung des dem Wintergarten zugrundeliegenden bauphysikalischen Prinzips läßt an der wissenschaftlichen Stichhaltigkeit des architektonischen Konzepts keinen Zweifel aufkommen. Der Unterschied, das Andere, das die Architektenhäuser jener Zeit auszeichnet, ist, und das wird gerade an ihrer Naturbeziehung deutlich, nicht ein grundsätzliches Infragestellen der technischen Zivilisation und ihrer rationalen Werkzeuge, deren Produkt ja die Architektur aus ihrer Ingenieurstradition selbst ist, sondern lediglich die experimentelle Bestimmung neuer Grenzen, innerhalb derer die Erscheinung der Natur zugelassen wird. Daß der Aspekt der Naturbeziehung geeignet ist, die Architektenhäuser der 1980er Jahre zu charakterisieren und sie gegen die Dominanz der rustikalen „Landhäuser“ abzugrenzen, zeigt neben dem neuen architektonischen Element der Wintergärten auch die Bauweise der „Zahnstocherhäuser“. Ein solches frühes Exemplar der als Skelett konstruierten neuen Holzhäuser, die in ihrer sozialen Konnotation als „Stadel“ bereits thematisiert wurden, ließ sich neben dem Ehepaar Eugster aus Langenegg auch Wolfgang Schmidinger planen. Bereits der Begriff „Zahnstocherhaus“ als Reflexion des traditionell geprägten gesellschaftlichen Blicks, des Außenblicks, der sich der Nachbarschaft bot, rückt die Verschiebung der Grenze, die das gesellschaftlich zulässige Maß für die Einwirkungen der Naturkräfte auf das Haus erfährt, in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diesmal sind es nicht die Temperatur, die Niederschläge und das Wetter, wie am Bauelement des Wintergartens, sondern Schwerkraft und Wind, jene Naturkräfte also, denen sich das Haus mittels seiner Standfestigkeit entgegenstellt. Auffällig unterscheiden sich für Schmidinger die neuen Architektenkonstruktionen von den traditionell handwerklich gefertigten Holzhäusern durch die reduzierten Holzquerschnitte, „also, eine Bauweise, wo, (...) was vorher bei jedem Zimmermann 16/16 im Querschnitt war, (...) war das 12/12“.58 Das Neue und Überlegene der Bearbeitung durch die Architekten liegt darin, die Holzkonstruktion „statisch durchzurechnen“59. Dem Bewährten mit seinen Materialreserven wird eine Haltung

„Zahnstocherhäuser“

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entgegengesetzt, mittels objektivierbarer Berechnungen „an die Grenzen zu gehen“ und so nicht nur den Materialeinsatz zu optimieren, sondern vor allem eine neue Ästhetik zu erzeugen.60 Den summarischen Außeneindruck, „daß man irgendwie dachte, hoffentlich hält das überhaupt“61, Resultat der festgestellten statischen Abmagerung, illustriert Schmidinger mit der Schilderung des eigenen Wohnerlebnisses. Es gibt für mich (lacht) für mich gibts nichts Schlimmeres, wie einen starken Wind, weils, wenns extrem windet, dann seh ich heute noch diese Spargel da stehen, von Konstruktion, und von Ding, wo ich einfach jetzt heute sagen würde, dieser Minimalismus ging halt einfach da in eine Richtung, einfach auch eher eine Spur zu weit.62 Infragestellung der Standfestigkeit des Hauses

Die neue Eigenschaft des Zerbrechlichen stellt sich konträr gegen die Grundeigenschaft des Soliden und Behäbigen der herkömmlichen Häuser, in gewisser Weise sogar gegen die Uranforderung an ein jedes Haus, zuverlässigen Schutz vor der Unbill der Witterung zu bieten. Das Architektenhaus setzt den Bewohner wieder den Gefahren des Wetters aus, wenn auch nur in symbolischer Form, als Rest des romantischen Bedürfnisses zivilisierter Menschen, sich von den Naturgewalten berühren und aus der Fassung bringen zu lassen. Natürlich liegt im Bestehen der provozierten Gefahr auch immer der Überlegenheitsbeweis des demonstrierten Konzepts. In Schmidingers kritischer Bewertung, daß „dieser Minimalismus (...) eher eine Spur zu weit“63 gegangen sei, zeigt sich sowohl die Genauigkeit seiner Beobachtung als auch seine spezifische Wahrnehmungsperspektive. Als Handwerker ist er ein denkbar untypischer Bauherr für ein Architektenhaus, da die Architektenbeauftragung für ihn sowohl den Wechsel in eine fremde Werteumgebung darstellt als auch Distanz zur eigenen sozialen Rolle und fachlichen Kompetenz schafft. Der geschärfte Blick für die Eigengesetzlichkeiten des Machens bleibt ihm in diesem Rollenwechsel erhalten. So kann er feststellen, daß die Rationalität des architektonischen Konzepts für sein Haus nicht nur die Naturkräfte neu darstellt, sondern auch als genuin akademisches Konzept dort an Grenzen stößt, wo die Planbarkeit, und mit ihr die Sphäre des Architekten, endet, und eine unscharf konturierte Sphäre, die der handwerklichen Umsetzung, und damit die Kompetenz seines eigenen Standes, beginnt. 60 Historisch belegte Bauwerkseinstürze als Folge „überzogener“ architektonischer Formexperimente gehören zum Grundbestand des kollektiven Gedächtnisses des Berufsstandes, an den akademischen Ausbildungsinstituten bewahrt und jeder neuen Architektengeneration als Ansporn weitergegeben. 61 WS 1: Z 593 ff 62 WS 1: Z 1453 ff 63 Ebd. 64 WS 1: Z 1515 ff 65 „Es ist wesentlich dieser Rückzug auf die Innenwelt [im Wien der Jahrhundertwende], das Erforschen und Kultivieren der Subjektivität und des Individu-

ellen, die auch das Bedürfnis nach neuen Wahrnehmungsformen des architektonischen Raums befördern und Werte wie Wohnatmosphäre und Raumstimmung thematisieren, die von einer individuellen Wahrnehmungsfähigkeit und Befindlichkeit her gedacht waren. (...) Loos macht in seinen Ausführungen zur Bekleidungstheorie fast programmatisch klar, wie er den Raum von innen heraus denkt und daß er diesen aus einer individuellen Wahrnehmung heraus gestaltet, denn: Die Architektur weckt Stimmungen im Menschen; die Aufgabe des Architekten ist es daher, diese Stimmungen zu präzisieren.“ Lustenberger (1995)

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Schmidinger stellt fest, daß den Eigengesetzlichkeiten dieser seiner Sphäre im konkreten Fall des architektonisch zelebrierten Minimalismus, auch wenn gerade diese Zumessung den Anspruch erhebt, als übergeordnete Ordnungsebene die handwerkliche Kompetenzsphäre zu integrieren, ein zu geringer Raum zugedacht worden ist. Und da muß der Elektriker in den nächsten Raum. Und der kommt auf die Idee, und bohrt vier zwanziger Löcher, für zwanziger Schläuche, also achtzehner Schläuche, bohrt der, durch diese, durch diese sechs Meter lange, zwölf mal zwölf Säule, bohrt der vier- (lacht), das sind natürlich die Experimente, wo du einfach siehst, solche Details, die da, die kommen dir natürlich dann in den Sinn, wenn dann irgendwie richtig Sturm am Haus ist (lacht).64

Schmidingers Bemerkung ist einer jener Markierungspunkte, an denen Architektur überraschend deutlich als Konzept in Erscheinung tritt, dessen spezifische Rationalität zunächst lediglich für eine eng begrenzte soziale Gruppe Gültigkeit besitzt und keineswegs die ganze Gesellschaft repräsentiert. Erst über seine Durchsetzung und die ihm zuwachsenden Machtressourcen wird ihr Anspruch der universellen Gültigkeit gesellschaftliche Wirklichkeit. In der Frage, wie wohnlich die Architektenhäuser seien oder, allgemeiner, ob die Architektenhäuser in ihrer Wohnlichkeit Gemeinsamkeiten aufweisen, die als Merkmal Zeitgenössischer Architektur gelten dürfen, stoßen wir auf eine unmittelbare Kontakt- oder Reibungsfläche zwischen Architektur und dem einzelnen Menschen dort, wo dieser am empfindlichsten ist, im eigenen Heim, seinem Rückzugsort vor der Öffentlichkeit. Daß die Ausgestaltung dieser privaten und intimen Sphäre durchaus als architektonisches, damit als kulturelles und wiederum gesellschaftliches Terrain beansprucht wird, finden wir gerade in Österreich, dem Heimatland Sigmund Freuds65, neben den Werken auch in den Schriften exponierter Architekten bestätigt.66 Bereits in unserem Vergleich der Grundrißtypologie zwischen Architektenhäusern einerseits und den Bauernhäusern sowie deren typologischen Nachfolgern im handwerklichen Bauen des ländlichen Raumes andererseits ist deutlich geworden, daß ein wesentlicher Akt, den der Architekt beim Entwurf vollzieht, darin besteht, eine Konfiguration der Räume zueinander zu schaffen.67 Vermöge seines Repertoires, das wesentlich durch die Wissenschaftstradition seiner Ausbildungsinstitution, der (meist technisch orientierten) 66 Vgl. u.a. Loos: Von einem armen reichen Manne, in: Loos, S. 201; Roland Rainer: Individualität des Wohnens, in: Rainer (1948), S. 37 Sowohl Loos als auch Rainer nehmen in ihren Schriften kritische Distanz zum Eingriff des Architekten in das private Wohnumfeld. Posener weist jedoch darauf hin, daß die Entwurfspraxis zumindest des ersteren dieser Zurückhaltung eklatant widerspricht: „Er läßt den Architekten in seiner Geschichte vom armen reichen Manne sagen: Dann versuchen

Sie doch, ein neues Bild irgendwo aufzuhängen. Sehen Sie sich Loosens Herrenzimmer im Hause Müller in Prag an, und versuchen Sie, da irgendein Bild aufzuhängen!“ Julius Posener: Adolf Loos I – Die Schriften; Arch+ 53/1980, S. 26 67 Daß diese Konfiguration, als „Bild“ betrachtet, im fachinternen Architekturdiskurs gleichzeitig die „Signatur“ des Hauses darstellt, verdeutlichte bereits der Abschnitt Architektur als Ordnung unseres ersten Kapitels Architektur?.

Wohnlichkeit

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Hochschule geprägt ist, obliegt dem Architekten in diesem primären Entwurfsakt die Entscheidung zwischen mehreren Typen solcher Grundriß- und Erschließungslösungen. Er trifft damit unbewußt, jedenfalls was die psychologische Wirkung betrifft68, eine Wahl, die das Sozialverhalten der späteren Bewohner durch die Programmierung ihrer Wege, ihrer Begegnungs- und Rückzugsorte und damit des Grades ihrer sozialen Reibungsfläche in hohem Maße präfiguriert. Robin Evans beurteilt den sozialen Effekt, mit dem die von der Architektur vorgegebene Raum- und Wegekonfiguration das Verhalten beeinflußt, historisch gesehen eher im Verhindern, der Prävention, als im Ermöglichen. Sicher wäre es naiv zu glauben, irgend etwas in einem Grundriß könne die Menschen dazu zwingen, sich auf diese oder jene Weise zueinander zu verhalten, oder gar ein tagtägliches Regime geselliger Sinnlichkeit durchzusetzen. Allerdings wäre es noch viel naiver zu glauben, ein Grundriß könne Menschen nicht daran hindern, sich auf eine bestimmte Weise zu benehmen, oder es ihnen zumindest erschweren. (...) Architektur wird immer häufiger als Präventivmaßnahme eingesetzt: Sie ist eine Agentur für Frieden, Sicherheit und Isolierung geworden, die den Erfahrungshorizont automatisch einengt, indem sie Geräuschübertragung herabsetzt, Bewegungsmuster ausdifferenziert, Geruchsbildung unterdrückt, Vandalismus eindämmt, Schmutzentwicklung einschränkt, Krankheitsausbreitung erschwert, Peinliches verschleiert, Unanständiges wegsperrt und Unnötiges abschafft, und, so ganz nebenbei, das tägliche Leben auf ein privates Schattenspiel reduziert.69

Während Evans mit seiner Beurteilung primär den Niederschlag moralischer Werte religiöser Provenienz in der akademischen Architekturlehre und damit eine sozialhistorische Entwicklung verfolgt, nehmen Kuhnert und Schnell in den Reglementierungen, die architektonisch formulierte Grundrisse an ihren Bewohnern vornehmen, nationale Eigenarten wahr. Vornehmlich österreichische Architekten haben aus früheren Zeiten Erfahrung mit dem partizipatorischen Bauen. (...) Sie entwerfen Grundrisse, die mehrere Optionen der Nutzbarkeit, der Schaltbarkeit oder der Erschließung zulassen (im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus). Und das ist etwas anderes, als alles festzulegen oder alles offen zu lassen. Schließlich müssen die Optionen nicht wahrgenommen werden. Es handelt sich aber um einen Schritt aus der Uniformität und der festgelegten Welt standardisierter Regeln im Wohnungsbau hinaus.70

Der folgende Abschnitt dieses Kapitels, der sich dem gewerblichen Wohnbau widmet, wird ein Vorarlberger Exemplar eines solchen Wohnbaus mit „offenen Nutzungsoptionen“ dokumentieren. Daneben wird dort mit der Person des Bauträgers ein Gegenüber des Architekten vorgestellt, der ein spezifisches, wirtschaftlich geprägtes Interesse an den Grundrissen der von ihm erstellten Wohnungen vertritt. Sein Augenmerk richtet sich aus dem 68 „Architekten haben die phantastische Fähigkeit, ausgiebig über Gesellschaft zu reden und ausschließlich ihre Architektur zu meinen. Erfahrungsgemäß sind sie unter diesen Bedingungen gegenüber soziologischen oder psychologischen Belehrungen und Herausforderungen vollkommen resistent.“ HoffmannAxthelm, S. 8 ff (zit. nach Rambow, S. 17). Der Autor schließt sich mit seiner Bemerkung einer Kritik an,

die seit den 1970er Jahren von prominenten Sozialpsychologen, allen voran Alexander Mitscherlich, vertreten wird. 69 Evans (1996), S. 97 70 Kuhnert/Schnell in einem Interview mit Häußermann /Siebel, den Autoren von Soziologie des Wohnens (Weinheim 1996) in: Arch+ 134 /135, S. 14 71 ALE: Z 400 ff

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Blickwinkel des Wohnungsmarktes auf den späteren Bewohner. Die Definition eines „funktionellen“ Grundrisses, wie sie der Bauträger vornimmt, ist gleichzusetzen mit einem günstigen Verhältnis zwischen Erschließungs- und Wohnraumfläche, das einen Indikator für die rentable Vermarktbarkeit der Wohnung darstellt. Ganz im Gegensatz zu dem Rechtfertigungsdruck bezüglich der von ihm entworfenen Grundrisse, dem der Architekt in der Zusammenarbeit mit dem Bauträger ausgesetzt ist, überläßt der typische Bauherr eines Einfamilienhauses, wie er mir in meinen Gesprächen begegnet ist, seinem Architekten dieses Feld weitgehend. Wir haben nur die Zimmer innen festgelegt. Was wir für Zimmer haben wollen. Wie die Anordnung der Zimmer ist, oder wie das Haus ausschaut, das war Architektensache.71

So schildert Arno Eugster seine Entscheidung zur Aufgabenverteilung zwischen ihm als Bauherrn und seinem Architekten72, eine Entscheidung, der die Einschätzung eines gleichsam „objektiven“ Funktionierens der architektonisch entworfenen Raumkonstellation zugrundeliegt. Evans dagegen weist nach, daß der Architekt keineswegs „frei“ handelt, sondern vielmehr, vermittelt durch die akademische Verankerung seines Metiers, in seinem Entwurf ein sozial konstruiertes Wertgefüge abbildet, das Architektur, als Lehr- und Verhaltenskodex verstanden, inkorporiert hat.73 Insbesondere meine weiblichen Gesprächspartner, die Bauherrinnen, richten mein Augenmerk darüber hinaus auf eine Rolle des Architekten, die über die Determinierung des Sozialverhaltens der Bewohner mittels Festlegung einer Raumkonstellation hinausgeht: Der Architekt als in seinem Werk präsente Instanz zur Bewertung ihres Wohnverhaltens und eines Umgangs mit dem Haus im Sinn seines Entwurfes. Den Umstand, daß ein Haus geschlechtsspezifische Sphären umfaßt, hatte bereits Hans Purin in unserem Gespräch über sein Atriumhaus am Bregenzer Ölrain angedeutet, als er der Bauherrin mit der Gartenpflege einerseits eine eigene Rolle, andererseits einen ihr verfügbaren Gestaltungsraum zuschrieb. 72 Mit seiner Stellungnahme „Also, das sogenannte klassische Bauen, das dünne Vordach, mit so einer Stahleinfassung zum Beispiel, das ist nicht unbedingt, was das Wohnen lebenswert macht“ (RNM: Z 1427 ff), widersetzt sich Norbert Mittersteiner der typischen Architektenrolle, wie sie Arno Eugster darstellt, und führt eine soziale Definition der Architektur ein. Diese Sichtweise, die seinem eigenen, nichtakademischen Zugang zur Architektur Profil verleiht, wird im Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf, thematisiert werden. 73 „Es fällt schwer, im üblichen Grundriß eines zeitgenössischen Hauses etwas anderes zu sehen als eine von kühler Vernunft diktierte Manifestation des Nützlichen und Selbstverständlichen, und deshalb neigen

wir zu der Ansicht, daß eine Sache von so offensichtlicher Plausibilität ein unmittelbarer Ausdruck grundlegender menschlicher Bedürfnisse sein muß. (...) Doch das ist eine Täuschung, und eine folgenschwere dazu, denn sie verdeckt die Macht, die die gewohnte Gliederung des häuslichen Raums auf unser Leben ausübt, und gleichzeitig verdrängt sie die Tatsache, daß dieses Arrangement einen Ursprung und einen Zweck hat. Das Streben nach Privatsphäre, Komfort und Unabhängigkeit mittels Architektur ist relativ neu, und auch wenn diese Begriffe zum erstenmal in Zusammenhang mit Dingen des Haushalts auftauchen, unterschied sich ihre Bedeutung in mancher Hinsicht von der, die wir heute damit verbinden.“ Evans (1996), S. 85

Frauenrollen

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Die Pfarrerin, die hat damals einiges übrig gehabt für den Garten, und das war gepflegt, und schön, und so war das.74

Dem Garten steht in jenem Haus das Arbeitszimmer, an der öffentlichen, dem Kirchplatz zugewandten Seite des Hauses plaziert, als Ort des Mannes gegenüber.75 Eine solche Einräumung eines Gestaltungsraumes für die Frau gehört jedoch, Leopoldine Eugster zufolge, durchaus nicht zum generellen Bestand zeitgenössischer architektonischer Entwürfe. Inzwischen ist ja alles so grün, voller Blumen und Bäume. Wenn der Architekt jetzt kommen würde, er würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Weil, der war immer dagegen, wenn ich Blumen, Balkonblumen gemacht habe.76

Textilien

In all ihren Beiträgen, die Erscheinung des Hauses mitzugestalten, teils einem traditionellen sozialen Rollenverständnis entspringend, teils aus individuellem Aneignungsbedürfnis gegenüber dem eigenen Wohnumfeld, weiß sie sich in Opposition zu der einzigen Rolle, in die ihr Architekt sie in seinem Entwurf eingesetzt hat: Putzfrau seines Werkes zu sein. „Er wollte alles ganz kahl. Bei Fototerminen ist ihm am liebsten gewesen, wenn dann der Staubsauger irgendwo gestanden ist. Weil, dann sieht man, daß man da wohnt.“77 Die vom Architekten bevorzugte „Kahlheit“ richtet sich insbesondere gegen alle Arten von Textilien. LE Ja, er wollte keine Teppiche, und so. AE Keine Vorhänge! LE Keine Vorhänge, nichts. Wenn er es jetzt sehen würde, würde er wahrscheinlich... wir hätten jetzt viel zu viele Sachen herinnen.78

Dem Architektenargument, den Naturbezug seines Hausentwurfs zu stören, „er hat gesagt, warum sollen wir da Vorhänge hintun, wenn wir ins Grüne schauen wollen“79, steht gerade im Bregenzerwald ein traditionelles Sozialverhalten gegenüber, das dazu dient, dem Haus einen Ausdruck geordneter Verhältnisse zu geben. Und zwar hat man Spitzen gehäkelt. Da habe ich Tage, Monate fast, gehäkelt, bis überall so ein „Spitz“ war, also da herinnen. (lacht) Das war irgendwo, einfach, als gute Hausfrau mußte man das machen.80

Leopoldine Eugster vollzieht in ihrem habituellen Akt, die kunsthandwerkliche Tradition des textilen Hausschmucks81 vom elterlichen Bauernhaus auf 74 HP: Z 366 ff 75 Ich weise hier auf diese Übereinstimmung zwischen archaischem Haustypus und ebenso archaischer Verteilung der Geschlechterrollen hin, ohne auf den Geltungsumfang dieses Phänomens im vorliegenden Fall näher eingehen zu können. Es ist denkbar, daß in der arabischen Welt, wo der Typus des Atriumhauses sowohl als Stadthaus wie auch als ländliches Hofhaus fortlebt, dieser architektonische Typus auch geschlechterspezifische Aufenthaltssphären beinhaltet, deren Konstellation zueinander die Geschlechterrollen jener Gesellschaften abbildet. 76 ALE: Z 958 ff 77 Ebd.

78 Ebd. 79 ALE: Z 982 ff 80 ALE: Z 1019 ff 81 Eva Maria Feurstein dokumentiert sowohl die im Bregenzerwald bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichende Tradition dieses textilen Hausschmucks (ihre Fotos zeigen durchwegs alte Häuser), als auch dessen gegenwärtige Löschung aus der gesellschaftlichen Praxis: „Leider sind die heutigen vielseitigen Freizeitmöglichkeiten und die moderne Holzarchitektur mit großflächigen Fenstern dem ,Kunsthandwerk Häkeln‘ nicht förderlich. Trotzdem ist die Begeisterung der Beschauer bis auf den heutigen Tag geblieben.“ Feurstein Eva Maria, S. 3

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ihr Architektenhaus zu übertragen, die Ablösung der alten durch eine neue Kulturform des Wohnens ebenso direkt wie unspektakulär. Demgegenüber wirkt die Architektenforderung nach „Kahlheit“ als kultureller Kahlschlag: Neben der architektonischen Kulturleistung darf es nichts geben. Architektur tritt hier „reformatorisch“, mit Bilderverbot und einem puristischen Repräsentationskodex in Erscheinung, als sei das Haus ein Tempel zur Verehrung von Architektur. Auch darin unterscheidet sich das Architektenhaus vom Entwurf des Gemeindesekretärs und demjenigen des planenden Handwerkers: Mit dem Architekten holt sich der Bauherr den Repräsentanten einer auf Ästhetik beruhenden Institution ins Haus, eine unsichtbare Gegenwart, die fortan mit allen Wohnbedürfnissen in permanentem Konflikt stehen wird.82 Der „Schutz“, dem die Institution Architektur das Haus unterstellt, degradiert seine Besitzer zu temporären Bewohnern, zu anwesend Abwesenden, deren verborgene Existenz sich höchstens durch einen Staubsauger zeigen darf. Dabei hatte Gottfried Semper, Vordenker der Moderne inmitten des Historismus, die Wand seiner „Urhütte“ noch als Flechtwerk unter einem Dach auf Stützen imaginiert. Er gab damit der Architekturfassade, ebenso wie der architektonischen Bekleidung der Innenseite des Rohbaus, genuin textilen Charakter.83 Und auch die Anfänge moderner Architektur in der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung bezogen von Jane Morris über Margaret Mackintosh Textilien – und ihre Gestalterinnen – als unverzichtbaren Teil des Raumentwurfs ausdrücklich ein, eine Auffassung von Gesamtkunstwerk, die in der Webwerkstatt am Bauhaus84, den Häusern Eileen Grays und der Designwerkstatt des Ehepaars Eames eine Fortschreibung bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein fand. In der zeitgenössischen Architekturdoktrin ist davon nur die harte Substanz des Bauwerks selbst übriggeblieben. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht erscheint daran vor allem bemerkenswert, daß dieses „Rohbauargument“, die „im konstruktiven Gerüst gegebene Gestalt auch architektonisch anzunehmen“85, den Kreis derjenigen, die Architektur als Ausübende von Ästhetik in ihren Gesellschaftsentwurf einbezieht, radikal verengt. Die Konsequenzen, die dem Handwerk aus dieser Entwicklung erwachsen, werden im letzten Kapitel der vorliegenden Studie angesprochen werden. An dieser Stelle kann zunächst festgestellt werden, daß der aktuellen Entwicklung des Architekturbegriffs hin zu einer Rohbauästhetik auch eine geschlechterspezifische Komponente innewohnt. Mit ihren spezifisch maskulinen Aspekten, insbesondere der Betonung einer technischen Konstruiertheit des Bauwerks, verschließt sich diese Ästhetik gleichzeitig nicht nur jeder Integration kunsthandwerklicher Ausstattung, sondern eliminiert nebenbei auch die Beteiligung der Frau an der „legitimen“ Kulturform des Wohnens.86

Genderaspekte der zeitgenössischen Architekturästhetik

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82 In aktuellen Wettbewerbsauslobungen für Wohnanlagen der gehobenen Preisklasse in der benachbarten Ostschweiz wird diese Hierarchie des Bedarfs bereits gelegentlich in Form von Persönlichkeits- und Sozialprofilen potentieller Käufer vorgegeben: „Ihre Ansprüche an das Design und die Architektur sind oftmals höher als ihre Ansprüche an die Wohnlichkeit.“ Gemeinde Trogen, S. 13 83 Friedrich Kurrent schlägt eine gedankliche Brükke zwischen Sempers „Textil-Theorie“ und der im Forschungsraum für den Holzblockbau gebräuchlichen Bezeichnung „g’strickte Hüser“. Brief vom 29.05.2011 84 „In Europa waren die hochangesehenen Meister der mittelalterlichen Zünfte ausschließlich Männer (...). Frauen war es gesetzlich verboten, sich einer Zunft, sei es der der Weber oder der Schneider, anzuschließen. Mit dem aufkommenden Kapitalismus und der Einführung des mechanischen Webstuhls im neunzehnten Jahrhundert drängten Frauen in nie dagewesenem Maße auf den Arbeitsmarkt und ersetzten die gutausgebildeten männlichen Weber – jedoch nicht als Facharbeiterinnen, sondern als ungelernte Fabrikarbeiterinnen. Als eine Folge der industriellen Revolution wurde der gesamte Bereich des Handwerks und des Designs von der Arts-and-Crafts-Bewegung mit ihrer nostalgischen Schwärmerei für ein vorindustrielles, ja mittelalterliches Utopia verein-

nahmt. Wie Anthea Callen belegt, spielten Frauen in dieser Bewegung eine wichtige Rolle, wenn auch nur wenige als autonome, finanziell unabhängige Kunsthandwerkerinnen. (...) Als Zugangsvoraussetzung für das Bauhaus war festgeschrieben worden, daß ,jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, deren Vorbildung vom Meisterrat des Bauhauses als ausreichend erachtet wird, auf genommen wird, soweit es der Raum zuläßt.‘ Doch (...) Gropius hatte den Wunsch von Frauen, am Bauhaus zu studieren, gewaltig unterschätzt und war bestürzt über den hohen Prozentsatz weiblicher Bewerberinnen. Und so richtete der Meisterrat fast von Beginn an eine eigene Frauenabteilung ein, offenbar auf den Wunsch der Studenten. (...) Die Töpferwerkstatt indes war wenig erpicht darauf, weibliche Studenten aufzunehmen. (...) Als die Buchbinderei 1922 aufgelöst wurde, blieb den Frauen nur noch die Möglichkeit, in die Webwerkstatt einzutreten.“ Wortmann-Weltge, S. 41 85 Hüter (1981), S. 134 86 Genderspezifische Beiträge zum regionalen Selbstverständnis Zeitgenössischer Architektur wurden im Forschungsfeld zuletzt im Verlauf der 1980er Jahre formuliert. Vgl. etwa den Sammelband Frauenzimmer des Vorarlberger Autorenverbands (1984). Zum hier angesprochenen Themenfeld vgl. darin die Beiträge von Walter Holzmüller, Elisabeth JuenRohner und Elisabeth Rüdisser.

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253 4.5 Gewerblicher Wohnbau Wohnbau nimmt seinem Volumen nach den weitaus größten Anteil der Bauwirtschaft ein.1 Als gewerblicher Wohnbau wird hier derjenige Sektor des Wohnbaus bezeichnet, der nicht direkt vom späteren Bewohner als individuellem Bauherrn beauftragt wird. Statt dessen wird das Objekt, Wohnung oder Einfamilienhaus, gewerblich als Produkt erzeugt, um über einen Markt, den Wohnungs- oder Immobilienmarkt, verkauft oder vermietet zu werden. Der folgende Abschnitt untersucht, wie sich die Voraussetzung einer marktgängigen Wohnungsproduktion auf die Beziehung auswirkt, die die marktbestimmenden Unternehmen, die Bauträger, mit dem Berufsstand der Architekten eingehen, anders gesagt, nach welchen – und wessen – Gesetzen die für Vorarlberg charakteristische Integration avancierter Architektur in die regionale Wohnbauwirtschaft funktioniert. Indem festgestellt wird, daß mit der Wahl der Wohnung zugleich ein Platz auf der Skala sozialen Ansehens zugewiesen wird, kann im Folgenden untersucht werden, welche Beiträge Architektur zu dieser Sozialstruktur des Wohnungsmarktes leistet. Ein aktuelles Ereignis wirft ein Schlaglicht auf das Thema. 2003 fand in Bregenz ein geladener Architekturwettbewerb für eine Sozialwohnanlage statt.2 Die Preisträger, eine Projektgemeinschaft junger Architekten, hatten die Jury durch die gelungene Plazierung des geforderten Bauvolumens auf dem schwierig geschnittenen, langgestreckten Hanggrundstück überzeugt. Die Empfehlung zur Realisierung des Entwurfs wurde jedoch vom vorsitzenden Architekten nur unter Vorbehalt, mit der Auflage einer gravierenden Änderung der Fassaden, ausgesprochen. Den komplexen Umstand, daß der Gegenwert beim Wohnungskauf nicht nur in substantiellem Wohnraum, sondern auch in sozialem Kapital besteht, faßte er dazu in den prägnanten Satz: „Wie soll der S. [ein etablierter Bauträger für das gehobene Preissegment] noch seine Wohnungen verkaufen, wenn jetzt schon Sozialwohnungen so aussehen dürfen?“3 Die Begleitumstände dieser mustergültigen Interpretation von Architektur als Schöpferin sozial relevanten Kapitals demonstrieren darüber hinaus den Vorgang ihrer fortgesetzten „gesellschaftlichen Konstruktion“, da alle Beteiligten sich der ausgesprochenen Empfehlung fügten. Die Bewohner beziehen jetzt Häuser, die sich nach außen nicht mehr mit den mondänen Attributen tiefer Mauerleibungen und sonnensegelüberspannter Loggien schmücken, die noch die Wettbewerbsillustrationen geziert hatten. Statt dessen vermitteln die Fassaden mit ihren farbigen Holzverkleidungen nun den Charme idyllischer 1 GW: Z 1353 ff 2 Auf den Umstand, daß die Träger des sozialen Wohnbaus in Vorarlberg in großem Umfang Architekturbüros einbinden, anstatt sich auf Eigenplanungen zu beschränken, weist Architekt Gunter Wratzfeld in

unserem Gespräch hin und begründet damit gleichzeitig einen Qualitätsvorsprung gegenüber dem Sozialen Wohnbau in Wien, der „viel banaler“ sei. GW: Z 1309 ff 3 Mitgeteilt durch die betroffenen Architekten

Wohnung als soziales Kapital

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Schrebergartenlauben und weisen damit den Bewohnern einen ihrer sozialen Klasse offenbar gemäßeren Rahmen zu.4 Als erfolgreiche Abwehr einer Fehlzuweisung architektonischer Privilegien betont die Korrektur den Status der kritisierten Attribute des Wettbewerbsentwurfes als sozial klassifizierende Signale. Bauträger und Bauunternehmer

Mit Bezugnahme auf den selben Bauträger wie der Juryvorsitzende charakterisiert Bertram Dragaschnig in unserem Gespräch die reguläre Geschäftspraxis dieses Unternehmenstyps: Wenn heute ein Bauunternehmer ein (...) Grundstück kauft, bebaut, was interessiert den dann? Zuerst einmal die Kosten, wie hoch liegen die Erschließungskosten, so, und dann die Baunutzzahl. Und dann pflastere ich da drauf, soviel wie nur irgendwie möglich.5

Bauträger als Handwerksbetrieb

Dragaschnigs Gleichsetzung von Bauträger und Bauunternehmer enthält ein Bündel von Hinweisen auf den „genetischen Code“ dieses Unternehmensmodells. Zunächst, und diese Interpretation schließt an die Erkenntnisse des vorangegangenen Kapitels Holz an, ordnet sie den gewerblichen Wohnbau gemäß dem verarbeiteten mineralischen Baustoff dem „Massivbau“ zu. Bauträger sind zu einem überwiegenden Anteil ehemalige Bauunternehmer oder Geschäftsbereiche größerer Bauunternehmen, die ihre Wohnanlagen bevorzugt im eigenen Material, dem Mauerwerks- und Stahlbetonbau, errichten.6 Die Erweiterung, die den Bauträger gegenüber dem Angebotsspektrums herkömmlicher Baufirmen auszeichnet, besteht in der Bauausführung in eigenem Auftrag, indem auf zuvor gekauften Grundstücken Einzel- oder Reihenhäuser, heute vor allem aber Geschoßwohnanlagen errichtet und anschließend verkauft werden. Solange die Größenordnung moderat bleibt, liegen die erforderlichen Planungsleistungen innerhalb der Kompetenz und Befugnis des Berufsstandes eines Baumeisters bzw. seines deutschen Pendants, des Maurermeisters.7 Diese Selbständigkeit des Bauträgers auf dem Feld der Planungsregie bestimmt wesentlich sein Verhältnis zum Berufsstand der Architekten, wie zu zeigen sein wird. Neben diese material- und herstellungsbasierte Einordnung ist eine sozialökonomische zu stellen, die den Bauunternehmer, der sich als Bauträger betätigt, als Handwerksbetrieb betrachtet. Vor allem im Vergleich zum akademisch-künstlerisch dominierten Selbstverständnis des Architektenstandes stellt sich die charakteristische Kunden- bzw. Käuferorientiertheit des Bau4 Ein Essay im Standard über die mittels neuer Kommunikationsmedien gegebene permanente berufliche Präsenz Selbständiger kam 2009 zu dem Schluß, der „Feierabend“ sei mittlerweile ein „Unterschichten-Phänomen“ geworden. 5 BD: Z 780 ff Dragaschnig nutzt die hier zitierte Charakterisierung zu einem Vergleich von Bauunternehmen aus

dem Vorarlberger Rheintal mit solchen aus dem Bregenzerwald hinsichtlich ihrer Problemlösungskompetenz. Hierbei komme den Firmen des Rheintals eine letztlich nachteilige, einseitige Renditeorientierung zu. In ähnliche Richtung weisen die Selbstauskünfte von Bregenzerwälder Landwirten für den Agrarsektor. 6 In Greußings ironischer Schilderung des „Sponso-

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Gewerblicher Wohnbau

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trägers als notwendiger Bestandteil der Wirtschaftsform des Handwerks dar. Indem der Bauträger bestrebt ist, marktgerecht zu bauen, orientiert er seinen Qualitätsbegriff am Blickwinkel des zukünftigen Käufers und Nutzers seines Produkts, folgt also herrschenden sozialen Rahmenbedingungen und Wertvorstellungen seiner Kunden, anstatt aufklärerisch oder gar provokant im Sinn einer künstlerischen Avantgarde zu handeln, wie es die Berufsethik des Architektenstandes verlangt. Innerhalb des Wohnungsmarkts bedient der Bauträger einen abgrenzbaren Sektor, den des Wohneigentums, das einer entsprechend wohlhabenden sozialen Mittelschicht angeboten wird. Mein wichtigster Gesprächspartner für diesen Abschnitt ist Peter Greußing, Geschäftsführer der Wohnbauabteilung im international agierenden Bregenzer Baukonzern Rhomberg. Der bauliche Typ, in dem das Wohneigentum, Haus oder Wohnung, angeboten wird, folgt laut Greußing der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Preisen8 und dem Einkommen jener Schicht, die er als seine Kunden ins Auge faßt. Gegenwärtig werde der Preissektor, also Grundstücks- und Errichtungskosten, vor allem durch Aufwendungen zugunsten ökologischer Bauweisen in die Höhe getrieben.

Bauträger und Wohnungsmarkt

Weil der Wohnungserwerb einfach in der absoluten Größenordnung für jeden einzelnen an der Grenze steht... Folglich hat man sich vom Einfamilienhaus eh schon lange verabschiedet, auch das Reihenhaus... er braucht einfach eine 3-Zimmer-Wohnung, weil er eine gewisse Familienplanung hat.9

Oberhalb der sozialen Schicht, die den Kundenstamm der Bauträger bilden, sind die Bauherren der individuell geplanten und bevorzugt an exponierten Standorten errichteten Villen, die in städtischen Lagen die Gestalt von penthouses oder exklusiven Dachausbauten annehmen, einzuordnen. Unterhalb der Schicht der Bauträgerkunden bilden der Mietwohnungsmarkt und der Soziale Wohnbau einen breiten Sockel, letzterer in Händen gemeinnütziger Siedlungsgesellschaften unter der Trägerschaft von Kommunen, Landes- oder Bundesbehörden.10 Die Eigenschaft des Wohnungsmarktes, als Medium gesellschaftlicher Verortung zu wirken, erlaubt dem Einzelnen umsomehr Selbstverortung, je größer seine Gestaltungsspielräume, Wahlmöglichkeiten und das einsetzbare finanzielle Kapital werden. Die Eigentumswohnung ist daher weit geeigneter zur sozialen Profilierung als die Mietwohnung, die „Villa“ wiederum geeigneter ring“, das seine Firma zugunsten der unkalkuliert hohen Qualität der Sichtbetonflächen des Bregenzer Kunsthauses zu leisten hatte, scheint die Vorliebe des Bauunternehmers für den Stahlbeton auf. Sein Fazit: „Es ist heute noch für uns ein Herzeigeobjekt, und den Ärger, den wir da gehabt haben, an den kann sich bald niemand mehr erinnern.“ PG: Z 1357 ff; 7 Damit ist das Geschäftsmodell des Bauträgers

im Berufsbild des „Baumeisters“ ausdrücklich vorgesehen, im Berufsbild des Architekten jedoch ebenso ausdrücklich ausgeschlossen. Vgl. Berufsordnungen 8 PG: Z 85 ff 9 PG: Z 96 ff 10 Vgl. die Entstehungsgeschichte der Vorarlberger Siedlungsgesellschaft Vogewosi im Abschnitt Genossenschaftlicher Wohnbau, Kapitel Vorarlberg

Sozialstruktur des Wohnungsmarkts

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Selbstgestaltung – Fremdgestaltung

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als die Eigentumswohnung. Diejenigen Wohnformen, die dem Einzelnen die größte Identifizierbarkeit bieten, bergen auch das größte soziale Kapital in Form individuellen Ansehens. Zwangsläufig steht der Stufenleiter wachsender Möglichkeiten zur Selbstgestaltung eine abwärts weisende Treppe der Fremdgestaltung oder des Gestaltetwerdens zur Seite. Mangelnde Möglichkeit zur Selbstgestaltung bedeutet in modernen Gesellschaften unseres Kulturkreises nicht, in Gestaltlosigkeit, Chaos und Unordnung zu verharren, sondern die staatlich verordnete Zuweisung einer fremdbestimmt gestalteten Umgebung. Der Einzelne hat sein individuelles Wohl in solchen zugewiesenen Ordnungen den Zielen eines Gemeinwohls unterzuordnen. Für den Wohnbau ist festzustellen, daß dort, wo städtebauliche landmarks gewünscht werden, häufig Sozialwohnungen das „Material“ der Wahl sind. Die überlangen „Riegel“, die „Superblöcke“ und „Wohntürme“, die von Stadtplanern gerne als „Stadtkanten“ oder „stadträumliche Dominanten“ eingesetzt werden, wegen ihrer Unübersehbarkeit bei Architekten gleichermaßen beliebt, da sie versprechen, in den Annalen der Architekturgeschichte als einsam ragende Solitäre verzeichnet zu werden, sind als formal verselbständigte, avantgardistische Bauskulpturen nur deshalb rentabel realisierbar, weil ihre späteren Bewohner als stumme Dispositionsmasse in die zugrundeliegende Rechnung eingesetzt werden können.11 Greußings Darstellung des Wohnbaus als „in der Masse (...) sehr konservatives Geschäft“12, schlägt die Brücke vom Sozialwohnbau zurück zum Wohneigentum. Der identifizierbare Bewohner als potentieller Käufer und seine an sozialen Normen orientierten Erwartungen aktivieren den genuin handwerklichen Anspruch der Bauträger, diese zu bedienen und in diesem Sinn Grundversorgung jener sozialen Schicht zu leisten. Die Geltung des Begriffs „konservativ“ als gleichermaßen formale, wirtschaftliche wie politische Kategorie ist geeignet, die ambivalente Rolle oder, historisch verstanden, Deplaziertheit Zeitgenössischer Architektur im Marktsegment des Wohneigentums zu erschließen. Zeitgenössische Architektur, wie sie etwa in Vorarlberg praktiziert wird, setzt in ihrem Selbstverständnis eine Tradition fort, die von der europäischen Architekturmoderne der 1920er Jahre begründet worden ist.13 Vor allem in Deutschland und Österreich strebte jene „Klassische Moderne“ ausdrücklich eine Verbindung von künstlerischer Avantgarde mit den Bedürfnissen und der Lebenswelt des Proletariats an, ein Programm, das fest mit sozialistischen, also dem Konservatismus entgegengerichteten, Gesellschaftsmodellen verknüpft war und im Sozialen Wohnbau und der Gestaltung 11 Mitscherlich, vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? Anm. 26 12 PG: Z 770 ff 13 „In der Schweiz war ja die kontinuierliche Entwicklung aus der Tradition der Bauhaus-Architektur

in den dreißiger Jahren, und die ist ja fortgesetzt worden, und wir sind an diesem grenznahen Raum gewesen (...) und das hat Vorarlberg im Gesamten doch sehr stark beeinflußt.“ GW: Z 58 ff 14 Vgl. Ottillinger (2009)

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der idealen Arbeiterwohnung14 sein zentrales Betätigungsfeld fand.15 In den 1920er Jahren ging diese Überzeugung sowohl im „Roten Wien“ als dem Zentrum der Österreichischen Architekturentwicklung als auch in den Großstädten des benachbarten Deutschland, vor allem Frankfurts und Berlins, konform mit den dominierenden politischen Kräften in den kommunalen Bauverwaltungen und ihren städtebaulichen und architektonischen Entwicklungszielen.16 Im Abschnitt Genossenschaftlicher Wohnbau, Kapitel Architektur? wurde darauf hingewiesen, daß diese sozialistisch konnotierte Wohnbaumoderne der 1920er Jahre in Vorarlberg, weil politisch unerwünscht, kein markantes Ergebnis gezeitigt hat17, das mit den Wohnhöfen Wiens oder dem Siedlungsbau Frankfurts oder Berlins auch nur annähernd vergleichbar wäre.18 Die vom Arbeiterwohnbau der 1920er Jahre andernorts geprägte moderne Architekturform weckt damit innerhalb Vorarlbergs nicht, oder nur in vergleichsweise geringem Maße, Assoziationen zu „linkem“ Gedankengut.19 Der Exkurs in die Geschichte des modernen Wohnbaus sollte das auffälligste Merkmal des Vorarlberger Bauträger-Wohnbaus, zumindest versuchsweise, erklären: Die Architekturform dieses „konservativen“, weil vermarkteten 15 Diese Konzentration auf den Wohnbau zeigt sich nicht nur im quantitativen Übergewicht, den die realisierten „modernen“ Wohnsiedlungen gegenüber anderen Baugattungen bilden, sondern auch in den Bauausstellungen der nationalen Werkbundsektionen, die während der 1920er Jahre allesamt ausschließlich exemplarische Wohnbauten zeigten. 16 Dieser Aspekt der Modernen Bewegung wurde rückblickend vor allem von den Kunsthistorikern der Ostblockländer herausgearbeitet. Vgl. etwa die Dokumentation des Wohnungsbaus in Magdeburg unter Bruno Taut als Stadtbaumeister durch Karl-Heinz Hüter, die Beiträge Ferdinand Kramers über „Funktionelles Wohnen“ oder Kurt Junghanns’ über „Arbeitermöbel“, allesamt in der DDR-Designzeitschrift form+zweck erschienen und als Sammelband „Das Schicksal der Dinge“ neu herausgegeben. Lüder (1989) Daneben finden sich Belege in zeitgenössischen Periodika, etwa in Das Neue Frankfurt (1926–1933 erschienen, gegründet und herausgegeben vom Frankfurter Stadtbaurat Ernst May). Als Motto der ihnen zugrundegelegten sozialistischen Gesellschaftsutopien sind auch die Namen der Wiener Wohnhöfe aus den 1920er Jahren, allen voran Karl-Marx-Hof, zu lesen. Vgl. dazu Schütte-Lihotzky: Volkswohnbau in Wien, in: Lüder (1989), S. 96 ff Eine eindrucksvolle atmosphärische Schilderung der zeittypischen Verquickung von künstlerischer Avantgarde und Kommunismus gibt Robert Cohen in seinem dokumentarischen Roman Exil der frechen Frauen; Berlin: Rotbuch, 2009

17 Vgl. Dietrich (1985) 18 Achleitner (1980) führt für Vorarlberg ein einziges Beispiel für einen mit Wien vergleichbaren Wohnhof auf, den Illrainhof Bludenz, 1925 /26. (S. 405) 19 Daß diese Verknüpfung auch in Vorarlberg nicht vollständig aus dem gesellschaftlichen Architekturdiskurs ausgeblendet ist, wurde zuletzt im Rahmen des Montafoner Architekturstreits deutlich, als das polemische Wort vom „Kistenhaus“, der „Rache der Achtundsechziger“, fiel. Dieser Begriff faßt in komprimierter Form die hier skizzierte architekturhistorische Gegebenheit, daß die politisch konservative Politik der Verhinderung einer 1920er-Jahre-Moderne in Vorarlberg geradezu ermöglicht hat, daß die Nachfahren dieser Moderne jetzt „unbelastet“ auftreten können, während anderswo dem unter sozialdemokratischen Kommunalregierungen der 1920er Jahre entstandenen, architektonisch „modernen“ Sozialwohnbau die Kontamination seiner gesellschaftlichen Utopien durch die Entwicklung des Sozialismus in den stalinistischen Terror und den in seinem Gefolge entstehenden „realsozialistischen“ Unterdrückungsregimen entgegengehalten werden kann. Der zitierten Polemik folgend würde also, im Symbol des heute allgegenwärtigen Flachdachs, die Unterdrückung gerächt, die den politischen Vorfahren der heutigen Vorarlberger Architekturmoderne während der 1920er Jahre im Land widerfahren ist. (Vgl. Leserbrief von Oswin Wachter, Bludenz, in: Das Kleine Blatt, 07.06.2005)

Vorarlberg und Deutschland

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Gesellschaftliche Bewertung der Hochhäuser

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Wohnbaus ist landesweit unverkennbar modern und genießt als solche neben stabiler Käufernachfrage sowohl politische Rückendeckung als auch das Wohlwollen der Genehmigungsbehörden. Speziell der signifikant moderne Bautyp der Hochhäuser, in Deutschland, soweit als Wohnbau genutzt, gern als „Legebatterie“ verunglimpft20, ist in Vorarlberg mehrheitlich als Eigentumswohnanlage konzipiert. So fehlt dem Bautyp des modernen Wohnhochhauses das Stigma der sozialen Verwahrlosung von Miet- und Sozialwohnungen, das ihm in Deutschland anhaftet. Der privilegierte See- oder Bergblick aus den Bregenzer Hochhäusern nimmt ihnen von vornherein den Ghetto-Touch deutscher Trabantenstädte und macht sie, in Verbindung mit ihrer obligatorischen Lifterschließung aller Etagen, zu beliebten Wohnorten speziell älterer Generationen. Greußing beschreibt bezüglich der Gesamtzahl der Wohnungen eines Hauses eine mehrstufige Entwicklung seit dem Hochhausboom der 1970er Jahre hin zu kleineren, individuelleren Einheiten. Bei uns sagt der Verkauf schon heute, wenns fünfundzwanzig sind, das ist ein Ghetto, die Leute wollen das nicht, oder, [aber] ein Haus mit sechs, zwölf Wohnungen pro Wohnobjekt, sag ich, das ist einfach nicht wirtschaftlich, oder.21

Architekturmoderne und Wohnungsmarkt

Parallel zur Verkleinerung der Anlagen beobachtet er eine formale Entwicklung: vom Flachdach der 1970er Jahre zum Satteldach der achtziger und wieder zurück zum Flachdach der Gegenwart. Um ebendieses Phänomen einer sozial etablierten Architekturmoderne, die sich in Greußings Schilderung der letzten drei bis vier Jahrzehnte als ReModernisierung darstellt, als Vorarlberger Besonderheit und Bestandteil der zeitgenössischen Landesidentität zu würdigen, werde ich von meinen Gesprächspartnern immer wieder auf den Unterschied, vor allem zu Deutschland, hingewiesen. Peter Greußing führt vor allem seine Erfahrung gescheiterter Versuche an, die Erfolgsrezepte des Vorarlberger Wohnbaus in das Nachbarland zu verpflanzen. Das ist schon bei uns über der Grenze. Die Häuser, die (...) in der Gemeinde Lochau, oder Hörbranz, das sind Grenzgemeinden, gefragt und gut verkäuflich sind, die sind auf der anderen Seite, in Lindau, unverkäuflich (...), die werden auch nicht gewollt. (...) Wir haben das versucht, wir sind auch im süddeutschen Raum tätig. Und fahren Sie einmal hinunter, am Bodensee entlang, alle Häuser mit Giebel, Vorsprünge, kompliziert, aufwendig, kostet ein Schweinegeld, auch wenn die Wohnungen spottbillig sind, in der Herstellung sind die teuer. Also, irgendjemand verbrät da Geld, auf sinnlose Art und Weise, weil man eben noch so aufwendig baut.22 20 „Umbaute Kubikmeter werden auf Kubikmeter getürmt. (...) In der spätbürgerlichen Poetik, die sich der Armenviertel annahm, hätte man von einem versteinerten Albtraum gesprochen.“ Mitscherlich (1965), S. 28 21 PG: Z 686 ff 22 PG: Z 571 ff 23 PG: Z 650 f 24 Überraschend lokalisiert Greußing den Kern des deutschen Bauträger-Kitsches „in den Köpfen“ der Ar-

chitekten. „Also ich würde mich jetzt auf die Schnelle schwer tun, einen deutschen Architekten zu finden, dem ich sage, er muß mir da irgendwo was planen, mit einem Flachdach... dann sagt der, na, des kann man nicht, und das geht nicht, und das, das, das tue ich nicht, und weiß ich, was alles. Bei uns ist das Flachdach wieder zurückgekommen. Eine Zeitlang wars verpönt, aus verschiedensten Gründen, oder“ (PG: Z 642 ff). Seine Erfahrung mit deutschen Architekten ist, daß erst deren „Berufsethos“ das unter

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Greußings Analyse dringt hinter die Fassaden, in die betriebswirtschaftlichen Konsequenzen der jeweiligen Architekturformen. In Deutschland, stellt er fest, werde aufwendig gebaut und billig verkauft. „Türmchen und Giebel, und Vorsprung und Rücksprung“23 sei Kundenwunsch und Verkaufsvoraussetzung. Greußing schließt gleichzeitig aus, daß diese an „komplizierten“ Bauweisen orientierte Wertbestimmung des durchschnittlichen deutschen Wohnungskäufers24 auf Vorarlberg übertragbar sei:

Flachdach als bauliche Vereinfachung

So, wie in Deutschland gebaut wird, das wäre bei uns beinahe unverkäuflich. Ich will jetzt nicht sagen unverkäuflich, aber das müßten Sie dann über den Preis verkaufen.25

Die Dokumentation der baukulturellen Unterschiede zwischen Vorarlberg und seinem Nachbarland Deutschland, genauer, dem an Vorarlberg angrenzenden südwestdeutschen Hinterland, hat mitten in die Frage danach geführt, was gesellschaftlich gesehen Qualität bedeutet. Offensichtlich unterliegen diejenigen Aspekte von Qualität, die die ästhetische Erscheinung betreffen, in hohem Maß sozialen Konstruktionen, Vereinbarungen darüber, welche Attribute in der jeweiligen Gesellschaft als „wertvoll“ gelten dürfen. Gerade für den Bauträger, der für seine Wohnungen mit dem „Gesicht“ des Hauses, seiner Fassade, wirbt, gewinnen die ästhetischen Qualitäten gegenüber den „unsichtbaren“, zu denen etwa der Grundriß zählt, noch zusätzlich an Bedeutung. Für die augenscheinliche Attraktivität der Wohnanlage tritt innerhalb der Bauträgerfirma vor allem der durch seine Provision auf kurzfristigen Erfolg geeichte Verkäufer ein. Greußing schildert die permanente Einflußnahme dieser Berufsgruppe, „die da sagen, (...) ich muß mein Projekt heute verkaufen, maximal morgen (...) und darum will ich das serviert haben“26, auf die Gestalt der Wohnanlagen, zu der neben ihrer Größe, der Anzahl der Wohnungen pro Haus, vor allem die Fassade gehört. Seit Energieaspekte zunehmend kostenbestimmend werden, tritt daneben die Baukörperform in das Blickfeld des Bauträgers. Sie sollte aus Energiespargründen möglichst kubisch und kompakt sein. Die in Vorarlberg mittlerweile etablierte „Einfachheit“ schafft nunmehr die Voraussetzung, daß Investitionen in andere, „unsichtbare“ Qualitätsaspekte ins Auge gefaßt werden können.27 Wie bereits im Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? festgestellt, kommt unter diesen dem Grundriß vorrangige Bedeutung zu, da er nicht nur den Bewegungsraum der Bewohner, sondern auch Bauträgern durchaus beliebte Flachdach zur „Bausünde“ stempelt. 25 PG: Z 795 ff 26 PG: Z 441 ff 27 „Kosten, Qualitätsmanagement, Städtebau, Geomantie, Architektur, Bewußtes Planen, Marketing, Rechtliche Rahmenbedingungen, eben, was muß man rechtlich ändern, wenn man diese Dinge alle durchziehen will, Alternative Finanzierungsformen, (...) die Ver- und Entsorgung, Baubiologie, Dienstleistungen,

IKT, also Informations- und Kommunikationstechnik, ganzheitliche Mobilität, also Carsharing zum Beispiel, das in der Schweiz (...) durchaus angenommen wird, bei uns überhaupt nicht, also daß Facilitymanagement in einer anderen Form gemacht wird, also daß man technologisch das alles auf einem Display steuern und ablesen kann...“ (PG: Z 439 ff). Es fällt auf, daß „Architektur“, ehemals Medium mit universellem Anspruch, in Greußings Liste zum Attribut abgesunken ist.

Qualität

Fassade als „Hausgesicht“

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Flexibilität

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die Funktionalität der Wohnräume im Sinne ihrer Nutzungspotentiale bestimmt. Greußing faßt unter dem Stichwort „Flexibilität“ das gewandelte Anforderungsprofil an Wohnungsgrundrisse gegenüber der Standardwohnung mit ihren monofunktionalen Räumen zusammen und zeigt sich mit seiner Darstellung auf der Höhe der aktuellen Wohnbaudebatte28, die in Vorarlberg mit dem „Wohnbauforum“ einen institutionellen Rahmen besitzt.29 In einem gleichsam kulturhistorischen Rückgriff setzt seine Bestimmung des Begriffs „Flexibilität“ bei denjenigen architektonischen Experimenten der frühen 1980er Jahre an, die neue Formen des familienübergreifenden Zusammenlebens erprobt hatten.30 Diesen zu ihrer Zeit revolutionären Sozialmodellen stehen nach Greussings Ansicht heute verstärkte Anforderungen nach individueller räumlicher Beweglichkeit entgegen, die jene als überlebt erscheinen lassen: Und jetzt, die Flexibilität ist aber immer noch ein Thema, viel stärker, als wie früher, weil einfach der Mensch beweglicher sein muß, in jeder Hinsicht, sei es Beruf, Familie, oder was auch immer. (...) Aber, eingeschränkt auf sich alleine bezogen. Oder. Er (...) will sich nimmer in Zusammenhang mit drei oder vier anderen sehen, weils dann noch einmal komplizierter wird, und, und, auf Dauer vielleicht mehr Einschränkung, als Flexibilität mit sich bringt, so daß er sagt, wenn ich allein entscheidungsfähig bin, (...) wäre es eigentlich ideal.31

Wohneigentum macht unflexibel

Die steigenden Anforderungen an Mobilität und Flexibilität, der die potentiellen Wohnungskäufer aktuell ausgesetzt sind, führt in Greußings Analyse in die soziale Vereinzelung.32 Generell richtet sich diese Zeitströmung gegen die Bauträger und ihr Produkt.33 Wenn die Wohnung auch nicht „mobil“ gemacht werden kann, um der Ortsveränderung zu folgen, dann soll ihr Grundriß wenigstens „flexibel“ sein, um sich den Folgeerscheinungen der in Auflösung begriffenen traditionellen Sozialmodelle, vorrangig der Familie, anpassen zu können. Die demographische Tatsache einer „vergreisenden Gesellschaft“ verleiht dieser Forderung zusätzlichen Nachdruck. Es gibt aber zunehmend auch den Lebensabschnitt von fünfundsiebzig bis hundert, sage ich einmal, in den nächsten zwanzig Jahren. (...) Die Flexibilität müßte eigentlich bis zum Lebensende gewährleistet sein (...), daß, wenn der jetzt hundertdreißig Quadratmeter hat und sagt, jetzt bin ich achtzig, ich brauch die hundertdreißig nimmer, daß er die dann auch verkaufen kann und sagen, ich wohne jetzt nur noch auf sechzig Quadratmeter, den Rest geb ich her. Da spielen also rechtliche Probleme hinein, in punkto Parifizierung und Grundbucheintragung und so weiter, die das Ganze erschwe-

28 Das Wohnbausymposium 2002 hat sich in mehreren Beiträgen mit flexibel nutzbaren Wohnungsgrundrissen befaßt. Vgl. Tagungsband 29 Wohnbauforum ist ein vorläufig auf drei Jahre angelegtes, gemeinsames Projekt der Wohnbauförderungsstelle des Landes Vorarlberg, der Vorarlberger Raiffeisenbanken und des Vorarlberger Architekturinstituts. 2002, 2003 und 2004 fand jeweils ein Wohnbausymposium statt, zu dem vom Vorarlberger Architekturinstitut Tagungsbände herausgegeben wurden. Vgl. Gemeinnützige Vorarlberger Architektur Dienstleistung GmbH (2003)

30 Zu den Experimenten mit familienübergreifendem Zusammenleben vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens, Kapitel Dorf. 31 PG: Z 991 ff 32 Ebd. 33 Bourdieu (1998) dokumentiert die soziale Verfestigung dieser Unflexibilität. Die Förderung massenhafter finanzieller Überschuldung, verursacht durch eine Idealisierung von Wohneigentum, wird als politische Strategie eines sozialen Liberalismus interpretiert, „Bindung an die bestehende Ordnung durch die Bande des Eigentums“ (S. 18) herzustellen.

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ren. Bautechnisch könnte man sowas in den Griff kriegen, aber rechtlich ist man noch nicht so weit. In diese Richtung wird man denken müssen.34

Eine Wohnanlage in Dornbirn, von Greußings Unternehmen erstellt, hat eine Möglichkeit der radikalen Flexibilisierung in Form eines „Lofthauses“ erfolgreich realisiert.35 Der Erfolg des Konzepts kam gleichermaßen den Bewohnern, die „diesen Wohnraum sicher sehr günstig erwerben“36 konnten, als auch dem Bauträger zugute, für den „wirklich alle Faktoren in optimaler Weise zusammengepaßt“37 haben. Die Wohnanlage aus zwei Häusern zu je zwölf Wohnungen bietet „Lofts“, ungeteilte Wohnungsflächen einheitlicher Größe, die jeder Käufer nach eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen in Zimmer unterteilen konnte. Notwendiger Bestandteil des Systems war eine Fassade aus wahlweise geschlossenen, voll- oder brüstungshoch verglasten Modulen. Die nachhaltige Qualität des Prinzips liegt in seiner bleibenden Veränderbarkeit. Die nach dem Verkauf an die späteren Bewohner gesetzten Raumtrennwände können bei einem Wandel der Lebensumstände wieder versetzt und damit die Größe und Anzahl der Räume innerhalb der eigenen Wohnfläche angepaßt werden.38 Daß dieses Modell bisher ein Einzelfall geblieben ist, führt Greußing vor allem auf die in der Vorarlberger Gesellschaft dominierenden „kleinbürgerlichen Denkungsweisen“39 zurück. Sie konservieren die bestehenden Standards des Wohnungsmarkts und stehen einer notwendigen Flexibilisierung der Wohnungstypologien im Wege. „Daß man sagt, wenn ich verheiratet bin, das hält für ewig und zwei Kinder habe ich geplant und auf das lege ich alles an. Daß das im dritten Jahr nach der Hochzeit unter Umständen schon anders sein kann, wird einfach nicht bedacht.“40 Die Lofthäuser hatten nicht nur in ihrem Wohnungsangebot, sondern auch in der Form der Zusammenarbeit zwischen Bauträger und Architekt Ungewöhnliches geboten. Insbesondere der Umstand, daß die Initiative, „sowas einmal zu versuchen“41, bei den Architekten lag und nicht seitens des Bauträgers den „Wünschen“ des Wohnungsmarkts abgelauscht und als Konzept vorgegeben wurde, wird von Greußing hervorgehoben. „Entwickelt hat man es dann gemeinsam. War eigentlich ganz sinnvoll so.“42

Flexibler Grundriß

Sowohl innerhalb Österreichs als auch im Vergleich mit Deutschland ist die Beteiligungsquote freier Architekten am Bauträgerwohnbau nirgends so hoch wie in Vorarlberg.43 Anderswo sind Bauträger und Architekt Protagonisten einer sprichwörtlichen Hund- und- Katz- Beziehung. Gründe hierfür, die

Bauträger und Architekt

34 PG: Z 280 ff 35 Der Besuch bei einer Bewohnerin des Hauses weckte mein Interesse an dieser exemplarischen Anlage und gab den Anlaß für das Gespräch mit Peter Greußing. 36 PG: Z 138 ff 37 PG: Z 127 ff 38 Zur Dokumentation der höchst unterschiedlichen

Wohnformen, die in den einheitlich großen „Lofts“ der Wohnanlage praktiziert werden, haben die Architekten eine Broschüre herausgegeben: Haus 1. Novaron Architekten, Diepoldsau (CH) o.J. 39 PG: Z 270 40 PG: Z 264 ff 41 PG: Z 173 ff 42 Ebd.

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im jeweiligen Berufsbild liegen, sind bis hierher vor allem für den Bauträger, ausgehend von dessen Verwurzelung im Handwerk, entwickelt worden. Dieser Hintergrund schafft unterschiedliche referenzielle Kategorien, die Bauträger und Architekt zur Qualitätsbeurteilung heranziehen, und ist verantwortlich für die jeweils typische Kundenbeziehung der beiden Berufsstände. Der Priorität, die das Handwerk dem Machen zumißt, steht das Argumentieren auf Architektenseite als Folge seiner akademischen Sozialisation gegenüber. Der wortreiche, engagierte Vortrag ist für Greußing feststehendes Motiv eines Architektentyps, der in der Zurückgezogenheit seines Ateliers entwirft, eine einzige Entwurfslösung präsentiert und solange verteidigt, bis, im konkreten Fall, „der Projektleiter klein beigegeben hat“.44 Das Umfeld des Bauträgers, gekennzeichnet durch eine pragmatische Herangehensweise an das Bauen, läßt den Architekten als Theoretiker erscheinen. „Horcht sich alles gut an und mit Handskizzen vom Architekt laßt sich das gut darstellen und gibt einen interessanten Vortrag.“45 Sobald dessen Vorschläge baukonstruktiv neue Wege einschlagen, stoßen sie jedoch zunächst auf die Skepsis derjenigen, die das Bewährte den Unsicherheiten aller Experimente vorziehen. Innerhalb ihres Horizonts des Machens liegt erfahrungsgemäß das Scheitern „im Detail (...), weil da so viele Probleme entstehen“.46 Der Architekt tritt in Greußings Darstellung daher primär als Vereinfacher auf, der durch rhetorische Kunstgriffe die Bedingungen, die Baupraxis und Wohnungsmarkt dem Bauträger bieten, dem Bild seines Entwurfs anzupassen sucht. Bauträger und Wettbewerbe

Der Einfluß des Bauträgers auf den Architekten wird umso geringer, je nachdrücklicher die Architektenposition institutionell gestützt wird. Am deutlichsten tritt dieser Effekt bei Projekten in Erscheinung, in denen die Architektenwahl durch einen Wettbewerb zustande kommt, denn „der Architekt sagt dann nachher, ja Moment einmal, ich bin der Wettbewerbssieger, ihr müßt mein Projekt umsetzen, und verwendet seine ganze Energie, um uns zu erklären, daß sein Projekt gut ist“.47 Nachteilig stellt sich aus Greußings Sicht vor allem die institutionelle Konstellation der Architektenwettbewerbe dar: Da braucht man eine prominente Jurybesetzung, die fachjurylastig ist, das wollen die Architekten, sonst tun sie beim Architektenwettbewerb gar nicht mit, oder, und ein 43 GW: Z 1276 ff 44 PG: Z 531 f 45 PG: Z 350 ff 46 Ebd. 47 PG: Z 1163 ff 48 PG: Z 1145 ff 49 PG: Z 1120 f 50 PG: Z 1124 ff 51 PG: Z 1137 ff 52 „Am Anfang (...) hats erhebliche Differenzen mit der Architektenkammer gegeben, oder, die dann protestiert haben, (...) selbst die teilnehmenden Architek-

ten haben schon die Architektenkammer mobilisiert, und gesagt, tuts dann ja das nicht, und jenes nicht, das hat dann (...) zu einer ganz vernünftigen Praxis geführt, daß die Architektenkammer irgend einen Zuständigen im Land hat für Wettbewerbe, der selber Architekt ist, und der diese Probleme halt einfach kennt, und sie auch nicht verschweigen kann und mit dem hat man dann (...) versucht, das so zu regeln, (...) daß das in der Architektenkammer zu keinem Problem führt.“ PG: Z 1179 ff 53 Im April 2008 erlangte eine Debatte um die Kostensituation im geförderten Wohnbau und die Rolle

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guter Vorsitzender bringt alle so hin, wie er es braucht, und dann entscheidet auf einmal der Herr Architekt XY aus Zürich, oder äh Trier, oder Wien, daß das Projekt aus irgendeinem Grund das beste ist, und wir sagen, unter Umständen, daß der zwanzig Prozent nordseitige Wohnungen eingeplant hat, das beurteilt der nicht, weil er sagt, architektonisch und städtebaulich ist das tiptop und drum muß das so sein. Also, Architektenwettbewerbe werden von uns nicht wahnsinnig geliebt.48

Die Qualitätskriterien des Architektenstands, wie Greußing sie erlebt, liegen konträr zu seinen eigenen. An der Unterscheidung zwischen Sozial- und Eigentumswohnanlagen wurden bereits ähnliche Diskrepanzen zwischen Architekturqualität und Wohnqualität diskutiert, die eine Gegenüberstellung von ästhetischer und nutzungsorientierter Perspektive nahelegen. Im Gegensatz zum typischen Ersteller der Sozialwohnanlagen, den gemeinnützigen Siedlungsgesellschaften, denen die Bewohner per kommunalem Verteilungsschlüssel „zugewiesen“ werden, steht der Bauträger seinem Kunden und dessen Wünschen persönlich gegenüber und handelt nach Abschluß des Kaufvertrags in dessen Auftrag. Greußings Fazit „Wir versuchen, jedem Wettbewerb auszuweichen“49, bekräftigt daher sein Selbstverständnis als Dienstleister. Vor allem Wirtschaftlichkeitsanreize sind es wiederum, die ihn veranlassen, Ausnahmen von dieser Regel zuzulassen. Insbesondere eine Erhöhung der zulässigen Überbauungsdichte ist für ihn attraktiv, da diese den Anteil des Grundstückswertes am Wohnungspreis senkt. „Die Behörden sagen oft (...), wenn ihr einen Wettbewerb macht, kriegt ihr eine höhere. Oder. Aber da wollen wir sehen, was herauskommt.“50 In einem solchen Fall „kriegen die Architekten so starke Vorgaben, daß wir schon die Wohnungsgrößen hineinschreiben, weil sonst kommt oft etwas Unbrauchbares heraus.“51 Voraussetzung einer solchen frühzeitigen Einflußnahme auf Architektenwettbewerbe ist, den regionalen Einfluß der Architektenkammer zurückzudrängen.52 Anders als in Deutschland oder anderen österreichischen Bundesländern hat sich die Vorarlberger Architektenschaft nicht durch ausgeprägtes Standesbewußtsein aus den quantitativ dominierenden Bereichen des Baugeschehens ausgeschlossen, zu denen der Wohnungsbau durch Bauträger gehört.53 So kann Greußing die Praxis, sich auf Eigenplanungen zu beschränken, ein Gegenmodell zur Kooperation mit freien Architekten, das dem Bauträger als der Architekten darin öffentliche Aufmerksamkeit, ausgelöst durch Interviewaussagen des Obmanns des österreichischen Verbandes gemeinnütziger Bauvereinigungen, Karl Wurm. Unter dem Titel „Die Extrawurst der Architekten“ (in: Der Standard, 12./13.04. 2008) teilte er mit, die „Extrawünsche der Architekten“ trieben die Baukosten gerade im geförderten Wohnbau in alarmierender Weise in die Höhe: „In letzter Zeit häufen sich die Projekte, wo Architektur zu aufwändiger Spielerei an der Fassade verkommt. (...) Planungen, die sich auf die äußere Erscheinung des Gebäudes beziehen, bringen in der Regel keine

Verbesserung für die Bewohner...“. Diese Stellungnahme löste heftige Reaktionen in der Architektenschaft aus. So meldete sich u.a. der Architekt und Hochschulprofessor Wolf D. Prix („Coop Himmelb[l]au“) zu Wort: „Für Österreich, das sich selbst stets als ,Kulturnation‘ darstellt, sollte Architektur mehr sein als lediglich ein gebautes Abbild der diversen Hochbaurichtlinien. Das Horrorszenario einer billigen Bauindustrie-Landschaft würde unsere Städte und ihre soziale, öffentliche Kultur zunichte machen...“; in: Der Standard, 25.04. 2008 54 PG: Z 1229 ff

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Bauunternehmer offensteht, auf das benachbarte Deutschland projizieren: „Das Projekt (...) schaut ähnlich aus, wie das letzte schon gebaut, (...) wir finden jemand, der uns das planlich umsetzt, und der Architekt hat dann zwangsläufig nicht mehr die Bedeutung.“ 54 Die Selbstgewißheit des Bauträgers, im Wohnbaubereich „die Architektur beeinflussen und beauftragen“ 55 zu können, prägt folglich seine Geschäftsbeziehung zum Architekten. Die Bauträger sind zum großen Teil die Auftraggeber für die Architekten, und wenn die Architekten da die potentiellen Kunden vermiesen, werden sie mit denen nie ins Geschäft kommen. (...) Es gibt schon ein paar so Etablierte, die auf sehr hohem Roß sitzen und die leben dann halt von öffentlichen Aufträgen, oder auch Wettbewerben, die sie gewinnen, die aber vielleicht nicht umgesetzt (...) werden.56

„Auftrag“ und „Einfluß“ sind in der Geschäftspraxis des Bauträgers so zwingend miteinander verknüpft, daß eine Autonomie von Architektur und damit jede Architektur als Kunst in seinem Weltbild keinen Sinn ergeben. Soweit der Architekt als Künstler wahrgenommen wird, werden Verhältnisse beschrieben, die den Auftragskünstler der Vormoderne selbstverständlich in die Gegenwart transferieren. „Daß ein Architekt gewisse Leistungen auf Risiko machen muß“57, die Bereitschaft zu kostenlosen Entwurfsleistungen also, ist selbstverständliche Voraussetzung, die Greußing „in der Architektenfindung“58 verlangt. Sie ist fixer Bestandteil der firmeninternen Kalkulation des Bauträgers, auch wenn solches Verhalten im Berufsstand der Architekten verpönt ist, da es der Intention ihrer Honorarordnung, ruinösen Wettbewerb unter den Standesmitgliedern zu unterbinden, eklatant widerspricht.59 Einer, der von Anfang an sagt, „wissen sie, bevor ich den ersten Strich mache, möchte ich die Honorarvereinbarung haben, und wenns dann nichts wird, müssen sie mir pauschal soundsoviel tausend Euro überweisen“, mit dem werden wir nicht lang zusammenarbeiten. Weil, da hätten wir zuviel Kosten im Vorlaufbereich, weil man das immer wieder braucht, einen Architekt, wo wir sagen, „mach mir schnell einmal eine Überlegung“.60 Unentgeltliche Entwurfsleistung

Im Geschäftsmodell der Bauträgerfirma wird die konzeptionelle Kompetenz der Architekten bereits in den ersten Schritten einer Projektentwicklung zur Bewertung von Grundstücken im Hinblick auf ihre bauliche Nutzbarkeit eingesetzt. „Dann rechnen wir raus, rechnet sich das, soviel Nutzfläche kommt heraus, umgelegt, Grundstückskosten, erscheint möglich, oder erscheint nicht möglich, dann tut man den nächsten Schritt, wenn man sagt (...), das wird sich nie rechnen, dann wars halt umsonst.“61 55 PG: Z 4 ff 56 PG: Z 1207 ff 57 PG: Z 1067 ff 58 PG: Z 1061 59 „Der Ziviltechniker darf seine Leistung nur zu einem Honorar, auch zu einem Pauschalhonorar, anbieten, beziehungsweise dieses nur in einem Ausmaß vereinbaren, daß es – an der für diese Leistung angemessenen Entlohnung (...) gemessen – nicht zu einem

offensichtlichen Mißverhältnis zum Wert des Gegenstandes, zur voraussichtlichen Leistung oder zum angestrebten Ergebnis steht.“ In: Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (Hg.): Standesregeln der Ziviltechniker, Pkt. 1.4. „Allgemeine Pflichten“; Auflage 2000, S. 4 60 PG: Z 1075 ff 61 PG: Z 1092 ff 62 PG: Z 1110 ff

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Dem Architekten bleibt die vage Aussicht, die erfolgreich entwickelten unter den bearbeiteten Projekten anschließend weiter betreuen zu dürfen. „Wenn ich einmal an einem Grundstück mit einem Architekt begonnen habe, und der mir irgendwelche Vorschläge gemacht hat, und das wird dann weggeschmissen, und zehn Jahre später realisiere ich das Projekt, dann mache ich das mit dem Architekt. Also, da hat jeder von mir die Zusage: ,Wenns dann irgendwann einmal kommt, dann mach ich das mit dir.‘ Und da sind oft zehn Jahre dazwischen.“62 Diese in die Zukunft verlegte Entlohnungsaussicht für sein zunächst kostenlos zur Verfügung gestelltes geistiges Eigentum bedeutet für den Architekten einerseits die Notwendigkeit einer anderweitigen Existenzsicherung, andererseits eine vollständige Abhängigkeit vom Wohlwollen des Bauträgers.63 Aus der Perspektive seines Geschäftsprinzips sind für Greußing drei Kategorien von Architekten identifizierbar: „Prominente“, „Bewährte“ und „Junge“. Eingespielte Arbeitsverhältnisse mit Architekten, die Kategorie der „Bewährten“ also, garantieren nach seiner Erfahrung die höchste Qualität, „was die Umsetzung betrifft“.62 Von diesen Idealvoraussetzungen ist er gelegentlich bereit, Abstriche in Kauf zu nehmen, indem er statt dessen „gewisse Architekten, die vom Namen her prominent sind“65, beauftragt. „Auch wenn man weiß, daß die Qualität unten nicht dieselbe ist wie mit dem, äh, mit dem mittleren Segment.“66 Ähnlich wie bei der Kategorie der Bewährten hält er auch bei den Jungen, den „ganz Neuen, die wir überhaupt nicht kennen, die immer wieder zur Tür hereinkommen und sich empfehlen“67, die Qualität der persönlichen Beziehung für eine ausschlaggebende Voraussetzung der Zusammenarbeit. „Wenn einer einen kennt, sei es ein Junger, und sagt, du, der würd gern einmal, (...) dann hat er eher eine Chance, als wenn man ihn überhaupt nicht kennt.“68 Diese Haltung, in der Wahl der Partner die Qualität des Arbeitsprozesses und die Ebene der persönlichen Beziehung ins Auge zu fassen, kann ebenso auf den „handwerklichen“ Hintergrund des Bauträgers zurückgeführt werden wie seine Orientierung an den persönlichen Wünschen des Kunden. Deutlich wird diese Haltung vor allem gegenüber der „akademischen“ Methode der Auftragsanbahnung über Architektenwettbewerbe, in deren anonymisierten Verfahren allein die formale Entwurfslösung entscheidet und anstelle des individuellen Bewohners eine „Gesellschaft“ ins Auge gefaßt wird, zu deren Gunsten eine „Kulturleistung“ zu erbringen ist. 63 Wratzfeld zufolge ist das einzige „Machtmittel“ des Architekten seine Verweigerung, ein Akt, der jedoch gleichzeitig die Existenzsicherung bedrohe. „Wenn der Bauherr sagt, Du mußt das Dach als Fundament machen, und das Fundament zum Dach machen, dann mußt´ das machen. Oder sagen, ich machs nicht. Dann hast einen Auftrag weniger.“

GW: Z 1261 ff 64 PG: Z 1038 f 65 PG: Z 1040 ff 66 Ebd. 67 PG: Z 1048 ff 68 Ebd. 69 PG: Z 95

Kategorisierung der Architekten

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Die Vorarlberger Sondersituation zeichnet sich auf dem Feld des gewerblichen Wohnbaus durch eine Integration von Architektur in die Bauträgerpraxis aus. Die Bedingungen, der die Architekten innerhalb dieser Integration ausgesetzt sind, konnten exemplarisch gezeigt werden. Die Methode der Integration spiegelt das auf Bauträgerseite gewonnene Erfahrungswissen zu Architektur und zählt als solche zu den zentralen Befunden der vorliegenden Studie. Für Greußing stellt sich die Frage, wie Architektur methodisch in den Entwicklungs- und Herstellungsprozeß so zu integrieren ist, daß sein Produkt „einfach in diese Kurve“69, die wirtschaftliche Umsetzung, gesteuert werden kann. Als methodischer Fehler erscheint es ihm, den Architektenentwurf als gesetzte Form an den Anfang einer Projektentwicklung zu stellen. „In dem Moment, wo die Architektur vorgegeben ist, wird der Bewegungsspielraum sehr sehr eng, weil (...) die Architektur sehr kostenbestimmend ist.“70 Um die Zwänge der „aufgesetzten“ Form zu vermeiden, die vorzeitig einen Kostenrahmen für die Realisierung fixiert, muß der Bauträger in seiner Kommunikation mit dem Architekten „gewisse Kennwerte, die auf eine Wirtschaftlichkeit bei einem Objekt hindeuten“71 in dessen „Sprache“ übersetzen. Weil viele Architekten einfach nicht wissen, was etwas kostet, beziehungsweise falsche Vorstellungen haben. Deshalb geben wir beispielsweise das Verhältnis von Grundfläche und Fassadenoberfläche vor, oder die Anzahl von Wohnungen, die an einem Stiegenhaus oder an einem Lift hängen, manchmal sagen wir, es geht nur über einen Laubengang in die Wohnung, wir geben die Wohnungsgrößen vor...72

Außerhalb dieses Steuerungsverfahrens, das Greußing seiner Projektentwicklung zugrundelegt, um das Kostenminimum für den marktgängigen Qualitätsstandard zu erreichen, zeigen realisierte Beispiele, daß Architekten, trotz des ihrem Berufsstand anhaftenden Vorurteils fehlenden Kostenbewußtseins, neue wirtschaftliche Lösungen finden können, indem sie sich dem gesellschaftlichen Bedarf von einer überraschenden Seite her annähern. Das „einmalig“ erfolgreiche Lofthauskonzept repräsentiert ein solches Experiment. Bei diesem Projekt haben die Architekten keinen Grundriß, sondern ein auf Wirtschaftlichkeit getrimmtes Konstruktions- und Fassadenkonzept vorgelegt und die Gestaltung des Wohnungsgrundrisses den Bewohnern überantwortet. Das Konzept von Novaron ist kein formales Fassadenbild und auch kein Grundrißkonzept, sondern ein räumlich-konstruktives Prinzip, das sein innovatives Potential vor allem im Schnitt durch das Gebäude offenbart.73 Über das Medium des Wohnungsmarkts stellt der Bauträger zwischen Architektur und den gesellschaftlichen Wertvorstellungen einen Kurzschluß 70 PG: Z 375 ff 71 PG: Z 68 f 72 PG: Z 73 ff 73 Hans Purin, ein Architektenleben lang mit kostengünstigem Bauen befaßt, bestätigt im Gespräch diesen „blinden Fleck“, der bezüglich radikal verein-

fachter Konstruktionsstandards in der auf „Bewährtes“ geeichten Wahrnehmung von Bauträgern existiere. Vgl. Besuch bei Hans Purin, 29. 06.2006, in: Prechter (2012), S. 114 74 PG: Z 888 ff 75 Vgl. Münz (2003)

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her. Er nutzt die gesellschaftlichen Wertvorstellungen als Gestaltungsvorgabe und gestaltet die gesellschaftlichen Werte selbst langfristig durch seine Angebote und die Präsenz der realisierten Bauten mit. Daß Architektur mittlerweile im Wertgefüge der Vorarlberger Gesellschaft einen festen Platz einnimmt, steht für Greußing außer Zweifel, wobei sein Zitat eines typischen Wohnungskäufers: „Ich zahle ein bißchen mehr, dafür habe ich Architektur“74, nahelegt, „Architektur“ der Kundenseite vor allem als Stilbedürfnis zu unterstellen. Bei aller Kritik, die an der tendenziell ruinösen Honorarpolitik der Bauträger angebracht erscheint und der die Aussetzung der HOA seit Jahresende 2006 zusätzlichen Vorschub leistet, bietet ihre Integration in die Praxis der Vorarlberger Bauträger Zeitgenössischer Architektur ein einzigartiges „Labor“. Es stellt die Gültigkeit der traditionellen Ansprüche von Architektur gegenüber den gesellschaftlichen Wertvorstellungen unter den Praxisbedingungen des Marktes fortgesetzt auf die Probe. Zu diesen Wertvorstellungen zählen Ansprüche der Bewohner an eine ihrer sozialen Stellung gemäßen Adresse im Äußeren ebenso wie an die Wohnlichkeit im Inneren der Häuser. In diesem Labor wird entschieden werden, ob Architektur der Stilfalle entkommt und sowohl für die prognostizierte demographische Entwicklung75 als auch für die erforderlichen Flexibilisierungen Antworten bereitstellen kann oder ob der notwendige Wandel, wie in der Energiepolitik bereits geschehen, per politisch gesetzter Verordnung als einheitlicher und entsprechend unflexibler Rahmen installiert werden wird.

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5.1 Was ist ein Dorf? Dann sind sie nach der Kirche am Kirchplatz gestanden und haben nicht gewußt, wo hingehen. Und dann hat der Pfarrer eine Kiste Bier aus dem Keller geholt und dann sind sie auf der Kirchenstiege gesessen und haben Bier getrunken dort.1

Architekt Gerhard Gruber schildert in dieser Szene die „Gründungsminute“ des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal, einem basisdemokratisch agierenden Zusammenschluß der Dorfbewohner, der die Geschicke Thals zu einem Zeitpunkt in eigene Hände nimmt, als das Dorf „praktisch vorm Kippen steht“.2 Soeben ist mit der Schließung des letzten Gasthauses auch der Ort des gewohnten Stammtisches unzugänglich geworden. Die umfassende Krise der traditionell agrarischen Sozial- und Wirtschaftsstruktur des ländlichen Raumes, die jede hochentwickelte Industriegesellschaft erzeugt3, schlägt zu diesem Zeitpunkt4 auf die Sonntagsrituale der Dorfbewohner Thals durch. Was aus volkswirtschaftlicher Warte als Kontinuität eines „ländlichen Strukturwandels“ und damit als notwendige Anpassungsleistung an wirtschaftspolitische Prioritäten, vor allem aber an globale Marktgesetzlichkeiten ausgedeutet wird, tritt für den konkreten Einzelnen, den Gruber in seiner Darstellung mit einer Bierflasche ausstattet und auf der Stiege seiner Kirche sitzend zeigt, als Entwicklungstiefpunkt der eigenen Lebenswirklichkeit in Erscheinung. Analyse und fortgesetzte Bewältigung dieser Krise durch Rekonstruktion der Eckpfeiler eines Dorfes, die der Thaler Selbsthilfeverein unternimmt, interessieren uns zunächst als modellhafte Handlungspraxis, die zeitgemäße Antworten auf die Titelfrage dieses Abschnitts formuliert. Warum das Dorf in der vorliegenden Studie zu einem jener Hauptthemen wird, an denen ein zeitgemäßer, gesellschaftlich definierter Architekturbegriff zu entwickeln ist, bedarf angesichts avancierter Studien zu Gegenwart und 1 GG: Z 174 ff 2 EW 1: Z 30 3 Die Attraktivität, die die Lohnarbeit als junge Arbeitsform gegenüber älteren, insbesondere der landwirtschaftlichen, besitzt, kommentiert etwa Bergmann, S. 79 ff; zur weitgehend geldlosen Wirtschafts-

form der traditionellen ländlichen Arbeitsteilung vgl. Krammer, S. 111 4 Ein Postwurf vom 10. 03.1990 „an alle Thaler Haushalte“ erlaubt eine Datierung dieses Ereignisses auf Sommer 1988 (Abdruck in: Dorfgemeinschaft Thal – Selbsthilfeverein, Thal: Eigenverlag, 1990).

Ökonomische und soziale Bewertung des Dorfes

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Zukunft des ländlichen Raumes5, die das Dorf zum „Auslaufmodell“ und statt dessen die Agglomeration zur zukunftsfähigen Siedlungsform außerhalb der Städte erklären6, der Rechtfertigung. Gerhard Violand, Mitglied des Proponentenkomitees des Thaler Selbsthilfevereins, gibt uns ein erstes Stichwort. Das Dorf ist nicht nur eine Siedlungseinheit, das Dorf (...) ist eine Lebensform. 7

Sein Satz stellt in seiner kämpferisch behaupteten Gegenwärtigkeit solche Versuche, das Dorf auf ein historisches Abstellgleis zu drängen, in Frage. Die Gespräche, die die Forschungsgrundlage der vorliegenden Studie bilden, bestätigen die Präsenz dieser Haltung innerhalb des Forschungsfeldes. Sie liefern eine so hohe Dichte von Bezugnahmen auf das Dorf, daß seine Aktualität, jedenfalls als zentrale Referenzkategorie in der habituellen Orientierung der Gesprächspartner, außer Frage steht.8 Violand und seine Mitstreiter können sich an jenem Maitag des Jahres 1989, an dem der Satz ausgesprochen wird, dem Gründungstag des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal 9, bereits auf eine breite gesellschaftliche Rückbesinnung und einen Trend zur Umkehrung laufender Dorfzerstörungskampagnen stützen10, der, jedenfalls für das akademisch-architektonische Feld, mit der Postmoderne eng verknüpft ist.11 Erst die Postmoderne hat das Dorf für Architekten, innerhalb des Untersuchungsfelds vor allem auf 5 Insbesondere Österreichs an Vorarlberg grenzendes Nachbarland Schweiz befaßt sich intensiv mit der wirtschaftlichen, sozialen und ästhetischen Zukunft des ländlichen Raums und deutet damit seine „neutrale“, außerhalb der EU verharrende Außenseiterposition zum europäischen Zukunftslabor um (vgl. Eisinger, S. 4). Für die vorliegende Studie sind insbesondere die Veröffentlichungen des ETH Studio Basel (Diener u.a., 2006) sowie jene des think tanks Avenir Suisse von Interesse, darunter vor allem Eisinger (2003) und Rentsch (2006). 6 So stellt Eisinger in der Avenir-Suisse-Studie Stadtland Schweiz fest: „Die Begriffe ,Stadt‘ und ihr Gegenpol ,Land‘ gehören, wie man in Anlehnung an Roland Barthes sagen könnte – zu den Mythen unserer Gesellschaft (Barthes 1964). Sie operieren als ,Mitteilungssysteme‘, die Wissen diffus vermitteln und Kausalitäten vereinfachend festschreiben. Ihre Verwendung erhellt einiges, verdeckt aber anderes und banalisiert so unbewußt die zur Diskussion stehende Wirklichkeit.“ (S. 13) 7 Referat von Gerhard Violand anläßlich der Bürgerversammlung am 3. Mai 1989; in: Wirthensohn, Jb. 1990 8 Wie aktuell das Modell Dorf für die Identitätsbildung der Gemeinden Vorarlbergs außerhalb der habituellen Orientierung der befragten Bewohner ist, ist auf der Materialbasis der vorliegenden Studie nicht zu beantworten. Jedoch kann festgestellt werden, daß das Modell Dorf, als Chiffre für Subsistenz-

wirtschaft, vor allem dort favorisiert wird, wo die fortschreitende Globalisierung der Wirtschaft bereits negative Auswirkungen zeigt. Zeitgemäße Ansätze für eine Reanimation des Modells Dorf finden sich gegenwärtig also vor allem im Umfeld der organisierten Globalisierungskritiker. „Dort, in den Dörfern, müssen Lösungen gefunden werden“, schließt etwa Elmar Altvater mit Hinweis auf die „immer mächtiger werdende(n) bäuerliche(n) Graswurzelbewegung Via Campesina“ seinen Leitartikel „Stoßt den Dollar vom Thron“ über den G8-Gipfel in Italien (der freitag, 09.07.2009, S. 1). La Via Campesina („Der [klein-]bäuerliche Weg“) ist eine internationale Bewegung von Kleinbauern und Landarbeitern, gegründet 1993. Sie vertritt das Konzept der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft. Die Österreichische Bergbauernvereinigung (ÖBV), gegründet 1974, wurde 2005 in ÖBV – Via Campesina Austria umbenannt. Vgl. www.viacampesina.at Daneben sind Einzelpersönlichkeiten wie der Schweizer Architekt und ETH-Professor Gion Caminada zu nennen, der, neben seinem Lebenswerk, der Entwicklung des Graubündner Bergdorfes Vrin, mit dem langfristig angelegten Forschungsprojekt „Orte schaffen“ nach einer positiven Neubestimmung einer spezifisch „dörflichen“ Lebensform sucht. Früher noch als Caminada hat der Architekt Luigi Snozzi, ebenfalls Schweizer, mit dem langfristig angelegten Revitalisierungsprozeß eines Dorfes, Monte Carasso im Kanton Tessin, Zeitgenössische Architek-

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die „Zweite Generation“12 der Vorarlberger Baukünstler zu beziehen, neben einer Ressource formaler Inspiration auch als Profilierungsfeld attraktiv werden lassen.13 Für unser Vorhaben der sozialen Bestimmung eines zeitgemäßen Architekturbegriffs bietet die innige Verknüpfung von sozialen, baulichen und wirtschaftlichen Kategorien14, die der Begriff „Dorf“ bietet, eine besonders geeignete Voraussetzung, im Gegensatz etwa zum Verwaltungsbegriff „Gemeinde“, der lediglich die politische Identität des zugehörigen Siedlungsgebiets faßt. Im Hinblick auf den Gegenstand der Untersuchung, die Architektur, läßt eine Auseinandersetzung mit dem Dorf, insbesondere gegenüber der Stadtforschung15, einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn erwarten, der aus dem Kontrast des Gegenstands zum „fremden Umfeld“ resultiert. Zentrale, städtisch-akademische Konnotationen von Architektur werden erst vor dem Hintergrund des Dorfes wahrnehmbar. Gegenüber der Geschichte des Eugster-Hauses in Langenegg, die das Kapitel Haus durchzog, tritt im Reanimationsprozeß des Dorfes Thal der Architekt als Person weit stärker vor Ort in Erscheinung. Der Bregenzer Architekt Gerhard Gruber ist seit dem Umbau der Thaler Schule16 Ansprechpartner des Selbsthilfevereins in baulichen Belangen. Der Umbau der „Krone“ und tur als geeigneten „Motor“ positioniert, umfassende Revitalisierungsprozesse von Dörfern anzuleiten. (Vgl. Wirthensohns Parallelsetzung von Thal und Monte Carasso in seinem „Positionspapier“ 1997.) Die Tessiner Architektenszene darf als vorbildgebend für die gesellschaftliche Selbstpositionierung der „Zweiten Generation“ der Vorarlberger Baukünstler angesehen werden. Dieser Position stehen Institutionen gegenüber, die von der Voraussetzung positiv gedeuteter Agglomerationssituationen aus argumentieren. Für eine Verbindung aus architektonisch, städtebaulich, volkswirtschaftlich und kulturell orientierten Interessensvertretern steht in Vorarlberg etwa die Studie Vision Rheintal, die sich zur existierenden Agglomeration in der Rheinebene bekennt und deren Identität positiv zu bestimmen sucht. Nach der Einbeziehung in diese Studie kann rund ein Drittel der Vorarlberger Gemeinden dieser Agglomeration zugerechnet werden. Auch Avenir Suisse argumentiert zugunsten einer weltmarktorientierten Agrarpolitik und damit gegen das Modell Dorf. Für die gegenwärtige ländliche Identitätsbildung außerhalb der Agglomeration stellt Avenir Suisse etwa in Stadtland Schweiz fest: „Bauerndörfer wurden in einen ökonomischen, sozialen und siedlungsästhetischen Schwebezustand amorpher Identitäten katapultiert, aus welchem sie seither nicht herausgefunden haben.“ (Eisinger, S. 11) 9 Wirthensohn, Jb. 1990

10 „Die Maßnahme der Dorfsanierung hat sich von einer Modernisierung und teilweisen Beseitigung des Dorfkerns in eine Erhaltungsmaßnahme gewandelt“, stellt Baldenhofer unter dem Stichwort Dorferneuerung (S. 127) fest. 11 So etwa Aldo Rossis typologische Studien in Tessiner Dörfern im Rahmen seiner Architekturlehre an der ETH Zürich, interpretiert im Abschnitt Landhaus, Kapitel Haus, Anm. 35; vgl. Reichlin / Steinmann 12 Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?, Anm. 27 13 Im Rahmen einer touristischen Präsentation und Ausstattung der Dörfer hat in den 1970er Jahren bereits eine, auf das Untersuchungsfeld bezogen, „tirolerische“ Architektengeneration ihre Spuren in den Dörfern, vor allem der Skigebiete des Vorarlberger Oberlandes, hinterlassen. Diese Voraussetzung läßt die Profilierung der „Zweiten Generation“ der Vorarlberger Baukünstler auf dörflichem Feld auch als „Wiederaneignung“ innerhalb eines innerarchitektonischen Streits um territoriale Deutungshoheit erscheinen. 14 Vergleichbar dem Begriff Bauernhof „als Familienbetrieb mit der Einheit von Land, Familie, Haushalt und Gebäuden“ (den Rentsch in seiner Darstellung als „überholtes Idealbild“ bezeichnet). Rentsch (2006), S. 342 15 Die derzeit sich herausbildende Architektursoziologie sieht in der Stadtforschung ihr zentrales Forschungsfeld. Vgl. Delitz, S. 115

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der daran anschließende Neubau, das „Gemeinschaftshaus“, sind sein Hauptwerk im Dorf.17 Als zweiter wichtiger Gesprächspartner für die auf Thal bezogenen Abschnitte dieses Kapitels tritt Ernst Wirthensohn auf, Geschichtslehrer an einem Bregenzer Gymnasium und daneben als Verfasser des Thaler Dorfkalenders Chronist des dörflichen Lebens. Sein Interesse an Architektur als Medium der Dorfentwicklung ist geprägt durch seine Rolle als Bauherr des ersten Architektenhauses in Thal, eines Doppelhauses am später entstandenen Dorfplatz, für dessen Planung er Ende der 1980er Jahre einen Exponenten der zweiten Baukünstlergeneration beauftragt und diesen damit als lokalen Akteur ins Spiel gebracht hat.18 Landwirtschaft

Einige Kontexte, die das Auftreten von Architektur in ländlichen Gemeinden plausibel erscheinen lassen, konnten bereits im Kapitel Haus identifiziert werden. Der erweiterte Betrachtungsrahmen, den das Dorf uns nun bietet, rückt zusätzlich zum sozialen Umbau des ländlichen Raumes19, den im Bregenzerwald seit den 1980er Jahren das moderne ländliche Architektenhaus markiert, einen umfassenden wirtschaftlichen Umbau ins Blickfeld. Dessen wesentlichstes Kennzeichen ist die Auflösung der bis dahin gültigen Gleichsetzung von ländlichem Kulturraum und Agrarraum. Der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft als derjeniger Kulturform, die den ländlichen Raum als Siedlungsraum geschaffen und ihn bis zur einsetzenden Industria16 Umbau und Erweiterung der Volksschule Thal bearbeitete Gruber noch als Partner Gnaigers. GG: Z 272 ff 17 GG: Z 289 ff 18 Vgl. Wirthensohns Positionspapier, 1997 19 „Ländliche Gemeinden, die durch den Zugang von Familien der Mittelklasse zum Hauserwerb und den sich dadurch ausbreitenden Einfamilienhausbau baulich und sozial umgestaltet wurden.“ Eisinger, S. 76 20 Ernst Wirthensohn illustriert diesen Prozeß, indem er die wirtschaftliche Situation der Thaler Bevölkerung schildert: „Wie siehts mit der Einkommenssituation aus? Wovon leben die Thaler? Gibts noch Landwirtschaft? Klein, alles nur noch klein. Im Grund eine Pendlergemeinde. Rheintal großteils, Deutschland, ein paar sogar in die Schweiz. Aber der Großteil Rheintal. Und wieviele Thaler sind berufstätig? Hundertfünfzig wahrscheinlich. Und in Thal selber haben vielleicht, die zehn Bauern, die es noch gibt, mit den Frauen, die meisten haben keine Frauen mehr, die jungen der Reihe nach nicht, ein Problem, das überall ist. (...) Das sind vielleicht insgesamt dreißig Leute, die hier in Thal noch Existenz haben. Von hundertfünfzig.“ (EW 1: Z 1052 ff) 21 „Der politische Prozeß in der Schweiz hat unübersehbar an Dynamik gewonnen, auch dank Avenir Suisse“, urteilt etwa Lukas Egli in brand eins (Hamburg), 11/09, S. 89.

Die Veröffentlichungen von Avenir Suisse zur Entwicklung der Landwirtschaft betonen, daß die Schweizer Agrarpolitik Vorreiter für Entwicklungen sei, die anschließend von den angrenzenden EU-Ländern, darunter Österreich, übernommen werden. Österreich bietet wegen der geographischen Ähnlichkeit seiner Agrarflächen zur Schweiz, dem hohen Bergbauernanteil unter seinen Landwirten und der ähnlichen Größe der Gesamtbevölkerungen ideale Voraussetzungen für wissenschaftliche Vergleiche und konkrete Übernahmen der Resultate. Vgl. Rentsch (2006), S. 32 22 Der Begriff „genetische Vorrangstellung“ meint hier diejenige Gestaltungskraft der Landwirtschaft für die ländliche Lebensform, die ihre Legitimität aus dem „Schöpfungsakt“ der Überführung von Natur- in Kulturlandschaft bezieht. 23 Rentsch (2006), S. 122 24 „Landflucht“ ist ein Effekt des Bedeutungsverlustes der Landwirtschaft, der sich, vor allem in bergbäuerlichen Siedlungsgebieten, bis zur vollständigen Entvölkerung steigern kann. Die Bewertung dieses Phänomens ist umstritten: Der Position, durch gezielte staatliche Bergbauernförderung eine flächendekkende Mindestbesiedlung aufrechtzuerhalten, steht seit der Veröffentlichung von Die Schweiz - ein städtebauliches Porträt (Diener u.a., ETH-Studio Basel 2006) der Vorschlag gegenüber, die Entvölkerung zuzulassen und die ehemaligen agrarischen Grenzer-

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lisierung als konkurrenzlose Wirtschafts- und Sozialform geprägt hat20, ist das folgenreichste Ereignis in diesem Prozeß. Heute schätzt Avenir Suisse, Schweizer think tank und als solcher Impulsgeber für wirtschaftspolitische Weichenstellungen21 nicht nur der Schweiz, sondern auch EU-Europas, die genetische Vorrangstellung22 der Landwirtschaft als überholt ein: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Lebensfähigkeit ländlicher Regionen (...) in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht zentral mit der Situation der Landwirtschaft verknüpft.“23 Konkret stützt sich Avenir Suisse auf den Nachweis, daß seit 1970 keine Abnahme der ländlichen Bevölkerung mehr zu verzeichnen ist, daß also die „Landflucht“24 mittlerweile durch eine „Stadtflucht“ abgelöst sei.25 Die Landwirtschaft, als Wirtschaftssektor betrachtet, erfährt nach einer Phase der bäuerlichen Selbstorganisation in Verwertungsgenossenschaften26 im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert seit den 1920er Jahren zunehmende wirtschaftliche Eingriffe in Form staatlicher Preisstützungen27, die seit den 1990er Jahren, wiederum ausgehend von der Schweiz, durch Direktzahlungen an die Landwirte ersetzt worden sind.28 Der Fortbestand dieser Stützungsleistungen als gesellschaftlich zunehmend schwerer vermittelbare Agrarsubventionen29 wird gegenwärtig hinterfragt, ein Konflikt, der in einer Definition „neuer gesellschaftlicher Aufgaben“ der Landwirtschaft30, als „Multifunktionalität“31 kategorisiert, einer Lösung zugeführt werden soll. Aus tragsregionen in touristisch genutzte „Resorts“ umzuwandeln oder aber zu „Brachen“ werden zu lassen. 25 Rentsch (2006), S. 121 26 Für den Bregenzerwald sind vor allem Käsereigenossenschaften zu nennen, die die vormalige Dominanz der „Käsebarone“ brechen. Vgl. Bilgeri, Bd. IV, S. 438 ff, für Vorarlberg, Rentsch (2006), S. 46, für die Schweiz 27 Beispiele sind der Milch- und Fleischpreis, subventionierte Futtermittel- und Treibstoffpreise. 28 Die Schweiz hat 1992 als europaweiter Vorreiter Preisstützungen für Agrarprodukte durch Direktzahlungen an die Landwirte abgelöst. Vgl. Eisinger, S. 133 29 „Agrarförderungen werden in der Gesellschaft (...) immer weniger akzeptiert“, stellen etwa Salomon und Kugler in einem Interview mit dem österreichischen Umweltminister Berlakovich (ÖVP) fest. Die Presse, 09.01.2010, S. 4 30 Eine heutige soziale Neupositionierung der Landwirtschaft ist etwa in ihrer aktuellen Rolle als „erzieherisches“ Modell zu sehen. Als „Agrotourismus“ liegt darin eine erhebliche ökonomische Wertschöpfung. Der Zug ÖBB EC 660 Bregenz–Wien Westbhf. trägt den Markennamen Urlaub am Bauernhof täglich quer durch Österreich. Der Landwirtschaftsweg, den die Schweizer Berggemeinde Urnäsch (AR) den Gästen ihres REKA-Feriendorfs bietet, ist eine Form der Vermittlung und

ökonomischen Aktivierung dieser neuen gesellschaftlichen Bedeutung der Landwirtschaft. Vor allem im Rahmen systematischer Kontaktaufnahme der Landwirtschaft mit akademisch sozialisierten Konsumenten wird Architektur für die Landwirtschaft interessant, wie Vorarlberger Beispiele architektonisch gestalteter Bauernhöfe erkennen lassen. Als zusätzliche Funktionen bieten diese etwa Seminarsaal und Hofladen sowie Veranstaltungsprogramme, etwa ein Angebot für Kindergeburtstage. Wo diese Neuausrichtung fehlt und Bauern ihren Hof primär als „Gewerbebetrieb“ sähen, bestünde in deren Augen auch keine Notwendigkeit, „für Planung Geld auszugeben“, wie Gerhard Gruber aus eigener Erfahrung mit solchen Planungsaufgaben mitteilt. (GG: Z 1044 ff) Aus der Bewertung des ländlichen Raumes als Wirtschaftsstandort in Kombination mit dem Nachweis, der Beitrag der jeweils nationalen Landwirtschaft zur Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung sei in der öffentlichen Meinung überbewertet, beziehen etwa Hofreither (für Österreich) und Avenir Suisse (für die Schweiz) ihre Empfehlung, der Landwirtschaft ihren volkswirtschaftlichen Sonderstatus abzuerkennen und sie künftig einem Leistungswettbewerb mit „nichtagrarischen Anbietern“ solcher Dienstleistungen, wie der „Landschaftspflege“, auszusetzen. Hofreither, wie Anm. 30 31 Vgl. Hofreither, S. 55

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der Perspektive der vorliegenden Studie ist an diesem Prozeß vor allem die Widmung ländlicher Räume als Siedlungsgebiet und darüber hinaus ihre gesellschaftliche Wahrnehmung als Kulturraum von Interesse32, eine Neuorientierung, die durch das Nutzungs- und Deutungsvakuum, das der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft hinterlassen hat, erst möglich und notwendig geworden ist. Ort als Standort

Der gegenwärtige Umbau des ländlichen Raumes greift auf das Dorf über, indem sich dessen Außenwahrnehmung „vom Ort zum Standort“33 verschiebt, ein Prozeß, der aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als Zugriff neuer sozialer Eliten zu verstehen ist. Im Vorgang einer zeitgemäßen, weil global vernetzten Ökonomisierung des ländlichen Raumes erhält der Auftritt von Architektur im Dorf eine Plausibilität, die über die im Kapitel Haus herausgearbeiteten sozialen Prägungen und individuellen Profilierungen der Bauherren und Architekten hinausgeht. Architektur ist imstande, die Effekte der ansonsten nur indirekt wahrnehmbaren sozialen und wirtschaftlichen Umstrukturierungsvorgänge zu „visualisieren“ und damit einer Bewertung zugänglich zu machen, deren Kategorien diejenigen eines globalen Standortwettbewerbs34 innerhalb einer „vollständig ökonomisierten Lebenswelt“35 sind. Selbst normative Institution, wirkt Architektur darüber hinaus als „Modernisierungsmotor“ des ländlichen Raumes, wie zu zeigen sein wird. Thal, am Südufer der Rotach, unmittelbar an der Staatsgrenze Österreichs zu Deutschland gelegen, besitzt keine eigene Verwaltung, sondern ist eine „Fraktion“36 Sulzbergs im Vorderen Bregenzerwald.37 Insofern ist Thal ein Dorf, ohne gleichzeitig Gemeinde zu sein. Die Antworten auf die bis hierher 32 Für eine Verknüpfung von ländlichem Siedlungsraum, seiner agrarischen Widmung und einem daraus abgeleiteten Kulturbegriff steht besonders der Nationalsozialismus Deutschlands und Österreichs und der italienische Faschismus. Deren totalitäre Verwaltungssysteme haben großangelegte Kampagnen zur Neugründung von Bauernhöfen durchgeführt sowie Umsiedlungskampagnen bäuerlicher Gesellschaften geplant und teilweise realisiert, die, wie die Umsiedlung der Südtiroler, in das Forschungsgebiet der vorliegenden Studie hineinwirken. Die intensive wissenschaftliche Erforschung agrarischer Sozial- und Kulturformen, die zur Zeit des Nationalsozialismus stattfand, bezog sich auf diese Siedlungs- und Raumordnungsvorhaben. So etwa Ferdinand Ulmer: Die Bergbauernfrage; Innsbruck 1942, zweite Auflage 1958. Ulmer erwähnt im Vorwort zur zweiten Auflage parallele Forschungskampagnen im faschistischen Italien: „Damals [1940] hatte das Instituto nazionale di economia agraria ein siebenbändiges Werk über die Gebirgsentvölkerung in Italien herausgegeben.“ In Deutschland fand die staatszentralistische,

agrarisch konnotierte Siedlungspolitik des Nationalsozialismus eine Fortsetzung in der landwirtschaftlichen Boden- und Betriebsreform der DDR. Unter dem Motto „Junkerland in Bauernhand“ wurden zunächst Großgrundbesitzer enteignet, anschließend die landwirtschaftlichen Flächen parzelliert und neben der Schaffung „volkseigener Güter“ (VEG) Einzelhöfe gebildet, später diese wiederum zu „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“ (LPG) zusammengeschlossen. Vgl. Baldinger, S. 104 f 33 Eisinger, S. 13 34 „Die Kosten für die Raumüberwindung haben in den vergangenen Jahrzehnten laufend abgenommen. (...) Im gleichen Zeitraum wurden die Hemmnisse für den Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Arbeit, Kapital und Wissen im Zuge der europäischen Integration sowie durch GATT und WTO immer weiter abgebaut. Diese veränderten Rahmenbedingungen führten zur Vergrösserung von Marktgebieten, zum Abbau regionaler Monopole, zur Verschärfung der Konkurrenz zwischen Unternehmen sowie zu Märkten und Produktionsformen, welche Länder und Re-

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nur angedeutete Krise werden im wesentlichen durch seinen Selbsthilfeverein artikuliert. Weitere Modellsituationen verbreitern die Basis der Befunde dieses Kapitels, so der Bau des neuen Ortszentrums in Langenegg, eine Initiative, die 2009 mit dem soeben gegründeten Baukulturgemeindepreis gewürdigt wurde38, der Nachvollzug einer privaten Entwicklungsinitiative in der Schwarzenberger Parzelle Stangenach sowie eine erneute Befassung mit der Siedlung Im Fang in Höchst, diesmal ihrer Haus- und Gemeinschaftsordnung, die einen Versuch darstellt, dörfliche Lebensformen auf ein außerdörfliches Umfeld, eine in der Agglomeration Rheintal gelegene Siedlung, zu übertragen. Indem solchermaßen das Spektrum derjenigen Verflechtungen zwischen Dorf und Architektur angerissen wird, die für Vorarlberg charakteristisch sind, wird im Fortgang des Kapitels Dorf die gesellschaftliche Voraussetzung anschaulich, unter der die Gestaltungsbeiräte etabliert werden konnten, die in Vorarlberg mittlerweile ein Drittel der rund einhundert Kommunen des Landes in Baugenehmigungsverfahren beraten und auf der Verwaltungsebene der Gemeinden das architektonische Urteil zu Fragen der baulichen Entwicklung in einem Umfang politisch institutionalisiert haben, der österreichweit einzigartig ist.39 Die systematische Gegenüberstellung des aufs Bauliche fixierten Architektenblicks mit dem Blick auf das menschliche Handeln wird das gesamte Kapitel durchziehen, denn erst in dieser Gegenüberstellung wird der Vorgang der architektonischen Ästhetisierung40 identifizierbar, den das Baugeschehen im ländlichen Raum Vorarlbergs gegenwärtig durchläuft. Deutlich zu machen ist, daß das Primat des Ästhetischen, das in der systematischen Installation dörflicher Gestaltungsbeiräte in Vorarlberg seinen rechtspolitischen Ausdruck gionen zunehmend voneinander abhängig werden liessen. Der weltweite Prozess der wachsenden volkswirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen, touristischen, technischen und kommunikativen Vernetzung wird auch als Globalisierung verstanden.“ Eisinger, S. 87 35 Vgl. Habermas (1981) 36 Ein „Fraktionsvorsteher“ vertritt die „Fraktion“ Thal innerhalb der Verwaltungsgemeinde Sulzberg. Daneben erlaubt eine „Thaler Liste“, zwei Gemeinderatssitze zugunsten Thals zu besetzen. Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens dieses Kapitels 37 „Der Bregenzerwald war frei. Und wir waren Untertanen von Bregenz. Mehrerau. Arme, bäuerliche Untertanen. (...) Der Sulzbergstock hat nichts mit dem Bregenzerwald zu tun. Jetzt, für den Fremdenverkehr, drucken sie Bregenzerwald [auf ihre Prospekte].“ (EW 2: Z 992 ff) 38 Langenegg war unter den acht von 24 Einreichungen aus ganz Österreich, die als „LandLuft Baukulturgemeinden 2009“ ausgezeichnet wurden (pressetext austria vom 10.11.2009).

39 Paul Raspotnig hat Ende 2007 an der TU Wien eine Dissertation Planungsbegutachtung durch Gestaltungsbeiräte vorgelegt. Seine aktuellen Daten sind österreichweit erhoben und erlauben damit, die Vorarlberger Situation quantitativ einzuordnen. 40 „Ästhetisierung“: Ersatz des ländlichen Lebens durch dessen Darstellung für diejenigen, die nicht daran teilnehmen /teilhaben. Bereits in der modernen Architekturform, die in den ländlichen Bautenkontext gesetzt wird, geschieht eine solche „Musealisierung“ des Umfelds, das mit dem „abstrakten“ Bauwerk ein neues Gegenüber erhält. Eine temporäre Ästhetisierung stellt die Inszenierung der Ausstellung Handwerk+Form (vgl. Abschnitt Reform des Handwerks: Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk) als Musealisierung des Dorfes Andelsbuch dar – insbesondere deutlich im Vergleich zum zwei Wochen später stattfindenden Pferde- und Geißenmarkt, der die Hauptsache lakonisch abhandelt und das Volksfest sowie die Verpflegung der Besucher zum Vordergrund macht.

Rolle der Gestaltungsbeiräte

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findet, Ergebnis einer Richtungsentscheidung und nicht „natürliche“ Konsequenz einer Modernisierung der „Lebensform Dorf“ ist. Andere Regionen, etwa im Schweizer Nachbarland, reagieren auf vergleichbare Krisenszenarien anders, belassen die Entwicklung der Gestalt des Dorfes stärker beim einzelnen Bauherrn und konzentrieren dörfliche Entwicklungsarbeit auf die soziale Vernetzung der Bevölkerung, indem sie Identifikation über handlungsorientierte Prozesse herstellen.41 Die baulichen Aktivitäten des Thaler Selbsthilfevereins, die vor allem prozeß- anstatt ergebnisorientiert und damit primär als Mittel der Selbstbehauptung anzusehen sind, indem sie das Bauen in Form einer in den Vereinsstatuten festgeschriebenen Selbstverpflichtung zu „Fronarbeit“42 organisieren, sind daher, wie der nächste Abschnitt dieses Kapitels verdeutlichen wird, ebenfalls unter die Gegenmodelle zur architektonischen Ästhetisierung zu zählen. Bauten und soziale Institutionen

Grubers eingangs zitierte Darstellung repräsentiert den durch seine Profession geprägten Blick eines Architekten, indem sie das sonntägliche Leben des Dorfes entlang seiner räumlichen Stationen und dinglichen Repräsentanten43 beschreibt, zu denen Kirche und Kirchplatz ebenso gehören wie das Gasthaus mit seinem Stammtisch, das hier, weil unzugänglich geworden, in der Kirchenstiege und dem Kasten Bier aus dem Vorrat des Pfarrers einen improvisierten Ersatz finden muß. Ernst Wirthensohn füllt die Dingkulisse der Architektenwahrnehmung mit handelnden Personen und ergänzt so das baulich bestimmte Dorf durch das Dorf der Persönlichkeiten und der sozialen Institutionen als den eigentlichen Bewegern des gesellschaftlichen Lebens. Es ging bergab mit der Landwirtschaft, es ging bergab, daß Betriebe zugemacht haben, und 88 dann die ganz große Krise, als das letzte Gasthaus, eben die „Krone“,

41 Gion Caminada, Architekt und langjähriger Gemeindepräsident seines Heimatdorfes Vrin im Schweizer Kanton Graubünden inszeniert, 2009 in der Vriner Turnhalle die Geschichte des Dorfes als Theaterstück. Die Gemeinde Urnäsch im Kanton AppenzellAusserrhoden bietet Beispiele, die in der Würdigung zum Dorferneuerungspreis genannt sind. Daneben ist die intensive Bürgerbeteiligung in politischen Entscheidungsfindungen zu nennen, gegründet im basisdemokratisch geprägten Schweizer Politikverständnis, das den Gemeinden eine weitreichende Souveränität einräumt. 42 Art.3 Mittel zur Erreichung des Vereinszwecks nennt unter Punkt. 2 u.a. „Fronleistungen der Vereinsmitglieder“; in: Wirthensohn, Jb. 1992 43 Thomas Düllo grenzt in seinem Habilitationsvortrag Material Culture – zur Neubestimmung eines zentralen Aufgaben- und Lernfelds für die Angewand-

te Kulturwissenschaft den Begriff Ding gegenüber Objekten und Sachen ab: Dinge seien alle materiellen Gegenstände, also alle berührbaren und sichtbaren Dinge, die den Menschen umgeben, wobei der Umgang mit diesen Dingen eine herausragende Rolle spielt. Objekte seien vergleichbar mit einem Fenster, durch das man die Welt betrachtet, um zu erfahren, was sie uns über Geschichte, Gesellschaft, Natur und Kultur zu sagen haben. Sachen seien dagegen nur die vom Menschen geschaffenen Objekte, also Artefakte. 44 EW 1: Z 32 ff 45 Ebendiese Kombination aus Landwirtschaft und „außerlandwirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten“ ist für periphere Regionen des ländlichen Raums, die aufgrund von Erschwernissen der agrarischen Bewirtschaftung lediglich eine Nebenerwerbslandwirtschaft zulassen, typisch. Hofreither in: Rentsch (2006), S. 118 46 Wirthensohn, Jb. 1990

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kurz vor dem Schließen war. Kein Gasthaus mehr, kein Lebensmittelgeschäft mehr, die Schule im Schwanken, ob man sie überhaupt weiterführt, Kindergarten gabs noch keinen damals. Also praktisch, die wichtigsten Institutionen des Dorfes waren am Ende, oder kurz vor dem Ende. Und da war das Problem da, daß der Wirt, der ein alleinstehender Mann war, der den Betrieb da einigermaßen geführt hat, das Haus war sehr desolat, aber immerhin noch geführt hat, auch den Laden noch geführt hat, daß der einen Hirnschlag gehabt hat, und praktisch von einem Tag auf den anderen die ganze Bude hier zu war. Und dann, natürlich haben sie Alarm gegeben, die Leute. Und dann wars so schlimm, daß man gesagt hat, da muß man sofort was im Dorf machen. Da haben sich dann ein paar Leute zusammengetan und haben diesen Verein, diese Vereinsidee, gegründet.44

Wirthensohn hinterlegt seine Feststellung, daß Thal in seinem Fortbestand bedroht sei, mit einem komplexen Ursachenbündel, das im krankheitsbedingten Ausfall eines einzelnen Mannes, des Wirts der Krone, kulminiert. Neben solchen inneren Faktoren, die außer der Schließung des Gasthauses auch jene des vom Wirt mitbetriebenen Ladens umfassen, führt Wirthensohn eine von außen bestimmte Krise an, die die wirtschaftliche Existenzsicherung der Dorfbewohner bedroht und sich als Niedergang der Landwirtschaft und in Betriebsschließungen manifestiert.45 Die Existenzgefährdung der Schule und das Fehlen eines Kindergartens illustrieren indirekte, demographische Folgen für die Bewohner des Dorfes, wie Abwanderung, Geburtenrückgang und Überalterung. Alle Problembereiche erscheinen zunächst gleichermaßen unzugänglich und unveränderbar. Der am 3. Mai 1989 formell gegründete Selbsthilfeverein Dorfgemeinschaft Thal wird zum Mittel des Zugriffs auf die inneren Faktoren der Krise.46 Der Verein erwirbt das Gasthaus Krone und organisiert dessen kurzfristige Instandsetzung sowie längerfristig den Neubau seines Wirtschaftsteiles. Im fertiggestellten Zustand47 finden in dem Gebäude, jetzt Gemeinschaftshaus48 genannt, neben Gastwirtschaft und Dorfladen ein Jugendraum, ein Zimmer für den wöchentlichen Arztbesuch, das auch als Wahllokal genutzt wird49, der Proberaum für die Blaskapelle, ein Banklokal der Raiffeisenbank sowie die Bühne für den im Obergeschoß des Altbaus liegenden Festsaal ihren Platz. Auf dem Höhepunkt der Krise helfen die auf der Kirchenstiege versammelten Männer also zunächst ihrer „Heimatlosigkeit“ ab und schaffen mit dem Gasthaus ihren50 Ort des Austauschs neu, dem Ort, der neben der inneren Kommunikation und Versorgung auch dorfinternen Geschäftsabschlüssen 47 Der Saal, als letzter Bauabschnitt des „Gemeinschaftshauses“, wird im Herbst 2007, nahezu zwei Jahrzehnte nach Gründung des Vereins, fertiggestellt. Der neue Thalsaal; in: Wirthensohn, Jb. 2007 48 Erstmals in: Referat von Gerhard Violand anläßlich der Bürgerversammlung am 3. Mai 1989; in: Wirthensohn, Jb. 1990 49 EW 2: Z 1030 ff 50 Ernst Wirthensohn erinnert in seiner Schilderung des Dorflehrers Alfons Fritz an dessen eindringliche Stellungnahmen gegen den Genuß von Alkohol

und Nikotin. Das Gasthaus erscheint aus dieser Perspektive als öffentlicher Ort, der einen anderen sozialen Habitus als den der dörflichen Akademiker, Lehrer und Pfarrer, repräsentiert. Wirthensohn über Fritz: „Und war halt hier neben dem Pfarrer der ungekrönte Kaiser hier im Dorf. Wie es überall war. (...) Das war ein ganz eigener Mensch im Dorf, ich kann mich nicht erinnern, daß der einmal im Gasthaus war.“ (EW 2: Z 258 ff) 51 EW 1: Z 637 ff

Gasthaus als Ort des Austauschs

Ort der Männergesellschaft, Ort der Frauengesellschaft des Dorfes

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dient.51 Ohne daß in den Gesprächen mit Wirthensohn und Gruber davon ausdrücklich die Rede ist, darf aus deren auf Männer fixierten Bestimmung des Sozialen geschlossen werden, daß auch die Frauen ihren gemeinsamen Ort besitzen. Die Doppelfunktion des Kronenwirts, der neben dem Gasthaus auch den Laden betrieben hat, läßt annehmen, daß der Laden für die weibliche Dorfbevölkerung ähnliche soziale Funktionen erfüllt, nämlich informelle Begegnung und Austausch ermöglicht, wie das Gasthaus für die Männer.52 Das wiedereröffnete Gasthaus gibt dem Dorf neben seiner internen Funktion ein Fenster nach draußen. Der neue Pächter, ein engagierter Koch, verschafft dem Gasthaus einen weitum gerühmten Ruf und macht es zum beliebten Ausflugsziel, ein Magnet, der gleichzeitig dem Selbsthilfeverein ein überörtliches Forum gibt.53 Organisation der Dorfbevölkerung

Wirthensohn schildert die Gründung des Selbsthilfevereins als „teilnehmender Beobachter“ der dörflichen Gesellschaft. Selbst einer Thaler Familie entstammend, erlebt er die Organisationsstruktur, die ein Verein bietet, als Selbstverständlichkeit. Die implizite Ebene seines Berichts liefert uns erste Anhaltspunkte zur sozialen Struktur des Dorfes. Es waren vier oder fünf Leute, vier, fünf Männer aus dem Dorfraum so, die das in den Griff genommen haben. Vereinsvorstände, und so weiter.54

„Leute“ setzt Wirthensohn hier mit „Männer“ gleich. Das In-den-Griff-Nehmen, die Restrukturierung des Dorfes, ist Männersache. Wirthensohn präzisiert: Vereinsvorstände seien dies vor allem gewesen. Demnach strukturieren Vereine die Dorfbevölkerung, deren Segmente durch die Vereinsvorstände vertreten werden. Nicht jeder einzelne Dorfbewohner ist Mitglied im neugegründeten Selbsthilfeverein, doch sind Wirthensohn zufolge „nahezu alle Familien vertreten“.55 Der Ebene der Vereine vorgeordnet, ist also die Familie als primäre Organisationsform der Dorfbevölkerung anzusehen. Wirthensohn unterscheidet die Thaler Familien anhand ihrer Kraft zur Initiative. Wenn man historisch das erarbeitet, man stößt immer wieder auf Familien, wo das so irgendwie durchgeht. Wo sich das fortpflanzt. So initiative Familien, die für uns auch wichtig sind. (Damals gabs) ein paar und sind auch jetzt ein paar einfach wichtige, die sehr initiativ sind.56 Familien als Speicherort für Erfahrung

Initiative Familien sind solche, zu deren Erfahrung es gehört, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen, etwas zu bewegen. Die Familie ist der Speicherort für diese Erfahrung, zumal die Großfamilie, in der mehrere Generationen zusammenleben und hierdurch lebendige Erfahrung aus einem ganzen Jahrhundert oder sogar einem noch längeren Zeitraum präsent gehalten werden kann.57 52 Wirthensohn berichtet in seinem Lebensbild der verstorbenen Judith Flatz von „um den Küchentisch“ versammelten Frauenrunden, Hostube genannt. In seiner Regelmäßigkeit, „jeden Sonntag nach der Messe“, bildet diese das Pendant zum „Frühschoppen“ der Männer, dessen Ort das Gasthaus, oder aber „seiner-

zeit, als die Groschen knapp saßen“, die „Mesnerhausstube“ gewesen sei. Wirthensohn, Jb. 1994/1995 53 GG: Z 503 ff 54 EW 1: Z 58 ff 55 EW 1: Z 75 56 EW 1: Z 450 ff

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Die Siedlungsstruktur des Bregenzerwaldes mit seinen verstreuten „Parzellen“, Weilern mit eigener Identität, die jeweils ursprünglich auf den Hof einer Siedlerfamilie zurückgehen58, verstärkt den familiären Zusammenhalt noch dadurch, daß sie der Familie und ihrem Haus einen identifizierbaren Ort in der Landschaft zuweist. Daß diese enge Verknüpfung von Parzelle und Familie noch heute spürbar ist, bestätigt neben Ernst Wirthensohn auch Wolfgang Schmidinger, Tischlermeister in Schwarzenberg, der bereits im Abschnitt Architektenhaus als Bauherr in Erscheinung getreten ist. Seine Schilderung soll hier eingeschoben werden, da sie einen Fall beschreibt, der eine aktuelle Fortschreibung der traditionellen Siedlungsstruktur aufgrund der Konnotation der Parzelle als „Familiendorf“ darstellt und damit Wirthensohns implizite Gleichsetzung der Begriffe „Parzelle“ und „Familie“ zu illustrieren geeignet ist. Schmidinger baut in den Jahren 1992–94 neben dem bestehenden Elternhaus in der Schwarzenberger Parzelle Stangenach, dessen Anbau die Tischlerei beherbergt, sein Wohnhaus.59 Auf den Wunsch seiner Cousine nach einem eigenen Bauplatz hin gibt er bei seinem Architekten einen Parzellierungsplan in Auftrag, der ausdrücklich die Weiterentwicklung der Siedlungsfigur der Parzelle berücksichtigen soll.60 Die in dem Vorschlag fixierte Rundgruppierung der Häuser nimmt für ihn „diese Kernsache“61, den Typ der für Schwarzenberg charakteristischen „Kernparzelle“ auf62. Konstituierend für diese Siedlungsform ist der Brunnen, die ursprünglich einzige Wasserversorgung der rundum gruppierten Häuser in einer Gegend, in der fehlendes Grundwasser eigene Hausbrunnen verunmöglicht. Die Bauern organisierten sich zu genossenschaftlichen Brunnengemeinschaften, die Wasserleitungen von oberhalb liegenden Quellen in die Parzelle legten.64 Die Versorgung mit Trinkwasser ist ein gemeinsamer Akt, der wiederum Gemeinschaft bildet und Nähe erfordert. Der Weg und der Zugang zum Brunnen werden ebenso zum räumlichen Ausdruck der sozialen Gemeinschaft des Weilers wie die rundgruppierte Anordnung ihrer Häuser. Schmidingers Darstellung des Brunnens als zentrumsbildender „Tränkstelle“65 verknüpft die Siedlungsfigur der Parzelle mit dem Bild einer Viehherde.66 Die Häuser stehen um den Brunnen, wie vom Brunnen trinkendes Vieh. 57 Wirthensohn erwähnt in einigen seiner Lebensbilder über „Die Verstorbenen von Thal“ aus den 1990er Jahren (u.a.Wirthensohn, Jb. 1991/ 1992) das in diesen Biographien und Familiengeschichten präsente „Jahrhundert Napoleons und Goethes“, oder „die Goethezeit“. 58 Vgl. Niederstätter (2005), S. 4 59 Vgl. auch Architektenhaus im Kapitel Haus 60 WS 1: Z 812 ff 61 WS 1: Z 743 62 Daneben gibt es, wie Schmidinger erläutert, in

den Talebenen des Bregenzerwaldes, etwa in Andelsbuch, das „Straßendorf“ als weiteren prägenden Typ für die Siedlungsstruktur des Bregenzerwaldes. (WS 1: Z 743 ff) 64 WS 1: Z 760 ff 65 WS 1: Z 758 66 Die etymologisch gegebene Verknüpfung zwischen den Kulturtätigkeiten des Einhegens, des Bauens und den Bewegungen, die die Herde auf der Weide vollführt, wurde bereits im Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? erwähnt.

Parzelle und Familie

Herstellung der Wasserversorgung als gemeinschaftsbildender Akt

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Wegestruktur und Siedlungsfigur konservieren die soziale Gestalt des Weilers

Der Brunnen hat seine ursprüngliche Funktion als Wasserversorgung der Häuser verloren, seit jedes Haus über einen eigenen Wasseranschluß verfügt. Die Wegestruktur der Parzelle, vom Brunnen als zentralem Zielpunkt präfiguriert, existiert aber fort. Weiterhin läuft der gesamte Anrainerverkehr über den zentralen Platz und erhält diesem die Funktion einer sozialen Bühne. Um diese soziale Raumbestimmung zu veranschaulichen, bedient sich Schmidinger der Perspektive seiner alten Eltern, deren einzig verbliebene Form der Teilhabe am sozialen Leben der Blick aus dem Fenster auf diesen Platz ist. Ihre „Kommunikation“67 ist der Blick auf das Kommen und Gehen. Schmidinger schildert seine am Fenster sitzende Mutter, wohl weil sich der Vater bis ins hohe Alter in der Tischlerwerkstatt aufhält. Die Reaktion der Passanten mag aus einem Winken oder einem kurzen Gespräch am Fenster bestehen. Demgegenüber ist der Ausblick in die Landschaft, nach den Maßstäben der Generation Schmidingers ein erstrebenswertes Gut, für die unbeweglichen alten Leute wertlos, ein Abgeschnittensein von der Teilhabe am sozialen Leben. Die Wertschätzung des Landschaftsausblicks, zentrales Kriterium heutiger Hausplazierungen, setzt voraus, daß deren Bewohner entweder ausreichend mobil sind, um soziale Gemeinschaften aufzusuchen, oder aber bereitwillig die physische Präsenz von Gesellschaft durch Telefon und TV ersetzen.68

Parzelle als Familienbastion

Drei der Häuser der Parzelle Stangenach werden nun von Familie und Verwandtschaft bewohnt. Die rundgruppierte Parzellenanordnung der Häuser steht hier also nicht nur für die funktionelle Gemeinschaft, die der Brunnen symbolisiert, sondern zusätzlich für den „Kreis der Familie“, eine Sichtweise, die im Gespräch die Frage aufwirft, wer zu dieser gehört und wodurch der Zugang zu dieser ermöglicht wird. Schmidinger beschreibt seine Beziehung zur Parzelle Stangenach als „Heimat“, die so sehr „Selbstverständlichkeit“ ist, daß er zwischen „innen“ und „außen“ nicht mehr unterscheiden kann, also die Distanz nicht herzustellen imstande ist, diese Heimat aus der Sicht eines Außenstehenden zu beschreiben: „Wie ist es, ja.“69 Zu den Außenstehenden zählt er bereits seine Ehefrau, die aus einem Nachbardorf stammt.70 Was einen solchermaßen Außenstehenden nach dem „Hereinziehen“ zugehörig macht, vollzieht sich in seiner Diktion als „Wachstum“: „Man wächst da mit hinein.“71 Indem Schmidinger sein Haus gesetzt und mit dem Parzellierungsplan Kriterien für „sein Dorf“72 gesetzt hat, wacht er aufmerksam über die Bereitschaft jedes potentiellen neuen Nachbarn, diese Kriterien zu respektieren und den ihm gewährten Platz einzuhalten. Im Fall eines Interessenten für das einzig noch freie Baugrundstück der Parzelle, etwas zurückgesetzt zwischen seinem Wohnhaus und der Tischlerei gelegen, bietet das zu gewährende Wegerecht Schmidinger die Handhabe, durchzusetzen, daß dieser „nicht ausufert mit seinem Ding“.73

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Ich hab dem gesagt, (...) Du kannst da ohne weiteres meinen Weg benutzen und drüberfahren, aber bevor ich dem zuwillige, möchte ich den Plan sehen.74

Der Familienaspekt, die Konnotation der Parzelle Stangenach als „Familienkreis“, verleiht der folgenden Eingliederungsdebatte mit dem potentiellen Nachbarn eine Note, die dessen Wunsch nach räumlicher Distanz75 zu diesem Familienkreis nachvollziehbar macht, letztlich aber den Wechsel des Bauwerbers auf ein Grundstück am gegenüberliegenden Ende Schwarzenbergs erzwingt. Die Parzelle Stangenach ist, dem Familienkonzept folgend, noch intakt, weil die der Baustruktur zugrundeliegende Gemeinschaft ungestört ist. Schmidinger: Ich weiß nicht, wie lange es dauern würde, bis mich das nicht mehr stört, das würd auf Lebenszeit, würd das so sein, wenn ich einen Nachbarn hätte, und irgendwie, der ufert da aus mit seinem Ding, und hätt da überhaupt nicht das Verständnis dafür, das würd mich (lacht), das würd mich brutal stören.76

Die ästhetischen Anforderungen, die Schmidinger nennt, deuten auf eine Verfeinerung seiner eigenen Wahrnehmung hin, die er seiner eigenen Erfahrung mit dem Betriebsumbau, seinem eigenen Architektenhaus und dem vom Architekten entworfenen Siedlungsplan abgewinnt und die sich nun ausdrücklich abgrenzt von all jenen, die mit überdimensionalen Fahrzeugen umgehen und damit die neu gesetzten baulichen Maßstäbe, die implizit eine Lebensform zum Maßstab erheben, sprengen. Und der kam dann mit dem Plan, und ah, das ist ein bißchen andere, das sind Leute, junge Leute, bei denen ich, denen ich überhaupt keinen Vorwurf machen will, aber es waren, behaupte ich, einfach stockkonservativ, und äh, ohne es zu werten, aber mit Planen, und mit Architektur, und mit solchen Dingen, einfach überhaupt keinen Bezug, und keine Sensibilität: „Und unser Haus und das wollen wir und die Garage muß drei Meter hoch sein, weil es kann sein, daß ich irgendwann einen Traktor habe und dann fahre ich da in die Garage hinein und mit dem Lastwagen, den ich, wenn ich Frächter bin, da muß auch sein, daß die Garage drei Meter hoch ist, als Eingang.“ 77

Innerhalb eines weitgehend sich selbst organisierenden Gefüges, wie es Vorarlbergs ländlicher Raum vielerorts noch darstellt, werden Architektur und Raumordnung zu zeitgemäßen Werkzeugen, um individuelle Befindlichkeiten auf Spielfeldern sozialer Konflikte zu regeln. Wo objektivierbare Rechtsverhältnisse fehlen78, geben Alteingesessene die Kriterien vor, in denen sich später Hinzugekommene einzurichten haben. Deren Selbstbestimmungsrecht ist begrenzt durch den Rahmen, den das Gewohnheitsrecht der Alteingesessenen gewährt.79

67 WS 1: Z 1130 68 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 69 WS 1: Z 1344 70 Eine vergleichbare Situation unterschiedlicher sozialer Integration in das Dorf bietet das Ehepaar Eugster. Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus. 71 WS 1: Z 1341 72 WS 1: Z 1316

73 WS 1: Z 1321 74 WS 1: Z 860 ff 75 WS 1: Z 845 ff 76 WS 1: Z 1318 ff 77 WS 1: Z 863 ff 78 „Wo setzt man das hin?“ (WS 1: Z 1217) Wo die „Plazierung“ nicht als behördlicher Akt besetzt ist (Bebauungsplan), bleibt sie verfügbar als Ausdrucksmittel sozialer Verhältnisse.

Familie und Nachbarschaft

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Schmidingers Streit mit dem nachbarlichen Bauwerber zeigt, daß die Argumente in solchen Auseinandersetzungen um eine zeitgemäße Form des Zusammenlebens zunehmend den Gestaltnormen Zeitgenössischer Architektur entlehnt werden, daß also Architektur, je größer ihre soziale Präsenz ist, umso mehr selbst normierend und damit gesellschaftsformend wirkt.80 Schmidinger sieht sich durch seinen Kampf um den „Erhalt“ seiner Parzelle selbst in diese Rolle des Gestalters gestellt: Das Beispielhafte kann, kann dann doch ein bißchen eine Sogwirkung haben.81

Gemeinschaftsbildung als Kulturleistung

Schmidingers Deutung der Parzelle Stangenach verbindet ebenso wie Wirthensohns begriffliche Verknüpfung von Familie und Parzelle die Sozialstruktur mit der räumlichen Struktur des Dorfes. Zur Beobachtung dieser „sozialen Form“ des Dorfes kehren wir nach Thal zurück. Die Strategie des Thaler Selbsthilfevereins, mit den Familien gleichzeitig „alle Parzellen einzubinden, damit praktisch überall so Leute sind, die es weitertransportieren“82, deckt gleichzeitig mit der sozialen die räumliche Ausdehnung des Dorfes ab. Die ausgeprägte räumliche Separierung der Familien voneinander, die in der Parzellenstruktur des untersuchten Siedlungsraumes ihren deutlichsten Ausdruck findet, macht das „Sich-zusammentun“ zu einer wählbaren Möglichkeit neben der anderen, für sich zu bleiben. In einer Sozial- und Raumstruktur wie der beschriebenen scheint die Unabhängigkeit voneinander eine durchaus ernstzunehmende Alternative, die Gemeinschaftsbildung alles andere als selbstverständlich zu sein. Die Gemeinschaftsbildung, die die soziale Struktur eines Dorfes entstehen läßt, ist in diesem Sinn Kulturleistung, die aus dem „Naturzustand“ der Familie heraus entwickelt ist. In Thals wiederholter sozialer und architektonischer Restrukturierung schaffen sich die Einzelfamilien jeweils zeitgemäße Organisationsformen und Repräsentationsinstitutionen als Plattformen zur Vermittlung der Einzelinteressen untereinander und nach außen, deren aktuelle der Selbsthilfeverein ist. Gerade Thal, dem politische Eigenständigkeit und damit eine kontinuierliche Verwaltungsidentität fehlt83, unterliegt verstärkt der Notwendigkeit, seine Organisationsform den jeweiligen Zeitumständen anzupassen. Wirthensohn rekapituliert den Wandel, dem das Verhältnis zwischen Dorf, Haus und Familie unterliegt, indem er Bevölkerungszahlen nennt: Thal war vor hundert Jahren bevölkerungsreicher als jetzt. Jetzt haben wir so 360 Einwohner. Und damals waren so 400. Wobei inzwischen viel Zuzug war. Also damals waren zum Teil viel größere Familien. Also es waren viel weniger Häuser, aber mehr Einwohner.84

Haus und Familie

Das traditionelle Bauernhaus steht in dieser Darstellung für Großfamilie, das heutige Haus dagegen für Kleinfamilie. Was Wirthensohn hier unter den Begriff „Bevölkerungsentwicklung“ stellt, erzählt gleichzeitig vom Wandel der Sozialstruktur Thals. „Viel Zuzug“ macht sich baulich bemerkbar, indem neben den Bauernhäusern heute Fertighäuser stehen. Diesen Effekt lediglich als Abbruch einer „gewachsenen“ traditionellen Baukultur zu interpretieren,

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macht die Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Baukultur unkenntlich. Wie bereits im Kapitel Haus angesprochen, ist parallel zur Ausbreitung der Industrialisierung ein Bedeutungsverlust der der traditionellen Baukultur übergeordneten Lebensform und Erwerbsstruktur, der Landwirtschaft, festzustellen. Ermöglicht durch die sinkende Integrationskraft der agrarischen Lebensform ziehen „neue Leute“ ins Dorf, Angestellte, Industriearbeiter, die ganz selbstverständlich auch ihre „eigenen“ Häuser mitbringen. Was der ästhetisch fixierte Blick als „bauliche Unkultur“ wahrnimmt, ist ursächlich im Totalumbau der dörflichen Gesellschaftsstruktur begründet. Die Entwicklung geht hin zu immer mehr Häusern mit immer weniger Menschen darin. Die Menschen, die in diesen Häusern wohnen, sind tagsüber abwesend, in der Stadt, zum Arbeiten. Thal ist mittlerweile „im Grunde eine Pendlergemeinde“.85 Gemessen an der Anzahl der Bauernhäuser war die Zahl der Bauten einer „sozialen“ Infrastruktur, Schule, Kirche, Gasthäuser, zur Zeit von Sinz’ Kirchenbau erheblich. Durch diese verstreute Siedlungsform hats ja in so einem Gemeindegebiet fünfzehn Schulen gegeben. Wenn Du genauer schaust, erkennst Du sie noch, es gibt noch ein paar. Höheres Erdgeschoß, höhere Fenster. (...) Die Bauern hatten ja früher zehn Kinder. Für fünf Bauernhöfe hat es ja schon eine Schule gebraucht.86

So illustriert Gerhard Gruber die bauliche Erscheinungsform dessen, was Wirthensohn aus der Warte des Lehrers und Historikers als staatliche „Institution Schule“ wahrnimmt. Wirthensohns Bericht verdeutlicht daneben den Einfluß, den der Staat von einem fixierbaren historischen Zeitpunkt an über die neugeschaffene „Volks“-Schule im Dorf ausübt. 79 Vgl. Abschnitt „Ein anderes Haus“ Kapitel Haus 80 „Daß ich da, irgendwie meine Macht aus-, in dem Fall die verfügbare Macht ausgenutzt habe, um zu sagen, ich bin Verhinderer. (...) Manchmal ist (...) verhindern auch eine Lösung. Dort, Dorfkern Schwarzenberg ist das beste Beispiel dafür. (...) Zwanzig Jahre hat es gedauert, bis die Straße durchs Dorf gemacht worden ist, und die ist heute wirklich schlank und rank, und die Friedhofsmauer ist stehengeblieben, und das, was heute Schwarzenberg ausmacht, nicht die (...) Blechlawine durchs Dorf durch, wie in allen anderen Gemeinden, sondern, es waren zwei Verhinderer von achtzehn Gemeinderäten. Die irgendwie komplottiert haben, und die verhindert haben und die gesagt haben: ,nein, das geht jetzt nicht und wir sprengen das und wir-‘, also, das sieht man auch wieder, das ist halt, ja, auch eine Portion von so, schicksalhaft (lacht).“ (WS 1: Z 1081 ff) Schmidinger reklamiert mit der von ihm propagierten Siedlungsgestalt dieselbe Legitimation für sich, mit der ehemals die Erhaltung der alten Friedhofsmauer im Dorfkern vertreten worden bzw. deren Abbruch verhindert worden war.

Seine Verhinderung des nachbarlichen Neubaues bezieht seine Legitimität aus zwei Argumenten: daß die Architektenhäuser legitime Nachfolger der alten Bauernhäuser seien und daß die planliche Komplettierung der Rundanordnung der Parzelle einen der Erhaltung des alten Dorfkerns analogen Gültigkeitsanspruch besitze. Beides sind Ideenkonstrukte mit metaphorischem Charakter ähnlich jenen, die Hiesmayr in Eine neue Tradition zwischen die Dokumentationen historischer Bauernhäuser und Almen unvermittelt Neubauten im Dorfkern Bizaus plazieren läßt. 81 WS 1: Z 1015 ff 82 EW 1: Z 190 ff 83 Bernhard Tschofen verdanke ich hierfür den Begriff „prekäres Dorf“. (28. 11. 2009) 84 EW 1: Z 327 ff 85 EW 1: Z 1054 86 GG: Z 1269 ff Wirthensohn gibt für das Gemeindegebiet Sulzberg die Zahl der Schulen mit sechs an. (EW 2: Z 19) 87 EW 2: Z 10 ff 88 GG: Z 16 ff

Die bauliche Struktur des Dorfes wandelt sich mit seiner Bewohnerstruktur

Soziale Infrastruktur

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Zu Maria Theresias Zeiten hat man ja die Schule eingeführt, bei uns. Also, so um 1770 herum. (...) Die Schulpflicht eingeführt und hat damals auch mehrere Schulhäuser eröffnet. Es gab damals ein Gesetz, ich kenns nicht genau, aber die Kinder sollten also nicht weiter als eine halbe Stunde oder höchstens eine Stunde laufen und so waren überall, Sulzberg ist ja sehr weitläufig, ringsum waren Schulen verteilt.87 Schule als Bauwerk, Schule als Institution

Neben der Ergänzung der „Pfeiler“ eines Dorfes, die uns diese Erzählung liefert, tritt in der Gegenüberstellung der beiden Gesprächspartner ein weiteres Mal eine jeweils berufsspezifische Wahrnehmung vor unser Auge, die im Zusammenhang mit unserer zentralen Frage „Was ist Architektur?“, die die soziale Wirklichkeit von Architektur im Habitus der Akteure zu beschreiben sucht, fortwährend interessiert. Während der Architekt das Gebäude meint, wenn er „Schule“ sagt und die Schulbauten aufgrund typischer Merkmale von den Bauernhäusern unterscheidet, beschreibt der Historiker die „Institution Schule“, spricht von der Dauer, die das Kind, zu Fuß unterwegs, für seinen Schulweg benötigt, und identifiziert darin ein Kriterium für die räumliche Verteilung der Schulbauten im Gemeindegebiet.

Architektur schafft gemeinsamen Ausdruck

Gerade seine späte Konstituierung und deren Umstände liefern Aspekte, die Thal, als Prototyp eines Dorfes genommen, für uns besonders anschaulich machen. Erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hat Thal mit seinem Kirchenbau gewissermaßen eine zweite Gründung erfahren. Früher war das einfach eine Ansammlung von Bauernhöfen. Es hat sicher ein paar Gasthäuser gegeben, aber ohne gemeinsamen Ausdruck.88

Gerhard Gruber rückt hier Architektur in den Mittelpunkt eines Vorgangs, der das Vorhandene, die jahrhundertealte „informelle“ Ansiedlung89, umdeutet und mit dem „gemeinsamen Ausdruck“ auch ein neues Selbstbewußtsein der Bewohner als sozialer Gemeinschaft markiert. Die gesellschaftliche Rolle von Architektur in einem solchen Prozeß liegt offenbar darin, Symbol zu sein für die freiwillige, die gewährte Dorfgemeinschaft, die der Eigenständigkeit der Familien abgerungen ist, ein Symbol, das den Mehrwert der größeren gegenüber der kleineren Gemeinschaft zu verkörpern hat. Die tragende Figur dieses Gründungsaktes, der aus Thal stammende Pfarrer Martin Sinz, „hat einen Basler Architekten geholt und hat in Thal eine 89 „Hagen, wo das Geburtshaus [Martin Sinz’] stand, war damals eine von mehreren bescheidenen Bauernparzellen unten im ,Thal‘, im ,Auszehrerloch‘, wie die Sulzberger das weitab gelegene, verhauene, ungesunde Gebiet spöttisch nannten.“ In: Pfarrer Martin Sinz (1830–1911) Lebensbild; Wirthensohn (Jb. 2000 /2001) 90 GG: Z 31 ff 91 EW 1: Z 250 ff 92 Wirthensohn verlebendigt in seiner Erzählung seinen alten Thaler Volksschullehrer Wilhelm Fritz. Dieser repräsentiert den Typ des städtisch orientierten Intellektuellen, „das war ein früher Ökotyp, (...) der hat sein Brot nicht von hier gehabt, sondern der ist oft nach Bregenz mit dem Koffer, immer Vollkorn-

produkte, damals schon“ (EW 2: Z 270 ff). Fritz praktiziert neben seiner eigenen, betont gesunden und enthaltsamen Lebensform in seiner Dorfschule reformpädagogisches Gedankengut und schlägt damit von Thal aus die Brücke zu dem, was die Moderne „ganzheitlich“, lebensreformerisch, zu realisieren versucht hat. Ein weiteres Mal wird deutlich, daß „Reform“ immer städtisch geprägt ist, ein Umstand, für den in Wirthensohns Erzählung zeichenhaft das aus der Stadt geholte Vollkornbrot steht. Wilhelm Fritz repräsentiert exemplarisch die Rolle des Lehrers als Reformator des ländlichen Lebens im Bregenzerwald. Währenddessen gibt es in anderen ländlichen Gesellschaften durchaus andere, selbstwirtschaftende Lehrertypen. „Lehrer und Landwirt“ etwa ist als Be-

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Kirche gebaut, ein Mesnerhaus gebaut, ein Pfarrhaus gebaut“.90 Wirthensohn führt für Grubers Interpretation des „gemeinsamen Ausdrucks“ Beispiele in Gestalt eines neuen Haustyps an, den Sinz’ Basler Architekt mit den Häusern für Pfarrer und Mesner etabliert hat. Es ist ein Holzhaus. Mit einem gemauerten Sockel. Einem gemauerten Keller. Und dann ein gestricktes Haus. Geschindelt. Mit ganz schönen regelmäßigen Rahmen. Fensterrahmen. Symmetrisch. Und einem zentralen Aufgang. Die Haustür in der Mitte. (...) Traufseitig ist der Eingang.91

Das Pfarrhaus kann innerhalb der Formideale des neunzehnten Jahrhunderts nur symmetrisch sein, weil es ein reines Wohnhaus ist, also keinen Wirtschaftsteil mitumfaßt. Diese funktionelle Präfiguration entspringt der Andersartigkeit des Erwerbs, die Pfarrer und Mesner, den Lehrer auch, aus der dörflichen Gesellschaft heraushebt, Rollenträger, die von der Kirche, vom Staat, von der Gemeinschaft mitversorgt werden und damit, im Gegensatz zu den Bauern, nicht selbst wirtschaften müssen.92 Statt dessen kommen ihnen Repräsentationsaufgaben zu, die sie als Stellvertreter ihrer Institutionen ausweisen. Im Kontext der dörflichen Gesellschaft stellt die architektonische Symmetrie ihrer Häuser ihr Gegenüber, den Einzelnen der bäuerlichen Dorfgesellschaft, in eine „höhere“ Ordnung, weist ihm seinen Platz innerhalb jener höheren Ordnung zu, die Pfarrhaus und Schule repräsentieren.93 Die anderen Häuser des Dorfes sind Bauernhäuser. Auch die Gasthäuser waren ehemals Bauernhäuser. Das Bregenzerwälder Bauernhaus ist nicht symmetrisch.94 Wirthensohn braucht im übersichtlichen Dorfkern Thals nur um sich zu deuten, um die neue soziale Hierarchie zu erläutern, die gleichzeitig mit der Konstitution der Pfarrei in Thal entsteht und durch den neuen Haustyp visualisiert wird. „Das Haus gegenüber da (...) und auch die Schule. (...) Es war genau derselbe Haustyp wie das Pfarrhaus.“95 „Zentriert“ wird das Dorf seither von denjenigen Bauten, die der Religionsausübung dienen.96 Diese stellen das Dorfzentrum als spirituelles Zentrum dar, gebildet vom Tempel und den Häusern der Tempeldiener inmitten der rufsbezeichnung in bergbäuerlichen Regionen der Schweiz mehrfach zu finden. Vgl. Verzeichnis der Ausschußmitglieder; in: 25 Jahre Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Bergbauern SAB; Brugg, 1969; S. 16 93 Das Walmdach als soziale Würdeform des Hauses, das einer privilegierten Elite vorbehalten ist, gehört in diesen Kontext. 94 Freilich liegt Thal nicht mehr im Verbreitungsgebiet des durch seinen traufseitigen Zugang betont asymmetrischen Bauernhaustyps des Innerbregenzerwaldes. Statt dessen dominiert hier bereits das bäuerliche „Allgäuerhaus“ mit seinem giebelseitigen Zugang, ein Mittelflurtyp, der die Asymmetrie seines Grundrisses mit einer symmetrischen Öffnungsanordnung der Giebelfassade überdeckt.

Auch wenn die vorliegende Studie das Bauernhaus aus ihrem Begriff von „Architektur“ ausnimmt, erscheint ein Vergleich mit dem Bauernhaus für die Diskussion der architektonischen Achsensymmetrie zulässig. Niederstätter weist für den Wiederaufbau der 1755 durch Brand zerstörten Bauten der Schwarzenberger Parzelle Hof, dem heutigen Dorfkern, auf eine Orientierung der wirtschaftlich potenten, mit weitreichenden Handelsbeziehungen versehenen Bauherren an städtischen Vorbildern hin. Dort ist zu beobachten, daß auch im Bereich des asymmetrischen „Wälderhauses“ die bäuerlichen Eliten ihr Haus zunehmend auf eine Achse „zentrieren“ und sich damit der Architektur der Obrigkeitsbauten annähern (wie Anm. 58, S. 7).

Architektonische Symmetrie stellt ihr Gegenüber in eine „höhere Ordnung“

Das Dorf als spirituelle Gemeinschaft

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Der Herrgottswinkel stellt den Alltag in einen religiösen Kontext

Der Friedhof verbildlicht eine soziale Vision

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Siedlung. Ist die Gesellschaft des Dorfes demnach eine spirituelle Gemeinschaft? In Thal jedenfalls gelingt es der Institution Kirche zunächst, die vordem informelle Ansiedlung so, in ihrem Sinn, umzudeuten und normensetzend für seine Gesellschaft zu werden.97 Mein Gespräch mit Hans Purin über die Stube des Bregenzerwälder Bauernhauses, insbesondere sein Hinweis auf deren diagonale Symmetrieachse98, im Abschnitt Bauernhaus des Kapitels Haus erwähnt, erlaubt, eine Parallelerscheinung zu dieser kirchlich dominierten Siedlungsordnung in der symbolischen Ordnung der traditionellen Bauernstube wahrzunehmen. Wird ihre Symmetrieachse, die am Ofen, im Zentrum des Hauses, entspringt, als Richtungspfeil genommen, dann ist die Position des „Herrgottswinkels“, der die äußere Stubenecke einnimmt, ganz „vorn“. Herrgottswinkel und Eßtisch erinnern damit an die Konfiguration von Tabernakel und Altar in der traditionellen Einrichtung katholischer Kirchen. Die Stube erscheint demgemäß als „kleine Kirche“, die das Mahl als „Abendmahl“, das Leben als „Gottesdienst“ darstellt. Der die Thaler Kirche umgebende Friedhof mit seinen für Vorarlberg einmaligen, einheitlich schwarzen Holzkreuzen verbildlicht bis heute das, was Wirthensohn als Vision des Gründungpfarrers von einer dörflichen Lebensgemeinschaft deutet.99 Geht auch auf Sinz zurück. Aus theologischen Motiven. Alle sollen gleich sein. Nur er ist anders (weist lachend auf das steinerne Grabmal von Pfarrer Sinz an der Außenwand der Kirche). (...) Unter ihm gabs nur die schwarzen Kreuze. 100

Es sind aber nicht nur symbolische Ordnungen zur Transzendierung des Erdenlebens, die die Kirche der traditionellen Dorfgemeinschaft bietet, son95 EW 1: Z 231 ff 96 Moosbrugger stellt in einem aktuellen Aufsatz zur „Etablierung institutioneller Kirchlichkeit im Hinteren Bregenzerwald“ die Kirche vor allem als Grundherrn und politische Institution heraus, betont also neben dem sprituell-religiösen den administrativen Aspekt von „Kirchlichkeit“. Der Kirchturm markiert darin vor allem die Inbesitznahme des Landes durch den Eigner desselben, sei es Papst oder Kaiser. Vgl. Moosbrugger, S. 163 ff 97 Über die verschiedenen sozialen Rollen des Thaler Pfarrers berichtet Wirthensohn in EW 2: Z 542 ff. Die Lebensbilder in Wirthensohns Jahresberichten erwähnen an verschiedenen Stellen biographische Auswirkungen der kirchlichen Normsetzungen, so im Lebensbild Richard Schneiders: „Wer sich nicht an die katholische Ordnung hielt, wurde sozial degradiert.“ Wirthensohn, Jb. 1998/1999 Daß das Kirchdorf Thal auch politisch gesehen eine konservative Bastion bildete, filtert Wirthensohn aus Sinz’ Diktion in dessen Thaler Pfarrchronik: „In den politischen Wertungen wird deutlich, dass Sinz

wie seine Kollegen im Priesterseminar Brixen zu einem scharfen Gegner des Liberalismus und gewiss auch des Sozialismus ausgebildet worden war. (...) Das Adjektiv ,liberal‘ wird von ihm mehrfach abschätzig verwendet; der Begriff ,Sozialdemokrat‘ (...) [dient Sinz] zur abwertenden Charakterisierung einer inferioren Person.“ Wirthensohn (1999), S. 70 98 HP: Z 1045 ff, vgl. auch Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus. 99 Der Selbsthilfeverein aktiviert neben den Beziehungen der Bewohner zu ihrem Dorf noch weitere Unterstützer außerhalb des Dorfes, „viele ehemalige Thaler, die irgendwo im Umkreis sind“. Das Zugehörigkeitsgefühl zum Dorf bleibt offenbar auch bei solchen Thalern bestehen, die nicht mehr im Dorf wohnen. Indem diese Solidarität, Ausdruck einer mit dem Geburtsort verknüpften Identität, fortbesteht, gewinnt das Dorf, als Gesellschaftsform verstanden, im Krisenfall externe Außenposten, Exklaven, die Hilfestellung leisten. Um die Verbindung zu den „auswärtigen Freunden und Alt-Thalern“ (Vorwort des Obmanns Günther

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dern auch vielfältige „diesseitige“ funktionelle Rollen. Sinz’ Arbeitsbeschaffung zur Errichtung der kirchlichen Bauten, die sicherlich mittels Fronleistungen der Dorfbewohner vonstatten ging, gehört in diesen Kontext, indem es ein Programm darstellt, das Sinn und Rollen stiftet. Daß die Kirche der dörflichen Gesellschaft auch nach Fertigstellung ihrer Bauten institutionalisierte soziale Rollen bietet, läßt schon die Errichtung eines Mesnerhauses erkennen. Weitere findet Ernst Wirthensohn in seiner Familiengeschichte. Mein Großvater kam da von Doren, von unserem nächsten Dorf. Und Martin Sinz hat jemanden gebraucht, der ihm die Orgel spielt und in Thal war niemand, und er hat immer geschaut, und da gabs in Doren eben einen, den hat er sich gleich hergeholt. Hat ihm angeblich dann gleich eine Frau vermittelt, daß er nicht mehr geht. Das war mein Großvater. Und dann hat der sich natürlich die Frage gestellt, was mache ich hier in Thal. Ich kann ja nicht nur Organist sein, am Sonntag. Und hat dann wohl eine kleine Landwirtschaft gekauft. Aber, gut, arm leben hätt man können von der Landwirtschaft, mit drei Kühen, es war nicht sehr viel. (Und dann hat er angefangen) mit der Stickerei, ist damit, kann man sagen, reich geworden. Und im ersten Weltkrieg hat er das Ganze wieder verloren. Durch die Inflation.101

Was hier mit dem gewaltsamen Abbruch einer Erfolgsgeschichte endet, beginnt mit der Besetzung einer sozialen Rolle, die die Kirche und ihr „religiöses Leben“ geschaffen hat. Wie in der Entwicklungsgeschichte von Wirthensohns Großvater kirchliche und soziale Rollen ineinander greifen, so hat Emile Durkheim die Rolle von Religion selbst gedeutet: Weniger als Mittel zur Transzendierung des Alltags, als vielmehr als Mittel zu dessen Bewältigung mittels eines gesellschaftlichen Rahmens.102 Wer aber übernimmt diese zentrierende und gemeinschaftsstiftende Aufgabe heute, da die Bedeutung der Kirche abnimmt und damit ihre traditionelle Repräsentations- und Integrationsfunktion für die dörfliche Gesellschaft

Wirthensohn) zu stärken, gibt Ernst Wirthensohn ein Kalendarium als Jahresrückblick heraus. (Erstmals in: Wirthensohn, Jb. 1991–92) In Wirthensohns Schilderung bleibt der Geburtsort lebenslang Identifikationsort. Im Vergleich zur Eindeutigkeit der ortsbezogenen Geburt ist der spätere Wohnort unbestimmt, beliebig fast, „irgendwo“ oder „draußen“: „Es gibt einen Alt-Thaler, der draußen in Fußach ist“ (EW 2: Z 726 ff), berichtet Wirthensohn während seiner Dorfführung und bezeichnet damit den Tischler, der die Kreuze für den Friedhof macht. Alt-Thaler zu sein hebt ihn aus der Masse der Tischler heraus und prädestiniert ihn für die fortgesetzte Herstellung der traditionellen Friedhofsausstattung. 100 EW 2: Z 597 ff Das Thaler Grab besteht neben dem mannshohen, schwarzen Eibenholzkreuz aus einer einheitlichen, in einem Stück gefertigten Grabeinfassung aus Kunststein. Das Kreuz ist mit einer Christusfigur aus Metallguß versehen, Emailletafeln tragen die Namen der Verstorbenen. Die Schlichtheit der Gräber

betont zusammen mit ihrer Einheitlichkeit die existentielle Gemeinschaft der Dorfbewohner, eine Atmosphäre, die sonst Klosterfriedhöfe prägt. Inschrift des Grabmals von Martin Sinz: / Christliches Denkmal / für den hochwürdigen Herrn / Martin Sinz / Gründer dieser Pfarrei / Ehrenbürger von Sulzberg-Thal / Inhaber d. gold. Verdienstkreuzes m. d. Krone / fürstb. geistl. Rat u. 33 Jahre Pfarrer dahier / geb. in Thal 30. Okt. 1830 / zum Priester geweiht 26. Juli 1868 / gest. 9. April 1911 / R.I.P. / Was du jetzt bist, das war ich auch, / Was ich jetzt bin, das wirst du auch. / Drum denke öfters an dein Ende; / Auch mir dein fromm Gebet zuwende! / Das sind meine letzten bittend Worte, / An diesem ernsten stillen Orte! / (Eigene Abschrift, 22.08.2004) 101 EW 1: Z 401 ff 102 „Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist“ (Durkheim, S. 561). Durkheims religionssoziologisches Hauptwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens ist 1912 in Paris erschienen.

Religion dient der gemeinschaftlichen Bewältigung des Alltags

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schwindet?103 Wirthensohn schildert Erscheinungsformen eines gegenwärtig rapide verfallenden kirchlichen Auftritts. Der Pfarrer war früher eigentlich nebenberuflich nur Pfarrer, der war Religionsinspektor, der war Religionslehrer, hat total sein Refugium gehabt. Jetzt ist er in Pension und jetzt muß er Langen dazunehmen, was natürlich schlecht war für Thal. (...) Die Kirche ist renoviert worden vor fünfundzwanzig Jahren. Die Kirche war ausgemalt davor, von einem zumindestens regional bedeutenden Maler. Der ganze Verputz war schlecht beieinander. (In eine Sanierung der Deckengemälde) wollte man nicht investieren. (Deshalb ist er mitsamt den Deckengemälden abgeschlagen worden. Heute sind die Felder einfarbig ausgemalt, mit ornamentierten Rahmungen.) 104 Niedergang des kirchlichen Einflusses

Die Entfernung des Pfarrers aus Thal, der seinen Wohnsitz jetzt in der größeren Nachbargemeinde Langen hat, dokumentiert ebenso wie das Abschlagen der Figurenmalerei im Zuge einer kostensparenden Putzsanierung am Deckengewölbe des Kirchenschiffs den Niedergang des kirchlichen Einflusses. Gemeinsam ist den Erscheinungsformen ein Verlust an Greifbarkeit, ein Effekt, der die Religionsausübung zunehmend abstrakt werden läßt. Pfarrhaus und Mesnerhaus, infolge des Figurenverlustes im kirchlichen Auftritt mittlerweile verwaist, erinnern nur noch in der Weiterverwendung ihrer traditionellen Benennung an die ursprünglichen Träger religiösen Lebens. Als leergefallene Raumhüllen sind sie heute vermietet und dienen als „Startwohnungen“ für junge Familien. Wirthensohn resümiert das „rückläufige“ kirchliche Leben als „Brennspiegel in vielen Bereichen“, der den gegenwärtigen Zustand der dörflichen Gesellschaft in Thal „wie überall sonst“105 repräsentiert. Wir werden uns im Abschnitt Architektur im Dorf dem Umstand zuwenden, daß Architektur nun in gewissem Ausmaß selbst die Sinnstiftung übernimmt, die ehemals von der Kirche geleistet worden ist.

Landwirtschaft und Industrie

Wirtschaftlich verschafft Sinz dem Dorf eine Zwitterrolle, die dem als Pfarrei neu konstituierten Dorf ein Abbild desjenigen Umbruchs inkorporiert, welche die Industrialisierung im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts dem ländlichen Raum Vorarlbergs gebracht hat. Thal bietet uns damit auch ein Modell für diejenige Verschränkung von Landwirtschaft, europaweit vernetzter Marktwirtschaft und Industrieproduktion, die nicht nur typisch für das kleinräumige Vorarlberg ist, sondern daneben exemplarische Problemlagen zeigt, die den ländlichen Raum innerhalb des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Modernisierungsprozesses der Gegenwart zum Umbau drängen, ein Vorgang, dessen Vorzeichen Wirthensohn bereits im achtzehnten Jahrhundert identifiziert, wie er weiter unten berichten wird. Erste Beweggründe, die den Gründungspfarrer veranlaßt haben mögen, sich dieser Krise von europäischem Format zu stellen und lokale Antworten darauf zu geben, identifiziert Ernst Wirthensohn in dessen Familiengeschichte. Der Vater vom Martin Sinz (...) war ein Maurer. Ein ganz armer Maurer, der hat meistens keine Arbeit gehabt. Das beschreibt der Sohn in seiner Pfarrchronik. (...) Wenn einer ein Haus gebaut hat, aber sonst hat ein Maurer nicht allzu viel Arbeit gehabt.106

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Sinz behebt dieser Schilderung zufolge mit seinem Kirchenbau zunächst die unmittelbare familiäre, die berufliche Not des Vaters als Familienernährer. Die Überlebensfähigkeit des einzelnen Handwerkers am Ort erscheint hier zugleich als Indikator für den Wohlstand des Dorfes insgesamt. Handwerkeraufträge existieren dort, wo investiert wird, wo Optimismus darüber herrscht, daß der Lebensort fortbesteht. Während sich die Muttergemeinde Sulzberg ihre prächtige „Negrellikirche“107 baut, bietet Thals Wirtschaftslage keinerlei Anlaß zu vergleichbarem Optimismus. Thal war extrem arm. (...) Bei uns gabs diesen Spott, stellenweise gibts ihn immer noch, den Begriff „Auszehrerloch“. Thal war das Auszehrerloch. Auszehrung war TBC.108

Auch der mentalen Situation der Dorfgesellschaft also, die Wirthensohn als Widerschein ihrer wirtschaftlichen Notlage schildert, setzt Pfarrer Sinz, durch Schweizer Spenden ermöglicht, seinen Kirchbau entgegen. Der Sinz ist ja jahrelang auf Bettelreisen gegangen, um die Kirche zu bauen, die Häuser, das hat er alles zusammengebettelt, das hat er alles selber finanziert. Und war sehr viel in der Schweiz, hat dort sehr viel in Städten Geld gekriegt, hat dort die Stickerei kennengelernt und (bringt die) Stickerei dann hierher.109

Thals Orientierung am Schweizer Nachbarland taucht in Wirthensohns Erzählung wiederholt auf, chronologisch zuerst dort, wo er einen „unglaublich langen Strukturwandel“110 der Landwirtschaft seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rekapituliert, „an den kein Mensch mehr denkt, heutzutage“. Um 1720 werden Thals verstreute Landwirtschaftsflächen arrondiert, „vereinödet“.111 Der Einfluß eines Zentraldirigismus auf die Gestalt des Bauernhauses ist bereits im Kapitel Haus angesprochen worden. Mit der Vereinödung sehen wir uns nun einem konkreten planerischen Eingriff gegenüber, den der Staat setzt, indem er Gesetze erläßt und Landvermesser zu deren Exekution in die Dörfer sendet. Die bewirkte Veränderung ist tiefgreifender als die Verheerungen, die Kriege hinterlassen, denn sie betreffen diejenigen Ordnungslinien, denen ansonsten das größte Beharrungsvermögen innewohnt: die Grundstücksgrenzen.112 Der sichtbare Effekt dieses planerischen Eingriffs ist bloß die Folge der Neuparzellierung: eine nahezu vollständige Erneuerung des baulichen Bestandes, seinen Ort, die Siedlungsform 113 und schließlich auch den Bautyp betreffend. Wirthensohn führt uns vor Augen, 103 Moosbrugger zieht in seinem Aufsatz über die mittelalterliche Besiedlungsgeschichte des Bregenzerwaldes ausdrücklich eine Parallele zum gegenwärtigen sozialen Bedeutungsverlust der Kirche. Vgl. Moosbrugger, S. 163 104 EW 2: Z 542 ff 105 EW 1: Z 1050 106 EW 1: Z 277 ff 107 Negrelli, Alois, Ritter von Moldelbe, *23. 1.1799, +1. 10.1858, östr. Bauingenieur; verdient um das Verkehrswesen, ab 1856 Generalinspektor der östr. Eisenbahnen; plante den Suezkanal (Duden Lexikon, 6. Auflage 1976). An Negrelli erinnert eine Bronzetafel

am Haus Kornmarktstraße 16, Bregenz (heute Hotel Messmer): / In diesem Hause wohnte / in den Jahren 1829–1832 / Alois Negrelli / 1799–1858 / Als großartiger Ingenieur baute / er Straßen, Wasserwege, Brücken / und Eisenbahnlinien in ganz Europa / Als Planer des Suez-Kanals ist / er in die Geschichte eingegangen / (Eigene Abschrift) 108 EW 1: Z 287 ff 1960 starb in Thal eines der letzten Opfer der TBC, wie Wirthensohn im Lebensbild Rupert Rupp über Blandina Rupp mitteilt (Jb. 2002/ 2003). 109 EW 1: Z 343 ff 110 EW 1: Z 314

„Vereinödung“ als Form von Zentraldirigismus

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daß neben der planerischen Neustrukturierung der baulichen Landschaft eine ebenso tiefgreifende in der Agrarlandschaft durchgeführt wird. In der Zeit noch hats nur Getreide gegeben, wenig Vieh. Die Umstellung kommt erst so Mitte neunzehntes Jahrhundert bei uns, auf Milch-Landwirtschaft. (...) Aus Ungarn und anderen Reichsgebieten, kommt billiges Getreide. Da haben die Bauern bei uns umgestellt. Und die Fettkäserei haben wir von den Schweizern gelernt. Das kommt vom Emmental zu uns her. Waren auch die ersten Käser vom Emmental bei uns da.114 Globalisierungseffekte im neunzehnten Jahrhundert

Das heutige Landschaftsbild des Bregenzerwaldes ist modern

Jener Strukturwandel in der Landwirtschaft ist durch Effekte bedingt, die mit jenen der heutigen „Globalisierung“ verglichen werden können. Am anderen Ende des k.u.k.-Großreiches wird das Getreide billiger produziert, also von dort importiert, was nicht nur die lokale Produktion verdrängt, sondern auch wesentlich dazu beiträgt, die bäuerliche Wirtschaftsweise von der Selbstversorgung (Subsistenzwirtschaft)115 zu einer marktwirtschaftlichen Produktion umzustellen. Das heutige Landschaftsbild des Bregenzerwaldes, die allgegenwärtigen grünen Matten, entsteht aus dieser marktwirtschaftlich bedingten Verdrängung des Ackerbaus, ist also keineswegs natürlich, auch nicht Ausdruck der landwirtschaftlichen Lebensform der ursprünglichen Siedler. Als moderne Monokultur ist sie vielmehr als Folge einer wirtschaftlichen Entwicklung im europäischen Maßstab anzusehen und als solche nicht nur in ihrer Gleichzeitigkeit eine Parallelerscheinung zur Industrialisierung des Vorarlberger Rheintals im neunzehnten Jahrhundert. Die Modernisierung der Landwirtschaft verändert zwar die Kulturlandschaft des Bregenzerwaldes ebenso gravierend wie die Folgeerscheinungen der industriellen Textilproduktion das Vorarlber111 „Bis ins 18. Jahrhundert war die Erzeugung von landwirtschaftlichen Gütern weitgehend auf die Versorgung der bäuerlichen Familie ausgerichtet. Der Anbau von Feldfrüchten war von Bedeutung, die Erträge blieben jedoch bescheiden und verschlechterten sich zuzeiten zusätzlich durch Klimaveränderungen. Daher wurde immer wieder von neuem der Übergang zur Viehwirtschaft angestrebt. Die enorme Zerstückelung des Bodens und die gemeinsamen Viehweiden erwiesen sich dabei jedoch als große Hindernisse. Erst die Vereinödung brachte eine Möglichkeit, das Problem zu lösen und die Viehwirtschaft rentabler zu gestalten. (...) Bekannt wurde dieses Reformmodell vom benachbarten Allgäu her (...) und Kaiserin Maria Theresia, die damals in Österreich regierte, hat sie sogar per Gesetz angeordnet, damit man das Programm auch gegen Widerspenstige durchsetzen konnte. (...) Die Neuaufteilung der Güter geschah (...) nach einem vom Feldmesser ersonnenen und entworfenen Grundstücksplan. (...) Fast immer war es notwendig, auf den so entstandenen Güterkomplexen neue Häuser zu errichten. (...) Dieser Vorgang spiegelt sich heute noch in der Landschaft wider, wo die Häuser kaum älter sind als 200 Jahre und das hochgiebelige Allgäuerhaus mit dem Mittelflur und der imponierenden

Stirnseite, das damals aufkam, ganz auffallend vorherrscht. (...) Nach der Vereinödung ging der Anbau von Feldfrüchten zugunsten der Vieh- und Milchwirtschaft immer mehr zurück, und der Gesamtertrag der Güter verdreifachte sich in kurzer Zeit. Die damals geschaffenen Höfe hielten weit überwiegend durch nahezu 200 Jahre der Entwicklung stand. Teilungen in Erbfällen kamen wesentlich seltener vor als in jenen Gebieten, in denen die Vereinödung nicht durchgeführt wurde. Das alles zeigt die umwälzende Bedeutung der Strukturveränderung, die man die Vereinödung nennt.“ Blank, S. 46 f Zur Vereinödung im benachbarten Allgäu vgl. Gebhard, Frei (Hg.), S. 385 112 Vgl. Architektur als Ordnung, Kap. Architektur? 113 „Was die übrigen Teile der Reform, die Zusammenlegung der zerstückelten Felder und die (teilweise) Auflösung der Weilersiedlung, betrifft, wurde argumentiert, dass beim bestehenden Zustand der Ertrag der Güter so gering sei, dass sich eine Familie davon nicht mehr ernähren könne, und dass das zu nahe Beieinanderstehen der Häuser in den Weilern Feuersbrünste begünstige.“ Blank, S. 46 114 EW 1: Z 304 ff 115 Vgl. Anm. 109

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ger Rheintal, ihr Produkt, die grünen Bergwiesen und damit das gegenwärtige „Landschaftsbild“, wird aber gesellschaftlich gänzlich anders wahrgenommen, nämlich als „öffentliches Gut“ bewertet.116 Industrialisierung und Wandel der landwirtschaftlichen Produktion, der gleichzeitig Wandel der bäuerlichen Lebensform und Wandel der gesellschaftlichen Zweckbestimmung des ländlichen Raums bedeutet, ist auf komplexe Weise ineinander verschränkt. Ihre jeweils isolierte Betrachtung als Wirtschaftssektoren verdeckt ihre Gemeinsamkeit, Erscheinungsformen einer umfassenden Modernisierung zu sein. Aus Barnays und Greussings Darstellungen der Arbeiterbewegung Vorarlbergs etwa geht hervor, daß die Textilindustriellen des neunzehnten Jahrhunderts ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung einer Nebenerwerbslandwirtschaft ihrer Arbeiter hatten, also die Landwirtschaft, wenn nicht förderten, so doch zumindest ihren Fortbestand sicherten. Eine solche Situation, die als erwünschtes Nebenprodukt eine politische Formierung der Vorarlberger Arbeiterschaft und damit eine Etablierung der Sozialdemokratie im Land wirksam verhinderte117, bot den Fabrikherren während konjunktureller Engpässe die Möglichkeit, radikale Lohnkürzungen vorzunehmen118, ohne gleichzeitig die Obsorge für ihre Arbeiter und deren Familien übernehmen zu müssen. Die Existenzsicherung der Arbeiterschaft konnte während der wiederkehrenden Krisen, der die Textilindustrie ausgesetzt war, an deren bäuerliche Parallelwirtschaft delegiert werden. Vom umgekehrten Fall zu diesem Hineinwirken der Landwirtschaft in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Organisation der Fabrikarbeit berichtet Wirthensohn. Die „Stickerei“ als neue Nebenerwerbsform, die Pfarrer Sinz seiner Pfarrgemeinde aus der Schweiz mitgebracht hatte, bescherte Thal erstmalig eine „wirtschaftliche Blüte“119. Keineswegs ist hier von traditioneller bäuerlicher Heimarbeit die Rede, wie wir sie aus Schilderungen des bäuerlichen Hauswesens, etwa Franz Mi116 Hofreither weist darauf hin, daß heute neben der „Produktionsfunktion in Form einer ausreichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln (...) darüber hinausgehende weitere Funktionen der Landwirtschaft wie Regenerations-, Schutz- und Ausgleichsfunktionen zunehmend an Bedeutung für die Gesellschaft“ gewinnen. „Ökonomisch betrachtet, übt die Landwirtschaft damit (...) einen Einfluss auf die Bereitstellung öffentlicher Güter wie Landschaftsbild, Ressourcenschutz oder Biodiversität aus, die durch komplexe Interaktionen gekennzeichnet sind. (...) Damit dürften langfristig betrachtet Direktzahlungen, die mit landschaftspflegerischen, ökologischen oder ethologischen Argumenten legitimiert sind, in Europa eine der wenigen, politisch ,nachhaltigen‘ Formen von Budgettransfers an die Landwirtschaft darstellen.“ Multifunktionalität zwischen Effizienz und Emotion; in: Rentsch (2006), S. 99 ff

Eine „Öffnung von Programmen mit multifunktionalen Zielsetzungen für nicht-agrarische Anbieter, um damit den Stellenwert der Marktkräfte zu betonen“, gehört jedoch für Hofreither zu den „erforderlichen Anpassungen“, um auf „handelspolitischer Ebene“ auch künftig die „für benachteiligte Regionen essentiellen“ Honorierungen multifunktionaler Leistungen der Landwirtschaft gewährleisten zu können. Hofreither (2005), S. 67 117 Als weiteren Faktor, mit der Nebenerwerbslandwirtschaft in Zusammenhang stehend, nennt Greussing die Aufspaltung der Vorarlberger Arbeiterschaft einerseits in zugewanderte und einheimische, andererseits in eine sozialdemokratische und eine (stärkere) christlich-soziale Arbeiterbewegung. Greussing (1984), S. 10 118 Barnay (1988), S. 311 119 EW 1: Z 338

Landwirtschaftlicher Wandel und Industrialisierung sind miteinander verschränkt

Stickerei

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chael Felders120, kennen, vielmehr handelt es sich um eine manufakturartige Produktion in einem Ausmaß, das das Raumangebot des Bauernhauses sprengt und den beteiligten Bauern erhebliche Investitionen121 abnötigt. Es gab die kleinen Maschinen, wie so eine Nähmaschine sieht das aus, manche stehen noch in den Häusern herum, und es gab die ganz großen Maschinen, wo man eigene Anbauten gemacht hat. (...) Ich würde sagen, das waren sicher zehn Häuser, die so riesige Maschinen gehabt haben. Und dazu hat man in nahezu jedem Haus Handstickmaschinen gehabt. (...) Das war maschinell, alles maschinell.122

Von derjenigen „Heimarbeit“, deren Produkte die Heimatmuseen des Landes füllen, wo die gehäkelten und gestickten Spitzendecken und Vorhänge die idealisiert ausgestatteten „historischen“ Interieurs prägen, unterscheidet die Stickerei auch der Umstand, daß Formentscheidung, also „Entwurf“ seitens des bäuerlichen Produzenten, nicht gefragt ist. Die dem Bauern in seiner Nebenrolle als Heimarbeiter ausschließlich zugedachte Aufgabe ist, die Maschine zu betreiben und zu bedienen, deren Mustererzeugung wir uns, je nach Stand der Technik, als Nachvollzug vorgedruckter Muster, in einem fortschrittlicheren Stadium als Lochkartensteuerung vorstellen müssen. Auch der Weiterverkauf der Erzeugnisse lag nicht in der Hand der Bauern, sondern wurde von einem eigenen Berufsstand, den „Ferggern“, betrieben. Der in die Schweiz fährt, die Stoffe holt, der Anleitungen mitbringt, (...) der die ganzen Dinge im ganzen Ort verteilt, der die Löhne auszahlt, der schaut, daß die Qualität stimmt. (...) Schwierig auch, zum Teil. Den Preis auszuhandeln, für das, was die Leute gemacht haben.123

Wirthensohns Großvater, der hier bereits als Organist Pfarrer Sinz’ Erwähnung fand, stieg in dieses Geschäft ein und wurde reich damit. „Die Ware ist dann von der Schweiz aus wieder weiterverkauft worden. (...) Also, es kamen die Drucke, wurden hier veredelt. Schweizer Fabrikanten aus dem St. Galler Land haben das dann als Luxusware, nach Frankreich und weiß Gott, wohin (verkauft).“124 Der Vergleich mit anderen ländlichen Regionen Europas, etwa Schottlands, zeigt, daß die Bregenzerwälder Stickerei keineswegs einzigartig 120 „Nach dem Tischgebete wurden wassergefüllte Glaskugeln um das Licht herum gestellt, bei deren Schein nun die Mädchen zu sticken begannen...“ Felder, S. 168 121 Beim Ankauf von Stickereimaschinen durch die Bauern findet wohl auch die Raiffeisenbank in Thal ihren Platz, ebenfalls eine Gründung auf Veranlassung Martin Sinz’. 122 EW 1: Z 360 ff 123 EW 1: Z 379 ff 124 EW 1: Z 388 ff 125 „Periphere Gebiete sind nicht selten auch durch ungünstige Bedingungen für die Agrarproduktion gekennzeichnet, was sich in einem überproportionalen Anteil an Nebenerwerbsbetrieben äußert. Definitionsgemäß ist diese Form der Landwirtschaft auf das Vorhandensein ausserlandwirtschaftlicher Beschäftigungsmöglichkeiten angewiesen.“

Hofreither in: Rentsch (2006), S. 118 126 Ein weiterer wichtiger Modernisierungsbaustein des ländlichen Raumes ist, neben der Verzahnung mit der Industrieproduktion und der Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktionsweise selbst, in der Kapitalisierung der Landwirtschaft um die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert zu sehen. Dieser Aspekt kann aus den Forschungsgesprächen dort belegt werden, wo Wirthensohns Führung durch Thal in der örtlichen Raiffeisenbank halt macht. Der Filialleiter begründet die Gründung der Raiffeisenkasse Thal für das Jahr 1910, „weil dazumal die Landwirte einfach Kapital gebraucht haben“. EW 2: Z 1074 ff Krammer/Scheer stellen den niedrigen Geldbedarf heraus, der die davorliegende Entwicklungsphase der Ökonomie des ländlichen Raumes, die bäuerliche Selbsthilfe, kennzeichnet. Krammer/Scheer, S. 111

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Was ist ein Dorf?

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ist, sondern sowohl für die sich konsolidierende Industrie als auch für eine kleinbäuerliche Landwirtschaft eher typisch.125 Offenbar kann es rentabel sein, Teile der Produktion als „Heimarbeit“ aus der Fabrik auszulagern. Thal läßt erkennen, daß es auch von seiten der Landwirtschaft attraktiv erscheint, die Lücken in der saisonal unterschiedlich intensiven bäuerlichen Arbeit mit Maschinenarbeit zu füllen.126 Landwirtschaft, Handwerk und Industrie ergänzen einander seit dem neunzehnten Jahrhundert zu hybriden Arbeits- und Produktionsformen.127 Wirtschaftliche Globalisierungseffekte erzeugen jedoch Abhängigkeiten und vermindern die Autonomie des Dorfes. Das Getreide aus Ungarn steht nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zur Verfügung, die Spitzen können nicht mehr nach Frankreich verkauft werden, der Rhein trennt nun zwei Staaten, deren Wohlstandsgefälle zueinander durch den Ausgang des Weltkriegs steil geworden ist. Während die Schweiz aus Rücksicht auf ihre frankophone Bevölkerung versuchen muß, die latente Solidarität, die sie während des Weltkriegs gegenüber Deutschland und Österreich zeigte, zu verwischen128, ist Österreich um den Fortbestand seines verbliebenen Rumpflandes bemüht. Zeichenhaft fast, stirbt Pfarrer Sinz kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Was das neunzehnte Jahrhundert unter ökonomischen Vorzeichen grenzübergreifend vernetzt hat, ist durch die Nationalismen des zwanzigsten Jahrhunderts wieder gekappt und zerstückelt worden. Das Dorf Thal findet sich infolge dieser Weichenstellungen im europäischen Maßstab seit den 1920er Jahren auf einen wirtschaftlichen Zustand zurückgeworfen, der an jenen erinnert, den es hundert Jahre zuvor erreicht hatte.

Hybride Arbeitsund Produktionsformen zwischen Industrie und Landwirtschaft

Die Zwischenkriegszeit war arm, (auch) die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. (...) War bäuerlich, (...) nur bäuerlich.129

Nach Wegfall der industriellen Heimarbeit bleibt den Bewohnern Thals immerhin ihre Landwirtschaft, die die Selbstversorgung sichert. Die bäuerliche Selbsthilfe, die in Thal für das ausgehende neunzehnte Jahrhundert mit Pfarrer Sinz ihren Mentor gefunden hatte, weicht nun neben Thal auch in anderen, strukturell vergleichbaren, bergbäuerlich geprägten Regionen, wie der benachbarten Schweiz, jener Phase zunehmender staatlicher Eingriffe in die Landwirtschaft, die wir zu Beginn dieses Abschnitts bereits skizziert haben. In der Gegenüberstellung von Industrieproduktion und Landwirtschaft, letztere in Verbindung mit Agrarpolitik130 betrachtet, tritt eine Geplantheit beider Wirtschaftssektoren vor unser Auge, die wir zunächst mit Landwirtschaft nicht in Verbindung bringen.131 Diese Wahrnehmung von Planung innerhalb der landwirtschaftlichen Sphäre und die Feststellung ihrer Verschränkung mit der industriellen Produktion schlägt für uns diejenige Brücke zu Architektur (im Sinn einer Entsprechung der Methoden und einer Dominanz fachlich konditionierter Wahrnehmung), die uns in diesem Kapitel eine analytische Annäherung an die Rolle von Architektur im aktuellen Umbau des ländlichen Raumes und aus dieser Rollenbestimmung einen Rückschluß auf ihre gegenwärtige soziale Verfaßtheit erlaubt.

Geplantheit von Landwirtschaft und Architektur

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127 Was gegenwärtig als Folge der digitalen Revolution als „Heimarbeit“ neu entsteht, ist mit diesen hybriden Arbeits- und Produktionsformen vergleichbar. Zwischenzeitlich festgefügte Arbeitsverhältnisse, in denen der Status des Arbeitnehmers und der Ort der Produktion klar aufeinander bezogen organisiert waren, werden aufgeweicht, einerseits durch outsourcing seitens der Arbeitgeber, andererseits durch eine Auflösung der flankierenden Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum „Sozialstaat“. 128 Dreier /Pichler, S. 79 129 EW 1: Z 429 ff 130 Das Dritte Reich schafft in Deutschland und Österreich diejenigen Verwaltungsstrukturen, die die genossenschaftliche Phase der bäuerlichen „Selbsthilfe“ ablöst und eine systematische politische Lenkung

der Landwirtschaft durch gezielte finanzielle Förderung sowie die Schaffung rechtlicher Schutzbestimmungen, etwa im Boden- und Pachtrecht, einleitet, die bis heute andauert. Im Rahmen des gegenwärtigen Rückzugs des Staates aus seinem Selbstverständnis als Versorger wird diese Haltung erstmals in Frage gestellt. Zukünftig soll der „Sozialvertrag zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft“ (Rentsch (2006), S. 134) zugunsten eines stärkeren Leistungswettbewerbs, sowohl landwirtschaftsintern als auch mit nichtagrarischen Leistungsanbietern, den Marktkräften zu stärkerer Wirksamkeit verhelfen. 131 Avenir Suisse nutzt dieses Wahrnehmungsdefizit, indem das Institut seine jüngste Studie zur Schweizer Agrarpolitik als Aufklärungsschrift „Landwirtschaftliche Mythen“ deklariert. Rentsch (2008)

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295 5.2 Strukturen des Gemeinschaftslebens Der erste Abschnitt dieses Kapitels hat zur Beantwortung seiner Titelfrage „Was ist ein Dorf?“ zentrale Institutionen herausgestellt, die ein Dorf gesellschaftlich konstituieren: Familie, Vereine, Pfarrgemeinde. Sie schaffen, strukturieren und tragen das Gemeinschaftsleben und ergänzen das bauliche Dorf, die materielle Gestalt von Boden, Haus und Siedlung, zu einer „Lebensform“.1 Es sind vor allem Krisensituationen, wie das dargestellte „Kippen“ des Dorfes Thal, die wahrnehmen lassen, daß oberhalb der dörflichen Gesellschaft und der Gestalt seiner Bauten Organisationsstrukturen existieren, die Voraussetzungen für die Existenz des Dorfes schaffen, ohne in der unmittelbaren2 Verfügungsgewalt seiner Bewohner zu stehen: der Staat und seine Verwaltung, Kirche, Kapital und Wirtschaft, Eigentumsverhältnisse. Zum Fokus des Kapitels Dorf, der auf der Ästhetisierung des baulichen Bestandes der Dörfer liegt und die aktuelle Ökonomisierung des ländlichen Raumes unter den Voraussetzungen einer globalisierten Wirtschaft zu dieser Ästhetisierung in Beziehung setzt, bildet dieser Abschnitt ein Gegengewicht. Hier sollen diejenigen Bewegkräfte beschrieben werden, die neben der materiellen Gestalt des Dorfes existieren und damit zunächst außerhalb der Sphäre des Architektonischen liegen: Kommunikationsmedien und Begegnungsformen, Wissensarten, Praxen der Meinungsbildung und Beschlußfassung. Der breite Raum, der den außerarchitektonischen Bestandteilen dörflicher Lebenskultur damit eingeräumt wird, erscheint gerechtfertigt, indem er deutlich macht, daß Architektur nur ein gesellschaftlicher Anspruch unter anderen ist und, wie bereits im Kapitel Haus herausgestellt wurde, insbesondere im ländlichen Raum ein vergleichsweise junger. Der Anspruch auf totale Geltung ihrer Kategorien, den die stake holders der Architektur erheben und ihr Erfolg, ablesbar in der aktuellen, forcierten Verselbständigung der Ästhetisierung ländlicher Räume3, verdeutlicht daher vor allem, wohin und zu wessen Gunsten sich die gesellschaftlichen Kräfte auf den überdörflichen Organisationsebenen gegenwärtig verschieben und weniger, in welcher Weise sich die Ansprüche der Dorfbewohner „weiterentwickeln“. Architektur aus der Warte der sozialen Institutionen wahrzunehmen, erlaubt, ihre Indienststellung zugunsten sozialer Bedürfnisse ihrer Absolutstellung als Kunst gegenüberzustellen. Kunst jedoch verliert ihre „Unschuld“4 in dem Maß, 1 Vgl. Referat von Gerhard Violand, in: Wirthensohn, Jb. 1990 2 Der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt hat am Beispiel der Bayerischen „Räterepublik“ im Anschluß an den Ersten Weltkrieg mit dem Begriff der rechtlichen „Unmittelbarkeit“ diejenigen Situationen ge-

kennzeichnet, in denen das Volk gewaltsam die Verfügungsgewalt über solche Strukturen erobert. Schmitt ist später als „Kronjurist“ des Nationalsozialismus hervorgetreten. Vgl. Reinhard Mehring: Carl Schmitt – Aufstieg und Fall; München: Beck, 2009

Das Dorf als Lebensform

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296 Ansprüche an Architektur im ländlichen Raum

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in dem sie als Code für ökonomischen Wert in Dienst genommen wird.5 Die soziale Analyse des Dorfes grundiert den Befund, daß Architektur im ländlichen Raum gegenwärtig im Schnittpunkt konträr gerichteter Ansprüche steht: Dem Bemühen der Dorfbewohner um Aufrechterhaltung ihrer traditionellen Autonomie6 stehen übernationale Wirtschaftsinteressen an einer Entwicklung des ländlichen Raums zum global konkurrenzfähigen „Standort“ gegenüber.7 Beide Ansprüche manifestieren sich im Untersuchungsraum als Zeitgenössische Architektur in je eigener Gestalt, Gestalt sowohl als dingliche Form als auch als sozialer Auftritt ihrer Protagonisten verstanden. Drei Fälle liefern konkretes Material für die Analyse: Nach einer eingehenderen Befassung mit der Praxis des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal wenden wir uns ein weiteres Mal der Siedlung Im Fang in Höchst zu, um nach der Analyse ihrer architektonischen Form im Kapitel Haus nun die soziale Verfassung der Siedlung, als deren institutioneller Teil die „Haus- und Gemeinschaftsordnung“ jüngst aktualisiert worden ist, zu betrachten. Das Dorf Langenegg, bereits im Hintergrund der Geschichte des Eugster-Hauses aufgetaucht, ist 2009 durch den Landluft Baukultur-Gemeindepreis gewürdigt worden. Daß den nun prämierten Bauten eine soziale Präfiguration zugrundeliegt, erläutert Bürgermeister Peter Nußbaumer in unserem Interview.

Das Dorf der sozialen Institutionen

Um das Dorf der sozialen Institutionen näher zu bestimmen, kehren wir zurück zu der bildhaften Situation, die die Initiative zur Gründung des Selbsthilfevereins Thals markiert: Die Männer des Dorfes sitzen nach dem Sonntagsgottesdienst auf der Kirchenstiege und sprechen über ihre „Heimatlosigkeit“. Innerhalb der Konzentration auf die sozialen Institutionen, die diesen Abschnitt charakterisiert, wirft die Situation zunächst ein Licht auf die Rolle der Kirche, die diese im Dorf Thal noch in den 1980er Jahren innehat. Neben den Familien ist die Kirche, hier die katholische, diejenige Organisationsstruk-

3 Ablesbar ist diese Entwicklung etwa an einer Schwerpunktverschiebung der Kriterien für Dorferneuerungpreise zugunsten architektonischer Baukultur. Vgl. die folgenden Abschnitte dieses Kapitels. 4 „Von allem, was positiv ist und was menschliche Conventionen einführten, ist die Kunst, wie die Wissenschaft losgesprochen, und beide erfreuen sich einer ausgesprochenen Immunität von der Willkür der Menschen. Der politische Gesetzgeber kann ihr Gebiet sperren, aber darin herrschen kann er nicht.“ Friedrich Schiller: Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen 5 Vgl. Dillemuth (2006) Ein Symbol für den Zusammenhang bietet die Abbildung von Werken Zeitgenössischer Architektur auf Geldscheinen, etwa dem Schweizer 10-FrankenSchein, der LeCorbusier als Schweizer präsentiert.

6 Autonomie meint hier nicht das Fehlen von Abhängigkeiten (vgl. die Ausführungen zum Zentraldirigismus im Abschnitt Bauernhaus des Kapitels Haus), sondern die Fähigkeit, selbständig, kraft eigenhändigem Schaffen der dinglichen Lebensgrundlagen, zu (über)leben. 7 Vgl. die Analysen und Empfehlungen des Schweizer think tanks Avenir Suisse zur Entwicklung der Landwirtschaft und dem Umgang mit dem ländlichen Raum, etwa in: Eisinger 8 Durkheim definiert Religion und ihr Verhältnis zur Kirche wie folgt: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das

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tur, die den Einzelnen in dieser Situation des Zerfalls der gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen Anteile seiner Lebenswelt eine überindividuelle, verbindende Identität verleiht.8 Von der Kirchenstiege aus, dem Ort, der diese identitätsstiftende Funktion auf der dinglichen Ebene verkörpert, wird der gemeinsame dörfliche Lebensraum durch die versammelten Männer in den Blick genommen und gedanklich neu strukturiert. Ihr Ziel ist, die Handlungsfähigkeit der dörflichen Gemeinschaft wiederherzustellen. Die Gesamtsituation, die dieser Moment darstellt, ist aus Emile Durkheims Analyse der Elementaren Formen des religiösen Lebens 9 als archaische soziale Handlung zu deuten. Durkheim hat Religion als Medium analysiert, das dem Einzelnen überindividuelle Kräfte zuwachsen läßt, indem sie ihn des Rückhalts der Gemeinschaft versichert.10 Wenn die Männer Thals für ihren Beschluß, das Dorf zu reorganisieren, den Boden der Kirche wählen, nutzen sie intuitiv diese ursprüngliche Quelle des Gesellschaftlichen, das Religion Durkheim zufolge ist, ihre „stärkende“ Wirkung ebenso wie ihren inhärenten Lösungsansatz, der Gefährdung des Individuums in der Welt durch Gemeinschaftsbildung zu begegnen.

Soziale Rolle der Kirche

Religion als gemeinschaftsbildendes Medium

Auf der Methodenebene wird zur Bewältigung der Restrukturierungsaufgabe auf bewährte, naheliegende Organisationsformen des dörflichen Lebens zurückgegriffen. Wirthensohn: Bei uns [ist] im Grund alles vereinsmäßig organisiert, also, in dem kleinen Dorf gibts fünfzehn Vereine. Die Idee war im Grunde, einen Überverein über alle Vereine zu machen, und die Vereine auch einzubinden.11

Das Vorgehen der Thaler, mit ihrer großangelegten Restrukturierungskampagne bei den Vereinen des Dorfes12 anzusetzen, ist kein Einzelfall. Die in den Forschungsgesprächen dokumentierten Situationen weisen eine methodische Parallele im wenige Kilometer entfernten Dorf Langenegg auf. Um dem historisch bedingten Fehlen einer markanten Ortsmitte13 abzuhelfen,

zweite Element, das in unserer Definition auftaucht, ist nicht weniger wichtig, als das erste; denn wenn man zeigt, daß die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, daß die Religion eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit ist.“ Durkheim, S. 75 9 So der deutsche Titel seines religionssoziologischen Standardwerks Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912. 10 „So kann man die überragende Rolle des Kults in allen Religionen erklären, welche es auch seien. Die Gesellschaft kann ihren Einfluß nicht fühlbar machen, außer sie ist in Aktion; und dies ist sie nur, wenn die Individuen, die sie bilden, versammelt sind und gemeinsam handeln. Durch die gemeinsame Tat wird sie sich ihrer bewußt und realisiert sie sich: sie ist vor allem aktive Kooperation...“ Durkheim, S. 560

11 EW 1: Z 98 ff 12 Das erste veröffentlichte Mitgliederverzeichnis im Jahresbericht 1990 nennt folgende Thaler Vereine: Freiwillige Feuerwehr, Kameradschaftsbund, Kirchenchor, Kulturverein, Musikverein Alpenklänge, Sportverein, Turnerinnenclub, Viehzuchtverein. 13 Langenegg verdankt seine heutige Gestalt der Zusammenlegung zweier Dörfer, Ober- und Unterlangenegg. Die öffentlichen Funktionen Gemeindeamt, Schule, Raiffeisenbank und Altersheim haben sich im ehemaligen Oberlangenegg angesiedelt, „die Kirche ist draußen geblieben“ (PN: Z 97 ff). Die Möglichkeit, den Ort in der Landschaft durch den Kirchturm zu markieren und die Legitimität des Dorfes aus einem „historischen Zentrum“ (MN: Z 3 ff) abzuleiten, ist also in Langenegg verstellt.

Vereine organisieren die Dorfbevölkerung

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startet die dortige Gemeindeverwaltung in den Jahren um die Jahrtausendwende eine Bedarfserhebung unter den Dorfbewohnern.14 Das Ergebnis wird einerseits durch drei öffentlich genutzte Neubauten, Kindergarten mit Vereinsräumen15, Café16 und Einzelhandelsgeschäft17, realisiert, einer 2009 mit dem Landluft Baukultur-Gemeindepreis ausgezeichneten Gebäudegruppe, die unter dem Motto Stopp in Langenegg18 der bestehenden Durchgangsstraße einen baulich nachverdichteten Ortskern abgewinnt. Als mindestens ebenso wichtig wie die architektonische Maßnahme bezeichnet Bürgermeister Nußbaumer die gleichzeitig erfolgte räumliche Neupositionierung der dörflichen Vereine in dieser neuen Ortsmitte. Der konzeptionelle Prozeß, mit der Idee zur Errichtung einer Architekturgeste19 mit vorrangig symbolischer Bedeutung begonnen, hat schließlich in der konkreten Verdichtung des sozialen Lebens ein Ergebnis gefunden, das in der neugewonnenen, sichtbaren Belebtheit des Ortskerns auf einen selbstverstärkenden Effekt vertraut. Warum sollen die Leute bei uns stehenbleiben, solange die Bürger des eigenen Ortes nicht im Zentrum sind. (...) Wir holen die Jugend zurück ins Zentrum. Diese Einrichtungen werden komplettiert durch einen Kunstrasenspielplatz für Fußball und einen Volleyballplatz. Café, Jugendräume und die ganzen Vereinsräume sind jetzt im Zentrum. (...) Beim Kindergarten, da ist ein Musikprobelokal (...) und ist auch der Jugendraum im Keller. (...) Wir haben den Fußballclub im Ort, durch den Kunstrasenplatz und den Beachvolleyballplatz. (...) Die Feuerwehr, die haben wir schon da, also das heißt, wir haben dann alle Vereine, die irgendwie publikumswirksam sind, im Zentrum.20

Soziale Kompetenzen werden in Vereinen eingeübt

Ebenso wie Bürgermeister Nußbaumer für Langenegg, macht Ernst Wirthensohn für das Dorf Thal deutlich, daß die Organisationsstruktur, die ein Verein bietet, eine allen Dorfbewohnern vertraute, soziale Kompetenz verkörpert. Die Praxis der Meinungsbildung und daraus resultierender, von allen getragener Beschlußfassung wird in Vereinen eingeübt. „Es war immer so, daß wir auch einmal Bürgerversammlungen gehabt haben, oder bei den Vereinen auch gestritten worden ist, bis man zu einer Lösung gekommen ist.“21 Der Weg der Meinungsbildung beinhaltet das werbende Vorbringen der indi14 Eine Studentengruppe bearbeitet öffentlich die Aufgabe Ortszentrum. „Von der Universität Innsbruck, und von der Fachhochschule Liechtenstein. Die waren vierzehn Tage im Ort, haben vorab an Haushalte Fragebogen ausgeschickt, Befragungen gemacht, waren in jedem Gebäude, haben das Wohnzimmer fotografiert, damit sie eben mit den Leuten auch ins Gespräch kommen und haben abgefragt ,Was gefällt Ihnen in Langenegg, was gefällt Ihnen nicht?‘ (...) Und was sollte man aus ihrer Sicht, also aus der Sicht der Bevölkerung, machen, oder wie sollte man es machen, welche Gebäude werden gebraucht und wo sollte man sie situieren.“ (MN: Z 67 ff) Gemeindesekretär Mario Nußbaumer erläutert den weiteren Verlauf der Bürgerbeteiligung. „Die ganze Bevölkerung hat sich lange Zeit damit ausein-

andergesetzt. Und da hat es gemeinsame Auftaktveranstaltungen, Informationsveranstaltungen gegeben und auch in der Gemeindezeitung wurde immer darüber berichtet.“ (MN: Z ca. 596 ff) Die Gemeindeverwaltung stellt sich hinter die Studenten, indem es das Obergeschoß des Gemeindeamts zwei Wochen lang als Planungswerkstatt freigibt. Ermöglicht der Einwohnerschaft freien Zugang zu diesem Atelier. Stellt Identifikationsmöglichkeit mit dem Planungsprozeß her, der dann als Ergebnis das Programm für den anschließenden Architektenwettbewerb erbringt (PN: Z 194 ff). 15 Für die Gemeinde Langenegg ist die Blaskapelle so wichtig, daß im Untergeschoß des neuen Kindergartens ein umfänglicher Übungssaal gebaut wurde. Auch Sulzbergs neues Gemeindeamt bietet im Unter-

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viduellen, voneinander unterschiedlichen Meinungen der Anwesenden und die Abwägung und Gewichtung der Argumente in der Diskussion, ein zeitaufwendiger Prozeß, wie Wirthensohn beklagt, ein Prozeß, der jedoch, wenn er zu Ende gebracht ist, Solidarität und Identifikation gewährleistet. Die gemeinschaftliche Problemdiskussion droht zu stocken, sobald sie zu wenig zielgerichtet ist. Eine Zielorientierung allerdings ist vom Kollektiv allein nicht zu leisten, ist sogar antikollektiv. Die Problemstrukturierung muß vom Einzelnen vorformuliert, der Gemeinschaft unterscheidbare Handlungsalternativen zur Beschlußfassung vorgelegt werden.22 Gerhard Gruber schätzt das Selbstbewußtsein der Thaler Dorfbewohner so stark ein, daß an einer breiten Diskussion kein Weg vorbeiführt. „Also, das heißt, es gibt einen Vorstand in diesem Verein, aber das heißt nicht, daß das, was der Vorstand beschließt, das wird dann nocheinmal lang und breit diskutiert. Und dann wirds irgendwann gemacht.“23 Gerhard Grubers Wahrnehmung als Architekt, der nicht nur für den Selbsthilfeverein Dorfgemeinschaft Thal, sondern über Thal hinaus auch in den umliegenden Gemeinden des Vorderen Bregenzerwaldes tätig ist, läßt uns diese Praxis der dörflichen Meinungsbildung als regionsspezifische Praxis der innerdörflichen, handlungsleitenden Beschlußfassung wahrnehmen. Wenn der Selbsthilfeverein der Bauherr ist, dann ist das meistens schon sehr kompliziert. Weil in so einem Dorf, da kann man nicht autoritär regieren, die sind einfach abhängig voneinander, das wissen die auch. (...) Also sie stellen niemand in die Ecke, oder an die Wand, und da darf jeder sich zu Wort melden. Und es wird schon ziemlich lange geredet, bevor dann etwas angepackt wird, damit man auch sicher ist, daß da kein Unmut oder eine Spaltung im Dorf ist. Es scheint aber in dieser Gegend insgesamt so zu sein. Weil, ich mache jetzt in Sulzberg einen Bau, also für die Gemeinde. Und da habe ich mitgekriegt, daß es üblich ist, in Sulzberg alle Gemeinderatsbeschlüsse einstimmig zu fassen. Und das funktioniert fast immer. Und es wird auch so lange geredet und getan, daß das möglich ist.24

Gerade Thal, das „prekäre“ Dorf, ist geeignet, die Organisation seiner Gesellschaft als Konstruktion ineinander verschränkter Identitäten wahrzunehmen und elementare soziale Grundstrukturen festzustellen, die auch geschoß einen Blasmusik-Übungssaal.Weitere Beispiele finden sich in nahezu jedem Bregenzerwälder Dorf. 16 Gemeindesekretär Mario Nußbaumer zufolge ist sowohl die Jugendgruppe des Dorfes als auch das Café als Verein organisiert. „Der hat derzeit knapp fünfzig Mitglieder, da kann sich jeder um tausend Euro einen Anteil kaufen, und dann ist er Mitbesitzer des Cafés. Damit ist für denjenigen, der das Café betreibt, das Risiko minimal, denn mit den Tausend-Euro-Anteilen wird die Einrichtung finanziert.“ MN: Z 523 ff 17 Auch das Einzelhandelsgeschäft, für welches 2009 ein Neubau errichtet wurde, ist in Langenegg als Verein organisiert. 18 PN: Z 161 19 PN: Z 142 ff; ausführlicher im Abschnitt Architektur im Dorf dieses Kapitels

20 PN: Z 208 ff 21 EW 1: Z 154 ff 22 Ernst Wirthensohn stellt in der Darstellung seiner und seines Bruders, des Fraktionsvorstehers Mentalität, zwei Extreme einander gegenüber: „Mein Bruder (...) wollte immer alle einbinden und deshalb waren die Diskussionen unglaublich lang und mühsam. (...) Ich bin also einer, der da immer trommelt, trommelt, trommelt, trommelt, für Ideen, oder, und dann hat man noch immer den Wunsch, Mensch, es muß ein bißchen vorwärts gehen. Und dann manchmal hat man aber Durststrecken, wo ein Jahr oder eineinhalb überhaupt nichts geschehen ist. Und die Diskussion gestockt ist, total.“ (EW 1: Z 177 ff) 23 GG: Z 423 ff 24 GG: Z 384 ff

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Politische Identität Thals

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stabileren Dörfern zugrundeliegen, dort jedoch, weil althergebracht, gegenwärtig ungefährdet und durch komplexere Sozialstrukturen überformt, weit weniger deutlich wahrnehmbar sind. Später noch als zu einer kirchlichen Identität, die der vormals „informellen“ Siedlung erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in ihrer Erhebung zur eigenständigen Pfarrei zugewachsen ist, findet das Dorf auch zu einer gewissen politischen Eigenständigkeit und Identität. Formell hat Thal als Fraktion Sulzbergs einen Platz in einem festgefügten politischen System inne. Gruber beschreibt dessen Wirkungsweise, die ursprünglich einer Entmündigung Thals gleichkommt, anläßlich des Wahlverhaltens der Gesamtgemeinde und dessen Niederschlag in der Zusammensetzung des Sulzberger Gemeinderats. Ein Sulzberger hat nie einen Thaler gewählt, oder es war eher unwahrscheinlich. (...) Die Thaler haben den Bürgermeister mit gewählt und damit war das erledigt.25

„Thaler Liste“

Zur generationenalten Erfahrung der Dorfbewohner gehört es demnach, daß ihre Existenzerhaltung von der traditionellen politischen Struktur nur unzureichend gewährleistet wird. Wirthensohn bekräftigt Grubers Einschätzung: „Die Heimatgemeinde ist zehn Kilometer weg, sehr weit. Die wirkliche Gemeindepolitik hat sich nie hier in Thal abgespielt.“26 Sulzberg als „Fremdenverkehrsgemeinde“ schaut zuerst auf sich und seine „Fremdenverkehrsprojekte“27, und erst in untergeordneter Linie auch auf seine kleine Parzelle Thal. Die Thaler gewinnen jedoch aus ihrer Reorganisation als Selbsthilfeverein eine dörfliche Solidarität, aus der gewohnten Situation ein neues Recht zur Selbstbehauptung abzuleiten, auch wenn diese Haltung erfordert, ihre historische „Opposition zu Sulzberg“28 in die Zukunft zu verlängern. „Die Thaler haben immer gewußt: Wenn man was erreichen will, dann muß man es erstens selber machen, und zweitens, man muß es noch erkämpfen.“29 Das erforderliche Selbstbewußtsein stützt sich auf jeden einzelnen Dorfbewohner, der so zum verantwortlichen Mitträger einer dörflichen Solidargemeinschaft wird. Wahlbeteiligung hieß für die Thaler bisher, Befugnisse zu übertragen, ohne vertreten zu werden, die Selbstbestimmung damit aus der eigenen Hand zu geben. Der Weg zur eigenen politischen Identität ist nun, innerhalb des kommunalen Gefüges der Gemeinde Sulzberg „sich selbst“ zu wählen. Eine Thaler Liste ermöglicht, eine eigene Interessensvertretung innerhalb des Sulzberger Gemeinderats zu etablieren und so den politischen Prozeß erstmals mitzubestimmen. Gruber: Sie haben sich mehr oder weniger darauf verständigt, daß alle Thaler die Thaler Liste wählen. (...) Mittlerweile haben die Thaler zwei Gemeinderäte in Sulzberg. Was vorher nie möglich war, weil natürlich alles so zersplittert war. (...) Und jetzt haben die ein Gewicht in Sulzberg, ein politisches Gewicht.30

Wirthensohn ist sich jedoch gerade im politischen Bereich der Grenzen bewußt, die der Selbsthilfe gesetzt sind. Thaler Liste und Selbsthilfeverein können das Überleben des Dorfes nicht in allen Aspekten gewährleisten.

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Dem Trend der Zeit zur Kinderlosigkeit und Kleinfamilie und der davon ausgelösten Bestandsgefährdung von Kindergarten und Schule etwa kann nur unzureichend entgegengesteuert werden, solange Thal nicht die Befugnisse eines eigenen Gemeinderats besitzt. [Erst] wenn die Schule wieder in Gefahr ist, wird halt wieder was passieren. Und die Schülerzahlen sinken noch viel mehr. (...) Es gibt wirklich nur mehr ganz wenige Kinder im Ort, die zwischen einem und vier Jahre alt sind.31

Indem Thals Heimatgemeinde Sulzberg für sein Kerngebiet Baugründe ausgewiesen und auf diese Weise „viele junge Familien gekriegt“32 hat, ist ein möglicher Weg aufgezeigt, wie auf der politischen Verwaltungsebene der Dörfer den Auswirkungen rückläufiger Bevölkerungsentwicklung entgegengesteuert werden kann. Für Thals basisdemokratischen Selbsthilfeverein schätzt Wirthensohn die Initiative zu solchen Maßnahmen pessimistisch ein, da die Mobilisierungshürde zur Überzeugung der Dorfbewohner unüberwindbar hoch erscheint.

Schulerhalt durch Ausweisung von Baugründen

Wir haben das auch schon debattiert... aber das ist nur belächelt worden...was der für einen Käs daherredet... er soll doch die Kinder selber machen.33

Auch auf einem anderen Sektor der Versorgungspolitik, der Aufrechterhaltung der gefährdeten Anbindung des abgelegenen Dorfes an den öffentlichen Nahverkehr, ist der Selbsthilfeverein konkret gefordert. Die neuen „Landhäuser“ der Pendler und ihre auf Mobilität basierenden Arbeitsverhältnisse benötigen vermehrt Infrastruktur in Form von Straßen und Parkplätzen, alternativ öffentliche Busverbindungen. Bereits der Gründungspfarrer hatte um die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert erkannt, daß die Mobilität der Dorfbewohner ebenso wie die räumliche Verbindung des Dorfgebiets nach draußen zu den Überlebensvoraussetzungen eines zeitgemäß organisierten Dorfes gehört. Gruber: „Martin Sinz hat auch eine Brücke zum Beispiel gebaut.“34 Auch auf diesem Sektor der Versorgung sieht sich der Selbsthilfeverein nun in seiner Nachfolge.

Aufrechterhaltung der Verkehrsanbindung

Es gibt zum Beispiel Überlegungen, daß dieser Verein wesentlich mehr infrastrukturelle Aufgaben übernimmt, also es gibt momentan im Bregenzerwald so Probleme mit den Bussen. (...) Es ist nicht sicher, daß diese Anbindung von Thal an die Hauptlinie Vorderwald – Hittisau – Doren – Bregenz, so gut weiter funktionieren kann. Es gibt aber Überlegungen, daß der Selbsthilfeverein das irgendwann übernehmen wird, die Verbindung von Thal zur Hauptlinie nach Doren. Also, das geht über die Versorgungsfunktion durch den Laden hinaus.35

In den Gesprächen mit Wirthensohn und Gruber über die politische Ebene der Selbsthilfe tritt deutlich zutage, daß mittels der Organisationsform des Selbsthilfevereins vor allem solche Probleme lösbar sind, deren unmittelbarer Zusammenhang mit der Lebenswelt der Dorfbewohner erkennbar ist. 25 26 27 28 29

GG: Z 138 ff EW 1: Z 117 ff „Das Geld geht (...) dorthin.“ (EW 1: Z 123 ff) EW 1: Z 122 EW 1: Z 128 ff

30 31 32 33 34

GG: Z 132 ff EW 1: Z 1137 ff EW 1: Z 1123 EW 1: Z 1143 ff GG: Z 38 ff

Unzugänglichkeit abstrakter Problemstellungen

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Je „abstrakter“, je weniger erkennbar der Zusammenhang mit den Lebensbedingungen der Dorfgesellschaft ist, desto unzugänglicher werden die Aufgabenstellungen für die Praxis der basisdemokratischen Beschlußfassung und Umsetzung.36 Einmal haben wir schon so etwas gemacht, da gings also darum, eine Vision „Thal in zwanzig Jahren“. Was wollen wir bis dorthin, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Da gabs vier, fünf Veranstaltungen. Gemeindeentwicklung, oder so in die Richtung, Leitbild. (...) Es gab zum Schluß dann das Plakat, wir wollen das und das, und das war ziemlich theoretisch. (...) Energie mobilisieren kann man nur immer dann, wenn es um etwas Konkretes geht. Wenn die Leute wieder anpacken können. Vor allem, wenn sie was selber machen können. Und hier haben die Leute 10.000 Stunden gearbeitet, in dem [Gemeinschafts-]Haus, gratis. Das bringt irgendwie dann das Gemeinschaftserlebnis, einen gewissen Stolz, eine gewisse Zufriedenheit, Freude daran. Immer dann, wenn ein konkretes Projekt gemeinsam erarbeitet wird.37 Unterscheidung intellektueller Orientierungsweisen sozialer Schichten

Prozeßorientierung des Bauens

Wirthensohn unterscheidet hier zwei intellektuelle Orientierungswelten38, deren Angehörigen der Selbsthilfeverein ein gemeinsames Dach bietet. Diejenigen, denen gedankliche Strukturierung und theoretische Vorausschau, also Planung, bereits ein Anliegen an sich und der Plan ein Ergebnis ist, und diejenigen, die gegenüber dieser spekulativen Sphäre die substantielle Welt als ihre Heimat betrachten bzw. durch Bearbeitung von materieller Substanz sich unmittelbar Heimat schaffen. Offensichtlich gelingt es dem Verein, für das Dorf Thal ein soziales System zu schaffen, in dem beide Mentalitäten als gleichwertige Kompetenzen interagieren und am gemeinsamen Lebensraum mitgestalten können, ohne diejenige Dominanz der akademischen Bewohnerschicht über die bäuerlichhandwerkliche entstehen zu lassen, die wir im letzten Kapitel als generelle Tendenz der gegenwärtigen Entwicklung des ländlichen Raums angesprochen haben. Indem sich die Dorfgemeinschaft Thal als weitgehend autonomer sozialer Raum begreift, gewinnt gerade die in komplexer organisierten kommunalen Gesellschaften hierarchisch untergeordnete Kompetenz, Bauen weniger ergebnisorientiert denn prozeßorientiert wahrzunehmen, Ausdruck und Spielraum. Eine solche Sinngebung des Bauens ist durch einen architektonisch bestimmten Begriff des Bauens nicht zu fassen. Durch die Definitionshoheit der Architektenvertreter über den Begriff Bauen wird seine unmittelbar soziale, prozeßhafte Bestimmung so vollständig verdrängt, daß sie aus dem 35 GG: Z 855 ff 36 Auf die Unterschiede der intellektuellen Orientierung, die zwischen sozialen Schichten bestehen, wurde bereits im Abschnitt „Ein anderes Haus“ des Kapitels Haus hingewiesen. Ebendieser Unterschied tritt im basisdemokratischen Meinungsbildungsprozeß des Selbsthilfevereins zutage und bestimmt hier die handlungsleitenden Entscheidungen. Ein Denken und Identitätskonstruktionen, die auf punktuellem Verankern in verschiedenartigen, teils fernliegenden Feldern beruhen, die erst durch

Bildung zugänglich und verknüpfbar werden, kennzeichnet vor allem Akademiker. 37 EW 1: Z 999 ff 38 Der Begriff „intellektuell“ ist an dieser Stelle ohne seine schichtenspezifische Konnotation verwendet und meint, Durkheim folgend, diejenige Orientierung, die vom Denken bestimmt ist. Vgl. Durkheim, S. 23 39 Steger weist auf die Aktualität hin, die das Modell der „Baugruppen“ zunehmend in der städtischen Immobilienpolitik gewinnt, indem mittlerweile in Großstädten wie Wien, Berlin, Hamburg, Tübingen

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gesellschaftlichen Diskurs zu verschwinden droht. Daß der prozeßhaft definierte Begriff des Bauens in der Selbstbaubewegung der 1970er bis 1980er Jahre gerade in Vorarlberg auch in den Kreisen junger Akademiker lebenspraktisch erprobt worden war, bestätigt jedoch, daß es sich um ein Phänomen handelt, dem als gegenwartsnahes Lebensmodell Beachtung gebührt.39 Wir werden anschließend auf ein „überlebendes“ Exemplar einer solchen Selbstbaugruppe zu sprechen kommen. In der einfach strukturierten Gesellschaft, die die Dorfgemeinschaft Thal in ihrer Organisationsform als Selbsthilfeverein verkörpert, wird Bauen ebenso wie seine Produkte, Haus und Raum, noch unmittelbar aus dem Sozialen bestimmt. Bauen dient der Abhilfe eines Mangels oder der Schaffung einer substantiellen Struktur durch gemeinsame, unmittelbar eigenhändige Aktivität. Deren Sinn liegt wenigstens ebensosehr im gemeinsam erlebten Prozeß wie im erzeugten Resultat. Eine dauerhafte Verankerung findet diese unakademische, innerhalb der autonomen 40 bäuerlich-handwerklichen Lebenswelt der vormodernen Dorfgesellschaften entwickelte Konnotation von Bauen in der Verfassung des Selbsthilfevereins.41 Wirthensohn grenzt dessen Zielhorizont auf ein Arbeiten „von Projekt zu Projekt“ ein, „das nächste Ziel ist zum Beispiel der Dorfsaal“42, und rekapituliert die Aktivitätsgeschichte des Vereins als Reihe von Bauprojekten, die mit dem Erwerb des Gasthofs Krone ihren Anfang nimmt: Wiedereröffnung Gasthaus, Wiedereröffnung Laden, das Ganze in Betrieb halten, schauen, daß man Pächter hat, schauen, daß man das ganze Haus renovieren kann, das haben wir so Stück für Stück gemacht, das waren immer wieder die nächsten Ziele. Das machen, das machen, das machen. Ja, und das ganz große Ziel war natürlich, diesen Anbau zu machen, diesen Neubau. Die alte Diskussion. Wer kommt da hinein, wer macht mit, kommt die Feuerwehr hinein, oder nicht, zum Beispiel. Und der zentrale Mieter ist die Bank? Ja, und der gemeindliche Musikverein. Dann haben wir das Projekt „Dorfplatz“ gemacht. Und jetzt das Projekt „Saal“. Und zwischendurch die Schule. Die Schule war eine Gemeindesache. Da war der Selbsthilfeverein kaum damit, ja, in der Diskussion schon, doch. Also in der Diskussion, was kommt in die Schule hinein und was kommt hier? (...) Machen wir zuerst eine Mehrzweckturnhalle in der Schule, oder renovieren wir den Saal? Machen wir den Musikproberaum in der Schule, oder kommt er hier herein? Also, es war schon eng verquickt.43

und Freiburg ausdrücklich Grundstücke aus städtischem Besitz für Bauprojekte solcher Gemeinschaften bereitgestellt und so dem „freien Markt“ und seinen negativen Auswirkungen auf die Sozialstruktur innerstädtischer Areale entzogen werden. 40 Moser arbeitet in seinen Befunden zum „Zentraldirigismus“ heraus, daß sich die historisch nachweisbaren Einwirkungen staatlich-städtischer Verwaltungsstrukturen auf das „vernakuläre Bauen“ im Wesentlichen auf „Waldschutz und Holzersparnis sowie Brandverhütung neben gewissen einfachsten hygieni-

schen Rücksichten“ beschränkte, jedoch die „treffliche formale Lösung etwa in den Bauproportionen und der äußere Schmuckaufwand am Bauernhaus ureigenste Leistung sowohl der Bauhandwerker wie auch der Bauherren selbst gewesen ist“. Moser, S. 16 Wenn hier eine „Autonomie“ des ländlich-handwerklichen Bauens betont wird, ist neben Mosers Befunden vor allem ein ökonomischer Aspekt angesprochen, der sich etwa auf lokale Materialvorkommen und auf eine Technik konzentriert, die in der Verfügungsgewalt der jeweiligen Dorfgemeinschaft liegen.

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Reorganisation des Dorfes durch Plazierung seiner gesellschaftlichen Institutionen

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Es gibt demnach kein abstraktes Ziel des Vereins, sondern ein konkretes, den Prozeß der Selbstorganisation Thals aufrechtzuerhalten. Und obwohl der Prozeß sehr stark entlang der aufeinanderfolgenden Bauprojekte verläuft, ist nicht „Bauen“ das Ziel. Eher ist Bauen eine Entsprechung des Dorf(über-) lebens auf der Handlungsebene. Der Selbsthilfeverein arbeitet also nicht für das Bauen, sondern indem er baut. Zu diesem Prozeß gehören neben den eigentlichen Bauaktionen eine Fülle von Diskussionen zur Meinungsbildung und Interessenabwägung, die so lange dauern, bis das Bauprogramm erarbeitet und darin der zukünftige Platz der Institutionen festgelegt ist. Vor allem hierin findet der Prozeß der Organisation des Dorflebens seine Zielorientierung: im Bestreben, für die verschiedenen Institutionen und Vereine räumliche und soziale Orte zu schaffen. Indem die Sektoren der Dorfgesellschaft, die Vereine, räumlich plaziert werden, wird das Dorfleben neu geordnet. Auch in Projekten, deren Bauherr nicht der Verein ist, wie der Schule, tritt der Verein als Organisationsstruktur auf, die einzig imstande ist, die Bedürfnisse des Dorfes zu ermitteln und als Ergebnis zu formulieren. Um die spezifische Bestimmung des Begriffs Bauen zusammenzufassen, die der Selbsthilfeverein Thal programmatisch praktiziert, greifen wir hier nochmals auf Durkheims Bestimmung von Religion und darin speziell diejenige des Kultes zurück: Demzufolge dient der religiöse Kult primär dazu, ein Institut für vitales Gemeinschaftsgefühl als Kraftquelle für den Einzelnen zu etablieren.44 Vergleichbares finden wir im Begriff Bauen der Praxis des Selbsthilfevereins, da auch hier, im prozeßhaften Bauen, ein fortgesetztes Erlebnis konstituiert wird, das dem Einzelnen Zutrauen in die Überlebenskraft als Gemeinschaft vermittelt, ihn aktiviert und in den Stand versetzt, überindividuelle Kräfte und damit Widerstandsvermögen gegen ihn bedrängende Gefahrenmomente zu entwickeln. Notwendiger Bestandteil dieser Praxis ist die Selbstbestimmung des Dorfes als weitgehend autonome Gesellschaft. „Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen“45, formuliert Wirthensohn deren Leitprinzip. Dieses Prinzip gilt nicht nur für das politische Selbstverständnis, sondern in besonderem Maß auch für die Praxis des Bauens. Das Selbstbild als autonome Gesell41 Vgl. Satzung des Selbsthilfevereins Dorfgemeinschaft Thal, insbesondere Art. 3.2. Materielle Mittel zur Erreichung des Vereinszwecks: „Fronleistungen der Vereinsmitglieder“; in: Wirthensohn, Jb. 1991–92 42 EW 1: Z 956 f 43 Ebd. 44 Durkheim, S. 558 ff 45 EW 1: Z 489 f 46 Gruber verdeutlicht im Gespräch, daß weit mehr als die abstrakte Zahl der Betriebe die konkret sichtbare Präsenz des Handwerks im Dorf die Identität der dörflichen Gesellschaft als gemeinschaftliche Lebensform stärkt. Ganz entgegen betriebswirtschaftli-

chen und städtisch-modernen Konzepten, die eine funktionelle Trennung der Bauten für Wohnen und Arbeiten propagieren, produziert die Schlosserei wieder direkt am Dorfplatz (wo sicherlich keine optimalen Produktionsbedingungen herrschen, was Lärm, Platzbedarf und Anlieferungsmöglichkeiten angeht) und verbindet Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. „Der Sohn (...), der hat jetzt dieses Haus saniert, wo die Schlosserei unten drin ist, die Werkstatt, und er wohnt jetzt obendrüber wieder. Also es passiert langsam durch diese Vereinsaktivitäten, kommt auch im Zentrum wieder mehr Leben.“ (GG: Z 1181 ff)

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schaft gründet in der individuellen handwerklichen Kompetenz, die für seine Mitglieder bestimmend bleibt, obwohl die Zahl der Handwerksbetriebe im Dorf mittlerweile auf wenige zusammengeschrumpft ist.46 Es gibt [neben der Schlosserei am Dorfplatz] nur noch eine Schreinerei. Aber es gibt irgendwie die Tradition, man muß die Dinge können. Und es gibt sehr viele, die einfach sehr viel können, handwerklich. (...) Das ist für Bauern schon in gewisser Weise typisch, aber es ist auch typisch für die bürgerlichen Leute. Man hat ja früher alles selber gemacht. Man hat doch nie irgendwo einen Handwerker geholt (von) außerhalb des Dorfes. Das war undenkbar. (...) Aus finanziellen [Gründen], und aus Tradition. (...) Aus Selbstbewußtsein.47

„Sich helfen können“ ist als embodied knowledge48 zunächst diejenige Wissensart, die die Überlebensvoraussetzung für die praktizierte Selbständigkeit gewährleistet. Wirthensohns Schilderung verdeutlich daneben, daß „sich helfen können“ auch als Demonstration von Kompetenz wirksam ist. „Sich helfen können“ besitzt demnach als Bestandteil des Selbstbewußtseins und der Ehre seine zugehörige Repräsentationsform. Damit ist gesagt, daß jene nichtintellektuelle Wissensart des inkorporierten Wissens, zu der handwerkliche Kompetenz gehört, sich durchaus äußert, jedoch nonverbal, und damit eine Ausdrucksform nutzt, die vorzugsweise innerhalb einer dörflichen Gesellschaft rezipiert wird. Das wachsende Hierarchiegefälle zwischen „Machen(-können)“ und „Planen(-können)“, das die vorliegende Arbeit in Gestalt von handwerklichem und architektonischem Bauen gegenüberstellt, findet eine Erklärung in den zugeordneten Äußerungsformen: Nur wer imstande ist, über seine Kompetenz nicht nur zu verfügen, sondern auch zu sprechen, findet in der zunehmend intellektualisierten Gesellschaft Vorarlbergs und ihrem einseitig intellektuell geprägten, modernen Bildungsbegriff Wahrnehmung und Förderung.49 Alles selbst machen zu können heißt, außer dem Mangel unmittelbar abhelfen zu können, gleichzeitig, über das Gemachte bestimmen, die eigenen Lebensbedingungen auf der Ebene der konkreten, materiellen Beschaffenheit von Haus, Hof und deren Einrichtung gestalten zu können. Aus einem solchen Verständnis heraus heißt „unabhängig sein“ nicht nur, nicht abhängig von anderen, sondern „fähig zu überleben“ in einem umfassenden, positiv verstandenen Sinn50, einem Sinn, dem, auf das Dorf bezogen, das Handwerk 47 EW 1: Z 464 ff 48 In der Wissenstheorie bezeichnet embodied knowledge oder inkorporiertes Wissen ein implizit vorhandenes Wissen, das an einen Körper gebunden ist und durch dessen Disziplinierung zur Wirkung gelangt. 49 Vgl. etwa die gegenwärtigen Diskussionen um die Reform der Regelschule (dessen argumentative Eckpunkte für Österreich etwa im „Grünen Bildungsprogramm“ 2009 formuliert sind), in dem ausschließlich über intellektuelles Wissen und seine Vermittlung gesprochen wird. Diese Einseitigkeit tritt umso auffälliger in Erscheinung, als die reformpädagogi-

schen Praxisformen seit den 1920er Jahren, die Reformschulen, erfolgreich auf eine Vernetzung von „inkorporiertem“ und „intellektuellem“ Wissen setzen. 50 Diese Haltung lebt als traditionelle Werkstattautonomie in Handwerksbetrieben fort. Eine solche Definition von Handwerk grenzt dieses deutlich ab von seiner unspezifischen EU-Definition als „small and medium-sized Enterprises (SMEs)“, die aus einer ausschließlichen Produktorientiertheit heraus den Handwerker von seiner sozialen Erfahrungsgeschichte abtrennt. Vgl. Abschnitt Reform des Handwerks: Externe Entwerfer, Kapitel Handwerk

„Sich helfen können“ als embodied knowledge

Gesellschaftliche Hierarchie der Wissensarten

Handwerklichbäuerliche Wissensbestände als Grundlage dörflicher Autonomie

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Kulturbegriff der Selbstbaubewegung

Bauen als Gemeinschaftserlebnis

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als Kompetenz zur gebrauchsgerechten Umformung der naturgegebenen Substanzen und Stoffe, ebenso wie die bäuerliche Bearbeitung des Bodens, als archaische Kulturkompetenzen zugrundeliegen. Bei ebendiesem, einem vormodernen Landleben zugeschriebenen Kulturbegriff51, als Sehnsuchtsziel eines vollständigen Menschseins aufgefaßt, setzt die Selbstbaubewegung der 1970er und 80er Jahre an52 und entwikkelt aus einer Kritik an der Komplexität der modernen Lebensbedingungen, die als Wurzel von Entfremdung und Ausgeliefertsein interpretiert werden53, ein alternatives Lebensmodell. Vergleichbar der Haltung des Thaler Selbsthilfevereins, dessen spezifisch dörfliches, aus einer bäuerlich-handwerklichen Praxis der Eigenhändigkeit kommendes Verständnis von Selbständigkeit sich in einem sozial bestimmten Begriff von Bauen niederschlägt, versteht auch die Selbstbaubewegung, deren Protagonisten mehrheitlich einer jungen Akademikergeneration54 entstammen (was sie wesentlich von jeder traditionellen dörflichen Gesellschaft unterscheidet), Bauen als konkretes, eigenhändiges Schaffen der materiellen und räumlichen Voraussetzungen eines alternativen Lebensstils und damit als Erlebnis- und Repräsentationsmedium praktizierter Unabhängigkeit.55 Der Zeitpunkt meines Gespräches mit Norbert und Reinelde Mittersteiner fiel zusammen mit dem fünfundzwanzigjährigen Bestehen56 ihres Hauses, Teil der Siedlung Im Fang in Höchst, zu deren Gründungsbauherren das Ehepaar gehört. Der kürzlich abgeschlossene Verkauf eines der fünf Häuser an eine junge Familie hatte Anlaß gegeben, die Haus- und Gemeinschaftsordnung der Siedlung auf ihre Aktualität hin zu überprüfen und neu zu fassen. Es war erforderlich gewesen, die Bedingungen des Zusammenlebens zu reflektieren und neu zu formulieren. Das intensive Interesse an der sozialen Konstruktion der Siedlung, das der Verkauf des Hauses gezeigt hatte, hatte diese Anstrengung rückwirkend bestätigt. Reinelde Mittersteiner: „Die Siedlung kommt in Trend wieder (lacht). (...) Das sind jetzt junge Leute und die sind einfach total begeistert davon.“57 Diese Vorbereitung hatte unser Gespräch thematisch bestimmt. Aus Norbert Mittersteiners rückblickender Betonung der Prozeßhaftigkeit, die der „Baugeschichte“ der Siedlung „einen wichtigen Wert“58 gegeben habe, wird deutlich, daß die Zielorientierung des gemeinsamen Bauens, die Erzeugung des Hauses, in einer Weise organisiert war, die ein Gemeinschaftserlebnis als erwünschtes Nebenprodukt kultiviert hatte. Beginn war gemeinsame Arbeit, da haben wir jedes Wochenende miteinander gearbeitet (...) und da waren wir ständig im Kontakt. Nach dem Bezug waren immer noch einige Arbeiten offen, oder... da gabs sogar einen gemeinsamen Mittagstisch, da hat man gemeinsam zu Mittag gegessen hier im Haus, bis die Gruppe dann zu groß wurde, oder.59

Die „gemeinsame Arbeit“ des Hausbaus und die heutigen institutionalisierten Bewohnertreffen stehen in seiner Darstellung für unterschiedliche Formen der Gemeinschaft. Der „ständige Kontakt“ des Beginns, gekennzeichnet durch den familienartigen gemeinsamen Mittagstisch, ist punktuellen

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Sitzungen viermal pro Jahr gewichen. Seit dem Beginn ist ein Vierteljahrhundert vergangen, geprägt durch die heranwachsenden Kinder, die, jedenfalls für Norbert Mittersteiner, einen Hauptanlaß für den Einstieg in das soziale Experiment der Siedlung gegeben hatten und heute von ihm als eigentlicher Grund für den intensiven sozialen Verbund der fünf Familien bewertet werden. „Bei allen Mühen für uns Alten, für die Jungen habe ich da schon sehr große Chancen gesehen.“60 Vor allem für Reinelde Mittersteiner stand von Beginn an die Notwendigkeit fest, den Bedingungen des Gemeinschaftslebens eine verbindliche Regel zu geben und eine Haus- und Gemeinschaftsordnung zu formulieren.

Zusammenschluß von Kleinfamilien zugunsten ihrer Kinder

Wir sind am Anfang ganz unterschiedlicher Meinung gewesen, ob eine Gemeinschaftsordnung notwendig ist, oder nicht, oder. Ob man das schriftlich fassen soll, ob das verbindlich ist, oder. Und dann waren wir der Meinung, daß das ganz notwendig ist, daß man das in guten Zeiten machen muß, daß ein Haus auch verkauft werden kann, und daß die Bedingungen einer Familie verschieden werden kann, daß man finanzielle Schwierigkeiten haben kann, oder daß jemand ganz viel Geld hat und null Interesse hat, da überhaupt mitzuschaffen, oder. (...) Also, um das einfach auch festzulegen, oder, wie man umgeht miteinander, oder. Und auch, wie man mit dem Gebäude umgeht, oder. (...) Also, das heißt, welche individuelle Bewegungsfreiheit der einzelne Bewohner innerhalb der Gemeinschaft hat. Und da haben Sie sich ziemlich zu Anfang eine – wie nennen Sie das – Hausordnung? RM Haus- und Gemeinschaftsordnung. Die haben wir mit einem Juristen gemacht. Und die haben wir jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, erneuert. Haben wir die neu gemacht. Also, da ist jetzt ein Haus verkauft worden in dem Jahr, und da war das wichtig, daß das vorher nochmal geklärt wird, also auch mit dem alten Besitzer. Und daß das Haus einfach auch mit den neuen Bedingungen verkauft wird, oder.61

Frau Mittersteiner betont hier diejenigen Fälle, die als Folgen einer Dysfunktion der Bewohnergemeinschaft auftreten: Wenn ein Haus verkauft werden soll, wenn eine Familie zerbricht, wenn Bewohner in finanzielle Schwierigkeiten geraten, wenn kein Interesse an gemeinschaftlicher Arbeit vorhanden ist. Die Ordnung schützt die Gemeinschaft vor dem Zerbrechen, wenn Gemeinschaftsmitglieder ausfallen oder quertreiben. Die Ordnung definiert die Bedingungen der Gemeinschaftszugehörigkeit, schafft Selbstvergewisserung, eröffnet aber auch Ausstiegsszenarien, die etwa den aktuellen Hausverkauf ermöglicht haben.62 51 Vgl. Frühsorge 52 In dieser Zielvorgabe trifft sich die Kapitalismuskritik des politisch rechten mit der des linken Randes und schafft die zunächst skurril wirkende personelle Allianz aus Ökobauern und studentischen Straßenkämpfern, die die Anfangszeit der Grünen Parteien, zumindest Deutschlands, bestimmt hat. 53 Gorz, S. 31 ff 54 Vgl. Norbert Mittersteiner, wie Anm. 69 55 Vgl. Abschnitt Modernisierung des Holzbaus, Kapitel Holz 56 Das Bewußtsein um die Wichtigkeit einer Auf-

rechterhaltung des sozialen Experiments erfährt eine Verstärkung durch das intensive Interesse von außen, das der Hausgruppe und ihrer Bewohnergemeinschaft entgegengebracht wird und sie als beispielgebend darstellt, so etwa in einer ORF-Fernsehsendung zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Siedlung. 57 RNM: Z 298 ff 58 RNM: Z 1335 59 RNM: Z 35 ff 60 RNM: Z 1322 ff 61 RNM: Z 52 ff 62 RNM: Z 82 ff

Schutz der Gemeinschaft in Krisensituationen

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Wiedervereinigung von Wohnen und Arbeiten im Haus

Akademiker als typische Protagonisten von Baugruppen

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Neben diesem Krisenmanagement beschreibt das Ehepaar die Notwendigkeit, auch diejenigen Situationen zu regeln, die die Qualität des gemeinschaftlichen Zusammenlebens bestimmen, so das Verhältnis von Leben und Arbeiten im Haus. Wie Norbert Mittersteiner selbst, betrieb auch sein Nachbar zeitweise ein eigenes Büro im Haus. „Das war eigentlich immer eine Arbeitsstätte auch da, unter anderem.“63 In der Definition dessen, welchen Anteil des Lebens das Haus beherbergen soll, findet sich eine Erweiterung des modernen Wohnbegriffs, insbesondere seiner Beschränktheit auf die „Freizeit“64, indem auf eine archaische Praxis der Einheit von Wohnen und Arbeiten unter demselben Dach und damit auf eine soziale Definition von Haus zurückgegriffen wird, die im ungetrennten Haushalt der Bauern und Handwerker65 oder dem „Ganzen Haus“ des Landadels66, jedenfalls im vormodernen Leben, ihr kulturelles Vorbild findet. Freilich müssen die Ausbreitungsbereiche der jeweiligen, unter das selbe Dach zurückgebrachten Lebensbereiche definiert werden und etwa Lärmemissionen „durch Maschinen und so“67 ebenso bedacht werden wie diejenigen der bis zu vierzehn Kinder, die ehemals die gemeinschaftliche Wohnhalle der Siedlung bevölkert hatten. Entscheidend an Norbert Mittersteiners Lösungsvorschlag für solche Konflikte, „dann müßte man das diskutieren, oder, dann müßten die Kinder raus, oder das Büro“68, erscheint hier der Aspekt, daß sich die Gemeinschaft aus fünf Familien solchen Diskussionen aussetzt, ja, solche Diskussionen und damit die soziale Konstruktion eines alternativ strukturierten Gemeinschaftslebens, zur lebensprägenden Aufgabe erhoben hat. Mittersteiner kennzeichnet diese Praxis der permanenten Aushandlung der gemeinsamen Lebensordnung durch Diskussion als Habitus einer intellektuell gebildeten Gesellschaftsschicht. Er selbst fühlt sich dieser anfangs nicht zugehörig und begründet diese Einschätzung mit seiner ausbildungs- und berufsbedingten Herkunft, die ihm ein anderes Erfahrungswissen zum zwischenmenschlichen Umgang vermittelt hat als seinen akademisch sozialisierten Mitbewohnern. 63 RNM: Z 6 ff 64 Aus der Sicht einer linken Kapitalismuskritik wird dieses „Freizeitwohnen“ als Bestandteil einer Unterordnung des gesamten Lebens unter das Diktat entfremdeter Arbeit interpretiert. 65 Vgl. Abschnitt Arbeitsform und Wissensaneignung, Kapitel Handwerk 66 Vgl. Abschnitt Architektenhaus, Kapitel Haus 67 RNM: Z 12 68 RNM: Z 28 f 69 RNM: Z 1302 ff 70 RNM: Z 821 ff

Für die Bauherrengruppe war die bauliche Verdichtung notwendiger Teil des „zusammengerückten“ Wohnkonzepts. Mit Verdichtung nennt Norbert Mittersteiner ein Schlagwort für das ökologisch motivierte Anliegen, den Landverbrauch beim Hausbau auf ein notwendiges Maß zu reduzieren und insbesondere Alternativen zum freistehenden Einfamilienhaus aufzuzeigen. Zur Bauzeit der Häuser war dieser Aspekt des Bauens, der in der „Zersiedlung“ der Landschaft seinen sichtbaren und der Umwidmung von Agrar- zu Bauland seinen rechtlichen Ausdruck findet, noch nicht im Bewußtsein der Öffentlichkeit präsent, son-

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Ich bin ja auch kein Psychologe, oder. Ich komme ja vom Bau, oder. Ich bin ja gelernter Maurer, und die ersten Fremdarbeiter oder Gastarbeiter damals waren aus Kärnten oder Steiermark und Heimatvertriebene zum Teil – und Alkoholiker; und der Umgang damals auf der Baustelle war (...) ein bißchen anders, eine andere Umgangsform, als ein Lehrer zum Beispiel hat. Und ich war, also mit dreißig Jahren haben wir das gemacht, und ich war auch schon zu alt eigentlich für solche Prozesse. Irgendwie, ich komme nicht ... aus einem Diskussionsforum. Und ich habs immer als Chance für die Kinder gesehen, oder. Und da bin ich der Meinung, das ist aufgegangen.69

Mittersteiners Sichtweise läßt erkennen, daß das soziale Experiment, welches die Siedlung darstellt, nicht nur einen räumlichen Verdichtungsprozeß darstellt70, der durch das Zusammenrücken der fünf Familien entsteht, sondern auch einen Versuch, Schichtengrenzen zu überbrücken, indem die schichtenspezifischen gesellschaftlichen Habitusformen in der Haus- und Gemeinschaftsordnung ein verbindendes kulturelles „Dach“ erhalten.71 Gemeinsames Bauen in Kombination mit dem Diskussionsforum stellt diejenige Melange des Erfahrungswissens dar, das die Mitglieder aus ihrer jeweiligen Sozialisation einbringen.

Schichtenübergreifende soziale Interaktion

Das gemeinsame Bauen, wiewohl mit der Fertigstellung der Häuser zunächst abgeschlossen und damit aus der alltäglichen Erlebniswelt der Siedlungsgemeinschaft herausgefallen, hat in der substantiellen Erhaltung der Häuser durch eigenhändige Arbeit eine Form der Fortsetzung gefunden, der in der Haus- und Gemeinschaftsordnung ein zentraler Stellenwert zugesprochen wird.72 Der Umstand, daß die für Renovierungsarbeiten aufgewendete Zeit im Vergleich zu dem Arbeitseinsatz, den die Bauzeit gefordert hatte, rudimentär ist, nämlich pro Jahr lediglich „sechzehn Stunden pro Haus“73 beträgt, betont den Ritualcharakter74 dieser Praxis eigenhändiger gemeinschaftlicher Arbeit. Der hohe symbolische Rang, den die Fortsetzung des gemeinsamen Bauens durch Festschreibung in der Haus- und Gemeinschaftsordnung erhält, erklärt sich aus seiner sozialen Funktion für die Siedlungsgemeinschaft, der erkannten Notwendigkeit, ihr Gemeinschaftsgefühl regelmäßig zu erneuern. Unter den Voraussetzungen, die die fünf Häuser der Siedlung seit fünfundzwanzig Jahren zum Vehikel sozialer Interaktion werden lassen, sticht insbesondere die Wechselwirkung zwischen der Substanz der Häuser und dem Umgang mit dieser Substanz hervor. Die Häuser sind so gemacht, daß

Bestandserhaltung als Fortsetzung gemeinsamen Bauens

dern Avantgarde-Anliegen. Lediglich durch Bauträger wurde Verdichtung praktiziert, jedoch aus ökonomischen Gründen. (RNM: Z 914 ff; vgl. dazu auch den Abschnitt Gewerblicher Wohnbau des Kapitels Haus.) Als historisches typologisches Vorbild für verdichteten Wohnbau in Vorarlberg nennt Mittersteiner die Südtirolersiedlungen der NS-Zeit. Als Parallelerscheinung zur überindividuellen Verantwortung für den Landverbrauch, die die Planer der Siedlung Im Fang für sich reklamieren, übersteigt das Projekt auf der rechtlichen Ebene die Genehmigungskompetenz der Gemeinde. Statt ihrer tritt die Bezirkshauptmannschaft

als übergeordnete Genehmigungsinstanz in Erscheinung. 71 Bourdieu interpretiert die individuelle Erfahrung von Sympathie und Antipathie als Folge einer „Affinität der Habitusformen“. Bourdieu (1984), S. 33 72 Reinelde Mittersteiner betont, daß beim jüngst vollzogenen Verkauf eines der fünf Häuser der Siedlung die Bereitschaft der Interessenten, sich dieser Regel zu unterstellen, ein zentrales Kriterium bildete: „Jemand anderer hätte es auch nicht fein, oder.“ (RNM: Z 397) 73 RNM: Z 374

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sie Zuwendung ermöglichen, aber auch brauchen. Norbert Mittersteiner erklärt dies aus der Beschaffenheit eines Holzhauses gegenüber dem Massivhaus. Es ist einfach ein Haus, das nicht einfach betoniert ist und Standard und hundert Jahre hält und so bleibt, sondern es verändert sich und lebt und wird abgenutzt, und da muß man selber dazuschauen.75 Holzhaus braucht und erlaubt Zuwendung

Für ihn ergibt sich aus dem Zusammenhang, der zwischen der Entscheidung zum Holzhaus und dem damit akzeptierten beschleunigten Substanzverfall gegenüber dem „betonierten Haus“ besteht, ein Eigentumsbegriff, der von gelebter Verantwortung in Gestalt praktizierter eigenhändiger Substanzerhaltung geprägt ist. Die Wertschätzung wirkt sich einfach sehr stark aus in der Haltbarkeit, oder.76

Die Alternative dieser Lebensform, die in Mittersteiners Formel appellhaft gefaßt ist, richtet sich gleichermaßen gegen fehlende soziale Sorgfalt, durch die Anonymität, Beziehungslosigkeit und Egoismus vorherrschen, wie gegen fehlende Verantwortung für die materielle Lebensumgebung. Mittersteiner kommt im weiteren Gesprächsverlauf wiederholt auf die soziale Funktion gemeinsamer Arbeit zurück. Da ist einfach die Kommunikation, das gemeinsame Arbeiten, das sind ja nur Möglichkeiten, daß man überhaupt sich trifft.77

Seine Sichtweise konnotiert Arbeit primär als Gelegenheit zur Kommunikation und formuliert damit auch zu dem materialistischen „Fleiß“ ein Gegenkonzept, der mit dem im Forschungsraum Vorarlberg allgegenwärtigen Motto „Schaffe, schaffe, Hüsle baue“78 ein spezifisch „alemannisches“ Lebensgefühl behauptet. Gemeinschaftliche Arbeit als Medium praktizierter Kommunikation

Auch hierin bietet sich eine Parallelsetzung zwischen der Hausgemeinschaft der Siedlung Im Fang und dem Thaler Selbsthilfeverein an: daß mit dem Prinzip des eigenhändigen Bauens die Identifikation mit dem so Geschaffenen zwangsläufig verbunden und daß im gemeinschaftlichen, eigenhändigen Bauen ein Medium gefunden ist, das die Kommunikation, die Gemeinschaft selbst, stützt und aufrechterhält. Bereits im Abschnitt Bauernhaus des Kapitels Haus ist erwähnt worden, daß Norbert Mittersteiner die eigene Kindheitserfahrung eines Lebens im Bauernhaus heranzieht, wenn er zu den Quellen seiner Prinzipien sozialen Lebens befragt wird.79 Und dann haben wir später, als wir geheiratet haben, (...) auch in der Umgebung, war ein Bauernhaus frei. (...) Und es war faszinierend, für unsere Freunde und so, was man aus dem Haus, das hat man ja kaum gekannt, die alten Bauernhäuser, und wie es einfach gemütlich war.80

Raumerfahrungen aus dem Bauernhaus

So ist der Vergleich der vorstädtischen Siedlung Im Fang zum bäuerlichen Dorf nicht nur eine analytische Parallelsetzung ähnlich erscheinender Sozialstrukturen innerhalb der Organisationspraxis von Bauprozessen, sondern fußt auf einer ausdrücklichen Übertragung eigener Erfahrungen der handelnden Protagonisten, Erfahrungen, denen das Bauernhaus und das Dorf, als soziale Räume erlebt, zugrundeliegen.

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Bis hierher ist vor allem über soziale Strukturen gesprochen worden, die in der Praxis des Herstellens und Erhaltens der baulichen Substanz der Häuser zu beobachten sind. Auf das Wohnen und seine gemeinschaftliche Konnotation ist lediglich in Bezug auf dessen Verhältnis zum Arbeiten unter dem gleichen Dach eingegangen worden. Im Rahmen der architekturbezogenen Fragestellungen, die die vorliegende Arbeit bestimmen, interessieren daher die Wechselwirkungen, die das bauliche Ergebnis mit seinen räumlichen Bedingungen und der Lebenspraxis der Bewohner erzeugen. Ein vorrangiger Stellenwert kommt hierbei dem Umstand zu, daß sich das Selbstverständnis der Siedlungsgemeinschaft als „alternative“ Lebensform wesentlich aus der Abgrenzung ihrer Wohnpraxis von derjenigen speist, die das freistehende Einfamilienhaus repräsentiert. Wir erinnern in diesen Zusammenhang an unsere Feststellung, daß die Typologie der ländlichen „Architektenhäuser“ sowohl in ihrer Stellung zum Dorf als auch in ihrem vorherrschenden Grundrißtyp weit mehr die Vereinzelung ihrer Bewohner fördert als deren Gemeinschaftsleben.81 Unser Anknüpfungspunkt ist Mittersteiners Praxis der Übertragung von Erfahrungsräumen und Atmosphären vom Bauernhaus und dessen dörflicher Umgebung auf die neuerrichtete Hausgruppe, ihre Situierung und ihr räumliches Angebot. Mittersteiner erzählt von seinem Leben im Bauernhaus unmittelbar vor dem Bau der Siedlung und aus seiner eigenen Kindheit. Und auch, das haben wir ja gesehen da, die Bank vor dem Haus,also das war kein Vorplatz, aber eine Bank hat Platz gehabt. Und da ist man gesessen. Und ein kleiner Brunnen war da und es war noch nicht so viel Verkehr, und die Kinder über der Strasse, da hat was funktioniert, passieren können. Das haben wir mitgenommen, oder. (...) Oder ich denke, auch von der Umgebung her, als Kinder waren wir immer im Wald, als Buben, oder. Die nahe, oder ein bißchen weitere Umgebung, was fußläufig erreichbar ist, ein Kindergarten, Geschäfte, oder, ein Graben, wie bei uns da, da hat sich was abspielen können. Wo die Eltern nicht immer so direkt dazusehen, oder...82

Mittersteiner beschreibt das eigene Wohnen in Abgrenzung vom Normaltyp, dem Typ des freistehenden Einfamilienhauses, und beruft sich darin auf eine bewußt getroffene Lebensentscheidung. „Ich hätte genauso ein Einfamilienhaus bauen können, ich hätte genug Möglichkeiten gehabt, oder.“83 Ohne auf die räumlichen Annehmlichkeiten verzichten zu müssen, die das typische Einfamilienhaus bietet („Wir haben einen eigenen Garten“84), bietet ihm die Siedlung ein soziales Umfeld, das über die eigene Familie hinaus alltägliche soziale Kontakte zu den Nachbarn innerhalb der Siedlung bietet: „Ich kann zu jemand einfach ,guten Morgen‘ sagen.“85 Um demgegenüber 74 Der Begriff nimmt in dieser Verwendung Bezug auf Durkheims soziale Bestimmung von Religion. 75 RNM: Z 406 ff 76 RNM: Z 410 f 77 RNM: Z 1241 ff 78 So etwa Kapfinger an prominenter Stelle, seiner Einleitung zum Architekturführer Baukunst in Vorarlberg seit 1980; Kapfinger (1999), S. 11

79 80 81 82 83 84 85 86

RNM: Z 1184 ff RNM: Z 1191 ff Vgl. Evans, S. 85 ff RNM: Z 1204 ff RNM: Z 1263 ff Ebd. Ebd. Ebd.

Abgrenzung vom Einfamilienhaus

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die typgebundene Präfiguration des Einfamilienhauses als sozial distanziert zu kennzeichnen, weist er während unseres Gesprächs auf die andere Straßenseite. „Die Nachbarn da drüben, gutes Verhältnis, aber das ist halt so, oder“ (winkt hinüber).86 Die soziale Atmosphäre, in der man lebt, ist für ihn wesentlich durch die Beschaffenheit der Wohnumgebung bestimmt. Deren „Gemachtheit“ verknüpft Qualitätsaspekte mit der eigenen Verantwortung. Das Prinzip der Eigenhändigkeit und Gemeinschaftlichkeit hat das Ergebnis für jeden Einzelnen in eine Erreichbarkeit gestellt. Kommunikation muß man herausfordern, oder. Provozieren. Man muß sich was Gemeinsames machen, Ziele setzen, überall. Wie man sich ein wirtschaftliches Ziel setzt.87

Begegnungsräume schaffen

Auch die begünstigende räumliche Umgebung, die die Siedlung bietet, fordert vom Einzelnen Initiative zu sozialen Kontakten und die Bereitschaft, diese auch zu pflegen: „Es ist nicht immer einfach, mit fünf fremden Familien.“88 Die Architektur der Siedlung bietet mit ihrer zentralen Wohnhalle, in die alle Hauseingänge münden und dem gemeinsamen Garten dahinter vielfältige Gelegenheiten zu Begegnungen. Solche Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen, ist bewußt gestalteter Bestandteil nicht nur der Hausordnung, sondern auch der Siedlungsarchitektur. Daß daneben jedem Bewohner großzügige räumliche Angebote zur Verfügung stehen, die erst aus der Gemeinschaftsnutzung ihre Rentabilität gewinnen, so etwa, „daß man eine Werkstatt hat“89, ist ein Nebeneffekt, der sich wie von selbst ergibt, sobald im Gemeinschafteigentum nicht das Konfliktpotential, wie in Bauträger-Wohnanlagen, sondern eine Chance gesehen wird. Mittersteiner schildert, wie räumliches Angebot und initiatives Sozialverhalten im Siedlungsalltag ineinandergreifen. Wir haben einen gemeinsamen Platz hinten. (...) Und mit dem Hans zum Beispiel, der vorher reingeschaut hat, der setzt sich, der hat auch einen eigenen Platz, aber der setzt sich auch einmal hinten hin und raucht eine Zigarre, allein, oder. Und wenn er ein Gläsle Wein hat, dann kann ich dazusitzen, oder, und sag, du, hast noch ein Gläsle, oder soll ich was mitbringen. Das sind eigentlich Sternstunden. Das ist nicht einfach so, sondern das muß man sich machen. Oder. Man muß sich dort hinsetzen, wo man sich treffen kann. Und das ist das, was heute rundherum überall fehlt, oder.90

Mittersteiners Erzählung mündet in eine Analyse des Siedlungsprojekts, die dessen architektonische und soziale Gestalten einander gegenüberstellt. Sein Fazit ist, das soziale Projekt, das gegenseitige Kennenlernen und Akzeptieren der individuellen Eigenheiten, das das Bauen mitumfaßt und sich dann im Wohnen fortsetzt, sei das Wichtigere gewesen. Bestätigt sieht er sich darin vor allem durch die Sozialkompetenz seiner Kinder, die in der Siedlung aufgewachsen sind. Also, wenn ich die ganzen Kinder so anschaue, habe ich immer das Gefühl, die sind kommunikationsfähig. Und zwar überall, wo sie jetzt stehen.91

Als wichtige architektonische Voraussetzung hebt er neben den Gemeinschaftsbereichen das zugängliche Nebeneinander der individuellen Lebenssti-

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le hervor. Aus Sicht der Kinder, die von Haus zu Haus springen, wird dieses Nebeneinander unterschiedlicher Alltagspraxen erlebbar und vergleichbar. Weil einfach in jedem Haushalt funktionierts anders. Und die Grenzen sind anders. Und die Möglichkeiten sind anders. Und von Haus zu Haus wird das wie mit dem Schalter umgelegt und jedes Haus haben die Kinder die Eigenheiten einfach akzeptiert, oder... Und über die Jahre hats immer funktioniert, mit allen Kinderstreitigkeiten, und so weiter, das hats natürlich auch gegeben, aber sie haben sehr viel gelernt.92

Daß diese Qualität eine architektonische Voraussetzung braucht, deren zentrales Kriterium eine bewußte Reduzierung von Distanz ist, stellt Mittersteiner nochmals durch den Verweis auf das gegenüberliegende Einfamilienhaus heraus: „Das ist ja [hier] viel einfacher, da kann man wirklich raus und rein gehen. Die (Beziehung) über die Straße, ins nächste Haus, ist ganz eine andere.“93 Aus seiner fachlichen Sicht als selbständiger Planer ist Norbert Mittersteiner imstande, die Voraussetzungen und die Folgen der von ihm vertretenen gemeinschaftsfördernden Architektur zu überblicken und zu benennen: im städtebaulichen Maßstab den Aspekt der Verdichtung, im Eigentumsrecht die Frage des Gemeinschaftseigentums, im Bauprozeß das Prinzip der Eigenhändigkeit. Die Beobachtung, daß die gesellschaftliche Praxis in Vorarlberg gegenteilige Prinzipien etabliert hat, Absicherung von Privatsphäre durch räumliche Distanz, säuberliche eigentumsrechtliche Trennung, Reduzierung gemeinschaftlicher Aufgaben und Delegierung körperlicher Arbeit an den „Hausmeisterservice“, läßt seine Haltung als Alternative von bleibender Aktualität erscheinen. Im Fachdiskurs, sowohl der Architekten94 als auch der Bauwirtschaft95, wird diese Haltung als „zeitrichtiges Experiment“ der 1980er Jahre subsumiert, für die Gegenwart damit als „überholt“ bewertet. Es sind jedoch neuerdings die kommunalen Bauverwaltungen der Großstädte, die für solche Erkenntnisse, wie sie Mittersteiner vertritt, ein offenes Ohr zeigen und konkrete Weichenstellungen veranlassen, die erlauben, das Experiment einer gemeinschaftlich konnotierten Wohnarchitektur in größerem Maßstab fortzusetzen.96 Das Modell einer Verknüpfung von Eigenhändigkeit und Gemeinschaftlichkeit, das im Bauen sein Medium findet und im traditionellen Dorf wurzelt, erfährt in diesem Prozeß gleichzeitig eine räumliche Verpflanzung vom Land in die Stadt wie eine soziale Transformation vom bäuerlich-handwerklichen in ein akademisches Gesellschaftsmilieu. Mittersteiner ist nicht nur in seiner eigenen Lebenspraxis als Bauherr und Bewohner der Siedlung Im Fang eine Schlüsselfigur für gemeinschaftliche 87 88 89 90 91 92 93

RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z RNM: Z

1272 ff 1238 ff 311 1275 ff 1316 ff 1325 ff 1379 f

94 Kapfinger (1999), S. 3/7 95 Peter Greußing zeigt sich in unserem Gespräch interessiert und bis in Details hinein informiert über die Bau- und Wohnpraxis der Vorarlberger Selbstbaugruppen und Bauherrengemeinschaften. Seine gegenwartsbezogene Bewertung fällt jedoch negativ aus. Vgl. Abschnitt Gewerblicher Wohnbau, Kapitel Haus

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Aspekte des Wohnens, sondern auch als Planer. Innerhalb der Vorarlberger Architektenschaft verkörpert er, neben anderen, etwa Rudolf Wäger, insofern einen Sondertyp, als er seine fachliche Ausbildung und berufliche Sozialisation nicht aus einer akademischen, sondern einer handwerklichen Sphäre bezieht. Indem Mittersteiner als Randfigur der Architektenszene97 auch seine Positionierung innerhalb dieser Szene durch seine Arbeit wahrnimmt, ist sein Kommentar auch als Beitrag zu der Frage zu werten, welche Form oder welcher Grad von Gemeinschaftlichkeit innerhalb der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs fachlich „denkbar“ ist, also bedacht, gewünscht und als soziale Wirklichkeit etabliert wird. Mittersteiners Kritik an den Einfamilienhäusern der akademischen Architekten fußt auf einem Qualitätsbegriff, der den Bewohner und dessen Zugang zur Gemeinschaft im Blick hat. Das Wohnen in der Siedlung Im Fang bietet seiner Beurteilung der etablierten Architekten und ihrer Produkte den Erfahrungshintergrund. Ja, modern heißt, ich würde nie so ein Kistle bauen, zum Beispiel. Also, das sogenannte klassische Bauen, das dünne Vordach, mit so einer Stahleinfassung zum Beispiel, das ist nicht unbedingt, was das Wohnen lebenswert macht. (...) Also, was die Bauherrnzeitung bringt, oder, die prämierten Ergebnisse der letzten Jahre, da war ich nicht dabei. (...) Ja, da bin ich einfach nicht dabei. Das schaut irgendwie alles gleich aus, ein bißchen länger, ein bißchen kürzer, ein bißchen höher, oder. So berate ich die Leute auch nicht. Also, denke, daß die Leute eher, also wenn die auch ein kleines Grundstück haben, irgendwo sollten sie ein bißchen Platz haben zum (Rückzug), weil das Ganze ist nicht einfach genormt, und fertig.98

Vorarlbergs gemeinschaftlich konnotierter Architekturbegriff

Die preiswürdige „Glaskiste“ ist ihm aus mehreren Gründen suspekt. Mittersteiner erwähnt die Einheitlichkeit der prämierten Entwürfe untereinander, was, zusammen mit dem Umstand seines Ausschlusses davon, das Bild eines sozial etablierten, elitären Stils ergibt. Inhaltlich kritisiert er diesen Stil deshalb, weil seine Ausprägung als „Kistle“, auf das Grundstück gestellt, keine „Nische“ im Außenraum bietet, hermetisch nach außen ist, keine Verzahnung mit dem Außenraum zuläßt und, als räumliche Vorgabe für soziales Leben betrachtet, Abschottung und Verkapselung bewirkt. Gleichzeitig resümiert seine Stellungnahme die eigene Position im gegenwärtigen Zustand der Zeitgenössischen Architektur Vorarlbergs. Die Architektengeneration der 1980er Jahre, die mit Selbstbauprojekten wie der Siedlung Im Fang in das Berufsleben gestartet ist, hat ihren Ansatz, Architektur fundamental neu zu definieren, indem der akademisch-formalistische Ansatz mit dörflich-sozialen Aspekten ausbalanciert wurde, zusammen mit der Nichtunterscheidung zwischen akademischem und nichtakademischem Architektentum längst hinter sich gelassen und gleichzeitig mit dem Größensprung der Büros und ihren überregionalen Engagements die traditionellen sozialen 96 Vgl. Steger (2006) 97 Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?, Anm. 5 98 RNM: Z 1434 ff

99 Vgl. Anm. 8 100 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, 1784/2, S. 481 ff

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Schranken innerhalb des Berufsstandes wiedererrichtet. Der Versuch, in einem Vorarlberger Sonderweg einen erweiterten Architekturbegriff zu etablieren, der gemeinschaftsfördernde Strukturen mitumfaßt, ist kurzlebige Episode geblieben. Gerade die hier angestellte Gegenüberstellung mit dem Selbsthilfeverein Thal erlaubt, diese Entwicklung aus einem Wandel der gesellschaftlichen Triebkräfte zu deuten. Es wurde festgestellt, daß der Selbsthilfeverein eine Praxis neu institutionalisiert, die ehemals durch die Kirche verkörpert worden ist.99 Im unakademischen, handwerklichen Zugang zum Bauen steht das Gemeinschaftserlebnis des Bauprozesses im Vordergrund. Die Kompetenz der eigenhändigen, unmittelbaren Selbsthilfe ist die Voraussetzung, die der Einzelne zur Teilnahme an diesem Prozeß mitbringt. Demgegenüber steht im akademischen Bauen das erzielte Ergebnis im Vordergrund. Schiller hat die Funktion dieses Ergebnisses, des Bauwerks, als Belehrendes herausgestellt. Der Prozeß zu seiner Erzeugung erhält als individueller und individualisierender Prozeß, als einsames Ringen des Künstlers, seine Bestimmung, ein Modell, das im Selbstbild des Architektenstandes zentral steht. Die Machtverschiebung in der Deutungshoheit über das Gemeinschaftliche im Gesellschaftlichen von der Religion und ihrer Institution, der Kirche, zur Kunst, die in der Säkularisation vollzogen wird, wird flankiert vom Menschenbild der Aufklärung, Kants Prinzip der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“100 des Einzelnen. Wenn von diesen historisch skizzierten sozialen wie philosophischen Modernisierungen im europäischen Maßstab der Sprung zurück ins Forschungsfeld gewagt wird, dann deshalb, weil die Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ den Vergleich zwischen Religion und Kunst in deren jeweiliger Rolle als Stichwortgeber im Gesellschaftlichen nahelegt. Die innerhalb Vorarlbergs mehrfach festgestellte Tendenz akademischer Architektur, in einer verselbständigten Ästhetisierung Aspekte der sozialen Vereinzelung anstelle des Gemeinschaftlichen zu fördern, kann auf diesen Machtwechsel rückbezogen werden, der um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert zwischen Religion und Kunst stattgefunden hat und der das implizite Selbstverständnis von Architektur als gesellschaftsprägendem Medium bis heute maßgeblich bestimmt.

Religion und Kunst als soziale Medien

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5.3 Architektur im Dorf Ein letztes Mal kehren wir zum Eingangsbild dieses Kapitels zurück, das uns die Männer des Dorfes auf der Kirchenstiege versammelt zeigt.1 Zur Erschließung der Rolle, die Architektur in der folgenden „dritten Gründung“ Thals erhält, besitzt diese Situation, die uns Gerhard Gruber überliefert hat, den Status einer Schlüsselszene. Die Voraussetzungen derjenigen Krise, die den Männern nunmehr den Kirchplatz als provisorischen Versammlungsraum und die Steinstufen der Kirche als Sitzgelegenheit aufnötigen, haben wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels rekonstruiert. Das Dorf ist „unter der Hand“ ein anderes geworden. Zuvörderst ist dafür der Einbruch der Landwirtschaft verantwortlich zu machen. Seit diese kein Wertschöpfer mehr ist2, hat sie auch ihre soziale Prägekraft verloren. Diejenigen familiären Strukturen, die noch die traditionelle Landwirtschaft getragen haben, existieren nicht mehr, die heutige Familie ist eine Kleinfamilie.3 Der leistungsfähige Nachwuchs wandert ab, die am Ort verbliebenen Bauern finden keine Ehefrauen mehr. In Folge des Bedeutungsverlustes der Landwirtschaft ist auch das flankierende Handwerk verschwunden.4 Thal ist mittlerweile „im Grunde eine Pendlergemeinde“5. Auch der Versammlungsort, den die Männer des Dorfes in der Krise wählen, die Kirchenstiege, hat seine Integrationskraft verloren. Die Kirche repräsentiert zum Zeitpunkt dieser Versammlung gerade noch zehn bis fünfzehn Prozent der Dorfbevölkerung.6 Diese Randbedingungen machen den Neubeginn erforderlich, von dem bereits die Rede war, und erfordern gleichzeitig eine neue Plattform, die imstande ist, die gewandelten Voraussetzungen zu repräsentieren. Das Abstoßen zum Neubeginn geschieht wohl zum letztenmal von der Kirchenstiege aus. Kirchplatz und Dorfplatz

Die Thaler Dorfgemeinschaft vollzieht den Schritt von der kirchlichen zu einer säkularen Plattform bildhaft, in Form der Neuschaffung eines Dorfplatzes. Dieser neue Dorfplatz ist die „materielle“ Grundlage des Neubeginns. Der Kirchplatz bleibt zwar erhalten, ist sogar neu gepflastert, bietet aber keinen adäquaten Sozialraum mehr.7 1 Vgl. Abschnitt Was ist ein Dorf? dieses Kapitels 2 Rentsch (2006), S. 122 3 EW 1: Z 1137 ff 4 Krammer/Scheer stellen Landwirtschaft und ländliches Handwerk als urprünglich symbiotisch verbundene Wirtschaftssektoren dar, bis „das Eindringen der industriellen Technologie und ihrer Entwicklungsgesetzmäßigkeiten die ländlichen, d.h. die handwerklichen, dezentralisierten und selbstorganisierten Formen der Produktionsmittelerzeugung und -instandhaltung sowie die Veredelung und Vermark-

tung von landwirtschaftlichen Rohprodukten innerhalb kürzester Zeit durch industrielle Formen ersetzte.“ (Hervorhebungen im Original) S. 112 5 EW 1: Z 1054 6 „Die Sonntagsmessen werden gerade noch von 10–15% der Bevölkerung besucht...“, schreibt Wirthensohn in „Neue Plätze für Thal“ im Jb. 2002–2003. 7 Ebd.: „Wollte man heute die politischen und privaten Gespräche am Kirchplatz abhandeln, so müsste sich der Großteil der Leute vom öffentlichen Leben ausgeschlossen fühlen...“

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Indem er seine vitale Zweckbestimmung verliert, gehört der Kirchplatz für das „neue Dorf“, zusammen mit dem Kirchbau selbst, zum ebenso schutzwürdigen wie schutzbedürftigen dinglichen Bestand einer dörflichen Baugestalt, die als „historisches Ensemble“ eine neue Legitimation zugesprochen bekommt8 und wiederum legitimierend auf das „neue Dorf“ zurückwirkt. In dieser neuen symbolischen Funktion trägt es gleichzeitig wesentlich zur atmosphärischen Ausstattung des gegenwärtigen, des „neuen Dorfes“ bei. Wirthensohn: Das Pfarrhaus (muß man) jetzt auch schön machen. Das wird man sicher demnächst in Angriff nehmen. Dann wird das Ensemble noch schöner.9

Der Übergang von der kirchlichen zur säkularen Identitätsplattform weist also zunächst eine bildlich-materielle Schicht auf, dem Bau eines Dorfplatzes. Für Gruber steht die Schaffung dieser neuen räumlichen Situation synonym für einen sozialen Prozeß, der zweiten Dorfwerdung Thals durch den Selbsthilfeverein: „Das war so der erste Schritt Richtung Dorf. Mit dem Haus und mit dem Platz.“10 Der Vorgang vollzieht sich als Aufschüttung etlicher Lastwagenladungen Kies aus der nahegelegenen Rotach auf der ehemaligen Hangfläche zwischen Schmiede und Gasthaus, die durch das Doppelhaus von Wirthensohn und Lang eine talseitige Stützmauer erhalten hatte.11 Die personelle Ebene des Übergangsprozesses ist die Formierung einer neuen sozialen Elite, für die die Gründung des Selbsthilfevereins den organisatorischen Rahmen bildet.12 Diesem sozialen Vorgang ist der Auftritt von Architektur im Dorf zuzuordnen. Gerade Thal bietet diesem Auftritt mit dem zu kompensierenden Sinnvakuum, das aus dem Niedergang des kirchlichen Einflusses zurückgeblieben war, einen Hintergrund, der uns wahrzunehmen erlaubt, daß Architektur dieses Sinnvakuum teilweise zu füllen imstande ist, ein Vorgang, der wiederum nur verständlich ist, wenn der gleichzeitig stattfindende Wechsel der dörflichen Elite in die Betrachtung einbezogen wird. Erst die neue Dominanz der Akademiker im Dorf, bereits im Kapitel Haus thematisiert, schafft den sozialen Rahmen, in dem Architektur, als Kunst, zum sinnstiftenden Medium einer Gemeinschaft werden kann.13 8 Vgl. dazu auch das Stichwort Dorferneuerung im letzten Abschnitt dieses Kapitels. 9 EW 2: Z 756 ff 10 GG: Z 235 ff 11 In seinem Beitrag „Neue Plätze für Thal“ im Jb. 2002–2003 dokumentiert Wirthensohn minuziös die Entstehung des Platzes. 12 Zentrales Artikulationsmedium der neuen dörflichen stake holders Thals sind Wirthensohns Jahresberichte. In dieser Eigenschaft verdienen neben den redaktionellen Beiträgen auch die Anzeigen Beachtung. So annonciert die lokale Raiffeisenkasse in allen Ausgaben. Die Anzeigentexte heben vor allem Gestal-

tungsbeiträge der Auftraggeber hervor und betonen so deren Gestaltungsanspruch. So teilt die Raiffeisenkasse auf der Umschlagsrückseite des Jb.1996–97 mit: „Mit einer 10-jährigen Mietvorauszahlung werden dem SHV-Dorfgemeinschaft Thal wichtige Mittel für die Erweiterung des Dorfzentrums zur Verfügung gestellt.“ 13 In den meisten Vorarlberger Gemeinden sind mittlerweile in zeitgenössischer Architektursprache errichtete Kommunalbauten in einer Weise um neugestaltete Dorfplätze arrangiert, daß diese Ensembles, gerade in der Parallelsetzung zum Kirchdorf Thal, einen Wandel der gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen zur Darstellung bringen.

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Bürgschaften und Vermittler

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Eine Befassung mit der Rolle von Architektur innerhalb kommunaler Bauprozesse läßt in unterschiedlichen Gemeinden und ihren individuellen Projektvoraussetzungen immer wieder ein ähnliches Grundmuster erkennen: Architektur ist als eigene und keineswegs zwangsläufig vorhandene Ebene eines komplexen sozialen Prozesses isolierbar. Gegenüber der organisatorisch relativ unkomplizierten, direkten Auftragsbeziehung zwischen dem Architekten und dem normalerweise akademisch sozialisierten Bauherren, die die soziale Grundkonstellation ländlicher Architektenhäuser bildet, bedarf die Arbeitsbeziehung zwischen Architekt und solchen kommunalen Gremien, die die Bauherrenfunktion für ein Dorf wahrnehmen, einer intensiven und kontinuierlichen vermittelnden Begleitung. Im Fall des Dorfes Thal leistet Ernst Wirthensohn, legitimiert durch seine Herkunft aus einer Thaler Familie14, den Hauptteil dieser Vermittlungsarbeit. Andernorts sind es die Familien der Architekten, die im Dorf für ihre Söhne und deren Arbeit bürgen15 und so eine Sozialisierung Zeitgenössischer Architektur innerhalb der alteingesessenen Familien des Dorfes, an der Basis der dörflichen Gesellschaft, befördern. Mein Gesprächspartner Wolfgang Schmidinger gelangt aus der Verknüpfung von etablierter sozialer Stellung und angestammter Funktion, die ihn als jungen Betriebsinhaber zum Mitglied des dörflichen Bauausschusses werden läßt, in die Position, anläßlich der Baueingabe für sein eigenes Haus dem Ausschuß „zu erklären, was da Sache ist“.16 Es gelingt ihm, die ursprüngliche Erwartungshaltung eines rollenkonformen Verhaltens („jemand, der im Bauausschuß sitzt, der kann doch nicht so ein, so ein Haus bauen“17) aufzubrechen und die Möglichkeit, „argumentieren zu können“18, für einen günstigen Ausgang des Entscheidungsprozesses einzusetzen. Dabei kommt ihm zu Hilfe, daß keine gesetzliche Grundlage für eine Ablehnung seines Baugesuchs gefunden werden kann.19 Die zweite Instanz neben dem Gesetz, das „Übliche“ als gesellschaftlicher Konsens, den der Bauausschuß neben der Wahrung des gesetzlichen Rahmens gleichzeitig schützt, unterläuft Schmidinger durch seine Doppelrolle, 14 Vgl. die Selbstvorstellung in Wirthensohns Jahresbericht 2002–2003: V. Neue Plätze für Thal 15 Wolfgang Schmidinger überliefert eine solche Bregenzerwälder „Sozialisierungsgeschichte“ aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre am Beispiel seines Architekten: „Zu der Zeit hat der H., hat bei seinen Eltern das Elternhaus gebaut. Das war eines der ersten auffälligen Beispiele. Sein Bruder, der M., hat das gebaut, und das haben die zur damaligen Zeit schon gezeigt und präsentiert an der Bregenzerwälder Handwerksausstellung.“ (WS 1: Z 225 ff) Der Architekt entwirft das dörfliche Elternhaus, sein Bruder, der Zimmerer, baut es, dann wird es bei der Bregenzerwälder Handwerksausstellung präsentiert. Im Gegensatz zum Medium Architekturmagazin,

bei dem die Fachkollegen das Gegenüber und damit ein akademischer Wahrnehmungsrahmen gesetzt ist, ist hier die regionale Einwohnerschaft, die Nachbarschaft, das bewertende Gremium. Unterstützend für die Akzeptanz wirkt die Vermittlung durch das lokale Handwerk, hier gleichzeitig Familie. Daß zugunsten einer solchen „Architekturvermittlung“ zunächst das soziale Prestige aufs Spiel gesetzt wird, ist Inhalt von Anekdoten, die darstellen, daß solche frühen privaten Auftraggeber für Architekten „beim Kirchgang nicht mehr gegrüßt“ worden seien (Architekt Leopold Kaufmann in seinem Werkbericht bei der Vorarlberger ZV am 05.10.2006). Wolfgang Schmidinger bewog die zunehmende Integration in den sozialen Konsens, die er an der Re-

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als etabliertes Mitglied der dörflichen Genehmigungsinstanz gleichzeitig Vermittler Zeitgenössischer Architektur zu sein. „In irgend einer Form ist es dann einfach einmal genehmigt worden.“20 Daß der Auftritt von Architektur im Dorf die Notwendigkeit einer Vermittlung unterschiedlicher Wahrnehmungswelten auslöst, zeigt sich bereits an den Beschreibungen derselben Situationen, die Gerhard Gruber und Ernst Wirthensohn, beides Akademiker, im Gespräch abgegeben und die wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels einander gegenübergestellt haben. Eine weitere, davon fundamental unterschiedliche Wahrnehmungswelt muß jedenfalls der nichtakademischen Dorfbevölkerung zugeordnet werden. Für Thal gibt Wirthensohn davon einen Eindruck, wenn er von den Schwierigkeiten berichtet, Abstimmungsmehrheiten für die Baumaßnahmen des Selbsthilfevereins zu gewinnen. Verschiedentlich21 ist bereits angesprochen worden, daß Architektur selbst22 in den angesprochenen sozialen Funktionen die Nachfolge von Religion und Kirche antritt. Der Betrachtungsrahmen, den das Dorf Thal uns bietet, liefert weitere Anhaltspunkte für diese Feststellung. Wirthensohn deutet den Bau seines eigenen Hauses und mit ihm den Auftritt von Architektur im Dorf, als Kristallisationskern für den aktuellen Aufschwung Thals und damit als Parallelereignis zu Pfarrer Sinz’ Kirchenbau. Und, die ganze Architekturgeschichte fängt rein mit dem Haus an. Vorher war nix. Es hat kein Architekturhaus da gegeben. (...) Also, bis auf die Zeit vor hundert Jahren. Als die Kirche gebaut worden ist, und da das Dorfzentrum gebaut worden ist, mit diesem Basler Architekten.23

In beiden Fällen, die Wirthensohn hier aufeinander bezieht, wird erstmals ein Architekt ins Dorf geholt. Pfarrer Sinz kann in der von ihm initiierten „zweiten Gründung“ Thals Architektur, vertreten durch seinen (namenlosen) Basler Architekten, noch zur Darstellung derjenigen Würdeformen24 einsetzen, die der Institution Kirche Sichtbarkeit verleihen. Sinz kann also stellvertretend für die Institution Kirche handeln und die neue Dorfidentität in deren Rahmen stellen.25 Eine solche etablierte soziale Institution steht bei der „dritten zeption der Frühwerke seines zukünftigen Architekten beobachtet, nach einer Beobachtungsphase von mehreren Jahren schließlich dazu, diesen auch mit dem Entwurf des eigenen Hauses zu beauftragen. (WS 1: Z 295 ff) 16 WS 1: Z 1376 17 WS 1: Z 1382 18 WS 1: Z 1395 f 19 WS 1: Z 1401 f 20 WS 1: Z 1408 f 21 So etwa im Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur? 22 In ihrer institutionellen Verfaßtheit: historisch legitimiert, gegenwartsschaffend, zukunftsdeutend. 23 EW 1: Z 219 ff

24 Ein Begriff, der in den Diskussionen um die Sanierung des Berliner Reichstags, speziell seiner neuzuerrichtenden Kuppel, verwendet wurde und dort zur Kennzeichnung einer Profanisierung diente, die jene „Würdeform Kuppel“ durch den Architektenentwurf einer spiralförmig ansteigenden Aussichtsrampe im Inneren der nach außen verglasten Kuppelkonstruktion erfahre. 25 Die Kirche gewährte den Schutz, den ein solcher Rahmen bietet, keineswegs kostenlos. Die Kosten für „das nötige Benefizium, die Pfarrpfründe“, für die „Bischof Amberg in Feldkirch (...) die hohe Summe von 10.000 Gulden festlegte“, ließ „fürs Erste alle Hoffnungen auf das Vorhaben“ einer Pfarreigründung schwinden. Wirthensohn (1999), S. 70

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Architektur tritt in ehemals kirchliche Rollen ein

Architektur als kulturaler Code des Zusammenlebens

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Gründung“ Thals, das sich nun als Selbsthilfeverein26 organisiert, nicht mehr zur Verfügung. In dieser Situation wechselt nun Architektur selbst ihre Rolle, um als soziale Institution in Erscheinung zu treten. Sie beansprucht nun nicht nur, wie es noch unter Sinz ihrem historischen Selbstverständnis als Auftragskunst entsprach, das soziale Prestige ihrer personellen Bauherren zu visualisieren, sondern auch, die Würde ihrer ehemaligen institutionellen Auftraggeber selbst zu verkörpern, selbst sinnstiftend zu wirken. Im konkreten Fall heißt das, der Dorfgemeinschaft selbst eine zeitgemäße Identität verleihen zu können. Die praktischen Belange des Bauens werden in diesem Vorgang transzendiert. Indem das zeitgenössisch-architektonisch ästhetisierte Bauwerk sich auf die Gesamtheit der architektonischen Werke, als sinnstiftende (Vor-)Bilder verstanden, bezieht, bildet es die Wertbegriffe derjenigen gesellschaftlichen Kräfte27 ab, die gegenwärtig beanspruchen, zukunftsweisend zu sein.28 In ebendiesem normativen Anspruch beerbt Architektur dort, wo sie eine breite gesellschaftliche Basis auf sich vereint, die Religion, und deren Institution, die Kirche. Architektenbauten profaner Funktionskategorien sind demnach als zentrierende Symbolträger einer säkularisierten und individualisierten gegenwärtigen Gesellschaft anzusehen. Für das heutige Vorarlberg kann vielfältig belegt werden29, daß Architektur eine solche identitätsstiftende Funktion in seiner Gesellschaft übernommen hat. Durkheims soziofunktionelle Deutung von Religion zugrundegelegt, liegt es daher nahe, Zeitgenössische Architektur als symbolische Sinnwelt dieser säkularen Gesellschaft anzusehen. Im Vergleich zum Thaler Kirchenbau des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts mit seinem kanonisierten historistischen Programm allgemein lesbarer Zeichen „spricht“ jedoch Zeitgenössische Architektur weit weniger direkt zur Gesellschaft30, ein Umstand, der den „Architekturvermittler“ notwendig macht. Wirthensohn verschafft die erklärungsbedürftige Architektursprache seines Hauses, deren sozialen Effekt wir im letzten Kapitel mit dem Begriff des klassifizierenden „Anderen“ beschrieben haben, die Rolle, „Prophet im eigenen Dorf“ zu sein. Und das ist immer schwierig. Aber ich denke, daß letztendlich dann doch irgendwas hängenbleibt. Und es ist ja, (da können wir) jetzt zum Sinz zurückgehen, predigen, predigen, predigen, predigen... krankhaftes Predigen (lacht).31 26 Selbsthilfe steht statt dessen zeichenhaft für den Verlust übergeordneter Instutionen und Sinnsysteme. 27 Solche Wertbegriffe sind Ökologie, Marktwirtschaft, Regionalität etc. 28 Es handelt sich also nach wie vor um eine Visualisierung außerhalb der Architektur liegender sinnstiftender Kräfte, nur ist der Zusammenhang mit diesen und damit der weiterbestehende Umstand einer Dienstbarkeit verwischt, indem die Verbindung nun in der Verantwortung, der „künstlerischen Individua-

lität“, des einzelnen Architekten und nicht mehr im kollektiven Selbstverständnis des Berufsstandes liegt. Die Entwicklung der Dorferneuerungspreise, im letzten Abschnitt dieses Kapitels angesprochen, offenbaren solche verdeckten Indienstnahmen von Architektur, in diesem Fall als Marketinginstrument von Standortentwicklern. 29 Die Landesregierung Vorarlbergs weist in ihren Aussendung regelmäßig auf die Zeitgenössische Architektur des Landes hin und stellt diese damit in die

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Wenngleich durch den Begriff „krankhafter Prediger“ selbstironisch gebrochen, stellt Wirthensohn seine Rolle für das Dorf unmißverständlich in die Nachfolge Pfarrer Sinz’. Das bessere Leben, zu dem er die Dorfbewohner veranlassen will, fußt in seinem Fall, weit stärker als noch bei Sinz, auf der Sonderstellung desjenigen, der erstmals einen Architekten ins Dorf geholt hat. Zusätzlich zu denjenigen architektonischen Qualitäten, die die individuelle Lebensform betreffen, unter denen im Kapitel Haus zuvörderst der Naturbezug herausgestellt worden ist, sind im Rahmen des im Reanimationsprozeß befindlichen Dorfes nun solche zu identifizieren, die die dörfliche Gesellschaft und ihr Zusammenleben betreffen. Wirthensohn, der „Prophet“ führt die Inhalte, die er „predigt“, auf „zahllose Gespräche“32 mit Architekten zurück. Diese treten hier als Inhaltgeber, als Wissende in Erscheinung. Offensichtlich geht es bei diesem Wissen um einen kulturalen Code, der das Zusammenleben betrifft, aus dessen Wissenskern Wirthensohn selbst jedoch, als „reiner Laie auf dem Gebiet“33, dauerhaft ausgeschlossen bleibt. Sein Habitus als Ausgeschlossener, wenngleich Akademiker und Intellektueller, liefert unserer bisherigen sozialen Zuordnung von Architektur, die vor allem durch eine Unterscheidung gegenüber der nichtakademischen Baukunst bestimmt worden ist, eine weitere Differenzierung. Die Analogie zur Religion wirft ein Licht auf Architektur, das sie als Disziplin für Initiierte darstellt und ihre Praxis damit in die Nähe eines Kultes rückt.34 Was vertreten die Architekten? Mit dem Kultbegriff ist Architektur zunächst als etwas „Großes“ gekennzeichnet, das zwar durch den einzelnen Architekten vertreten und über seine Person vermittelt wird, jedoch nur durch die Gemeinschaft aller Architekten existieren kann. Was, außer zeitgemäßen formalen Regeln, wird in der im „Fachdiskurs“ aufeinander bezogenen Expertengemeinschaft der Architekten verhandelt? Wir finden Vergleichbares in anderen Gattungen der Kunst. Was vertritt der Schriftsteller, wenn er von Literatur spricht, was der Komponist, wenn er von Musik spricht? Jeweils die Gesamtheit der legitimen Werke, damit auch deren Abgrenzung gegen die nicht zum Kanon gehörigen, die Nicht-Werke. Die Experten für Kunst definieren damit gleichzeitig Nichtkunst und verleihen dem Legitimen damit die Rolle des Legitimierenden. Zur Diskussion des Kultbegriffs im vorliegenden Zusammenhang und Rolle eines kulturellen Repräsentanten des Bundeslandes. 30 „Die allmähliche Bildung eines relativ autonomen intellektuellen Kräftefeldes vollzieht sich in Zusammenhang mit der Explikation und Systematisierung der Prinzipien einer spezifisch ästhetischen Legitimität: Der Vorrang des „wie man etwas sagt“ vor dem „was man sagt“, der Primat der Form über die Funktion, die feierliche Bestätigung des vordem der unmittelbaren Nachfrage unterworfenen Subjekts, das

nun ins Zentrum eines reinen Spiels der Farben, Nuancen und Formen rückt, führt schließlich dazu, die Unerklärbarkeit und Unersetzlichkeit des Schaffenden zu bestätigen, indem man den Akzent auf den hermetischen und einzigartigen Aspekt des Produktionsaktes legt.“ Bourdieu (1970), S. 162 31 EW 1: Z 784 ff 32 EW 1: Z 817 33 Ebd.

Architekten als Wissensgemeinschaft

Archiv der legitimen und legitimierenden Werke

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Kunst stiftet Sinn im Dasein

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seiner Ein- und Ausschlußfunktion erscheint zunächst der Vergleich mit einer „Qualitätsgemeinschaft“ hilfreich. Die Webergemeinschaft der schottischen Insel Harris entscheidet souverän, was echten Harris-Tweed ausmacht, welche Rolle Tweed den Stempel erhält und damit ihren Marktwert und welche nicht.35 Der Rückbezug auf einen historischen Kanon deutet demgegenüber darauf hin, daß die Künstler aller Gattungen mehr vertreten als einen Marktwert. Denn sie sind gleichzeitig Traditionswahrer und Bewahrer des Archivs der legitimen und legitimierenden Werke. In ihrem Selbstverständnis halten sie damit einen Begriff des Menschen als Kulturwesen aufrecht36, dem wir im Abschnitt „Ein anderes Haus“ des Kapitels Haus bereits in Schillers „Briefe(n) zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ begegnet sind. Diese „Briefe“, die ausdrücklich den gesellschaftlichen Leitanspruch der Kunst postulieren, sind innerhalb jenes Wertewandels entstanden, der die Säkularisierung vorbereitet hat, die Entmachtung der Kirche durch den Staat. Die seither durch Kunst vermittelte Vorstellung vom Menschen als Kulturwesen hat selbst durchaus religionshafte Anmutung, denn sie stiftet Sinn im Dasein37, überträgt damit die ehemalige sinnstiftende Rolle der Religion auf die Kunst. Als deren leitende Gattung tritt das gesamte neunzehnte Jahrhundert hindurch und noch im Bauhaus-Manifest von 1919 die Architektur auf. Ihren Führungsanspruch demonstriert sie durch Verweis auf das Gesamtkunstwerk der mittelalterlichen Kathedrale, bei deren Errichtung der Baukunst unter allen Künsten das Primat zukommt. Lionel Feiningers Titelholzschnitt des Bauhaus-Manifests Die sozialistische Kathedrale38 erneuert diesen Anspruch für das zwanzigste Jahrhundert. Wie aber setzt der einzelne Architekt diesen Anspruch von Architektur, die neue gesellschaftliche und gesellschaftsbildende Leitkultur zu sein, vor Ort um, zumal gegenüber der durch Bauern und Handwerker dominierten Gesellschaft eines Dorfes? „Der war ja für viele nahezu der Teufel persönlich, durch seine Fernsehsendung, die er gemacht hat, wo er Architektur kritisiert hat“39, schildert Wirthensohn hier den „Abstand“ zwischen dem soeben beauftragten Architekten seines Hauses und der Dorfgemeinschaft. Hergestellt wurde dieser Abstand, als die Gültigkeit des architektonischen Urteils gegenüber der Vorarlberger Gesellschaft erstmals öffentlich eingefor34 Vgl. Jan Tschicholds Äußerung, zit. in Abschnitt Architektenstand, Kapitel Architektur?, Anm. 32 35 Vgl. Gisela Vogler: A Harris Way of Life – Marion Campbell (1909–1996); Tarbert: Harris Voluntary Service, 2002 36 Susan Sontag in Brief an Borges: „Lieber Borges, (...) Sie haben gesagt, daß wir der Literatur alles schulden, was wir sind und was wir gewesen sind. Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls ver-

schwinden. Bücher sind nicht nur beliebige Summe unserer Träume und unser Gedächtnis. Sie bieten uns auch das Vorbild für Selbsttranszendenz...“ (New York, 13. Juni 1996), in: Worauf es ankommt. Essays; München: Hanser, 2005 37 Architekt Hans Purin kleidet seine Überzeugung von der Existenz dieses Zusammenhangs in den Satz „Architektur und Liturgie (...) steckt ineinander drin“, HP: Z 698 f 38 Hüter (1976), S. 65

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dert wurde, in den 170 Folgen der Sendung PlusMinus40, die das lokale ORFFernsehen in den Jahren 1985–97 ausstrahlte.41 Während in Wirthensohns Beschreibung des Habitus seines Architekten, der sich als öffentlicher Kritiker exponiert hatte, „er hat so ein bißchen was dozierendes, so was priesterhaftes nahezu“42, noch der Anspruch auf eine die Kirche beerbende Würde einschließlich der zugehörigen Überindividualität des Urteils mitschwingt, kann dessen Nachfolger Gerhard Gruber bereits auf eine mittlerweile etablierte Stellung Zeitgenössicher Architektur im Dorf aufbauen.43 Entscheidend für den Etablierungsprozeß wirkte, daß das erste „Stück Architektur“ im Dorf externe Aufmerksamkeit erregen konnte. „Die Wende kam dann, wo ein paarmal so Busse gekommen sind und das Haus angeschaut haben.“44 Der Widerstand gegenüber dem Bauwerk, „das Haus, das war für viele schlecht, teuer, gehört nicht hierher, paßt nicht, und so weiter“, besteht so lange, wie die Bewohner des Dorfes sich weigern, „sich das Haus ein bißchen erklären“ zu lassen, vor allem, hineinzugehen.45 Das Vorbild durch ein Architekturpublikum von außen, das mit Bussen anreist, um den Neubau zu besichtigen, trägt wesentlich dazu bei, den Widerstand der Dorfbevölkerung aufzuweichen. Vor den Fremden, die offensichtlich wertschätzen, was dort Neues zu sehen ist, will man selbst nicht zurückstehen. Und wiederum mit viel Mühe ist dann gelungen, den Schulumbau, wieder durch die zwei Leute (...) [bearbeiten zu lassen]. Ich habe mich damals massiv eingesetzt, daß die das kriegen. War ein langes Hin und Her mit der Gemeinde, schon ein anderer beauftragt. Und die Schule war dann das ganz wichtige Projekt, wo die Leute gemerkt haben, hoppla... Und von dort ab war der Gerhard Gruber akzeptiert. 46

Mit der Kirche hat das heutige Dorf, und das zeigt sich gerade an Thal, das als „Kirchdorf“ gegründet worden ist, seinen ehemals zentralen stake holder47 verloren. Wir haben festgestellt, daß im Vorgang der Neugründung als Selbsthilfeverein neue Anspruchsgruppen auftreten. Unsere Gegenüberstellung von Religion und Architektur konnte zeigen, daß Architektur für diese einen ihrer Wertordnung gemäßen Sinn stiftet. Indem die neue Sinnkonstruktion handlungsleitend wirksam wird, ist der Sinnverlust ausgeglichen, den der Niedergang des kirchlichen Einflusses zunächst hinterlassen hatte. Neben der Einsetzung von Architektur als sinnstiftendem und normativem Medium, mit dem sich vor allem die neuen dörflichen Eliten Ausdruck verschaffen, geben die Forschungsgespräche auch Anhaltspunkte für solche 39 EW 1: Z 497 ff 40 Die Vorarlberger Landesbibliothek verwahrt eine vollständige Sammlung von Aufzeichnungen der Fernsehsendung. 41 „Wie der Wetterbericht wurden diese ständigen, kontroversiellen Impulse landesweit rezipiert und diskutiert und haben wesentlich mitgeholfen, den Boden für eine sachliche Diskussion in Baufragen zu verbessern.“ Kapfinger (1999), Einleitung „Und fallweise habe ich mich mit der von mir ge-

stalteten Fernsehserie (...) auch gerächt.“ Gnaiger (2009/2), S. 10 42 EW 1: Z 518 ff 43 EW 1: Z 515 ff 44 EW 1: Z 505 ff 45 Ebd.; offensichtlich erschließt sich Architektur nicht dem äußeren Augenschein, sondern erfordert Hinwendung und Nachvollzug eines „inneren“ Konzepts. Der Innenraum ist für Wirthensohn der Schlüssel, nicht die Außenansicht.

Ausgleich des Sinnverlustes aus dem Niedergang des kirchlichen Einflusses

Architektenschaft als dörflicher stake holder

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Aspekte, die die Beteiligung von Architektur an der sozialen Konstruktion des „neuen Dorfes“ aus Sicht der Architektenschaft plausibel machen. Also, wir haben uns das Haus da gebaut und dann hat der jetztige Fraktionsvorsteher, (...) der hat mit dem K. [Architektenname] hier ein Haus gebaut. Das war dann das nächste. 48 Wirtschaftsfaktor Planungsleistung

Städtebau im kleinen Maßstab

Wirthensohns Wohnhausbau hat den privaten Wohnhausbau als neues Betätigungsfeld für Architekten im Dorf erschlossen, ein ökonomisches Feld, das in den folgenden Jahren mit dem Neubau kommunaler Bauten nochmals eine Erweiterung erfährt.49 Betrachtet man Thal als exemplarischen Fall für Vorarlbergs rund einhundert Gemeinden, so wird deutlich, daß sich hier für die Architektenschaft ein Betätigungsfeld von erheblicher Ausdehnung eröffnet, daß Planung für den ländlichen Raum ein Wirtschaftsfaktor ist.50 Die Möglichkeit, „Städtebau“ im kleinen Maßstab zu betreiben, „daß man als Architekt nicht nur ein Haus planen darf, sondern daß man planen darf, wo steht das Haus und wie steht es und sogar über diesen Ortsraum von Grund auf denken darf“51 ist, Gerhard Gruber zufolge, „ganz, wie man es sich wünscht“52, gehört damit wesentlich zur ideellen Erfüllung eines Architektendaseins. Die Möglichkeit, Städtebau und Architektur zu verknüpfen, besteht in Vorarlberg noch vielerorts, überall dort, wo Dorfzentren baulich erneuert werden, ein Potential, das das Land, das Bundesland Vorarlberg ebenso wie seinen ländlichen Raum, für Architekten attraktiv macht. Die ehemaligen dörflichen Eliten erleben diesen Vorgang, der gleichzeitig ein personeller Wechsel und ein Wandel der Sinnkonstruktionen ist, als Verlust ihres persönlichen Einflusses auf die Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes, als Entfremdung dieses Umfeldes53 und damit als Verlust der Selbstbestimmung, dem ehemals zentralen Identitätselement des Lebens im ländlichen Raum.54 So ist erklärbar, daß in den Auskünften, die die Gesprächspartner in den Forschungsgesprächen der vorliegenden Studie geben, der Auftritt von Archi46 EW 1: Z 508 ff 47 Der in Sozial- wie Wirtschaftswissenschaften gebräuchliche Begriff „stake holder(s)“ ist mit „Anspruchsgruppe(n)“ zu übersetzen und repräsentiert einen „Akteur“ innerhalb eines „dezentralen Systems“. René L. Frey, Universität Basel: „Für das dezentrale System ist charakteristisch, dass die Anspruchsgruppen so lange partnerschaftlich miteinander verhandeln, bis sie Lösungen gefunden haben (Win-winSituationen). Diese auf Wettbewerb beruhende Koordination liegt der Marktwirtschaft zugrunde, findet sich aber auch in (...) der Demokratie (Parteienwettbewerb) oder dem Föderalismus (Wettbewerb zwischen Gliedstaaten). Sie bildet auch die Grundlage der Regional Governance. (...) [Deren Grundidee] ist (...), Steuerungsstrukturen von Gebietskörperschaften zu implementieren, „die

auf der Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Akteuren beruhen, aber auch hierarchische Regulierung und Politikwettbewerb zulassen“ oder, anders formuliert, die „horizontale Kooperation zwischen einem variablen Kreis von Akteuren“ ermöglichen (Benz, 2001: S. 55). Wichtig ist dabei, dass gute Instrumente für die Verhandlungen zwischen den Stakeholdern zur Verfügung stehen...“ Hansjörg Blöchinger, Head of Unit im Departement Regionalentwicklung der OECD in Paris, ergänzt den Hinweis auf einen „allgemeinen Trend zur Dezentralisierung“, den „praktisch alle Staaten in der OECD (...) durchlaufen, um föderale Strukturen zu schaffen: In Skandinavien sind zahlreiche Regionalisierungsprozesse zu beobachten. Italien ist unlängst offiziell ein föderaler Staat geworden, in Spanien findet seit 15 Jahren ein Dezentralisierungsprozess statt (...). Frankreich hat eine Dezentralisierungsdis-

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tektur im Dorf vor allem dort mit diesem Erlebnis eines Verlustes der Selbstbestimmung verknüpft wird, wo von kommunalen Beschlußfassungen die Rede ist. Bertram Dragaschnig, der die Neubauten des Ortszentrums in Langenegg als Generalunternehmer erstellt hat, bezeichnet diesen Effekt als typischen Konflikt aktueller dörflicher „Innenpolitik“, einen Konflikt, dessen Austragungsort die Gemeinderatssitzungen sind, jenes Forum, in dem sich alte und neue stake holders gegenübersitzen: Man braucht (...) als Gemeinde den Mut, einen Architektenwettbewerb zu machen, ist ja vielmals schon in den Gemeinden ein politischer Kleinkrieg „dann haben wir nichts mehr zu sagen, mitzureden“, oder, ist das Hauptargument, oder.55

Ernst Wirthensohn macht mit seiner Beschreibung der autonomieerhaltenden Kompetenz des Selber-Machens, des Prinzips des GemeinschaftlichEigenhändigen, diese alten und neuen stake holders als „Handwerker“ und „Architekten“ namentlich56, spricht ersteren keineswegs ihr Qualitätsbewußtsein ab, verdeutlicht jedoch, daß das Kriterium handwerklicher Qualität allein als Wertmaßstab im „neuen Dorf“ nicht mehr ausreicht: Man hat doch nie irgendwo einen Handwerker geholt (von) außerhalb des Dorfes. Das war undenkbar. (...) Aus Selbstbewußtsein. Was natürlich für die Architektur ein großes Problem ist. Denn man macht die Dinge selber. Ich habe so gekämpft dafür, daß das auf architektonisch ordentliches Niveau kommt. (...) Die hätten schon das gemacht, aber die hätten das alles selber gemacht. Die Handwerker. Das wäre zum Teil wahrscheinlich gar nicht so schlecht geworden, aber architektonisch wäre nichts herausgekommen. Weil diese Tradition ist, wir können das selber und wir machen das selber. Und ein Architekt wird zuerst einmal beargwöhnt. Weil er von außen kommt. Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen.57

Eine Gemeinschaft, die nicht einmal einen Handwerker „von außen“ holt, stößt beim Vorgang der Architektenbeauftragung auf eine doppelte Barriere im eigenen Selbstverständnis. Gegenüber dem Architekten bestehen zusätzlich zu seinem Hereinkommen „von außen“ die Schwelle gegenüber dem Akademiker sowie der unzugängliche Bezugsrahmen der architektonischen Bedeutungskonstruktionen. kussion eröffnet und will das Prinzip der lokalen Autonomie in der Verfassung verankern. Auch Grossbritannien hat kürzlich weit reichende Kompetenzen an seine Regionen (...) übertragen. Mit der Dezentralisierung sind neue Akteure auf den Plan getreten, die sich koordinieren beziehungsweise die koordiniert werden müssen. In den meisten Staaten läuft diese Koordination unter dem Etikett Territorial Governance.“ Eisinger (2003), S. 78 48 EW 1: Z 644 ff 49 Allein für Thal: Schulhauserweiterung, Gemeinschaftshaus, Feuerwehrhaus 50 Georg Pendl, Vorsitzender der österreichischen Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, nennt, „Tirol und Vorarlberg zusammengenommen“, eine Verzehnfachung der Architekturbüros im Zeitraum der letzten vier Jahrzehnte. Wie Abschnitt „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus, Anm. 2

51 GG: Z 769 ff 52 Ebd. 53 Den Gedanken, daß diese Entfremdung des Bewohners von seinem Umfeld ein Leitprinzip der modernen Architektur geworden ist, im hier durchgeführten Argumentationsgang ein Nebenaspekt, greift der Abschnitt Möbel und Raum des Kapitels Handwerk ausführlicher auf. Aktuelle Rezeptionen Zeitgenössischer Architektenhäuser erneuern regelmäßig diesen Topos der Fremdheit als Qualität von Architektur. 54 Vgl. den vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels 55 BD: Z 346 ff 56 Die Darstellung der Architekten als „Gegenpartei“ zu den lokalen Handwerkern bleibt unvollständig, solange die lokalen Auftraggeber der Architekten ungenannt bleiben.

Verlust der Selbstbestimmung

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Handwerk ist nicht Architektur

Daß ein handwerklich gut gemachtes Haus nicht „Architektur“ ist, nimmt Wirthensohn hier als Selbstverständlichkeit. Dem Haus vom Handwerker fehlt der geistig-kulturelle Bezugsrahmen, ein entscheidendes Element, das nur dem Architekten zugänglich ist und mit ihm den akademisch gebildeten58 Gesellschaftsschichten. Das „neue Dorf“ repräsentiert gegenüber dem traditionellen Dorf eine gänzlich gewandelte kulturelle Orientierung seiner Eliten. In Thal führt dies zu jahrelangen Auseinandersetzungen um die zukünftige Nutzung des Dorfsaales und seine bauliche Adaptierung. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen.

Neue wirtschaftliche Grundlage, neue ökonomische Sinngebung des Dorfes

Mit der Ablösung der traditionellen dörflichen stake holders, vor allem Bauernschaft und Kirche, geht ein Wandel der Problemstellung einher, dem sich die neue Elite in ihrer Lokalpolitik zu stellen hat. Das Dorf benötigt eine neue wirtschaftliche Grundlage und damit neben der kulturellen auch in ökonomischer Hinsicht eine neue Sinngebung. Mit dem Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, einerseits als Lebensform, andererseits als Erwerbsform, hat das Dorf seinen primären59 ortsfesten Wirtschaftsfaktor60, nämlich die Fruchtbarkeit seines Bodens, verloren. Was Sinz noch versucht hatte, nämlich die Phase der lokal autonomen wirtschaftlichen Existenzsicherung des agrarisch begründeten „alten Dorfes“ durch Ansiedlung einer Fabrik61 in die postagrarische Moderne hinein zu verlängern, ist in Zeiten der individuellen Mobilität, wie sie die 1960er Jahre bringen, endgültig obsolet geworden – die Entfernung zu den „Arbeitsplatzanbietern“ in der Agglomeration Rheintal oder im Allgäu bildet keine Hürde mehr, der Raum, der die wirtschaftliche Existenz seiner Bewohner sichert, hat sich vom Dorf zur Region ausgeweitet.62 57 EW 1: Z 472 ff 58 Die hier unhinterfragt auftretende Hierarchie der akademischen über jede nichtakademische Bildung wurde in den 1970er und 80er Jahren auch in Vorarlberg durchaus in Frage gestellt. Neben denjenigen „kritischen“ Gruppierungen, die im vorhergehenden Abschnitt erwähnt wurden, existierten weitere, mit geringerer Durchsetzungsmacht gegenüber dem „common sense“, die sich als „alternative“ gesellschaftliche Enklaven abkapselten. Ein Beispiel hierfür ist der Höchster „Lichtheimat Ashram“, eine Gruppierung, die hier deshalb von Interesse ist, weil sie u.a. traditionell „dörfliches“ Wissen rekonstruierte und in Form von Anleitungsbüchern herausgab. So existieren etwa ein Kochbuch und ein Buch über Handweberei einschließlich einer Bauanleitung für die benötigten Gerätschaften. Die im Kochbuch wiedergegebenen Rezepte und die angegebenen Verfahrensweisen zum Haltbarmachen von Speisen und Naturalien ähneln jenen, die in Thal beim „Fest für Martin Sinz“ zum 90. Todestag des Dorfgründers (gefeiert am 6. Mai 2001) nachvoll-

zogen sowie zu diesem Anlaß als Veröffentlichung in Erinnerung gebracht wurden. (Cornelia OberbichlerVögel: „Alte Thaler Kost“, in: Wirthensohn, Jb. 2000– 2001) 59 Unter den agrarischen Bodenerträgen Thals findet lediglich der auf Sinz zurückgehende „Pfarrwald“ im Zusammenhang mit erzielten Einnahmen aus Holzverkäufen, aber auch mit Bauholzspenden in Wirthensohns Jahresberichten positive Erwähnung. 60 Im ländlichen Raum ist es vor allem der Bergbau, der neben der Landwirtschaft eine ähnlich ortsfeste, aus der Existenzsicherung erwachsende Bindung und Identität schafft, für Vorarlberg in den historischen Bergbaugebieten des Montafon (Silbertal) nachzuvollziehen. Während jedoch der Bedeutungsverlust des Bergbaus direkt mit der Erschöpfung der lokal vorkommenden Bodenschätze zusammenhängt, ist der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft ein indirekter, weil marktbestimmter und damit „erzeugter“. Zentral wirkt hierfür die Einführung von Geldwirtschaft in einen Raum, der noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu geldfrei funktioniert

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Auch wenn die unmittelbare Notwendigkeit zur direkten wirtschaftlichen Versorgung der Dorfbewohner durch deren individuelle Mobilität entfallen ist, so besteht doch für die Gemeinden unvermindert die Notwendigkeit, Einnahmen zu erzielen. Eigene Einnnahmen sichern die Unabhängigkeit ihrer Investitionspolitik und gewähren über die notwendige Aufrechterhaltung der gemeindlichen Infrastruktur hinaus Gestaltungsfreiheit. Eine Möglichkeit der Schaffung neuer lokaler Wirtschaftskraft63 liegt in der Ansiedlung von Gewerbebetrieben, die neben der Schaffung lokaler Arbeitsplätze vor allem Gewerbesteuereinnahmen ermöglichen. Die Gemeinde Langenegg etwa läßt sich zur Steigerung ihrer Attraktivität in den 1990er Jahren einen „Auftritt nach außen“ entwickeln: Wir haben ein Grafikbüro beauftragt, (...) das war ein Auswärtiger, (...) der hat ein Logo entwickelt für uns, (...) alle Vereine haben das selbe Logo, die Gemeinde hat das Logo, die Gemeindeeinrichtungen haben das Logo...64

In einer globalisierten Welt, in der die Identifizierbarkeit in elektronischen Medien gewährleistet sein muß, genügt es den dörflichen Repräsentationsansprüchen nicht mehr, einen hohen Kirchturm zu besitzen, der weithin in der Landschaft sichtbar ist. Derselbe Grafiker, der das Langenegger „L“ entworfen hatte, wird 1998 beauftragt, nun ein architektonisches Zeichen vorzuschlagen, und liefert einen Entwurf, dessen Realisierung zwar unterbleibt, aber als Initialzündung für die spätere architektonische Neuformulierung des Ortskerns wirkt, wie Bürgermeister Nußbaumer erzählt.65 Der sollte sich irgendetwas überlegen, was wir machen können. Man sieht ja landläufig die Strohballen, die sieht man ja in Deutschland auch, daß man sagt, Erntedank. Also, das wollten wir eigentlich nicht, solche Dinge. (...) Dann gabs ein futuristisches Projekt, ein Riesenzeltdach über dem Ortskern, wie das Münchner Olympiastadion,

hat (vgl. Krammer/Scheer). Erst die Einführung von Geld erlaubt, einen weltweit vergleichbaren Marktpreis für landwirtschaftliche Produkte zu erzeugen und mit der Lokalproduktion in Konkurrenz zu setzen. Ein weiterer Konkurrenzeffekt dieser Kapitalisierung des ländlichen Raumes liegt in der Entstehung eines Wettbewerbs der Lebensformen zwischen der agrarischen Selbstversorgergesellschaft des traditionellen Dorfes und der konsum- und stadtorientierten „modernen“ Gesellschaft. Daß zu den Sinz’schen Modernisierungsmaßnahmen Thals die Gründung einer eigenen Raiffeisenbank gehört, illustriert diesen neuen Einfluß der Geldwirtschaft im Dorf. Die Bank gehört seither zu den dörflichen stake holders und demonstriert diesen Anspruch vielfältig: Durch Anzeigen in den Jahresberichten des Selbsthilfevereins, durch Sponsoring kultureller Veranstaltungen und nicht zuletzt durch architektonische Präsenz im neuerrichteten Gemeinschaftshaus. Im Gespräch verdeutlicht der Leiter der Thaler Bankfiliale, daß Architektur für ihn primär als In-

vestition in Erscheinung tritt, die finanziert werden muß (EW 2: Z 1153 ff). Sein zeitgemäß erneuerter Status als dörflicher stake holder, der nun nicht mehr gegenüber den in die Mechanisierung ihrer „Betriebe“ investierenden Landwirten, sondern als „Nahversorger“ einer Pendlergesellschaft zu repräsentieren hat, bildet den Gegenwert für diese Investition. 61 Ernst Wirthensohn: Pfarrer Martin Sinz (1830– 1911) Lebensbild; in: Wirthensohn: Jb 2000–2001 62 Die Entwicklung zu einer vermehrten „Selbstbestimmung der Regionen“ als Regierungsform regional oder territorial governance ist das politische Pendant zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung. Vgl. Anm. 47 63 Das im Bregenzerwald stark vertretene Handwerk und die Modernisierungsbereitschaft seiner Institutionen (vgl. die Abschnitte Reform des Handwerks, Kapitel Handwerk) ist im hier betrachteten Kontext auch als Folge der Auflösung einer Symbiose von Handwerk und Landwirtschaft zu sehen. 64 PN: Z 121 ff 65 Zu diesem Prozeß vgl. den Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens dieses Kapitels.

Wandel vom Arbeitsort zum Wohnort

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und nachdem wir eine energieeffiziente Gemeinde sind auch, bestückt mit Photovoltaikanlagen und mit Werbeflächen. Und daß man dieses Zelt im Ortskern auch nützen könnte für Veranstaltungen im Ort.66 Dorf als Firma

Der Schwarzenberger Bürgermeister Armin Berchtold stellt das neue Selbstbild der Dörfer noch ausdrücklicher in den Kontext einer globalen Ökonomie, wenn er sich im Gmoundsblättle an die Dorfbewohner wendet, um die Umdeutung des Dorfes zu einer „Marke“ zu propagieren: Man muß kein Marketing Fachmann sein, um zu wissen, daß Schwarzenberg eine hervorragende Marke innerhalb der Dachmarke Bregenzerwald darstellt. Vom Antrag zum Welterbe bis zu unzähligen Werbefilmen, Werbefotos und Berichten zu Natur, Architektur und Kultur hat Schwarzenberg einen Namen, der ohne zu übertreiben einen weltweiten Ruf besitzt.67

Die Ökonomisierung des ländlichen Raums geht einher mit der Umdeutung von Dorf- und Landschaftsnamen zu Markennamen, die mittels verbaler Attribute wie im Biosphärenpark Großes Walsertal etwa touristische Nutzungen („Park“) anbieten. Die Verbildlichung und graphische Verdichtung dieser brands zu logos signalisiert Standortqualitäten für das Regionalmarketing auf der neuen globalen Plattform. Avenir Suisse: Im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft etabliert sich eine verstärkte Standortkonkurrenz. Regionen und grössere Agglomerationsräume konkurrieren international um die Gunst von Kapital und Humanressourcen.68 Konkurrenz zwischen Nachbardörfern

Auch Thals heutiges Existenzproblem ist wesentlich ein ökonomisches: Anreize sind zu schaffen, die seine Bevölkerung zum „Dableiben“ motivieren, Zuwanderung schaffen und möglichst auch Gewerbebetriebe anziehen.69 Den Dorfbewohnern ermöglicht ihre Beweglichkeit erstmals70 direkten Vergleich und damit, aus dem Sozialverhalten auszuscheren, das die traditionel66 PN: Z 142 ff Das Münchner Olympiastadiondach gilt dem Langenegger Gemeindevorstand als Prototyp des architektonischen „Branding“, an dem neben dem „Futuristischen“ auch das „Ökologische“ gesehen und geschätzt wird. Nach einem regionalen Bezug wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefragt, die unwillkürlich gewählte Formensprache ist internationalistisch. Zur Diskussion von internationalistischen bzw. nationalistischen Konnotationen deutscher Olympiabauten vgl. Prechter (2000) 67 Schwarzenberger Gemeindeblatt, Dez. 2008, S. 5 68 Eisinger, S. 155 69 „Thal braucht wirtschaftliche Anziehungskraft; aus der Erkenntnis, dass es nicht genügt, einmal erfolgreich gewesen zu sein, folgt, dass es zunächst gilt, die geschaffenen Einrichtungen zu stärken und in der Zukunft die Anziehungskraft für neue wirtschaftliche Aktivitäten zu verstärken. Das heißt nichts Geringeres als „Dorfmarketing“ zu betreiben, zum Beispiel nach dem Motto Dorf im Einzugsbereich des Rheintals empfiehlt sich als Platz zum Wohnen und für Dienstleister, die von der ausgezeichneten Lebensund Umgebungsqualität profitieren wollen. Dass

dafür zunächst noch Voraussetzungen, wie verfügbare Grundflächen in raumplanerisch vertretbarer Lage, geschaffen werden müssen, ist klar.“ Fraktionsvorsteher Dipl. Ing. Walter Vögel: Thal im neuen Jahrzehnt; Wirthensohn: Jb. 1999–2000 Thals Nachbargemeinde Langenegg hat einen Zulieferer für die Automobilindustrie gewonnen, der Kurbelwellen und Pleuelstangen produziert und der größte Arbeitgeber im Dorf ist, wie Gemeindesekretär Mario Nußbaumer betont: „Wir hatten vor fünf, sechs, sieben Jahren 70 Arbeitsplätze, und jetzt haben wir sicher um die 200. Die Firma (...) hat allein 45 Arbeitsplätze.“ (MN: Z 57 ff) Der Fall zeigt, daß der ländliche Raum als Wirtschaftsraum für die gegenwärtig typische dezentralisierte Produktionsstrategie der Großindustrie attraktiv geworden ist. Die nächste Automobilfabrik dürfte im Stuttgarter Raum des Nachbarlandes Deutschland, ca. 200 km von Langenegg entfernt, sein. 70 Wirthensohns „Lebensbilder“ sprechen wiederholt von der räumlichen Unbeweglichkeit derjenigen Generation Thals, die noch primär von der Landwirtschaft lebte. 71 EW 1: Z 1128 f

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le Bindung an den Geburtsort vorgibt. Alle im Rahmen des Forschungsprojekts befragten Bauherren von Einfamilienhäusern jedoch haben noch am Geburtsort oder auf Grundstücken aus dem Familienbesitz gebaut. Mit der aktuellen, ökonomischen Restrukturierung der Dörfer treten diese mit der Ausweisung frei verkäuflicher Bauplätze als neuem „Argument“ zueinander in Konkurrenz, eine Entwicklung, die auf Landesebene seit den 1970er Jahren neue Planungsinstrumente entstehen ließ und den Gemeinden die Raumordnungsstelle als Planungsinstanz übergeordnet hat. Wir werden im folgenden Abschnitt näher darauf eingehen. Zu den konkurrierenden Gemeinden gehört im Fall Thals bereits die eigene Muttergemeinde Sulzberg.71 Zum Angebot an Bauplätzen tritt in dieser Konkurrenz um Bauwerber der Schlüsselbegriff „Atmosphäre“ als Gradmesser für Attraktivität, ein neuer Maßstab, der in dieser Konkurrenz für einen ökonomischen Wert steht. Das Stichwort „Nahversorgung“72 faßt darüber hinaus die infrastrukturellen Maßnahmen zusammen, die Thals neue Identität als attraktiver Wohn- und Wirtschaftsort bestimmen. In diesem Wandel kann vor allem derjenige unter die neuen dörflichen stake holders aufsteigen, der einen spezifischen Beitrag zur neuen Identität des Dorfes zu leisten imstande ist.73 Die Diskussionen innerhalb des Selbsthilfevereins um die Belegung von Thals Gemeinschaftshaus und das jahrelange Ringen um die funktionelle Ausrichtung des Dorfsaals spiegeln den Vorgang der sozialen Neuplazierung der dörflichen Anspruchsgruppen, einerseits als ortsräumliche Anordnung von Institutionen, andererseits als Kräftemessen um Einflußsphären, um Gestaltungsmacht im „neuen Dorf“. Wolfgang Schmidinger delegiert die Aufrechterhaltung der „Atmosphäre“, die bis hierher als neuer Gradmesser für Attraktivität und damit als ökonomischer Wert identifiziert wurde, an die Architektenschaft und leitet die Dringlichkeit dieser Aufgabe aus der „Schädigung“ ab, die der ländliche Raum durch seine fortgesetzte Bebauung mit Wohnhäusern erfährt. „Also da sind, behaupte ich, neun von zehn Weilern (...) geschädigt worden.“74 Schmidinger führt dazu „Ensemble“ als neuen Begriff in unser Gespräch ein. Gegenüber den ortsräumlichen Kategorien, die traditionell die Orientierung der Dorfgemeinschaft geleitet und geprägt haben, also „Gemeinde“ und „Fraktion“ aus 72 Wirthensohns Jb. 2001–2002 trägt den Titel „Schwerpunkt Nahversorgung“ 73 Von der sozialen Neuplazierung des Thaler Musikvereins wird im Kontext des Dorfsaals noch die Rede sein. Als weiterer traditionsreicher Verein plaziert sich die Feuerwehr im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends mit einem architektonisch avancierten Neubau am (bzw. als) Dorfeingang. Zur Raiffeisenbank, die vom Kreditgeber an die Bauern im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft nun zum Nahversorger mutiert ist, vgl. Anm. 60. Als weiterer wichtiger Nahver-

sorger tritt der Einzelhandel in Erscheinung. Im Nachbarort Langenegg spielen Sozialdienstleister eine wichtige Rolle. Daß die Architektenschaft selbst als dörflicher stake holder auftritt, wurde bereits angesprochen und wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels nochmals thematisiert werden. Das Handwerk, als Regionalverbund „Werkraum Bregenzerwald“ organisiert, betreibt mit dem zukünftigen Zumthor-Bau in Andelsbuch als architektonischem Signal, das als wertschaffendes Zeichen globale Wirksamkeit zu entfalten verspricht, klassisches branding, vgl. Kap. Handwerk.

Atmosphäre

Nahversorgung

Ensembles schaffen

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dem verwaltungstechnischen und „Parzelle“ bzw. „Weiler“ aus dem soziofunktionellen Bereich, bildet „Ensemble“ eine Wahrnehmungskategorie, die ausschließlich die Form der Gebäude, das Material ihrer Außenhaut und ihre Stellung zueinander, also die Siedlungs-„Figur“, betrachtet und von allen übrigen, insbesondere den sozialen, Kategorien absieht. Indem Schmidinger den Architekten eine ihnen gemäße Aufgabe zuordnet und damit deren berufsspezifische Kompetenz beschreibt, kennzeichnet er gleichzeitig ein Spezialistentum mit charakteristischer déformation professionelle. Wir haben bereits festgestellt, daß die Ausstattung der Gemeinden mit Gestaltungsbeiräten in Vorarlberg österreichweit die höchste Dichte erreicht. Schmidingers Definition einer architektengerechten Aufgabe, nämlich der Arbeit an baulichen Ensembles, läßt eine langfristige „Umformung“ der baulichen Kulturlandschaft, eine Ästhetisierung im kulturlandschaftlichen Maßstab erwarten. Eine solche ist in Vorarlberg bereits durch baurechtliche Instrumente legalisiert und institutionalisiert. Die Feststellung, daß Architektur Gesellschaft bildet, also die soziale Praxis formt, erhält aus dieser Perspektive eine Dimension, die eine Umformung der Beziehung des einzelnen Menschen zu seinen Sinnen fordert. Sie beschreibt eine Umschichtung der sozialen Hierarchie der menschlichen Sinne von einer taktilen zur visuellen Orientierung, einer Abwertung der Hand zugunsten einer Aufwertung des Auges.75 Kritik an der Architektur der Solitäre

Schmidingers „Auftrag“ an die Architekten, Ensembles zu entwerfen, impliziert gleichzeitig eine Kritik an der Praxis der Architekten, in der mediengerechten Selbstvermarktung die eigene Leistung vor allem als Schaffung formal autonomer Einzelobjekte darzustellen.76 Seine Aufgabenstellung definiert er dabei als rekonstruktive: Das verlorene Ensemble soll wiedergewonnen werden. Neben den Ortskernen „wie beispielsweise Krumbach“77, richtet Schmidinger unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die ästhetische Schädigung der Weiler, deren Wurzel er im „Verwirklichungsdrang“ einzelner Bauherren identifiziert. Wenn die jetzt sagen, wir bauen dieses Haus und wir streichen das einfach rot, (...) den Verwirklichungs- äh -drang, sich, seine Hütte, der Umwelt aufzudrängen, dann kannst auch nichts machen.78

Mit dem „roten Haus“ kennzeichnet Schmidinger einen prototypischen Fall als Negativbeispiel, den wir im Kapitel Haus als Bestandteil einer archi74 75 76 77 78 79 ten 80

WS 1: Z 981 ff Vgl. Crary, S. 14 f WS 1: Z 1055 ff Ebd. WS 1: Z 993 ff Schmidinger bezieht sich hier auf einen konkreFall im Gemeindegebiet Schwarzenberg. WS 1: Z 869

81 Schmidinger verknüpft hier die Größe der mit dem Hausbau getätigten Investition mit einem daraus abgeleiteten Recht zur Selbstdarstellung. 82 WS 1: Z 1035 ff 83 Ebd. 84 Solche Kriterien sind in kommunalen Gestaltungsrichtlinien oder Ortsbildsatzungen gefaßt. Vgl. die Wiedergabe der „Planungsempfehlungen“ der

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tektonischen Strategie beobachtet und festgestellt haben, daß eben jener rote Fassadenanstrich zwanzig Jahre zuvor architektonisch legitimiertes Mittel zur Durchsetzung eines Gestaltungsanspruchs für eine neue gesellschaftliche Schicht im Dorf gewesen ist. Sein Vorschlag eines Rollenwechsels der Architekten zielt darauf ab, solch individualistische Exponierungen sowohl auf Architekten- als auch auf auf Bauherrenseite, ebenso wie ensembleschädigende Baulandausweisungen seitens der Gemeinden79, künftig zu unterbinden. Solange die wünschenswerte „Bezugnahme“ und „Sensibilität“80 bei den Bauherren nicht hergestellt ist81, schlägt er Interventionen seitens der Gemeinden vor. Fachleute, Architekten, sollten im voraus schützenswerte Ensembles benennen und anhand von Qualitätsvergleichen die Gemeinden, speziell deren Bauausschuß, sensibilisieren.82 In sensiblen Lagen sollte mit dem Verkauf des Bauplatzes darauf geachtet werden, „was man da hinstellen wird“.83 Zwei entscheidende Konsequenzen erwachsen aus seinem Vorschlag: eine Änderung der gemeindlichen Genehmigungspraxis durch Erweiterung des Anforderungskatalogs um ästhetische Faktoren, etwa siedlungseinheitlicher Formensprache und Materialwahl 84, und der Rollenwechsel der Architeken vom „Anwalt“85 des Bauherrn zum Berater der Gemeinde. Dieser Rollenwechsel gehört, ebenso wie die Umstände seines Zustandekommens, zu den zentralen Befunden der vorliegenen Studie, denn es handelt sich um eine gesellschaftliche Neusetzung der Architektenrolle. Die „Selbstkonstruktion“ von Gesellschaft86 wird in diesem Vorgang ebenso sichtbar, wie sich Architektur als gesellschaftliche Praxis zeigt. Mittels Architektur wird die Beziehung der Mitglieder sozialer Gemeinschaften zueinander, der Grad der dem Einzelnen zukommenden Exposition regelbar, jedem Mitglied der dörflichen Gemeinschaft kann ein ihm „gebührender“ Platz zugewiesen werden. Architektur wird in dieser gesellschaftlichen Funktion einer Rechtsordnung vergleichbar. Die Gestaltungsbeiräte, Thema des folgenden Abschnitts, sind eine Erscheinungsform dieser sozialen Neupositionierung von Architektur. Eine Rückkehr nach Thal bietet uns mit der Rolle, die Gerhard Gruber, durch den Selbsthilfeverein eingesetzt, gegenüber der Dorfgemeinschaft einnimmt, einen im Vergleich zu einem institutionalisierten Gestaltungsbeirat weit Gemeinde Langenegg in Anm. 58 des folgenden Abschnitts dieses Kapitels. 85 Der Begriff „Anwalt“ beschreibt lediglich die Situation der Interessensvertretung des Bauherrn, die durch dessen Auftragserteilung an den Architekten geschaffen wird. Das Rollenverständnis des Anwalts trifft die Selbsteinschätzung des Architektenstandes insofern

nur ungenau, als dem „vollständigen Verschwinden der Persönlichkeit des Anwalts hinter den Interessen des Mandanten“ (Mehring: Schmitt) beim Architekten die seiner Rolle ausdrücklich eingeschriebene „Künstlerpersönlichkeit“ entgegensteht. 86 Ein Gesellschaftsmodell, das Delitz als Grundlage einer „Architektursoziologie“ vorschlägt und sich dabei auf Castoriadis beruft.

Kritik am Verwirklichungsdrang einzelner Bauherren

Ensembleschutz

Architektur regelt individuelle Expositionen

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Beispiel Bayern: Gestaltung durch Bebauungspläne

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informeller angelegten Fall. Um seine Rolle zu beschreiben, grenzt Gruber zunächst das Potential, das Thal bietet, von solchen Situationen ab, die sich durch besonders enge individuelle Spielräume auszeichnen. Im benachbarten deutschen Bundesland Bayern sind Bebauungspläne die Voraussetzung jedes Bauens außerhalb der „im Zusammenhang bebauten“ Ortskerne.87 Solche Bauleitpläne präfigurieren präzise die Stellung des Hauses auf dem Grundstück, seine Außenkontur, zumeist auch die Materialien seiner Fassade sowie Form und Neigung der Dachflächen und verhindern damit ausdrücklich eine gesellschaftliche Aneignung von Architektur als Medium sozialer Positionierung. „Da gibts Pläne, und fertig, und dann geht nix mehr. Und es ist völlig klar, was jeder darf. Und das ist hier nicht so.“88 Die Frage, ob Gestaltungsrichtlinien für das private Bauen in Thal ein wünschenswertes Ergebnis seiner Zusammenarbeit mit dem Selbsthilfeverein wären, verneint Gruber als „nicht realistisch“. Also, ich bewege mich jetzt in Thal in einem Kreis von fünfzehn bis zwanzig Leuten. Und von denen sind vielleicht die Hälfte so weit, daß so etwas möglich wäre. Aber die anderen 320 oder 330 Leute, (...) die haben gar nichts am Hut mit solchen Überlegungen. (...) Eigentlich gehts drum, daß die Leute dort leben und gute Lebensbedingungen haben.89

Beispiel Salzburg: Museales Gesamtbild

Das Beispiel eines musealen Ensembles, wie es die Salzburger Altstadt bietet, dient ihm zur Abgrenzung der Thaler Situation von einem solchen „Wahnsinnszwang“90, wie ihn strenge Gestaltungsauflagen zur Sicherung eines geschlossenen Gesamtbildes dem Einzelnen auferlegen. Grubers Verhältnis zu „dem Kontext vom Bauen da draußen“91, das er, von seinem Büro in der Stadt Bregenz aus gesprochen, durch die Wendung „da draußen“ implizit als außerarchitektonisches Milieu kennzeichnet, ist für ihn ein Dienstleistungverhältnis zum Selbsthilfeverein, innerhalb dessen er gestalterische Einzelleistungen liefert. Und alles, was gut ist, holt sich auch gute Dienstleister. Es gibt im Land fünfzig Architekten, die das mindestens so gut können wie ich. Aber sie haben sich einen von den fünfzig geholt. Und das ist ein Zeichen dafür, daß sie richtig unterwegs sind. Und wenn ihre Idee nicht gut wäre, dann hätten sie auch keinen guten Architekten. Das bedingt sich einfach.92

Gestalterische Dienstleistung

Sowohl für den Umstand, daß der Selbsthilfeverein sich solche externe Dienstleister holt, als auch für deren Qualität gelte weiterhin die Meßlatte, die Pfarrer Sinz gelegt habe, sagt Gruber. Das, was viele Dorfbewohner damals als überzogen empfunden haben dürften, nämlich einen Architekten aus Basel nach Thal zu holen, sei auch im Rahmen der dörflichen Neukonstitution als Selbsthilfeverein wieder die Maßgabe für den eigenen Anspruch. „Also groß denken. Es muß in diesem gleichen Qualitätsanspruch eigentlich weitergehen.“93 Für die Rolle der Architektur heißt das, Gruber zufolge, daß sie geholt werden muß, daß sie auf die soziale „Idee“ ihres Auftraggebers angewiesen ist, daß sie aber unter diesen Voraussetzungen fähig ist, einem „großen Denken“ Gestalt zu geben.

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Neben diesem Fall, der Gemeinschaftsbauten in den Blick nimmt, sieht Gruber wie Schmidinger eine wichtige Aufgabe darin, Bewußtsein dafür zu bilden, daß die Gestalt des privaten Bauens eine Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit impliziert.

Der sozialen Idee Gestalt geben

Aber das ist ja für einen Großteil der Bevölkerung überhaupt nicht nachvollziehbar. Daß sie, wenn sie ein Haus bauen, daß das irgendwie für den Nachbarn eine Bewandtnis hat, wie sein Haus ausschaut.94

In einer solchen Bewußtseinsbildung, wie schon in Schmidingers Begriff „Ensemble“, ist also die Etablierung eines neuen sozialen Ordnungsmediums im privaten Wohnhausbau angesprochen, das auf einem visuell wahrnehmbaren Ausdruck beruht. Erst mit einem solchen sozial verankerten Bewußtsein wird Architektur zu einer der Qualitäten, die, in Grubers Diktion, eine gute „Lebensgrundlage“95 sichern. Die in Vorarlberg häufig genannte Verknüpfung von „Lebensqualität“ und Architekturleistung96 betrifft im Fall des Dorfes Thal Bautenkategorien mit jeweils unterschiedlicher individueller Bezogenheit. Die ästhetische Qualität des „Dorfensembles“ ist vor allem als intellektuelles Vergnügen einzelner erlebbar. Diesem steht das gemeinschaftliche Lebensgefühl gegenüber, das entstanden ist, seit die Thaler wieder Bauten haben, mit denen sie sich und ihr Dorf identifizieren können: Gasthaus, Schule, Gemeinschaftshaus. Diese bilden tatsächlich einen kollektiven Besitz und repräsentieren damit ein wiedererstarktes, selbstbewußtes In-der-Welt-Stehen als Gemeinschaft. Zwischen diesen beiden Kategorien ist zu differenzieren, wenn festgestellt werden soll, inwiefern Lebensqualität und Architektur zusammenhängen. Um die erreichbare gesellschaftliche „Durchdringung“ zu bestimmen, unterscheidet Gruber unterschiedliche Kategorien von Auftraggebern.

„Lebensqualität“

Mit der Gemeinde Sulzberg, oder mit dem Selbsthilfeverein als Auftraggeber (umzugehen), ist also relativ einfach, würd ich sagen. Zäh ist einfach das Dorf insgesamt, also das anonyme Bauen sozusagen. Also das durchdringt man nicht.97

Der von Gruber so bezeichnete „Kontext vom Bauen da draußen“98 beschreibt die Haltung einer Gesellschaft, die gewohnt ist, Architektur als Qualität öffentlicher Bauten zu sehen und demgegenüber die Gestaltung des Wohnens als Privatangelegenheit zu betrachten. Wirthensohn charakterisiert 87 Das Bauplanungsrecht (auch: Städtebaurecht) in Deutschland ist Bundesrecht. Flächennutzungspläne ebenso wie Bebauungspläne sind durch das Baugesetzbuch (BauGB) geregelt. Die Baunutzungsverordnung (BauNVO) bildet die Rechtsgrundlage für die Festsetzung bestimmter Nutzungen auf den beplanten Flächen. Der Bebauungsplan, aufgestellt durch die Gemeinde, erhält den Status einer rechtsverbindlichen Satzung. Die jeweiligen Landesbauordnungen bilden dabei die rechtliche Grundlage für weitergehende gestalterische Vorschriften (Festsetzungen) in den Bebauungsplänen.

88 GG: Z 681 ff 89 GG: Z 790 ff 90 Ebd. 91 GG: Z 687 f 92 GG: Z 899 ff 93 GG: Z 910 ff 94 GG: Z 706 ff 95 GG: Z 896 96 An exponierter Stelle etwa bei Wolfgang Ritsch: Ganzheitliches Bauen; in: Kapfinger (2003), S. 4 97 GG: Z 736 ff 98 GG: Z 687 f

Visuelle Sensibilisierung

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diese Gesellschaft im Rahmen seiner „Lebensbilder“ jüngst verstorbener Thaler99 damit, daß die soziale Leistungsfähigkeit des Einzelnen unabhängig von dessen Stand existiert. Eigenes Bauen kommt in diesen Lebensbildern lediglich als Ausnahmefall vor. Durch die traditionelle Verknüpfung von Haus und landwirtschaftlichem Grund gab es für solche, die sich neu in Thal ansiedelten, nur die Möglichkeit, freigewordene Bauernhöfe zu kaufen. Es ist anzunehmen, daß sich in einer solchen Gesellschaft der soziale Rang weit mehr in Größe und Ertrag des eigenen Bodens als in Größe und Gestalt des Hauses ausdrückt. Den Weg zu einer visuellen Sensibilisierung beschreibt Gruber als utopisches Ziel, nämlich als permanente Erziehungsleistung. „Und das ist, im theoretischen Fall, nur denkbar, wenn man ständig dran ist, wenn die Leute ständig damit konfrontiert werden, wenn sie das einfach als Lebensteil miterleben.“100 Offensichtlich, und das bestätigt auch Schmidinger101, ist „Seherfahrung“ die Voraussetzung für die geforderte visuelle Orientierungs- und Klassifizierungsfähigkeit, ein Kriterium, das die dörfliche Gesellschaft zerfallen läßt in solche, die sie besitzen, und die anderen, die sie nicht besitzen. Nicht zufällig ist es Ernst Wirthensohn, der „draußen“ gewesen ist, dort die Seherfahrung gesammelt hat und nach Thal zurückgekehrt ist102, den Gruber als wichtigsten lokalen Geistesverwandten nennt. Der Ernst Wirthensohn, der das wirklich versteht und interessiert ist an Gestaltung, der nimmt es sicher als Architektur wahr. Und der nimmt es auch als Architekturleistung wahr, daß es in Thal jetzt wieder eine bessere Lebensqualität gibt. Und der schätzt es auch sehr, dort zu leben. Aber ob das jetzt ein Durchschnittsthaler realisiert, also da bin ich mir nicht sicher.103 Neue Darstellung sozialer Hierarchien im postagrarischen Dorf

Grubers Ziel der Bewußtseinsbildung ist, die soziale Hierarchie der neuen, postagrarischen dörflichen Gesellschaft visuell darzustellen. „Die Frage nach der Angemessenheit, wo die Leute kein Gefühl haben dafür“ ist, die Gestalt der Wohnhäuser gemäß dem gesellschaftlichen Stand einzusetzen. „Das sind die schlimmsten Beispiele, die mir am meisten wehtun, wenn ich das Gefühl habe, das ist bei weitem nicht mehr angemessen, bei weitem überzogen, für die Inhalte, für dem seinen sozialen Stand, oder was auch immer.“104 Dieses Programm ist ein von außen hereingetragenes. Architektur als Medium des Sozialen einzuschränken auf die Gestalt und diese als moralische Kategorie zu nehmen, nämlich als äußeres Zeichen für „Angemessenheit“ und „gezügelte“ Individualität, ist ein intellektuelles Erziehungsprogramm, und als solches identifiziert Gruber es auch. 99 In fast allen der mittlerweile (2010) siebzehn Jahrgänge des Jahresberichts Selbsthilfeverein Dorfgemeinschaft Thal hat Ernst Wirthensohn Lebensbilder kürzlich verstorbener Thaler veröffentlicht. 100 GG: Z 703 ff 101 Schmidinger berichtet von Bildungsreisen mit dem Architekten Helmut Galler. (WS 3: Z 353 ff) Den Begriff „Schule des Sehens“ verwendet der

niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll, um die Zielsetzung des Dorferneuerungspreises seines Bundeslandes zu charakterisieren. Vgl. Anm. 99 im letzten Abschnitt dieses Kapitels. 102 Vgl. Wirthensohn Jb. 2002–2003: V. Neue Plätze für Thal 103 GG: Z 604 ff 104 GG: Z 690 ff

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Und es passieren auch immer wieder Dinge dann so im Bau-, was sie so bauen, wenn ich halt nicht dabei bin, die sind ganz furchtbar. Und zwischendurch denkt man sich, jetzt haben sie was verstanden und es ist fein mit denen zu arbeiten und dann machen sie wieder selber irgend etwas, also man kann sie (...) nicht alleine lassen, was Gestaltung betrifft.105

Gruber setzt auf seine eigene Sozialisation als Vertrauter der Dorfgemeinschaft und findet dort „ganz schöne Ansätze“, wo er nach gestalterischen Ratschlägen für alltägliche bauliche Ergänzungen gefragt wird: „Der Kapellmeister hat mich mal angerufen, er müßt bei seinem Haus einen Unterstellplatz fürs Auto machen, ob ich nicht einmal vorbeikommen könnte. Dann redet man mal eine halbe Stunde. Das kommt vor.“106 Gleichzeitig läßt er keinen Zweifel daran aufkommen, daß solche Situationen als Ausnahmen zu werten sind. Auch der zehnjährige Prozeß habe nicht dazu geführt, daß mehr als eine Handvoll Thaler „viel mitgekriegt haben, was Gestaltung betrifft“107. Die Präsenz von Architektur kennzeichnet Gruber nach wie vor als Einzelerscheinung im ländlichen Raum, den Versuch ihrer Vermehrung als permanentes soziales Konfliktfeld. Gerade diesem Provozieren permanenter sozialer Auseinandersetzung, die aus dem Streben nach Durchdringung sämtlicher ländlicher Bauaufgaben mit Architektur als umfassender Ästhetisierung entspringt, muß sozialer Sinn unterstellt werden, etwa, im gesellschaftlichen Konflikt gleichzeitig ein Verhandlungsfeld zu schaffen, das die Notwendigkeit zur Modernisierung dort plaziert, wo sie jeden Einzelnen erreicht: im Wohnen. Ebendort konfrontiert sie die „eingefleischten“ Gewohnheiten mit neuen Umgebungen und stellt so das inkorporierte Wissen in Frage, das in der dörflichen Gesellschaft noch von der agrarischen Lebensform geprägt ist. Das Familienleben findet nun in neuartigen Raumkonstellationen, das nachbarliche Zusammenleben innerhalb neuer Gebäudefigurationen statt. Die sinnliche Orientierung innerhalb der materiellen Umwelt setzt stärker als bisher auf das Auge, während die ehemals vor allem „handgreifliche“ Selbstbehauptung immer weniger Spielräume findet. Für die eigene Repräsentation schließlich ist eine neue Bildsprache zu erlernen.108 Architektur im Dorf tritt uns damit als Vermittlerin neuer Sinnsysteme entgegen, Sinnsysteme, zu denen bereits „dörfliche Lebensform“ selbst gehört, seit diese durch neue dörfliche Eliten eine Umdeutung erfahren hat. In den Forschungsgesprächen fällt auf, daß das permanente Zeigen und Führen, das Bewohnern, Nutzern und Bauherren durch das internationale 105 GG: Z 611 ff 106 GG: Z 627 ff 107 GG: Z 639 ff 108 „Natürlich gabs auch manche Villen, (...) aber oft warens so die klassischen (...) Baumeisterhäuser.“ (WS 2: Z 887 ff) Zu Schmidingers gewohnter Orientierung in der baulichen Umgebung gehört, daß innerhalb der Mas-

se der „Baumeisterhäuser“, gemauerter, vom Baumeister geplanter Häuser, einzelne „Villen“, von Architekten entworfene Häuser, auftreten. Die architektonisch geprägte, totale Ästhetisierung hebt diese traditionelle soziale Unterscheidung auf und verallgemeinert die Kriterien der akademischen Architektur für die individuelle Repräsentation aller gesellschaftlichen Schichten.

Architektur schafft Verhandlungsräume für gesellschaftliche Modernisierung

Vermittlung neuer Sinnsysteme

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Interesse, das die Vorarlberger Szene genießt, abverlangt wird, auch deren Blick auf das Eigene evolutionär verändert, daß das Eigene dadurch zum Demonstrativen und Exemplarischen wird. Den Effekt, im Außen ein neues Forum zu gewinnen, das im nunmehr notwendigen Dorfmarketing angesprochen werden kann, schreibt Wirthensohn zuallererst der Architektur, als ebenfalls von außen geholter Qualität, zu. Und ein Architekt wird zuerst einmal beargwöhnt. Weil er von außen kommt. Von außen läßt man sich eigentlich nichts sagen. Bis (...) dann wieder Leute von außen kommen und sagen, „was habt ihr Tolles“. Erst dann kommt das Aha-Erlebnis, „holla, der hat uns geholfen“.109 Ein neues Forum für das Dorf, neue Bewertungsmaßstäbe für die Kulturlandschaft

Zur Einflußnahme „von außen“, die mit der Architektenbeauftragung einhergeht, tritt die Bestätigung von außen. Architektur stellt mittels der angezogenen „Besucher“ ihre Wirksamkeit, dörfliche Belange nach außen zu kommunizieren, unter Beweis. Daß es sich in diesem Vorgang um die Etablierung fundamental neuer Bewertungs- und räumlicher Orientierungsmaßstäbe handelt, wird am Bedeutungswandel des Begriffs „Kulturlandschaft“ deutlich. „Kultur“ meint in einer agrarischen Gesellschaft vor allem die Bearbeitung des Bodens und die Nutzung seiner Fruchtbarkeit. Demgegenüber erscheint die neue, ausschließlich auf Landschaftsbild und Baugestalt gerichtete Bedeutung zunächst voller Fremdheit für die ländliche Bevölkerung. Dementsprechend didaktisch angelegt sind die Maßnahmen, die die Umdeutung begleiten. Der Langenegger Gemeindesekretär Mario Nußbaumer stellt eine Broschüre vor, die an alle Bewohner seines Dorfes verteilt worden ist.110 Und hier haben wir im Jahr 2000 von einem Diplomingenieur die Kulturlandschaften von Langenegg dokumentieren lassen. (...) Da ging es darum, zu schauen, was vom Alten noch da ist. Man hat das einige Jahr früher schon gemacht und jetzt wollte man schauen, was noch da ist und was in der Zwischenzeit alles verschwunden ist. Man hat das gemacht, um die Bevölkerung zu sensibilisieren, damit das Alte nicht einfach alles abgerissen wird und neu gebaut wird. Daß sie einfach sehen, was ein Fachmann dazu sagt, was erhaltenswert und schützenswert ist. Was gut gemacht wurde in den letzten Jahren oder welche Bauten oder Eingriffe eher schlechter waren, und das eben auch in der Bevölkerung ein wenig zu vertiefen.111

Die Broschüre Kulturlandschaft Gemeinde Langenegg112 vermittelt der Dorfbevölkerung, was von nun an „Kulturlandschaft“ heißen soll. Der Bogen der Dokumentation spannt sich von Naturdenkmälern und Landschaftsformen bis hin zu den Bauten, einschließlich neuerer Architektur.113 Den breitesten Raum nimmt die Dokumentation der Bauernhöfe ein, denen damit der wichtigste Anteil am Begriff „Kulturlandschaft“ zugesprochen wird, eine Kon109 EW 1: Z 487 ff 110 Wirthensohn berichtet in seinem Jahresbericht 2008, daß auch im Gemeindegebiet Sulzberg eine solche Erhebung durchgeführt worden sei, in der Thal besondere Berücksichtigung gefunden habe: VI. Thal in der Sicht des Kulturhistorikers: Johann Peers „Dokumentation der Kulturlandschaft Sulzberg“ 111 MN: Z 203 ff

112 Vgl. Peer (2002) 113 So ist etwa Haus Eugster nun unter den „Beispiele[n] von Wohnbauten aus jüngster Zeit, die sich in Materialwahl und Maßstäblichkeit gut in die Landschaft und Baukultur einfügen“ vorgestellt, was gegenüber dem gemeindlichen Abbruchbescheid von 1984 / 85 (vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus) eine vollständig gewandelte Werteumgebung dokumentiert.

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notation, die sich durch die parallel laufende Bewerbung des Bregenzerwaldes um den Weltkulturerbestatus114 als konkrete Inwertsetzung darstellt. Die didaktische Absicht der Dokumentation ist unterstrichen, indem auch Mißgriffe bei Bautenrenovierungen als solche benannt sind. Die Dorfbevölkerung wird dahingehend sensibilisiert, daß die Kulturlandschaft durch Abbrüche von Bauernhäusern an Qualität verliert und Nachfolgebauten qualitätloser sind als jene. Der akademisch als Dipl. Ing. ausgewiesene Fachmann ist die vermittelnde Persönlichkeit, die Autorität, deren Urteil man sich unterwirft. Sein Blickwinkel trägt zur Konservierung der agrarischen Bauten und der ebenfalls agrarisch geformten Vegetation des Bregenzerwaldes als bildhafter „Folie“ bei. Der Vorgang erhält seinen Sinn aus einer räumlichen Neuordnung des Landes. Für die postagrarische Gesellschaft Vorarlbergs wird der Bregenzerwald erst durch diese Folie zur attraktiven „Wohnlandschaft“. Diese Neugliederung Vorarlbergs in „Funktionslandschaften“ verlangt seinen Bewohnern eine neue räumliche Orientierung ab. Noch ordnet Ernst Wirthensohn die Beauftragung von Architekten, als habituelles Verhalten verstanden, das eine lokale Gesellschaft kennzeichnet, dem „Rheintal“ und „vorstädtischen Bereich“ zu. „Da nimmt man den Architekten, weils schick ist, oder?“115 Doch der Bürgermeister Langeneggs, Peter Nußbaumer, vergleicht seine ortsplanerischen Maßnahmen bereits mit diesem „vorstädtischen Bereich“, wenn er das architektonisch aufgewertete Ortszentrum von Lochau, einer Vorortgemeinde der Landeshauptstadt Bregenz, als präsenten Vergleich heranzieht. „In dieser Art, wie in Lochau, aber wir haben nicht soviel Platz wie in Lochau, aber so ähnlich.“116 In der Wahrnehmung Nußbaumers hat Architektur bereits ihre Exklusivität als „städtische“ Qualität abgelegt. Architektonische Referenzbauten und architektonisch geprägte Ortsräume sind für ihn etablierte Vergleichsmedien117, an denen der eigene Bedarf relativiert, bauliche und ortsräumliche Situationen landesweit verglichen und die Tauglichkeit von Lösungen bewertet werden kann. Architektur als „Vergleichsmedium“ eines Entwicklungszustandes wahrzunehmen, stellt einen Ist-Zustand in den Fokus der Wahrnehmung und schreibt Architektur damit die passive Rolle eines baulichen „Bestandes“ zu. Wir haben bis hierher vor allem untersucht, wie dieser Zustand entstanden ist, besser: geschaffen wurde. Indem Gesellschaft ein dynamisches, sich permanent selbst konstituierendes Gefüge ist118, erscheint es legitim, zu fragen, 114 Die Bewerbung ist mittlerweile abgebrochen. Sie setzte vor allem auf die Darstellung einer intakten Dreistufenbewirtschaftung, also auf einen agrarischen Begriff von „Kultur“, flankiert durch ein „intaktes“ Landschaftsbild. Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz. 115 EW 1: Z 849 ff

116 PN: Z 235 ff 117 So auch für Schmidinger, der Bauten durch Verknüpfung mit dem Namen des entwerfenden Architekten kennzeichnet, um dörfliche Raumsituationen zu beschreiben. (WS 2: Z 197 ff) 118 Vgl. Anm. 86 119 HK: Z 816 ff

Funktionslandschaften

Architektur als Referenzmedium

Welche Ordnungen?

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wohin die gesellschaftliche Entwicklung deutet, innerhalb der Architektur nunmehr als gültiger Bewertungsmaßstab, zumindest auf der Verwaltungsebene der Gemeinden, akzeptiert und etabliert ist. In anderen Worten: Welche Ordnungen und Werte dieses Medium mit sich bringt und aktiv in den gesellschaftlichen Konstitutionsprozeß einspeist.

Ordnung schaffen ist gestaltbildend

„Toleranz“

Helmut Kuess gehört zu denjenigen Architekten, die Mitte der 1980er Jahre die ersten Gestaltungsbeiräte in Vorarlberger Gemeinden begründet haben. Seine Darstellung dieser Institutionsgeschichte ist die Grundlage des folgenden, letzten Abschnitts dieses Kapitels. Zunächst ist vor allem sein Statement zu den Ordnungen von Interesse, mit dem er meine Feststellung beantwortet hat, das im deutschen Baugesetz verankerte Prinzip der verpflichtenden Bebauungspläne führe zu schematischen „Ordnungen“, etwa siedlungseinheitlichen Gebäudeproportionen, Dachformen und Dachneigungen. „Das ist die niedrigste Stufe des Ordnungsbegriffs, glaub ich.“119 Kuess verdeutlicht, daß die Praxis, mittels derer das Bauen geordnet wird, einen wesentlichen Einfluß auf das Ergebnis ausübt, daß also die Gestalt der entstehenden Ordnung eine Funktion ihrer erzeugenden Praxis ist. Neben der Formulierung von Gesetzen tritt hier ihre Umsetzung in der Bauverwaltung als ordnungsstiftende Kraft in Erscheinung. „Das hat man bei uns schon früh so gehandhabt, daß (...) einfach auch diese Gegensätzlichkeiten eine Qualität ausmachen.“120 Indem im Gespräch mit Kuess die deutsche bzw. bayerische mit der Vorarlberger Bauordnungspraxis verglichen wird, tritt die Tendenz zur Vereinheitlichung auf der einen, eine Akzeptanz von Gegensätzlichem als Ordnungsprinzip der anderen Seite, Homogenität gegenüber Heterogenität, vor unser Auge.121 Mit der Entscheidung zugunsten solcher Idealgestalten von Ordnung geht immer auch eine Entscheidung zur Praxis ihrer Erzeugung einher. Wir erinnern an Grubers Charakterisierung dieser Praxis im deutschen Baurecht. „Da gibts Pläne, und fertig, (...) und es ist völlig klar, was jeder darf.“122 120 Ebd. 121 Zur Entstehung dieser Gegensätzlichkeit mögen Ordungstraditionen eine Rolle spielen, sowohl Erfahrungen mit Ordnung als auch Ideale von Ordnung. Natürlich treten auf der deutschen Seite Stichworte vom „Deutschen Volkskörper“ und von der „Reinheit“ desselben ins Bewußtsein, also eine Vorbestimmung des Begriffs „Ordnung“ als etwas Ungemischtem, deren fatalen Konsequenzen, einem praktizierten Rassismus, die Besatzungsmächte, vor allem die amerikanische, nach dem Krieg einen Föderalismus, der Kulturpolitik als Ländersache verankert hat, als „Kur“ verordnet haben. Achleitners Formulierung „Alldeutsches Biedermeier“ impliziert, daß ebendieser während des Nationalsozialismus deutschlandweit gepflegte Stil des staatlichen Siedlungsbaus einen antiregionalen Ord-

nungsbegriff ebenso verkörpert wie realisiert. (Achleitner [1980], S. 415) Demgegenüber steht in Vorarlberg einerseits die österreichische Donaumonarchie als Grunderfahrung eines heterogenen Vielvölkerstaates auf der einen und die Schweiz mit ihrer Kantons- und Gemeindesouveränität innerhalb der Eidgenossenschaft auf der anderen Seite, beides Ordnungstraditionen, die vom Belassen, wenn nicht Bestätigen der Einzelglieder eines staatlichen Gefüges in ihrer Eigengesetzlichkeit ausgehen. Die ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung bekennt sich, als (nieder-)österreichische Gründung, ausdrücklich zu „Vielfalt“ als „Wert an sich“. (Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa, III; vgl. auch den folgenden Abschnitt dieses Kapitels). 122 GG: Z 681 ff

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Sobald, wie Kuess für Vorarlberg feststellt, „Gegensätzlichkeiten eine Qualität ausmachen“123, ist gleichzeitig notwendig, eine Praxis zu etablieren, die diese Qualität zuläßt. Es ist eine Verhandlungspraxis, die die nachbarliche Auseinandersetzung mit behördlicher Moderation, die Bauverhandlung, als zentralem Element des Genehmigungsverfahrens institutionalisiert hat.124 Neben solchen Präfigurationen, die unterschiedlichen Praxen des verwaltungstechnischen Ordnungsschaffens innewohnen, fragt die vorliegende Studie vor allem nach den Eigengesetzlichkeiten des akademisch geprägten, professionalisierten „Architektenblicks“. Auf den Umstand, daß architektonische Ordnungen regionsspezifische Unterscheidungen herstellen, hat bereits der Abschnitt Architektur als Ordnung des Kapitels Architektur? hingewiesen. Neben dieser Verknüpfung von Geographie und Kultur durch die jeweilige Gesellschaft zu einem ortsfesten Begriff von „Heimat“125 ist ein zeitbezogener Effekt architektonischen Ordnungsschaffens festzustellen, eine Interpretation der Gegenwart durch die gewählte Gestalt der Bauten als vergangenheits- oder zukunftsbezogenem Moment. Architekt Hans Purin benennt am Beispiel der Nachbarschaft seines Pfarrhauses, eines Ensembles weiterer kirchlicher Bauten rund um die Bregenzer evangelische Kirche am Ölrain, Dachform und Fassade als Merkmale, die den Grad von Fortschrittlichkeit eines Bauwerks und damit eine Haltung der eigenen Zeit gegenüber signalisieren. Das „konservative“ Walmdach der Aussegnungskapelle des Friedhofs gegenüber dem „reinen Betonbau“, der Pfarrbüro und Mesnerwohnung beherbergt, gibt nicht das tatsächliche Baujahr an, sondern die Orientierung gegenwärtiger Architektur auf einer Zeitachse, ihre Vergangenheits- oder Zukunftsbezogenheit.126 Durch diese historische Interpretation der Gegenwart schafft Architektur in ihrer Baugestalt und den Atmosphären ihrer Bauten jeweils zeitgemäße Ordnungen.127 Das gesellschaftsbezogene Interesse der vorliegenden Studie legt die Frage nahe, wessen Ordnungen es sind, die Zeitgenössiche Architektur herstellt, und wessen „Entfaltung“ diese Ordnungen in ihrer konkreten Materialität, als Räume, begünstigen. Deutlich zu machen ist einmal mehr, daß Architektur gesellschaftliche Verhältnisse nicht einfach abbildet, sondern sie wesentlich mitgestaltet. Thal bietet uns mit der Auseinandersetzung um die 123 HK: Z 816 ff 124 Die Bauverhandlung als mündliche Verhandlung ist im Österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetz (1991) unter §§ 40–44 geregelt. 125 Die Konstruktion und Gestaltung des Kirchturms leitet Hans Purin aus der jeweils konfessionsspezifischen Praxis des Glockenläutens ab: „Man kann ja auch läuten, ohne daß man die Glocke bewegt, oder, wie die orthodoxen Griechen, die haben ein Seil unten und tun nur den Klöppel hin und her... beuteln.“ (HP: Z 754 ff)

126 Der Betonbau von C4 ist älter als Purins mit Mauerwerk ausgefachter Holzskelettbau. Innerhalb des klassisch-modernen Vokabulars bleibend, ist Purins späterer Bau also der konservativere, eher dem Regionalen zugeneigte. Indem er jedoch, auf ehemals römischem Stadtgrund stehend, den archaischen Bautyp des Atriumhauses aufgreift, demonstriert er gleichzeitig das Überzeitliche von Architektur. Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?

„Kultur“

„Tradition“

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Ausgestaltung seines Dorfsaales einen aktuellen Fall, der gleichzeitig Aufschluß über die „zeitgemäße“ Einordnung historischer dörflicher Bausubstanz in das neue Gesellschaftsmodell „Dorf“ gibt. Raumgestalt und Sozialverhalten

Kulturformen repräsentieren soziale Gruppen

Ernst Wirthensohn stellt bei seiner Dorfführung den Saal, der das Obergeschoß des Gasthauses einnimmt, als Raum dar, dessen Bestandteile seinen Benutzern konkrete Verhaltensweisen nahelegen. „Es gab die Bank ringsum, die man teilweise noch sieht. Das Sims oben ist zum Getränke hinstellen. Und sonst war nichts, kein Möbel, gar nichts.“128 Solche dinglichen Ausstattungselemente ergeben in Summe eine soziale Präfiguration. Indem sie den Raum in seiner sozialen Funktion konkretisieren, schließen sie gleichzeitig andere Funktionen aus: „Also, es war ein reiner Tanzsaal.“129 Architekt Gerhard Gruber schildert die Auseinandersetzung um die zukünftige Funktion des Dorfsaales, die auf der Ebene der Materialität eine Frage nach dessen „Form“ aufwirft, als Streit um Einflußsphären zwischen maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen des Dorfes. Der Vorstand vom Verein ist sich sehr klar, daß sie den Saal in der Kontur behalten wollen, auch mit der Oberfläche, (...) und jetzt geht es einfach noch darum, mit der Musik halt, die haben sehr viele Mitglieder, von den 350 Einwohnern haben sie über dreißig Mitglieder. Und die sind ein richtig großes Gewicht. Und da muß man eben jetzt sehr lang reden und tun, bis das geht, daß man es anders macht, als die es sich eigentlich wünschen. (...) Die Musik, die würde dort einfach halt Konzerte machen. Und der Saal sollte aber meiner Meinung nach mehr sein, als etwas für die Blasmusik. Und wenn man das akustisch sehr gut macht, dann eignet er sich nicht mehr für die anderen Nutzungen. (...) Das Volumen ist dann kein angenehmes mehr. Und es gibt Bestrebungen, und das könnte erfolgreich sein, also vom Ernst Wirthensohn, der möchte das als Kleinkunst- oder überhaupt als Kunststandort etablieren.130

Grubers Wahrnehmung dieses Saales abstrahiert von dieser sozialen De127 Architekt Hans Purin positioniert Architektur gesellschaftlich außerhalb eines demokratischen Zugriffs und legitimiert die beanspruchte Souveränität des Architekten ein weiteres Mal durch seinen Rang als Künstler. „In solchen Sachen kann man nicht das Volk abstimmen lassen. Es wurde über zwei Dinge abgestimmt, die beide nicht abstimmbar sind, oder. Das ist das eine mal, über Kunst kann ich nicht abstimmen, außer es sind Superfachleute, da kann man sich, da geht sowas, in einem Wettbewerb, oder, aber ich kann nicht Krethi und Plethi, einen ganzen Ort fragen, und das andere, theologische Fragen und liturgische Fragen. Und es ist einfach, Architektur und Liturgie, die steckt ineinander drin, und das sollt man eigentlich nicht...“ (HP: Z 690 ff) Kunst und liturgische Fragen, also Ritual, sind nicht durch die Allgemeinheit, das laienhafte Volk abstimmbar, sondern Expertensache, Sache von Individuen statt von Kollektivität. Hier, in der Kunst, tritt also der Einzelne in seiner Individualität der Gesellschaft als „der Allgemeinheit“ gegenüber. Die auf das Soziale bezogene Konnotation von Kunst als das her-

auspräparierte Individuelle kommt hier zum Vorschein. Das zwar in jedem Mitglied der Gesellschaft angelegt, jedoch nicht nicht verallgemeinerbar ist. In dem Fall, den Purin hier schildert, hat eine dörfliche Gesellschaft zwischen dem Schutz des bestehenden Werks und seiner Veränderung entschieden. Der Schutz des Werks gilt so lange, bis die Gesellschaft diesen aufhebt. Der öffentliche Bau offenbart in diesem Vorgang seine Rolle als Kulturgut, Gesellschaft die ihre als Kultursouverän. Identitätsbestandteil des „Kulturgutes“ ist, daß seine Wahrung im Augenblick der „Übergabe“ vom Schöpfer in die Hände der Allgemeinheit übergeht. Zur Identität eines „Kulturvolkes“ gehört, daß Zerstörung oder Beschädigung eines Architekturwerks durch Einzelne „Vandalismus“, seine Zerstörung durch die Allgemeinheit oder deren legitimierte Vertreter jedoch „kultureller Wandel“ ist. Vgl. dazu auch Anm. 53, Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? 128 EW 2: Z 907 ff 129 Ebd. 130 GG: Z 471 ff

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termination.131 Seine Bewertung zielt auf einen Schutz der vorgefundenen Atmosphäre. „Als Gesamterscheinung ist es witzig und interessant. (...) Mir gefällt sehr gut die Proportion (...) es ist ein sehr schöner Raum.“132 Als Schutzvorhaben deklariert, findet sein Entwurf einen gewichtigen Fürsprecher im Landesdenkmalamt. Dessen Gutachten ist durch das behördliche Anliegen motiviert, landesweit die erhaltenen Wirtshaussäle zu bewahren.133 Was hier auf der Ebene der materiellen Substanz verhandelt wird, stellt sich aus einem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel als Auseinandersetzung um lokale Gestaltungsmacht und damit um die zukünftige Repräsentativität schichten- und gruppenspezifischer Kulturformen für das „neue Dorf“ dar. Was in diesem Streit als Frage der Erhaltung, wenn nicht Rekonstruktion historisch bedeutsamer materieller Substanz argumentiert wird, betrifft sozial gesehen im einen wie im anderen Fall radikale Umnutzungen. Betroffen davon sind diejenigen Bauten und Räume, die nun das „historische Ensemble“ des Dorfes bilden und als solches den ursprünglichen Schutz verloren haben, den ihnen seine ehemaligen Nutzer, die sozialen Anspruchsgruppen des traditionellen Dorfes und ihre gemeinschaftlichen Lebensformen, geboten hatten. So rückt Wirthensohn auch die Dorfkirche, „die ein sehr schöner Konzertraum ist“134, in den Rahmen künftiger Umnutzung, ein Zugriff, der erst durch die Einbuße an gesellschaftlichem Einfluß möglich geworden ist, den die Kirche, als ehemals zentralem dörflichem stake holder, erlitten hat. Wirthensohn verknüpft diesen sozialen Wandel, zu dessen Beobachtung das Dorf Thal gleichsam eine Laborsituation bietet, mit einem Wandel der Kulturformen ländlicher Räume. Dem ländlichen Raum werden mit seiner zunehmend städtisch geprägten Gesellschaft135 nun auch städtische, und das 131 GG: Z 465 ff 132 GG: Z 456 ff 133 Wirthensohn, Jb. 2002–2003 134 EW 2: Z 964 ff 135 In einer für den Forschungsraum als zukunftsweisend anzusehenden, aktuellen (2010) Wettbewerbsausschreibung für Wohnanlagen auf zwei exponierten Grundstücken einer ländlichen Gemeinde im Umland der Ostschweizer Stadt St. Gallen wird „Urbaner Lebensstil“ (S. 13) bereits als Bestandteil des kollektiven Persönlichkeitsprofils der anvisierten neuen Dorfbewohner vorgegeben: „Die Bewohnerschaft der Standorte (...) ist eher homogen, d.h. es sind Menschen, die ähnliche Lebenshaltungen und Werte aufweisen. Sie sind aktiv, suchen aber den Rückzug am Wohnort, sind Geniesser, haben ausgefallene Hobbys und sehen den Ort als Lebens- und teilweise als Arbeitsmittelpunkt. Sie schätzen Gemeinschaft wie auch Privatsphäre und engagieren sich für das Gemeinwohl. Sie verbinden oftmals Wohnen und Arbeiten. Der Urbane Lebensstil: Wohnen für Menschen, die aktiv und engagiert

in der Berufswelt integriert sind und zur Regeneration die Ruhe auf dem Lande suchen. Wissenspioniere (...), Unternehmensberater sowie Wirtschaftsverantwortliche finden hier ihren Wohnort. Diese Menschen sind auf Bequemlichkeit und Komfort bedacht, sind auch öfters abwesend und haben oftmals Gäste. Ihre Ansprüche an das Design und die Architektur sind oftmals höher als ihre Ansprüche an die Wohnlichkeit. Vorseniorenalter 50+ Wohnen für Menschen im mittleren Alter oder im Vorseniorenalter. Diese sind meist kinderlos oder haben die Familienphase bereits hinter sich. Sie gehören oftmals zu der Gruppe der Doppelverdiener. Zeitgeist-Lebensstile Wohnen für Menschen mit ausgeprägter Individualisierung. (...) Der Wohnungstyp „Loft“ entspricht dieser Lebensform und orientiert sich eher an stadtorientierten Menschen. Familienwohnen Familien zählen zur künftigen Bewohnerschaft (...). Vorausgesetzt sind gute ökonomische Verhältnisse...“ Gemeinde Trogen, S. 13/14 136 EW 1: Z 1242 ff

Umnutzung historischer Bauten

Implantation städtischer Kulturformen

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heißt im hier betrachteten Fall, einer akademisch gebildeten Gesellschaftsschicht zugehörige Kulturformen implantiert: „Es gibt ja Dinge, die nicht nur typisch ländlich sind, sondern die ja auch wieder aus den Städten kommen, oder.“136 Deutlich wird an diesem Fall, daß die Implantation des städtisch geprägten Kulturbegriffs, einer Kulturauffassung, die stark vom aufklärerischen Impetus eines intellektuellen Kunstbegriffs geprägt ist, zu Lasten der ländlichen „Eigenkultur“ geht, eine Werteverschiebung, die die „Selbstversorgung“ des Dorfes weiter reduziert. Die getroffene Entscheidung verdrängt eine lokal praktizierte „ländliche“ Kulturform an die dörfliche Peripherie, verdrängt auch lokales Publikum zugunsten der Anziehung auswärtiger Gäste.137 Der Blasmusik verbleiben vor allem diejenigen Räume für ihre konzertanten Aufführungen, die die traditionellen stake holders des Dorfes, Landwirtschaft und Kirche, anbieten, seit der Saal, „Wohnzimmer des Dorfes“138, einer sozial höherstehenden Kulturform zugesprochen ist.139 Im Frühjahr haben sie ein Konzert gemacht, wo die Landmaschinenwerkstätte ist, wo normal die Traktoren drinstehen. (...) Eine Notlösung. Oder man macht halt gar nichts.140 Historische Bausubstanz als atmosphärisches Ausstattungselement

Im Fall des Thaler Dorfsaales wird die kulturelle Umnutzung in das Argument einer „Bewahrung“ historischer Bausubstanz gekleidet. Der Blickwinkel der vorliegenden Studie stellt den Vorgang jedoch als architektonische Neuschöpfung historischer Baugestalt dar.141 Der Dorfsaal wird dabei zu einem weiteren, primär atmosphärisch bedeutsamen Ausstattungselement, wie wir es bereits als neue Rolle des Kirchenbauwerks identifiziert haben. In Summe erlauben solche Elemente erst, das neue soziale Gebilde ländlichen Lebens143, das mit der Gründung des Selbsthilfevereins in Thal entsteht, wiederum als „Dorf“ zu benennen. Architektur erschließt das Dorf neu als Ort zeitgemäßen Wohnens, für dessen Wert seine Atmosphäre eine zentrale Qualität darstellt. Wir konnten zeigen, 137 Vgl. Wirthensohns Rezensionen der ersten Gastspiele im Dorfsaal, z.B. Wiener Melange; in: Wirthensohn, Jb. 2003–2004 138 GG: Z 469 ff 139 Der Vorgang erlaubt, zu beobachten, wie aus traditioneller ländlicher Kultur Folklore wird. 140 EW 2: Z 965 ff 141 Grubers Stellungnahme für eine „traditionelle“ Lösung trägt zur Schaffung eines romantischen, eines „Bilderbuch-Dorfes“ bei. Der Architekt als Schöpfer der Atmosphären, in der Aktivitäten stattfinden, interpretiert damit gleichzeitig dieses „Leben“. Erst die alte Saaldecke macht die darunter stattfindende Hochzeitsfeier zu einer „Dorfhochzeit“: „Bei dem Saal (...) da geht es irgendwie um diese Stimmung in dem Raum. Diese Oberfläche vom Holz macht eine ganz eigene Stimmung, und darum gehts.“ (GG: Z 985 ff)

Gruber ist sich seiner Sache so sicher, daß er mit seiner Lösung gegen eine starke Gegnerschaft anzutreten wagt. Es ist die Architektur als Konvolut referenzieller Werke, die seinen Argumenten Gewicht gibt, ihm in einem anderen Fall auch erlaubt, einen neuen Ausgang des Gastraumes an derjenigen Stelle durchzusetzen, an der der Stammtisch steht: „Und das war blöderweise so, daß diese Stelle, wo diese Tür hingehört, daß dort der Stammtisch gestanden ist. Und das hat dann fünf, sechs Jahre gedauert, bis wir das haben realisieren können. Das ist dreimal im Vorstand beschlossen worden, daß man es umsetzt, drei Jahre hintereinander. Und sie haben es aber nie gemacht, weil es einfach nicht gegangen ist. Und irgendwannhat man dann einfach eine Lösung gefunden, daß sie es gemacht haben und jetzt sind sie eh ganz zufrieden.“ (GG: Z 437 ff)

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daß diese Atmosphäre vor allem den gebildeten Schichten der neuen dörflichen Gesellschaft zur Orientierung dient und gemäß deren sozialem Gewicht zum handlungsleitenden Maßstab wird. Indem die dörfliche Gesellschaft ihre ehemalige Geschlossenheit verloren hat, ist auch die Homogenität ihrer kulturellen Repräsentation zerfallen. Wir konnten diesen Umstand am Beispiel des Thaler Dorfsaals beobachten. Mario Nußbaumer, Gemeindesekretär in Langenegg, nennt neue „Werte“, mittels derer die neuen dörflichen Gesellschaften innerhalb des ländlichen Raumes eine neue, verbindende Identität zu gewinnen suchen. Jede Gemeinde hat so einen Schwerpunkt, die einen haben Kultur, die anderen haben Tourismus, das ist bei uns nicht so der Fall. Bei uns schaut man sehr stark auf Nachhaltigkeit und auf natürliche Entwicklung.144

Wo Kultur und Tourismus als Medien der Außenrepräsentation fehlen, also keine überörtlich wirksamen Alleinstellungsmerkmale vorhanden sind, muß sich die Gemeinde statt dessen auf Attraktivität nach innen, den eigenen Bewohnern gegenüber, konzentrieren, um Bindung zu schaffen. Ökologie bietet hierfür ein Profilierungsfeld, das Identität schafft, wie Mario Nußbaumer selbstbewußt mitteilt: Wir sind eine energieeffiziente Gemeinde, eine sogenannte E5-Gemeinde. (...) Dafür sind wir zertifiziert und wir müssen uns jetzt alle drei Jahre zertifizieren lassen. Wir sind jetzt die erste Gemeinde Österreichs, die diese fünf „E“ erreicht hat. Das ist also die höchste Stufe, ähnlich zu sehen wie die fünf Hauben in einer Gastronomie.145

Externe Zertifizierung verschafft der Gemeinde überregionale Vergleichbarkeit, macht die „Qualität“ der Gemeinde überregional publik146 und schafft damit aus dem ideellen Wert Ökologie einen ökonomischen Wert.147 Bertram Dragaschnig, Generalunternehmer für die neuen Gemeindebauten Langeneggs, stellt diese zeitgemäße Identität als Leistung des Gemeindevorstands heraus: „Das ist heute noch nicht in jeder Gemeinde möglich. (...) Das ist die Führungscrew in der Gemeinde. (...) Das muß die Grundeinstellung sein, sonst baut man (nicht so) und es kostet ja auch mehr, oder.“148 143 Durch ihre eigene akademische Einbettung ist Zeitgenössische Architektur prädestiniert, diesen Wandel der Kulturformen durch die Gestaltung öffentlicher Bauten zu unterstützen, ein Wandel, dessen wesentliche Wurzel eine Verhältnisänderung des „Sozialen Gewichts“ ist, den die einzelnen stake holders der dörflichen Gesellschaft aufzubringen imstande sind. (Auch: ein Wandel, der durch die Schillersche Konnotation von Kunst als aufklärerischem Medium positiv vorbestimmt ist.) 144 MN: Z 114 ff 145 MN: Z 113 ff 146 Architekturpreise etc. operieren mit ähnlichen Mitteln, um Qualitätsanstrengungen zu fördern. Die Gastronomie-Initiative, die Mario Nußbaumer hier als Vergleich heranzieht, fungierte offensichtlich als Qualitätsvorreiter mit breiter Wirkung in der Region

und wird als solcher auch von Schmidinger (WS 3) erwähnt. 147 Dieser wertet die Gemeinde als „Standort“ unmittelbar auf. Während ich im Gemeindeamt Langenegg auf Bürgermeister Nußbaumer warte, führt dieser den Geschäftsführer des größten Betriebes am Ort, einen Zulieferer für die Automobilindustrie, durch die neuen Gemeindebauten. Nußbaumer weist im anschließenden Gespräch auf den Kontrast hin, den die neue Selbstdarstellung der Gemeinde mittels Zeitgenössischer Architektur gegenüber dem Bild darstellt, das der (deutsche) Fabrikant sich bisher von Österreich schuf: „Dem [Name] hat unser neuer Kindergarten so gut gefallen. Und wenn du bei dem daheim bist, der hat im Keller unten eine Bar mit Vorhängen und Balkonblumen, künstlichen, eine Alphütte. In Deutschland. In Mössingen.“ (PN: Z 567 ff)

Neue Werte: Beispiel Ökologie

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Mario Nußbaumers Darstellung der umfassenden Verhaltensänderung, die diese „Grundeinstellung“ nach sich zieht, vermittelt, daß Ökologie der ländlichen Gesellschaft ein neues Gefühl von Zusammengehörigkeit aus dem Bewußtsein um die „Wirksamkeit“ ihres Alltagshandelns verschafft. Wir beziehen für alle Gebäude Ökostrom, wir kaufen nur noch Elektrogeräte mit Energieklasse A. Wir haben Kriterien, wenn wir Gemeindegrundstücke verkaufen, dann muß der Käufer zwingend ein Öko-1-Haus bauen. Also, wir geben da auch privatrechtliche Kriterien vor. Er verpflichtet sich beim Kauf, das zu bauen, wenn er es nicht macht, dann muß er im Prinzip eine Strafe bezahlen. Wir haben da unten, (...) dieses Wasserrückhaltebecken [gemacht]. Da wird von diesem ganzen Baugebiet das Regenwasser gesammelt und zur Versickerung gebracht. Nur der Überlauf wird abgeleitet, in den nächsten Bach. (...) Und da gibts einen ganzen Katalog. Das hat mit Raumplanung zu tun, das hat mit interner Organisation zu tun, mit eigenen Bauten zu tun, diese Kriterien für „E5“.149

Ökologie ist im Forschungsgebiet zu einem zeitgemäßen moralischen System geworden, das breite soziale Zustimmung erhält. Architektur visualisiert diesen neuen „Wert“ ländlichen Lebens, indem sie hierfür neue ästhetische Konventionen schafft.150 Sie gewährleistet daneben im Entwurfs- und Bauablauf die ordnungsgemäße Durchführung aktueller technischer Standards151, bindet das Bauen in ein Rechtssystem ein und vermittelt Anreize durch finanzielle Förderungen. Typologische Modernisierung

Verdichtung

Eng verknüpft mit der Schaffung neuer Sinnsysteme oder Werte, die die Neuschaffung einer dörflichen Lebensform unter vollständig gewandelten wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen erlauben, ist die Notwendigkeit einer Modernisierung der ländlichen Wohnhaustypologie gegenüber demjenigen Zustand, den die Nachkriegszeit dem ländlichen Raum mit der Einführung der Einfamilienhäuser gebracht hat.152 Langeneggs Bürgermeister Peter Nußbaumer verweist zur Rechtfertigung der Existenz eines Mehrfamilienhauses im Dorf, einem typologischen Fremdkörper, auf steigende Baulandpreise und damit auf einen Effekt, der als zentraler Indikator für die aktuelle wirtschaftliche Aufwertung des ländlichen Raumes Vorarlbergs gelten darf.153 Auch vor Thal, dem ehemaligen Armenhaus des Vorderen Bregenzerwaldes, macht dieser Effekt einer Aufwertung des ländlichen Raumes durch seine Umnutzung in eine regionale Wohnlandschaft nicht halt. Bereits die erste architektonische Intervention im „neuen“ Dorf hatte mit dem Doppelhaus für Wirthensohn und Lang eine typologische Modernisierung mit der Folge einer Verdichtung gebracht. 148 BD: Z 534 ff 149 MN: Z 154 ff 150 Vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz 151 Beim Wettbewerb um das neue Thaler Feuerwehrhaus 2007/08 ist ein Katalog ökologischer Maßnahmen bereits Teil der Ausschreibungsbedingungen für die Teilnahme. (Vgl. Ökologisches Programm im Ausschreibungs-

text Wettbewerb für Planungsleistungen Architektur: Neubau Feuerwehrhaus Sulzberg Thal; Gemeinde Sulzberg Immobilienverwaltungs GmbH & Co, 2007; S. 14) 152 Signifikant hierfür ist der für die Schweiz festgestellte Landverbrauch für Siedlungsflächen von einem Quadratmeter pro Sekunde. Rentsch (2006), S. 280 153 PN: Z 24 ff

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Sonst baut man bei uns kein Doppelhaus. Weil die Leute sagen, das haben uns alle gesagt, „tut das ja nicht, da habt ihr doch sofort Streit und das gibt nur Schwierigkeiten“, und so weiter. Also, die Einfamilienhaus-Ideologie ist ganz enorm bei uns.155

Ernst Wirthensohn spricht seinem Architekten hierfür die Initiative zu. „Der (...) hat sofort gesagt ‚da kommt nur ein Doppelhaus in Frage‘. (...) Mir hats eigentlich gleich gut gefallen. Ich habe mit dem Theo Lang schon zusammen gewohnt im Mesnerhaus, wir haben die Vorteile gesehen.“156 Das Architektenargument für das Doppelhaus könnte einerseits das größere Hausvolumen gewesen sein, das eine Annäherung der Kubatur an den ortsüblichen Bauernhaustyp, den Einfirsthof, ermöglicht, der in einem einzigen großen Baukörper Wohnhaus, Stall und Heustadel umfaßt, ein ortsplanerisches Argument, das gestützt wird durch das bereits dokumentierte „Mitdenken“ eines zukünftigen Dorfplatzes im Entwurf dieses Hauses. Andererseits bietet der neue Haustyp im Vergleich zum freistehenden Einfamilienhaus das Potential eines ökonomischeren Umgangs mit dem Baugrund, eine Notwendigkeit, auf die bereits Bürgermeister Nußbaumer im Gespräch verwiesen hatte. Gerhard Gruber, Nachfolger von Wirthensohns Architekt, führt dessen Überlegungen zur typologischen Modernisierung des Dorfes fort. Es gibt auch Überlegungen, (...) daß der nächste Schritt nach dem Saal eigentlich ein Wohnbau wäre in Thal. Weil natürlich auch nach Thal diese Entwicklung kommt, daß nicht jeder ein Haus haben kann. Und daß man zumindest ein Reihenhaus, oder irgend einen ähnlich verdichteten Bau auch in Thal verwirklichen möchte.(...) Es ist wahrscheinlich ein nächster logischer Schritt, daß man diese Qualität noch schafft.157

Die Thaler Schule mit ihrer bedrohlich niedrigen Schülerzahl ist ein Indikator dafür, daß sich die dörfliche Gesellschaft permanent verjüngen muß, um überleben zu können. Der Mehrfamilien-Wohnbau ist Gruber zufolge das Mittel, die neue „Qualität“ im Dorf, seine bauliche Anpassung an die ökonomischen und sozialen Bedingungen der Gegenwart, zu schaffen. Architektur empfiehlt sich für diesen Vorgang durch ihren Wissensvorsprung, ihr systematisches Typenreservoir und ein spezialisiertes Organisations- und Planungsdenken.158 Die Eigengesetzlichkeit dieses spezialisierten Denkens zeigt sich gerade in solchen Lösungsansätzen, städtische Wohnformen in das „neue Dorf“ hineinzutragen. Parallel zu diesem ordnenden Zugriff, der mit dem Anspruch einhergeht, „über diesen Ortsraum insgesamt nachzudenken“159, wandelt sich die Gestalt des Dorfes von einer Kollektivleistung160 zu einer architektonischen 154 Wohnraum Alpen lautet der Titel einer „alpenübergreifenden Architektur-Wanderausstellung“, die am 14.05. 2010 in Meran eröffnet wurde. Das doppelseitige Foto der Einladungskarte zeigt den Fensterausblick auf eine alpine Herbstlandschaft. Die raumhohe Panoramascheibe des als Zeitgenössische Architektur erkennbaren Wohnraumes inszeniert den Ausblick als wandfüllendes Landschaftsbild. Für die Ausstellung zeichnen kunst Meran und die Stiftung der Kammer der Architekten der Provinz Bozen ver-

antwortlich. Als kooperierende Institution ist u.a. das Institut für Regionalentwicklung und Standortmanagement der Europäischen Akademie Bozen genannt. 155 EW 1: Z 736 ff 156 Ebd. 157 GG: Z 834 ff 158 Vgl. Abschnitt Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? 159 GG: Z 769 ff 160 Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus

Ästhetisierung

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Architektur inszeniert sich als Nichtarchitektur

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Inszenierung. Wir konnten bereits am Umbau des Dorfsaales zeigen, daß der gewünschte Eindruck einer Bewahrung historischer Baugestalt, entscheidendes atmosphärisches Element zur Legitimierung des neuen sozialen Gebildes als „Dorf“, durch Neuschöpfung einer historisierenden Gestalt entsteht. Wir bezeichnen diesen Vorgang als Ästhetisierung und ordnen ihn damit denjenigen Modernisierungseffekten zu, mit denen wir im Kapitel Haus bereits den Auftritt der Architektenhäuser im ländlichen Raum und den damit verbundenen neuen, visuellen Landschaftsbezug erklärt haben. Das Dorf stellt den Architekten vor eine gänzlich andere Aufgabe als die direkte Beauftragung durch einen privaten Bauherrn, indem nicht die Skulptur des Einzelbauwerks zu schaffen, sondern ein Ensemble bestehender Bauten weiterzuentwickeln ist. Hier gilt es, eine Ästhetik zu realisieren, die nicht als Entwurf, sondern als Gewordenes161 in Erscheinung treten soll. Dieses Konzept stellt die Dorfbevölkerung als Statisten in die ästhetische Inszenierung und schließt sie gleichzeitig als Handelnde so vollständig wie möglich aus einer Gestaltungsbeteiligung aus.162 Gruber erläutert dieses Ziel für seinen Entwurf des Thaler Dorfplatzes. Bei dessen Betrachtung „müßte man das Gefühl haben, der Platz, den haben die Dorfbewohner selber gemacht“.163 Der Architekt setzt sich hier durch sein Werk nicht als Künstler in Szene, sondern schafft ein – nicht minder sorgfältig komponiertes – Bild eines Dorflebens, das ebenso „architekturfrei“ wirken164 wie es frei von Zeugnissen „schlechten Geschmacks“ sein soll. So unsichtbar er sich als Gestalter macht, so präsent ist er statt dessen als Rezipient, als Angehöriger derjenigen gesellschaftlichen Gruppe, die solchermaßen inszenierte Räume zur eigenen Erholung in Anspruch nimmt und damit aus einer Konsumentenrolle heraus einen neuen ästhetischen Standard dörflicher Gestaltung fordert.165 An einem Sonnentag, wenn man hinkommt, wenn der Gastgarten offen ist, ist es eine ganz ansprechende Situation, wo ich einfach, wenn ich Thal nicht kennen würde, auch stehenbleiben würde und was trinken würde.166

Gerade die Nähe zwischen Architekt und denjenigen Dorfbewohnern, die, zugespitzt formuliert, als „Statisten“ in der purifizierten neudörflichen Ästhe161 Vergleichbare Wahrnehmungskategorien gelten für die kunsthistorisch geprägte Rezeption der Bauernhäuser in der Hausforschung, die sich in Begriffen wie „Anonyme Architektur“ ausdrücken. Vgl. Abschnitt Bauernhaus, Kapitel Haus 162 „Man hat einen Brunnen gemacht, der (...) unglücklich ist. Weil, da hats (...) einen privaten Sponsor gegeben, der den dann ausgesucht hat. (...) Und jetzt sind neue Wirtsleute gekommen und die haben Blumentröge mitgebracht, so Waschbeton, die haben sie dann einfach gestellt. Da habe ich mit dem Ernst neulich schon überlegt, ob wir die mit Stahl verkleiden (lacht).“ (GG: Z 1206 ff) Der „unglückliche“ Brunnen wird auch in Wirthensohns Jahresbericht erwähnt. Außerdem ist dort

verzeichnet, daß die seitens der Brauerei zur Verfügung gestellten Gastgartenmöbel Anlaß zu einem Wechsel der Brauerei gaben. (V. Neue Plätze für Thal in: Wirthensohn: Jb. 2002–2003) 163 GG: Z 1215 ff 164 „Es wäre (...) wirklich schlimm für mich, wenn einer sagt: ,Was hat denn da einer wieder gemacht?‘ “ GG: Z 1221 ff 165 Vgl. die Dokumentation der gewandelten Kriterien für Dorferneuerungspreise im letzten Abschnitt dieses Kapitels Beratung, Planung, Steuerung. 166 GG: Z 1229 ff 167 Genauer müßte formuliert werden, daß ästhetische Orientierung diejenige kulturelle Orientierung ist, die akademisch gebildete Gesellschaftsschichten

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tik plaziert werden, läßt die Unvermittelbarkeit ästhetischer Maßstäbe erkennen, die durch deren gesellschaftliche Gebundenheit entsteht. Indem ästhetische Orientierung gleichzeitig gesellschaftliche Orientierung ist167, kann es keine Veränderung ästhetisch gekennzeichneter Umgebungen geben, ohne gleichzeitig in soziale „Heimaten“ einzugreifen. Die strategische Lösung dieses Konflikts liegt für Gruber in einer Vermeidung jeglicher Ästhetikdiskussion im sozial gemischten Forum des Selbsthilfevereins. Statt über „Gestaltung“ spricht er über „Funktion“. In den Projekten, die, bedingt durch ihre Organisationsform als Selbstbauaktion des Selbsthilfevereins, ihn als Planer in diffuse Hierarchieverhältnisse einbinden, ist das erreichbare Ergebnis, als architektonischer Wert gemessen, zwangsläufig gemindert, ein ästhetischer Kompromiß, der gleichzeitig ein genaues Abbild der systematischen sozialen Mischung der an der Entscheidung Beteiligten ist.168 Ich habe natürlich auch immer versucht, die Gestaltung durch funktionale Aspekte zu hinterlegen und dann wars eigentlich nie ein Problem, sie sind mir immer gefolgt. Also bis auf kleine Sachen, wie beim Zubau von der „Krone“, ist es darum gegangen, wieviel Vordach das Haus auf der Stirnseite bekommen soll. Ich war der Meinung, aus gewissen Überlegungen, daß das kein Vordach haben sollte. Über das haben wir länger diskutiert und sie haben dann entgegen meiner Pläne ein bißl eins gemacht (lacht). Also da ist halt der Günther auf der Baustelle gestanden und hat zum Zimmermann gesagt: „Ein Stückl mehr“ (lacht). (...) Nicht, daß es ihnen nicht gefallen hätte, sondern, daß sie gefürchtet haben, daß das die Wetterseite ist und daß das Vordach da notwendig ist. Und deshalb ist das jetzt so ein Kompromißvordach (...) und das ist ein bißchen komisch. Ich hätte es gern so ganz präzis abgeschnitten gehabt.169

Grubers „funktionales“ Argumentieren stellt den Versuch dar, eigene gestalterischer Erwägungen auf eine unterstellte Verständnisebene seines Gegenübers zu transponieren. Die in Grubers Wirklichkeit vorhandenen skulpturalen Aspekte („präzis abgeschnitten“) werden gegenüber dem Bauherrn nicht thematisiert. So nimmt dieser ganz selbstverständlich an, daß keine formale Entscheidung vorliegt170 und fühlt sich frei, an der Baustelle ein skulptural bedeutsames Detail171 abzuändern, um den funktionalen Mangel „Wetterschutz“, den er an dieser Stelle identifiziert, zu beheben. In der Bedeutsamkeit, die Gruber diesem Konfliktfall beimißt, wird deutlich, daß seine Rolle als „Dienstleister“ des Selbsthilfevereins, auf dessen auszeichnet. Im vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels konnte bereits gezeigt werden, daß handwerklich oder landwirtschaftlich sozialisierte Gesellschaftsgruppen verstärkt „arbeitsförmige“, händisch orientierte Formen von Gemeinschaftsstrukturen pflegen. 168 Dieser partizipative Sonderfall bildet in den Vorarlberger Selbstbaugruppen der 1970er und 1980er Jahre eine eigene Institution. In das Selbstbild des Architektenstandes ist dieser Fall kaum dauerhaft integrierbar, wie aus der rückblickenden Bewertung deutlich wird, die die Architekten Dietmar Eberle und Carlo Baumschlager ihrer „Baukünstler-Vergangenheit“ zumessen. Vgl. Waechter-Böhm (2000), S. 125 ff 169 GG: Z 578 ff

170 Günther Wirthensohn in „15 Jahre Ortsvorsteher von Thal“, Jb. 1999–2000: „Fast parallel zum Schulumbau konnte dann der Neubau des baufälligen Hintergebäudes beim Gasthaus in Angriff genommen werden. Nach Plänen von Architekt Gerhard Gruber aus Bregenz wurde der funktionelle Anbau großteils in Holzfertigbauweise errichtet.“ 171 Wirthensohn bestätigt in unseren Gesprächen die Bedeutsamkeit, die diesem Vorfall für Grubers Positionierung gegenüber dem Selbsthilfeverein innewohnt. 172 GG: Z 563 ff 173 GG: Z 429 ff 174 GG: Z 574 ff 175 GG: Z 805 ff

Funktionales Argumentieren als Strategie

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348 Rollenkonflikt professioneller Architekten

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Vertrauen er Wert legt172, gleichzeitig seine professionelle Identität, seinen sozialen Rang innerhalb des eigenen Berufsstands in Frage stellt. Der soziale Druck, dem sich Gruber durch diesen Rollenkonflikt ausgesetzt sieht, kommt im Gespräch mehrfach zum Ausdruck. Ich bin ja auch kein spleeniger Architekt, der da jetzt futuristische Architektur bauen will in Thal...173 Wenn ich jetzt natürlich sehr expressiv planen würde, dann müßte ich vielleicht expressiver argumentieren, aber bei den Sachen, die ich so mache, ist das immer wahnsinnig unkompliziert gegangen.174 Also man könnte sicher eine schneidigere Architektur machen, als alles das, was ich dort mache (...) und vielleicht will ich es dort gar nicht.175

Grubers Rechtfertigungen lassen einen Druck erkennbar werden, für den der Interviewer als Fachkollege nur der Vermittler ist. Der implizit präsente professionelle Anspruch, der sich als Selbstverständnis des Berufsstandes formuliert, hat Avantgarde und Provokation, systematische Unangepaßtheit also, zum zwingenden Verhaltenskodex seiner Mitglieder erhoben. Damit ist jegliche soziale Integration professionalisierter Architektur, die eine Rückwirkung auf die architektonische Form zulassen und damit ihre Autarkie schmälern würde, tabuisiert. Mit der Autonomie ihrer Form schützt Architektur ihren gesellschaftlichen Status als normative Institution.

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349 5.4 Beratung, Planung, Steuerung Die Beantwortung unserer Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ hat sich bis hierher vor allem auf das implizite Anwenderwissen der Auftraggeber von Architektur gestützt. Konkrete Fallbetrachtungen bildeten hierzu den Rahmen. In der Wahrnehmung Jürgen Sutterlütys etwa dient Architektur der Verbesserung seiner Betriebsorganisation und der Schaffung animierender Atmosphäre im Inneren seiner Supermärkte.1 Das Ehepaar Eugster beauftragt ihren Architekten, um eine offene Wohnatmosphäre als Voraussetzung eines modernen Lebensstils zu erhalten. Die Beauftragung des Architekten bewirkt daneben ihre soziale Neuplazierung als Akademiker im Heimatdorf.2 Überregionale Aufmerksamkeit auf das Dorf zu richten, ist ein willkommener Effekt der Architektenbeauftragung durch den Selbsthilfeverein Thal. Die Überzeugungskraft dieser externen Wertschätzung verschiebt die Gewichte im internen Abstimmungsprozeß der Dorfgesellschaft derart, daß es den neuen dörflichen Eliten gelingt, im bestehenden Dorf ein „neues Dorf“ zu errichten, Ausdruck ihrer städtisch konnotierten Bedürfnisstruktur und akademisch geprägten Werthaltung.3 Architektur tritt in all diesen „Anwendungen“ als eigensinniges Medium, als Institution mit ausgeprägtem Charakter und explizitem Interesse seiner Protagonisten in Erscheinung. Indem parallel zur Berücksichtigung ihrer institutionellen Verfaßtheit rekonstruiert werden konnte, wozu und mit welchem Effekt Architektur in Vorarlberg eingesetzt wird, indem also ihre „Brauchbarkeit“ in der sozialen Praxis des Bauens untersucht wurde, konnte auf Aspekte ihrer gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfaßtheit rückgeschlossen werden. An verschiedenen Stellen unserer Studie wurden bereits Berührungspunkte zwischen Architektur und den Interessen des Staates und seiner Organe festgestellt.4 Frühformen staatlicher Eingriffe in ländliches Baugeschehen sind innerhalb des Forschungsfeldes vor allem in solchen zentraldirigistischen Interventionen und Institutionen5 zu finden, die das Bestreben des Staates erkennen lassen, agrarische Bewirtschaftung und bäuerliche Besiedlung des Landes durch verbindliche Regelungen sowohl zu optimieren als auch zu vereinheitlichen. Beispielhaft haben wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels die Vereinödung im Vorderen Bregenzerwald vorgestellt. 1 Vgl. Architektur als Kunst, Kapitel Architektur? 2 Vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus 3 Vgl. vorhergehenden Abschnitt 4 Auf der Materialebene ist die Nähe zwischen Architektur und Staat in den Bauten des Staates (Eisenbahn, Rathaus, Schulhaus) präsent: Der Staat repräsentiert, gerade im ländlichen Raum, inmitten der „Nichtarchitektur“ der Bauernhäuser, mittels Architektur. Diese Architekturpräsenz als dem Staat vorbehaltene Repräsentationsform ist im Bregenzerwald

bis in die 1960er Jahre feststellbar. Vgl. Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur? 5 Moser nennt für die Bundesländer seines Forschungsraums die Errichtung von Landbauämtern. Vgl. Moser. Die Vereinödung des Vorderen Bregenzerwaldes wurde gegenüber solchen ortsfesten Institutionen von „mobilen“ Staatsorganen, den „Feldmessern“, exekutiert. (Diese gehören zu jenen Berufen, denen im neunzehnten Jahrhundert die Privilegien von „Ziviltechnikern“ zuerkannt werden.) Vgl. Blank

Architektur als Interessenfeld des Staates

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Eine systematische Betrachtung heutiger Instrumente und Institutionen zur Planung und Steuerung des Baugeschehens in Vorarlberg und der Rolle, die Architektur aktuell darin einnimmt, ist Thema dieses letzten Abschnitts des Kapitels Dorf. Wir richten unser Augenmerk vor allem auf die Gestaltungsbeiräte, freischaffende Architeken, die den kommunalen Baubehörden als beratendes Gremium zur Seite gestellt sind. Im österreichweiten Vergleich sind Gestaltungsbeiräte eine speziell in Vorarlberg hochgradig etablierte Institution, die innerhalb des Planungsgeschehens im Schnittpunkt staatlicher Interessen, der Interessen privater Bauwerber und nicht zuletzt der berufsständischen Interessen des Architektenstandes angesiedelt ist. Der Umstand, daß wenigstens ein Drittel der Vorarlberger Gemeindeverwaltungen mittlerweile Gestaltungsbeiräte installiert hat, steht in der folgenden Darstellung weniger für einen weit fortgeschrittenen gesellschaftlichen Lernprozeß der Vorarlberger Bevölkerung in puncto ästhetische Bildung, als vielmehr für einen hohen Grad staatlich geförderter Ästhetisierung der baulichen Landschaft als Mittel einer zeitgemäßen, marktwirtschaftlich bestimmten Standortpolitik mit globalem Vergleichsmaßstab. Dementsprechend umkreist der folgende Abschnitt die Gestaltungsbeiräte, indem, der Chronologie ihrer Entstehung folgend, zunächst ihre Einbindung in die Landesraumplanung, anschließend ihre Rolle im Baugenehmigungsverfahren der Gemeinden und schließlich ihre Verzahnung mit den Interessen des Berufsstandes der Architekten betrachtet wird. Während die Parallelsetzung von Architektur und Religion im vorausgegangenen Abschnitt dieses Kapitels den gesellschaftsbildenden Anspruch von Architektur in ihrer „Religionshaftigkeit“ verdeutlichte, ist es nunmehr die Nahbeziehung zwischen Architektur und den gesellschaftlichen Institutionen von Recht und Gesetz, die dieser Studie in der „Rechtsförmigkeit“ von Architektur einen abschließenden Baustein zur Darstellung Zeitgenössischer Architektur als normativer Institution liefert. 6 Peter Greußing weist in unserem Gespräch auf den großen Stellenwert der Raumplanung im Architekturstudium hin, das die neugeschaffene Architekturfakultät der Innsbrucker Universität von Anfang an auszeichnet, und erwähnt ausdrücklich Helmut Kuess, dessen fachlicher Horizont durch diesen Studienschwerpunkt geprägt worden sei. (PG: Z 864 ff) 7 HK: Z 174 ff; Kuess repräsentiert als einer der zentralen Akteure das Prinzip der wenigen Initiatoren, die vieles verantworten. Es mag eine Zeitströmung gewesen sein, die das „Vorarlberger Architekturwunder“ begünstigt hat, aber es waren Persönlichkeiten, die ihm Kontur verliehen haben. 8 Die zentrale Quelle zur Entwicklungsgeschichte der österreichischen Gestaltungsbeiräte ist die Dissertation Paul Raspotnigs (TU Wien, 2007). 9 Ebd. S. 10 ff

10 Kuess weist im Gespräch über den Bregenzer Gestaltungsbeirat darauf hin, daß es sich beim „Salzburger Modell“ um ein Gremium externer, einer anderen Region oder Nation entstammender Architekten handelt (HK: Z 583 ff). Ähnlich sind Jurys von Architektenwettbewerben besetzt. Dahinter steht eine Auffassung, die Architektur als etwas Objektives, überregional Gültiges, überregional Bewertbares betrachtet, das ohne Kenntnis des regionalen Kontextes bewertbar ist. Ein solcher Architekturbegriff konnotiert Architektur ausdrücklich antiregionalistisch. Mit der Übertragung auf Vorarlberg (Lustenau 1985) erhält die Institution Gestaltungsbeirat eine neue Schwerpunktsetzung. Indem regionale Architekten Gestaltungsbeiräte bilden, wird ein regionales Selbstbewußtsein prägend für die Institution „Gestaltungsbeirat“.

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Als zentraler Auskunftgeber für diesen Abschnitt konnte der Bregenzer Architekt Helmut Kuess gewonnen werden. Kuess, Jahrgang 1952, Absolvent der Innsbrucker Architekturfakultät in den späten 1970er Jahren6, ist bis heute Mitglied des ältesten Vorarlberger Gestaltungsbeirats, der 1985 in der Rheintalgemeinde Lustenau installiert wird. Neben diesem ist Kuess gleichzeitig in bis zu acht weiteren Beiräten im Land vertreten.7 Die Idee der Institution Gestaltungsbeirat geht in Österreich auf einen einzigen, ersten Beirat zurück, der 1983, zwei Jahre vor seinem ersten Vorarlberger Nachfolger in Lustenau, in der Stadt Salzburg errichtet wird.8 Im Gegensatz zu den „städtischen“ Problemstellungen9, die mit der Errichtung des Salzburger Gestaltungsbeirats beantwortet werden, führt Kuess die Vorarlberger Adaption dieses Grundmodells10 auf eine spezifisch ländliche Aufgabenstellung zurück. Der Gesetzgeber beginnt zu diesem Zeitpunkt in bisher ungeregelte Gestaltungsbereiche des Sozialen, in die Sphäre des mit dem individuellen Grundbesitz bis dahin verbundenen „Naturrechts“, auf eigenem Land uneingeschränkt zu bauen, einzugreifen.11 Ich hab mit dem Wolf Reith damals, das war ’78, im Kleinen Walsertal, begonnen, Raumplanung zu machen. Das hat kein Mensch verstanden, wieso jetzt da jemand kommt und sagt „So, da darf man bauen, da ist kein Bauland“, (...) man kann überall bauen, oder, das war das Selbstverständnis. (...) Das war der Lernprozeß, daß das jetzt Allgemeingut ist, (...) [daß es] Bauland gibt einfach, und es gibt auch Nichtbauland, oder. Es gibt eine Grünzone, (...) vollkommen klar, selbstverständlich, aber damals wars nicht so.12

Der steigende private Wohlstand der Gesellschaften Mitteleuropas13 führt in der Nachkriegszeit, spürbar seit den 1970er Jahren, zu massenhafter „Stadtflucht“, der Aufgabe der städtischen Familienwohnung zugunsten des eigenen Einfamilienhauses „auf dem Land“. Daneben verlangt eine weitere wohlstandsbedingte Zeiterscheinung, die nunmehr auch mittleren und unteren Einkommensschichten zugängliche „Urlaubsreise“14, zunehmend nach baulicher Infrastruktur im ländlichen Raum, die in den 1970er Jahren in Großprojekten des regionalen Tourismusgewerbes einen ersten Höhepunkt Das „Prinzip des Einzelfalls“, von Kuess zur Charakterisierung derArbeitsweise des Gestaltungsbeirats anführt, darf auch als dessen Konstruktionsprinzip gelten. Indem jede Gemeinde andere Kräfteverhältnisse repräsentiert, muß sich auch jeder Gestaltungsbeirat ortsspezifisch positionieren, sich auf die bestimmenden Persönlichkeiten (Bauamtsleiter, Bürgermeister) und deren jeweiliges Amtsverständnis einstellen. (HK: Z 552 ff) Erst nach zwanzig Jahren „informeller“ Beratungstätigkeit gibt sich der Lustenauer Gestaltungsbeirat erstmals ein Statut (HK: Z 121 ff). Charakteristisch erscheint hier ebendiese Reihenfolge: daß die Beratungspraxis über eine lange Dauer ihre Form und Position findet und diese erst dann in ein Statut gefaßt wird. Im Gespräch grenzt Kuess die Situation der Gemeinde Lustenau von einer völlig anders gela-

gerten der Stadt Feldkirch ab: „Feldkirch hat einen sehr straff organisierten, mit Statuten, und allem, Gestaltungsbeirat“ (HK: Z 566 ff). Es sind solche Individualitäten, die die Vorarlberger „Verhandlungs-“ oder „Diskurskultur“ von einer „Verordnungskultur“ abgrenzen,wie sie Deutschland zugeordnet werden kann. 11 Rudolf Wäger, Protagonist der „Ersten Generation“ der Vorarlberger Baukünstler, rechtfertigt im Gespräch mit Marina Mangold den Eingriff ins Privatrecht, den die Raumplanung vollführt. Er schlägt vor, zugunsten einer Effektivitätssteigerung Grundstücksenteignungen gesetzlich zu legitimieren. Mangold, S. 96 12 HK: Z 875 ff 13 Die Interferenzen zwischen sozialen Auswirkungen dieser Entwicklung und ihrer politischen Steuerung hat Bourdieu (1998) für Frankreich untersucht.

Gestaltungsbeirat und Raumordnung

Raumplanung ist Einschränkung des souveränen Besitzrechts

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erreicht. Nachdem beide Effekte drohen, die bis dahin „offene“ Landschaft irreversibel hinter legalem baulichem „Wildwuchs“15 verschwinden zu lassen, sieht sich der Staat genötigt, gesetzliche Handhaben zu schaffen, um ordnend eingreifen zu können. Hierbei gilt es einerseits, das bis zu diesem Zeitpunkt unkoordinierte Siedlungswachstum ländlicher Gemeinden räumlich zu kanalisieren und den Flächenverbrauch für Bauland mit dem öffentlichen Interesse einer Aufrechterhaltung großflächiger agrarischer Nutzung abzustimmen16, andererseits die „freie Landschaft“ sowohl als öffentliches Gut wie als Wertschöpfungsressource, die zumal im Tourismusland Österreich den Rang einer tragenden Säule der Volkswirtschaft innehat, mit der Infrastruktur ihrer Verwertung17 langfristig auszubalancieren. Als Kriterium einer solchen staatlichen Ordnungstätigkeit wird der Begriff „Orts- und Landschaftsbild“ in den Rang einer gesetzlich geschützten Qualität erhoben, über deren Sicherung in den Prüfungs- und Genehmigungsverfahren der Bauverwaltungen auf kommunaler ebenso wie auf Landesebene zu befinden ist.

14 Als demokratisierte Form der ehemals dem städtischen Großbürgertum vorbehaltenen „Sommerfrische“. Vgl. Tschofen (1993) 15 Die Architektenschaft macht sich früh zum Anwalt eines Landschaftsschutzes und greift damit Traditionen des Berufsstandes aus der Denkmalschutzbewegung des frühen neunzehnten Jahrhunderts ebenso wie der Heimatschutzbewegung auf, die sich an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert konstituierte. 16 Vgl. Kühne 17 Kuess verknüpft die Ausweitung des Tourismus mit dem Bedarf an Raumplanung am Beispiel des Kleinen Walsertals, das in seiner Darstellung für die frühesten raumplanerischen Interventionen innerhalb Vorarlbergs steht: „Das sind drei Gemeinden, Riezlern, Hirschegg und Baad. (...) Weil einfach große Projekte angestanden sind, damals, in der Zeit, touristische Projekte vor allem. (...) Irgendwas (...) hat das Kleine Walsertal schon einmal raumplanerisch gemacht. War das nicht in den Fünfziger Jahren sogar, Sechziger, (...) rudimentäre Ansätze waren das damals, was Raumplanung betrifft, oder.“ (HK: Z 920 ff) Hier dokumentiert Kuess die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auslöser für Raumplanung einerseits und den Schritt der Architekturbewegung von der Konfrontation zur Kooperation mit den Gemeindeverwaltungen andererseits: Der Beginn eines Tourismus in großem Maßstab setzt das Signal hierzu. Die 1970er Jahre stehen für Wohlstand, sprunghafte Mobilitätssteigerung, Individualisierung. 18 „Am neuen Baugesetz fällt besonders auf, daß für die Baubehörde zahlreiche Möglichkeiten eingebaut sind, Maßnahmen zum Schutze des Landschafts- und

Ortsbildes vorzuschreiben bzw. solche Auflagen festzulegen.“ Grabher, S. 1572 Die Erstfassung des Vorarlberger Baugesetzes vom 12.07.1972 führt Schutz des Landschafts- und Ortsbildes noch als § 22, § 17 regelt Ankündigungen und Werbeanlagen. Die Gesetzesnovelle vom Herbst 2001 vereinigt beide Paragraphen zum heutigen § 17 Schutz des Orts- und Landschaftsbildes. 19 Gemäß Landtagsbeschluß vom 01.03.1973 20 „Das Grundstück ist dann bebaubar, wenn es als Baufläche gewidmet ist. (...) Aber natürlich nicht uneingeschränkt, sondern es kommt drauf an, was für eine Nutzung, je nachdem, was es für eine Widmung hat.“ (HK: Z 363 ff) 21 Der Supermarktunternehmer Jürgen Sutterlüty kommentiert als unmittelbar Betroffener denjenigen Aspekt der Raumordnung, in dem diese mittels Vorgabe von Art und Maß der baulichen Nutzung in Flächennutzungsplänen die Wirtschaftsstruktur des Landes steuert: „Das Problem ist, daß die Landesgesetzgebung (...) versucht, (...) Zentrumsentwicklung voranzutreiben und Nahversorgungsstrukturen zu schützen. Völliger Irrsinn, totale Katastrophe, wir haben eine Mißkultur im Land, daß es zum Himmel schreit“ (JS: Z 412 ff). Sutterlüty kritisiert, daß der Discounter als Hauptkonkurrent des Supermarkts durch die staatlichen Eingriffe einen Wettbewerbsvorteil erhalte. Gleichzeitig rechtfertigt er mit seiner Aussage „Was nützen die Siedlungsstrukturen, die Verantwortung dafür kann nicht der Supermarktunternehmer übernehmen“ (JS: Z 764 ff), die Notwendigkeit staatlicher Schutzmaßnahmen gegenüber der ökonomisch

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Als gesetzliche Grundlage dieses für den demokratischen Staat neuen Feldes seiner Regelungstätigkeit wird 1972 der „Schutz des Landschafts- und Ortsbildes“18 in das Vorarlberger Baugesetz aufgenommen sowie 1973 das Vorarlberger Raumplanungsgesetz erlassen19, zu dessen Umsetzung die Raumplanungsstelle eingerichtet wird. Das Gesetz sieht vor, die Landesfläche in Nutzungszonen zu gliedern und diese Zonierung in Form entsprechender „Widmungen“ der Flächen20 sowohl auf Landesebene wie auf der Verwaltungsebene der Kommunen als Grundlage der baulichen ebenso wie der wirtschaftlichen21 Gemeindeentwicklung zu verankern.22 Die Raumplanungsstelle des Landes erhält von Anfang an eine Doppelrolle. Zunächst hat sie als genehmigende Behörde die Gemeinden bei der nunmehr verpflichtenden Aufstellung von Flächennutzungsplänen zu unterstützen. Daneben ist sie Bewertungs- und Schlichtungsstelle in solchen Baugenehmigungsfragen, in denen die architektonische Gestalt einzelner Bauvorhaben in bezug auf das „Ortsbild“ zum Streitfall zwischen Bauwerber und kommunaler Baubehörde eskaliert.23

bestimmten, kurzfristig angelegten Handlungslogik von Wirtschaftsunternehmen. Der Unternehmer als „Förderer von Architektur“ wird, wie Sutterlütys Sichtweise dokumentiert, nur diejenigen Aspekte fördern, die mit den Unternehmenszielen in Deckung zu bringen sind. Die Verantwortung für Siedlungsstrukturen übernimmt weder der Unternehmer noch sein Architekt, der lediglich die Verwertung des Standorts bearbeitet. Die Steuerung von Unternehmensansiedlungen fällt daher einzig und allein der Politik, den Kommunen und der Landesraumplanungsstelle zu. In einer Zeit, in der der Staat immer mehr seiner Aufgaben der Obhut privater Unternehmen anvertraut, werden solche öffentlichen Belange auf ökonomische Kriterien reduziert werden. Alle darüber hinausgehenden Aspekte öffentlicher Belange verlieren ihren bisherigen institutionellen Schutz, solange sich keine neuen gesellschaftlichen Institutionen bilden. 22 Vgl. Feurstein 23 Aus der Perspektive der vorliegenden Studie steht die Siedlung Im Fang in Höchst für einen solchen Konflikt zwischen Bauherren und kommunaler Baubehörde, der erst durch Unterstützung der Raumplanungsstelle, hier flankiert durch ein architekturbezogenes Gutachten Friedrich Achleitners, zugunsten der Bauherren entschieden wird. Auszüge aus meinem Gespräch mit Norbert Mittersteiner verdeutlichen Reibungsflächen des Konflikts und die Positionen der Kontrahenten: „Gerüchte, daß da eine Kommune, oder sonst irgendwas entstehen sollte (...). Die haben uns Auflagen erteilt, die wir einfach nicht einhalten wollten, oder. Höchst war damals noch kein Bauamt (...) die

haben das von einem auswärtigen Baufachmann beurteilen lassen, der hat in unsere Baueingabepläne Fensterläden reingezeichnet, Sockelgeschoß mit Mauerwerk, Natursteinmauerwerk, (...) und hat das einfach im Baubescheid vorgeschrieben, und das haben wir halt nicht gemacht, oder. Wir habens dann auch durchgesetzt, oder. Es gab ja ständige Prozesse während der Bauzeit, zwischen Baueinstellungsverfahren und überhaupt aufhören müssen“ (RNM: Z 836 ff). „Dann in Götzis, da haben wir eine Siedlung gebaut, und da ist es einfach nicht vorwärts gegangen mit der Bewilligung (...). Und dann hat der damalige Stadtbaumeister gesagt „von mir kriegt ihr nie eine Bewilligung, was ihr mit denen in Höchst gemacht habt, das passiert bei mir nicht.“ (...) Wahrscheinlich auch ein Lernprozeß für die Behörde. NM Kann man sagen, ja. Erst recht, als wir für diese ganzen Baukünstlergeschichten den Preis gekriegt haben vom Land“ (RNM: Z 1059 ff). Behördenwillkür, der Fürstenhabitus von Bürgermeistern, ländlicher Kleingeist, Widersprüche der Bauordnung und, wie in Wratzfelds Erzählung (GW: Z 75 ff), ein Generationenkonflikt zwischen Bauherren und Behördenvertretern, Überalterung von Vorschriften und Personal also, bieten den Architekten Ansatzpunkte in strittigen Genehmigungsverfahren mit kommunalen Baubehörden. Das Land ergreift Partei für die Modernisierer und unterstützt die Architekten in den Auseinandersetzungen mit den Kommunen. Diese Haltung der Landesregierung findet ihren Höhepunkt in der Preisverleihung an die Baukünstler 1992. Vgl. Abschnitt Baukünstler, Kapitel Vorarlberg

Gesetzliche Neufassung des Baurechts

Doppelrolle der Raumplanungsstelle

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Ihr kommt damit eine Beratungsfunktion in Gestaltungsfragen architektonischer Natur zu, Fragen, die, wie bereits dargestellt, immer auch über soziales Kapital mitentscheiden und die eine neue Wertekategorie im Medium eines akademisch bestimmten Formdiskurses in die bis dahin unakademische, bäuerlich-handwerklich dominierte dörfliche Sphäre hineintragen. Kuess: Die einzelnen Sachbearbeiter sind ja auf das Land aufgeteilt, zuständig, zum Beispiel Walgau oder Montafon, und viele Gemeinden aus diesen Talschaften, die holen sich immer wieder den zuständigen Sachbearbeiter von der Raumplanungsstelle als Berater fürs Ortsbild.24

Aus der intensiven Inanspruchnahme dieses Beratungsangebots der Raumplanungsstelle erklärt Kuess die spezifische Legitimierung der Institution Gestaltungsbeirat für das ländlich strukturierte Vorarlberg. Das sind auch die Leute von der Raumplanungsstelle, die (...) die Gemeinden hinsichtlich der Installierung eines Gestaltungsbeirates ja beraten, weil die Raumplanungsbehörde natürlich überfordert ist mit der, wenn sie sämtliche Gemeinden diesbezüglich beraten würde.25

Die Raumplanungsstelle bestärkt die Gemeinden darin, eigene Gestaltungsbeiräte zu installieren, um sich selbst von der Beratungstätigkeit bezüglich einzelner Bauvorhaben zu entlasten. Neben dieser Begründung, die vor allem die Alltagspraxis einer überforderten Behörde spiegelt, enthält die Empfehlung an die Gemeinde, einen Gestaltungsbeirat zu installieren, eine implizite Ebene, die das Selbstverständnis des Dorfes als sozialer Lebensform betrifft. Es ist nicht dasselbe, ob der Rat, Zeitgenössische Architektur in das Ortsbild aufzunehmen, intern oder extern erteilt wird. Mit einem Gutachten des eigenen Gestaltungsbeirats macht sich die Gemeinde das Urteil weit mehr zu eigen als durch eine von außen kommende Stellungnahme der Raumplanungsstelle.26 Diese kursorische Darstellung der Entwicklung vom Raumplanungsgesetz, dem Ortsbildschutzparagraph im Baugesetz zu den Aufgaben der Landesraumplanungsstelle und deren „Entlastung“ durch Gestaltungsbeiräte innerhalb der Vorarlberger Gemeindeverwaltungen enthält prägnante Sprünge, die deutlich werden, sobald wir die Feststellungen des Abschnittseingangs nochmals in Erinnerung rufen: Der Staat als Gesetzgeber dehnt seit den 1970er Jahren seine Regelungstätigkeit des Baugeschehens aus. Erst24 HK: Z 737 ff 25 HK: Z 753 ff 26 Ein aktuelles Vorarlberger Beispiel für die Eskalation eines Konflikts um die Etablierung Zeitgenössischer Architektur ist der „Montafoner Architekturstreit“. Hier haben sich Fronten zwischen lokalen stake holders, vor allem Vertretern des Tourismusgewerbes, und der Landesraumplanungsstelle verhärtet. Die vermittelnde Instanz „Gestaltungsbeirat“ fehlt in den Gemeinden des Montafon noch weitgehend. 27 Kuess ordnet den Beginn seiner Zusammenarbeit mit Wolf Jürgen Reith einer Phase zu, „wo die

Raumplanungsstelle dann so eine wichtige Funktion angenommen hat, was die baukulturelle Entwicklung betrifft“ (HK: Z 715 ff). 28 Auch Rudolf Wäger ordnet die Befürwortung Zeitgenössischer Architektur den oberen Instanzen der Baubehörde zu, die Ablehnung den unteren (Mangold S. 93). Ebd. auch: Landesgesetzgebung liberaler als Bundesgesetzgebung (S. 94). Wäger bestätigt hier die Feststellung, daß architektonische Ästhetisierung als Signal nach außen gelten darf, während sie nach innen als Entfremdung wahrgenommen wird.

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mals sind nun in Privatbesitz befindliche Grundstücke nicht mehr uneingeschränkt bebaubar. Der Staat regelt jedoch von diesem Zeitpunkt an nicht nur den Grad und die Art der baulichen Nutzung, sondern auch die ästhetische Gestalt der Bebauung.27 In den Gutachten seiner beamteten Vertreter werden avantgardistische Äußerungen Zeitgenössischer Architektur von Beginn der Tätigkeit der Raumplanungsstelle an ausdrücklich zur Realisierung empfohlen.28 Professionalisierte Architektur in zeitgenössischer Formensprache erhält durch diese Praxis der Landesbehörde gegenüber der Gesellschaft das Profil eines „legislativen“29 Mediums. Diesen Befund einer Einwirkung von Ästhetik auf die Gesetzgebung werden die folgenden Ausführungen näher beleuchten. Moser stellt in seinen volkskundlichen Ausführungen zum historischen Zentraldirigismus die Interventionen des Staates noch bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein als rein „utilitaristisch“ dar. Das ländliche Bauen wird zwar gesetzlichen Regelungen unterworfen, diese folgen jedoch ausschließlich ökonomischen, hygienischen und sicherheitstechnischen Erwägungen.30 Eine Brücke zwischen den Kriterien des historischen Zentraldirigismus und den gesetzlichen Neuerungen der 1970er Jahre, vor allem aber der Praxis ihrer Umsetzung, in denen der Staat seine Regelungstätigkeit auf ästhetische Bereiche ausdehnt und sich von nun an neben der materiellen und technischen Gestalt von Bauwerk und Siedlung auch für ihre Form interessiert, schlägt die Berücksichtigung des Wandels, den die Bewertung der Ästhetik des Bauwerks und das Bild der Landschaft mittlerweile erfahren haben. Durch den Tourismus, aber auch durch die marktwirtschaftlich bestimmte Standortkonkurrenz um wertschöpfende Industrieansiedlungen zwischen Gemeinden, Regionen und Ländern haben die ästhetisierten Oberflächen und skulpturalen Baukörper, wie Zeitgenössische Architektur sie hervorbringt, mittlerweile ihre ökonomische Bedeutung erwiesen, wodurch sie in die Sphäre volkswirtschaftlich relevanter „Güter“ fallen. Als solche sind sie zugunsten des Gemeinwohls gesetzlich zu fördern, zu schützen und damit der Verfügungsgewalt der Bevölkerung vor Ort möglichst zu entziehen. 29 Die seitens der Raumplanungsstelle betriebene „Umfirstung“ der Lecher Teilgemeinde Zug repräsentiert ein solches neues „Gestaltgesetz“ im lokalen Rahmen, das mittels Architektur in Erscheinung tritt bzw. durch das Medium Architektur gesetzt und damit „Gesetz“ wird. Insbesondere die Rechtsstellung der Raumplanungsstelle als Landesbehörde schafft dasjenige Hierarchiegefälle zu den kommunalen Bauämtern bzw. Bürgermeistern, welches die Unterscheidung zwischen „Gesetz“ und „Rechtssprechung“ abbildet, die staatsrechtlich als Beziehung zwischen Legislative und Judikative in Erscheinung tritt.

Ausdrücklich ist die Solidarität des Gesetzgebers mit den Zielen Zeitgenössischer Architektur in der 45. Beilage im Jahre 2001 des XXVII. Vorarlberger Landtages formuliert. Als Kommentar zur Novellierung des Vorarlberger Baugesetzes ist dort ausgeführt: „Vorarlberg gilt heute als ein regionales Zentrum der Architektur in Europa. Diese Entwicklung soll weiterhin unterstützt werden“ (S. 19). 30 Moser, S. 16 31 Crary (S. 64 f) nimmt mit dem Begriff „Gesellschaft des Spektakels“ Bezug auf Guy Debord.

Architektur als legislatives Medium

Rückgriff auf den historischen Zentraldirigismus

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Volkswirtschaftliche Bedeutung architektonischer Ästhetisierung

Die Produktionsbedingungen Zeitgenössischer Architektur, die ihren Qualitätsbegriff gerade aus ihrem Nonkonformismus bezieht und sich darin auf die Tradition des „spektakulären“ Kulturbegriffs der Moderne31 stützt, scheinen zunächst den Strukturen staatlichen Verordnungswesens ebenso diametral wie systematisch entgegenzustehen. Eine eingehende Analyse der Vorarlberger Raumplanungs- und Baugenehmigungspraxis legt jedoch offen, daß in der Verknüpfung von Affinität zur Zeitgenössischen Architektur seitens des Gesetzgebers, der Rechtsstellung der Landesraumplanungsstelle als Aufsichtsbehörde der kommunalen Bauämter und schließlich der großflächigen Etablierung von Gestaltungsbeiräten innerhalb dieser Organe eine Nutzungspraxis des für sich genommen „üblich“ ausgestatteten Instrumentensortiments der Bau- und Raumordnung32 etabliert werden konnte, die die spezifischen Wachstumsbedingungen architektonischer Realisierungen gezielt berücksichtigt und, insbesondere durch das Prinzip der „Beurteilung des Einzelfalls“33 den gesetzlichen Ordnungsraum entsprechend „freihält“.34 In dieser Rückwirkung auf die Anwendungspraxis der Bau- und Raumordnungsgesetze und sogar der Gesetzgebung selbst 35 liegt derjenige Aspekt ihrer sozialen Verfaßtheit, der Architektur in Vorarlberg zum „legislativen“ Medium und damit zu einer staatlich etablierten „Leitkultur“ werden läßt, die weit über das unmittelbare Bau- und Raumordnungsgeschehen hinaus in die Selbstkonstitution der Gesellschaft ausstrahlt.

Regionale Baurechtskulturen

Es ist vor allem das Instrument des Bebauungsplans36 und seine Anwendung in der Planungs- und Genehmigungspraxis der kommunalen Baubehörden, die die Eigenständigkeit der Vorarlberger Situation37 vor allem gegenüber der baubehördlichen Praxis im benachbarten Deutschland markiert.38 Bür32 „Seit der Anfangszeit gibts Bebauungsplan, gibts Teilbebauungspläne, (...) die Instrumente sind alle da, sind gesetzlich verankert, oder. Man kann sie anwenden“ (HK: Z 840 ff). 33 „Es gibt vielleicht Situationen, wo es einfach gerechtfertigt ist, daß da zum Beispiel ein Satteldach (ist), (...) aber das in ein Planwerk zu gießen, und das zu reglementieren, ist schwierig“ (HK: Z 819 ff). Bemerkenswert erscheint hier, daß Kuess die Rechtfertigung des Satteldachs hervorhebt und nicht des Flachdachs. Offenbar, weil das Satteldach in der baulichen Landschaft Vorarlbergs das prägnantere ist, das zur Akzentsetzung geeigneter erscheint. Dies im Gegensatz zur Situation in Deutschland, wo das Satteldach die verordnete Normalform für das ländliche Bauen ist. Und: Die Verhandlung des Einzelfalls als Rechtsprinzip beinhaltet auch den Anspruch, geltendes Recht einer Verhandlung auszusetzen. 34 „Meistens sinds (...) Richtpläne. Also, daß man da ja nicht Entwicklungen, also daß man da nicht zuviel [regelt].“ (HK: Z 859 ff)

35 Vgl. Anm. 29 36 „Der Bebauungsplan kann (...) vernünftige Erschließungsformen, vernünftige Positionierung von Baukörpern vielleicht [vorgeben] und gewisse Dichtereglementierung, (...) daß man Struktur herbringt, aber baugestalterische Qualität läßt sich mit dem Bebauungsplan nicht erreichen. Dort greift viel eher das Instrument mit dem Gestaltungsbeirat und der sonstigen Beratung im Einzelfall“ (HK: Z 784 ff). 37 Einen zunächst überraschenden Aspekt dieser Situation, die Topographie des Berglandes als individualisierende Voraussetzung, erwähnt Bürgermeister Nußbaumer: „Man kann das nicht vereinheitlichen. Das kann man in der Ebene. Bei uns ist die Topographie bestimmend, oder die Landschaft. Einmal baut man am Hang, einmal ist der Hang so steil, einmal ist er so steil, einmal ist es eben... man kann hier nicht ein durchgehendes Bebauungskonzept machen, in dem alles so und so ausschauen muß. Das bringt eigentlich die Vielfalt der Architektur, da konnten sich die Architekten auch besser entfalten.“ (PN: Z 329 ff)

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germeister Peter Nußbaumer, selbst kommunale Genehmigungsinstanz39, verzichtet für seine Gemeinde bewußt auf dieses Instrument, um im Ortsbild „diesen Einheitsbrei“40 zu vermeiden und statt dessen „Qualität“ zu ermöglichen: „Es gibt keinen Bebauungsplan. (...) Es gibt Planungsrichtlinien für die Gemeinde, (...) aber die sind nicht bindend, es sind Planungsempfehlungen.“41 Bereits im vorangegangenen Abschnitt dieses Kapitels haben wir die „Verordnungskultur“ Deutschlands einer Vorarlberger „Verhandlungskultur“ gegenübergestellt, um die spezifischen baurechtlichen Voraussetzungen des Forschungsfeldes herausarbeiten zu können. Dem „eigenen Standpunkt zum Recht verhelfen“ zu können42, ist das Potential, das im Vorarlberger Baurecht durch die Praxis der Bauverhandlung angelegt ist. Die Verhinderung eines Neubaus durch Intervention eines Nachbarn, wie sie etwa Schmidinger verursacht43, markiert die Extremfolge einer solchen Verhandlung. Ein rechtsgültiger Bebauungsplan würde solche direkten Diskussionen unter Nachbarn von vornherein unterbinden, indem er die hier verhandelten Qualitäten vorwegnimmt und sie auf einer dem einzelnen Bürger unzugänglichen Gesetzesebene fixiert. Gerhard Gruber hatte unser Augenmerk neben dieser „staatsbürgerlichen“ Ebene auf Auswirkungen der spezifisch Vorarlberger Verhandlungskultur für die Verwaltungsebene gelenkt: „In Deutschland (...) da gibts Pläne, und fertig, und dann geht nix mehr. Und es ist völlig klar, was jeder darf. Und das ist hier nicht so.“44 Gruber zufolge entsteht aus dem Verzicht auf das präventive Regelungsinstrument Bebauungsplan neben dem gestalterischen45 38 Eine Abgrenzung gegenüber dem „großen Nachbarn“ Deutschland taucht in den Forschungsgesprächen an vielen Stellen auf. Von einer solchen gesellschaftlichen Wahrnehmung zu einer gezielten Förderung in Form gesetzlicher Rahmenbedingungen seitens des Staates ist es ein kleiner Schritt. Mit diesem Schritt wird aus der Abgrenzung eine gestaltete „Profilierung“, die etwa innerhalb einer (überregionalen/ internationalen) Standortkonkurrenz Sinn und ökonomischen Wert erhält. Peter Nußbaumer: „Das ist eigentlich das, was Vorarlberg so interessant macht, das Fehlen dieser Baurichtlinien. (...) Deshalb die hohe Qualität, bin ich der Meinung. Weil man bei uns sehr viel zuläßt. Man läßt fast alles zu.“ (PN: Z 319 ff) 39 Die Vorarlberger Bürgermeister als Genehmigungsbehörde erster Instanz (§ 50,1 Vlbg. Baugesetz) sind zentrale Schnittstelle in der Architektursozialisation. Es sind „Architekturlaien“, die für oder gegen Architektur in ihrem Gemeindegebiet entscheiden. Die deutsche Baurechtspraxis, ohne gesetzliche Grundlage (Bebauungsplan) kein Bauen zuzulassen, ersetzt die in Vorarlberg von Architektur eingenommene Rechtsposition durch Baugesetz.

40 PN: Z 530 ff 41 PN: Z 315 ff; Vgl. Anm. 58 42 WS 1: Z 911 ff 43 Vgl. den ersten Abschnitt dieses Kapitels. 44 GG: Z 681 ff 45 Arno Eugster, Bürgermeister Nußbaumer und Wolfgang Schmidinger erwähnen als Selbstverständlichkeit, daß die Positionierung des Hauses auf dem Grundstück Bestandteil des Entwurfs ist: „Wir haben dem Architekten alles freigestellt. Die ganze Wiese, das ganze Grundstück war frei, ich habe gesagt, ,wo willst du da bauen?‘ “ (ALE: Z 123 ff). Eine solche Voraussetzung verleiht jedem neuen Haus viel mehr Gewicht, als es ein Bauen innerhalb eines Bebauungsplans könnte, durch den die Bebauung bereits vorgedacht, das Erscheinen und die Erscheinung des neuen Hauses schon imaginiert und beschlossen ist. Nebenbei ist ein Ortswachstum auf diese Weise enger am baulichen Bestand orientiert. Erst ein Bebauungsplan kann in größerem Maßstab Regeln vorgeben, die zum gewachsenen Umfeld in Kontrast treten. 46 PN: Z 539 ff 47 Ebd.

Gestaltungsbeirat im Baugenehmigungsverfahren

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Verwaltungstechnische Folgen rechtlicher Freiräume

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auch ein rechtlicher Freiraum. Bürgermeister Nußbaumer definiert diesen als Chance für das Neue: „Und so lassen wir aber auch neue Dinge zu, wir sind so einfach offener.“46 Er sieht aber aus seiner Erfahrung als Genehmigungsinstanz auch die dem Freiraum entwachsenden verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, den Verzicht auf die „Möglichkeit, den Deckel zu zu machen“.47 Aus der geschilderten regionalen Baurechtspraxis entsteht ein für Vorarlberger Gemeindeverwaltungen typisches Dilemma. Gruber steuert zu dessen Beurteilung die Sichtweise des Sulzberger Bürgermeisters bei, zu dem er eine nahe Arbeitsbeziehung unterhält. Der Bürgermeister von Sulzberg hat anläßlich (...) von diesem Haus, das man da in die grüne Wiese gestellt hat und noch dazu ist es blau angestrichen worden, zu mir gesagt, er findet den Bürgermeisterberuf schön, „wenn es nur diese Bausachen nicht gäbe“. (...) Da gibts einfach so viele andere Dinge, die da mitentscheiden, daß das einfach sehr kompliziert wird. Daß, wenn der das dann ablehnt, der andere das als Kriegserklärung auffaßt und sagt „wieso ich nicht, und der andere hat dürfen.“ (...) Und da ist es wahnsinnig schwierig für den Bürgermeister. Er hat ja auch letztlich rechtlich keine Handhabe. Wenn jemand kommt und sagt, er will das Haus bauen, und er bringt einen guten Rechtsanwalt mit, da baut er das Haus dann auch. Da kann der Bürgermeister Bauinstanz sein, ob er will oder nicht, der andere baut das Haus.48

Dadurch, daß keine Bebauungspläne existieren, ist jedes Baugenehmigungsverfahren eine neue Verhandlung vom Nullpunkt an. Die gesetzliche Präfiguration des legalen Handlungsrahmens, diejenige Objektivität, die ein gesetzlich formulierter „Plan“ für das setzt, was in Grubers Worten „jeder darf“, entfällt. Durch die große soziale Nähe, die im Dorf herrscht, ist zudem die Möglichkeit einer rein sachlichen Beurteilung, die frei ist von persönlichen Rücksichten, verstellt. In einer Anekdote aus der Bauzeit seines Hauses illustriert Arno Eugster den Versuch des früheren Langenegger Bürgermeisters, nachbarschaftliche Anteilnahme an den Anstrengungen des Häuslebauers und seine amtliche Rolle, ebendiese Handlungen zu bewerten und Abweichungen zu sanktionieren hat, zu verbinden. Als ich die roten Latten montiert habe, ist der damalige Bürgermeister jeden Tag vorbeigegangen, am Morgen, am Mittag, auf dem Weg zur Arbeit im Gemeindeamt, und hat mit mir geredet, ob ich es recht streng hätte und so weiter. Und der Abbruchbescheid ist dann per Post gekommen, als alles fertig war, als der letzte Nagel eingeschlagen war.49

Peter Nußbaumer ist Nachfolger jenes Bürgermeisters, der die Fertigstellung von Eugsters rotem Haus durch einen Abbruchbescheid quittiert hatte. Er schildert die Erschütterung der Bewertungsautorität, die die traditionellen dörflichen Eliten als psychologische Folge jenes „Mordswirbels“ erfahren hatten: „In der Folge hat das Haus (...) den Staatspreis für Architektur bekommen. (...) Das war wie eine Wa... eine Ohrfeige für den Bauausschuß, und seit diesem Zeitpunkt gabs mit der Besetzung immer etwas Probleme.“50 In seiner eigenen Genehmigungspraxis zieht er Konsequenzen aus jener „Ohrfeige“, die sein Vorgänger erhalten hatte, indem er die dörflichen Institutionen der Bauverwaltung stufenweise umbaut. Zunächst holt er einen

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Architekten in den ansonsten durch örtliche Handwerker und Landwirte besetzten Bauausschuß, ein Zwischenstadium, das die traditionellen dörflichen stake holders faktisch entmündigt. Jeder hat zuerst geschaut, was sagt jetzt der Architekt, weil der es ja gelernt hat, und der Architekt hat gesagt, ja das ist gut, das ist schlecht (...) und hat das begründet (...). Aber die anderen Teilnehmer, die Nichtkenner, sehen das immer anders: „Ein großer Balkon ist etwas Schönes und ein großes Vordach ist etwas Schönes...“ Und er hat dann in seiner Argumentation die Entscheidung immer zu seinen Gunsten (...) auslegen können. (...) Das war auch der Grund, warum man ihn [den Bauausschuß] ’95 abgeschafft hat. (...) Also, wenn jemand ein fundiertes Studium hat, (...) dann sollte man dem vertrauen.51

Langenegger Bausachen sind seither „ausschließlich Angelegenheit des Bürgermeisters“.52 Zur fachlichen Beurteilung zieht Nußbaumer einen Architekten seines Vertrauens hinzu, der damit die Rolle eines Gestaltungsbeirats einnimmt. Das Duo Bürgermeister/Gestaltungsbeirat ersetzt nun den kommunalen Bauausschuß. Die traditionellen dörflichen Anspruchsgruppen sind damit ihrer angestammten Gestaltungsmacht enthoben. Die Orientierung des Dorfes wandelt sich in diesem Prozeß, es orientiert sich nun nicht mehr nach innen, sondern nach außen. Jonathan Crary beschreibt diesen Vorgang als gesellschaftliche „Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit“53 und stellt die sich im neunzehnten Jahrhundert entwickelnde Gestaltungskraft des Kapitalismus als zentralen Antrieb dar. Die festgestellte Ökonomisierung des ländlichen Raumes durch architektonische Ästhetisierung ist derjenige Indikator, der erlaubt, Crarys umfassend auf die Wahrnehmungskultur der Moderne bezogene Feststellung auf unser Forschungsfeld anzuwenden.54 Bürgermeister Nußbaumer hat für sein Dorf den architektonischen Fachdiskurs zur ausschlaggebenden Bewertungsebene erhoben, auf der die Weichen zur Weiterentwicklung des Ortsbildes gestellt werden.55 Die Diskussio48 GG: Z 657 ff Bürgermeister Nußbaumer bestätigt Grubers Feststellung: „Ich kann ein Bauwerk nicht verhindern allein aufgrund seiner Gestaltung, ich kann es verzögern, das Bauwerk kann ich nicht verhindern, weil uns eben dieser rechtliche Bebauungsplan fehlt.“ (PN: Z 355 ff) 49 ALE: Z 280 ff 50 PN: Z 444 ff 51 PN: Z 461 ff 52 PN: Z 279 ff 53 Crary, S. 65. Ebd. zitiert der Autor auch Max Webers „innere Vereinsamung des Individuums als Grundlage des Kapitalismus“. 54 Skript Wohnbauforum III/2004 dokumentiert eine anders, nämlich sozial, gelagerte Programmatik fachlicher Beiräte, die Grundstücksbeiräte Wiener Baugenehmigungsbehörden. Architekt Johannes Kaufmann grenzt diese Praxis in seinem Diskussionsbei-

trag gegen die architektentypischen Kriterien der Vorarlberger Gestaltungsbeiträge ab, deren Beurteilung „oft nicht über die Fassade und die städtebauliche Situation hinausgeht“. S. 54 55 Die architektonische Qualitätssicherung an sich steht für Bürgermeister Nußbaumer außer Frage. Er blickt für die Gemeinde Langenegg auf einen zwanzigjährigen Lernprozeß zurück. Öffentliche Bauten werden als Wettbewerb unter regionalen Architekturbüros ausgeschrieben (PN: Z 48 ff). Es ist also keineswegs ein Schritt ins Unbekannte, der mit der Auslobung eines Wettbewerbs getan wird. Im Gegenteil erwartet die Gemeinde, daß von den Architekten bewährte Qualitätsarbeit geleistet wird. Die räumliche Nähe zu den beteiligten Architekten ist hier Qualitätsausweis für diese, repräsentiert das in jahrelanger Zusammenarbeit gewachsene Vertrauen. Der Wettbewerbssieger der Langenegger Gemeindebauten etwa stammt selbst aus Langenegg.

Soziale Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit

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Ziviltechniker als Verwaltungshelfer

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nen finden nun im Kurzschluß zwischen „Fachleuten“ statt:56 „Das muß ein Architekt mit dem Architekten ausmachen.“57 Auch die Gestaltungsrichtlinien der Gemeinde Langenegg empfehlen potentiellen Bauwerbern ausdrücklich, sich an den Preisträgern der regionalen Architekturpreise zu orientieren.58 Ebenso wie der Bestellung von Architekten zu Gestaltungsbeiräten aus der Sicht ländlicher Bürgermeister, wohnt auch der Empfehlung der Landesraumplanungsstelle, die die Bürgermeister eben darin bestärkt, eine verwaltungstechnische Logik inne. Daß gerade Architekten geeignet erscheinen, Landes- und Kommunalbehörden bei ihrer Beratungs-, Beurteilungs- und Planungstätigkeit zu entlasten, fußt gerade in Österreich auf ihrer besonderen Rechtsstellung als staatlich befugte und vereidigte Ziviltechniker, einem Berufsstand, der im neunzehnten Jahrhundert mittels Privilegien nah an der staatlichen Verwaltung positioniert und als „Verwaltungshelfer“ eingesetzt worden war.59 Ein Nebeneffekt dieser Nähe, die zwischen den Beamten der Raumplanungsstelle und den freiberuflichen Architekten auf der personellen Beziehungsebene sowie der Nähe zwischen behördlicher Definition von Architektur und dem innerfachlichen Avantgarde-Diskurs auf der formalen Bewertungsebene herrscht, ist darin zu sehen, daß gleichzeitig der kollegialen Liberalität innerhalb der Vorarlberger Architektenschaft, die noch vor kurzem auch nichtakademische, dem handwerklichen Milieu entstammende Planer als ihresgleichen anerkannt hatte60, entgegengesteuert wird: In der fachlichen Konfrontation zwischen Gestaltungsbeirat und vom Bauherrn beauftragten Planfertiger, die der Vorgang der Baugenehmigung schafft, sitzt immer der „befugte und beeidete“ Architekt auf seiten der Baubehörde und befindet gegebenenfalls über den Entwurf eines „nicht beeideten“ Berufskollegen, nie umgekehrt.61 Mit dem neugeschaffenen sozialen Privileg, das die Berufung in einen Gestaltungsbeirat gewährt, rekonstituiert die staatliche Bauverwaltung die 56 Solche Konflikte zwischen Architekten, die im Genehmigungsverfahren konträre institutionelle Positionen einnehmen, dokumentiert etwa Skript Wohnbauforum III/2004 im Diskussionsbeitrag des Architekten Philipp Lutz: „Der Gestaltungsbeirat hat uns dann doch das oberste Geschoss abgerissen. (...) Seither steht die Planung still.“ S. 50 57 PN: Z 541 ff 58 „Planungsempfehlung für Neu- und Umbauten von Objekten in der Gemeinde Langenegg: Das Ortsbild des Bregenzerwaldes ist geprägt von einfachen und klar strukturierten Baukörpern, die, auf einem rechteckigen Grundriss aufbauend, alle erforderlichen Räumlichkeiten und Funktionen unter einem Dach, bei durchlaufendem First und durchlaufenden Trauflinien beinhalten. Es sollte möglich sein, innerhalb einer solchen Baukörperhülle sämtliche Raumanforderungen für Wohnen, Freizeit, Garagieren usw. ein-

schließlich der überdeckten Freiräume wie Schopf, Veranda, Wintergarten oder dergleichen unterzubringen und so möglichst auf auskragende und auswuchernde Bauteile wie Balkon, Erker, große Dachgauben oder Kreuzgiebel zu verzichten. Bei Einsatz von Holz als Bau- oder Fassadenmaterial sollte ein klares Bekenntnis zur traditionellen Bregenzerwälder Holzarchitektur erkennbar sein und nicht nur zur ,Behübschung‘ von Teilfassaden dienen. Gute Beispiele für disziplinierte Zurückhaltung in architektonischen Belangen hat es gegeben und gibt es neuerdings wieder vermehrt – siehe Holzbaupreisträger. Den Bauherren wird empfohlen, sich vor den Planungsarbeiten mit den diversen ausgezeichneten Wohnobjekten der Talschaft und dessen Wohnkultur auseinanderzusetzen. Langenegg, 4. Februar 2002; Der Bürgermeister: Peter Nußbaumer“

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ursprüngliche Hierarchie zwischen den Planern akademischer und solchen nichtakademischer Herkunft, die durch die „Vorarlberger Baukünstler“ zeitweise unterlaufen worden war.62 Nicht zu unterschätzen ist in diesem Rekonstituierungsakt, den der Staat an der gesellschaftlichen Position seines siegeltragenden Architektenstandes vornimmt, der Aspekt, daß mit dem neugeschaffenen Privileg und der hierdurch neugeknüpften Loyalität gleichzeitig ein „blinder Fleck“ in der Wahrnehmung der Privilegierten verankert wird.63 Der Staat neutralisiert mit der erneuerten Nobilitierung der Architekten das Aufsässigkeitspotential, das die politisierte Architektengeneration, die in Vorarlberg zu Beginn der 1980er Jahre auftritt, einerseits in die Gesellschaft und andererseits in die Beamtenschaft der Baubehörde hineinzutragen droht. Wir haben bis hierher die Institution Gestaltungsbeirat, vor allem den Umstand, daß sie in Vorarlberg in einzigartigem Umfang etabliert werden konnte, aus der Sicht einer staatlichen Verwaltungslogik beobachtet. Kuess führt den Erfolg dieser Institution daneben auf einen Wandel in der gesellschaftlichen Positionierung der Architekten zurück, der zeitlich mit der Bildung der ersten Gestaltungsbeiräte im Land zusammenfällt. Das hängt einfach damit zusammen, (...) daß der Architekt, (...) ein ganz anderes Rollenbild auch in der Gesellschaft bekommen hat; wir als Baukünstler damals haben auch ein anderes Rollenbild, Rollen- also Berufsbild vertreten, im Prinzip. Das ist nicht der abgehobene Architekt, so im üblichen Sinn, so der Porsche-fahrende Architekt, sondern ein ganz normaler, wie soll ich sagen, Dienstleister, der einfach gewisse Dinge für alle Bevölkerungsschichten, nicht nur für gewisse Bevölkerungsschichten an und für sich bearbeiten kann. Was jetzt das Wohnen betrifft vor allem.64

Sein Begriff „Rollenbild“ bezeichnet sehr genau, daß der angesprochene Wandel nicht die Rolle verändert, wie sie das Selbstbild des Architekten definiert, sondern ihr gesellschaftliches Bild, wozu ihre Akzeptanz ebenso 59 „Im Zuge der Reform der Staatsverwaltung im neunzehnten Jahrhundert wurden Ziviltechniker zur Entlastung der Verwaltung als Verwaltungshelfer (...) herangezogen, ohne dabei ein Staatsorgan zu sein. (...) Mit dieser Regelung wurden die Ziviltechniker aufgrund ihrer Urkundsbefugnisse umfassend privilegiert. Alle von ihnen im Rahmen ihrer Berufsausübung ausgefertigten Gutachten, Berechnungen, Pläne und Zeugnisse galten als öffentliche Urkunden. Aufgrund ihrer Planungen konnten Baubewilligungen ohne weitere behördliche Prüfung erteilt werden.“ (www.wikipedia.org „Ziviltechniker“,Stand 20.04.2010) Zwar ist seit der Novellierung des Ziviltechnikergesetzes 1993 das Beurkundungsrecht auf „Wissensund Beweisurkunden“ beschränkt, der äußeren Form nach repräsentieren Ziviltechniker aber weiterhin, etwa durch das Privileg, das Staatswappen zu führen und den Umstand, die „Befolgung der Gesetze“ beeidet zu haben, ihren Staat in weit höherem Maß als etwa der Architektenstand Deutschlands.

Vgl. auch: Themenschwerpunkt „150 Jahre Berufsstand der Ziviltechniker in Österreich“ in: Konstruktiv 277, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten April 2010, S. 7 ff 60 Explizit erwähnt Kapfinger (2003, S. 11) Rudolf Wäger. Im Kreis der Gesprächspartner der vorliegenden Studie repräsentieren Norbert Mittersteiner und Bertram Dragaschnig den Typ des Planers, der aus dem Handwerk stammt. 61 Vgl. Raspotnig (2007), S. 190 ff: „Liste der Beiratsmitglieder nach Namen“. Die Liste führt die akademischen Titel der Beiräte auf und zeigt, daß das Prinzip, ausschließlich Architekten das Privileg einer Berufung zuzuerkennen, konsequent verwirklicht wurde: Lediglich fünf Prozent der nahezu dreihundert Genannten tragen neben dem obligatorischen Dipl. Ing. bzw. Mag. arch. keinen Architekten- oder Bauratstitel. Nichtakademiker fehlen vollständig. 62 Zum „Befugnisstreit“ von 1983/84 vgl. Kapfinger (1992), S. 5; ders. (2003), S. 15

Rekonstitution der Planerhierarchie

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gehört wie die angesprochene Positionierung gegenüber Bürgern und Staat.65 Um das „Erfolgsmodell Gestaltungsbeirat“ auf der gesellschaftlichen Ebene zu verstehen, rekapitulieren wir die bisher festgestellten Inhalte dieser Rolle, das Selbstbild der Architekten von ihrer beruflichen „Bestimmung“ also, um anschließend Kuess´ Befund zu interpretieren, daß diese Rolle im Vorarlberg der 1980er Jahre „für alle Bevölkerungsschichten“ Akzeptanz finde. Der Architekt findet als Gestaltungsbeirat zu seiner eigentlichen Bestimmung

Gerhard Gruber hat in unserem Gespräch über seine Tätigkeit in Thal seine Rolle mit einer „Dienstleistung für Gestaltung“66 umrissen. Architektonische Gestaltung gibt den Abläufen des Lebens und seinen Dingen Gestalt. Durch die Parallelsetzung von Architektur und Religion haben wir gezeigt, daß mit dieser Gestaltung als Architektur gleichzeitig eine soziale Sinnstiftung verbunden ist, zu der die Bezugnahme auf das historische Archiv der legitimen 63 Der Staat dokumentiert sein Interesse an einem loyalen Architektenstand durch die Ziviltechnikerprivilegien und bestätigt hierdurch gleichzeitig die soziale Wirkmacht von Architektur. Ein wiederkehrendes Motiv in den Forschungsgesprächen der vorliegenden Studie sind fünfzehn bis zwanzig Jahre zurückliegende Konflikte mit den Baubehörden aufgrund von Architektenentwürfen für Häuser, die von den Bauherren im Sinne einer Auftragserfüllung akzeptiert, durch lokale Genehmigungsbehörden aber abgelehnt werden. Zwei Exkurse erschließen Aspekte der komplexen Beziehung zwischen Architektur und Staat auf dem Feld ihrer gemeinsamen Wirkmacht als gesellschaftsordnenden Institutionen. 1. Exkurs Architektur und Staat: Architektur als gesellschaftliches Gewissen Wolfgang Schmidinger gibt bei seinem Architekten den Entwurf für sein Wohnhaus unter der Maßgabe in Auftrag, daß der Entwurf zum vorhandenen elterlichen Wohnhaus mit seinem Tischlereianbau „passen“ soll. Die Entscheidung darüber, was paßt, „in der Form“, hat Schmidinger dem Architekten „völlig überlassen“ (WS 1: Z 1355). Dem Architektenentwurf, vom Bauherrn akzeptiert, wird seitens des dörflichen Bauausschuß jedoch zunächst die Baugenehmigung versagt. Die Schwierigkeiten, die Schmidinger daraus erwachsen, lastet dieser nicht dem Architekten an, sondern nimmt sie auf sich. In der darauffolgenden Auseinandersetzung setzt sich der Architektenentwurf schließlich durch. Der Fall läßt die rechtliche Position des Architekten ähnlich der eines Richters erscheinen. Indem der Architekt Träger des Staatswappens ist, ist seine „Unabhängigkeit“ als Bestandteil des Gemeinwohls legitimiert. In den totalitären Staatsapparaten Europas wurde Architektur, und damit der Architektenstand, im Sinn einer Staatsdoktrin eingesetzt. Weigerungen

von Architekten, sich dieser zu unterwerfen, zogen Berufsverbot nach sich. Was existiert in einem demokratisch verfaßten Staat, der sein Wappen den Architekten anvertraut, anstelle einer solchen Staatsdoktrin? Wie erfüllt der Architekt seine Pflicht gegenüber seinem Staat, vor allem in Fällen, wo er Konflikte mit Behörden provoziert? Der vorliegende Fall und seine Wiederkehr in den Forschungsgesprächen stellt das fachliche Urteil der Architekten als Kontrollinstanz gegenüber lokalen staatlichen Institutionen dar. Der Staat schafft mit dem Architekenstand ein „unabhängiges“, durch Kunst legitimiertes Organ mit erheblicher Gestaltungsmacht. Die soziale Position, die Architektur in Vorarlberg innehat, zeigt, daß sogar Baugesetze gegebenenfalls den Erfordernissen von Architektur anzupassen sind. 2. Exkurs Architektur und Staat: Architektur ignoriert den politischen Kontext ihres Einsatzes Architekten erscheinen durch die historisch entwickelte Struktur ihrer Ausbildung als „Ausdrucksspezialisten“. Ähnlich „kreativ“ definierte Berufssparten bieten eine vergleichbare Kompetenzstruktur im Werbetexter, der, sofern im politischen Kontext eingesetzt, gegebenenfalls den Text einer Protestparole formuliert. Den Inhalt des Protests verantwortet er ausdrücklich nicht. Darin sind beide eindeutig Dienstleister und nicht etwa Künstler, da sie nicht im eigenen Auftrag, auch nicht auf eigenes Risiko, handeln und den interessensgeleiteten Einsatz ihrer Erzeugnisse nicht selbst verantworten. Nur mittels solcher Identitätskonstruktionen konnten Architekten „mit reiner Weste“ durch das Dritte Reich gehen. Ernst Neufert (vgl. Architektur als Ordnung im Kapitel Architektur?) und Alwin Seifert (vgl. Holzbau und Massivbau im Kapitel Holz) wurden beispielhaft vorgestellt. Im Konvolut der Forschungsgespräche bestätigt Gunter

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Werke legitimiert.67 Die Institution Akademie hat dieses Selbstbild der Architektur seit dem neunzehnten Jahrhundert durch die Etablierung einer Ausbildung „professionalisierter Entwerfer“68 zu einem Berufsbild verfestigt und gleichzeitig die formalistische Ausrichtung dieses „Entwurfs“ fixiert. Eine gesteigerte gesellschaftliche Akzeptanz dieser Rolle stellt Kuess vor allem darin fest, daß der Architekt nunmehr „gewisse Dinge für alle Bevölkerungsschichten, nicht nur für gewisse Bevölkerungsschichten“69 zu bieten habe. Der Bedarf an Gestaltung, die Repräsentation durch Architektur, dehnt sich demzufolge in den 1980er Jahren von seiner bisherigen Beschränkung auf die oberen auf die mittleren Bevölkerungsschichten aus. In unserer Untersuchung der Ursachen jenes Wandels, dem der ländliche Raum in diesem Zeitraum unterliegt, haben wir festgestellt, daß die Wohlstandsentwicklung, flankiert durch eine gesteigerte individuelle Mobilität, nunmehr ebenjenen Wratzfelds Haltung, die Vorarlberger Südtirolersiedlungen unter rein städtebaulichen Aspekten zu bewerten, diese Trennung der Architekturform von ihrer politischen Präfiguration. Eine systematische Blindheit gegenüber dem übergeordneten ideologischen Kontext, in dem Architekturform als politische Aussage und als gesellschaftliches Ordnungsmittel wirksam ist, erscheint charakteristisch für die professionelle Wahrnehmung des Architektenstands zu sein. In Gesprächen mit prominenten Vorarlberger Architekten gehört etwa die Diskussion von Gefängnisbauten totalitärer Regime noch heute zu den zitierbaren Referenzen faszinierender Typologien. Achleitners Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert würdigt die Bauten des Konzentrationslagers Mauthausen so ausführlich, daß dies als implizite Darstellung der systematischen politischen Indifferenz von Architektur gelesen werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ablehnung des „Adlers“ seitens der Vorarlberger Baukünstler als gezielte Ablehnung der Zuweisung einer solchen politisch indifferenten Dienstleisterrolle. Statt der Rolle des „Texters“ wird nun die Rolle des Protestierenden gewählt, der gegen herrschende politische Verhältnisse kämpft und sich der Allianz aus Bauträgern, in der Ästhetik des Nationalsozialismus verharrenden Genehmigungsbeamten und „befugten“ Architekten entgegenstellt, die in den Augen der jungen Hochschulabsolventen eine gesellschaftliche Unfreiheit Vorarlbergs verkörpert, die bis in die 1980er Jahre reicht. Das Mittel hierzu ist, eine „Bürgerarchitektur“ gegen die staatlich institutionalisierte zu setzen, im konkreten Fall die Siedlung Im Fang gegen die Achsiedlung. Letztere erscheint in der Gegenüberstellung, die uns der Blickwinkel der beteiligten Akteure bietet, als neue „Südtirolersiedlung“, als neues entindividualisierendes Ghetto. (Vgl. Architektur als Ordnung, Kapitel Architektur?)

Die Siedlung Im Fang gewinnt dem architektonischen Ordnungsprinzip des Rasters und derjenigen Maßordnung, die auch der Achsiedlung zugrundeliegt, den gegenteiligen gesellschaftlichen Effekt, Resozialisierung statt Desozialisierung, ab. Raster und Maßordnung sind hier mit anderen Mitteln und gegensätzlicher Zielsetzung eingesetzt, um nunmehr den Bewohnern Flexibilität zu gewähren. 64 HK: Z 81 ff 65 Der prominente Vorarlberger Architekt Dietmar Eberle hält sich in seinem Vortrag im Bregenzer Kunsthaus (17. 03.2005) noch die „kämpferische“ Haltung gegenüber staatlichenBehörden zugute, „nie“ eine Baugenehmigung erhalten zu haben. Diese die 1980er Jahre kennzeichnende, gegen einen unterstellten Konservatismus der lokalen Genehmigungsautoritäten gerichtete Haltung der Architekten ist mittlerweile vollständig aufgehoben. Speziell die jüngeren Architekten des Landes pflegen ein gezielt kooperatives Verhältnis zu den Bürgermeistern ländlicher Gemeinden, wie es auch Gestaltungsbeiräte auszeichnet. Indem der Architekt als Gestaltungsbeirat von der Gemeinde bezahlt wird, ist die traditionelle Gegnerschaft zwischen Architekt und Baubehörde außer Kraft gesetzt. (HK: Z 593 ff) Die in einigen Vorarlberger Gemeinden praktizierte Weiterverrechnung dieser Aufwandsentschädigung an den Bauwerber geht noch einen Schritt weiter: Als amtliche Gebühr wird die Arbeit des Gestaltungsbeirats damit zum integralen Bestandteil des behördlichen Genehmigungsverfahrens. 66 GG Z: 897 f 67 Vgl. Abschnitt Strukturen des Gemeinschaftslebens dieses Kapitels 68 Delitz, S. 26: „Akademisierung der Architektur“ und ihre „Ausrichtung auf das Neue“. 69 HK: Z 79 ff 70 Eisinger, S. 76 71 Walter Fink (2005)

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Abwesenheit von Architektur im Einfamilienhausbau

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mittleren Bevölkerungsschichten erstmals erlaubt, auf den kostengünstigen Baugründen der ländlichen Gemeinden „Eigenheime“ zu errichten.70 Diese Stadtflucht, die eine Massenbewegung aus der städtischen Mietwohnung ins Wohneigentum ist, führt zu einem explosionsartigen Anwachsen ländlicher Siedlungen. Eine solche Parallelsetzung stellt dem vermehrten Bedarf an Architektur die exorbitante Vermehrung des Bauherrenanteils in der Bevölkerung im betrachteten Zeitraum gegenüber, benötigt also zunächst, um plausibel zu sein, keine Unterstützung in einem qualitativen Wandel, der Unterstellung vermehrter Einsicht oder erhöhtem Bildungsgrad innerhalb der Gesellschaft, eher im Gegenteil: Der Zugriff, den die Bauindustrie auf die neue gesellschaftliche Gruppe der Bauherren aus der Mittelklasse ausübt, droht, die bis dahin durch eine traditionelle agrarische Lebensform geordnete und aus dieser heraus kultivierte ländliche Baupraxis in das Abbild einer Warenwelt zu verwandeln. Kuess stellt der publizistischen Darstellung, bis zu dreißig Prozent der Vorarlberger Bauherren beauftragten mittlerweile Architekten71, seine aus der Tätigkeit als Gestaltungsbeirat gewonnene Erfahrung entgegen. Geschätzte fünfundneunzig Prozent (...) sind Nichtarchitekten-Planungen im Einfamilienhausbau. Da geistern ja ganz andere Zahlen herum. Also, hundert Prozent? Nein, sondern, sondern daß Vorarlberg da eine Sonderstellung, (...) daß da bei dreißig Prozent der Bauvorhaben Architekten beteiligt sind. Nein, nein, stimmt nicht. Beim Einfamilienhausbau? Stimmt überhaupt nicht. (...) Naa. Großteile sind diese Fertighaus-, (...) LENO, (...) ELK und das Zeug. Und halt Eigenplanungen. (...) Mhm, aha, ok, Fertighäuser, und wie hoch würdest Du den Anteil an Fertighäusern ungefähr einschätzen? Fünfzig. Fünfzig Prozent der Baueingaben sindIch mein, Fertighäuser, der Begriff ist nicht ganz korrekt, (...) also diese Stangenware, oder; Fertighäuser in dem Sinn, also, kein Fertigteilsystem, Bausystem, sondern Schubladen-, Schubladenplanungen. Ähm, von Firmen, die halt dann das ganze Haus liefern, oder? Ja, LENO, ELK, oder WOLF, oder wie halt die Firmen heißen.72

Die Reaktion der staatlichen Bauverwaltung auf das sprunghafte Anwachsen des Bauherrenanteils in der Bevölkerung haben wir eingangs, dem historischen Zentraldirigismus gegenübergestellt, bereits als „dirigistisch“ charakterisiert. Die neugeschaffenen gesetzlichen und institutionellen Instrumente 72 HK: Z 295 ff; Kuess’ Begriff „Eigenplanungen“ bezeichnet eine Besonderheit des Vorarlberger Baurechts. Hier reicht der Bauherr den Plan zur Genehmigung ein, nicht der Architekt als „Planvorlageberechtigter“, wie etwa in Deutschland. Damit ist der Architekt von vorneherein in die Rolle des freiwillig hinzugezogenen Planers gestellt und nicht in die des von Amts wegen zu beteiligenden „Befugten“. 73 „Der Gestaltungsbeirat ist kein Affront, ist kein Behinderungsinstrument, sondern im Gegenteil, soll

ein Instrument sein, das die Prozesse des Bauens, oder der Planung einfach, konstruktiv unterstützt, und damit auch effizienter macht.“ (HK: Z 257 ff) 74 HK: Z 56 ff 75 „Es geht immer über die Gemeinde, (...) nie den Weg direkt zum Bauherrn, (...) Gemeinde ist unser Auftraggeber, dort kriegen wir unsere Informationen. Wenn der Bauherr das wünscht, muß es bei der Gemeinde stattfinden, Sitzungstermin bei der Gemeinde.“ (HK: Z 612 ff)

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unterstützen zwei staatlicherseits formulierte Entwicklungsziele: Das vermehrte private Bauen räumlich zu kanalisieren sowie die architektonische Ästhetisierung als visualisierte Modernisierung zugunsten einer global orientierten Standortentwicklung voranzutreiben. Der dem Architektenstand historisch implantierte Rollenbestandteil, als Ziviltechniker verlängerter Arm des Staates zu sein, wird zur Durchsetzung dieser Ziele aktiviert.73 Kuess erläutert: Daß unsere Dienstleistung sozusagen, was Gestaltung betrifft, der Umwelt, oder der Objekte überhaupt, (...) daß man da eine gewisse Wertschätzung (...) von Seiten der Behörden auch, empfunden hat, und somit war diese, diese Art der Beratung, der Dienstleistung, die wir angeboten haben, hat auf einmal etwas bedeutet.74

Inhaltlich findet der Architekt als Gestaltungsbeirat das räumlich größtmögliche Verwirklichungsfeld seines Selbstbildes. Die Aufgabe Orts- und Landschaftsbild, als Metaarchitektur verstanden, rückt die gesamte Landesfläche als Gestaltungsraum in seinen Blick. Dieser Blick ist ein durch den institutionellen „Fachdiskurs“ disziplinierter, ein auf das Ästhetische gebündelter Blick. Institutionell gesehen, wechselt der Architekt zur Bearbeitung der Metaarchitektur Orts- und Landschaftsbild die „Fronten“, indem er vom Anwalt des Bauherrn zum „Staatsanwalt“75 wird.76 Sein Selbstbild erlaubt jedoch, Architektur, als historisch legitimiertes Gestaltgesetz77 verstanden, dem sozialen Effekt nach als „fortschrittlich“ zu interpretieren, die totalitäre Wirkung, die das Ziel einer flächendeckenden, alle Lebensbereiche umfassenden Ästhetisierung gegenüber den Ansprüchen individueller Gestaltungsfreiheit ausübt, durch ihren „aufklärerischen“ Zweck zu neutralisieren und damit mit dem „gesellschaftlichen Auftrag“ seines Berufsstandes78 in Einklang zu bringen. Kuess mildert den sich aufdrängenden Eindruck eines Formdiktats zunächst ab, indem er solche Kriterien anführt, die die formale Vielfalt fördern, Kriterien, die in seinem Wirkungsbereich zur Beurteilung des Einzelfalls 76 Peter Ramsauer, deutscher Bundesminister für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung: „Als Architekten und Ingenieure gestalten Sie zentrale Bereiche unseres Zusammenlebens. Ihre Arbeit ist in bestem Sinne systemrelevant für die Zukunft unserer Städte und Regionen...“ In: Editorial Baukultur, Zeitschrift des DAI/ Verband Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine e.V., Ausgabe 2 /2010, S. 3 77 „Der erste Gang mit einem Bauvorhaben, wenn so ein Bauvorhaben auf den Tisch kommt, wo liegt das, was steht da im Richtplan drin, (...) dann tun wir das beurteilen, ob das zusammenpaßt, oder obs halt gerechtfertigt ist, zum Beispiel diesen Richtplan in diesem Punkt nicht einzuhalten, je nachdem wird das dann beurteilt. Einzelfall.“ (HK: Z 387 ff) Das Prinzip der Einzelfallbeurteilung, wie Kuess es hier interpretiert, ist in gewisser Weise dem Prinzip der Gestaltregelung über den Bebauungsplan entgegengesetzt. Stärker noch: drückt Mißtrauen gegen-

über dem generellen Gültigkeitsanspruch solcher Instrumente aus oder sogar die gewachsene Erfahrung ihrer Unbrauchbarkeit. In der Einzelfallbeurteilung steht jedesmal der übergreifende Richtplan auf dem Prüfstand. Das (im Fall des Richtplans vermiedene) Gesetz wird hierbei an Architektur geprüft, Architektur damit zur übergeordneten Instanz, vergleichbar einer Verfassung. Dies stützt den Befund, Architektur als „legislatives“ Medium zu interpretieren. 78 „Der Architekt ist mit diesem umfangreichen Aufgabenspektrum in hohem Maße der Gesellschaft verpflichtet. Er steht im Schnittpunkt der Wünsche und Forderungen seiner Bauherren und der Gesellschaft. Diese miteinander zu vereinbaren und die jeweils beste Lösung zu finden, ist der Anspruch, der an Architekten im Alltag gestellt wird.“ Architektenkammer Nordrhein-Westfalen, 1997, zit. nach Rambow, S. 12

Orts- und Landschaftsbild als Metaarchitektur

Ordnungsbegriff der Gestaltungsbeiräte

Heterogenität als Ordnungsideal

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Zwischenmenschliche und ästhetische Nachbarschaft

Der ästhetische Blick vereinzelt seine Objekte

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herangezogen werden. Gegenüber einem homogenen, in Deutschland vor allem durch Bebauungspläne etablierten Ordnungsbegriff von Einheitlichkeit, „das ist die niedrigste Stufe des Ordnungsbegriffs, glaub ich“79, betont Kuess eine Heterogenität als „höheres“ Ordnungsideal der Vorarlberger Gestaltungsbeiräte: „Das hat man bei uns schon früh so gehandhabt, daß (...) einfach auch diese Gegensätzlichkeiten eine Qualität ausmachen.“80 Scharf trennt Kuess dabei jedoch diesen Ordnungsbegriff, der auf Heterogenität beruht, gegenüber einer liberalen Akzeptanz des Unterschiedlichen ab, die einem unvermittelten Nebeneinander verschiedener Baugestalten mit Toleranz begegnet. Der wichtigste Grund für die Berufung eines Gestaltungsbeirats liegt für ihn darin, der kommunalen Baubehörde ein Gremium zur Seite zu stellen, das zu beurteilen imstande ist, was das neue Objekt „bedeutet“ und wie es sich „diesbezüglich, in dem ganzen Kontext (...) verhält, (...) zum Umfeld, zur Nachbarschaft. (...) Paßt das in dieses Orts- und Landschaftsbild? Wobei das eben die Frage ist, was ist das Orts- und Landschaftsbild, wie definiert sich das.“81 Kuess’ Erläuterung macht deutlich, daß der auf Ästhetik fixierte Blick, den die Gestaltungsbeiräte der Baubehörde inkorporieren, soziale Begriffe wie Nachbarschaft, die bisher das zwischenmenschliche Verhältnis nebeneinander wohnender Familien geregelt haben, zu einer ästhetischen Kategorie umdeuten, ein Vorgang, den wir im vorangegangenen Abschnitt bereits an Schmidingers Begriff Ensemble beobachten konnten. Während die zwischenmenschlich definierte Nachbarschaft noch Sache der unmittelbar Beteiligten war, ihre Qualität vor allem Ergebnis von deren Kommunikation untereinander und damit Indikator des Grades ihrer Gemeinschaftlichkeit, ist die ästhetische Nachbarschaft dem Urteil Dritter unterworfen. Das bildhaft wirksame Ensemble ist auf einer höheren Ebene zu verantworten, dergegenüber die Nachbarn selbst nunmehr als vereinzelte, voneinander getrennte Individuen positioniert sind.82 Konsequenterweise ist diese höhere Wahrnehmungsebene, die der ästhetische Blick einführt, dem dörflichen Beurteilungsrahmen, den Bauwerbern ebenso wie der kommunalen Baubebörde, zu entziehen, wie Kuess darlegt: „Gemeinden, oder Bürgermeister, oder Baubehörden, die, die das erkannt haben, daß das ein bißchen schwierig ist für sie, das zu beurteilen, sondern daß man da fachliche Kom79 HK: Z 816 ff 80 Ebd. 81 HK: Z 401 ff 82 Der Grad der Öffentlichkeit eines Bauprojekts ist maßgebend für den Gestaltungsbeirat, Beratung zu leisten. Aus der Vielzahl der von privaten Bauherren persönlich verantworteten Bauprojekten werden diejenigen mit möglichst großer öffentlicher Wirkung ausgewählt. Hierdurch wird autorisierte Gestalt in ein Umfeld eingefügt, das mit diesem Exempel gleichzeitig als gestaltmäßige Anarchie deklassiert wird. (HK: Z 213 ff)

83 HK: Z 413 ff 84 Der Umstand, daß Gestaltungsbeiräte die gesellschaftliche Position von „Gestaltern“ des Orts- und Landschaftsbilds einnehmen, wird als Vorarlberger Spezifikum dort besonders deutlich, wo vergleichbare Situationen aus dem Nachbarland dagegengehalten werden. Mein Gesprächspartner Peter Greußing, als Bauträger sowohl in Vorarlberg als auch im deutschen Bodenseeraum tätig, stellt einen solchen Vergleich am Beispiel eines eigenen Bauprojekts in der Stadt Ravensburg her, die als typisch auch für andere deut-

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petenz vielleicht braucht, die Gemeinden installieren sich auch Gestaltungsbeiräte. Das ist ja das Thema.“83 Kuess fährt fort, indem er eine weitere Dimension des Ordnungsbegriffs der Heterogenität erschließt, den Umstand, daß heterogene Ordnung als neue Qualität des Orts- und Landschaftsbildes nicht einfach „entsteht“, sondern autoritativ erzeugt wird, Produkt eines Gestaltungsvorgangs ist, an dem die Gestaltungsbeiräte einen wesentlichen Anteil haben.84 Wir haben diesen Aspekt einer aktiven Gestaltungsleistung durch die Gestaltungsbeiräte weiter oben bereits mit dem Begriff „Metaarchitektur“ gekennzeichnet. Das ist ja der zweite wesentliche Grund, (in der) Rechtfertigung, Argumentation für die Tätigkeit der Gestaltungsbeiräte, einfach auch zeitgenössische Architektur zu vermitteln, und möglich zu machen auch dadurch. Es geht ja nicht darum, daß man nur anpäßlerisch tätig ist, und daß man nur nichtauffallende Dinge integriert ins Ortsbild, es geht ja auch darum, im wesentlichen darum, daß man also zeitgenössische Aussagen zur Architektur, das auch unterstützen...85

Indem der Architekt als Gestaltungsbeirat zum Gestalter des Ortsbilds wird, vereinigt er den Widerspruch, als Zeitgenössischer Architekt auch Vertreter des Antikontextuellen zu sein, in seiner Person. Die fehlende Expressivität, die der Vorarlberger Architektur durch externe Kritiker bescheinigt wird, kann als Produkt dieser vereinigten Widersprüche interpretiert werden: der Architekt, in die Doppelrolle gestellt, für die Architektur des Einzelobjekts und gleichzeitig für den Kontext verantwortlich zu sein. Darüber hinaus konnte deutlich gemacht werden, daß das gesellschaftliche Projekt, die ensemblesprengende Wirkung antikontextueller Architekturen präventiv durch Einbindung von Architekten in eine verantwortliche Position als „Ortsbildgestalter“ zu verhindern, mit der Einführung des modernen86 Ordnungsbegriffs der Heterogenität auch die formalen Prinzipien, die dem Ortsbild nun zugrundegelegt werden, verändert hat. Neben der formalen Ebene enthält Kuess’ Feststellung, daß eine wichtige Funktion der Gestaltungsbeiräte die Popularisierung Zeitgenössischer Architektur sei, auch eine wirtschaftliche Komponente. Demzufolge berücksichtigt die festgestellte Ökonomisierung des ländlichen Raumes in Vorarlberg vitale Eigeninteressen des Berufsstands der Architekten. Das Vorarlberger Architekturwunder stellt sich aus dieser Sicht nicht allein als kulturelles, sondern sche Klein- und Mittelstädte gelten darf: „Da draussen heißt das nicht Gestaltungsbeirat, sondern da gibts irgendwie so einen Denkmalschutz, und da gibts einen, der das alles bestimmt.“ (PG: Z 743 ff) Der Denkmalschützer (oder Stadtheimatpfleger) tritt anstelle eines Gestaltungsbeirats in der Rolle des Stadtgestalters auf und damit anstelle freiberuflicher Architekten eine Behörde, die ihren gesellschaftlichen Auftrag in Konservierung und Rekonstruktion des historischen Bestandes sieht. Infolge dieser Positionsverschiebung der legalisierten Bauform auf andere Träger verschiebt sich in solchen Städten das

verfügbare architektonische Formvokabular vom avantgardistischen zum historistischen. 85 HK: Z 425 ff 86 Crary beschreibt das Aufkommen moderner Formen von Betrachtung und Aufmerksamkeit als Phänomen, das untrennbar ist vom gleichzeitig stattfindenden Wandel im Charakter des zu Betrachtenden, der Umwelt der Moderne. „Die Aufmerksamkeit kann im Sinne Hannah Arendts als eine Form des Sehens verstanden werden, die kompatibel damit ist, daß Austauschbarkeit und damit Relativierung den ,Wert‘ aller Gegenstände bestimmen.“ S. 51

Gestaltungsbeiräte ermöglichen Zeitgenössische Architektur

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Der Architekt zwischen Bauherren- und Behördenauftrag

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daneben als wirtschaftliches Phänomen dar. Dem Architektenstand ist in Vorarlberg ein Wirtschaftsraum geschaffen und als solcher gesetzlich geschützt worden. Seine Unabhängigkeit als Gutachter, anfangs durch strikte Vermeidung einer Verquickung von professioneller und bauamtlicher Rolle in derselben Gemeinde dokumentiert, sieht Kuess mittlerweile ungefährdet. Nein, das hab ich einmal so gehandhabt, auch, aber das hab ich wieder aufgegeben, weils einfach nicht möglich ist, in dem kleinen Raum. Ich bin zum Teil in fünf, sechs, sieben, acht Gestaltungsbeiräten beratend tätig, und diese Selbstbeschneidung, die hab ich also aufgegeben. Das führt zu nix, und ich glaub einfach, daß jeder Gestaltungsbeirat für sich selber so viel Kompetenz und, und, und Unabhängigkeit hat, (...) daß er (...) durch Auftragsverhältnisse sich nicht beeinflussen läßt. Davon gehen wir einfach aus. Und dann ist es auf jeden Fall so, oder.87

Gutachterrolle als Gestalterrolle

Der Wirtschaftsraum Vorarlberg mit seinen rund einhundert genehmigungsrechtlich souveränen88 Gemeinden ist zu klein, um architektenseitig auf Behörden bezogene Beratungsfunktion und auf Bauherren bezogene Auftragsverhältnisse zu trennen. Die Reaktion der Vorarlberger Gestaltungsbeiräte auf diese Situation, die Rollentrennung aufzuheben, kann, Kuess folgend, als Pragmatismus gewertet werden, der nicht realisierbare Idealverhältnisse als solche erkennt und durch praktizierbare Kompromisse ersetzt. Daneben bieten wir die Interpretationsmöglichkeit an, darin eine Bestätigung der Tatsache zu sehen, daß die Gutachterrolle bereits dadurch als Gestalterrolle präfiguriert ist, daß vitale Architekten sie ausfüllen. Wir haben bis hierher vor allem untersucht, wodurch die Vorarlberger Gestaltungsbeiräte in ihrer gesellschaftlichen Position, die durch eine einzigartige Institutionalisierung eines avantgardistisch-architektonischen Urteils in Fragen der Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes gekennzeichnet ist, legitimiert sind. In der Rolle, die der Staat dem Berufsstand der Architekten zuweist und im Selbstverständnis des Berufsstandes, mit der Gestaltung des Lebensumfeldes eine sinnstiftende gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, konnten zentrale Aspekte dieser Legitimierung identifiziert werden. 87 HK: Z 168 ff 88 Der Umstand, daß die Vorarlberger Bürgermeister Genehmigungsinstanz für das Bauen innerhalb ihrer Gemeinde sind, rückt die Rechtsauffassung der Gesellschaft Vorarlbergs eher in eine Verwandtschaft mit ihrem Schweizer (mit umfassender rechtlicher Souveränität der Gemeinden) als mit ihrem deutschen Nachbarn (Genehmigungsbehörde auf Landkreisebene, bei den Landratsämtern, die den Vorarlberger Bezirkshauptmannschaften vergleichbar sind). 89 HK: Z 460 ff 90 Ein aktuelles Beispiel für eine solche Deutung bietet die Auseinandersetzung um den Siegerentwurf des Wettbewerbs zum Montafoner Heimatmuseum Schruns, der seiner formalen Dominanz und seines

antikontextuellen Habitus wegen innerhalb der Gemeinde umstritten ist, während er in überregionalen Feuilletons bereits gefeiert wird (vgl. Tietz). Die Argumentation der Bauherrenseite interpretiert die lokalen Widerstände als kulturellen „Isolationismus“ und prognostiziert im Schulterschluß mit exponierten Vertretern der Architektenschaft einen ökonomischen Standortnachteil im Fall einer Ablehnung: „Hier muss man sich langsam Sorgen machen, dass nicht eine ganze Region den Anschluss verpasst und einen kulturellen Entwicklungsschritt (der in Folge immer auch zu einem wirtschaftlichen wird) versäumt“ (Winkler [2010], S. 38). 2011 wurde der Siegerentwurf schließlich durch einen Bürgerentscheid abgelehnt. 91 HK: Z 149 ff

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Wir beleuchten im folgenden soziale Konsequenzen der vollzogenen Institutionalisierung des architektonischen Urteils und ihres Effekts einer „totalen“ Ästhetisierung. Aufgrund der Verschiebung der gesellschaftlichen Gestaltungsmacht zwischen den sozialen Anspruchsgruppen, die die Tätigkeit der Gestaltungsbeiräte auslöst, erwachsen ihrer Tätigkeit als fachlich ausgewiesene Berater, Sachverständige und Architekturvermittler zunächst Widerstände. Kuess: Und natürlich (...) ist das auch konfliktträchtig (...), daß man die moderne, die zeitgenössische Architektur, die ist in vielen Ausschüssen, und bei vielen Mitgliedern natürlich ein rotes Tuch.89

Sobald der Auslöser dieser Widerstände, ihre entscheidende soziale Komponente, die in der Entmündigung der lokalen Anspruchsgruppen in bezug auf die Ausgestaltung der eigenen Lebensumwelt liegt, aus dem sozialen Diskurs ausgeblendet und die Wahrnehmung dieser Widerstände vor allem auf einen „ästhetischen Entwicklungsbedarf“90 reduziert wird, stellen alle auftretenden Widerstände den Beratungsbedarf gleichsam unter Beweis und tragen dazu bei, die Institution Gestaltungsbeirat langfristig zu stabilisieren. In einigen Vorarlberger Gemeinden bildet die personelle Besetzung des Gestaltungsbeirats mittlerweile das eigentlich kontinuierliche Element der gemeindlichen Bauverwaltung, an dem die Amtsperioden der Bürgermeister vorüberziehen.91 Der Architekt, als Gestaltungsbeirat ebenso wie im Auftrag eines Bauherrn, steht keineswegs als Einzelner den Widerständen aus der Dorfbevölkerung gegenüber, die sein Urteil oder Entwurf auslösen. Der Berufsstand, dem er angehört, die fachliche Würdigung seines Werkes in Fachpresse und Feuilleton sowie die Bedeutung, die architekturgestützter Modernisierung des ländlichen Raumes auf staatlicher Ebene zugemessen wird, verschaffen ihm gegenüber lokalen Anspruchsgruppen sozialen Rückhalt.92 Am Fall des Eugster-Hauses kann beobachtet werden, daß die Beantwortung des behördlichen Abbruchbescheids durch einen „Staatspreis“ seitens des Berufsstandes der Architekten nicht nur den lokal verantworteten Abbruchbescheid unwirksam macht93, sondern auch einen jahrzehntelangen Umstrukturierungsprozeß auslöst, der die sozialen Einflußsphären in der kommunalen Bauverwaltung des Dorfes Langenegg nachhaltig in Richtung eines heute aufgeschlossenen Klimas gegenüber Zeitgenössischer Architektur verschiebt. Ähnlich wie das Ehepaar Eugster und ihr Architekt sieht sich auch Gerhard Gruber in seiner Tätigkeit für den Selbsthilfeverein Thal durch einen Staatspreis bestätigt. 92 Vgl. u.a. Jürgen Sutterlütys Darstellung der kontroversen Bewertung seines Supermarktgebäudes im Zentrum von Lustenau: Abschnitt Architektur als Kunst, Kapitel Architektur? 93 Zwei Instanzen, Staat und Berufsstand, wirken hier zusammen, um das „Hausrecht“ der lokalen Bau-

behörde durch ein „Machtwort“ außer Kraft zu setzen: das Land Vorarlberg, welches als übergeordnete Rechtsinstanz Verfahrensfehler feststellt, und der Architekturpreis, der eine überregionale Medienwahrnehmung auslöst. „Das war im Radio, im Fernsehen, eine Doppelseite in der Zeitung.“ (ALE: Z 319 ff)

Entwicklungsbedarf legitimiert die Beraterrolle

Architekturpreise beeinflussen lokale Rechtsverhältnisse

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Das ist ja schon faszinierend, (...) die Fraktion Thal gewinnt für ihr Dorf gleich den österreichischen Staatspreis. Und das ist natürlich schön, daß man weiß, daß man mit dem, was man tut im hintersten Dorf, vorne mit dabei ist, was aktuelle Entwicklungen betrifft.94

Politische Mandatare wollen Anerkennung

In beiden genannten und in ungezählten weiteren Fällen sind es die Mobilisierung einer Fachöffentlichkeit sowie die positive Wahrnehmung und Präsentation durch überregionale Medien, die gegenüber der ablehnenden Haltung einer Dorfbevölkerung den „Wert“ der implantierten Architekturen in das Dorf überzeugend und selbst gegenüber handwerklich begründeten Einwänden unwiderlegbar darzustellen wissen. Als wiederkehrendes Motiv tauchen in den Forschungsgesprächen „Busse voller Architekturtouristen“ auf, von den befragten Bauherren als rettende Übermacht gegen das widerständige soziale Umfeld wahrgenommen.95 Neben diese nachbarschaftlichen Konflikte der Dorfbewohner stellt Bürgermeister Nußbaumer die Verwaltungsperspektive einer architektonisch fortschrittlichen Gemeinde. Die Formel „Politische Mandatare wollen gelobt werden“ faßt seine Modernisierungsstrategie für Langenegg zusammen: Es gibt natürlich immer Leute, die sagen, die Erfahrung mit Flachdächern ist natürlich aufgrund der Witterung bis dato eher negativ, also überall, wo wir Flachdächer erhalten, haben wir Probleme mit Dichtigkeit... Aber das wichtige an diesen Bauten ist, daß man von der öffentlichen Hand und auch durch diesen Architekturtourismus für diese Bauten immer wieder Anerkennung bekommt. Also diese Anerkennung, ein Architekturpreis, den man bekommt, bestärkt natürlich die Entscheidungsträger immer wieder, solche Dinge zu tun. (...) Die Mandatare, politische Mandatare wollen auch gelobt werden für ihre Entscheidungen, die sie treffen. Und wenn das Lob dadurch kommt, daß man im Fernsehen kommt, in der Zeitung steht, von außen besucht wird, dann springt manch einer über die eigene Hürde, das ist im Privaten so, das ist in der Öffentlichkeit so, das ist gut so.96

Soziale Effekte des Preissystems

Das Gegenüber, welches die architektonische Anstrengung im Dorf beantwortet, ist in dieser Vermittlungsstrategie prinzipiell außer- oder oberhalb der dörflichen Einwohnerschaft situiert. Wie bereits als Effekt der Beratungs94 GG: Z 913 ff. Dazu auch Wirthensohn, in unserem Gespräch auf die Jahresberichte hinweisend: „Hier ist auch die ganze Chronologie gut drin, da zum Beispiel, wie wir den Preis für Dorf- und Stadtentwicklung, den ersten Preis gekriegt haben.“ (EW 1: Z 1293 ff) Im selben Kontext beantwortet Wirthensohn auch die Frage, ob das externe Interesse sich vor allem der Architektur zuwende: „Nein, es sind Gemeindepolitiker, (...) von Oberösterreich, und weiß Gott, woher. Die sich interessieren (...) oder in einer ähnlichen Lage sind, (...) die sich informieren, vor allem über das Modell von dem Selbsthilfeverein.“ (EW 1: Z 886 ff) 95 Arno Eugster: „Natürlich hat es uns genützt, jede Menge. Dann haben sie sich nicht mehr getraut, irgendetwas zu tun. Weil die Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden ist. (...) Es war ja sensationell. Nach dieser Preisverleihung sind ja ganze Busse gekommen, zwei Jahre lang. Rundum Verkehr, alle möglichen Leute sind in der Gegend gestanden und haben fotografiert. Und das haben natürlich die

anderen Leute auch alle mitbekommen, wenn schon wieder ein Bus die Straße entlang gefahren kommt.“ (ALE: Z 333 ff) Was vorher ein Konflikt zwischen Dorfbewohnern war, ist durch die Preisbewerbung des Architekten zu einer landesweit beachteten öffentlichen Angelegenheit geworden. Die private Wohnangelegenheit des Ehepaars Eugster steht von nun an unter öffentlichem Schutz. Dieser verschiebt die Machtverhältnisse im Rechtsstreit zugunsten der Bauherrn und ihres Architekten. Wo sie sich vorher gegen Bürgermeister und Bauausschuß in der Defensive befanden und kommunale Rechtssprechung gegen sich sahen, sehen sie sich durch die Preisverleihung plötzlich zum Gegenstand einer öffentlichen Solidarisierung erhoben. Für die Gemeinde stellt der Vorgang die massive Einmischung eines Berufsverbandes (Zentralvereinigung der Architekten) in innere Angelegenheiten dar, eine Lobbyaktivität als Präzedenzfall für Mediendemokratie: Wer im Fernsehen kommt, hat recht. Der

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praxis durch Gestaltungsbeiräte festgestellt, die eine Umdeutung des ursprünglich sozial konnotierten Begriffs Nachbarschaft zu einer ästhetischen Kategorie vornimmt, entsteht aus der Würdigung durch überregional vergebene Preise ein Kommunikationssetting, welches den Blick der Akteure dörflicher Gesellschaften gemeinsam mit der repräsentativen Fassade des Dorfes nach außen richtet und damit die bis dahin geltende soziale Innenorientierung, die gegenseitige Zuwendung der Dorfgemeinschaft, in eine Außenorientierung und damit Abwendung voneinander verwandelt. Ein bedeutsamer gesellschaftlicher Effekt der Etablierung eines die dörfliche Architektur fokussierenden Preissystems liegt damit in der sozialen Vereinzelung der Gewürdigten durch Überformung oder Außerkraftsetzen des innergemeinschaftlichen Kommunikations-, Werte- und Orientierungsgefüges. Eines der spezifischsten Bewertungsinstrumente für diesen kulturellen und sozialen Umpolungsvorgang, dem das Dorf gegenwärtig unterliegt, sind die Dorferneuerungspreise. Der Wandel ihrer Kriterien dokumentiert nicht nur die fortschreitende Umstrukturierung des ländlichen Raums selbst, nicht nur das zunehmende Gewicht, das Zeitgenössische Architektur in diesem Vorgang erhält, sondern auch einen Wandel in der Funktion, die dem Medium Architektur innerhalb der Umstrukturierung zugeschrieben wird. Die Intention, die Dorferneuerungspreisen ursprünglich zugrundeliegt, ist, dem sozialen und wirtschaftlichen Zerfall der Dörfer innovative, vor allem aber nach „innen“, den lokalen Gesellschaften, zugewandte Maßnahmen entgegenzusetzen.97 Durch Prämierung und Dokumentation entsteht ein Ideenpool sozialen Wissens, verknüpft mit einem Multiplikatoreffekt. Für diese Zielsetzung steht der Europäische Dorferneuerungspreis der ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung98, der auf kulturpolitische Initiativen Niederösterreichs der 1980er Jahre zurückgeht.99 Während in dessen KriterienUmstand, daß die Gemeinde die formelle Bestätigung der Bauabnahme verweigert, kann als ihr letztmöglicher Protest gegen diese Überwältigungsstrategie gedeutet werden. (ALE: Z 588 ff) 96 PN: Z 393 ff. Nußbaumer erwähnt im zitierten Gesprächsausschnitt denkmalgeschützte Bauten und zeitgenössische Architekturen im selben Atemzug. Beide Sektoren des Baugeschehens fordern erhöhte Anstrengung und sind jeweils institutionell gestützt. Die gesellschaftliche Etabliertheit der jeweiligen Interessensvertreter unterscheidet Vorarlberg von seinen Nachbarländern. Vgl. auch Anm. 84. 97 „Die tragenden Säulen heißen persönliches Engagement und Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen.“ (II.) „Land- und Dorfentwicklung heben durch gezielte Förderung der Eigeninitiative und durch Hilfe zur Selbsthilfe dauerhaft die Identitätsbereitschaft der Dorfbewohner mit dem ländlich geprägten Gemeinwesen.“ (III.3.) „Ländliche Entwicklung muß

deshalb verstärkt den Willen zur Selbsthilfe fördern.“ (IV.1.) In: ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung: Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa, II. Vgl. www.landentwicklung.org 98 Die Europäische ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung wurde im Mai 1989 als Plattform des Ökosozialen Forums Österreich gegründet. Seit 2007 besitzt die ARGE eigenen Vereinsstatus. Die österreichischen Bundesländer Niederösterreich, Burgenland, Kärnten, Steiermark, Tirol, Salzburg und Vorarlberg, außerdem Südtirol, Kormitat Vas, Ungarn, Luxemburg und die deutschen Bundesländer Bayern, BadenWürttemberg und Hessen, haben 1996 das Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa unterzeichnet. Im Dezember 2008 wurde die Schweiz in die ARGE aufgenommen: „Angeregt durch die so positiven Erfahrungen der eidgenössischen Teilnehmer am Wettbewerb um den Europäischen Dorferneuerungspreis 2008“, bei dem Urnäsch/AR eine Zweitplazierung errang. Vgl. www.landentwicklung.org

Dorferneuerungspreise

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Wachsende Bedeutung von Architektur in der Dorferneuerung

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katalog, dem Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa, Architektur noch beiläufig, als Maßnahme unter vielen, auftritt100 und vor allem die Förderung von Eigenverantwortlichkeit der ländlichen Gesellschaften vielfach betont wird, fokussiert die den Gemeindeverwaltungen vorgeschlagene Strategie 101 des 2009 erstmals ausgelobten LandLuft Baukultur-Gemeindepreises102 bereits ausschließlich die Realisierung Zeitgenössischer Architektur als Produkt einer systematischen Delegierung von „Ortsgestaltung“ an externe Fachleute. Einen weiteren Entwicklungsschritt markiert derzeit der Schweizer Award für Marketing und Architektur103, der anstelle der Rekonstruktion eines den ländlichen Raum verbindenden, gegenüber den Städten eigenständigen Sozialraumes die Fähigkeit zur Konkurrenz und individuellen Profilierung prämiert.104 Insbesondere die erneute Neupositionierung von Architektur ist innerhalb der Befunde der vorliegenden Studie von Interesse. Architektur wird nunmehr als Corporate Architecture ganz in den Dienst unternehmerisch definierter Standortkonkurrenz gestellt, der Einsatz von Architektur als Bestandteil der Corporate Identity eines Wirtschaftsunternehmens der Funktion öffentlicher Gebäude, die die Gesellschaft einer Kommune oder den Staat repräsentieren, vollständig gleichgesetzt.105 Aus der komplexen Wahrnehmung dörflicher Gesellschaften, die noch den Preis der ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung kennzeichnet, ist im Entwicklungsverlauf der Dorferneuerungspreise ein Instrument geworden, das der Förderung professionalisierter Zeitgenössischer Architektur dient, welche wiederum auf Kompetenzen verengt worden ist, Signale eines Standortmarketings in die globale Wirtschaftsumgebung hinein auszusenden. 99 Aus dem Vorwort des niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll zu: Kräftner (1987): „Die Aktion NÖ schön erhalten, schöner gestalten hat ein riesiges Echo in der Öffentlichkeit gefunden. (...) Wir wollen damit neben der ,äußeren‘ Erneuerung unserer Dörfer auch eine von innen kommende Erneuerung erreichen. Wir sind einfach überzeugt davon, daß durch die Beschäftigung mit der geformten und bebauten Umwelt ein Bewußtwerdungsprozeß in Gang gesetzt wurde und wird, der in weiterer Folge über die eigentlichen Belange der Ortsbildpflege hinaus wächst. Das vorliegende Buch wird in weiten Bereichen unsere angestrebte Schule des Sehens unterstützen.“ 100 „Unter Rücksichtnahme für regionaltypische Baukultur sind neue architektonische Ideen und Konzepte gefordert, um Ortsbilderhaltung, Nutzung alternativer Energiesysteme, sinnvollen Konstruktionen, Einschränkungen des Flächenverbrauchs und zeitgemäßen Gestaltungselementen zu harmonischer Koexistenz zu verhelfen. Zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Fragen der Raumordnung und Siedlungsentwicklung zu.“ (III.5.) Wie Anm. 97

101 „Die sieben LandLuft-Schritte zur erfolgreichen Baukultur-Gemeinde: 1. Beratung einsetzen / 2. Ideen sammeln / 3. Vorstudie erstellen / 4. Wettbewerbe durchführen / 5. Sieger umsetzen / 6. Rückgrat beweisen / 7. Fertigstellung zelebrieren“ Verein LandLuft, S. 137 f 102 Träger des LandLuft Baukultur-Gemeindepreises ist der Verein LandLuft mit Sitz in Wien 103 Träger des Award für Marketing + Architektur ist die Baukoma AG, Kerzers (CH). 104 „Am 2. Award für Marketing + Architektur werden Personen und Firmen ausgezeichnet, die auf vorbildliche Weise in der Schweiz Objekte nach den Grundsätzen hochwertiger Corporate Architecture (CA) geplant und realisiert haben. Objekte mit einem erkennbaren Bezug zur Firmenphilosophie, zum Marken- und Marktauftritt verhelfen zu einer positiven Aussenwahrnehmung. Diese Identität durch Architektur ist einmalig und schafft dauerhafte Wettbewerbsvorteile. Kreative Gebäude und Räume mit einem hohen Grad an Authentizität inspirieren Kunden, Geschäftspartner und Mitarbeitende.“ Ausschreibungsreglement des 2. Award für Marketing + Architektur, 23. April 2010, KKL Luzern

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Die Dorferneuerungspreise spiegeln den Vorgang der Umstrukturierung des ländlichen Raumes damit auch als Wandel, den das Interesse an einem „entwickelten“ ländlichen Raum durchläuft, und damit des Zugriffs, den neue Anspruchsgruppen sowohl auf den ländlichen Raum wie auch auf Architektur ausüben. Dorfbevölkerungen sehen demgegenüber ihr Lebensumfeld einer neuen Anforderungsumgebung ausgesetzt. Wie das Dorf selbst in seiner Außenrepräsentation einer Firma immer ähnlicher wird106, so ähnelt auch die Situation seiner Gesellschaft immer mehr der Belegschaft einer Firma, die unversehens den Besitzer gewechselt hat. Die lokalen Eliten ebenso wie die ländlichen Verwaltungsinstitutionen des Staates erweisen sich gegenüber der neuen Anforderungsumgebung, den Implikationen der globalen Wirtschaftsstruktur, als ebenso lernbereit wie lernfähig. Die Argumente der stake holders Zeitgenössischer Architektur sind mittlerweile vertraute Wahrnehmungskategorien, sodaß die Kommunikation zwischen Architekten und Beamten immer kürzer gefaßt werden kann.107 In umso ausführlicheren Selbstdarstellungen begründen die Bürgermeister und ihre Sekretäre den Einsatz Zeitgenössischer Architektur in ihren Dörfern einmal „sozial“, sobald sich die Jury der ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung zum Lokalaugenschein ankündigt, einmal architektonischformal, um den LandLuft Baukultur-Gemeindepreis zu erringen und ein andermal wirtschaftsliberal, um an denselben Maßnahmen ihr erfolgreiches Standortmarketing unter Beweis zu stellen.108 Parallel zu diesem Training in Bewußtseinsspaltung109, das die gewandelte Anforderungsumgebung den lokalen Gestaltungseliten abverlangt und sie befähigt, die Darstellungsfolie der eigenen Identität zu wechseln wie Kleider, die passend zu gesellschaftlichen Anlässen angelegt werden, sucht das Vertrautheitsbedürfnis selbst solcher Bewohner des Dorfes, die die Kontaktfläche zu Zeitgenössicher Architektur im eigenen Wohnumfeld hergestellt haben110, zunehmend vergeblich den langen Atem des Beständigen im Einheitlich-Unauffälligen, der Lakonik des Althergebrachten. Leopoldine Eugster registriert den Wandel des Langenegger Ortsbildes mit einem spürbaren Anflug von Resignation. Die zunehmende Entfremdung ihrer Lebensumgebung durch zeitgenössische Architekturen, deren ästhetische Stragegie auf systematische Irritation vertrauter Gewißheiten setzt, geht für sie einher mit dem Verlust des eigenen Vermögens, sich im eigenen Lebensumfeld „ohne Anleitung eines anderen“111 zu orientieren und selbständig zutreffende Wahrnehmungsurteile mittels erworbenen Erfahrungswissens zu fällen. Der Laie siehts ja nicht so, wie Sie das jetzt sehr gut erklären. Ich sehe es jetzt auch anders (lacht). Als Laie sagt man nur, es paßt überhaupt nicht da hinein und es ist komisch. Und wenn man durchfährt, da haben Sie recht, da wird man aufmerksam. Und wenn das ein Punkt ist, der wichtig ist, dann ists in Ordnung, aber sonst würde man sagen, das paßt überhaupt nicht da hinein. Auf den ersten Blick.112

Interessenwandel im Zugriff auf Architektur

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105 „Kategorien“ der Teilnahme: „1. Büro- und Geschäftshäuser, Industrie- und Gewerberäumlichkeiten 2. Warenhäuser, Läden, Kundencenters, Flagship-Stores, Showrooms / 3. Hotels, Restaurants, Sport- und Wellnessanlagen / 4. Innenarchitektur, Messebau / 5. Öffentliche Gebäude, Museen, Bahnhöfe usw. / 6. Schweizer Niederlassungen im Ausland (Geschäftsfilialen, Tochtergesellschaften, Botschaften)“ Wie Anm. 104 106 Zum Dorf als „Firma“ vgl. Anm. 67, Abschnitt Architektur im Dorf dieses Kapitels 107 „Da ist, (...) im Vergleich vielleicht zu anderen Regionen oder Bundesländern, schon eine große Dichte an Kompetenz einfach schon (...) vorhanden, bei den politisch Verantwortlichen, also sprich Ausschüsse, oder Bürgermeister. (...) Ich hab das immer so gehandhabt, daß man am Anfang der Gestaltungsbeiratstätigkeiten in den Ausschüssen (...) unsere Stellungnahmen, (...) vermittelt hat, am Tisch, im Ausschuß, also erklärt hat und mit der Zeit hat sich das

dann erübrigt, die Leut verstehen das, diese knappen Stellungnahmen, schriftlich und in den meisten Fällen wird dem gefolgt.“ (HK: Z 477 ff) 108 Zum Schutz der Autoren hier keine Quellenangabe. 109 Crary, S. 60 f 110 Die Autonomie von Architektur gilt auch gegenüber ihren Nutzern. Die Aufrechterhaltung von Fremdheit, die Architektur als autonome Kunst für sich reklamiert, sperrt sich sowohl gegen Aneignung als auch gegen Beheimatung. Vgl. Prechter (1997), S. 55 111 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, 1784/2, S. 481 ff Zur Inanspruchnahme aufklärerischen Gedankenguts in der gesellschaftlichen Legitimation Zeitgenössischer Architektur vgl. „Ein anderes Haus“, Kapitel Haus. 112 ALE: Z 833 ff

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6 Handwerk

6.1 Holz als Werkstoff Tischler und Schreiner sind regional gebräuchliche Berufsbezeichnungen für den selben Handwerker. In Vorarlberg ist Tischler als hochsprachliche, Schreiner, eigentlich „Schriner“, als umgangssprachliche Variante im Gebrauch.1 Das herzustellende Ding wird darin benannt, Tisch und Schrein, archaische Gegenstände des Wohnens.2 Der Tischler oder Schreiner weist sich mit seiner Namensgebung als Zuständiger für diese in jeder Wohnung unverzichtbaren Möbel aus. Weiter gibt der Etymologie-Duden unter dem Stichwort Tischler die nähere Beschreibung „Holzhandwerker“3 an. Hier tritt dem herzustellenden Gegenstand der verarbeitete Stoff an die Seite: Die Tischlerwerkstatt ist eine Holzwerkstatt, alle ihre Werkzeuge4 und Maschinen dienen ausschließlich der Bearbeitung von Holz. Die innige Beziehung zwischen Tischler und Holz, „neben Stein und Metall einer der Grundstoffe menschlicher Kulturtätigkeit“5, ist Thema dieses Kapitels, weiter die Veränderungen, die der technische Fortschritt und die Welt der Moderne dem Holz angedeihen ließen, sowie deren Rückwirkung auf das Handwerk des Tischlers. 1 Der Etymologie-Duden, „im 13. Jh mhd. schrinaere“, verortet den Schreiner vor allem im deutschen Westen und Süden, den Tischler dagegen im Norden und Osten. Vorarlberg liegt mit seinen Nachbarn, den süddeutschen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg sowie der Ostschweiz, inmitten des Sprachgebiets, in dem der Schreiner beheimatet ist. So hat der „Schriner“ hier zumindest in den Dialekt Eingang gefunden, obwohl der österreichische und mit ihm der Vorarlberger Sprachgebrauch ansonsten nur den Tischler kennt. (Diesen Hinweis verdanke ich Hermann Kaufmann.) Der Schweizer Sprachgebrauch dokumentiert sich etwa in Der Schreiner – Ihr Macher, einem populären Werbeslogan des Verbands Schweizerischer

Schreinermeister und Möbelfabrikanten (VSSM). (Der Große Duden, Bd. 7, „Etymologie“: 1. Auflage Mannheim 1963, S. 622) Der österreichische Sprachforscher Robert Sedlaczek bestätigt den „ungewöhnlichen Verlauf“ der Sprachgrenzen im vorliegenden Fall und weist darauf hin, daß Schreiner im 14. Jh auch in Wien belegt ist, danach jedoch auch dort von Tischler verdrängt wird. Sedlaczek, S. 392 f Zum Symbolgehalt der Möbel vgl. Selle (1993): z.B. S. 111 „Die Tafel“ und S. 130 „Camera obscura“. 2 Der Große Duden, Bd.7, „Etymologie“, 1. Auflage, Mannheim 1963, S. 709 f 3 Der Hobel ist das zeichenhafte „Leitwerkzeug“ des Tischlers (mitgeteilt von Gerhard Huber, Tischlermeister in Kissing bei Augsburg).

Tischler als Holzhandwerker

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Handwerk

Bedeutung des Bregenzerwaldes im Architekturdiskurs

Unsere Aufmerksamkeit richtet sich dazu auf eine einzelne Werkstatt, diejenige von Wolfgang Schmidinger in Schwarzenberg, der den Betrieb 1986 von seinem Vater in dritter Generation übernommen hat und 2007, zum Zeitpunkt unserer Gespräche, sieben Mitarbeiter beschäftigt. Dieser Familienbetrieb steht hier stellvertretend für die Tischlereien des Bregenzerwaldes. Seine von den Zeitläuften, wechselnder Konjunktur und den Tischlermeistern der Familie Schmidinger geprägte Geschichte dient als Wahrnehmungsfokus für eine Entwicklung des Tischlerhandwerks dieser Talschaft, deren Bedeutung als „Erscheinungswelt“ und Ursprung des Vorarlberger Architekturphänomens in aktuellen Publikationen zuweilen märchenhafte Züge annimmt: „Wohnen war im Bregenzerwald seit Jahrhunderten in einem Maß verfeinert, daß es zulässig ist, von Kultur zu sprechen. Während zu gleicher Zeit in anderen Teilen Österreichs noch auf gestampften Lehmböden und in „Rauchkuchln“ gelebt wurde, war das Umfeld hier bestimmt von gebürsteten Riemen, von Parkett, von intarsierten Schränken und lederbespannten Kanapees, von hohem Handwerksniveau.“6 Solche romantisch verklärenden Blicke in eine fiktive Vergangenheit und ihre In-eins-Setzung mit der Gegenwart interpretieren das anerkannt hohe Qualitätsniveau des Bregenzerwälder Handwerks durch die Leistungen des zeitgenössischen Architekturschaffens als dessen Antrieb und Voraussetzung: „In Vorarlberg hat Architektur die kritische Masse überschritten, sie ist zu einem kulturellen Gesamtphänomen geworden. Der architektonische Anspruch wird (...) vom Gewerbe und Handwerk verstanden, mitgetragen und eingefordert. Naturgemäß weichen sich damit die Grenzen auf – ins Große zum städtebaulichen Kontext, ins Kleinere zum Möbel und Gebrauchsgut.“7 Dieses Kapitel stellt der im Forschungsraum dominierenden Architektenperspektive den Blickwinkel des Handwerkers gegenüber. Unterfüttert wird dieser durch eine Betrachtung seiner aktuellen Berufspraxis und dem damit verknüpften Wissensbestand, wobei sowohl individuelle entwicklungsgeschichtliche Aspekte als auch solche der regionalen Sozialgeschichte herangezogen werden. Eine solche Perspektive erlaubt, Phänomene wie die Rustikalproduktion ins Auge zu fassen, die ansonsten von spezifischen blinden Flecken der herrschenden Deutungen verdeckt werden und ebenso, für Effekte des Reformimpetus der Architekten, etwa die Förderung handwerklicher Serienproduktion, neue Bewertungen vorzuschlagen.

Handwerk, Stoff, Ortsbindung

Jede Sparte des traditionellen Handwerks ist für die Verarbeitung eines bestimmten Naturmaterials kompetent und zuständig. Tischler und Zimmermann für das Holz, der Steinmetz für den Stein, der Schmied für das Eisen und so fort. Diese Bezogenheit des Handwerkers auf sein Material ist eine wechselseitige. Das Material natürlichen Ursprungs ist in seinem Vorkommen, seiner Beschaffenheit und Häufigkeit vielfältigen Bedingungen ausgesetzt, aus denen regionsspezifische Eigenschaften entstehen. Indem diese Materialeigenschaf-

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ten bestimmte Bearbeitungsweisen und Verwendungen nahelegen, entsteht eine regionale Differenzierung des verarbeitenden Handwerks. Die geraden Stämme von Fichte und Weißtanne der Bergwälder Vorarlbergs erfordern eine andere Handwerkskompetenz, als anderswo etwa das Vorkommen krummstämmiger Harthölzer. Neben der Verarbeitungspraxis bewirkt auch die physische Präsenz des verarbeiteten Holzes, etwa als Baustoff des traditionellen Bauernhauses, eine regionale Prägung und Identifikation der Bewohner mit „ihrem“ Material. Solchen Aspekten widmet sich bereits der Abschnitt Holz als Baustoff im Kapitel Holz. Darüber hinaus soll hier der zunächst etwas unscharf formulierte Gedanke festgehalten werden, daß zur Beziehung der Tischlerei zum Holz dessen Ortsgebundenheit gehört und daß die dem Holz von seinem Ursprungsort mitgegebenen Eigenschaften auf die verarbeitende Werkstatt gleichsam abfärben. Holz wird heute in zwei Erscheinungsformen verarbeitet: als Massivholz, das für die Tischlerei zu stammbreiten Brettern in Stärken bis zu zehn Zentimetern gesägt ist, sowie als Plattenwerkstoff. Zu Platten gepreßte Holzpartikel unterschiedlicher Form und Größe8, Holzstab-9 und Furnierplatten10 werden in großindustrieller Fertigung erzeugt. In Wolfgang Schmidingers Werkstatt wird zwischen Massivholz und Plattenwerkstoffen nach pragmatischen Gesichtspunkten entschieden. Verwendung findet, was sich für den Anwendungsfall eignet: Wo man kein Massivholz verwenden kann, da kann ich es nicht verwenden. Da brauch ich ein ruhiges Material. Hingegen, wos notwendig ist, ein Stuhl, ein Stuhl macht keinen Sinn, irgend ein anderes Material da zu verwenden.11

Das ruhige Material meint hier die Holzspan- oder Furnierplatte, in der die Ausdehnungs- und Schrumpfungsbewegungen der Holzfaser beim Aufnehmen und Abgeben von (Luft-)Feuchtigkeit mittels Zerstörung der gerichteten Faserstruktur des Holzes neutralisiert sind. Natürlich wurden auch in der traditionellen, ausschließlich Massivholz verarbeitenden Tischlerei bereits Schränke, Tische, Türen, Läden und andere Stücke mit großen ebenen Flächen hergestellt. Die von den Türen der Altbauwohnungen vertraute Konstruktionsweise Rahmen und Füllung etwa läßt die erheblichen Bewegungen 4 Adolf Loos legt im Nachruf auf seinen Sesseltischler „trauernd dem alten Veillich seinen Hobel mit ins Grab.“ Loos, S. 442 5 Wagner, Rübel, Hackenschmidt, S. 145 ff 6 Gnaiger / Stiller, S. 9 7 Ebd. 8 Prägnante Abstufungen der Partikelgröße sind Holzfasern, verarbeitet zu MDF-Platten („Mitteldichte Faserplatte“), Weichfaserplatten und Hartfaserplatten, Holzspäne als Grundlage der landläufig bekannten Spanplatte, sowie dünne Hackschnitzel, die in

den ursprünglich aus den USA und Kanada kommenden OSB-Platten („Oriented Strand Board“) Verwendung finden. 9 Aus aneinandergeleimten Vierkantstäben, versteift durch beidseitige Decklagen aus Holzfurnieren, deren Faserrichtung gegenüber der der Stäbe um 90° gedreht ist, entsteht die Tischler- oder Holzstabplatte. 10 Sperrholz- oder Furnierplatten bestehen aus Holzfurnieren, die mit jeweils um 90° gedrehter Faserrichtung verleimt werden. 11 WS 3: Z 806 ff

Massivholz und Plattenwerkstoffe

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zu, die auch trockenes Holz vollführt, ohne daß dadurch das Gefüge oder die Oberfläche des Werkstücks Schaden leidet. Ähnliches leistet eine Gratleiste, die traditionell gefertigten Massivholztischen unterseitig per Schwalbenschwanzverbindung eingefügt ist.12 Verdrängung traditioneller Konstruktionsweisen

In der Verdrängung dieser traditionellen Konstruktionsweisen durch die Verwendung von Plattenwerkstoffen hat neben den Rationalisierungserfordernissen der Massenproduktion auch die Formattitüde der Modernen Architektur ihren Beitrag geleistet. Ihr Hang zur Abstraktion in Form glatter Flächen und der Vertrauensvorschuß, den ihre Protagonisten modernen Materialien gaben, nahmen den Verlust der konstruktiven Anschaulichkeit billigend in Kauf. Arbeit mit Plattenwerkstoffen ist High-tech-Tischlerei. Die zur Bearbeitung der bis zu fünf Meter langen Platten erforderlichen Maschinen bestimmen Bild und Größe der Werkstatt. In hochgerüsteten Betrieben, deren elektronisch gesteuerte Fräsautomaten direkt mit dem Zeichenprogramm der Arbeitsvorbereitung verknüpft sind, entstehen heute eher Assoziationen zur Automobilfertigung als Erinnerungen an die Hobelbank eines „Meister Eder“.

Renaissance der Massivholztischlerei

Die Frage „Massivholz oder Plattenwerkstoffe“ ist durch den technischen Fortschritt keineswegs ad acta gelegt. Im Bregenzerwald formiert sich inzwischen zum anything goes der High-Tech-Tischlereien eine Gegenbewegung, die die Massivholzverarbeitung mit ökologischen und baubiologischen Argumenten vertritt und für ihre sorgfältig gefügten Möbel Kundschaft und Aufmerksamkeit findet. Der Hittisauer Tischler Markus Faißt ist ihr wortmächtiger Exponent, wie Ernst Wirthensohn bestätigt: Wenn Medien unterwegs sind, (...) Fernsehen, Radio, deutsche Zeitungen, die schicken wir immer zum Faißt.13

Eigenes Holzlager

Renate Breuß leitet ihr Gespräch14 mit Markus Faißt durch Annäherung an seine Werkstatt ein. Prägend ist für sie das rund um die Werkstatt zur Lufttrocknung gelagerte Holz. Auch für die Tischlerei Schmidinger war bis zur Generation von Wolfgang Schmidingers Vater die Verfügbarkeit von hochwertigem Massivholz existentielle Grundlage des Betriebes. Ein eigenes Holzlager, das den gesamten Dachraum der Tischlerei beanspruchte, barg die substantielle Basis der Möbelherstellung. Schmidinger begründet die ehemalige Lagerhaltung zunächst wirtschaftlich. Der Einkauf des Holzes in Vorratsmengen zum Zeitpunkt des Holzeinschlags gewährleistet einen günstigen Preis. Die zweite Begründung betrifft die Holzqualität.15 Deren zentrales Kriterium ist die Trockenheit des Holzes, die für eine tischlermäßige Verarbeitung bei sieben bis acht Prozent Feuchtegehalt liegen sollte.16 Andernfalls entstehen durch Nachtrocknen des Holzes im fertigen Stück schlimmstenfalls irreparable Schäden, zumindest aber ästhetische Mängel. Beispiel ist, da machst du einen schönen Massivholztisch, und es zerreißt dir die Platte, oder du machst schöne flächenbündige Türanlagen, und der Anleimer schwin-

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Für die Lagerhaltung war darüber hinaus das Angebotsspektrum des jeweiligen Betriebes bestimmend: Die typische Verwendung bestimmte einzulagernde Holzarten und Brettstärken. Besonderheiten waren Laub- und Obsthölzer für gedrechselte Tischbeine und -zargen, auch besonders dicke Fichtenbretter für den vom Vater noch praktizierten Fensterbau.18 Heute sind sowohl die Drechslerei als eigene Handwerkssparte als auch der der Bautischlerei zugehörige Fensterbau aus seiner Werkstatt verschwunden, die ehemalige Vielfalt des Angebots ist einer Spezialisierung auf den Möbelbau gewichen. Kurz nach Betriebsübernahme, etwa 1990, löst Schmidinger das Holzlager auf, um Platz für Arbeitsvorbereitung und einen Besprechungsraum zu schaffen. Technisierung und Beschleunigung der Holztrocknung hatten die Bedeutung des Holzlagers kontinuierlich gemindert: Der Bedarf für bis zu sieben Jahre trocknende Holzstapel19 war entfallen, der Platz mußte einer rentableren Verwendung zugänglich gemacht werden. Schmidinger erinnert sich an die Zeit vor diesem Einschnitt als einer Epoche, die von einem gemäßigteren Tempo geprägt war. Sowohl das Herauftragen der Bretter in das Lager im Dachraum als auch der jahrelange Trockenvorgang des Holzes bis zur Verwendbarkeit in der Werkstatt gehören zu einem langatmigen Zeitmaß, das für Verläßlichkeit steht: Der Tischler rechnet damit, daß nach Jahren des Trocknens die Holzarten in den eingelagerten Dimensionen tatsächlich gebraucht werden. Das eigene Materiallager setzt also bleibende technische und ästhetische Standards voraus.20 Neben dem technischen Fortschritt in der Holztrocknung wird in der Frage der eigenen Lagerhaltung eine prägnante Änderung des Kundenverhaltens deutlich. Während zur Zeit seines Vaters noch eine klare Zuordnung von Holzarten und -dimensionen für bestimmte Einsatzzwecke möglich war, der Tischler also mit seinem Fachwissen über die zu verwendende Holzart entschied, setzte zumindest im Möbelbau eine Entwicklung ein, die Holzart zunehmend nach Trends zu wählen: „Es gab Eichenwelle, es gab eine Eschenwelle, es gab Ahorn.“21 Solange der Trend anhielt, war der Absatz der eingelagerten Hölzer garantiert, die Lagerhaltung erschien sinnvoll und rentabel. Inzwischen ist die Individualisierung der Kundenwünsche derart fortgeschritten, daß jegliche Lagerhaltung, die für den Tischler immer auch Kapitalbindung bedeutet, riskant erscheint: 12 Vgl. Wolfgang Nutsch: Handbuch der Konstruktion: Innenausbau; Stuttgart: DVA 1973 13 EW 2: Z 1423 ff 14 Breuß (2006) S. 7 ff 15 WS 1: Z 72 ff 16 WS 1: Z 178 ff

17 18 19 20 21 22

WS WS WS WS WS WS

1: 1: 1: 1: 1: 1:

Z Z Z Z Z Z

185 ff 80 ff 70 ff 40 ff 143 ff 166 ff

Auflösung des Holzlagers

Veränderung der Kundenbeziehung

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Da gibts ein Nußholz, und da gibts Maulbeer, und da gibts äh, äh, Eisbirke, da gibts, äh, Kirsch, und dann amerikanisch Kirsch, und, und heimisch Kirsch, und so weiter, das ist derart vielfältig geworden, daß man natürlich heute manchmal wirklich nur noch das Brett kauft, und sagt, ich kaufe, soviel ich brauche. 22

Daneben zeigen die vollständige Verschiebung der Holzartenwahl vom Handwerker zum Kunden und die Reduzierung der Auswahlkriterien auf Oberfläche, Maserung und Farbe des Holzes eine die Gegenwart charakterisierende Reduzierung der Wahrnehmung auf das Bild des Materials. Fertigungstiefe

Widerstand gegen die Dominanz einer oberflächen- und modefixierten Kundschaft erwächst im Bregenzerwald und anderswo aus der Handwerkerschaft selbst. Die Rückkehr zu vermehrter Massivholzverarbeitung ist ein Aspekt des Strebens junger Tischlermeister, die ursprüngliche und charakteristische Fertigungstiefe der Tischlereiproduktion zurückzugewinnen. Im Gespräch mit Schmidinger kommt diese Haltung dort zum Ausdruck, wo er eine auf neuestem technischen Stand befindliche Holztrocknung im eigenen Betrieb hervorhebt.23 Die Bewahrung einer über Generationen gewachsenen Kompetenz der Materialvorbereitung und wirtschaftliche Autonomiebedürfnisse gegenüber Lieferanten kommen hier zum Ausdruck. Bezieht man Schmidingers Mitteilung, ursprünglich habe auch eine Säge zum elterlichen Anwesen gehört 24, und sein Vorhaben, auf einem kürzlich gekauften Acker eine eigene Baumschule anzulegen, in die Betrachtung mit ein, so wird deutlich, daß ein entscheidender Aspekt seines Selbstverständnisses die Aufrechterhaltung einer umfassenden Beziehung zum natürlichen Ursprung des Holzes ist.25 Das Bestreben, die Fertigungskette des Möbels bis zu deren Ausgangspunkt im Wald möglichst vollständig innerhalb des eigenen Horizonts zu halten, verbindet ihn mit anderen Tischlermeistern seiner Generation.26

23 WS 1: Z 130 ff 24 WS 2: Z 53 ff 25 Josef Perger hat bei den Tage[n] der Utopie 2007 in Götzis die Konsequenzen des Verlusts dieser Beziehung am Bau von Musikinstrumenten als besonders sensiblen Erzeugnissen des Holzhandwerks erläutert: „Holz verlangt Nähe zum Material. Und eine anspruchsvolle Auswahl des Holzes führt in den Wald, zu besonderen Standorten. Diesen Aufwand der Auswahl hat man in den letzten Jahrzehnten stark reduziert. Nur mehr Japaner kommen ab und zu ins Fleimstal, wo angeblich das Holz für die Stradivari herkam, und sie wählen dann meist, so hat es mir einer der Einwohner dieses Tales erzählt, der selber mit Klavieren zu tun hat, sie wählen dann nach längerem Aufenthalt Fichten für Resonanzböden von

Klavieren und anderen Instrumenten. Abgesehen von diesen wenigen sind es insgesamt sehr wenige, die den Blick dafür haben, im Wald, die dem Holz den Klang ansehen. Und es sind sehr wenige, die die Plätze noch kennen. Und es sind auch sehr wenige, die Holz lagern, damit es in dreißig Jahren einem Klavier zu besonderem Klang verhilft. Japan, das sei nebenbei gesagt, hat hier eine etwas andere Tradition, dort hat sich das Handwerk sehr eigenständig neben der industriellen Welt entwickelt.“ (Eigene Transkription der Tonaufnahme des Vortrags „Peripherie als Hoffnungsträger“ vom 26.04.2007) 26 Den Ausspruch „Die Küche steht noch im Wald“ verdanke ich Tischlermeister Gerhard Huber, ebenso den Gedanken der umfassenden „Fertigungstiefe“ des Tischlerhandwerks als dessen ebenso charakteristischer wie anachronistischer Eigenheit.

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381 6.2 Arbeitsform und Wissensaneignung Die Tischlerei in ihrer traditionellen Form vereint Arbeit, Lebensort und Familie und damit Lebensbereiche, die ansonsten in unserem Kulturkreis seit der Industrialisierung getrennt sind. Insofern verkörpert die Tischlerei eine vormoderne Lebensform, die sie in die Gegenwart überträgt. Auch die Arbeitsform des Tischlers ist mit unserem modernen Begriff eines „Berufs“ nur unzureichend zu erfassen und läßt sich allenfalls mit der ebenso archaischen und vormodernen eines Bauern vergleichen. Die Geschichte des Familienbetriebs der Tischlerei Schmidinger dokumentiert das Handwerk als Lebensform exemplarisch, auch den Wandel, dem diese in der heutigen Generation unterliegt.1 Die handwerkliche Kompetenz und ihre Aneignung, untrennbar in diese Lebensform eingebettet, stellt neben der Werkstatt das wichtigste Kapital des Handwerkers dar. Mit seinem individuellen Wissen und Können strebt er danach, im Idealfall aus dem Feld der „Mitbewerber“ herauszuragen, was ihm fachliche Reputation, Aufträge und Existenz sichert. Als charakteristischer Bestandteil der Entwicklung eines Handwerkers steht der Vorgang seiner Wissensaneignung daher im Zentrum des folgenden Abschnitts.

Tischlerei als Lebensform

In Schmidingers Erzählung veranlaßt der Großvater, Begründer des Familienbetriebs, seine vier Söhne allesamt, das Tischlerhandwerk zu erlernen. Die am eigenen Leib erlittene Not und die magere Existenzsicherung, die die Tischlerei in dieser Zeit erwirtschaftet, treten gegenüber der Perspektive in den Hintergrund, die Familie an einem Ort zusammenzuhalten.2 Die Werkstatt als Ort der Arbeit, in der der Tischler seinen Beruf ausübt, bildet zugleich den Kern für das Leben der gesamten Familie. Drei Söhne des Großvaters, der Generation von Schmidingers Vater, betreiben die Tischlerei als „Gebrüder-Firma“.3 Auch der vierte Bruder ergreift keinen anderen Beruf. Als Gemeindeangestellter bleibt er Tischler, der berufsfremd beschäftigt ist. Schmidingers Vater absolviert als Ältester die Meisterprüfung und nimmt die „Chefposition“ ein. Seine Aufgabe ist es, für Aufträge zu sorgen. Die Werkstatthierarchie organisiert sich unausgesprochen analog der Familienhierarchie gemäß Geburtsfolge. Ebenso unausgesprochen erfolgt eine Generation später Wolfgang Schmidingers eigene Berufsbestimmung. Als ältestem Sohn fällt ihm wiederum die Verantwortung für die Werkstatt zu, die er, anders als sein jüngerer Bruder, schon als Kind zu seinem vertrauten Aufenthaltsort gemacht hat. Nicht

Lebensmittelpunkt der Familie

1 Eine auf betriebswirtschaftliche Aspekte konzentrierte Definition von Handwerk gibt Hans-Joachim Gögl: „Handwerk als eine gewerbliche Tätigkeit, bei der ein Meister seines Fachs die Produktionsmittel besitzt, allein oder mit Mitarbeitern meist auf Bestellung arbeitet und das Produkt oder die Dienstleistung

möglichst unmittelbar an den Verbraucher absetzt. Die Wertschöpfung, vom Entwurf bis zur Herstellung erfolgt dabei in vielen, aber längst nicht mehr in allen Fällen, überwiegend durch Handarbeit.“ Gögl (2005), S. 16 2 WS 2: Z 34 ff

Familienhierarchie und Werkstatthierarchie ist eins

Determination des ältesten Sohnes

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die Freiheit einer beliebigen Berufswahl und das Verfolgen eigener Neigungen warten auf ihn, sondern die Einnahme eines durch Geburt vorbestimmten Platzes. Sein jüngerer Bruder ist der erste, der aus der über drei Generationen stabilen Familientradition ausbricht. Indem er nach Wien zum Studium geht, schafft er sich einen eigenen Lebensort und ein eigenes berufliches Betätigungsfeld, räumlich und inhaltlich weitab von der elterlichen Werkstatt.4 Der Tischler war der, der Särge gemacht, der Särge gebaut hat. (...) Also, ich hab keinen mehr gebaut, aber von meinem Großvater der Sarg, (...) der stand einfach in der Werkstatt, für ihn selber der Sarg, also, der hat sich einfach die, die eigene Kiste, die eigene Kiste gebaut, irgendwann wird man den schon brauchen. (...) Ich find das Bild, wenn ich jetzt so erzähle, denk ich, eigentlich ist das eine irre, (...) tägliche Konfrontation mit unserem Sein, also, daß man sagt, ich bin irgendwie, ich steh täglich in der Werkstatt, seh täglich die Kiste dort stehen und denk, „kann auch morgen sein“, also ich find, eine irre gute Symbolik. (...) War Tischlertradition.5 Die Werkstatt ist der Ort des täglichen Lebens

Hierarchie des Grundbedarfs

Für den Großvater hat das tägliche In-der-Werkstatt-Stehen noch etwas so Festgefügtes, daß feststeht, daß er hier auch seinen Tod erwartet. Der Werkstatt kommt der Rang eines Lebensschicksals zu. Symbolisch hierfür steht sein Sarg, der, alter Tischlertradition folgend, von eigener Hand gefertigt und lapidar in der Werkstatt aufgestellt wird, zwischen anderen fertigen Möbelstücken, die darauf warten, abgeholt und in Gebrauch genommen zu werden. Der im Arbeitsalltag präsente Sarg betont, daß das tägliche In-der-Werkstatt-Stehen das Leben ist. Er macht das tätige Leben und nicht den „Ruhestand“ zu der Situation, aus der heraus man erwartet, zu sterben. Die Anfertigung des eigenen Sarges ist unmittelbare Selbstversorgung: selbst die Beschaffenheit der letzten Bettung zu bestimmen. Wolfgang Schmidingers Erinnerung an die Werkstatt des Großvaters bringt eine Hierarchie des Grundbedarfs zum Vorschein: Da waren eigentlich die Kriegsjahre, da wars überhaupt schwierig, man hat damals Hosenknöpfe produziert (...) und Särge gebaut, im einen oder anderen Fall konnte man Fenster machen, und Möbel machen.6

Was braucht man in der Not? Knöpfe, Särge, Fenster, manchmal Möbel. Der Knopf ist demnach das Nötigste, nächst dem Knopf als Bestandteil der Kleidung der Sarg zur Bettung der Toten, deren unabdingbares letztes Möbel.7 Dann kommt das Fenster, das Licht bei gleichzeitigem Kälteabschluß ins Haus läßt, erst zum Schluß das Möbel. Das Möbel ist an der Reihe, nachdem die Kleidung, die Totenruhe, das Haus zu ihrem Recht gekommen sind. Der Möbeltischler wird dann gebraucht, wenn es einen Knopfmacher, einen Sargtischler, einen Fenstertischler bereits gibt. Es sind Stufen der Alltagskultur, der Zivilisation, auch des zunehmenden Wohlstands, die Schmidinger hier aufzählt. Indem er Särge und auch Möbel macht, ist der Tischler ganz nah am Grundbedarf der Menschen, deckt wie jeder Handwerker, der Maßanfertigung bietet, der „anmißt“, einen Bedarf, der unmittelbar mit der Privatheit, der Familie und ihrem Lebenszyklus verbunden ist.

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Für das Familienunternehmen scheint zu dieser Zeit die Selbstversorgung im Vordergrund zu stehen. Man deckt den eigenen Bedarf und den der Verwandtschaft. Verstärkt wird dieser Eindruck von Autarkie in der Generation von Schmidingers Vater noch dadurch, daß die Tischlerei eingebettet ist in ein betriebliches Umfeld aus Landwirtschaft und Sägerei. Diese ergänzen die Tischlerei und geben den Familienmitgliedern Arbeit, wenn Auftragsmangel herrscht:

Selbstversorgung

Und der hat dann halt irgendwie mehr gesägt, und war dann halt Tischler nebenbei, und der andere Landwirt, und Tischler nebenbei.8

Die Säge versorgt die Tischlerei, die Landwirtschaft die Familien mit Rohstoff und Lebensmitteln. Auch die Bindung an den Ort verstärkt sich, indem die Landwirtschaft Wiesen und Felder umfaßt, die gepachtet oder gekauft werden. Die eigene Sägerei wiederum erweitert die Fertigungstiefe in Richtung des natürlichen Ursprungs des Holzes: Dessen Verarbeitung durch den Tischler beginnt mit dem Fällen des Baumes, was bereits Thema des Kapitels Holz ist. Im geographischen Maßstab betrachtet, bilden die bestehenden, normalerweise als Familienunternehmen gegründeten Tischlerbetriebe eine über Jahrzehnte hinweg stabile betriebliche Infrastruktur. Ähnlich wie die Struktur der Bauernhöfe ist sie charakteristischer Bestandteil der Kulturlandschaft. Ihre Anzahl bleibt über lange Zeiträume konstant: Das waren vier bis fünf, damals schon. (...) Jetzt sinds auch ungefähr fünf, vielleicht einer mehr.9

Sie findet sich als typische Werkstättendichte in den Dörfern des gesamten Bregenzerwaldes.10 Historiker bezeichnen deren bis in die Frühe Neuzeit zurückreichende Entstehung, in der „eine differenzierte Handwerkerschaft nicht nur in Städten angesiedelt, sondern relativ breit auch in den Dörfern des Landes vertreten“ ist, als „Territorialisierung des Gewerbes, (...) meist in der Kombination mit einem landwirtschaftlichen Kleinanwesen“.11 Schmidingers Tischlerei überlebt als Familienbetrieb den Krieg und die Strukturkrise der 1970er Jahre, existiert weiter, fast unabhängig von der gesamtwirtschaftlichen Lage. Volkswirtschaftlich und kulturell ist also der 3 WS 2: Z 67 ff 4 Mitteilung Wolfgang Schmidingers im Sept. 2007 5 WS 2: Z 150 ff 6 WS 2: Z 37 ff 7 Ein Sargentwurf aus massiver Weißtanne, Mein letztes Möbel genannt, erhielt bei Handwerk + Form 2000 in Andelsbuch eine Anerkennung. (Ausführung Tischlerei Anton Mohr, Andelsbuch; Entwerfer Andreas Mohr, Wien); Abb. in: Werkraum-Zeitung Nr. 2, 12.10. 2000 8 WS 2: Z 48 ff 9 WS 2: Z 104 ff 10 Exemplarisch gab dazu mein Gesprächspartner Mario Nußbaumer Auskunft:

„Haben Sie auch Holzwirtschaft am Ort? Wir haben nur einige Schreinereien, kleinere. Was heißt „einige“? Mittlerweile haben wir drei... also das sind drei selbständige Tischler in einem Gebäude, in einer Werkstätte, drei, vier, fünf, sechs... Sechs Tischlereibetriebe. Sechs Tischlereien für tausend Einwohner. Ja, aber die arbeiten natürlich nicht nur für unsere Gemeinde. Ja gut, aber in der Nachbargemeinde gibts auch wieder sechs Tischlereien. Ja, vielleicht nicht sechs, aber es gibt in jeder Gemeinde mittlerweile solche Tischlereien.“ (MN: Z 66 ff) 11 Ferdinand Kramer in: Kirmeier, S. 18

Werkstättendichte als Indikator der Kulturlandschaft

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Reichtum einer Region auch in der Anzahl ihrer Handwerksbetriebe zu sehen.12 Diese passen sich via Mitarbeiteranzahl und Ausrichtung ihres Angebots an den Bedarf und die jeweilige Wirtschaftslage an. Verschwinden die Betriebe jedoch in größerer Zahl, und mit den Betrieben auch deren Stammkundschaft, oder wird die Struktur der selbständig wirtschaftenden Familienunternehmen systematisch ausgetilgt, wie in kommunistischen Ländern geschehen13, verödet die handwerkliche Kultur der betreffenden Region unwiderruflich. Der ehemals vom Handwerk gedeckte Alltagsbedarf, im konkreten Fall derjenige an Möbeln, wird zukünftig mit Allerweltsprodukten aus industrieller Produktion gedeckt werden. Eine Umkehr in die kleinräumige, ortsspezifische Wirtschaftsweise einer handwerklichen Struktur ist unwiderruflich verstellt: „Die Möbelhäuser schießen überall aus dem Boden.“14 Ortsbindung

Wegenetz und soziales Netz

Die Ortsbindung ist in diesem traditionellen und für das Handwerk typischen Lebensmodell eine weit tiefere, verwurzeltere, als der moderne Begriff Produktionsstandort solches faßt, der im internationalen Maßstab von den Eigenschaften eines Orts zumeist nur den Aspekt der lokalen Produktions-, vor allem der Lohnkosten bewertet. Im Mikrokosmos des Dorfes zur Zeit von Schmidingers Vater ist die Randlage des Tischlereibetriebes ein existentiell derart bedrohlicher wirtschaftlicher Nachteil, daß zeitweise eine Betriebsverlagerung ins Rheintal, nach Dornbirn oder Hohenems, als Ausweg erwogen, jedoch nie realisiert wird.15 Betriebe im Dorfzentrum konnten von Laufkundschaft, auch vom Prestige der Lage profitieren. Wenn dieser Umstand entfiel, wie im Fall des Schmidinger-Betriebes, brachte vor allem die Verwandtschaft Arbeit ins Haus. Deutlich wird in Schmidingers Beschreibung eine differenzierte Wahrnehmung des eigenen Standortes, der nicht nur topographische und geographische Kriterien umfaßt, sondern auch der Entfernung zu den anderen Mitgliedern der sozialen Gemeinschaft, der er angehört, Wert beimißt. Zwei Kategorien von Netzen treten hierin gegeneinander an: das Wegenetz des Dorfes, das den Siedlungsraum erschließt, und das Netz von Verwandtschaftsbeziehungen einer verzweigten Großfamilie, das im Fall der Not die räumliche Distanz zum sekundären Kriterium deklassiert. Als letztlich existenzerhaltend erweist sich die Familie. 12 Ferdinand Kramer nennt ebd. weitere Merkmale eines vom Handwerk geprägten ländlichen Raums für das benachbarte Bayern: „Mit den zahlreichen selbständigen Betrieben in Landwirtschaft und Handwerk, aber auch durch eine große Zahl eigenständiger Gemeinden mit zahlreichen Mandatsträgern noch bis in die 1970er Jahre geprägt, war Bayern von selbständigen Existenzen und großer Eigenverantwortlichkeit der Menschen vor Ort gekennzeichnet.“ „Die Stärke des Handwerks liegt gerade in seiner Dezentralität und Kleinbetrieblichkeit, in seiner strukturellen Nachhaltigkeit. Handwerk bietet ganz

spezifische wirtschaftliche, ökologische, soziale und kulturelle Qualitäten. Es produziert vor Ort, schafft damit lokale Arbeits- und Ausbildungsplätze und sichert die Nahversorgung. Diese Kleinbetriebe sind nach wie vor wahrscheinlich die größten Arbeitgeber in Europa.“ Christine Ax in: Gögl (2005), S. 17 13 „...während man bei uns [in der UdSSR] in Handwerk und Gewerbe immer noch etwas sah, das dem Sozialismus wesensfremd sei.“ Michail Gorbatschow: Erinnerungen; Berlin: Siedler, 1995; S. 333 14 MN: Z 86 ff 15 WS 2: Z 109 ff

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Handwerkliche Meisterschaft ist keine Einzelleistung. Bereits ihre unmittelbare Voraussetzung, die Werkstatt, ist ein Werk von und für Generationen. Erst die vorhandene Werkstatt, vom Großvater gegründet, vom Vater wirtschaftlich etabliert, gibt dem Sohn die materielle Basis, neue Betätigungsfelder zu erschließen. In seiner Wissensaneignung nimmt er das Vorbild, die Jahrzehnte währende Erfahrung und das konkrete Wissen der im Familienbetrieb präsenten Väter, Onkel und Großväter ebenso auf wie die aus anderen Bedingungen gewonnene Gegenwartskompetenz der Nachbarbetriebe.16 Die aufeinander aufbauende Generationenfolge der Tischlerei Schmidinger stellt keine Einzelsituation dar,17 sondern ist typisch für das Handwerk insgesamt: Erst die Einbettung der Tischlerei in ein dicht bestücktes Umfeld aus Nachbarbetrieben schafft den Qualitätswettbewerb, der das eigene Kompetenzprofil schärft und zu Spitzenleistungen anspornt. Wolfgang Schmidinger gewinnt seine manuelle Fertigkeit und die Kenntnis der Konstruktionen und Materialbehandlung zunächst durch den Vater als präsentes Gegenüber. Dessen Stil und Praxis sind Grundstock und Inhalt seiner Lehre. Der Großvater ist vor allem in Erzählungen präsent, die Tischlertraditionen und Notzeiten vergegenwärtigen. Die bereits im Kontext der Selbstversorgung beschriebene Abschottung des Familienbetriebs nach außen zeigt sich etwa darin, daß es „für den Vater undenkbar (war), daß ich die Ausbildung (...) bei einem Kollegentischler von meinem Vater ringsherum mache“18, er folglich seine Lehre in der elterlichen Werkstatt absolviert. Der unmittelbare Nachbarbetrieb ist während seiner Lehrzeit vor allem Konkurrent, zu dem man Distanz hält. Es werden generell keine Lehrlinge ausgetauscht, was zum einen dem Schutz von Werkstattgeheimnissen dienen mag, mehr jedoch die Anerkennung der sorgfältig gegeneinander abgesteckten Auftragsfelder, der „engen Pfründe“, signalisiert und einen Rückschluß auf die magere Wirtschaftslage im Bregenzerwald dieser Zeit erlaubt.19 Die gegenseitige Abschottung und Autarkie des Einzelbetriebs schafft die Voraussetzung für die Parallelexistenz der Tischlereien im Dorfverband, denen nicht nur im Schmidinger-Betrieb die Gründungsanstrengungen noch anzumerken sind: „Man kam vom Aufbau herauf.“20 Die in der Erzählung geschilderte Aufbauphase als kollektiver Zustand, für die Nachbarbetriebe ebenso wie für den eigenen prägend, deutet an, daß der Zweite Weltkrieg, der als 16 Diese Struktur ist ein Gegenmodell zum „Start up“-Konzept, das einen schnellen Erfolg bei Firmenneugründungen verspricht. Insbesondere in den 1990er Jahren, als der flächendeckende Computereinsatz in alle Bereiche der Arbeitswelt eingedrungen war, galten „Start ups“ u.a. als die heilbringende Unternehmensform zur Bekämpfung der unaufhaltsam steigenden Arbeitslosenraten. „Die Selbständigkeit in der vom Bund zwischen 2003 und 2006 geförderten ,Ich-AG‘ war Ausdruck einer Krise am Arbeitsmarkt und nicht einer günstigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung“, beschreibt Ferdinand

Kramer die betreffende Entwicklung für Deutschland, in: Kirmeier, S. 19; vgl. auch Frithjof Bergmann: Der „Werde-Unternehmer!“-Rummel, in: Bergmann, S. 398 17 Schmidinger nennt die zu seiner eigenen Betriebsgeschichte parallele Struktur der Tischlerei Dünser in Bezau. (WS 2: Z 221 ff) 18 WS 2: Z 19 ff 19 „Eher wars dann so, daß es Betriebe gab, die haben dann irgendwie ihre jungen Leute möglichst so weit über die Grenze geschickt, daß das, daß das sicher nicht mehr so empfunden worden ist.“ (WS 2: Z 23 ff)

Die Tischlerei als Werk von Generationen

Ausbildung Vorbilder Wissensaneignung

Enge Pfründe in der Aufbaugeneration

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umfassende Krise21 diesen Neuanfang diktiert hatte, zumindest bis in die 1970er Jahre nachwirkt: Der Großvater (circa Jg. 1910) repräsentiert die Kriegszeit mit ihrer unmittelbaren Überlebensnot, der Vater (circa Jg. 1940) die Aufbauleistung dieser langen Nachkriegszeit. Erst überraschend spät erfolgt mit dem ersten Lehrling, „ein Nachbarsbursch, der war als Lehrling hier untergebracht“22, das Aufbrechen der ausschließlichen Familienstruktur der Tischlerei. Ausgehend von Schmidingers Schilderung kann der Zeitpunkt für diese soziale Modernisierung im Sinne eines Abschieds von der vormodernen, rein familienbezogenen Organisationsform handwerklicher Betriebe für den Bregenzerwald mit etwa 1975–80 angegeben werden. Vom ersten „fremden“ Lehrling im eigenen Betrieb, wenig älter als er selbst, geht für Wolfgang Schmidinger sofort ein starker Impuls aus, „er war irgendwie auch so ein gewisses großes Vorbild“23. Dessen Wechsel in einen Nachbarbetrieb nach absolvierter Lehre bietet auch ihm erstmals Gelegenheit zu Einblicken in eine andere als die elterliche Werkstatt, ein Erlebnis, das seine individuelle fachliche Entwicklung und in der Folge die Auftragsstruktur des eigenen Betriebes entscheidend prägen wird. Gelegenheit dazu bietet der „Pfusch“, erste eigene Kundenaufträge, die zur Aufbesserung der eigenen Kasse am Wochenende bearbeitet werden. Am Samstag war es üblich, daß man gepfuscht hat, das waren irgendwie das Moped und die ersten Kassettenrekorder, und das Zeugs hat man eigentlich, mit Pfusch hat man das verdient, (...) das war dann so, daß ich mit ihm, geholfen habe so beim Pfusch, und kam dann manchmal, (...) in den Betrieb hinein. Und ich hab, ich weiß noch, ich hab da so beim Einmal-Durchgehen durch die Werkstatt, hab ich so visuell, ich glaub, diese Profile, und die Dinge, die sich, die da grade herumlagen, und die Schweife, das hab ich so irgendwie, wie ein Magnet aufgesaugt. Das waren, das war magisch, also das irgendwie zu sehen, wie machen die das, und wie lösen die das Detail, und so weiter.24

Das „irre gute Formgefühl“25 des Geschäftsführers dieser Tischlerei läßt Schmidinger nicht mehr los, „ich behaupte, das war die beste Tischlerei, die es im Tal gab“26, und er versucht in der folgenden Zeit, soviel wie möglich davon zu profitieren. „Und, wenn ich wieder wußte, die haben irgendwas Öffentliches gemacht, wo du einen freien Zugang hast, dann bin ich auch mit dem Moped da hingefahren, und hab das dort wirklich genau angeschaut.“27 20 WS 2: Z 27 ff 21 „Trotz manch symbolträchtiger Aktionen (...) mußte das Handwerk bald erkennen, daß es im Gefüge des NS-Staates und seiner Wirtschaftspolitik letztlich von nachrangiger Bedeutung war. (...) [Viele Handwerksbetriebe] litten unter staatlichen Eingriffen und vor allem unter der unzureichenden Rohstoffzuweisung. (...) Während des Kriegs führten Arbeitskräftemangel und Rohstoffknappheit zu zahlreichen Betriebsschließungen im Handwerk [ein Drittel der Betriebe!]. (...) Ab 1943 verlor das Handwerk durch die zwangsweise Eingliederung der Handwerkskammern

in zentrale Gauwirtschaftskammern seine organisatorische Selbständigkeit.“ Diese Feststellungen Wolfgang Schusters für das benachbarte Bayern dürften auch für Vorarlberg zutreffen. Das Handwerk in der Zeit des Nationalsozialismus; in: Kirmeier, S. 180 22 WS 2: Z 186 ff 23 WS 2: Z 192 ff 24 WS 2: Z 364 ff 25 WS 2: Z 221 ff 26 WS 2: Z 205 ff 27 WS 2: Z 399 ff 28 WS 2: Z 393 ff

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Arbeitsform und Wissensaneignung

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Vor Ort, bei den Vorbildstücken „notiert“28 er Profile und hält Detaillösungen und Konstruktionen in Skizzen fest. Die Handzeichnung dient neben der Dokumentation der Form gleichzeitig als Analysewerkzeug, wenn Einzelheiten vermessen und in der Konstruktion von Querschnitten der Herstellungsvorgang rekonstruiert wird.29 Im Vorgang des Zeichnens fallen diejenigen Aspekte zusammen, die Josef Perger als das spezifische Wissen des Handwerkers identifiziert, wenn er handwerkliches Gestalten als das kontinuierliche Ringen um das Wie beschreibt.30 Der gezeichnete Querschnitt des Holzprofils nämlich wird später, in der eigenen Werkstatt, zum selbstgefertigten Werkzeug, dem individuellen Fräsmesser.

Handzeichnung Werkzeug Werkstück

Ich hab für jeden Auftrag neue Messer gezeichnet. (...) Die mußte man aus einem Stück Eisen herausschleifen, und dann in die Fräsmaschine einsetzen, und dann waren oft solche Flügel, das war Unwucht natürlich, und daß uns da die Maschinen da beim Fräsen nicht davon gelaufen sind, kriminell, heute, würde man sagen, aber, aber, das mußte, das Profil mußte da hin. In der Form, das mußte man da anfräsen. Richtig große Dinge.31

Ein weiterer Aspekt des Zeichnens und der Zeichnung wird in der Erzählung hervorgehoben. Nicht nur die ausgeführten Stücke Dünsers, auch seine Entwurfsmethode, insbesondere die Qualität und Manier seiner Zeichnungen, prägen Schmidingers eigene Praxis für Jahrzehnte: „Die Pläne waren irre gut (...) die waren wie, wie schöne Bilder gezeichnet.“32 Die Schönheit der Zeichnung ist Voraussetzung für die Schönheit des Werkstücks. Die Zeichnung ist mehr als nur Stellvertreter des Werkstücks, sie ist Bestandteil eines kontinuierlichen Arbeitsprozesses, der durchgängig handbestimmt33 und qualitätsorientiert ist. Daneben ist die Zeichnung auch Dokumentation und Chronik eines jahrzehntelangen Entwicklungsvorgangs34, etwas Bleibendes, das als Dokument oft länger überdauert als das Werkstück.35 Das erstrebte Ziel dieser Anstrengung ist, mit denen gleichzuziehen, die in der Region für die Besten gelten, das regionale Qualitätsniveau zu erreichen und womöglich zu steigern. Die umliegenden Dörfer bilden dazu das soziale Bezugsfeld und den fachlichen Qualitätshorizont. Solange die Tischler autonom in ihrer Formentwicklung sind, bietet diese auch ein Feld für die Profilierung des Sohnes gegenüber seinem Vater. Die 29 Der Profilquerschnitt zeigt gleichzeitig sein Negativ, die Kontur des Profilhobelmessers, das Werkzeug als Schlüssel des Machens. Auf die Bedeutung des Werkzeugmachers wies Konrad Wachsmann wiederholt hin. Als Mentor des industriellen, mithin antihandwerklichen Bauens hielt Wachsmann 1956–60 Kurse an der Salzburger Sommerakademie und „hat in diesen Jahren eine ganze österreichische Architektengeneration geprägt“ (Kurrent [2001], S. 36). „Seine Kultfigur war aber der Werkzeugmacher (...) Wenn man will, überlebte damit der kreative Handwerker, allerdings auf einer neuen

Ebene instrumenteller Qualität.“ Achleitner (1986). Zum architektonischen Werk Wachsmanns vgl. Wachsmann (1989) 30 Josef Perger bei den „Tagen der Utopie“ 2007 (Eigene Transkription der Tonaufnahme des Vortrags „Peripherie als Hoffnungsträger“ vom 26.04.2007) 31 WS 2: Z 507 ff 32 WS 2: Z 227 ff 33 „Und dieses Wissen, das in Händen liegt und in Blicken liegt, ist still und leise eher vorhanden, zum Beispiel in den Resten der Handwerke.“ Josef Perger, wie Anm. 30

Individuelle Profilierung

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Bewährungsprobe für Schmidingers Selbständigkeit besteht darin, mit seinen Entwürfen diejenigen des Vaters zu übertreffen. Ich kannte den Kunden zwar nicht, aber ich hab dann (...) einen Alternativplan gezeichnet. Und mein Vater, das war dann in der Einfachheit, und in der Unkompliziertheit der Zeit damals möglich, zu sagen, der Tischler taucht mit zwei Plänen auf, da gibts einen, der ist vom Junior, (...) und dann könnte mans auch so machen, und die waren oft, unterschiedlicher könnts nicht sein, aber, Kunde war der, ders irgendwie entschieden hat. Und dann kams so, daß das vermehrt die Entscheidungen so zu meinen Gunsten gingen. Und das war das, was wahrscheinlich meinem Vater die Übergabe von dem Betrieb völlig erleichtert hat.36 Verschwinden von Handzeichnen und Holzprofil

Fehlen der Handwerksform in der Kulturlandschaft

Zeichnen von Hand und eine Formensprache der mit Profilen akzentuierten Elemente sind Aspekte, in denen sich die Formkompetenz des Tischlers entwickeln und darstellen konnte. Heute ist beides verschwunden: der obligatorische Computereinsatz hat das händische Zeichnen verdrängt, der Stilwandel sowie der Einfluß der Architekten eine ornament- und profillose Glätte der Formen hinterlassen. In den Tischlereibetrieben des Bregenzerwaldes und ihren Produkten, dem Innenausbau und Möbelbau, findet die Revolution der Moderne erst um 1980 mit der Auflösung der familiären Struktur der Betriebe und etwa ein Jahrzehnt später, um 1990, mit der Ablösung ihrer Formtradition durch eine „moderne“ Form statt. Einer Handwerksförderung durch Architektur, wie sie sich im Forschungsfeld präsentiert, steht ein Verlust an handwerklicher Formkultur gegenüber. Mit zunehmender Dominanz der Architekten verliert das Handwerk die Differenzierung seiner formalen Sprache, die entsprechende Bildung, gefolgt vom Verlust an manueller Fertigkeit sowohl in der Holzbearbeitung als auch im Zeichnen. Es mutet zynisch an, wenn in aktuellen, der vorbildlichen Zusammenarbeit von Architekten und Tischlern im Bregenzerwald gewidmeten Publikationen gleichzeitig die „Schwächen des Handwerks“ in „fehlenden gestalterischen Impulsen“ konstatiert werden.37 Die Kulturlandschaft bildet diesen Verlust am augenscheinlichsten in denjenigen Bereichen ab, die ursprünglich durch die „anonyme“ Handwerksform geprägt waren. Für das Tischlerhandwerk sind dies naturgemäß Inneneinrichtungen, im öffentlichen Raum spiegeln etwa die Grabmäler der Friedhöfe dieses Gesamtbild.38

34 WS 2: Z 733 ff 35 Erzählungen des Augsburger Schlossermeisters Albert Pfiffner von den Zeichnungen des Augsburger Architekten Thomas Wechs zu Kirchentüren und Beschlägen illustrieren diese Entwicklung. Sie seien alle weggeworfen worden, denn die charakteristische, vom individuellen Strich geprägte Zeichnung war aus der Werkstattpraxis nicht wegzudenken. Heute werden

solche Zeichnungen, soweit in Architektennachlässen noch vorhanden, von Architekturmuseen als Artefakte einer vergangenen Arbeitskultur konserviert. 36 WS 2: Z 412 ff 37 Gögl (2005), S. 74 38 Vgl. die Erörterung der verschwundenen Kultur der Grabmäler im Kontext der Handwerksform in: EW 2: Z 663 ff

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389 6.3 Rustikalproduktion im Bregenzerwald Mit dem Rustikalen betreten wir ein Feld, dem im Kontext Zeitgenössischer Architektur eine unabweisbare Anrüchigkeit anhaftet. Das Rustikale wird aus dieser Position, als Heimattümelei interpretiert, denjenigen Kategorien und Bedürfnissen zugeordnet, die durch die völkische Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus bis zur Unbrauchbarkeit korrumpiert worden sind. Markus Brüderlin faßt diesen Komplex als „Schreckgespenst Heimat“ zusammen. Die von ihm festgestellte „kulturgeschichtliche Enttabuisierung und Nutzbarmachung [des Heimatbegriffs] für den intellektuellen und künstlerischen Diskurs in den siebziger und achtziger Jahren [des zwanzigsten Jahrhunderts]“1 greift für die Bewertung des Rustikalen eindeutig noch nicht. Die Präsenz des Rustikalen in den Wirtsstuben, Cafés, Hotels und ungezählten Privathäusern wird in den aktuellen Publikationen über das Tischlerhandwerk im Bregenzerwald schlichtweg übersehen und weder in Text noch Bild einer Kenntnisnahme für wert befunden. Nur der in seiner beiläufigen Erwähnung gleichsam als Selbstverständlichkeit vorausgesetzte „Widerstand gegen Rustikaliät“2 gibt einen schemenhaften Widerschein des Phänomens, einer immerhin rund zwei Jahrzehnte währenden Phase, in der noch in den 1990er Jahren „das ganze Tal mit kaum einer Ausnahme“ von der Produktion rustikaler Möbel und Innenausbauten „gelebt“3 hat. Schmidingers Erzählung veranschaulicht die typische rustikale „Bauernstube“ und ihre Bestandteile: Deckentäfer, Wandtäfer, Möbel dazu. Das war relativ kompakt, eingebaut, also Kassettendecken, Kassettentäfer, und so weiter, Füllungsdecken. (...) Ein Wandschrank, und ein Sofa, und ein Kanapé, also eine Liege, und ein Also, der Tischler, hat der den ganzen Raum in Auftrag gekriegt. Ganz genau, richtig, „wir wollen eine Stube“, „wir wollen eine Küche“, „wir wollen ein Schlafzimmer“, und dann war Wand, Decke, und das ganze Drumherum mit dabei. Also, das war schon eine Gesamtkonzeption.4

Der auch in diesem Abschnitt beibehaltene Blickwinkel des Handwerkers erlaubt, zunächst die wirtschaftliche Seite des Phänomens in Augenschein zu nehmen, anschließend Fragen der handwerklichen Kompetenz zu betrachten und schließlich mit einigen Aspekten der rustikalen Form und ihrer Bedeutung für das spezifische Klientel auch die moralisierenden (Ab-)Wertungen, die mit Begriffen wie Jodel- bzw. Lederhosenstil 5 angedeutet seien, zu beleuchten.

1 Vgl. Brüderlin, S. 33 ff 2 „Widerstand gegen Rustikalität und sinnentleerte Form, wie sie sich im Tourismus am hartnäckigsten halten, war eine nicht unerhebliche Triebkraft.“ Gnaiger/Stiller, S. 10 3 WS 2: Z 456 ff 4 WS 2: Z 292 ff 5 „An Hand von 200 Lichtbildern erklärte Achleit-

ner als positives Beispiel die historisch gewachsene bauliche Substanz im Bregenzerwald und stellte dem die ärgsten architektonischen Auswüchse gegenüber. Das betraf vor allem (...) Hotelbauten, (...) deren Stil [er] in ,Jodlerblock‘ und ,Lederhosenblock‘ unterschied, sehr zum Mißfallen der anwesenden Hoteliers.“ Wäldertage 1973 in: Schall, S. 121

Schreckgespenst „Heimat“

Präsenz des Rustikalen

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Wirtschaftliche Krise des Tischlerhandwerks in den 1970er Jahren

Die Bregenzerwälder Tischlereiproduktion im rustikalen Stil dauert von der Mitte der 1970er bis in die 1990er Jahre, überschneidet sich also mit dem Auftreten Zeitgenössischer Architektur im selben Raum6 um etwa ein Jahrzehnt. Ihr Beginn fällt in Schmidingers Erinnerung mit „schwierigen Zeiten“ zusammen, in der die Tischlerei phasenweise „keine Arbeit“ hatte.7 Die Wurzel der Probleme lag offensichtlich außerhalb des Betriebes und war strukturell bedingt: die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre. Eine Zusammenschau mit dem Entwicklungsverlauf der zeitgenössischen Vorarlberger Architekturszene, wie sie vor allem Otto Kapfinger erarbeitet hat8, zeigt in dieser Phase die Erste Generation der Vorarlberger Baukünstler am Werk, was Schmidinger im Gespräch bestätigt: „Es gab ja wenige Architekten im Bregenzerwald (...) der einzige, den ich kannte, war der Leopold Kaufmann (...) auch mein Vater hat für den gewisse Dinge gemacht.“9 Von spürbarer Präsenz der Architekten im Bregenzerwald kann zu dieser Zeit nicht gesprochen werden, insbesondere im Innenausbau waren Handwerker und Bauherren unter sich: „Da war ganz selten einmal ein Architekt dabei, der das entworfen hat, die hatten sich eigentlich um das auch nicht gekümmert.“10 Architekten waren demnach nicht nur nicht beteiligt, sodern hielten sich offensichtlich auch ausdrücklich aus der Planung rustikaler Innenausbauten heraus. Man kann sich eine Spaltung der Kundschaft in Tischlerkunden vorstellen, die das rustikale Ambiente wollten, und andere, die moderne Interieurs suchten und mit diesem Wunsch zum Architekten gingen. Der Architekt war damit weniger Fachmann für alle Fragen des Bauens, wie es das offizielle Selbstverständnis des Berufsstandes vorsieht, sondern vielmehr Spezialist für einen bestimmten Stil.

Rettungsanker Rustikalproduktion

Der Rustikalproduktion kommt aus der Sicht des Tischlerhandwerks der Status eines rettenden Auswegs aus der Wirtschaftskrise zu. Neben der bis dahin ausschließlichen Konzentration auf die regionale Bevölkerung konnten jetzt neue, finanziell potente Privatkunden jenseits des Rheins, in der Schweiz und in Liechtenstein gewonnen werden: „Ich hatte Exporte bis zu achtzig Prozent, also achtzig Prozent vom ganzen Jahresumsatz ging da über die, über die Grenze.“11 Von einer Schmidinger-Generation zur nächsten wandelt sich die vorwiegende Eigenbedarfs- und Lokalproduktion in einen boomenden Export. Neben den zahlungskräftigen ausländischen Privatkunden sorgt das heimische Tourismusgewerbe, vor allem in den Wintersportorten am 6 Haus Eugster in Langenegg, Bj. 1984, Architekt Anton Fink. Nach Auskunft der Bauherren das erste moderne Holzhaus im Bregenzerwald, vgl. Gespräch mit Ehepaar Eugster (ALE). Diese Einstufung gilt für die „Zweite Generation“ der Vorarlberger Baukünstler und ihre Werke. Unter jenen der „Ersten Generation“ sind wenigstens Rudolf Wägers Haus Dietrich in Mellau und Leopold Kaufmanns Jagdhaus in Reuthe als deutlich frühere Vorbildbauten zu nennen.

7 WS 2: Z 78 ff 8 Baukulturelle Ereignisse und Akteure in Vorarlberg seit 1960, Synopse in: Kapfinger (2003), Umschlag 9 WS 2: Z 267 ff 10 WS 2: Z 263 ff 11 WS 2: Z 441 ff 12 WS 2: Z 482 ff 13 WS 3: Z 71 ff

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Rustikalproduktion im Bregenzerwald

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Arlberg, für Großaufträge: „Ich hatte zu der Zeit ganze Hotels gemacht in Lech.“12 Auch einheimische Auftraggeber finden sich zahlreich ein. Die Bregenzerwälder Handwerksausstellung, die seit 1976 alle fünf Jahre in Bezau stattfindet13, dient als Hauptumschlagplatz für Privataufträge aus der Region: „Da hat man so ein kleines Heft vollgeschrieben von Kontakten, wo man gleich morgen hinfahren soll und was planen kann.“14 Die Einnahmen aus dem Boom, der bislang nicht dagewesene Auftragsgrößen erschlossen hat, werden in die technische Modernisierung und bauliche Vergrößerung der Betriebe investiert. Die heutige Leistungsfähigkeit des Tischlerhandwerks im Bregenzerwald ist nicht etwa ein Nebenprodukt des Erfolges Zeitgenössischer Architektur Vorarlbergs, wie aktuelle Publikationen suggerieren15, sondern durch Direktaufträge an die Tischlereien entstanden. Das handwerkliche Kompetenzniveau und die technische Modernisierung der Tischlereien ist durch Bauernstuben erarbeitet worden.

Modernisierung der Tischlereibetriebe

Das hat auch eigentlich dazu geführt, daß die Betriebe ziemlich top waren von den technischen Ausrüstungen, es war ein guter Markt, es war ein gutes Geld zu verdienen, und die Tischler haben sich Hallen gebaut, die Tischler haben Maschinen gekauft und mußten eigentlich sehr sehr gute, ausgebildete Leute haben.16

Die rustikale Produktion eröffnete den Tischlern handwerkliche Möglichkeiten, vor allem jedoch jahrzehntelange Praxis in Massivholzverarbeitung auf höchstem Niveau, „eine Möglichkeit, die du heute fast nie hast“.17 Die einzigartig hochstehende handwerkliche Kompetenzdichte, heute ein Aushängeschild der Region, ist in dieser Phase geschaffen worden. Indem der Rustikalstil in der Entwurfs- und Planungshoheit der Tischler lag, diente er immer auch der Zurschaustellung ihrer zentralen Kompetenz und berufsimmanenter Qualitätskriterien. Materialgerechte Holzbearbeitung und eine dauerhafte Fügung der Einzelteile garantierten lange Lebensdauer. So sind noch heute zahlreiche Innenausbauten dieser Zeit erhalten und in Gebrauch, auf die von den ausführenden Tischlern mit Stolz hingewiesen wird.

Massivholzverarbeitung auf höchstem Niveau

Das ist zum Beispiel das Omesberg in Lech, das geb ich auch gerne an, weil ich, wenn ich heute dort bin, dann denke ich, keine Fuge hat, ist aufgegangen, obwohl solche Balken sind (zeigt mit den Händen einen Querschnitt von 40 cm), Massivholz, und, und solche Profile dran waren (zeigt 15 cm).18

Sowohl in den Häusern als auch im Lebensgefüge und Selbstverständnis einer bis 1940 geborenen Generation, der Kriegsgeneration, haben die Vgl. auch Breuß, Broger, Metzler: „Die Geschichte der Bregenzerwälder Handwerksausstellung reicht bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Im Jahre 1976 vom Handwerkerverein Bezau als großangelegte regionale Handwerksausstellung ins Leben gerufen, hat sich die Weiterführung als Ausstellung im Fünfjahresrhythmus etabliert.“ In: Werkraum-Zeitung Nr. 4 (2002), S. 4 14 WS 2: Z 792 ff

15 So etwa Claudia Schwartz in: Gögl (2005), S. 47: „Deshalb ist auch die Entwicklung des Bregenzerwälder Handwerks nur im Kontext der Vorarlberger Architektur zu verstehen.“ 16 WS 2: Z 1019 ff 17 WS 2: Z 521 ff 18 WS 2: Z 485 ff 19 WS 2: Z 850 ff 20 WS 2: Z 886 ff

Kriegsgeneration als Auftraggeber

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beim Tischler in Auftrag gegebenen rustikalen Stuben ihren festen Platz. Schmidinger versetzt uns in seiner Erzählung... ...fünfundzwanzig Jahre zurück, oder zwanzig Jahre zurück (...) das war ein Klientel, das hatte damals Geld, das heißt, die waren zwischen 45 und 60, (...) das Haus abbezahlt, die Stube war noch leer, da war ein Estrich drinnen, und vier fünf geputzte, aber noch nicht gemalte Wände, zwar wohlgefüllt als Abstellkammer, aber die war, die Stube war einfach noch leer, die (...) konnte man nicht finanzieren. Und bis dahin hatten die Leute jetzt einfach das auf einer Kante, daß sie sagten „jetzt, wir haben uns das abgespart“ (...) das letzte ist so irgendwie eine richtig schöne Stube, zum Wohlfühlen, (...) wir sind, habens jetzt geschafft, jetzt strecken wir einfach alle vier Beine aus, und kommen nach Jahren, wo wir einfach richtig rackern mußten, und hart arbeiten mußten, ah, da leisten wir uns jetzt das.19

Anschaulich beschreibt er „die Häuser“ dieser spezifischen Auftraggeberschaft, die mit ihrem Eternitdach und der Regenrinne als einzigen Gestaltmerkmalen „eigentlich furchtbar“20 waren, vor allem jedoch den Gegensatz zwischen der „Armut“ der äußeren Gestalt und dem Reichtum der ornamentierten Stube, der Tischlerarbeit, die lang nach dem Bau des Hauses erst nachgerüstet wird. Der Tischler ist in diesem System, das ein traditionelles Wertesystem verkörpert und tief im Lebensstil dieser Generation verwurzelt ist, der Mann fürs Schöne, derjenige, dem die Krönung des Lebenswerks Haus anvertraut wird. Die Stube vom Tischler fällt damit in jeder Hinsicht aus dem Alltagsgebrauch heraus: sie ist Statussymbol, Schmuckstück und Belohnung für Jahre entbehrungsreicher Arbeit. Die Üppigkeit der rustikalen Formensprache kommt diesem kompensatorischen Bedürfnis entgegen, „da war die Ornamentik irgendwie schon gefragt“.21 Diese Generation der Landbevölkerung sucht nicht das Einfache und Ursprüngliche, das ein städtisches Bildungsbürgertum dem ländlichen Leben und ihren Artefakten seit der Romantik als Heilsames unterschoben hat, denn sie hat die harte bäuerliche Existenz zusammen mit den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit noch selbst erfahren. Sehnsucht nach der Bauernstube

Daß die Sehnsucht nach einer „Bauernstube“ nicht auf den Bregenzerwald beschränkt ist, sondern weiträumiger auftritt22, läßt sich außer der direkten Anschauung auch Hans Döllgasts Alte und neue Bauernstuben23 entnehmen, einer als Anleitung formulierten Gegenüberstellung authentischer bäuerlicher Wohn- und Wirtshausstuben mit ländlichen Interieurs aus prominenter Architektenhand24, die im Münchner Bruckmann-Verlag seit 1937 minde21 Ebd. 22 So sind „Bauernstuben“ in Vorarlberg und anderswo durchaus nicht auf ländliche Einfamilienhäuser beschränkt, sondern auch in städtischen Etagenwohnungen zu finden. 23 Döllgast (1951/1) 24 Clemens Holzmeister, Paul Schmitthenner, P. v. Seidlein u.a.; von Döllgast selbst stammt ein anonym in Zeichnung und Fotografie abgebildeter „Bauernstuhl“. Döllgast (1951/1), S. 48 f 25 A.a.O., S. 4 26 A.a.O., S. 8

Im Kontext der Entstehungszeit des Buches betrachtet, beschreitet Döllgast hier den schmalen Grat zwischen regimekonformer Vereinnahmung bestehender Traditionen und subversiver Aufdeckung dieser Instrumentierung mittels kulturhistorisch differenzierter Betrachtung der authentischen Vorbilder. Im Fall seiner Heiteren Baukunst führte diese Haltung zu einem Veröffentlichungsverbot. Der Vergleich mit Werken seines Kollegen an der Technischen Universität München, Alwin Seifert, Autor von Das echte Haus im Gau Tirol-Vorarlberg, bietet Einblick in die Instrumentierung der Traditionspflege für Zwecke

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stens fünf Auflagen erfuhr. Im Vorwort der fünften Auflage (1951) formuliert der Autor das zugrundeliegende Bedürfnis, das nebenbei auch die Rolle des Ausführenden als Betreuer einer „Herzensangelegenheit“ beschreibt: Ein Stüberl haben, woran das Herz hängt, nicht zu groß und nicht zu klein, nicht kahl, nicht scheckig, dämmerig, warm und still, gar viele möchten das! Man weiß schon: wie – und weiß es doch nicht recht und wäre froh, wenn irgendwo zu lesen wäre, wie man’s anstellt, wie breit und wie hoch, ob sparsam oder reich und wie das andere schon gemacht haben, die viel in Bauernstuben Umschau halten nach Maß und Handwerk, auch selber allerlei ausprobieren mit Kunst aus unseren Tagen. In diesem Fall mag niemand gern im Laden kaufen, obschon es alles gibt: Laternen, Spinnrocken und komplette Herrgottswinkel. Man möchte gern beteiligt sein bei einer Herzensangelegenheit, möchte etwas wissen von den Geheimnissen bäuerlicher Ordnung und ihrer schönen Lässigkeit, von der seltsamen Ehe aus Prunk und Dürftigkeit, festgebundener Regel und hübscher Spielerei, man möchte betreut sein in einer Sache, die kinderleicht erscheint, bei der aber Entgleisung und Erfolg gar nah beisammen wohnen. 25

Das „Stüberl“ hat sich bei Döllgast noch ganz eng an der traditionellen Wohnstube des Bauernhauses zu orientieren, und die gegebene Anleitung dient Punkt für Punkt der Auslotung des Spielraums, den das Repertoire des in Jahrhunderten entwickelten Typus für eigene Interpretationen bietet: „Was ein Läufer, schräg durchs Zimmer gelegt, anrichtet, zeigt ein Versuch.“26 Der Rustikalstil, wie er seit den 1970er Jahren durch die Bregenzerwälder Tischlereien kultiviert wird, unterscheidet sich ausdrücklich von dem traditionspflegerischen Ansatz, den Döllgast noch eine Generation zuvor in seinem Buch vertritt. Auch wenn führende Tischlereibetriebe aus seinem Umfeld die „Bauernmöbel“ im Firmennamen führen28, ist sich Schmidinger der Unterschiede zur traditionellen Bauernstube und deren Mobiliar, die er sicherlich nicht aus Heimatmuseen kennt, sondern in seiner unmittelbaren Umgebung noch in situ vorfindet, durchaus bewußt und Traditionsbewahrung nicht sein Ziel. Seine Entwicklungsgeschichte als handwerklicher Entwerfer verdeutlicht vielmehr, daß gerade der Unterschied zum historischen Bauernmöbel durchaus gesucht und bewußt gesetzt ist.29 Eine soziale Funktion dieser Unterscheidung liegt in der Möglichkeit, eine eigenständige Formensprache zu formulieren, mit der sich seine Generation gegen die Elterngeneration profiliert.30 Während sein Vater noch mit dezenten, den flächigen Füllungen untergeordneten Profilen und Schmuckelementen arbeitete und „eine gewisse ordnender Reglementierung, auch rassisch motivierter Territorialmarkierung. Vgl. Abschnitt Holzbau – Massivbau im Kapitel Holz. 28 „Bauernmöbel Dünser hat der geheißen.“ (WS 2: Z 239 ff) 29 Die auf Initiative des Jurymitglieds Hermann Czech bei Handwerk + Form 2006 mit Auszeichnung bedachte Langbank, ein Eigenentwurf der Schwarzenberger Bau- und Möbeltischlerei Anton Zündel, ist ein Beispiel für die aktualisierte Neuauflage eines genuinen Bauernmöbels, das im Bauernhof noch heute vielerorts seinen angestammten Platz behauptet.

Die Aktualisierung bestand in einer Anpassung an heutige Komfortansprüche: Reduzierung der Sitzhöhe, Verbreiterung der Sitzfläche, Erhöhung der Lehne. Vgl. „So unbequem sind alte Bauernbänke“; in: Döllgast (1951/1), Bildunterschrift S. 51 Vgl. auch den folgenden Abschnitt dieses Kapitels, Reform des Handwerks: Externe Entwerfer 30 Vgl. Abschnitt Arbeitsform und Wissensaneignung dieses Kapitels 31 WS 2: Z 285 ff 32 WS 2: Z 315 ff

Bauernmöbel und Rustikalmöbel

Repertoire des rustikalen Stils

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Zirbenstube

Das Runde ist Ausdruck von Luxus

Das Runde symbolisiert die Entfremdung von der Heimat

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Verziertheit, wie im Biedermeier“31 kultiviert, entwickeln jetzt herausragende Handwerker wie Dünser einen Stil, in dem die Schmuck- und Dekorationsformen dominieren, „indem er die Profile größer gemacht hat, das war schon ein bißchen mehr aufgeblasen, die Balken wurden schon ein bißchen größer“.32 Schmidinger ahmt Dünsers Stil und Repertoire zunächst begeistert nach, bis er sich imstande fühlt, es in eigenen Entwürfen weiterzuentwickeln. Ursprünglich holzfremde Oberflächenbearbeitungen, wie Sandstrahlen und Bürsten, die die harten gegenüber den weichen Jahresringanteilen herausarbeiten, werden jetzt zur Reliefierung der Massivholzfüllungen genutzt, Reliefschnitzereien, diese von traditionellen Dekorationen der Pfettenköpfe und Trambalken innerösterreichischer Bauernhäuser übernommen, treten hinzu und ergänzen das rustikale Repertoire. Daneben erwähnt Schmidinger charakteristische Holzarten, etwa die im benachbarten Tirol heimische Zirbe, deren Astreichtum ein typisches Bildelement für die als Referenz genannte Tiroler Stube ist.33 Die dominierenden Profile, Kennzeichen des Rustikalstils, sind zwingend aus Massivholz. Die gelegentliche Kombination mit astreichen Holzarten legt nahe, das Formideal als „Holz zeigen“ zu beschreiben. Holz tritt hier nicht als Oberfläche, als zweidimensionales Bild in Erscheinung, wie bei den glatten Entwürfen der modernen Formensprache, sondern wird als dreidimensionales Material präsentiert: „Das war ein Relief, die Stube war ein Relief.“34 Wenn es für zahlungskräftige Schweizer Privatkunden aufwendig sein durfte und sollte, bot das rustikale Formrepertoire vor allem die Rundung auf. „Also, runder konnts nicht sein, ein Schrank rund, (...) runde Decken und komplizierte Teile, technisch kompliziert umsetzbare Teile.“35 Das Runde ist aufwendig und technisch anspruchsvoll, denn es steht dem geraden Wuchs des Holzes diametral entgegen, es ist diejenige Form, die in Massivholz am schwierigsten zu realisieren ist, da sich ihr das Material am stärksten widersetzt. Dementsprechend geeignet erscheint es für die Zurschaustellung von Luxus. Wenn in Schmidingers Erzählung über seine Produktion jener Zeit, die fast ausschließlich Kunden jenseits der Schweizer Grenze bedient36, dem Runden die Konnotation des Fremden hinzugefügt wird, so liegt der Umkehrschluß nahe, das Gerade zum eigentlich Eigenen zu erklären.37 33 Über eine Wiederkehr des Zirbenholzes berichtet der Beitrag „Zu laut gejodelt, aber nicht verstummt“, Nora G. Vorderwinkler in: zuschnitt 23.2006, S. 12 Die aktuelle Verwertungskampagne für die schlagreifen Tiroler Zirbenbestände hat u.a. die Broschüre „Zirbe für Holzgenießer“, Innsbruck: Holzcluster Tirol, 2004, entstehen lassen. Vgl. auch Abschnitt Holz als Baustoff im Kapitel Holz, Anm. 84 34 WS 2: Z 468 f 35 WS 2: Z 451 ff

36 Die Schweiz mit ihrer zahlungskräftigen Klientel tritt im Lauf der Geschichte Vorarlbergs immer wieder als Abnehmer der Produkte des Bregenzerwälder Handwerks in Erscheinung. Vgl. u.a. den von Wirthensohn beschriebenen Stickereiboom der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im Abschnitt Was ist ein Dorf? des Kapitels Dorf. 37 Ähnlich argumentiert Ernst Hiesmayr in der Ansprache zur Preisverleihung von Handwerk+ Form 1991: „Und es ist bedauerlich, daß man von diesen

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Gegenüber dem Runden und reliefplastisch Durchgebildeten ist alles, was Kiste (Haus) und Kasten (Möbel) ist, selbstverständlich, schlicht und bescheiden. In dieser Verknüpfung kommt das moralische Moment als soziale Bewegkraft der Vorarlberger Moderne zum Tragen: der Übergang vom Rustikalen zum Modernen erhält argumentativen Vorschub, indem er über die „Rückkehr zur Einfachheit“ als moralischer Aufstieg interpretierbar ist. Die moralische Abwertung des Rustikalen ist in Schmidingers Wortwahl präsent, wenn er die Rustikalproduktion rückblickend als kollektive Ausschweifung beschreibt: „Das hat jede Tischlerei hinter sich, diese Dinge, mit größeren und kleineren Auswüchsen.“38 Seine kennzeichnenden Begriffe „RiesenGejodel“39 und „Wilde Ornamentik“40 entstammen wohl kaum dem Wertesystem des Handwerks, sondern übernehmen vielmehr die herablassende Polemik, mit der das Rustikale seitens der Architekten und Kulturkritiker bedacht zu werden pflegt. Als Hintergrund dieser kategorischen Ablehnung, die neben dem Rustikalen auch das Ornament selbst sowie jede Bezugnahme auf historisch gebundene Dekorationsformen umfaßt, scheinen Schlagworte klassischer Texte der Architekturkritik auf, zuvörderst Ornament und Verbrechen41, eine komplexe kulturkritische Abhandlung aus dem Jahre 1908, in der sein Verfasser Adolf Loos, Architekt und als scharfzüngiger Kommentator der bau- und lebenskulturellen Entwicklung seiner Zeit von ähnlichem Format wie Karl Kraus und Kurt Tucholsky, von der Ornamentik der Naturvölker, „der papua tätowiert seine haut, sein boot, seine ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist“42, den Bogen spannt zur höheren Kulturstufe der Gegenwart: „evolution in der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande.“43 Die Rezeption des Loos’schen Essays ist gekennzeichnet von ungeheurer Breitenwirkung bei gleichzeitig sinnentstellender Mißinterpretation, was insbesondere in der Umdeutung seines Titels in „Ornament ist Verbrechen“ anschaulich wird. „Aus dem ganzen Gedankengebäude ist nur ein einziger Aspekt sichtbar geblieben, wie die Spitze eines Eisbergs, während der grössere und wichtigere Teil verborgen blieb.“44 Ein etwas ausführlicherer Exkurs erscheint hier angebracht, weil neben Loos’ bemerkenswerten Argumenten sowohl für die Diskussion der ornamentalen Handwerksform als auch ihrer konträren Bewertung, seine Texte in aktuellen Publikationen des schwarzen Holzkisten, den Bauernhäusern, abgegangen ist, und sich die bajuwarische Deftigkeit angelacht hat.“ Wie Abschnitt Reform des Handwerks: Externe Entwerfer dieses Kapitels, Anm. 39 38 WS 2: Z 456 ff 39 WS 2: Z 889 40 WS 2: Z 738 41 Die Loos-Biographen Rukschcio und Schachel weisen darauf hin, daß der Umstand der späten Drucklegung, nämlich erst 1929, neun Jahre nach dem Er-

scheinen in französischer Übersetzung u.a. in Le Corbusiers L’ Esprit Nouveau, „wesentlich zu der fast ausschließlichen Mißinterpretation von Ornament und Verbrechen beigetragen“ habe. Rukschcio /Schachel, S. 118 Vgl. auch den Abriß der Veröffentlichungsforschung, den Franz Glück als Herausgeber von Loos’ Sämtliche[n] Schriften zu Ornament und Verbrechen gibt. Loos, S. 457 42 In: Ornament und Verbrechen; Loos, S. 276

Rustikalproduktion als kollektive Ausschweifung

Kritik an Ornament und Dekoration

Exkurs „Ornament und Verbrechen“

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Sozialer und formaler Wandel der 1920er Jahre

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Forschungsraumes nach wie vor zur Definition einer „zeitgemäßen Form“ herangezogen werden.45 Loos’ Polemik richtet sich insbesondere gegen die Wiener Architekten und Sezessionskünstler seiner Zeit, die, ebenso wie die Jugendstil-Künstler in allen europäischen Ländern der Jahrhundertwende, das Ziel modernen Kunstschaffens in der Entwicklung einer zeitgemäßen Ornamentik sahen. „Jede zeit hatte ihren stil und nur unserer zeit soll ein stil versagt bleiben? Mit stil meinte man das ornament.“46 Loos begründet seine Forderung nach Ornamentlosigkeit mit volkswirtschaftlichen Argumenten. In der Ornamentierung massenproduzierter Gebrauchsgegenstände sieht er vor allem die bewußte Verkürzung ihrer ästhetischen Lebensdauer und damit ihres Wertes sowie eine Verschwendung von Rohstoffen, Arbeitskraft und Arbeitszeit, die er statt dessen dem kulturellen Fortschritt und dem individuellen Wohlstand der Menschen im nationalen Maßstab zuführen möchte. Seine fundamentale Kritik richtet sich neben den professionellen Entwerfern, Architekten wie Künstlern, vor allem gegen die Kulturpolitik seines Landes: „der staat, dessen aufgabe es ist, die völker in ihrer kulturellen entwicklung aufzuhalten, machte die frage nach der entwicklung und wiederaufnahme des ornamentes zu der seinen. (...) Denn schließlich geht eben jeder staat von der voraussetzung aus, daß ein niedrig stehendes volk leichter zu regieren ist.“47 Völlig überhört worden sind in diesem Feuerwerk der Kritik Loos’ „positive Wertung des Ornaments anderer Zeiten und anderer Kulturstufen und dessen universelle Verfügbarkeit sowie die Anerkennung des Ornaments als Quelle der Freude im Arbeitsprozeß der Massenmenschen.“48 Dem Handwerker gesteht Loos die Ornamentierung der von ihm geschaffenen Gebrauchsgegenstände ausdrücklich zu, denn die Handwerker und mit ihnen alle, die den Segnungen hoher Kunst nicht teilhaftig werden können, „haben kein anderes mittel, um zu den höhepunkten ihres daseins zu kommen“.49 Rückblickend konkretisiert Loos in seinem 1924 erschienenen Text Ornament und Erziehung nochmals sein Anliegen und beschreibt die einzig anzuerkennende „moderne Form“ als Ergebnis einer Gebrauchspraxis, die evolutionär entsteht und alle Menschen eines Kulturkreises einbezieht. Seit Ornament und Verbrechen haben sich, zumal in Österreich, das mit dem Ersten Weltkrieg den Weltmachtstatus, den überwiegenden Teil seines Herrschaftsgebietes und die Monarchie als Staatsform verloren hat, auch die sozialen Verhältnisse radikal verändert. Die architektonische Avantgarde hat sich im nunmehr „Roten“ Wien diesen Wandel zu eigen gemacht und bezüglich des Ornaments eine 180°-Wende vollzogen. So sieht sich Adolf Loos anstelle von „Ornamentikern“ inzwischen „Puristen“ gegenüber. Vor sechsundzwanzig jahren habe ich behauptet, daß mit der entwicklung der menschheit das ornament am gebrauchsgegenstande verschwinde, eine entwicklung, die unaufhörlich und konsequent fortschreitet und so natürlich ist wie der vokalschwund in den endsilben der umgangssprache. Ich habe aber damit niemals gemeint, was die puristen ad absurdum getrieben haben, daß das ornament systematisch und

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konseqent abzuschaffen sei. Nur da, wo es einmal zeitnotwendig verschwunden ist, kann man es nicht wieder anbringen, wie der mensch niemals zur tätowierung seines gesichtes zurückkehren wird.50

Ausdrücklich hebt er im selben Text die Wichtigkeit des Ornaments für die Erziehung hervor: „Das klassische ornament spielt im zeichenunterricht die selbe rolle, wie die grammatik“51 und betont seinen Wert, gemeinsamer Ausdruck eines Kulturraums und damit Bestandteil einer europäischen Identität zu sein: „Das klassische ornament (...) bringt trotz ethnografischer und sprachlicher unterschiede eine gemeinsamkeit der formen und ästhetischen begriffe.“52 Daß neben der Welt der Formen, aus der das „Klassische Ornament“ eine Klammer ist, die Europa verbindet, parallele Felder einer „klassischen“ Denk- und Begriffstradition eine ähnliche Aufgabe übernehmen, daß also „die Weise der geschichtlichen Vergewisserung für uns immer gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwärtigkeit und dem, was uns darin inhäriert“53, sei, findet Wolfgang Schadewaldt in der Welt der Texte und des Denkens: „So sind auch die Griechen nicht irgendwo hinter den Bergen, sondern das Griechische, von dem wir sprechen (...) ist als Gegenwärtiges um uns herum, lebt und wirkt durch uns und in uns.“54 Wenn Loos der evolutionären Entstehung der modernen Form den individuellen Entwurf gegenüberstellt und als dessen Autor den Architekten nennt, „Wo immer gebrauchsgegenstände unter dem einfluß von architekten hergestellt werden, sind diese gegenstände unzeitgemäß, also unmodern. Das gilt selbstverständlich auch von den modernen architekten“55, bietet sich aus diesem Exkurs in die inzwischen historisch gewordene Ideologiedebatte der 1920er-Jahre-Moderne ein Brückenschlag zur Gegenwart der ausklingenden Rustikalproduktion in den Bregenzerwälder Tischlereien. Bemerkenswert erscheint in dieser Zusammenschau von Loos’ Text und Schmidingers Erzählung der Umstand, daß die Ornamentkritik nunmehr vom Handwerker kommt, dessen Produktion Loos aus der Forderung nach Ornamentlosigkeit ausdrücklich ausnimmt, der Handwerker sich also das kulturelle Selbstverständnis und den Diskurs der zeitgenössischen Architekten zu eigen macht. So kann im kollektiven Übergang von der rustikalen Handwerks- zur modernen Produktform im Tischlerhandwerk des Bregenzerwaldes auch eine Intellektualisierung der Handwerker, womöglich durch das Forum, das der Werkraum Bregenzerwald 56 bietet, festgestellt werden. Unvermindert aktuell ist Loos’ Erkenntnis, daß der Grad der Identifikation des Handwerkers mit seinem Werkstück davon abhängt, inwieweit dieser 43 44 45 46 47 48 49

A.a.O., S. 277 Rukschcio /Schachel, S. 118 Vgl. dazu auch: Steiner, S. 5 Loos, S. 278 A.a.O., S. 279 Rukschcio /Schachel, S. 121 Loos, S. 287

50 51 52 53 54 55 56

In: Ornament und Erziehung; Loos, S. 395 A.a.O., S. 397 Ebd. Schadewaldt, S. 42 Ebd. A.a.O., S. 393 Vgl. Reform des Handwerks in diesem Kapitel

Intellektualisierung der Handwerkerschaft

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dessen Form zu bestimmen imstande ist. Die Formkompetenz der Handwerker jedoch erleidet mit der verschwindenden Praxis des rustikalen Tischlerentwurfs eine empfindliche Einbuße. Diese sowie Aspekte von Auftragskonstellationen und Kundenorientierung werden Gegenstand der folgenden Abschnitte dieses Kapitels sein. Vorbilder ornamentierter Stuben

Die formalen Vorbilder für die profilierten Stuben sind statt in der Volkskunst eher in den historisch gebundenen Dekorationen adliger Landsitze, so etwa hölzerner Renaissance-Decken oder kirchlicher Bauten, zu suchen. Aus drohendem Abbruch oder Verfall der Schlösser und Kirchen gerettet und in denkmalpflegerischen Sicherungskampagnen in die Städte des Alpenraums57 übertragen und dort wirkungsvoll inszeniert, konnten diese Fragmente rückprojiziert werden auf den ländlichen Raum als einer idealisierten Sehnsuchtskulisse malerischer Folklore, die mit der Parallelrealität bäuerlicher Formtraditionen zunächst nichts gemein hat. Friedrich Achleitner beschreibt diesen stilbildenden Vorgang einschließlich seiner offenbar unentrinnbaren Verquikkung mit architektonischer Praxis und Abgrenzungserbe des Nationalsozialismus:

„Regionalismus“

Das Paradebeispiel für Regionalismus scheint mir in der zweiten Hälfte des vorigen [des neunzehnten] Jahrhunderts Bayern geliefert zu haben, wo im Glanz und Schatten der Wittelsbacher, kräftig unterstützt von der aufblühenden süddeutschen Heimatschutzbewegung ein „bairischer Regionalstil“ entwickelt wurde, der ebenso bäuerlich-alpine wie bürgerlich-barocke Elemente verwendete. (...) Jedenfalls schuf die Kunststadt München ein bewußt regionalistisches Klima, das sich über das Oberland ausdehnte und auch nach Tirol überschwappt. Hier führte sozusagen aus den Niederungen von Boden und Malz ein Weg zum Obersalzberg, der in der Entwicklung eines für den Tourismus verwertbaren „alpinen Stils“ auch ideologische Hilfsdienste leistete.58

Daß neben dieser indirekten auch direkte Übertragungswege der hohen in die bäuerliche Handwerkskunst existieren, hat Hans Döllgast in seiner Heiteren Baukunst für das Rokoko formuliert: In Modeln und Schablonen, an Bilderrahmen, Spiegeln und kristallenen Lüstern, in Stoffen, Trachten und Tapeten klingen bis in unsere Tage wehmütig kümmerliche Reste des glutvoll leidenschaftlichen Geistes genialer Rokokodekorateure nach. Provinz und Landvolk halten dem Stil, den Schinkel rundweg ablehnte, lang die Treue. Ein Hauch von Anmut huscht über Kasten, Bett und Ofen der erbärmlichsten Kemenate. Die Tölzer Kistler, Kirchenmaler, Schmied und Weber machen sich kein Kopfzerbrechen über Sinn und Herkunft der Rocaille, mit Vasen und Buketten verzieren sie unbedenklich den Hausrat und die Fensterläden, die Giebel und den Schürzenstoff, Grabzeichen, Marterl und die Stirn der Totenschädel. 59

Mit dieser Übertragung in die Handwerksform geht gleichzeitig eine Konservierung einher, eine Verlangsamung des ästhetischen Verfalls60, die im Fall des Rustikalstils das historische Formrepertoire der Profile, Konsolen und Gliederungen noch zwei bis drei Generationen von Handwerkern (und Auftraggebern) länger im Gebrauch hält als die „hohe“ Architektur. Buchstäblich naheliegend wäre, sich gerade im Bregenzerwald nochmals der Barockbaumeister und ihrer Stuckdekorationen zu erinnern, um eine ei-

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genständige Geschichte der Handwerksform zu rekonstruieren, speziell der im Handwerk verwurzelten, historisch gebundenen Bau- und Möbeldekoration, die in der rustikalen Tischlereiproduktion eine Dekadenzphase und einen Endpunkt erreicht hat. Der Rustikalstil verkörpert noch, wenigstens als Absicht, die Rückbindung bis in den Barock – mithin einen Widerhall von mindestens dreihundert Jahren. Mit Augenzwinkern ließe sich daher eine von den Bregenzerwälder Barockbaumeistern herrührende handwerkliche Formtradition feststellen, die eben keine akademische, sondern eine WerkstattTradition ist. Der totale Gültigkeitsanspruch Zeitgenössischer Architektur, deren Protagonisten die gegenwärtigen Standards von Objekt- und Baukörperform als Bestandteil des Orts- und Landschaftsbildes bestimmen, hat das Lesen des historisch gebundenen Formen- und Dekorationsrepertoires längst aus seiner Ausbildung und damit aus seiner Wahrnehmung eliminiert. So konnte diese Linie gekappt werden, ohne ihre gegenwärtige Existenz eigentlich zur Kenntnis zu nehmen. Eindeutig zu trennen ist der Rustikalstil, wie er von den Tischlereien des Bregenzerwaldes gepflegt wurde, von den Rustikalmöbeln der Versandhäuser und Möbelfabriken, „der schwelgerischen Phantastik des gewöhnlich Schönen“.61 So preist etwa der Neckermann-Katalog 1982/83 unter dem fiktiven, in Fraktur gesetzten Markennamen Zunftmeister, „Rustikales Wohnbehagen für alle, die das Echte lieben“ an und wirbt für eine schwellende Polstergruppe mit üppig gemustertem Veloursstoff auf dunkel gebeizten Eichenbrettern mit groben Pfosten und betont klobig ausgeführten Steckverbindungen mit ECHT EICHE und MASSIV HOLZ.62 Hier wird Handwerklichkeit selbst zum Stil und als schwülstig und grob konnotiert.

Eine Bregenzerwälder WerkstattTradition?

Der Übergang vom rustikalen zum modernen Stil vollzieht sich gleichzeitig auf mehreren Ebenen. Schmidinger nennt an erster Stelle das „Aussterben“ der Kundschaft für die Rustikalaufträge, parallel dazu ein eigenes, inneres Wegbewegen von diesen Auftraggebern. Seine Hinwendung zur modernen Architektur und das Interesse an ihren Formen geschehen auch, um den Anschluß an jene Tischlereien nicht zu verlieren, die sich in moderner Formgebung bereits einen Kompetenzvorsprung erarbeitet haben, den es aufzuholen gilt.63 Der Wandel von der rustikalen zur modernen Produktion erscheint in seiner Erzählung als Epochenwandel, an dem er selbst teilhat, indem er

Epochenwandel vom Rustikalen zum Modernen

57 So ziert etwa die Zirbenholzstube aus einem Südtiroler Schloß den Sitz des Akademischen Gesangsvereins in München. 58 Achleitner (1996), S. 20 f 59 Döllgast (1951), S. 90 60 Die Stilverzögerung in der Handwerksform beschreibt auch Köbi Gantenbein: „Ich kenne den Bregenzerwald nicht, aber ich stelle mir vor, das wird da nicht viel anders sein als in dem Tal, aus dem ich herkomme, im Prättigau, einer Landschaft zwei Berg-

ketten und eine Landesgrenze weiter südöstlich von hier. Mein Großvater arbeitete da als Schreinermeister und versuchte vor nun bald achtzig Jahren, die bäuerlichen Verfahren und Formen mit Ideen des Jugendstils, der es langsam aus den Zentren in die Peripherie geschafft hatte, zu verbinden.“ In: Gantenbein, S. 3 61 Selle (1987), S. 307 62 A.a.O., S. 303 63 WS 2: Z 533 ff

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ihn aktiv mitgestaltet, sein Betriebsprofil gegenüber den Kunden wandelt, sich neue Auftraggeber sucht. Betriebe, die dieses Engagement nicht erbracht haben, seien stehengeblieben und nach wie vor „behaftet“ mit der rustikalen Produktion. Zusammenfassend wertet Schmidinger den Übergang vom Rustikalen zum Modernen als befreiende Leistung aus eigenem Antrieb.64 Im Formdetail ist ein Abflachen der Profile65 zu beobachten, auf den Messeständen der Bregenzerwälder Handwerksausstellung das unvermittelte Nebeneinander von rustikalen und modernen Stücken. „Und ich hab einfach auf der Messe beides gezeigt, also, da gabs dann eine Koje mit, mit der Bauernstube, und dann gabs dann eine Koje mit der (modernen) Küche.“66 Von Schmidinger selbst stammt die Assoziation der rustikalen Produktion mit dem Rokoko: „Du wächst da irgendwie in diesen Rokoko hinein, und irgendwann hast du das Ding – einfach satt, irgendwann ist eine Sehnsucht da nach, vielleicht einfacheren Dingen, oder einfacheren, das ist, glaub, das ist unterbewußt passiert.“67 Hans Döllgasts Rokoko-Abgesang erscheint daher geeignet, an dieser Stelle den Schlußpunkt unter die Rustikalität zu setzen: „Der Rausch verfliegt. Die Mode wechselt, ein dürftigeres, fremdes Formenideal tritt in die Schranken.“68 Die neue Architektur bringt der Tischlerwerkstatt die Sperrholzplatte als Leitmaterial, „die war vorher fast nie im Einsatz“.69 Hier tritt Holz zweidimensional, als Schälfurnier in Erscheinung. Statische Belastbarkeit und Richtungsneutralität stand bei ihrer Entwicklung im Vordergrund, ein Ingenieursmaterial und als solches zunächst zur Aussteifung der Holzskelette in den frühen Architektenhäusern verwendet70, später dann, dem ursprünglichen Zweck entfremdet und mit entsprechenden technischen Schwierigkeiten im Gefolge71, auch bei Türen und Möbeloberflächen eingesetzt. Effekt und Faszination erklären sich aus dem Kontrast zum vorhergehenden Überschwang der Formen, „das sieht jetzt anders aus, irgendwie, glatter aus“.72 Das formale System der profilierten „Bauernstube“ mit ihrer kanonisierten Ausstattung „Deckentäfer, Wandtäfer, Möbel dazu. (...) Ein Wandschrank, und ein Sofa, und ein Kanapé“73 ist außer Kraft gesetzt, der Rustikalstil ist in Verruf gebracht. Was bleibt dem Tischler, der im Massivholz weiterhin drei64 WS 2: Z 823 ff 65 „Die Ornamentik ist irgendwie wieder weniger geworden, man hat abgeflachte Profile nur noch verwendet, aber die waren rund, (...) keine Kantigkeit mehr hatten, sondern nur noch ausgerundet waren, andere ah, Semantik hatten.“ (WS 2: Z 602 ff) 66 WS 2: Z 779 ff 67 WS 2: Z 551 ff 68 Wie Anm. 59 69 WS 2: Z 573 ff 70 WS 1: Z 1435 ff

71 Schmidinger berichtet etwa von den Problemen, Möbel- und Zimmertüren aus windschief verzogenen Sperrholzplatten zu fertigen. 72 WS 2: Z 595 ff 73 Wie Anm. 4 74 WS 2: Z 901 ff 75 Editorial in: Werk, Bauen + Wohnen 11/2007 „Ornament“, S. 3 76 Wie Anm. 74 77 Gespräch mit Anton Mohr, Andelsbuch, 13. 11. 2007

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dimensional arbeiten will? „Mach heute einen schön gedrechselten Teil, (...) [eine] Handlaufwarze, die aus einem glatten Brett herauswächst.(...) Oder eine schöne gedrechselte Schale aus Holz.“74 Lediglich Kunsthandwerkliches, eine Collage aus moderner Einrichtung und Akzenten, die zwar haptische Bedürfnisse befriedigen, jedoch, herausgelöst aus aller Bindung, nie mehr als beliebig und dekorativ sein können und damit „von der Schwierigkeit [sprechen], heute ohne entsprechende Tradition neue Ornamente zu entwerfen“.75 Daß der Bedarf nach einer neuen, plastischen Formkultur des Handwerks und der entsprechenden Ausbildung nicht nur „das Tischlerherz“76 befriedigen, sondern auch einem Kundenbedürfnis Rechnung tragen würde, dem derzeit, jedenfalls seitens der Tischlereien des Bregenzerwaldes, kein Angebot gegenübersteht, bestätigt nicht nur Schmidinger, sondern auch andere einflußreiche Tischlermeister der Region: „Die Kunden nehmen halt das Glatte, weil es nichts anderes gibt.“77

Plastische Formung nach der Diskreditierung des Rustikalen

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6.4 Reform des Handwerks: Externe Entwerfer Der Mensch läßt sich lieber einen Raubmord vorwerfen, als schlechten Geschmack.1

Impulse aus der Architektenschaft

Folgen des ländlichen Strukturwandels für das Handwerk

Seit Mitte der 1980er Jahre beginnt die zeitgenössische Vorarlberger Architekturbewegung mit ihrer „Zweiten Generation“ auch im Bregenzerwald Fuß zu fassen und stilbildend zu wirken.2 Die Suche nach wirksamen Schnittstellen zwischen Architektur und Handwerk fördert zunächst familiäre Verflechtungen einzelner, aus dem Holzhandwerk stammender Architekten zutage. Daneben dürften vor allem die öffentlich geführten Auseinandersetzungen um die ersten Architektenhäuser, „die Rebellion, die so irgendwie gegen dieses Neue losging“3, in der Handwerkerschaft Aufmerksamkeit erregt haben. „Anläßlich von dieser Handwerksausstellung in Bezau gabs eine Podiumsdiskussion mit schlimmen Beschimpfungen [des] Architekten“4, erinnert sich Wolfgang Schmidinger. Neben der Diskreditierung des Rustikalstils seitens der Architektenschaft, einer zunächst vor allem stimmungsmäßigen Einflußnahme auf die Entwurfspraxis des Tischlerhandwerks, die indirekt über die gesellschaftliche Wertschätzung ihre Wirkung ausübt, können direktere, tiefgreifendere Einwirkungen festgestellt werden, die das Handwerk in der Konfrontation mit Architektur erfährt. Architektur tritt hierbei nicht nur als Reformbewegung in gestalterischen Belangen in Erscheinung, die sich zur Ästhetischen Erziehung der Gesellschaft veranlaßt fühlt5, sondern auch als Vermittlerin von Wirkkräften, für die die Schlagworte Standardisierung, Arbeitsteilung und Marktwirtschaft stehen, Kräfte, die seit dem Beginn der Industrialisierung Europas vor 250 Jahren wirksam sind und in der Ideologie der Modernen Bewegung, wie sie zwischen den Weltkriegen formuliert wurde, eine positive Bewertung erfahren haben.6 So proklamiert etwa Jan Tschichold 1928 in Das neue Weltbild: „Statt die eigenen Gesetzmäßigkeiten der Maschinenproduktion zu erkennen und zu gestalten, begnügte sich [die Vergangenheit] mit der ängstlichen Nachfolge einer übrigens nur eingebildeten ,Tradition‘. Ihr stehen heute jene Werke gegenüber, die, unbelastet durch Vergangenheit, primäre Erscheinungen, das Antlitz unserer Zeit bestimmt haben: Auto Flugzeug Telephon Radio Warenhaus Lichtreklame New-York! Diese ohne Rücksicht auf ästhetische Vorurteile gestalteten Dinge sind von einem neuen Menschentyp geschaffen worden: dem Ingenieur!“7 Weiter dürfen für die Begegnung von Tischlerhandwerk und Architekturbewegung auf beiden Seiten auch wirtschaftliche Beweggründe angenommen werden: Die Schaffung neuer Betätigungs- und Akquisitionsfelder wird zumindest auf Handwerkerseite ausdrücklich verfolgt.8 Im Zeitraum der frühen 1990er Jahre, der in diesem Abschnitt ins Auge gefaßt wird, wirft bereits der bevorstehende EU-Beitritt Österreichs seine Schatten voraus, der im Handwerk,9 auch in der Landwirtschaft10 als den prägenden Wirtschaftskräften des ländlichen Raumes, zunächst Verunsiche-

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rung auslöst und in der Folge die Motivation zu konkreten Initiativen schafft. Das Handwerk und seine Verbandsstrukturen, hier insbesondere die lokalen Handwerkervereine, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Nachfolge der Zünfte angetreten haben11, tritt uns hier als Organisationsform gegenüber, deren Ziele der Qualitätssicherung, der gegenseitigen Unterstützung seiner Mitglieder sowie der Absicherung regionaler Absatzmärkte für seine Produkte angesichts einer sich zunehmend global konstituierenden Wirtschaftswelt aktueller denn je erscheinen: „In vielen Sprachen Europas gibt es (...) nicht einmal eine eindeutige Übersetzung für den Begriff Handwerk; deshalb hat sich in den politischen Einrichtungen der Europäischen Union die Bezeichnung kleine und mittlere Unternehmen, micro, small and medium-sized enterprises (SMEs), durchgesetzt.“12 Die Fortsetzung dieses Wandels im späten zwanzigsten Jahrhundert durch den 1995 schließlich vollzogenen EU-Beitritt Österreichs13, fortschreitende Globalisierung, Popularisierung des Internet als neuer Vertriebsplattform sowie damit korrelierender sozialer Veränderungen zeigt die im Vorfeld bereits erwarteten Auswirkungen auf das Handwerk: „Die Mitbewerbersituation hat sich verschärft, das Preisgefüge ist in manchen Branchen auf den Kopf gestellt worden, das Kaufverhalten verändert sich laufend. Große 1 Josef Frank: Der Gschnas fürs G’müt und der Gschnas als Problem (1927); in: Bergquist, S. 102 ff 2 Vgl. Abschnitt Baukünstler Kapitel Vorarlberg, Anm. 76 3 WS 1: Z 322 f 4 A.a.O., Z 317 f 5 Vgl. Abschnitte „Ein anderes Haus“ und Architektenhaus, Kapitel Haus 6 Vgl. Abschnitt Land und Ländle, Kapitel Vorarlberg 7 Tschichold (1928), S. 11 8 Der damalige Obmann des Werkraum Bregenzerwald Anton Kaufmann knüpft etwa anläßlich einer Ausstellung, die in Wien „zeitgemäße“ Möbel aus Bregenzerwälder Handwerksproduktion zeigt, Hoffnungen auf eine Linderung des notorischen Lehrlingsmangels im Handwerk an die Zusammenarbeit mit Architekten: „Die Beibehaltung des hochstehenden handwerklichen know-how auch für die Zukunft hängt in hohem Maße damit zusammen, daß sich junge Menschen für das Handwerk begeistern und interessieren können. (...) Möge die meist schwerer wiegende Resonanz aus der Ferne dazu beitragen, Ansehen und Prestige der handwerklichen Tätigkeiten auf eine breitere Basis zu stellen und für die Jugend attraktiv zu machen.“ In: Gnaiger/Stiller, S. 13 9 Vgl. etwa: „Der Präsident der Handwerkskammer Vorarlberg [zeichnete] hinsichtlich der Zukunft des Handwerks (...) auch in der EG ein optimistisches Bild.“ Lang, S. 18 ff „Jedoch könnte auf diese Art der bedrohliche

Facharbeiter- und Lehrlingsmangel ebenso wie die Öffnung auf ein größeres Europa vollzogen (...) werden.“ In: Verachtet mir die Meister nicht (Ankündigung „Handwerk + Form“); Kulturjournal Nr. 7; Feldkirch 1991, S. 16 10 „Große Sorgen bereitet den Verantwortlichen unserer Sennerei die Annäherung Österreichs an den Großraum EG...“ Johann Jakob Feuerstein in: Festschrift Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch 1791–1991 11 „1879 trat an die Stelle der Zunft der Krankenunterstützungsverein, der bis 1922 die Tradition der Zunft fortsetzte. (...) Als sich dann die Krankenkassen und das ganze Versicherungswesen ausbreitete und die Inflation nach dem ersten Weltkrieg zum Vermögensverlust des Vereins führte, wurde (...) 1925 beschlossen, den Verein aufzulösen. Das noch vorhandene Vermögen, insbesondere auch die Zunftlade, das Zunftschild sowie das Schriftgut, wurde dem 1926 gegründeten Handwerkerverein überlassen.“ Festschrift Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch 1791– 1991 12 Rainer S. Elkar in: Kirmeier, S. 22 13 Österreich trat der EU im Rahmen ihrer vierten Erweiterung zusammen mit Schweden und Finnland bei. Volksentscheide hatten in Schweden und Finnland knappe Mehrheiten für einen Beitritt, in Österreich sogar eine 2/3–Mehrheit ergeben, in Norwegen im gleichen Jahr eine knappe Mehrheit gegen einen Beitritt; wikipedia.org/wiki/EU-Erweiterung; 12.11.2007

Handwerk als Organisationsform

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Aspekte der Einflußnahme von Architektur auf das Handwerk

Kundenorientierung und Präsentationsmedien des Handwerks

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Unternehmen versuchen, diesen neuen Gegebenheiten durch Fusion und Expansion entgegenzusteuern. (...) Regionen verlieren ihre Eigenständigkeit.“14 Dem Handwerk als vorindustrieller Arbeitsform sind diese entgrenzten Verhältnisse strukturell fremd, gleichwohl sieht es sich aus Gründen wirtschaftlichen Überlebens gezwungen, die aktuellen Zeitumstände in sein Selbstverständnis zu integrieren. Die wichtigsten Folgen, die dem Bregenzerwälder Tischlerhandwerk aus der Konfrontation mit der zeitgenössischen Vorarlberger Architekturszene erwachsen, sind die Herauslösung des Entwurfs aus dem handwerklichen Herstellungsprozeß, die dem Handwerker nur mehr die Restkompetenz eines Produzenten zuweist, die Auseinandersetzung mit Serienproduktion, die die Verknüpfung zwischen Erzeugung und Abnahme des Produktes auflöst und dem Handwerk eine ihm bislang fremde Vermarktungsstrategie aufnötigt, und schließlich die Auflösung der direkten Beziehung des handwerklich hergestellten Möbels zum ihn umgebenden Raum. Einer Veranschaulichung dieser Effekte dient in den folgenden Abschnitten die fortgesetzte Beobachtung der Tischlerei Schmidinger in Schwarzenberg und ihrer Betriebsentwicklung. Messen und Leistungsschauen bieten bis in die 1990er Jahre den gewohnten Rahmen für die Ausstellungspraxis der Tischler. Dort, etwa in der Bregenzerwälder Handwerksausstellung in Bezau15, bestimmen die Handwerker selbst die Qualitätskriterien und konkurrierten durch ihre Ausstellungsstücke um die Gunst der Kundschaft. Ziel jedes Handwerkers ist, gegenüber potentiellen Kunden ein „klares Profil“16 zu präsentieren und die Fähigkeiten seines Betriebes hervorzuheben. „Die Tische mit Einlegearbeiten – der besondere Stolz der Tischlerei K. – sind wahre Meisterstücke“17, lautet etwa der Text einer Eigenwerbung. Für die Beziehung zwischen Tischler und seiner Kundschaft bildet jenes „klare Profil“ des Tischlers die Grundlage des Vertrauens, das der Kunde zu ihm faßt.18 Dieser beauftragt den Tischler nicht 14 Anton Kaufmann, Obmann, in seinem Einleitungstext zur Vorstellung des neugegründeten Werkraum Bregenzerwald; Werkraum-Zeitung Nr. 1 (1999), S. 3 15 „Im Jahre 1976 vom Handwerkerverein Bezau als großangelegte regionale Handwerksausstellung ins Leben gerufen, hat sich die Weiterführung als Ausstellung im Fünfjahresrhythmus etabliert.“ Breuß, Broger, Metzler in: Werkraum-Zeitung Nr. 4 (2002), S. 4 16 WS 2: Z 805 17 Selbstdarstellung eines Tischlereibetriebs in: Werkraum-Zeitung Nr. 1 (1999) 18 Das Gegenteil eines „klaren Profils“ ist vom Tischler gefordert, sobald er über ein Ausschreibungsverfahren beauftragt wird. Hier hat er vor allem eine

standardisierte Leistung anzubieten, die ihn mit anderen Tischlern vergleichbar macht. Normalerweise ist in solchen Fällen der Angebotspreis einziger Indikator für die Vergleichbarkeit. 19 Vgl. WS 1 20 WS 3: Z 64 ff 21 WS 3: Z 112 ff 22 Franz Pfanner im Vorwort zu: Festschrift Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch 1791–1991 23 „Franz Pfanner ist Kunstschlossermeister und derzeit Obmann des Handwerker- und Gewerbevereins Andelsbuch. Unter seinem Vater wurde 1930 die erste Ausstellung des Vereins durchgeführt. Pfanner setzte sich für die Durchführung der diesjährigen Ausstellung ein.“ Vorarlberger Volksbote vom 18.10. 1991, S. 24

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wegen der Vielfalt seines Angebots, sondern aufgrund seiner charakteristischen Unterscheidung von anderen Tischlereien. Indem der Kunde einen bestimmten Tischler beauftragt und sich diesem anvertraut, weiß er bereits in ausreichendem Maße, wie das Bestellte aussehen wird. Mit der Versicherung: „Die Planung erfolgt im eigenen Haus unter Berücksichtigung aller Kundenwünsche“, die ebenfalls aus der oben zitierten Selbstdarstellung stammt, hat der Kunde zudem die Gewissheit, daß ihm das Projekt, das sein Wohnumfeld erheblich verändern und immer auch eine erhebliche finanzielle Investition darstellen wird, nicht entgleitet. Schmidinger orientiert sich zu dieser Zeit neu und bewegt sich innerlich von der Rustikalproduktion weg. Er erklärt diesen Entwicklungsschritt einerseits mit einer wachsenden Öffentlichkeitswirkung der Zeitgenössischen Architektur durch Bauten und öffentliche Auftritte der Architekten, andererseits mit seinem eigenen Werkstattumbau19, zu dessen Planung er einen regional exponierten Vertreter der jungen Architektenschaft heranzieht. Gleichzeitig beobachtet er genau, wie seine Kundschaft auf diesen Wandel reagiert. Während er bei der Bezauer Handwerksausstellung nebeneinander gleichzeitig eine moderne Küche und eine rustikale Stube präsentiert, registriert er den „Rückhalt“, den der rustikale Stil noch zu Beginn der 1990er Jahre in der ländlichen Bevölkerung besitzt.20 Schmidinger benutzt den Begriff „Rückhalt“ hier in ganz enger Verbindung mit „Klientel“ und „Markt“ und verdeutlicht so sein Überlebensprinzip als wirtschaftlich denkender Unternehmer im Produzierenden Handwerk. Seine Haltung ist wesentlich als Dienstleistung am Kunden zu beschreiben. Dessen Wünsche zu erfüllen, bestimmt sein Selbstverständnis und sichert die wirtschaftliche Basis seiner Existenz. Obwohl die Rustikalproduktion nicht schlagartig aussetzt, sondern eher nach und nach verebbt, um „modernen“ Stücken und ihren Auftraggebern Platz zu machen, bilden Wettbewerb und Ausstellung Handwerk + Form im Jahr 1991 einen richtungweisenden Wendepunkt. Handwerk + Form war (...) eine Idee vom Andelsbucher Handwerkerverein, (...) die hatten zu ihrem Jubiläum, (...) die Idee, zu sagen, wir versuchen, Architekten, von denen [es] einfach schon die ersten kleineren Projekte (...) gab, im Bregenzerwald, und wir versuchen, Architekten und Handwerker näher zusammenzubringen. (...) Und dazu war die, war auch wieder die Idee, daß man ein Stück gemeinsam produziert, der Architekt bringt die Gestaltung mit, der Handwerker das fachliche Know-how. 21

Der Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch nutzt sein Jubiläum zum 200-jährigen Bestehen für ein „Ereignis“, das „einen Aufbruch zu etwas Neuem signalisieren“22 soll. Obmann Franz Pfanner23 in seinem Vorwort zur Festschrift: „Dem Handwerk sind neue Aufgaben gestellt, die es zu bewältigen gilt. Es geht um das Finden von passenden Formen für das Produkt, um ein modernes Präsentieren und um die Auseinandersetzung mit der gesamten Umwelt, dem Großen, um nicht zu sagen, dem Überdimensionalen. Darüber hinaus genügt es nicht allein „anders“ zu sein, es ist notwendig, „eigenständig“ zu sein.“24

Verankerung des rustikalen Stils in der ländlichen Bevölkerung

Wendepunkt Handwerk + Form 1991

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Handwerk + Form ist ein Wettbewerb zur Gestaltung von Gebrauchsgegenständen. Durch die Dominanz der Tischler unter den Teilnehmern sind dies vorwiegend Möbel.25 Die Teilnahme am Wettbewerb ist beschränkt: „Die Handwerker mußten aus dem Bregenzerwald kommen.“26 Diesen wird empfohlen, für den Entwurf des Wettbewerbsbeitrags einen Gestalter beizuziehen, der „auch von außen kommen“ darf.27 Die Jurierung erfolgt in zwei Stufen. Beurteilt wird zunächst ein einzureichendes Konzept für den geplanten Beitrag, nach dessen Zulassung dann der als Einzelstück in Originalmaterial und -größe ausgeführte Gegenstand selbst. 1991 gibt es knapp einhundert Einreichungen, die in drei Stufen prämiert werden: Auszeichnung, Anerkennung und Belobigung. Die Hypobank stiftet als zusätzlichen Anreiz einen „Handwerkerpreis“ in Höhe von 100.000 Schilling.28 Dem Wettbewerbsteil, bei dem Teilnehmer und Jury unter sich sind, folgt eine öffentliche Ausstellung, eröffnet durch die Preisverleihung des Wettbewerbs. Sämtliche eingereichten Stücke werden hierzu in einem Dorfrundgang in Andelsbuch präsentiert. Dazu werden Werkstatträume temporär zu Ausstellungsräumen umfunktioniert. 1991 sind dies die Kunstschlosserei Pfanner, die Backstube der ehem. Bäckerei Ritter, die aufgelassene Egender Säge und der Geser Stadel, eine „vorm. Brauerei, 1770–1917“.29 Zwischen 19. und 27. Oktober geben zwei Wochenenden und der dazwischenliegende österreichische Nationalfeiertag dem Publikum Zeit zur Besichtigung, und es kommt zahlreich, wie das Gemeindeblatt Andelsbuch informiert in seiner „Nachlese“ meldet: „Die Besucherzahlen übertrafen mit ca. 6000 Personen die Erwartungen der Organisatoren bei weitem. Auffallend war u.a. ein reges Interesse von seiten der Jugendlichen, die zum Großteil über Schulen eingeladen wurden.“30 Etwa dreißig Schulen sind vom Handwerker- und Gewerbeverein gezielt angesprochen und Führungen „möglichst jeder Klasse“ bei freiem Eintritt angeboten worden. Ein „Handwerkertanz im Rathaussaal“ und stimmungsvoller Ausklang mit den Moonlights sowie „günstigen alkoholfreien Getränken“ schließen den „Jugendtag“ am Freitag vor dem letzten Ausstellungswochenende ab.31 24 Wie Anm. 22 25 „Ein (...) Möbel, oder ein alltagstauglicher Gegenstand. (...) Ein Klorollenhalter, oder ein Grill, oder ein Ofen, oder ein Brunnen, oder, wie auch immer, oder eine Lampe, ja, alltagstaugliches Möbel.“ (WS 3: Z 131 ff) Im Programm von „Handwerk + Form“ spiegelt sich die lebensreformerische Herkunft der Architekturmoderne. Nicht künstlerischer Selbstzweck legitimiert die Gute Form, sondern der Anspruch, das alltägliche Leben zu verbessern. 26 WS 3: Z 235 ff 27 Ebd. 28 „Hypo übernahm Sponsoring für Handwerk und Form“; Vorarlberger Wirtschaft Aktuell (VWA), 06.06.1991

29 Der Vorarlberger Volksbote vom 18.10.1991 gab neben dem Veranstaltungsprogramm in einer Skizze die „Lage der vier Ausstellungsgebäude“ an. 30 Lang, S. 18 ff; die Presseinformation des Handwerker- und Gewerbevereins Andelsbuch vom 28.10. 1991 trägt den Titel „Über 5000 sahen Handwerk und Form“ und greift damit merklich tiefer in ihrer Angabe der Besucherzahl. 31 Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch: Einladung zum Jugendtag, Rundbrief vom 15.10.1991 32 WS 3: Z 186 ff 33 Protokoll der Jury, Typoskript 12.10.1991, S. 2 34 Vorarlberger Volksbote, 18.10.1991, S. 24 35 Festschrift Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch 1791–1991

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An die Zusammensetzung der Wettbewerbsjury erinnert sich Schmidinger auch dreizehn Jahre später noch:

Zusammensetzung der Jury

Wer war in dieser Jury? Waren das wieder Handwerker? Ernst Hiesmayr. Also, das heißt, Architekten waren in der Jury. Auch Architekten, Ernst Hiesmayr, dann der Edelbert Köb, das war der damalige Kunsthaus-Direktor, dann Publizisten – Ulrike Lämmle. Der Harry Metzler war damals auch als Graphiker in der Jury. Ich glaub sogar fast, der Leopold Kaufmann. (...) Handwerker waren da keine dabei.32

Der Architekt Leopold Kaufmann war tatsächlich Mitglied der Jury, außerdem Prof. Leo Wollner von der Hochschule für Angewandte Kunst Stuttgart. „Mit Ausnahme von Harry Metzler waren alle Jurymitglieder stimmberechtigt“, hält das Juryprotokoll am 12. Oktober 1991 fest.33 Die Handwerker stehen in der Wettbewerbskonstellation auf der produzierenden, Architekten, Kunsthistoriker, Graphiker, Journalisten auf der bewertenden Seite, jedem Handwerker ist nochmals ein Architekt zur Seite gestellt, der den Entwurf liefert. Man könnte diese Konstellation als Architektenwettbewerb ansehen, bei dem die Handwerker nur das Anhängsel bilden und als Produzenten ohne Stimmrecht fungieren, wenn nicht die Handwerkerschaft selbst das Projekt aus der Taufe gehoben hätte. Berücksichtigt man jedoch die Zielvorgabe der Veranstalter eines „Abbau[s] der Hemmschwelle zwischen Handwerkern und Planern bzw. Produktgestaltern“34, rückt das vitale Interesse der Handwerker in den Mittelpunkt, die Kriterien der Architekten quasi am eigenen Leib kennenzulernen. Das Resultat dieser neu gewonnenen „Beweglichkeit in neuen Kleidern“ sind Kompetenzen unter den Handwerkern, die den Architekten so weit entgegenkommen, daß eine auftragsbezogene Kooperation für diese möglichst einfach und wünschenswert wird.

Fremdartige Architektenkriterien

Die Entscheidung des Handwerker- und Gewerbevereins, sich mit Handwerk + Form der architektonischen Avantgarde ihrer Region näher anzuschließen, ist unter den Handwerkern keineswegs unumstritten. Aus Handwerkersicht erscheint die Alternative naheliegend, gemäß dem historischen Anlaß eine betont konservative Haltung einzunehmen. Obmann Franz Pfanner bestätigt in seinem Vorwort zur Festschrift indirekt diesbezügliche Überlegungen: Heute stehen wir an einer Wende, was die Aufgaben und Ziele der Zunft betrifft. Die bloße Pflege der Tradition und das Erinnern an vergangene Zeiten würden das Jubiläum, das wir feiern können, in einem falschen Licht erscheinen lassen. Wir würdigen und ehren mit der 200-Jahr-Feier das Vergangene. Unser Blick muß aber in die Zukunft gerichtet sein.35

Otto Kapfingers Rekapitulation der jüngsten Vorarlberger Architekturgeschichte ist zu entnehmen, daß die Architekten der zweiten Baukünstlergeneration 1991 bereits auf dem Weg sind, innerhalb der Bauwirtschaft eine etablierte Kraft zu bilden.36 Aus dem berufspolitischen Blickwinkel des Handwerker- und Gewerbevereins mußte also ein Anschluß an die Architektenschaft gesucht werden, um von deren Einfluß zu profitieren und direkteren

Architekten und Bauwirtschaft

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Zugang zu lukrativen Aufträgen aus der Bauwirtschaft zu gewinnen. Eine solche Neuorientierung empfahl sich umso mehr, als „mit der ausschließlich an Interessen der Hotelarchitektur und -philosophie ausgerichteten Arbeit nicht mehr viel zu erreichen“ war. „Dafür fehlt immer mehr die Kundschaft“37, betonte Ludwig Schedler als Organisationsleiter von Handwerk + Form in seiner Eröffnung. Großaufträge aus dem Tourismusgewerbe, die bisher die Tischlereien mit Hotelausbauten ausgelastet hatten, scheinen 1991 bereits spürbar zurückgegangen zu sein. Die Abschottung des Wettbewerbsgebietes für die Handwerkerbeteiligung durch seine Beschränkung auf den Bregenzerwald verdeutlicht neben der Suche nach neuen Auftraggebern einen ökonomischen Effekt der Veranstaltung für die Region. Keinesfalls ist eine Handwerkerkonkurrenz von außerhalb gewünscht, wohl aber eine überregionale Architektenkonkurrenz auf dem Boden des Bregenzerwaldes. Spaltung der Handwerkerschaft

Nicht alle Handwerker tragen die Weichenstellung zugunsten dieses Fortschritts mit. Eine Fraktion aus „Traditionalisten“ verweigert die Teilnahme an Handwerk + Form, ein Signal, das bis in die Interviews der Lokalzeitungsbeilage38 und die Festreden zur Ausstellungseröffnung hineinwirkt. Prof. Dr. Ernst Hiesmayr, der als Vorsitzender der Jury die Würdigung der Preisträger vornahm, bezeichnete „den Wettbewerb „Handwerk & Form“ als „eine der wichtigsten kulturellen Veranstaltungen der letzten Jahrzehnte“ in Vorarlberg und bedauerte, daß die sogenannten „Traditionalisten“ an dieser „Auseinandersetzung um eine zeitgemäße, eigenständige, handwerkliche Form“ nicht teilgenommen haben.39

Der Umstand, daß die Haltung zur „Tradition“ die Handwerkerschaft 1991 spaltet, legt eine genauere Betrachtung dieses Begriffs nahe. Insbesondere seine Neuinterpretation, die er mit Handwerk + Form 1991 seitens der Architekten in der Wettbewerbsjury erfährt, ist hier von Interesse, da sie einer Umdeutung gleichkommt und überhaupt erst die Voraussetzung für die grundlegend veränderte Arbeitsform des „modernen“ Handwerks schafft, das mit Handwerk + Form 1991 so euphorisch beschworen wird. Der etwas kryptische Satz des Juryvorsitzenden Ernst Hiesmayr aus seiner Rede zur Preisverleihung gibt zunächst erste Anhaltspunkte, wo die Tradition nicht lokalisiert werden soll: in einer formalen Kontinuität.

36 Otto Kapfinger: Zum Thema; in: Kapfinger (1999) 37 Alfons J. Kopf: Handwerk & Form begeistert; „Heimat“-Beilage der Vorarlberger Nachrichten vom 23.10.1991 38 Sonderbeilage der Vorarlberger Nachrichten „Handwerk + Form“ vom 18./19.10.1991 39 Lang, S. 20 40 Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch, Presseinformation vom 15.10.1991 veröffentlicht u.a. in: Lang 41 Wie Anm. 39

42 Sonderbeilage der Vorarlberger Nachrichten zu Handwerk + Form, 19./ 20.10.1991; S. 4 43 „Und dann wars so, daß das eigentlich ein Erfolg war, und man gesehen hat, das ist ’91, das funktioniert, und dann ist neun Jahre eigentlich nichts passiert.“ (WS 3: Z 277 ff) Erst 1999, als eine Initiative der Gemeindeverwaltung Schwarzenberg zu einer solchen der Regionalförderung ausgeweitet wird (WS 3: Z 1999 ff) und daraus ein neuer, diesmal die gesamte Talschaft umfassender Verein zur Gewerbeförderung, der Werk-

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Die Skizzierung der ausgezeichneten Objekte zeigt, daß trotz des Fehlens eines „Formdiskurses“, die kulturelle Identität des Bregenzerwälder Handwerks als zukunftsorientierte Kategorie, einen langandauernden Prozeß der Entfremdung überlebt hat; die Tradition ist unmißverständlich nicht in ihrer formalen Kontinuität präsent, sondern in der Reflexion historisch-kultureller Werte (Klarheit, Eleganz, Sauberkeit), deren Umsetzung den Teilnehmern zweifelsohne gelungen ist.40

Im Formalen stellt Hiesmayr statt dessen einen Entfremdungsprozeß fest, den er an anderer Stelle seiner Ansprache ausführt: „Und es ist bedauerlich, daß man von diesen schwarzen Holzkisten, den Bauernhäusern, abgegangen ist, und sich die bajuwarische Deftigkeit angelacht hat.“41 Was vom Eigenen bleibt, ist eine „traditionelle“ Sorgfalt in der Produktion. Indem also in einem rhetorischen Kunstgriff die rustikale Handwerksform mit der Konnotation des Fremdartigen versehen wird (das Bajuwarische als Fremdes steht darin dem Eigenen, dem Alemannischen gegenüber), erscheint der Entzug des Entwurfs, den der Handwerker erlebt, als Rettung zurück ins Eigene, umso mehr, als ihm vermittelt wird, daß seine Sorgfalt in der Herstellung sein angestammter Platz und damit seine eigentliche Tradition sei. 1991 ist noch deutlicher Widerstand aus der Handwerkerschaft gegen diese Umdeutung ihres Traditionsbegriffs spürbar, der bis ins Organisationskomitee von Handwerk + Form reicht: „Trotz begeisterter Diskussionen über die Exponate vermisse ich als Traditionalist das alte Wälder Handwerk. (...) Ich bin überzeugt, daß auch altherkömmliche Stücke, zurechtgestutzt auf die heute gewünschten schlichten Proportionen und klaren Formen, bei diesem Wettbewerb gute Chancen gehabt hätten“, diktiert Ludwig Schedler den Vorarlberger Nachrichten in ihre „VN-Umfrage“.42 Der Blick auf die Einreichungen der zwei Folgeausstellungen43 in den Jahren 2000 und 2003 offenbart jedoch, daß es durchwegs Neuentwürfe sind, die zum Wettbewerb zugelassen, juriert und prämiert werden. Erst 2006 erhält Ludwig Schedler recht, als es dem Eigenentwurf eines Tischlers, der Neuauflage eines bäuerlichen Klassikers, der „Langbank“ mit Sprossenlehne44, gelingt, bis in die Spitzengruppe der mit Auszeichnung bedachten Wettbewerbsbeiträge vorzustoßen. Daß dieses Ereignis als Unfall zu werten und als unliebsame Abweichung von der offiziellen Linie einer demonstrativ modernen, damit antitraditionalistischen Haltung noch fünfzehn Jahre nach der ersten Handwerk + Form-Ausstellung kritisiert wird, ist im Disput raum Bregenzerwald (Schmidinger: „Und ich hab dann damals den Namen da kreiert.“ WS 3: Z 1250), gegründet wird, findet sich in diesem ein geeigneter Träger für eine Wiederaufnahme von Handwerk + Form. Wettbewerb und Ausstellung haben unter seiner Trägerschaft seither im dreijährigen Rhythmus stattgefunden: 2000, 2003, 2006, 2009 und 2012. Äußeres Kennzeichen der Anknüpfung an Handwerk + Form 1991 ist ein Festhalten an den damals genutzten Ausstellungsorten im Zentrum von Andelsbuch, die

seit 2003 durch einen jeweils für die Dauer der Ausstellung errichteten Pavillon neben dem historischen Bahnhofsgebäude einen temporären Mittelpunkt erhalten. Mittlerweile ist anstelle dieses temporären Pavillons ein dauerhaftes Werkraum-Haus projektiert, für dessen Entwurf der Schweizer Architekt Peter Zumthor verantwortlich zeichnet. Handwerk + Form 2012 wurde bereits in diesem Haus eröffnet. 44 Vgl. auch Abschnitt Rustikalproduktion im Bregenzerwald dieses Kapitels, Anm. 29

Umdeutung des Traditionsbegriffs

DesignAuszeichnung für einen bäuerlichen Möbelklassiker

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eines jungen Bregenzer Architekten mit dem Jurymitglied Hermann Czech nachzuvollziehen, stattgefunden während des Erläuterungsrundgangs der Jury 2006.45 Czech, ein insbesondere durch seine Innenausbauten und Möbelentwürfe profilierter Wiener Architekt, hatte der Langbank die Auszeichnung verschafft und für dieses Stück die Erläuterung der Juryentscheidung übernommen. Der junge Architekt, dessen eigener Beitrag, ein aktuellen künstlerischen Formidealen folgender Bankentwurf, ebenso in Sichtweite steht, wie mehrere alte Langbänke lapidar ihren angestammten Platz am Ausstellungsort im Geserstadel behaupten, fragt die Jury, wo denn bei dem ausgezeichneten Stück die individuelle Entwurfsleistung sei. Die Zulassung der Neuauflage klassischer Typen könne doch auch bedeuten, einen Shakerstuhl neu zu fertigen und zum Wettbewerb einzureichen. Hermann Czech läßt die Forderung nach individueller Entwurfsleistung als Qualität per se nicht gelten und beruft sich darin auf Adolf Loos: „Eine veränderung gegenüber dem althergekommenen ist nur dann erlaubt, wenn die veränderung eine verbesserung bedeutet.“46 In bestimmten Fällen, so folgert Czech, kann also die Entwurfsleistung auch darin bestehen, einen Entwurfs„verzicht“ zu üben.47 Qualitätskriterien von Handwerk + Form

Die Vermittlung der Beurteilungskriterien des Wettbewerbs gelingt dem Organisationskomitee im Vorfeld des Wettbewerbs 1991 nur unvollständig, obwohl eigens ein exponierter Vorarlberger Architekt zu einem Vortragsabend mit dem Titel „Die gute Form“48 aufgeboten wird, bei dem auch „die Bewertungskriterien für den Wettbewerb näher erläutert“49 werden. Erst nachträglichen Aussagen der Jurymitglieder ist zu entnehmen, daß die Kriterien Formschönheit, Materialgerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, die bereits in der ersten Pressemitteilung des Handwerker- und Gewerbevereins genannt worden waren50, erst unter der Voraussetzung einer im Entwurf erkennbaren neuen Idee überhaupt zur Anwendung kommen: „Nicht zuletzt erhielt eine individuelle Weiterentwicklung einer Idee den Vorrang vor einem einfachen Nachbau.“51 Diese im Vorfeld unausgesprochene Voraussetzung ist es, die den intendierten Bruch mit jeder Formtradition markiert und die Architektendiskussion 45 Eigene nachträgliche Aufzeichnung ohne Anspruch auf wörtliche Wiedergabe. 46 In: Heimatkunst (1913); Loos, S. 335 Adolf Loos wiederholte seine zentralen Überzeugungen in seinen Texten immer aufs neue und variierte die Formulierungen je nach Kontext, in den sie eingefügt wurden. So ist das von Czech verwendete Zitat auch in „Regeln für den, der in den Bergen baut“ (1913) zu finden: „Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim alten. Denn die wahrheit, und sei sie hunderte von jahren alt, hat mit

uns mehr inneren zusammenhang als die lüge, die neben uns schreitet.“ Loos, S. 330 47 Leider wurde die Frage nach dem angestammten Ort dieses Banktyps nicht aufgeworfen und besprochen – gehört sie in die Wohnstube, in den Saal, in die Kirche, in die Tenne, vor das Haus? Denn Entwurf kann auch die Herauslösung eines Möbelstücks aus seiner traditionellen Verwendung und Übertragung in ein neues Umfeld bzw. seine Nutzbarmachung für ein solches bedeuten. Max Bills Türdrücker für das Gebäude der Hochschule für Gestaltung in Ulm (1955), ursprünglich an Schweizer Waggontüren im Einsatz, ist ein prominentes Beispiel für eine solche

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um die Preiswürdigkeit der Langbank auslöst. Die Feststellung des Schweizer Journalisten und Jurymitglieds bei Handwerk + Form 2003, Köbi Gantenbein, bescheinigt der systematischen Modernisierungsbemühung von Handwerk + Form schließlich ihren Erfolg. „Ist die Tradition also tot? Gewiss, was ihr Design betrifft.“52 Als weiteres unausgesprochenes Qualitätskriterium wird eine serielle Produzierbarkeit als Erfolgs- und Qualitätsnachweis einzelner Stücke in der Presseinformation der Organisatoren angesprochen: „Daß diverse Wettbewerbsobjekte in Serie gehen werden, unterstreicht die Qualität der eingereichten Arbeiten.“53 In Schmidingers Erinnerung stellt sich das reale Schicksal der Ausstellungsstücke zwar eher als entwicklungsmäßige Sackgasse in der Art typischer Meisterstücke dar, „das Möbel ist verkauft worden, steht am Dachboden, oder, wie auch immer“54, jedoch wirft das Kriterium der Serienfertigung auf die Beziehung zwischen Handwerk und Architektur ein bezeichnendes Licht. Indem es nicht der Welt des Handwerks, sondern der Industrieproduktion entstammt, zeigt es die Industrieaffinität der Architekturmoderne und ihrer Protagonisten selbst in ihrer Bewertung handwerklicher Erzeugnisse. Ausführlicher wird hiervon im nächsten Abschnitt die Rede sein. Ausführlich beschreibt Schmidinger sein Verhältnis von Fremdheit und Unbeheimatetsein zu der reduzierten Formenwelt, wie sie von Handwerk + Form gefordert ist. Seiner eigenen Einreichung, dem von dem jungen Wiener Architekten Helmut Galler entworfenen Damenschreibtisch, ist 1991 Erfolg beschieden. Ich konnte mit dem noch nicht allzu viel anfangen (...) da wars einfach, letztlich zuwenig dran, also, zu eine Reduktion, (...) das hab ich also nicht verstanden.55

Die Auszeichnung für das „ganz ganz einfache Stück“ überrascht ihn. In der rustikalen Produktion hatte das möglichst Üppige und Kostbare, das Material- und Formaufwendige als Erstrebenswertes gegolten. In der Diskrepanz zu den bisherigen Qualitätsidealen der Tischlermeister und ihrer Kunden zeigt sich der Wettbewerb Handwerk + Form damit auch in seiner Funktion als Austreibung der bis dahin vorherrschenden Rustikalproduktion.

„Entwurfs“-Strategie, die nicht die Form eines Gegenstandes verändert, sondern seinen Einsatzort. 48 Der Begriff „Gute Form“ wurde 1946 von Max Bill erstmals in einem Aufsatz über „Erfahrungen bei der Formgestaltung von Industrieprodukten“ verwendet, bevor er ihn drei Jahre später zum Titel seiner wegweisenden Ausstellung, einer Sonderschau der Mustermesse Basel, erhob, „die in der Folge jährlich wiederholt wurde. Die Schau verfolgte ein klares gesellschaftspolitisches Anliegen und sollte den Besuchern hinsichtlich des guten Geschmacks und einer guten Gestaltung Orientierung bieten.“ Irene Meissner: Die gute Form, in: Nerdinger (2007), S. 239

49 Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch: Presseinformation vom 15.07.1991 50 A.a.O., S. 2 51 Beilage „Handwerk und Form“ der Vorarlberger Nachrichten vom 19./20.10.1991, S. 8: „Juryentscheid über 100.000 Schilling. Juroren hatten es angesichts der interessanten Exponate nicht leicht“ 52 Gantenbein, S. 3 53 Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch, Presseinformation vom 28.10.1991 54 WS 3: Z 277 ff 55 WS 2: Z 632 ff 56 WS 3: Z 174 ff

Serientauglichkeit als Qualität

Die moralischen Implikationen des modernen Formideals widersprechen dem traditionellen Handwerksideal

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Bei der ersten Jurierung gabs viele lange Gesichter, weil einfach diese klassische handwerkliche, handwerklichen Fähigkeiten, die hat man so Meisterstück-artig versucht, alle die in das Stück hineinzubringen, und diese Einfachheit im Entwurf, (...) das haben einfach viele Handwerker, aber selbst viele Architekten, noch nicht so richtig verstanden, (...) daß das das Kriterium ist.56 Moderne Form als Gute Form

„Einfachheit“ im Entwurf ist der am stärksten erzieherisch geprägte Aspekt des modernen Qualitätsideals. Er entstammt der Kritik an der historisierenden Form der Industrieprodukte des neunzehnten Jahrhunderts und richtet sich unter dem Deckmantel einer Maschinengerechtigkeit der Form57 gegen zur Schau gestellten Luxus und den „Hang des Kleinbürgers zum Protz“. Was sich als eine der Hauptforderungen moderner Formgebung mit der Gestalt eines technisches Arguments tarnt, ist ursprünglich ein reformatorisches Kriterium auf der Grundlage einer protestantisch-puristischen Moralvorstellung.58 Bereits in den 1920er Jahren hatten die Skeptiker innerhalb der Modernen Bewegung an prominenter Stelle auf die Doppelbödigkeit dieser Argumentation hingewiesen, was jedoch für den Reformimpetus, der die Bewegung bis heute konstituiert59, folgenlos blieb. Der Maschine, die heute göttliche Ehren genießt, werden täglich neue Formen als Opfer dargebracht. Da sie nichts anderes ist als ein Werkzeug, das alles machen kann, gibt es keine Form, die für sie erfunden worden ist. Aber aus ängstlichem Zartgefühl für das geliebte Wesen, rücksichtsvoll, es ja nicht zu überanstrengen, wird die gerade Linie, Einfachheit, Uniformität gelehrt... 60

Die von der Jurorengruppe von Handwerk + Form 1991 etablierten Kriterien laufen jedoch nicht nur den Qualitätsvorstellungen der Handwerker, sondern auch den Wünschen ihrer bisherigen Auftraggeber zuwider. Kennzeichnend für die neue Präsentationsplattform, die Handwerk+ Form schafft, ist damit auch der Wegfall der für die Auftragsakquisition der Handwerker essentiellen Kundenorientierung. 57 „Der konstruktive Aufbau der Ingenieurwerke und Standardprodukte hat mit Notwendigkeit zum Gebrauch der exakten geometrischen Formen geführt.“ Tschichold (1928), S. 12 58 Henry van de Velde führt 1908 sein Prinzip zur Erziehung der Industrie durch Erziehung des Publikums aus: „Kunst und Industrie einigen heißt nichts Geringeres, als Ideal und Wirklichkeit verschmelzen. (...) Die Gewinnsucht, welche die Industrie hervorruft, stempelt ihr Wesen und ihre Mühe. Beide sind rücksichtslos. Schönheit und Moral – unsere Forderungen schienen für die Industrie zwei neue Pole festzulegen. Bisher hatte es sich um zwei Achsen gedreht, um die Billigkeit und die schlechte Qualität.“ Der Kampf der Künstler um diese Werte habe nur indirekt, über die Eroberung des Publikums und die Beeinflussung seines Geschmacks zum Erfolg führen können. Hüter (1976), Anm. II /26, S. 186 Tschicholds Forderung, zwanzig Jahre später erhoben, geht deutlich über Van de Veldes Streben nach einer besseren Produktform hinaus: „So ist das Streben nach Reinheit der Gestaltung der Generalnenner

aller Bestrebungen, die sich den Neuaufbau unseres Lebens und unserer Äußerungsformen zum Ziele gesteckt haben. Sie alle erkennen das Gemeinschaftliche ihrer Einzelwege, das Ziel: Einheit des Lebens!“ Wie Anm. 57, S. 13 59 Vgl. die Abschnitte Land und Ländle und Baukünstler, Kapitel Vorarlberg 60 Josef Frank: „Der Gschnas fürs G’müt und der Gschnas als Problem“, erschienen als Beitrag im Katalog der Weißenhofsiedlung, Stuttgart, 1927. Hier in: Bergquist, S. 110 f Einen nahezu gleichlautenden Kommentar gibt Jan Tschichold 1946, also nach seiner Wende zu einem erneuerten Traditionalismus: „... ob bei der Produktion etwa seiner Schreibmaschine ein Minimum an Arbeitsaufwand getrieben und die Stanzmaschine dabei nicht überanstrengt worden ist...“ Tschichold (1946) S. 23 61 Etwa „Die Wohnung“, für die 1927 in Stuttgart die Weißenhofsiedlung errichtet wurde. Andere Mustersiedlungen des Werkbunds entstanden in den 1920er Jahren in Wien, Prag, Brünn etc.

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Handwerk + Form führt statt dessen einen Standpunkt ein, der bewußt gegen den „herrschenden Geschmack“ gesetzt wird. Gefordert ist nun, Gestaltung einem gesellschaftlich wirksamen „höheren Zweck“ unterzuordnen, der Popularisierung einer Guten Form im Sinn der Klassischen Moderne. Mit dem Ziel einer Ästhetischen Erziehung der Gesellschaft stellt sich Handwerk + Form in eine Tradition von Ausstellungen mit didaktischer Intention, vor allem denjenigen der nationalen Organisationen des Werkbunds.61 Die Kriterien und ästhetischen Maßstäbe, nach denen die ausgewählten Stücke beurteilt werden, entstammen nicht mehr dem Sozialmilieu des Handwerks, sondern einem akademischen Milieu, dem die Architekten angehören und das auch als neue Kundenschicht ins Auge gefaßt wird.62 Daß trotzdem nicht von einer „Kolonisierung“ des Bregenzerwälder Handwerks durch Zeitgenössische Architektur gesprochen werden kann63, zeigt der Blick in zeitgenössische Quellen. Diesen ist zu entnehmen, daß der fortschrittliche Teil der Handwerker unter einem „Stigma des Unzeitgemäßen“64 litt, daß unter den Handwerkern zu Beginn der 1990er ein Empfinden von Ungenügen, von Unvermögen im formalen Bereich herrschte und eine Krise sich in der Entwicklung der traditionsorientierten Handwerksform ausbreitete, eine Art von „Rokoko-Krise“, ein Empfinden von Dekadenz. So ist erklärbar, daß auf der Seite der Handwerker der Abschied von der Rustikalproduktion mehrheitlich Unterstützung fand. Schmidinger beginnt im Anschluß an Handwerk + Form 1991 eine eigene Kollektion von Serienprodukten aufzubauen und geht auch in seiner Individualfertigung zu glatteren Formen über. Das Klientel für die rustikalen Möbel registriert seinen „Profilwandel“ genau und bleibt erwartungsgemäß aus, es „konnte mit dem natürlich nichts anfangen“.65 Anstatt die Geschmacksorientierung zu wechseln, wie es die Ästhetische Erziehung vorsieht, sucht sich die Kundschaft andere Quellen, integriert der Rustikalstil selbst neue Elemente, durchläuft eine postmodern-dekorative Phase und endet schließlich bei der heutigen Altholz-Zweitverwertung: 62 „In Wien (...) verkehren Leute mit kulturellem Anspruch, mit Qualitätsempfinden...“, umreißt ein exponierter Vorarlberger Architekt die ins Auge gefaßte Käuferschicht im Interview mit Renate Breuß anläßlich der Ausstellung „Möbel für alle“, in: WerkraumZeitung 3 (2001), S. 15 Moos dokumentiert an Sigfried Giedions Zürcher Wohnbedarf, daß noch im Lauf der 1930er Jahre die Avantgarde der Moderne erkennen mußte, daß jenseits des intellektuellen, gehobenen Mittelstandes, der von jeher ihre soziale Trägerschicht gewesen war, alle kulturgestützten Reformutopien fruchtlos geblieben waren. „Die Moderne blieb – im Gegensatz zu ihrem Programm – vorläufig eine Sache der Elite.“ Wie Anm. 40 in: Baukünstler Kap. Vorarlberg. Vgl. auch Anm. 31 im folgenden Abschnitt

63 Wohl aber kann mit Habermas von einer „Kolonisierung der Lebenswelten durch Imperative verselbständigter wirtschaftlicher und administrativer Handlungssysteme“ (Habermas 1981) gesprochen werden. Daß diese mittels bzw. im Gefolge Zeitgenössischer Architektur wirksam sind, stellt im Rahmen der vorliegenden Arbeit u.a. der Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf zur Debatte. 64 „Ziel des Wettbewerbs war es, das traditionell hochstehende Bregenzerwälder Handwerk vom Stigma des Unzeitgemäßen zu befreien und auf die Präsenz eines modernen Handwerks in der Region aufmerksam zu machen.“ Lang, S. 18 ff 65 WS 3: Z 620 f 66 Mario Nußbaumer in: PN: Z 581 ff 67 WS 3: Z 501 ff

Ästhetische Erziehung

Stigma des Unzeitgemäßen

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Zur Zeit wird in der Gastronomie auch viel auf alt gemacht. Das wird aus alten Häusern, die jetzt abgebrochen werden, oder Zimmer renoviert werden, ausgebaut. Was früher der Tiroler Stil war, das ist jetzt dieser Landhausstil.66 Wechsel des Kundenstamms

Wandel der Arbeitsform

Als Effekt von Handwerk + Form erlebt Schmidinger einen Wechsel im Kundenstamm: Die Rustikalkundschaft geht, neue, wohl auch jüngere, treten an ihre Stelle, Kunden, die Schmidingers gewandeltes Betriebsprofil schätzen, „schon so Grundelemente von der Bauernstube, wie Täferungen, einzusetzen, aber die Möbel dann nicht mehr rustikal, und nicht mehr ländlich zu bauen, sondern einfach funktionell zu interpretieren.“67 Der Juniorchef eines Elektronikbetriebes im Nachbarort ist es beispielsweise, der Schmidinger jetzt beauftragt: „Ich konnte das ganze Haus von unten bis oben ausbauen. Also alle Schlafzimmer und Küche und Stiege, und so weiter.“68 Der neue Stil wird zum Ausdruck einer neuen Generation, die für einen gesellschaftlichen Wandel in der Bevölkerung des Bregenzerwaldes steht und die Kontinuität seiner sozialen Prägung durch Landwirtschaft und Handwerk bricht. Entscheidender als der Wechsel des Kundenstammes wirkt sich für die Tischlerei Schmidinger jedoch ein Wandel ihrer Arbeitsform aus. Die moderne Arbeitsteilung, von der Fabrikproduktion nun auf das Handwerk übertragen, trennt jetzt, was ehemals zusammengehörige, in eine Lebensform integrierte Prozesse waren, ähnlich, wie die Industrialisierung auch das vormals zusammengehörige Arbeiten und Wohnen getrennt hat. Genauer: In denjenigen Projekten, die nicht direkt vom Kunden an die Tischlerei beauftragt werden, löst eine „moderne“ Arbeitsteilung den Entwurf aus der Zuständigkeit des Handwerkers heraus und schafft hierfür einen neuen Beruf, den Designer. Was für den Handwerker übrigbleibt, ist die Herstellung des anderswo entworfenen Stücks, die Restkompetenz eines „Produzenten“. Wenn ein junger Vorarlberger Architekt im Interview der Vorarlberger Nachrichten zu Handwerk + Form 1991 vom Handwerk als „eine[r] der Produktionsformen“69 spricht, treten zwei für das Handwerk gleichermaßen bedrohliche Aspekte seiner neuen Rolle unmittelbar in Erscheinung: daß der Handwerker durch seine Deklassierung zum Produzenten in eine unmittelbare Konkurrenz zu der anderen Produktionsform, der Industrieproduktion, gestellt wird und daß in Zukunft durch indirekte Auftragsvergabeweisen vor allem die Kosten der Produktion darüber entscheiden werden, welche der Produktionsformen für ein und dasselbe – extern entworfene – Stück eingesetzt werden wird. Neben der zunehmend dominanten Rolle, die Architekten seit Anfang der 1990er Jahre in der Bauwirtschaft Vorarlbergs einnehmen, sind es weniger die in „fehlenden gestalterischen Impulsen“ liegenden „Schwächen des Handwerks“, die, wie Gögl interpretiert70, im Stilwandel zwischen der traditionellen zur modernen Form dem Tischler den Entwurf entziehen, sondern vielmehr zwei spezifische, der modernen Form immanente Eigenschaften: ihr Wesen als Autorenentwurf und ihre Totalität.

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In einer Kontroverse zwischen Max Bill und Jan Tschichold71, die 1946 in den Schweizer Graphische[n] Mitteilungen72 ausgetragen wurde, wird dieser soziale Wandel zwischen der traditionellen Form, „die jedermann leicht versteht“73, und der einer Entwerferpersönlichkeit entspringenden modernen Form in seltener Klarheit formuliert:

Moderne Form als Autorenentwurf

Auch bringt der extrem persönliche Charakter [der modernen Form] die größten Gefahren für die anzustrebende Einheitlichkeit des Werkes, wenn der verantwortliche Gestalter nicht ständig (...) jedes kleinste Formproblem selber lösen kann. 74

Die der avantgardistisch-modernen Produktform zugrundeliegende Autorenschaft gleicht dem Verhältnis des modernen Künstlers zu seinem Werk und macht die Form zu einem Ausdruck der Entwerferpersönlichkeit. Der andere Aspekt moderner Form, der dem Tischler in der Folge den Entwurf entzieht, ist ihr Anspruch auf Totalität.75 Wo etwa im handwerklichen Hausbau noch klare Schnittstellen zwischen den beteiligten Handwerkern bestanden76, vor allem diejenige zwischen dem Zimmermann, der Rohbau, Dachstuhl und Fassadenbekleidung des Holzhauses verantwortete, und dem Tischler, der seinerseits eigenverantwortlich den Ausbau, also „Fenster, Türen, Innenausbau“77, übernahm, herrscht beim Architektenhaus gemäß moderner Doktrin die Entwurfshoheit des Architekten über alle, zumindest aber alle sichtbaren Einzelheiten vom Dachrand bis zum Möbel, um die „anzustrebende Einheitlichkeit“ gemäß Tschicholds Formulierung zu erzielen. Handwerksform existiert, solange der Handwerker seiner angestammten Zuständigkeit in vollem Umfang gerecht werden kann, für die im angelsächsischen Raum der Begriff des Designer-Maker78 steht: Entwerfer und Ausführender des Werkstücks sind ein und dieselbe Person. Wo dem Handwerker

68 WS 3: Z 494 ff 69 Sonderbeilage der Vorarlberger Nachrichten zu Handwerk + Form, 19./20.10.1991, S. 10 70 Wie Abschnitt Arbeitsform und Wissensaneignung dieses Kapitels, Anm. 37 71 Wie auch Adolf Loos und Josef Frank für die Architektur, beurteilte Jan Tschichold den Einzug der Moderne in sein Fach, die Typographie und Buchgestaltung, als „Skeptiker“ (Czech über Frank). Als Rückkehrer von der Avantgarde zur traditionsorientierten Handwerksform war er besonders scharfsichtig für die Achillesfersen und Widersprüche der Modernen Bewegung, die ehemals seine eigenen gewesen waren. 72 Tschichold (1946), S. 22 73 Ebd. 74 Ebd. 75 „Die Forderungen unserer Zeit nach Reinheit, Klarheit, Zweckmäßigkeit und Totalität.“ Werner Gräff in: „G-Material zur elementaren Gestaltung“, zit. nach Fleischmann im Beiheft der Reprintausgabe von Tschicholds „Die neue Typographie,“ Berlin, 1987

76 Wolfgang Schmidinger erwähnt seinen Innenausbau in einem als Neubau rekonstruierten Bregenzerwälderhaus in WS 3: Z 510 ff 77 WS 2: Z 90 ff 78 Den Begriff „designer-maker“ verdanke ich Barry Hewson, Gründungsdekan der New Design University in St. Pölten, NÖ 79 Vgl. Abschnitt Arbeitsform und Wissensaneignung dieses Kapitels 80 WS 2: Z 507 ff 81 Vgl. etwa: Bergmann 82 „Entstanden ist auf allen Seiten Bewußtsein für das Verhältnis zwischen Designer und Produzent...“ Gnaiger /Stiller, S. 11 83 „Zur sorgfältigen und nutzungsgerechten Herstellung kommt die konzeptive gestalterische Linie, die neben dem Architekten nun auch den Gestalter und Designer einbindet.“ Anton Kaufmann, Obmann des Werkraum Bregenzerwald; a.a.O., S. 12 84 Heinrich Traublinger in: Kirmeier, S. 237 85 Ebd.

Totalität der modernen Form

Verschwundene Handwerksform

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Energiebilanz des modernisierten Handwerks

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im beschriebenen Modernisierungsvorgang die Gestaltungsautonomie genommen wird, verliert der Entwurf seine ehemalige innige Verzahnung mit der Materialkenntnis des Tischlers. Indem der Entwurf außer Haus gegeben wird, verliert er die Basis der Werkstatt und seine Materialgebundenheit. Die Person des Tischlers bürgte ehedem dafür, daß der Entwurf nicht nur ausführbar war, sondern auch – je nach Mentalität und Kunstfertigkeit des Handwerkers – „seinem“ Material zur Sprache verhalf. Das entwerferische Selbstbewußtsein, mit dem etwa Schmidinger ehedem gegen den eigenen Vater angetreten ist,79 hat in dem neuen arbeitsteiligen Modell keinen Ansatzpunkt mehr. Auch der Krafteinsatz in der Realisierung eigener Entwürfe, der über die Identifizierung mit dem in Arbeit befindlichen Stück immer auch einen Energiegewinn beinhaltet, geht dem Handwerk in diesem Wandel verloren. Eine Situation der Präsenz, in der technische Wege gesucht und vorhandene Maschinen bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit und über die Grenzen der Betriebssicherheit hinaus beansprucht werden, um eigene Entwürfe in Substanz zu überführen, sie zu materialisieren (hierfür steht das Bild der unwuchtigen, durch die Werkstatt wandernden Fräsmaschine mit dem selbst geschliffenen Profilmesser)80, ein solcher Einsatz, eine solche Begeisterung sind bei der Ausführung eines Fremdentwurfs niemals erreichbar. Daß die überschäumende Energie, die in selbstbestimmter Arbeit freigesetzt wird, in einer von Abhängigkeit geprägten Produktionssituation, wie sie heute üblich ist, in Überforderung, Streß und Überdruß kippt, ist die Folge des Autonomieverlusts auf der Seite der Energiebilanz und Thema zeitgenössischer Arbeitstheorien, die sich mit den Folgen typischer „Erwerbsarbeit“ auseinandersetzen.81 Nachdem der Auslöser für diesen Verlust ein struktureller ist – denn nicht in einem Einzelfall, sondern im typischen Modus der Berufsausübung hat sich dieser Wandel ereignet –, ist er Bestandteil der Lebensqualität einer ganzen Region. Fraglich erscheint aus diesem Blickwinkel, ob der ursprünglich „Selbstbestimmtheit“ meinende, soziale Begriff Handwerk überhaupt noch brauchbar ist für ein Gewerbe, das nur noch produziert und nicht mehr entwirft. Der Verlust des Entwurfs und die Reduzierung auf Herstellung und Montage82, die mittels Handwerk + Form als zeitgemäße Rolle des Handwerks etabliert wurden und inzwischen in dessen Selbstverständnis angekommen zu sein scheinen83, sind ein Eingriff, der den Tischlerberuf im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte grundlegend verändert hat. Die „Stragegien für die Zukunft“84, die der Präsident des Handwerkertages im benachbarten Bayern seinen Mitgliedern empfiehlt, legen den Schluß nahe, daß dies durchaus zu seinem Nachteil geschah. Sie weisen in die genau entgegengesetzte Richtung, „vom reinen Produktzulieferer zum planenden und entwerfenden Innovationsbetrieb, (...) der möglichst Alles-aus-einer-Hand-Angebote und eine lückenlose Betreuung (...) für die Kunden bietet“.85

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417 6.5 Reform des Handwerks: Serienproduktion Serienproduktion ist ein dem Tischlerhandwerk zuwiderlaufendes Prinzip. Im Anschluß an „Handwerk + Form“ 1991 beginnt Wolfgang Schmidinger als einziger der Teilnehmer1, eine eigene Kollektion von Serienmöbeln aus Eigenproduktion aufzubauen, die unter der Marke schmidinger modul mittlerweile internationales Renommee erlangt hat. Daß diese Erfolgsgeschichte der Eingangsthese keineswegs widerspricht, erschließt dieser Abschnitt, indem er den Prozeß der Internationalisierung, Spezialisierung und Industrialisierung nachvollzieht, dem dieser Handwerksbetrieb, stellvertretend für das Bregenzerwälder Tischlerhandwerk, in den 1990er Jahren ausgesetzt ist. Ob die Geschichte von schmidinger modul nicht eigentlich die Geschichte einer erfolgreichen Tarnung ist, Serienproduktion und internationale Präsenz also dazu dienen, die Kontinuität einer weitgehend traditionellen Individualproduktion unter veränderten Marktbedingungen und neuen betrieblichen Repräsentationsanforderungen aufrechterhalten zu können, soll hier zunächst nicht entschieden werden. Fest steht: In ihrer dritten Generation hat die Tischlerei Schmidinger mindestens drei Gesichter: Sie ist Produktions- und Vertriebsstätte einer Serienmöbelkollektion, sie ist Individualfertiger nach Architektenentwürfen und auch nach wie vor nach Eigenentwürfen für Privatkunden, wobei letztere bei weitem die größte Kapazität in Anspruch nehmen.2 Im vorhergehenden Abschnitt wurde festgestellt, daß Wettbewerb und Ausstellung Handwerk + Form 1991 stellvertretend für einen komplexen, weil gleichermaßen sozialen wie wirtschaftlichen Wandel stehen. Ersteres durch eine zunehmende Öffnung der agrarisch bestimmten Sozialstruktur des Bregenzerwaldes für Einflüsse der Moderne, zweiteres durch den EU-Beitritt Österreichs und die gleichzeitige Globalisierung der Wirtschaft, die das Handwerk mit neuen Wettbewerbsverhältnissen konfrontiert. Der Handwerker- und Gewerbeverein Andelsbuch reagiert auf diese Situation, indem er mittels Handwerk+ Form Anschluß an die Vorarlberger Architektenschaft sucht. Neben Zugängen zu Aufträgen aus der Bauwirtschaft sollen mittels Modernisierung der Form3 die Produkte des Handwerks für einen neuen, internationalen Markt attraktiv gemacht werden. Das Konzept der handwerklichen Serienproduktion wird anläßlich von Handwerk + Form 1991 als Qualitätskriterium im Kontext der Vorbereitung 1 Kapfinger in: Gnaiger/Stiller, S. 15 ff; der Autor nennt hier auch die Tischlereien Ritsch und Rüscher, außerdem könnte die Tischlerei Mohr genannt werden, jedoch ist nach meiner Recherche der Anspruch einer die gesamte Wohnungseinrichtung umfassenden Kollektion nur bei Schmidinger gegeben. 2 Wolfgang Schmidinger teilt mit, daß achtzig Prozent seiner Kundschaft Direktkunden sind, die ihn

ohne Zwischenschaltung von Architekt oder Ausschreibung beauftragen. (Gespräch am 01. 08.2007) 3 U.a. in: Der Werkraum Bregenzerwald, WerkraumZeitung Nr. 1 (1999), S. 3: „Produkte und Dienstleistungen aus dem Bregenzerwald sind sehr gefragt, vor allem wegen Funktionalität, Design, Innovationsgrad und Qualität sowie der Verläßlichkeit der Hersteller.“

Gewandelte soziale und ökonomische Rahmenbedingungen für das Handwerk

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Individualfertigung und Region

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auf den europäischen Markt erstmals betont4 und fortan als Rezept für eine zeitgemäße Erneuerung der handwerklichen Produktions- und Wirtschaftsweise aufrechterhalten: „Handwerksbetriebe von heute sind technisch gesehen industrielle Betriebe. Wenden diese sich einer Produktoptimierung und (kleinerer) Serienfertigung zu, dann sind ihre Produktionslogik und ihre Ökonomie unter heutigen Gesellschaftsbedingungen jener der Industrie überlegen. Handwerkliche Kleinserien, auf hohem Niveau liebevoll gefertigt, haben am Vielfältigkeitsmarkt beste Aussichten.“5 Wenn Serienproduktion und Individualproduktion als gegensätzliche Fertigungskonzepte betrachtet werden, so ist die Individualfertigung ein sowohl der Region als auch dem Produzierenden Handwerk angemessenes Prinzip. Die Region bietet genügend Aufträge für zahlreiche Tischler, jedoch fast ausschließlich Individualaufträge. Anders gewendet: Wer in der Region den Tischler seines Vertrauens mit Möbelfertigung betraut, erwartet individuelle Wunscherfüllung. Die Wertschätzung der regionalen Gesellschaft gegenüber Tischlern bezieht sich auf deren Kompetenz in der Individualfertigung: Da läßt man sich etwas einbauen und möchte auch jeden Zentimeter ausgenutzt, möchte auch designmäßig seine Wünsche alle berücksichtigt haben und ist dafür auch bereit, etwas mehr zu bezahlen. 6

Affinität der Architekten zur Serienproduktion

Prototypisches Entwerfen

Folgen der Serienproduktion für den Produzenten

In der Architektenschaft, deren Einfluß anläßlich von Handwerk + Form 1991 im Selbstverständnis des Tischlerhandwerks wirksam zu werden beginnt, ist die Affinität zur Serienproduktion über die Ideologie der Modernen Bewegung verankert, wie sie für Architektur und die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen in den 1920er Jahren formuliert wurde. So beantwortet ein exponierter Vorarlberger Architekt die Frage im Interview der Werkraum-Zeitung „Ist Handwerk und Serie grundsätzlich vereinbar?“ selbstverständlich positiv und verweist darauf, daß zwar „in der Architektur (...) bei uns kaum Serienhäuser produziert“ werden, „aber sehr wohl serielle Detailund Problemlösungen. (...) Daran kann der Möbelbauer nicht vorbeigehen.“7 Ein genauer Blick auf die Formstrategien Moderner Architektur offenbart, daß der hier aufgestellte Widerspruch zwischen dem Nichvorhandensein von Serienhäusern8 und seriellen Detail- und Problemlösungen der Architekten als Prototypisches Entwerfen eine Formattitüde der Moderne darstellt. Sie beschreibt ein Formideal des Prototyps, einem Ergebnis, das suggeriert, es sei das erste Stück einer Serie: modular, rahmenlos, stapelbar. Es sind Merkmale moderner Formensprache, die eine industrielle Produktion auch dort suggerieren, wo tatsächlich handwerkliche Einzelstücke gefertigt werden. Die Anmutung einer Herkunft des Möbels aus der Fabrik gehört als Stilmerkmal zum Selbstverständnis der Architekturmoderne. Wie unterschiedlich sich dieses Formideal des industriell gefertigten Prototyps, des „Standardprodukts“9, das die handwerkliche Herstellung nicht mehr von der industriellen unterscheidet, auf die Arbeit des Entwerfers und diejenige des Handwerkers auswirkt, hat Jan Tschichold 1946 in seiner bereits zitierten Auseinandersetzung mit Max Bill festgestellt.10 Ein weiteres

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ausführliches Zitat erscheint hier angebracht, da im Kontext einer Modernen Form hier die negativen Folgen für den Handwerker in exakt jener Konstellation aus Entwerfer und Produzent beschrieben werden, die seit Handwerk+ Form 1991 zwischen Architekt und Tischler als zeitgemäß propagiert wird. Ein Künstler wie Bill ahnt vielleicht nicht, welche Opfer an Blut und Tränen die Anwendung rationalisierter Produktionsmethoden der „zivilisierten“ Menschheit und jeden einzelnen Arbeiter kostet. Denn diese neuen Möglichkeiten gewähren zwar dem Spieltrieb Bills oder eines anderen Entwerfers Entfaltung, nicht aber dem Handlanger, der tagaus tagein die gleiche Schraube (...) einsetzen muß. (...) Die maschinelle Produktion hat also für den Arbeiter eine schwere, fast tödliche Einbuße an Erlebniswerten zur Folge, und es ist ganz und gar abwegig, sie auf ein Piedestal zu erheben. Daß sie „modern“ ist, bedeutet doch keineswegs zugleich, daß sie wertvoll oder gar gut sei; weit eher ist sie böse. Da wir aber ohne sie nicht auszukommen vermögen, müssen wir ihre Produkte als einfache Gegebenheiten hinnehmen, ohne sie ihres Ursprungs wegen anzubeten.11

Die Ausstattung alter, in originalem Zustand erhaltener Wirtshaussäle, wie es sie im Bregenzerwald noch da und dort gibt, lassen erkennen, daß eine Mischung aus Individual- und Serienfertigung im Tischlerauftrag bereits vor hundert Jahren gang und gäbe war. Das Gasthaus Taube in Alberschwende etwa besitzt im Obergeschoß noch einen solchen Saal, dessen Innenausbau einschließlich der Möblierung eine Arbeit des Tischlermeisters Xaver Bereuter aus dem Dorf ist, der seine Stücke, darunter viele noch heute erhaltene Haustüren in Alberschwende, selbstbewußt mit einem geschnitzten Löwenkopf zu schmücken pflegte. Neben der für einen Handwerksentwurf unerwartet souveränen Leistung, die die Bewältigung des hausbreiten Saales in formaler Hinsicht dem heutigen, an Architektenentwürfe gewöhnten Betrachter darbietet, mit ihrer durch kräftige Profile gegliederten Kassettendecke, der zonierten Wand, deren zwischen den Fenstern angebrachte Täferflächen mit einem Zahnschnitt-Profil abschließen, um den Sturzbereich der Fenster für einen umlaufenden gemalten Fries freizuhalten, fällt im hier interessierenden Zusammenhang der Serienproduktion insbesondere die ebenfalls originale Möblierung auf. Die langen Tische mit ihren stämmigen, gedrechselten Beinen aus Bereuters Tischlerwerkstatt sind kombiniert mit Bugholzstühlen aus böhmischer Produktion, nach Auskunft des Wirts gegenüber den verbreiteten Thonet-Modellen „die stabileren“.12 4 Wie Anm. 49 im vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels 5 In: Gnaiger/Stiller, S. 33 6 MN: Z 106 ff 7 „regional-international; werkraum-ausstellung in wien“; Werkraum-Zeitung Nr. 3 (2001), S. 15 8 Innerhalb der Masse der neuerrichteten Einfamilienhäuser Vorarlbergs nehmen Fertighäuser den bei weitem überwiegenden Anteil ein (vgl. HK: Z 295 ff, wie Abschnitt Beratung, Planung, Steuerung, Kapitel Dorf, Anm. 71; ebd. zitiert). Die Aussage kann sich al-

so nur auf die Sparte der „Architektenhäuser“ beziehen. 9 Jan Tschichold: Das neue Weltbild; in: Tschichold (1928) 10 Vgl. Anm. 71 und 72 im vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels 11 Wie Anm. 72 im vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels 12 Gespräch mit dem Wirt des Gasthofs Taube, Alberschwende, 03.11.2007 13 Z.B. Werkraum-Zeitung Nr. 2 (2000), S. 16 ff

Industrieprodukte im traditionellen Tischlerhandwerk

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Der Wirtshaussaal, der aus einer Zeit stammt, bevor die Ideologie der Moderne das Standardprodukt auf das „Piedestal“ hob, führt uns vor Augen, daß das traditionelle Tischlerhandwerk seine eigene Geschichte der Serienproduktion besitzt. Diese ist im Unterschied zu derjenigen der Modernen Architektur keine Geschichte der Ästhetik, sondern eine Geschichte der Produktionsbedingungen und -möglichkeiten, ihrer Wirtschaftlichkeit und des Werts von Handarbeit auf dem jeweiligen regionalen Markt. Stuhl/Sessel

Stuhl und Serienfertigung

Wer sich, aus Deutschland kommend, mit dem Stuhlbau in Österreich befaßt, ist mit der zunächst verwirrenden Bezeichnung Sessel anstelle von Stuhl (bzw. Fauteuil anstelle von Sessel) konfrontiert, eine Bezeichnungsverschiebung, die bereits innerhalb Österreichs den Sprachgebrauch prägt. So, wenn etwa Einreichungen zu Handwerk + Form im Vorarlberger Dorf Andelsbuch in der regionalen Werkraum-Zeitung als Stuhl 13 und derselbe Sitzmöbeltyp, anläßlich der Wanderausstellung Möbel für alle in Wien präsentiert, im zugehörigen Katalogbuch als Sessel bezeichnet werden.14 Nachdem mein Gesprächspartner Wolfgang Schmidinger durchgängig die Bezeichnung Stuhl benutzt, verwende ich diese als für das Forschungsgebiet übliche und mir selbst vertraute Bezeichnung auch für diese Studie.15 Wo allerdings in Zitaten, etwa von Adolf Loos, Sessel verwendet ist, bleibt es als Synonym für Stuhl stehen. Zum historischen Beginn einer eigenen Geschichte der Serienproduktion innerhalb des Tischlerhandwerks der Region gibt Schmidinger einen Hinweis, den er wiederum seiner eigenen Familiengeschichte entnimmt: Das ist zu meines Großvaters Zeiten da passiert, und ich behaupt, das liegt fünfzig Jahre zurück, als der Stuhl plötzlich in die Stuhlfabrik gewandert ist. 16

Sesseltischler und Schranktischler

Daß die „Stuhlfabrik“ zunächst keine genuin industrielle Fertigung meint, sondern eine Spezialisierung innerhalb des Tischlerhandwerks darstellt, wie sie auch im Fensterbau mittlerweile üblich ist, führt er im unmittelbaren Anschluß aus: „Es gab da in Schoppernau eine Firma ,Felber‘, (...) der hat sich völlig auf Stühle spezialisiert, war aber zu zweit und zu dritt nur in der Größe, hatte aber einen Ausstoß von tausenden von Stühlen.“17 Auch in den Schriften Adolf Loos’ gibt es einen berühmten Essay, der an eine frühe Spezialisierung, hier innerhalb der handwerklichen Produktion der Tischler, nämlich in einen Sessel- und einen Schranktischler, erinnert. Sein Nachruf auf Josef Veillich markiert Loos zufolge gleichzeitig das Ende einer Handwerksform des Stuhls, die nur der Sesseltischler erzeugen konnte. „Wer die sessel begreifen kann, die aus zeiten herrühren, in denen man noch verstand, beim speisetisch zu sitzen, wird die sessel, die sesselgespenster von heute, zurückweisen. Er wird kopien der alten sessel wählen, die der schranktischler nicht erzeugen kann.“18 Zum besseren Verständnis sei hinzugefügt, daß Loos seine Häuser mit Handwerkskopien originaler Chippendale-Stühle einzurichten pflegte, die er gemäß seinem bereits erwähnten Diktum „Eine veränderung gegenüber dem

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althergekommenen ist nur dann erlaubt, wenn die veränderung eine verbesserung bedeutet“19 für zeitgemäß hielt: Das entwerfen eines neuen speisezimmersessels empfand ich als narretei, eine vollständig überflüssige narretei, verbunden mit zeitverlust und aufwand. Der speisezimmersessel aus der zeit um Chippendale herum war vollkommen. Er war die lösung. Er konnte nicht übertroffen werden. Wie unsere gabel, wie unser säbel, wie unser schraubenzieher. Leute, die keine schraube einziehen können, leute, die nicht fechten können, leute, die nicht essen können, haben es leicht, neue schraubenzieher, neue säbel und neue gabeln zu entwerfen. Sie machen es mit hilfe ihrer – wie sie es nennen – künstlerphantasie. Aber mein sattlermeister sagt dem künstler, der ihm einen entwurf zu einem neuen sattel bringt: „Lieber herr professor, wenn ich so wenig vom pferd, vom reiten, von der arbeit und vom leder verstünde wie sie, hätte ich auch ihre phantasie.“20

Bereits Loos stellt der mit Josef Veillich ausgestorbenen Handwerksform des vom Sesseltischler erzeugten Stuhls, genauer: des repräsentativen Speisezimmerstuhls, die verbleibende Alternative einer Industrieform gegenüber: „Da die sesseltischler ausstarben, ist der sessel, der holzsessel, auch gestorben. (...) Die nachfolge des holzsessels wird der thonetsessel antreten.“21 Dieser Werksentwurf einer Fabrik für Bugholzstühle, den wir, zumindest als Typ, auch in dem Wirtshaussaal in Alberschwende finden, ist aufgrund seines Erfolgs inzwischen zum nationalen Wahrzeichen aufgestiegen: „Und Österreich? Welches andere Land kann schon auf einen Stuhl (Thonet-Bugholzstuhl Nr. 14) verweisen, der weltweit 50 Millionen Mal verkauft wurde.“22 Der repräsentative Speisezimmerstuhl aus Josef Veillichs Sesseltischlerei ist mit dem Meister selbst und „dem bürgerlichen Anspruch auf ein besonderes Speisezimmer“23 aus unserem heutigen Wohnbedarf verschwunden. „Der Raum des Essens ist auf den Platz mit Tisch und Stühlen unter der Lampe geschrumpft [und] stellt heute jenes komprimierte Minimum an sozialer Räumlichkeit dar, das aus der europäischen Sozialgeschichte des Essens übrig geblieben und unverzichtbar ist.“24 Im ländlichen Umfeld Schmidingers gibt es einen weiteren handwerklich erzeugten Stuhltyp, „so ganz einfache Bauernstühle, (...) der Bretterstuhl“25, der sich durch seine geraden Einzelteile und deren einfache Fügung ohne Zarge, bei der Stuhlbeine und -lehne jeweils in das Brett der Sitzfläche eingezapft und dort verkeilt sind, auszeichnet. Wie der großbürgerliche Speisezimmerstuhl ist auch der Bauernstuhl zusammen mit der Lebensform des sozialen Standes, die er repräsentierte, verschwunden. Lediglich im Kontext der rustikalen Einrichtung ist dem Bauernstuhl noch ein Nachleben in Wohnküchen, Wirtsstuben und Cafés beschieden, ein eher symbolisches allerdings, 14 Gnaiger /Stiller, S. 95 15 Zur sprachwissenschaftlichen Dimension der Parallelverwendung von Stuhl und Sessel vgl. Sedlaczek, S. 362 ff 16 WS 3: Z 755 ff 17 WS 3: Z 764 ff 18 Loos, S. 440

19 Wie Anm. 46 im vorhergehenden Abschnitt dieses Kapitels 20 Josef Veillich in: Loos, S. 439 f 21 A.a.O., S. 441 f 22 Tschavgova, Zschokke, S. 10 23 Die Tafel in: Selle (1993), S. 113 24 Ebd.

Bugholzstuhl als typischer Industriestuhl

Bauernstuhl

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da hierfür die schweren und reich geschnitzten Prachtstühle als Vorbild dienten, wie sie Heimatmuseen gerne zeigen, und nicht die federleichten, unbequemen Bretterstühle, wie sie, Hans Döllgast folgend, wohl der Alltagsgebrauch verlangte: „Der alte Steckstuhl mit den vier gegrätschten Beinen ist immer viel zu hoch. Das kommt davon, daß auf dem Lande die Schüssel mitten auf dem Tisch steht.“26 Produktionsprobleme der Serienfertigung

Die eigene Serienproduktion stellt sich Schmidinger zunächst als Fülle von Produktionsproblemen dar, wobei sich insbesondere die Fertigung von Stühlen als unerwartet komplex offenbart: Wir haben die Entwürfe bekommen, haben uns die angesehen, und den Stuhl einfach einmal gebaut, ohne groß das zu überlegen, „hält oder hält nicht“, sondern, „wir bauen den“, und erst dann sind so die Tücken entstanden, daß man gesehen hat, das ist zu dünn, das muß man dicker machen, das funktioniert, das funktioniert nicht, wir hatten vom Stuhl vorher null Ahnung. Wir hatten nie, keine Stühle gebaut (...) und man hat einfach probiert, an dem Stuhl herumgebastelt, bis da die Proportion, und die Dinge gepaßt haben. (...) Und so kam eigentlich wieder der erste Stuhl in die Tischlerei.27

Rückkehr des Stuhls in die Tischlerei

Werkstattmoderne Bauhausmoderne

Im oben umrissenen Kontext der Produktionsgeschichte erscheint die Rückkehr des Stuhls in die Tischlerwerkstatt zunächst als Rückschritt, jedenfalls als Anachronismus im wörtlichen Sinn eines Verstoßes gegen den Zeitablauf. Eine genauere Betrachtung von Schmidingers Argumentation offenbart jedoch eine verborgene Produktionskontinuität in der Verwandtschaft zwischen den Bauernstühlen, deren einfache Konstruktion immer schon in der Zuständigkeit ländlicher Tischlereien lag, und den Merkmalen, die er an den von ihm für geeignet befundenen Entwürfen seiner ersten Serienstühle hervorhebt. „Das ist so simpel gebaut der Stuhl, das können wir als Tischler. (...) Und diese ersten Stühle waren dann so, daß man die wirklich (...) alle selber gemacht hat.“28 Wie die Bauernstühle bestehen auch sie aus geraden Einzelteilen und können nach einigen Optimierungen, „wir haben den geändert, wir haben den vereinfacht, und haben den funktioneller gemacht, stabiler“29, vollständig mit dem technischen Repertoire seiner Werkstatt bewältigt werden. Was gerade in dieser Werkstattmoderne der ersten Schmidinger-Stühle aufscheint, insbesondere ihre erst aus dem Blickwinkel des Handwerkers erkennbare Verwandtschaft zu den Bauernstühlen des unmittelbaren sozialen Umfelds, dem gleichermaßen von Bauern wie Handwerkern geschaffenen ländlichen Raum, ist ein Kippmoment der Moderne zwischen Handwerks- und Industriekultur, wie es Gert Selle für die Möbel Ferdinand Kramers aus den späten 1920er Jahren beschrieben hat, die dieser von Tischlern der Erwerbs25 WS 3: Z 760 ff 26 Hans Döllgast, zit. in: Möbel und Innenräume, Gaenßler, Kurrent, Nerdinger, Peter S. 176; das in Anm. 11 für die 6. Auflage (1962) von Alte und neue Bauernstuben angegebene Zitat ist in der mir vorliegenden 5. Auflage (1951) noch nicht zu finden. Dem-

nach ist zu vermuten, daß die von Peter Weise angegebene, völlige Neubearbeitung „nach dem Krieg“ erst zwischen der 5. und 6. Auflage erfolgte. 27 WS 3: Z 736 ff 28 WS 3: Z 791 ff 29 WS 3: Z 895 ff

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losenzentrale für die neuerrichteten Sozialwohnungen des Neuen Frankfurt, einer der zeitnotwendigen, großangelegten Wohnbaukampagnen unter Stadtbaurat Ernst May, fertigen ließ. Die „Besinnung auf den menschlichen Grund der Produktivität“, die „eben nicht von der alles überwältigenden Rationalisierungs-, Geometrisierungs- und Anonymisierungstendenz durchdrungen“30 ist, die Selle zur Unterscheidung dieses Einzelfalles vom zeitgleichen BauhausDesign hervorhebt, zeichnet auch die Serienstühle aus Schmidingers Werkstatt aus. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die seit Kramers Zeiten gewandelten Repräsentationsbedürfnisse und die „Echtheitssuche“ unserer Gesellschaft, daß die Stühle aus Schmidingers Werkstatt mit ihrer spezifischen Kargheit nicht nur in internationalen Designausstellungen und -jahrbüchern herumgereicht werden, sondern auch anstelle von Sozialwohnungen Eingang in die Wohnungseinrichtungen einer wohlhabenden Mittelschicht der Region finden.31 Schmidinger gewinnt seiner Serienproduktion einen weiteren Effekt ab, der, ebenso wie die Auswahl der Stücke, an regionale Fertigungstraditionen seiner Handwerkssparte anknüpft: die Lagerhaltung bestimmter Holzarten und die Holztrocknung im eigenen Betrieb. Seit eine unüberblickbare Vielfalt an Holzarten die Kundenwünsche seiner Individualaufträge bestimmt, war die eigene Lagerhaltung obsolet geworden, durch den kalkulierbaren Bedarf aus der Serienproduktion erscheint sie nun wieder rentabel. „Ein Buchenholz zum Beispiel, das wir für Tische verwenden, bleibt bis zu einem Jahr dann im Außenbereich, und kommt dann in unsere eigene Trockenkammer. Da machts Sinn, man weiß, es ist ein Jahresbedarf da, ein paar Kubikmeter von der Holzart und dann machts Sinn.“32 Als Schmidinger weitere Stuhlmodelle in seine Kollektion aufnimmt, zeigt sich schnell die Grenze der eigenen technischen Möglichkeiten: Nachdem jetzt gebogene Sperrholzteile für die Sitzflächen der Stühle gebraucht werden, wird ein Teil der Produktion ausgelagert, zunächst, um „die Formteile bei Formholz-Herstellern zu organisieren“.33 Später werden auch andere 30 Selle (1987), S. 190 31 Die Förderung der Guten Form durch Ausstellungen und Veröffentlichungen, in diesem Fall die Vermittlungsversuche für Handwerksmöbel im und durch das akademische Milieu, findet offensichtlich so wenig „breite“ Beachtung, daß sie das Kaufverhalten potentieller Kunden kaum beeinflußt, ökonomisch zwar irrelevant bleibt, jedoch ein „kulturelles“ Eigenleben entwickelt. Gute Form und Wohnalltag bleiben getrennte Welten. Daran hat sich seit den 1920er Jahren, als Bruno Taut Arbeiterwohnungen möblieren wollte, nichts Wesentliches geändert. Oder doch? Ein eklatanter Unterschied zu jener heroischen Phase der Architekturmo-

derne könnte darin gesehen werden, daß, jedenfalls im „Westen“, Arbeiter mit der Missionierung der Gute-Form-Anhänger gar nicht mehr in Kontakt kommen, da Gute Form im internationalen Maßstab ein exklusives Phänomen der Bildungsbürger und ihrer distinction geworden ist. Ein anschaulicher Effekt dieser sozialen Aufwertung seiner „einfach“ gestalteten Produkte liegt darin, daß sich der Handwerker selbst solche Möbel für den Eigenbedarf kaum jemals „leistet“ und, wie Tischlermeister Gerhard Huber betont, auch selten „leisten kann“. Vgl. auch Abschnitt Baukünstler des Kapitels Vorarlberg, Anm. 40 32 WS 1: Z 160 ff

Eigenes Holzlager für die Serienproduktion

Zulieferer und Mitproduzenten

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Zulieferer mit der Fertigung spezieller Einzelelemente beauftragt. „Da gabs ganz einfach Betriebe, die beispielsweise Spielzeug hergestellt haben, und für Kleines, Filigranes sehr gut geeignet waren.“34 1999 stellt Schmidinger neben seiner Modul-Kollektion eine eigene Kollektion von Kirchenstühlen auf Anregung und in Zusammenarbeit mit dem Künstler Leo Zogmayer zusammen.35 Seither sind schlagartig Auftragsumfänge mit Hunderten von Stühlen, „das waren glaub ich, schon 250 oder 300 Stühle für so ein einzelnes Projekt“36, kurzfristig zu bewältigen, was neben der Grenze der technischen Ausstattung nun auch die Kapazitätsgrenze der eigenen Werkstatt offensichtlich werden läßt. Immer, wenn dann solche Projekte kamen, dann war angesagt „wir brauchen jetzt Unterstützung“. Weil, das konnten wir nicht mehr einschieben. Einen Tisch mit fünf, sechs, da (brauche) ich einen guten Gesellen, um zu sagen „du baust mir jetzt die fünf Stühle, oder die sechs Stühle da“. Aber (...) 200 konnt ich nicht einschieben, es waren nebenher andere Aufträge zu bewerkstelligen und zu machen. Und das war das, was eigentlich dann immer wieder den Schub gebracht hat, „wir suchen einen Produzenten dafür, und wir suchen eine Struktur dafür“. Und diese Dinge waren einfach auch wichtig. Die haben dann einfach auch den nächsten Schritt bedeutet.37 Wirtschaftlichkeit der Serienproduktion

Der „nächste Schritt“ bedeutet für Schmidinger eine Auslagerung großer Teile der Serienproduktion in andere Betriebe der Region. Ein Netzwerk von Einzelbetrieben entsteht, die gemeinsam die Fertigung der gefragtesten Teile seiner Kollektion sicherstellen. „Aus einer Kollektion von fünfzehn Stück sinds drei, vier, bei denen es wirklich so war, daß man sagt, man konnte jetzt einfach in Mengen die auch machen.“38 Neben der Bewältigung der Produktionskapazität tritt für Schmidinger zunehmend die Anforderung in den Vordergrund, seine Serienproduktion auch wirtschaftlich rentabel zu machen. Das Ganze war einfach über doch viele Jahre ein sehr kostspieliges Hobby. Messen, die viel gekostet haben, Prototypen, für die man nichts bekommen hat, (...) Herstellungskosten, [die] über dem Verkaufspreis waren, (...) und dann die ganze Grafik, und die Fotografie, und die ganze Werbung, und all diese Dinge, da hat der bestehende Betrieb ganz ganz viel Geld hineingesteckt.39

Fabrikproduktion und Handwerksproduktion

So ist bei der Auswahl seiner Zulieferer auch maßgebend, daß sie bestimmte Einzelteile kostengünstiger produzieren können, als seine Werkstatt selbst es vermag. „Da gabs welche, die in dem ursprünglichen Stuhlbau-Metier auch gearbeitet haben, und aber ganz klein waren, für große Anlagen. Beim Stuhl brauchst eigentlich eine Hobelmaschine, eine Schleifmaschine und eine Dübel-, also Lochbohrmaschine, und damit hat sichs. (...) Deshalb konnten die einfach, oder können die nach wie vor, preiswerter produzieren.“40 33 WS 3: Z 820 ff 34 WS 3: Z 825 ff 35 August Heuser (Hg.): Sedes – der Sitz für die Gemeinde – Möbel für Sakralräume, Leo Zogmayer; Ausstellungskatalog Dommuseum Frankfurt/M, 2002 36 WS 3: Z 900 ff 37 WS 3: Z 914 ff

38 WS 3: Z 863 ff 39 WS 3: Z 839 ff 40 WS 3: Z 828 ff 41 Diese Einschätzung verdanke ich Tischlermeister Gerhard Huber. 42 Das System der Produktion in kleinen Werkstätten in: Bergmann, S. 208

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Spezialisierung, also Reduzierung des Angebotsspektrums auf ein bestimmtes Segment, führt zur Reduzierung der erforderlichen Maschinenausstattung und damit zu günstigeren Produktionskosten. Umgekehrt ist also die Allround-Tischlerei, wie seine eigene Werkstatt sie repräsentiert, die teuerste Produktionsweise.41 In der Serienfertigung scheint demnach eine Eigendynamik zur Fabrikoder sogar Fließbandproduktion zu stecken. Denn im Unterschied zur typischen Tischlerproduktion, die eine Einzelstückfertigung ist, ist bei der Serienproduktion der Gegenstand von vorneherein bekannt, den es zu produzieren gilt und dessen optimierte Produktionsweise nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt. Besonders augenfällig wird dieser Effekt, wenn etwa zur Produktion bestimmter Autotypen eigens Fabriken gebaut werden. Trotzdem findet Schmidinger hier einen anderen Weg, als eine Fabrik zu bauen. Er organisiert die Produktion in einer Weise, daß sie von „kleinen Werkstätten“ zu bewältigen ist: nach Frithjof Bergmanns Einschätzung auch für die Industrie die Produktionsweise der Zukunft.42 Während die Produktionsprobleme der Serienfertigung noch mit dem traditionellen Repertoire des Handwerkers analysiert und gelöst werden können, zieht diese ein weiteres und ebenso gewichtiges Problemfeld nach sich, das vollständig handwerksfremd ist. Mit der Serienfertigung ist der Handwerker mit einer ihm fremden Marktsituation konfrontiert. Ursprünglich hatte der Tischler seine „Produkte“, die keine solchen waren, denn seine Arbeit steckte in der Bearbeitung der Innen- oder Außenfläche eines Hauses, als Täfer, Eckbank, Einbaukasten, Fenster, Tür oder Laden, niemals öffentlich zeigen müssen. Statt dessen verrichtete er seine Arbeit im engen Kreis zwischen dem persönlich ansprechbaren Kunden, dessen Haus und der eigenen Werkstatt. Mit dem Schritt in die Serienproduktion verkehrt sich die Kundenbeziehung ins Gegenteil: Jetzt muß der Tischler den Kunden suchen, der vorher ihn aufgesucht hatte, und hat dazu lediglich die „Sprache“ des Produkts zur Verfügung. Der Tischler, der vorher vor allem Kompetenz, diejenige seines Handwerks und eine universelle Problemlösungsfähigkeit anbot, bietet mit dem Einstieg in die Serienproduktion erstmals eine Handelsware an. Für den Vertrieb einer Möbelkollektion ist aus der Architektenschaft keine Unterstützung zu erwarten. Diese sieht sich entweder nur für die Form, also den Prototyp und dessen Präsentation, zuständig, wie im Fall der Ausstellung Möbel für alle, die in Wien und München ausgewählte Stücke aus Handwerk + Form zeigte: „Wir sind die Kuratoren und können keine Verkaufsstrategie für den Bregenzerwald entwickeln.“43 Architekten vermitteln im Rahmen aktueller Planungsaufträge höchstens die Möglichkeit, einzelne, objektspezifische Kleinserien abzusetzen, wobei das Handwerksmöbel hier in Preiskonkurrenz zum industriell gefertigten Möbel aus dem Büromöbelhandel gestellt wird.44

Produktion in Kleinen Werkstätten

Vertriebsprobleme der Serienfertigung

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Aus dem Möbelhandel holt sich Schmidinger auch die erste Beratung für den Vertrieb seiner Produkte: Und wir gingen dann einmal in ein Möbelhaus, in die Schweiz, nach Zürich, oder nach St. Gallen, und haben da einmal nachgefragt, „ja, was kanns sein, kann man sowas überhaupt verkaufen, wie sind da die Preise“, und eine Aussage von denen war „ja, ihr braucht eigentlich dafür eine Gesamtkollektion, man kann nicht nur mit irgendwie, mit zwei Stücken, eine Ding machen, eine Produktion, oder eine Kollektion machen, und ihr braucht einfach auch mehrere Stücke.“45

Messen schaffen Geschäftskontakte

Um Attraktivität für den potentiellen Kunden zu schaffen, muß das eigene Angebot nun mit einem Weltmarkt an Möbeln konkurrieren, während es für den Tischler bisher genügt hatte, den Einzelauftrag zur Zufriedenheit des Kunden, der zu ihm gekommen war, zu erfüllen. Messen schaffen jetzt die Kommunikationsplattform, auf der Konzepte gehandelt, Prototypen angeboten werden und Serienproduzenten nach einem Vertreiber suchen. 1994, drei Jahre nach der ersten Handwerk + Form-Ausstellung, zeigt Schmidinger erstmals eigene Serienmöbel auf der Möbelmesse Köln. Wir standen da hinten irgendwie an einem Stand, das war zwar das letzte Loch, und da kamen auf der ganzen Messe, ich behaupte, hundertfünfzig Leute kamen vorbei, und davon waren vielleicht zehn Interessenten und das war der erste Messeauftritt. Also, sehr ernüchternd, aber man hat gemerkt, das Ziel war, (...) in die richtigen, guten Hallen zu kommen, weil es hieß, „dort draußen wird verkauft, da müßt ihr hin, aber ihr müßt ausharren, es kann oft ein paar Jahre dauern“. Und wir kamen zurück, zwischenzeitlich war schon Ernüchterung eingetreten, aber zumindest war soviel Motivation noch da, um dann wieder zu schauen, was gibts für neue Produkte. 46

Solche neuen Produkte zur Ergänzung seiner Kollektion findet Schmidinger beispielsweise in der Designerhalle der Möbelmesse Mailand. Hier lernt er den Finnen Harry Koskinen kennen, der einen Produzenten für seine Sperrholzkoffer sucht. „Und wir haben uns dann dem angeboten, und da waren noch zwei, drei in Europa dabei, die sich auch darum bemüht haben, und der hat dann uns den Zuschlag gegeben. Das heißt, auch die Rechte, ,ihr könnt das (...) gegen Tantiemen produzieren, europaweit vertreiben, Rechte bleiben bei mir‘, und das waren dann so die ersten Designerverträge.“47 Schmidinger bietet den Koffer als Fetti Container in drei Größen an und erwirbt so einen Verkaufsschlager seiner Kollektion. „Bei diesen Fetti-Containern, da (...) warens der Versandhandel, war ein guter Abnehmer, der hat dann immer gleich palettenweise gekauft.“48 43 Regional-international, werkraum-ausstellung in wien; in: Werkraum-Zeitung Nr. 3 (2001), S. 14 44 WS 3: Z 1367 ff 45 WS 3: Z 342 ff 46 WS 3: Z 449 ff 47 WS 3: Z 722 ff 48 WS 3: Z 1046 ff 49 WS 3: Z 1152 ff 50 Jurykommentar: „Eine engagierte Bemühung, eine Nische im von großen Konzernen besetzten Büro-

möbelmarkt mit einem Tischlermöbel zu besetzen.“ Werkraum-Zeitung Nr. 5 (2003), S. 20 51 WS 3: Z 1163 ff Einem weiteren Einsatz als Büroeinrichtung folgt noch eine letzte Überarbeitung bis zur Präsentation bei der Büromöbelmesse Orgatec 2004 und der mediengerechten Aufbereitung als Büromöbelprogramm Office im Rahmen der schmidinger modul-Kollektion. (Vgl. Prospekt schmidinger modul Office, o.J.) 52 WS 3: Z 1459 ff

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Mit dem Abschied vom personellen Kunden geht ein explosiv steigender Aufwand für den Entwurf einher. Es genügt jetzt nicht mehr, selbst zu entwerfen oder von befreundeten Architekten entwerfen zu lassen, denn es zeigt sich, „daß man nicht auf Knopfdruck jetzt irgendwas kreieren kann“.49 Ein neu zu entwerfender Gegenstand braucht einen Anlaß als Ausgangspunkt, konkrete Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für seine Entstehung. Nach wie vor können Objektmöblierungen, also Individualaufträge, solche Anlässe bieten. Die Arbeitsplatzmöblierung für den Neubau eines Elektronikherstellers im Nachbarort, bestehend aus Stauraummöbel und Tisch, gemeinsam mit dem Architekten entworfen und in objektbezogener Kleinserie für vierzig Arbeitsplätze gefertigt, nimmt seinen weiteren Weg über Handwerk + Form 2003.50 Schmidinger nutzt hier den inzwischen etablierten Wettbewerb mit seiner Fachjury als Probelauf oder Endkontrolle für solche Prototypen, die kurz vor Aufnahme in die Serienmöbel-Kollektion stehen. Bestätigung bei Handwerk+ Form ist eine Nobilitierung, ein publizistisches Startkapital für das neue Stück.51 Das Einzelstück, Normalfall der klassischen Handwerksproduktion, wird im Kontext einer Serienfertigung zum Prototyp. Die Messe ist Zielpunkt der Entwicklungsarbeit zum Serienmöbel. Nach ersten Möblierungen, bei denen die Prototypen ihre „Kinderkrankheiten“52 zeigen, bedeutet die Qualität der Serienreife, für universellen, auftrags- und kontextneutralen Einsatz tauglich zu sein. Der Vertrieb entwickelt inzwischen einen Raumbedarf, der für die Tischlerei ebenfalls neu ist. Wo ehemals höchstens Schnittholz, also Rohmaterial, Lagerraum beansprucht hatte, sind es jetzt zusätzlich die fertigen Produkte.53 Darüber hinaus betreibt Schmidinger zeitweise einen eigenen Ausstellungsraum in Schwarzenberg.54 Jenseits der Werkstattrealität entsteht unterdessen eine Parallelwelt der Texte und Bilder. Die Präsentation der Serienmöbel-Kollektion in einem Katalog und die Medienpräsenz sind unabdingbare Marketing-Instrumente für den Vertrieb der Kollektion. Eine separate Papierebene55 entsteht, getrennt von den Gegenständen und unabhängig vom wirtschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg des Serienmöbel-Projekts. Hier existieren die Gegenstände als Bild 53 WS 3: Z 939 ff 54 Mittlerweile ist dieser vom Werkraum Bregenzerwald übernommen und wird für Ausstellungen und als Schaulager für die bei Handwerk + Form prämierten Prototypen genutzt: das Werkraum-Depot in Schwarzenberg. 55 In dieser Papierebene, „immerhin ist ein schönes Buch entstanden, Möbel sind weiterentwickelt worden, und es kam auch diese Ausstellung zustande,(...) eine museale Ausstellung, weniger eine Verkaufsaus-

stellung“ (WS 3: Z 1296 ff), findet vor allem die gesellschaftliche Rolle des Architekten ihren Entfaltungsraum. Ein „Kuratorium zur Verfügung stellen“ (ebd.), also Qualität beurteilen, präsentieren, dokumentieren, lehren, ist „Ästhetische Erziehung“ treiben. 56 Ich selbst bin Mitte der 1990er Jahre zufällig auf einen Schmidinger-Stuhl in einer Ausstellung des Kölner Museums für Angewandte Kunst gestoßen, kuratiert von Jasper Morrison. 57 WS 3: Z 959 ff

Handwerk + Form als Probelauf für Prototypen

Parallelrealität der Texte und Bilder

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und sind damit verfügbar für eine von Material und Herstellungsweisen abgelöste Reflexion über ihre Form.56 Wir waren, glaub ich, vier Jahre lang hintereinander (...) im internationalen Design-Jahrbuch (...) das waren verschiedene Kuratoren, die das ausgewählt haben, und da waren wir immer wieder drinnen, mit verschiedenen Produkten, ich behaupt, das hat eigentlich nicht einen wirtschaftlichen Schub gebracht, (...) das waren schöne Bestätigungen, wenn man wußte, der Stuhl (...) völlig unbedeutender Designer, daß der ausgewählt wird für irgendwo, für so eine Ausstellung. Das waren (...) wirklich viele und schöne Publikationen, große, im Wallpaper, und im Hochparterre und im Architekturforum, und in zig internationalen Büchern und Zeitungen, die Dinge gabs alle, (...) fürs Herz hats gutgetan, fürs Wirtschaftliche konnte mans in den seltensten Fällen messen. Damals gabs ja nicht ganz so das Internet, heute würde man sagen, das sieht man am Zugriff, wie viele Leute da drauf schauen, (...) was ist das für eine Kollektion. Aber damals wars wirklich für die Motivation auch wichtig.57

Serienkollektion als Akquisitionsinstrument

Der Serienproduktion selbst bleibt wirtschaftlicher Erfolg verwehrt.58 Letztlich ist es die traditionelle Individualfertigung, die einerseits den Betrieb durch den kostspieligen Aufbau der Serienkollektion hindurchträgt59 und nach wie vor dessen Rückgrat bildet. Die für das Tischlerhandwerk typische, unternehmerische Kompetenz in der Beratung des Einzelkunden formt schließlich sogar die Serienfertigung zum Mittel der Auftragsakquisition um. „Alles das ist über die modul hereingefahren worden. Und unser Ding war eher so, dann wieder zu erklären, daß wir Individualfertiger sind.“60 Die internationale Anerkennung für seine Serienkollektion und ihre Präsenz in Ausstellungen und Jahrbüchern hat neue Kundenkreise außerhalb der eigenen Region erschlossen und damit den Radius der Werkstatt enorm erweitert, doch sind es die individuellen, die kunden-, objekt- und raumbezogenen Einzelanfertigungen, die sie wirtschaftlich tragen und ihr Überleben in einer zunehmend komplexen Wettbewerbssituation sichern.

58 „Hätt ich das ganze Modul bankfinanziert gemacht, hätt mir die Bank wahrscheinlich nach vier Jahren schon den Hahn dichtgemacht und gesagt, „das kann nicht sein, ihr müßt da irgendwie, da muß sich was drehen, da muß mehr, mehr hereinkommen“. Und für Handwerksbetriebe war das fast unzumutbar, (...) die ganzen Wettbewerbe und diese Dinge, die kann, könnten die meisten Handwerker, wahrscheinlich, würden sich das nicht leisten.“ (WS 3: Z 1335 ff)

59 Tschavgova und Zschokke erwähnen diesen Hintergrund in ihrem Aufsatz, was innerhalb der ansonsten nur an der Form interessierten Architekturpublizistik eine rare Annäherung an die Produktionswirklichkeit darstellt: „Gewerbebetriebe wie (...) Schmidinger setzen viel Kapital ein, um neue Prototypen zu entwickeln und am europäischen Markt zu positionieren.“ Tschavgova, Zschokke (2003) 60 WS 3: Z 1000 ff

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429 6.6 Reform des Handwerks: Möbel und Raum Der Raum ist kein Gegenstand, er ist eine soziale Form.1

Die vorangehenden Abschnitte dieses Kapitels, das die Auswirkungen der Begegnung zwischen Architekturbewegung und dem Tischlerhandwerk im Bregenzerwald untersucht und aus dem Blickwinkel sozialer Praxis interpretiert, widmeten sich dem Entwurf und dem Produktionsprozeß als denjenigen Wirkungen, die die Werkstattpraxis des Tischlers unmittelbar betreffen. Dieser Abschnitt verläßt nun die Tischlerwerkstatt, um Veränderungen ins Auge zu fassen, die am Produkt des Tischlers entstanden sind. Insbesondere sein Bezug zum umgebenden Raum ist hier von Interesse, da bereits festgestellt wurde, daß die Maßanfertigung von Möbeln für bestimmte Räume und der Innenausbau der Räume selbst charakteristisch für den Leistungsumfang der Tischlerarbeit ist. Die traditionelle Aufgabe des Bregenzerwälder Tischlers besteht darin, den normalerweise im Strickbau aufgeführten Rohbau des Hauses bewohnbar zu machen: die oberen Stockwerke durch eine Treppe zu erschließen, die Wandöffnungen mit Fenstern, Türen und Läden zu versehen, die Holzbalken der Wände und Decken mit Täfer zu verkleiden, die Stube mit Sitzbänken und eingebautem Kasten auszustatten und diese raumbezogenen und ortsfesten Teile, die den Hauptumfang seiner Arbeit bilden, durch Betten, Tische, Stühle, Schränke und Truhen zu komplettieren.2 Diese umfassende Zuständigkeit des Tischlers ist seit den 1990er Jahren auch im Bregenzerwald im Schwinden begriffen, wie Anton Kaufmann als Obmann des Werkraum Bregenzerwald und damit stellvertretend für die Handwerker im Katalog zu einer Ausstellung Bregenzerwälder Möbel in Wien feststellt: „Zum traditionellen Aufgabenbereich des Innenausbaus tritt mehr und mehr die Auseinandersetzung mit dem Objekt und dem mobilen Möbel.“3 Seine Analyse registriert nicht nur eine Veränderung vom Ortsfesten zum Mobilen und damit die Herauslösung des Möbels aus dem räumlichen Zusammenhang des Innenausbaus als Ausdruck „neuer alltagsästhetischer Orientierungen“4, sondern auch den dahinterstehenden sozialen Wandel. Neue Lebensformen hätten sich inzwischen etabliert, die „von einem patchworkartigen Nebeneinander von Lebensstilen und Wertstrukturen bestimmt“5 seien. Mit dem Zerfall der homogenen Sozialstruktur des Bregenzerwaldes durch Hinzutreten neuer Lebensstile schwindet auch die ursprüngliche, umfassende Zuständigkeit des Tischlers für den Rahmen und die Gegenstände des Wohnens. Diese müssen nun, nachdem sie nicht länger durch allgemeinverbindliche Traditionen vereinheitlicht werden, zunehmend individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Indem der Handwerker nun den „Architekten (...) Gestalter und Designer“6 als den Exponenten der im Gang befindlichen Modernisierung „einbindet (...)

Die Tischlerarbeit macht den Rohbau bewohnbar

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Handwerksfremde Formtradition der Moderne

der das Produkt vom Entwurf bis zur Herstellung [begleitet]“7, tritt nicht nur eine neue arbeitsteilige Planungspraxis in die Sphäre des Handwerks, sondern auch die dem Handwerk sozial, formal und technologisch entgegenstehende Formtradition der Moderne.8 Nachdem die „Produkte“ des Tischlers Wohn- und Lebensumgebungen schaffen, tritt im hier betrachteten Traditionswechsel die Frage in den Vordergrund, welches Idealbild von seinen Bewohnern der gestaltete Raum und seine Atmosphäre verkörpern. Insbesondere im Kontext der Modernen Bewegung ist diese Frage relevant, da mit der Modernen Form immer auch der Neue Mensch mitgemeint ist, für den diese Form, ob Möbel oder Raum, zu schaffen ist.9

Verlagerung der Konzeption des Innenausbaus in einen architektonischen Kontext

Nicht nur die Person des Architekten oder Designers, der künftig den Entwurfsprozeß des Handwerksprodukts mitbestimmen wird, schränkt von nun an die Zuständigkeit des Tischlers innerhalb des Bauprozesses eines Hauses ein, von mindestens ebenso einschneidender Bedeutung ist die gleichzeitige Verlagerung der Konzeption des Raumes und seiner Elemente in einen architektonischen Kontext. Adolf Loos formuliert eine diesbezügliche Handlungsanweisung an die Architektenschaft bereits 1924 unter dem Titel „Die Abschaffung der Möbel“: Was hat der wahrhaft moderne architekt zu tun? Er hat häuser zu bauen, in denen alle möbel, die nicht mobil sind, in den wänden verschwinden.10

Abstrakte moderne und plastische handwerkliche Form

Wenn Schmidinger den „modernen Ansatz“ beschreibt, den einige seiner Kollegen bereits früher als er selbst „relativ konsequent“, jedenfalls „in einer ziemlichen abstrakten Form zeigen“11, so wird deutlich, wovon die Moderne „abstrahiert“: vom Relief der Möbel- und Raumoberflächen und der plastischen Durchbildung des einzelnen Bauteils. Form ist plastisch. Die Architekturmoderne eliminiert das Flächenrelief, um nunmehr im Baukörpermaßstab 1 Henri Lefebvre; zit. von Wojciech Czaja in: Der Architekt als Sozialarbeiter, Der Standard 07.07.2007, S. A8 2 WS 3: Z 494 ff 3 Werkraum Bregenzerwald in: Gnaiger/Stiller, S.12 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Bereits in den 1920er Jahren war dieser Gegensatz aus dem Blickwinkel des Handwerks festgestellt worden. Insbesondere im Kontext der von Gropius betonten Nähe zwischen Bauhaus und Handwerk (vgl. Anm. 20) verdient der „Bericht des Tischlermeisters A. Wagner über seine Eindrücke bei dem gemeinsamen Besuch des Bauhauses Weimar am 7.3.1925“ Beachtung, den Hüter aus dem Anhalter Anzeiger vom 18.03.1925 zitiert: „Man war sich in den Handwerkerkreisen besonders in den späteren Jahren [des Weimarer Bauhauses] durchaus der Auswirkungen

bewußt, die die sachliche Gestaltungsweise, sollte sie sich allgemein durchsetzen, mit sich bringen würde. Ein Dessauer Handwerker schrieb nach Besichtigung des Bauhauses Weimar, die dort gefertigten Gegenstände, vor allem Möbel, seien nicht für das Handwerk geeignet. Sie seien „Fabrikware“. Bei einem solchen Stil würde das Handwerk wieder beschäftigungslos werden, wie nach der Brüssler Weltausstellung 1910. Damals war als Ergebnis der ersten Phase der Sachlichkeit ein schlichtes, auf maschinelle Fertigung hin entworfenes Brettmöbel aufgekommen. Der Handwerker stellte fest: Die schmückenden Gewerbe haben aufgeatmet, als diese Periode vorüber war, und sehnen sich nicht nach einer solchen.“ Hüter (1973), S. 133 9 Roland Rainer etwa propagiert den Nomaden mit leichtem Gepäck als solches Idealbild: „Trotz der vielen Hinweise auf die Vorzüge (...) ist die Einführung des Einbauschranks in den kasernierten Städten bisher vielleicht nicht zuletzt daran gescheitert, daß die

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plastisch arbeiten zu können. Es ist ein Maßstabssprung, der mit dem Einzug der Formtradition der Moderne vollzogen wird: Das Möbel, soweit noch vorhanden, muß glatt und unauffällig sein, um die Wahrnehmung nicht davon abzulenken, daß die relevante Plastik jetzt der Baukörper ist: die architektonische Form. Eine Konsequenz dieses Maßstabssprungs ist, daß die Wandverkleidung, das ehemals vom Tischler ausgeführte Kassettentäfer, nun dem Tischler genommen und dem „Wandbauer“ gegeben wird: Die Wand der Architektenhäuser ist glatt und wird vom Zimmermann bekleidet. Dem Wandtäfer fällt im Architektenentwurf die Aufgabe zu, Wand und Decke als konstruktive und raumbildende Bauteile zu verkörpern. Auf semantischer Ebene wird das Kassettentäfer des Tischlers, das die wohnliche Oberfläche auf den rauhen Balken bildete, nun ersetzt durch eine Erzählung von der Konstruktion und ihren Bestandteilen: „Das Rohbauargument“ verlangt in der Formstrategie der Moderne, „die im konstruktiven Gerüst gegebene Gestalt auch architektonisch anzunehmen“.12 Der aus der Möblierung entfernte und, je nach Größe, als eigener Raum oder in Gestalt einer raumhaltigen „Wand“ ausgebildete Schrank ist seit den 1920er Jahren prägendes Merkmal für moderne Architekturentwürfe jeder Größenordnung. Was in den Villen der Wohlhabenden die Baukörperplastik ungestört zur Wirkung gelangen läßt, dient in den Minimalwohnungen für das Industrieproletariat dazu, „den dringend benötigten Wohnraum nicht noch durch freistehende Schränke“13 zu verstellen. Von einem „Stüberl, woran das Herz hängt“14, ist also im Architektenhaus nicht mehr die Rede, fast möchte man sagen: im Gegenteil. Die Atmosphäre ist kälter geworden, die distanzierte Beziehung zwischen Bewohner und den leeren Räumen seines Hauses grenzt an Fremdheit.15 „Mieter“ sich von den einmal vorhandenen Schränken nicht trennen wollten. Die Kriegsverluste an Möbeln würden hier Gelegenheit geben, von den material- und raumverschwendenden transportablen zu den weit sparsameren und zweckmäßigeren Einbauschränken überzugehen. Bekanntlich ist LeCorbusier mit seinen fest eingebauten Tischen und Betten noch einen Schritt weiter gegangen. Auch Wright und andere bauen – auch in Luxushäusern – Tische, Sitzbänke, Regale u. dgl. oft fest ein. Wohlüberlegte Grundrisse mit genau ermittelter bester Möbelstellung fordern zu solchen Gedanken heraus. Denkt man sie folgerichtig zu Ende, so verbleiben als echte, d.h. mobile, also bewegliche Möbel nur jene, die bei der Benützung tatsächlich bewegt werden: Vor allem Sitzmöbel aller Art, kleine Tischchen, leichte Behälter u. dgl. Nur diese müßten bewegliche Habe sein, die beim Umzug jedenfalls mitgenommen werden müßte.“ Rainer (1948), S. 33 f 10 Loos, S. 388 ff

11 WS 2: Z 811 ff 12 Hüter (1981), S. 134 13 Kramer, S. 78 14 Vgl. Abschnitt Rustikalproduktion dieses Kapitels, Anm. 25 15 „LeCorbusier untertitelt innerhalb seiner (...) Werkausgabe die Photosequenz durch das Innere der Villa [Savoye] mit dem harmlos anmutenden Begriff einer ,promenade architecturale‘. Wenn man die darin anklingende Analogie zum Promenieren und Flanieren (...) ernst nimmt, dann stößt man auf eine unheim-liche (sic!) Paradoxie: der Bewohner (...) wird zu einem Flaneur in seinem eigenen Haus: in seiner ureigenen Wohnung, da wo er in ,Eigenheit und Eigentum‘ sich sicher weiß, soll nun die Szene ständig wechseln, ihm Abwechslung und immer neue Überraschung bieten. Sein Haus soll ihm immer wieder zur Fremde und niemals ein Zuhause werden.“ Patrik Schumacher: Architektur der Bewegung; ARCH+ 134/135, Aachen 1996; vgl. auch Prechter (1997), S. 55

Kassettentäfer/ Riementäfer

Einbauschränke

Fremdheit

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432 Sentimentalität

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Die Skeptiker innerhalb der Modernen Bewegung haben diesen Effekt schon früh benannt. So stellt etwa Josef Frank im begleitenden Katalog der Werkbund-Ausstellung Die Wohnung in Stuttgart, zu der 1927 die Weißenhofsiedlung errichtet wurde, eine Fehladressierung der modernen Wohnatmosphäre fest, wo sie den Anspruch von Allgemeingültigkeit erhebt: Jeder Mensch hat sein bestimmtes Maß von Sentimentalität, das er befriedigen muß. (...) Der wissenschaftlich oder künstlerisch schaffende Mensch erledigt es während seiner Arbeit, (...) denn seine Tätigkeit ist sentimental genug, daß er ihrer während seiner Ruhe nicht bedarf. Der Industriearbeiter lebt durchaus pathetisch (...) und es besteht innerhalb eines [solchen] Lebens kein Mittel, dem Geist Ruhe und Erholung zu bieten. (...) Der pathetisch tätige Mensch, der die sentimentale Umgebung braucht, will sich zu Hause von seinem Beruf ausruhen und das Bewußtsein haben, daß sich hier jemand um ihn gekümmert hat; ein Bewußtsein, das beim Staubabwischen beginnt und bei reicher Ornamentik endet. Diese bedeutet unbedingt für uns Ruhe, da sie eine über das Notwendige hinausgehende, überflüssig spielerische Beschäftigung voraussetzt.16

Technik statt Kunst

Das Jahrzehnt zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise von 1929, in dem die noch heute gültige „Sprache des Neuen Bauens“17 formuliert wurde, bot jedoch statt ausreichender Muße zu solch „überflüssig spielerischer Beschäftigung“ existentielle Probleme zuhauf, insbesondere im Massenwohnbau, an dem sie ihr Repertoire auszubilden und zu bewähren hatte. So wurde binnen kurzem der von Walter Gropius in seinem Programm formulierte Anspruch des Weimarer Bauhauses „Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück (...) Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker (...) Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft“18 durch wissenschaftliche Untersuchungen verdrängt, die der Neuen Architektur in ihrem unter zunehmendem wirtschaftlichen und politischen Druck steigenden Rechtfertigungszwang zugrunde gelegt werden konnten.19 Wo Gropius, aus dem Geist des Expressionismus, noch das Künstlerische in der Architektur betont und dessen Nähe zum Handwerk hervorgehoben 16 „Der Gschnas fürs G’müt und der Gschnas als Problem“ in: Bergquist, S. 102 ff 17 Hüter (1981), S. 134 18 Walter Gropius: Manifest und Programm des Bauhauses, 1919; In: Hüter (1976), Dok. 8, S. 207 f 19 „Nach 1927 begannen Baustoffpreise und Zinssätze rapide zu steigen. Man stand vor der Entscheidung, entweder weniger Wohnungen zu bauen oder die Größe der Wohnungen zu reduzieren. Man entschied sich für das letztere. Dies wiederum zwang dazu, bessere raumökonomische Ausstattungen zu schaffen. (...) Es begann die Suche nach neuen Grundrißtypen und neuen Wohnformen.“ Hüter (1983) S.123 f 20 „Dennoch war es falsch und bedingte bis zur Gegenwart viele Mißverständnisse, daß er das Bauhaus anfangs so einseitig auf das Handwerk orientierte, ohne diesen Schritt als eine taktische Übergangslösung zu erklären oder den offensichtlich vorhandenen

anderen Inhalt des Handwerksbegriffes genauer zu bestimmen.“ (Hüter [1973], S. 132) „Die unter dem Handwerksideal stehende Anfangsphase des Bauhauses reichte bis gegen Ende des Jahres 1921. Von da an wurde das Handwerk von Gropius immer mehr als Mittel zum Zweck, als pädagogische Methode interpretiert und rückwirkend auch für die Anfangsjahre gerechtfertigt.“ (A.a.O., S. 134) 21 Zur Person vgl. Abschnitt Holz als Baustoff, Kapitel Holz, Anm. 23 22 Schadewaldt, S. 35 23 Rainer S. Elkar in: Kirmeier, S. 22 24 Hüter (1983), S. 125 f 25 Ein originalgetreuer Nachbau steht in der Dauerausstellung des Museums für Angewandte Kunst, Wien. 26 Volltext in: Schütte-Lihotzky, S. 89 27 Hüter (1983), S. 124

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hatte20, wird dieses kurz darauf abgelöst von einem Primat der Technik, das bis heute gilt. Wolfgang Schadewaldt21 setzt Kunst und Technik in direkte Beziehung zueinander: „Die Technik ist ohne Zweifel eine der größten Erscheinungen der Gegenwart, sie wird uns nicht nur zum Schicksal, sondern ist darum unser Schicksal, weil wir alle sie wollen und wollen müssen.“ Deren „hohe Bewertung“ könne jedoch „nicht daran hindern, zu sehen, daß die Technik eine defiziente Weise der Kunst ist, die hineingekommen ist in den Sog der Zwecke.“22 Gleichzeitig geschieht im Zuge dieser Umwertung eine Hierarchisierung der „gesellschaftlichen Wissenssysteme (...) das Wissenschaftliche rangiert vor dem praktischen Wissen und Können – der Ingenieur vor dem Meister.“23 Die Folge ist eine Abwertung des Handwerks gegenüber der Industrieproduktion. Die moderne Küche, die als ergonomisch gestalteter, durchrationalisierter Arbeitsplatz für die Hausfrau schnell zum reinen Arbeits- und Funktionsraum hin optimiert wird, verliert, mit ebensolcher Systematik betrieben, ihre Nebenfunktion als Aufenthalts- und Wohnraum. Nachdem erkannt worden ist, daß „eine Küche (...) die nur einigermaßen Platz zum Sitzen“ bot, „oft zum einzigen Wohnraum der Familie“ wurde, „während das eigentliche Wohnzimmer entsprechend dem bürgerlichen Klischee von der guten Stube aus dem alltäglichen Gebrauch ausgeklammert und ,für den Besuch‘ reserviert“24 bleibt, wird konsequent die Grundfläche der Küche auf das für die Arbeitsabläufe erforderliche minimale Maß reduziert. Unter diesen Optimierungsanstrengungen, die in jeder größeren Stadt mit eigenem Wohnbauprogramm unternommen werden, gelangt vor allem die Frankfurter Küche25 der Wiener Architektin Grete Schütte-Lihotzky zu Nachruhm. Ein Spottgedicht in einer zeitgenössischen Tageszeitung nimmt sie und ihr in die Küche integriertes Bügelbrett aufs Korn und betont insbesondere die Kahlheit der Räume und das Rationale der Wohnkonzepte: Was brauch ich mehr? Die Küche ist komplett, Ein Tischlein geht zur Not in’s „Herrenzimmer.“ Das Kämmerlein hat Raum für’s Himmelbett, – Ach Grete komm! Mach glücklich mich für immer! Denn wenn am Gasherd du das Szepter führst Und mit den zarten und so flinken Händen Voll Anmut die Kartoffelsuppe rührst, Fühlt man sich wohl auch zwischen kahlen Wänden. Bescheiden würde ich aufs Bügelbrett Mich kauern und dich liebevoll umschmeicheln Und hin und wieder, – wäre das nicht nett? – Dir deinen schlauen Bubischädel streicheln.26

Der Inhalt von Ausstellungen zum Neuen Wohnen27 mit Titeln wie Der zweckmäßige Haushalt, Die Frau, Die Wohnung für das Existenzminimum 28 ist, das programmgemäße Benutzen dieser Wohnmaschinen, die die

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Widerstand aus Tradition und Ritual

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Sozialwohnungen der 1920er Jahre sind, zu lernen, um nicht den „Wert mühsam geschaffenen Wohnraums durch falschen, unzweckmäßigen Gebrauch“29 zu mindern. Das Ziel jener staatlich geförderten Wohnbauprogramme ist es, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Wohnungen zu möglichst niedrigen Kosten zu erstellen, ein Ziel, das gemeinsam mit dem Funktionalismus als Methode, in der Planwirtschaft der sozialistischen Länder, etwa der DDR30, auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Bewältigung des notorischen Mangels unveränderte Gültigkeit behält. Daß zwischen dem Anspruch an widerstandsloses Funktionieren, den die funktionalistische neue Wohnung an ihre Bewohner stellt, und diesen selbst eine Lücke klafft, ist nicht nur beim Zeitgenossen Josef Frank nachzulesen. Auch im Rückblick stellen Kulturhistoriker in Ost und West einen „Konflikt mit langer Nachwirkung“31 fest. Mit dem Abwerfen der historisch gebundenen Formensprache nämlich „warf [der Funktionalismus] notwendigerweise auch humanistische Überlieferungen und Werte, Muster des Vertraut- oder Beheimatetseins, die den historischen Formen eingelagert waren“32, ab. Indem die Bewohner vertraute Gewohnheiten hartnäckig beibehalten und nicht bereit sind, sich beim Umzug in eine moderne Wohnung von liebgewordenen Einrichtungsgegenständen zu trennen, bleiben sie „merkwürdig schwer in ihren Anschauungen, Erwartungen und Erfahrungen zu führen; die Handhabung und das Verständnis der Dinge des täglichen Gebrauchs folgen einer komplizierten historischen und sozialen Gesetzmäßigkeit, die ein Moment der Trägheit bei aller Kurzweil der Moden und raschen Folge der Modernisierungsschübe produziert. So ist, wie und womit man im Durchschnitt privat umgeht und lebt, gemessen am Stand der Produktionsgeschichte, (...) furchtbar (oder sympathisch) unmodern. Die Ästhetik des Rituals altert nur langsam; bürgerlich-kleinbürgerliche Traditionen und Schönheitsideale bleiben für den (...) Alltag erscheinungsbestimmend.“33 In Schmidingers Gesichtskreis bleibt das funktionalistische Wohnideal des Neuen Bauens dem Bregenzerwald bis in die 1990er Jahre fern. Erst „90, 91, 92, sowas ungefähr muß es gewesen sein, gabs wieder diese Bregenzerwälder Handwerksausstellung.“34 Mit dieser stellt sich nun auch die Tischlerei Schmidinger der Notwendigkeit, mit den Bauherren der ersten Architektenhäuser ein neues Klientel gemäß dem modernen Formideal zu bedienen. Und, und da wars dann so, daß ich eigentlich völlig zer-, ja zerrissen, nein, ich war nicht zerrissen, sondern ich hab einfach gesagt, ich hab jetzt schon Kunden, die dieses klarere, schon modernere, wollen, und ich hab Kunden, die das andere wollen, was mach ich jetzt? Und ich hab einfach auf der Messe beides gezeigt, also, da gabs dann eine Koje mit der Bauernstube, und da gabs dann eine Koje mit der (modernen) Küche, das war so, das war auch letztlich mein Klientel, in der, in der Form.35

Moderne Küche/ rustikale Stube

Schmidinger präsentiert hier Moderne und Rustikalität in einer charakteristischen Abfolge: Die Stube ist rustikal, die Küche modern, nicht etwa umgekehrt! Die Bewertungshierarchie des Tischlers bestätigt die Architektur-

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moderne als Funktionalismus, als etwas für das Wohnen Ungeeignetes, für den Arbeitsraum Küche jedoch Passendes. Im selben Zeitraum erprobt Schmidinger die durch Handwerk + Form 1991 neu etablierte Zusammenarbeit mit einem jungen Wiener Architekten am Ausbau des ehemaligen Holzlagers im Dachgeschoß seiner Tischlerei zum eigenen Büro. Im Unterschied zur Handwerksmesse geht es hier um Eigenbedarf, was neben dem Stilwandel seiner Klientel erlaubt, auch einen parallel verlaufenden Wandel seines eigenen Selbstverständnisses als Handwerker zu beobachten: „Da hab ich dem den Auftrag gegeben und gesagt, mach was Schönes, mach mir da ein Konzept, irgendwie, ich brauch so a Büro.“36 Obwohl er „anderes (...) in dem Büro vor“ hatte, folgt er der Empfehlung seines Architekten, „nur so modulare (...) Möbel“ zu bauen „die man auch irgendwie wieder verändern kann, die man aneinander reihen kann“.37 Neben dem Abschied von der gestalterischen Selbstversorgung, den Schmidinger hier vollzieht, indem er sich die eigene Wunscherfüllung versagt, „[ich] hätte hier ein superschönes Einbaubüro gemacht, mit allem möglichen Pipapo“38, und sich statt dessen dem fremden modernen Formideal beugt, „wir machens einfach so, ich vertraue dem auch“39, markiert dieses Projekt den Abschied von der Tischlerei als Raumkunst, die er während der Blütezeit der Rustikalproduktion virtuos praktiziert hatte. Das historisierende Repertoire des Rustikalen ist ja kein starres Formprogramm, denn „durch die Profilveränderung kommt plötzlich ein anderes charakteristisches Ding heraus“40, sodaß der Kunstfertigkeit des Tischlers ein breites Spektrum von Raumatmosphären verfügbar gewesen war. Mit dem Übergang zur modernen Form und der Überantwortung des Entwurfs an den Architekten gibt der Tischler diese Kompetenz und traditionelle Zuständigkeit, die Atmosphäre der Räume zu gestalten, auf. Ausdrücklich negiert die neue, modulare Auffassung der Möbel jede Bezogenheit auf den konkreten Raum und seine Geschichte, die Schmidinger noch hinter der aktuellen Büronutzung das ehemalige Holzlager hindurchspüren läßt: „So wie der Schreibtisch jetzt ist, da waren die großen Bretterbeigen.“41 Die ursprüngliche Raumwidmung ist für ihn auch im radikal umgebauten und neu genutzten Raum noch präsent: Der Schacht, der heute den Lift aufnimmt, war ehemals für den Transport des trockenen Holzes in die Werkstatt errichtet worden, die Position der heutigen Möbel erinnert ihn 28 A.a.O., S. 125 f 29 A.a.O., S. 124 30 „... ein armes Land, mit einer mangelhaft ausgestatteten industriellen Infrastruktur (...) das seine Industrie unter erschwerten Bedingungen aufbauen und modernisieren mußte...“ Selle (1987), S. 244 31 Hüter (1981), S. 134 32 Ebd.

33 34 35 36 37 38 39 40

Selle (1987), S. 306 WS 2: Z 761 ff WS 2: Z 774 ff WS 2: Z 692 ff WS 3: Z 316 ff WS 3: Z 332 ff WS 3: Z 335 ff WS 2: Z 741 ff

Verlust ästhetischer Kompetenz

Verdrängung der handwerklichen Raumkunst

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Raum als austauschbarer Container

Verweigerung von Beheimatung

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an die ehemaligen Holzstapel. Indem der Entwurf jedoch modulare Elemente zeigt, thematisiert er statt dessen die Möglichkeit, sie ebensogut woanders aneinanderreihen oder stapeln zu können. Mit diesem Potential des Beweglichen etabliert er ein neues soziokulturelles Ideal für die (Selbst-)Verortung des Bewohners. Der Raum, den die Tischlerarbeit ehemals mit einer beheimatenden Atmosphäre ausgestattet hatte, wird durch die modulare Interpretation der Möbel als austauschbarer „Container“ interpretiert, als Zwischenstation, die der ehemaligen, immobilen Wert- und Kulturschöpfung des Hausbaus und Wohnsitzes eine Absage erteilt, überhaupt jede Bindung des Bewohners an den konkreten Raum und dessen Bezogenheit auf den konkreten Ort für obsolet erklärt. Zivilisationsgeschichtlich gesehen, vollzieht sich damit ein Rückschritt zurück zum Nomaden, wenn nicht zum Höhlenbewohner, der weder Häuser baut, noch Zelte besitzt, sondern temporären Unterschlupf sucht, wo die Natur ihn bietet, um sich dort für einen begrenzten Zeitraum aus Mitgebrachtem und Vorgefundenem „einzurichten“. Die leeren, bühnenartigen Räume, die kahlen Wände, die Einbaumöbel der Wohnmaschinen, all diese Unwirtlichkeiten deuten auf eine Verweigerung einer Beheimatung hin, auch wenn diese mit einem Freiheitsversprechen auftritt. Dieses legitimiert die Raumkonzepte Moderner Architektur quer durch die sozialen Schichten, für die sie errichtet werden. Daß diese Freiheit des Bewohners auf der Ebene seiner Mitgestaltung an der Wohnlichkeit jener Räume symbolisch bleibt, stellt Julius Posener an der Haltung Mies van der Rohes dar, der auf die Journalistenfrage nach einer seiner Bauherrinnen „Gefällt der Madame Farnsworth das Haus heute besser?“ geantwortet haben soll: „Ich habe keine Ahnung. Mir gefällt es nach wie vor ausgezeichnet.“42 Posener weiter: „Ich sehe nicht, wo man im Haus Tugendhat ein Bild aufhängen könnte. (...) Gleiches gilt für viele der vollendeten Räume der neuen Architektur.“43 Auch andere exponierte Vertreter der Architekturmoderne sehen ihre Häuser zuvörderst als Kulturschöpfung und sich selbst in der Rolle des Künstlerarchitekten, der vor allem gegenüber seinesgleichen dafür verantwortlich zeichnet, dem niedergerissenen historischen Kanon eine adäquate neue Baukunst entgegenzustellen. Der Bauherr ist Anlaß für ein solches Kunstwerk und hat ansonsten den Gesetzmäßigkeiten der Architektur in ebenso striktem Maß Folge zu leisten, wie der Bewohner der funktionalisti-

41 WS 1: Z 51 ff 42 Posener (1979), S. 26 ff 43 Ebd. 44 Loos richtete seinen gleichnamigen Aufruf 1921 allerdings an die Siedlungsbewegung. In: Loos, S. 383

45 Wie Anm. 36 46 Habermas (1981) 47 Marlene Streeruwitz in: Ach, wie so seelenvoll; Die Presse, 10.11. 2007, Spectrum S. 3

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schen Minimalwohnung erst „Wohnen lernen“44 soll, um in den Proletariersiedlungen der Vorstädte seinen genormten Platz einzunehmen. Bauherren, die es sich leisten können, reagieren auf die Zumutungen dieser gebauten Manifeste wie Madame Savoye, die Posener zufolge „die berühmte Villa, die LeCorbusier ihr in Poissy gebaut hat, überhaupt nie bewohnt hat. Meines Wissens hat sie dort nur einige Gesellschaften gegeben, im übrigen stand das Haus Touristen offen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Madame Savoye besaß einen echten Corbusier, das genügte ihr.“45 Es ist nicht Zweck dieser Studie, das Vergnügen derer zu bewerten, die sich Architekturikonen wie Sammlerstücke errichten lassen. Die Formensprache des Neuen Bauens interessiert hier lediglich insoweit, wie sie tatsächlich und folgenreich in den untersuchten Kulturraum eingreift und zur Grundlage von Bewertungsmaßstäben genommen wird, welche die regionalen Kulturformen des Herstellens, der Kundenbeziehung und des Wohnens, wie die Handwerksform der Tischler sie schuf, hinsichtlich ihrer Zukunftsfähigkeit beurteilen. Die Fragestellung, wer denn nun von der Verweigerung einer Beheimatung profitiert oder, andersherum, für wen die Heimat der anderen ein „Schreckgespenst“ ist, das den eigenen Interessen im Wege steht, weist über die Architekturform der Moderne hinaus und offenbart in den „Imperativen verselbständigter wirtschaftlicher und administrativer Handlungssysteme (...) eine der stärksten Vorgestaltungen, eine Art technologie- und ökonomieabhängiges Super-Design der strukturellen Elemente des Lebens.“46 Auf dieser Ebene, dem uns in Gestalt der Globalisierung entgegentretenden Kapitalismus, „der heute über die Verteilung von Zugang zum Arbeitsmarkt in die Leben eingreift“47, erhält die Verweigerung einer Beheimatung ihren Zweck als Verfügbarmachung des Einzelnen. Der ideologiefreien Versorgung hingegen, die ein lokales Handwerk bietet, das sich der Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen annimmt, ist vom Standpunkt dieses Kontexts die Fähigkeit zuzusprechen, den desozialisierenden Effekten der Globalisierung vielfältige Angebote zu einer sozialen Verwurzelung am jeweiligen Ort entgegenzustellen.

Wer profitiert von der Verweigerung einer Beheimatung?

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Zusammenfassung und Ausblick Unsere Forschungsfrage „Was ist Architektur?“ und der Blickwinkel, unter dem sie gestellt wurde, das Praxiswissen einer regionalen Gesellschaft der Rekonstruktion einer sozialen Wirklichkeit institutionalisierter Zeitgenössischer Architektur und der Rollen ihrer Akteure zugrundezulegen, hat vor allem auf drei Feldern signifikante Befunde ergeben. Allen Feldern wohnt gleichermaßen die Frage nach Form und Grad der Beteiligung des Einzelnen an der Ausgestaltung des eigenen Lebensumfeldes inne: Erstens in der Beziehung des Staates, seiner Verwaltung und Gesetzgebung, zu den Staatsbürgern. In ihrer funktionellen Einbindung in diese Beziehung ist Architektur zu einer Technik geformt worden, räumliche und soziale Ordnungen zu schaffen sowie diese jeweils zeitgemäß zu modernisieren. Zweitens der sozialen Positionierung Einzelner innerhalb der Gesellschaft; auf dieser Ebene treten diejenigen Elemente von Architektur, die sie als Sparte der Kunst ausweisen, als Medium sozialer Markierung und Abgrenzung in Erscheinung. Drittens hat die Gegenüberstellung von Architektur mit handwerklicher Baukultur erlaubt, soziale Effekte derjenigen Disposition von Architektur auszumachen, die sie als primär visuell vermittelte und als solche Kulturform besitzt, die die Erzeugung des Werkes allein dem Architekten als autonom handelndem Schöpfer anheimstellt. Aus dem Panorama von Fallbeispielen, die die vorliegende Studie ausgebreitet hat, sind im Folgenden drei herausgegriffen, die jeweils eine der Befundebenen illustriert. Der Rahmen, der diese untereinander verklammert und im Forschungsraum verankert, ist der Modernisierungsprozeß des ländlichen Raumes, ein Vorgang, der im Interesse einer politischen Neustrukturierung Europas zu einem Europa der Regionen gegenwärtig gefördert und beschleunigt wird. Indem festgestellt wird, daß Architektur gesellschaftliche Gestalt oder, anders formuliert, gesellschaftliche Ordnungen errichtet, drängt sich eine Nahbeziehung zwischen Architektur und Staat in das Blickfeld. In der nach wie

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vor auf den individuellen Künstlerarchitekten fokussierten öffentlichen Architekturwahrnehmung bleibt weitgehend unbeobachtet, daß der Staat Architektur gezielt nutzt, um politische Zielvorgaben gesellschaftlich umzusetzen. Ein solches Ziel definiert etwa die Wirtschaftspolitik, die die ländlichen Orte, die Dörfer, als Standorte wahrnimmt und als solche „entwickelt“. Die Begriffe Dorfmarketing, im größeren Umgriff Regionalentwicklung bezeichnen dieses Feld, in dem Zeitgenössische Architektur die Rolle eines Signalgebers in eine globale ökonomische Wettbewerbsumgebung hinein erhält. Staatliches Handeln durch Architektur zu vermitteln oder umzusetzen, Architektur also als Technik des Regierens und Verwaltens einzusetzen, ist keine neue Rollenzuschreibung an Architektur. Vielmehr muß die Institutionalisierung, die Architektur im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts erfährt, gleichzeitig als ihre Formung zu einem solchen Instrument gesehen werden. Volkskundler richteten bereits in der Vergangenheit ihr Augenmerk verstärkt auf solche, bereits früh feststellbaren staatlichen Interventionen in ländliches Bauen und haben dafür den Begriff Zentraldirigismus geprägt. Nach der Kirche, oder in Konkurrenz zu dieser, ist es der Staat, der historisch gesehen Architektur zur Errichtung seiner Ordnungen im ländlichen Raum einsetzt und – etwa im Vorderen Bregenzerwald des achtzehnten Jahrhunderts – Landmesser in die Dörfer entsendet, um die sogenannte Vereinödung durchzuführen. In diesem Vorgang werden einerseits verstreut liegende, agrarisch genutzte Grundparzellen durch Neufestlegung von Eigentumsgrenzen zusammengelegt, um ertragssteigernde Großflächigkeit zu erzeugen, andererseits die eng bebauten Weiler, bauliche Familienstrukturen, aufgelöst, um einer unterstellten Brandgefahr vorzubeugen, und statt dessen einzeln stehende Einfirsthöfe nach Allgäuer Vorbild errichtet, wodurch ein neuer, zeitgemäßer und in Folge landschaftsprägender bäuerlicher Haustyp etabliert wird. Im Österreich des neunzehnten Jahrhunderts wird jener Berufsstand der Landmesser, der mit der Vereinödung betraut worden war, ebenso wie der Berufsstand der Architekten mit staatlichen Privilegien ausgestattet und zu Ziviltechnikern erhoben. Der Staat setzt seine Ziviltechniker, die umfassende Urkundsbefugnisse innehaben und anfangs den staatlichen Genehmigungsbehörden gleichgestellt sind, in großflächigen Modernisierungsmaßnahmen, für die die Vereinödung ein frühes Beispiel darstellt, als Verwaltungshelfer ein. Österreichs Architekten sind bis heute Ziviltechniker. Sie beeiden die Befolgung der Gesetze und dürfen im Gegenzug den Bundesadler in ihrem Siegel führen. Dem Zentraldirigismus des achtzehnten Jahrhunderts, der das Privateigentum an Boden und auch den ländlichen Bautenbestand nach modernen Kriterien neu geordnet hat, stellt die vorliegende Studie die Nachkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts und ihre Entwicklungen gegenüber. Wieder ist Architektur das Medium, welches der Durchführung einer staatlichen Reform im ländlichen Raum dient: Zur flächendeckenden Verbesserung der Schulbil-

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dung werden in den Dörfern Hauptschulen und Gymnasien errichtet: Die ersten architektonischen Entwürfe im Geist der Moderne tauchen in Gestalt staatlicher Schulbauten im ländlichen Ortsbild auf. Gleichzeitig übt der steigende gesellschaftliche Wohlstand Druck auf die ländliche Baupraxis aus: Die spätestens in den 1970er Jahren allgemein leistbare Urlaubsreise führt zu explosionsartigem Anwachsen baulicher Infrastruktur des Tourismusgewerbes. Auch das eigene Einfamilienhaus auf einer kostengünstigen Parzelle der neuen Dorfränder wird für die gesellschaftliche Mittelklasse erschwinglich und damit zur massenhaft realisierten Alternative zur städtischen Wohnung. Parallel dazu findet ein kontinuierlicher wirtschaftlicher Bedeutungsverlust und sozialer Ansehensverlust der Landwirtschaft statt, ein Prozeß, der ihren technologischen und sozialen Umbau zur heutigen Agrarindustrie begleitet. Die Funktionszuschreibung des ländlichen Raumes, seine Widmung, wandelt sich in diesem Prozeß von einem primär agrarischen Produktions- und Lebensraum zu einer Wohnlandschaft. Die Dörfer, nicht nur des Bregenzerwaldes, werden zu Pendlervororten der umliegenden Agglomerationen und Städte. In dieser Situation beginnt der Staat erneut, diesmal nicht das Kaiserreich Maria Theresias und auch nicht die Bürokratie des Nationalsozialismus, sondern der demokratisch verfaßte Staat, in privates Eigentums- und Baurecht einzugreifen und aktive Raumordnung zu betreiben. 1973 wird das Vorarlberger Raumplanungsgesetz erlassen und gleichzeitig der § 17 „Schutz des Orts- und Landschaftsbildes“ in das Vorarlberger Baugesetz eingefügt. Staatsbeamte, die Sachbearbeiter der Landesraumplanungsstelle, gehen in die Dörfer und ordnen die Flächen neu, indem sie gemeinsam mit den Bürgermeistern und dörflichen Bauausschüssen Flächennutzungspläne aufstellen, die erlauben, sowohl die Siedlungs- als auch die Wirtschaftsentwicklung des ländlichen Raumes zentral zu steuern. Zusätzlich beraten sie die Bürgermeister, in Vorarlberg lokale Genehmigungsbehörde erster Instanz, einerseits in strittigen Baugenehmigungsfragen, andererseits darin, einen gemeindlichen Gestaltungsbeirat zu installieren. Gestaltungsbeiräte sind Gremien freier Architekten und Architekten wiederum staatlich beeidete Ziviltechniker, die die Bürgermeister nunmehr – und zwar anstelle der Vertreter lokaler Anspruchsgruppen – in Baugenehmigungsfragen beraten. Während sich die zentraldirigistischen Interventionen des achtzehnten Jahrhunderts noch auf utilitaristische Kriterien stützten, auf ökonomische Effektivität der agrarischen Produktion, auf Hygiene und auf Brandschutz, treten mit der Etablierung der Gestaltungsbeiräte, die heute bereits ein Drittel der Gemeindeverwaltungen Vorarlbergs in Baugenehmigungsfragen beraten, nunmehr ästhetische Kriterien als staatlich gesetztes Baurecht in Erscheinung.

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Architektur wird damit – jedenfalls in Vorarlberg – zu einer legislativen Institution, wird normensetzend nicht nur für die Auftraggeber der Architekten und die sonstigen Bewohner der von Architekten entworfenen Häuser, sondern für die gesamte Gesellschaft. Eine Brücke zwischen den Kriterien des historischen Zentraldirigismus und den gesetzlichen Neuerungen der 1970er Jahre, vor allem aber der Praxis ihrer Umsetzung, in denen der Staat seine Regelungstätigkeit auf ästhetische Bereiche ausdehnt und sich von nun an neben der materiellen und technischen Gestalt von Bauwerk und Siedlung auch für ihre Form interessiert, schlägt die Berücksichtigung des Wandels, den die Bewertung der Ästhetik von Bauwerken und des Bildes der Landschaft mittlerweile erfahren haben. Durch den Tourismus, aber auch durch die marktwirtschaftlich bestimmte Standortkonkurrenz um hochwertige Industrieansiedlungen zwischen Gemeinden, Regionen und Ländern haben die ästhetisierten Oberflächen und skulpturalen Baukörper, wie Zeitgenössische Architektur sie hervorbringt, mittlerweile ihre ökonomische Bedeutung erwiesen, wodurch sie in die Sphäre volkswirtschaftlich relevanter „Güter“ fallen. Als solche sind sie zugunsten des Gemeinwohls gesetzlich zu fördern, zu schützen und damit der Verfügungsgewalt der Bevölkerung vor Ort möglichst zu entziehen. Ästhetik – und Architektur ist im Selbstbild ihrer Protagonisten zuallererst Ästhetisierung – kann im sozialwissenschaftlichen Rahmen nicht ohne die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Selbstpositionierung betrachtet werden, die jede ästhetische Äußerung ist. Ein Satz Pierre Bourdieus aus der Einleitung zur seinem kultursoziologischen Hauptwerk von 1979, La Distinction (Die feinen Unterschiede), leitet zu unserem zweiten Befund über: „Die sozialen Subjekte, Klassifizierende, die sich durch ihre Klassifizierungen selbst klassifizieren, unterscheiden sich voneinander durch die Unterschiede, die sie zwischen schön und häßlich, fein und vulgär machen und in denen sich ihre Position in den objektiven Klassifizierungen ausdrückt oder verrät.“ Bourdieu umschreibt den Begriff „ästhetische Klassifizierungen“ an anderer Stelle mit „Geschmacksurteile“ und formuliert hier den Befund, daß diese immer auch gesellschaftliche Selbstpositionierungen der Urteilenden sind, allgemeiner: daß Kultur eine Technik zur sozialen Unterscheidung sei. Unter dieser Voraussetzung läßt sich der Auftritt professionalisierter Architektur im privaten Auftrag, der im Bregenzerwald um 1985 einsetzt, als Indikator dafür lesen, daß der Modernisierungsprozeß des ländlichen Raumes neben seiner ökonomischen und seiner technischen, auch verwaltungstechnischen, Dimension vor allem ein sozialer Prozeß ist, ein Vorgang, in dem sich regionale Gesellschaften völlig neu konstituieren. Dem Begriff Landschaft wird in diesem Prozeß eine neue Bedeutung zugewiesen, nämlich eine visuell definierte. Weiter erfährt das Dorf einen

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radikalen Funktionswandel, indem es vom agrarisch konstituierten Lebensort zum reinen Wohnort, und zwar von Nichtlandwirten, wird, ein Prozeß schließlich, in dem das Gemeinschaftliche im Gesellschaftlichen einen neuen Stellenwert erhält. Architektur, so verstanden, im ländlichen Raum zu beobachten, heißt damit auch: sie in ihrer Durchsetzung gegen die andere, die bisher dominante, die agrarisch-handwerkliche Baukultur, zu beobachten. Auf Bourdieu zurückgegriffen, der mit seinem Kulturbegriff auf die soziale Abgrenzung aufmerksam macht, die durch das Geschmacksurteil geschieht, stellt sich das Vorarlberger Lehrerehepaar, das 1985 als erste im Dorf einen Architekten zur Planung ihres Wohnhauses beauftragt, als beginnende Selbstpositionierung einer Akademikerschicht im Dorf dar. Die lokale Baubehörde verweigert die Baugenehmigung und stellt einen Abbruchbescheid für das im Bau befindliche Holzhaus aus, als der Bauherr die Deckleisten der Fassade entwurfsgemäß rot streicht, die Zentralvereinigung der Architekten Österreichs vergibt im Gegenzug einen Staatspreis an das umstrittene Objekt. Die Bauherren und deren Eltern werden bei der Sonntagsmesse nicht mehr gegrüßt, statt dessen treffen laufend Reisebusse voller Architekturtouristen ein, die das Haus von allen Seiten fotografieren und so seinen Wert gegenüber der dörflichen Gesellschaft dokumentieren. In der Folge verlieren der lokale Bauausschuß und seine Mitglieder, Handwerker und Landwirte, zunehmend an Einfluß, sodaß die Besetzung dieses Gremiums mit immer größeren Schwierigkeiten verbunden ist. Schließlich wird der Bauausschuß abgeschafft und durch einen Gestaltungsbeirat ersetzt. Der Befund, daß Architektur in Vorarlberg zur normativen und sogar legislativen Institution geworden ist, kann damit präzisiert werden: Das Geschmacksurteil der Auftraggeber Zeitgenössicher Architektur gewinnt seit den 1980er Jahren eine gesellschaftliche Durchsetzungskraft, die bis in die Gesetzgebung reicht und spätestens dort für die gesamte Gesellschaft zur verbindlichen Norm wird. Diese Feststellung leitet zum dritten Befund über. Derjenige Aspekt, den Architektur durch die Struktur ihrer institutionellen Verfaßtheit, vor allem ihrer Ausbildung, als Eigengesetzlichkeit in den gesellschaftlichen Konstituierungsprozeß einspeist, ist der Rang, den sie Ästhetik verleiht. Form – auf der Materialebene – und visuelle Wahrnehmung, etwa von Landschaft, auf der Ebene der Beziehung zwischen Akteur und Umwelt, sind Merkmale derjenigen umfassenden Ästhetisierung, die Architektur erzeugt. Die Dokumentation der sozialen Konfrontationen, die Architektur systematisch und zwangsläufig mittels Ästhetisierung erzeugt, zieht die Frage nach sich, welcher soziale Sinn einem solchen programmierten Konflikt innewohnt, den Architektur im ländlichen Raum schafft, und welches Licht ein solcher unterstellter sozialer Sinn auf die Kulturtechnik Zeitgenössische Architektur wirft.

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Im Medium dieses sozialen Sinns, dessen Wirkung beim Wohnen ansetzt und damit auf den Körper des Einzelnen einwirkt, die Familie und ihre Gemeinschaftlichkeit ordnet, die Repräsentation und Begegnung der Familie gegenüber der Nachbarschaft und der dörflichen Gesellschaft neu regelt und sich manifestiert in inkorporiertem Wissen über die Formen und Grade von Gemeinschaftlichkeit, stehen sich die Baukulturen aus sozialwissenschaftlicher Sicht gegenüber. Die eine, die agrarisch-handwerklich-ländliche, die das Haus als Wohn- und Arbeitshaus zum Ausgangspunkt nimmt, kennt Räume mit mehreren Türen und einen Familienbegriff, der mehrere Generationen umfaßt. Die städtisch-industrielle Baukultur der Architektur dagegen stellt das viel kleinere, das reine Wohnhaus für die einzelne Kleinfamilie mit seinen Räumen mit nur einer Tür, dem Typ der ehemaligen Klosterzelle, als neues Ideal dar. Diese Gegenüberstellung ist plakativ formuliert, um den sozialen Effekt derjenigen Ästhetisierung zu zeigen, die Architektur als ihre zentrale Kompetenz professionalisiert hat. Ästhetisierung schafft ein soziales Setting, in der sich soziale Akteure nicht mehr einander, sondern einzeln einer höheren Ebene gegenüber präsentieren. Ästhetisierung bewirkt damit gegenseitige Abwendung und gesellschaftliche Vereinzelung. Aus der ehemaligen Nachbarschaft wird im besten Fall das Ensemble, im Normalfall eine Addition an der Aussicht orientierter, skulpturaler Gehäuse, deren Panoramafenster die Landschaft für ihre Bewohner als Bild rahmen. Max Weber spricht von einer inneren Vereinsamung des Individuums als Voraussetzung der kapitalistischen Wirtschaftsform. Guy Debord hat spezifische Formen moderner Wahrnehmungs- und Repräsentationskultur, denen Architektur jedenfalls zuzurechnen ist, als Mittel einer sozialen „Neustrukturierung ohne Gemeinschaftlichkeit“ bezeichnet. Verstärkt treten solche sozialen Effekte architektonischer Ästhetisierung vor unser Auge, sobald Architektur als Kulturform einer Institution und des sie repräsentierenden gesellschaftlichen Milieus betrachtet und ihr damit die Baukulturen anderer Milieus entgegengehalten werden können, wie es die vorliegende Studie an der Gegenüberstellung von Architektur und Handwerk unternommen hat. Erst in der Befassung mit der sozialen Tradition und gegenwärtigen Praxis des Handwerks – und eben nicht im Blick auf die Ästhetik handwerklicher Erzeugnisse – wird deutlich, daß dem Visuellen, der Aufmerksamkeit für visuell wahrnehmbare Merkmale, ihre Wahrnehmung und erkennende Inbeziehungsetzung, eine sozial konstruierte Kulturtechnik zugrundeliegt, die, wie vor allem Jonathan Crary deutlich macht, in enger Verbindung mit dem maschinenbestimmten Umfeld entstanden ist, das die Moderne kennzeichnet. Die Kultur des Handwerks, in der ländlich-agrarischen Lebensform der Dörfer wurzelnd, stellt andere Merkmale in den Vordergrund, setzt andere

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Werte, konstruiert Sinn anders, setzt seine Akteure an andere Positionen und in andere Beziehungskonstellationen zueinander. Daß diese unterschiedlichen Praxistraditionen nicht in einen sozialen Gegensatz münden müssen, konnte am „Modell Vorarlberg“ exemplarisch gezeigt werden. Insbesondere den Partizipationsmodellen beider Baukulturen, die wir in der Selbstbaubewegung und im Wiederaufgreifen traditioneller „Fronarbeit“ in zeitgenössischen sozialen Organisationsformen dörflicher Selbsthilfe identifiziert haben, kommt hierbei Vorbildcharakter zu. Ihnen gemeinsam ist, daß die Hierarchie zwischen Planern und Planungsbetroffenen, die das moderne Rollenbild des Künstlerarchitekten ebenso wie jenes beruflicher Spezialisierung der modernen Wirtschaftswelt einfordert, aufgegeben oder jedenfalls demokratisiert wird. Betroffene werden hierdurch zu Beteiligten, Leistungsempfänger zu Selbstversorgern, Ästhetische Erziehung mündet in eine Ausübung von Ästhetik mit dem Effekt großer Identifikationsbreite und -tiefe. Daß eine solche gesellschaftliche Interpretation von Architektur, wie sie die vorliegende Studie versucht, gegenwärtig in der Luft liegt, ist im Verlauf ihrer Bearbeitungszeit immer deutlicher hervorgetreten und hat schließlich im Titel der Architekturbiennale von Venedig 2010 ein visionäres Motto erhalten: „People meet in architecture.“ So konstituiert sich seit einigen Jahren zum erstenmal seit den 1970er Jahren wieder ein wissenschaftliches Umfeld um die Frage nach der gesellschaftlichen Verfaßtheit von Architektur. Dieses bietet die Chance, den ästhetischen und technologischen Ansprüchen in der Theorie des Fachs ebenso wie im Selbstbild ihrer Protagonisten auch sozialwissenschaftliche und psychologische zur Seite zu stellen. In Stadtverwaltungen formieren sich vermehrt Initiativen, der grassierenden Immobilienspekulation und Gentrifizierung von Innenstädten solche Formen gesellschaftlichen Ausgleichs entgegenzusetzen, die sich als Bauherrngemeinschaften konstituieren. Die „Grundstücksbeiräte“ der Wiener Bauverwaltung etwa sind dieser Auffassung zuzurechnen. Dörfer konstituieren sich unter Berufung auf Selbsthilfemodelle handwerklich-agrarischer Gesellschaften neu und suchen nach Wegen, der drohenden Entwertung ländlicher Räume, die mit der Demontage oder Ausdünnung von Infrastruktur einhergeht, neue Wert- und Sinnkonstruktionen, Wirtschaftsformen und Lebensmodelle entgegenzusetzen. Auf der Ebene der Schulpädagogik können Lehrplanerweiterungen, etwa in Bayern, genannt werden, die „Architektur“ zum Thema aller gymnasialen Jahrgangsstufen machen. Der Übersetzung in die Unterrichtspraxis bleibt es anheimgestellt, dieses Potential nicht zur weiteren Verfestigung der sozial spaltenden Wirkungsweise eines auf Hochkultur verengten Begriffs von Architektur, sondern zu einer Erschließung solcher Kompetenzen zu nutzen, die

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Zusammenfassung und Ausblick

verantwortungsvolle Bauherren als Mitgestalter ihrer eigenen Lebensumwelt benötigen. Gestaltungsschulen für das Handwerk konstituieren sich neu. Sie besitzen das Potential, mehr zu vermitteln als Kenntnisse darüber, „wie Architekten ticken“, vor allem im Hinblick darauf, die Tradition des Handwerks zu reaktivieren, als eigenständige Baukultur gesellschaftlich in Erscheinung zu treten. All diesen Ansätzen wohnt die Chance inne, Architektur, vor allem im Wohnbau, zu einem gesellschaftlichen open-source-Projekt weiterzuentwickeln. Vorarlberg hat in einem experimentierfreudigen, dem Sozialen, dem Demokratischen und der Praxis zugewandten Jahrzehnt geglückte Ergebnisse solcher Ansätze hervorgebracht, die bis heute nachwirken und das Ansehen des Landes, ebenso wie jenes seiner gesellschaftlichen Institutionen, gemehrt haben. Mehr als jedes kulturale Attribut, das sie Bauten verleiht, erscheint daher eine Praxis, die Gemeinschaftlichkeit vermehrt und breite Zugänge zu ästhetischem Handeln erschließt, als die eigentlich zukunftsweisende Ressource von Architektur.

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449 Verzeichnis Interviews

Bertram Dragaschnig (BD), Generalunternehmer, Führung durch die Gemeindebauten in Langenegg, 22.04.2005 Arno Eugster (AE) und Leopoldine Eugster (LE), Bauherren, in ihrem Haus in Langenegg, 04.08.2004 Peter Greußing (PG), Geschäftsführer des Bauträgerkonzerns Rhomberg, in seinem Büro in Bregenz, 20.10.2004 Gerhard Gruber (GG), Architekt, in seinem Büro in Bregenz, 06.08.2004 Helmut Kuess (HK), Vorarlberger Baukünstler, in seinem Büro in Bregenz, 20.05.2005 Norbert Mittersteiner (NM) und Reinelde Mittersteiner (RM), Vorarlberger Baukünstler und Bauherrenehepaar, in ihrem Büro, Siedlung „Im Fang“ in Höchst, 08.10.2004 Peter Nußbaumer (PN), Bürgermeister, und Mario Nußbaumer (MN), Gemeindesekretär, Gemeindeamt Langenegg, 28.07.2004 Mario Nußbaumer (MN), Führung durch die Gemeindebauten in Langenegg, 28.07.2004 Hans Purin (HP), Vorarlberger Baukünstler, in seinem Büro in Bregenz, 22.02.2005 Wolfgang Schmidinger (WS 1), Tischlermeister, im Büro seiner Tischlerei in Schwarzenberg; erster Teil „Hausbau“, 10.11.2004 Wolfgang Schmidinger (WS 2), zweiter Teil „Handwerk“, 10.11.2004 Wolfgang Schmidinger (WS 3), dritter Teil „Serienmöbel und Werkraum“, 29.11.2004 Jürgen Sutterlüty (JS), Geschäftsführer der Sutterlüty-Supermarktkette, in seinem Büro in Egg, 08.09.2004 Ernst Wirthensohn (EW 1), Historiker und Bauherr, im Gasthaus „Krone“, Thal, 12.08.2004 Ernst Wirthensohn (EW 2), Führung durch Thal, 18.08.2004 Gunter Wratzfeld (GW), Architekt, in seinem Büro in Lochau, 16.11.2004 Alle Interviews wurden auf Tonband aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Die Transkriptionen wurden den Interviewpartnern zur Durchsicht übersandt und gewünschte Korrekturen in die Transkriptionen eingearbeitet. Bei diesen Korrekturen handelt es sich in jedem Fall nur um Streichung von Einzelsätzen. Die Zitatnachweise im Text der vorliegenden Studie (z.B. WS 2: Z 563 ff) beziehen sich auf die Zeilennumerierungen der korrigierten Transkriptionen. Die Tonaufnahmen wurden nach folgenden Regeln transkribiert: Und die Weißtanne Das ganze Holz ... und dann wird-zusammengefaßt (verläßt den Tisch) (Pause) (lacht) und die (war) aber

und die [war] aber

Vom Autor gesprochene Interviewanteile sind kursiv gesetzt Beiträge des Interviewpartners sind geradstehend und eingerückt gesetzt Platzhalter für unverständliches Wort oder Satzteil Bindestrich am Wortende markiert die Stelle einer Gesprächsunterbrechung Bindestrich am Wortanfang: Wiederaufgreifen eines unterbrochenen Sinnzusammenhangs Angaben zum Gesprächsrahmen Unterbrechung des Gesprächsflusses Beschreibung hörbarer Verhaltensäußerungen oder sonstiger Geräusche In runde Klammern gesetzte Begriffe sind in der Aufnahme unverständliche, jedoch aus dem Sinnzusammenhang rekonstruierbare Worte oder Satzteile, die für das Verständnis wichtig sind In eckige Klammern gesetzte Begriffe sind Hinzufügungen des Autors, die Gesprächsfragmente in den neuen Textzusammenhang einfügen oder notwendige Erläuterungen geben

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451 Sachregister Seitenangaben, z.B. 115, verweisen auf den Haupttext, Fundstellen in Anmerkungen, z.B. 65/48 sind durch Seitenzahl/Anmerkungsnummer bezeichnet.

Akademie 363 Kanonisierung 239/33 klassifizierende Macht der Akademie 206/16 Akademisches Milieu 308, 413, 443 Akademisierung der Architektenausbildung 116, 117/80 der Architektur 114 der ländlichen Bevölkerung 204, 213, 228 Alpine Architektur 131, 242/45 Alpiner Stil 209, 228/82, 398 Anonymes Bauen 172, 206, 206/16, 210 Arbeit Arbeitsform 293, 381, 408 Arbeitskultur 387/35 Arbeitsmarkt 437 Arbeitsteilung 414 Berufswahl 382 Erwerbsarbeit 416 Fronarbeit 112, 287, 304, 445 gemeinschaftliche Arbeit 309, 310 Handarbeit 381/1, 387, 420 Heimarbeit 292, 294 Lohnarbeit 269 selbstbestimmte Arbeit 416 Spezialisierung 420 Start-ups, Ich-AGs 385/16 Werkstatt als Lebensort 382 Wiederveinigung von Wohnen und Arbeiten 308 Arbeiterhäuser 86 Archaismen 158 Architekt Abhängigkeit vom Bauträger 264 als Ästhetikspezialist 206, 251 als Autodidakt 50/46 als Dienstleister 35, 347 als Formspezialist als Gestaltungsbeirat (s. Gestaltungsbeirat) als Gutachter 368 als Juror 407, 427/55 als Moderator von Selbstbaugruppen 183, 183/88 346/168 als Pate des Hauses 67 als social engineer 87/95, 88, 248 als Ziviltechniker (s. Ziviltechniker) argumentieren 262, 347 Aufgabenspektrum 185/2 Auftragsbeziehung 317 autonomer Schöpfer 439

Architekt (Forts.) Beziehung des Architekten zu seinem Werk 67 Beziehung zwischen Architekt und Bauherr 67 Bildwissen des Architekten 171 Entwurfshoheit des Architekten 415 Gewerblicher Architekt 63/40 im Dorf 57, 322 Kompetenz aus Bauherrensicht 65 Künstlerarchitekt 436, 445 ... oder Zimmermann als soziale Frage 165 Sozialisation 318 Spezialisierung 65, 65/48, 115 und Bauträger 261 Urheberrecht des Architekten 51, 52/6 Vertrauensstellung des Architekten 67 zwischen Bauherren- und Behördenauftrag 368 Architekten 7 als Berufsstand 53, 53/7 als Leistungsdarsteller 120 als Protagonisten einer Reformbewegung 12, 55, 87, 89 als Wissensgemeinschaft 321 Akademisierung der Ausbildung 116 Anstandsregeln für den Umgang untereinander 54, 54/8 baumeisterliches Wissensprofil 113, 183 Befugnis, Unvereinbarkeit mit Gewerbeberechtigung 58/24, 63/40 Berufsunwürdiges Verhalten 54 Fachdiskurs 54, 106, 321 handwerkliches Selbstverständnis 113, 172/44 Kontrollanspruch 165/6 nichtakademische Planer 360, 361/60, 361/61 priesterlicher Habitus 61, 61/33, 323 Publikationstätigkeit 54, 54/9 Rollenkonflikt 348 Selbstverständnis 116 Selbst- und Fremdwahrnehmung 54 Soziales Interesse der Architektenschaft 87 Standesbewußtsein 263 und Bauwirtschaft 407 und Handwerker als konkurrierende Experten 164 Architektengenerationen 116, 117/77, 117/81, 118, 118/84, 124/9, 172/44 Architektenhonorar 59 (s.a. Honorarordnung) Unentgeltliche Entwurfsleistung 264, 264/59 Architektenkammer 53/7, 114, 114/61, 116, 262/52 Befugnisstreit 25, 118/86

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Architektenschaft 53, 361 als dörflicher stake holder 323 als Qualitätsgemeinschaft 322 Architektenwahl 55, 205 als Marketingstrategie 154/43 Architektonische Ästhetisierung 69, 356 (s.a. Ästhetik, Ästhetisierung) als regionale Marketingstrategie 152 von Tourismusbauten 76/36 Architektur 44/14 (William Morris) als Dienstleistung 36/57 als Experiment 243, 246/60, 247, 262, 266, 313, 446 als Hintergrund 105/23 als Hochkultur 10, 445 als Institution 9 als kulturaler Code des Zusammenlebens 320 als legislatives Medium 355, 355/29, 365/77, 442 als Leitkultur 64/44, 322 als Lifestyleattribut 76/36 als Moderation sozialer Kräfte 64/43, 125, 331, 334, 348 als Nichtarchitektur 346 als Planungsdisziplin 12 als Produkt von Zuschreibung 101 als Repräsentation des öffentlichen Raumes 32 als Steinbau 146/7 als Stil 314, 390 als System 52, 52/5, 48/38 als Visualisierung von Standortqualitäten 183 und Baukosten 262/53, 266 und Gender 250/75, 251, 252/86 und Handwerk 166, 169, 170, 387/29, 388, 404, 444 und Heimat 271/13 und Landwirtschaft 273/30, 293 und Regionalität 26, 155 und Religion 62, 319, 320 und Staat (Exkurs) 362/63 und Staat 12, 45, 349/4, 352/17, 363/63, 363/65, 439, 440 und Textilien 250, 252/83 Architektur Branding 328/66, 329/73 Corporate Architecture 34, 35, 372, 372/104 Landschaftsbezug 187 Lebensqualität 333 Naturbezug 239 Nichtarchitektur 11, 234, 346, 349/4 Öffentlichkeitswirkung 405 paradoxe Ausgangssituation moderner ... 30/34 Privatheit 194, 200, 238, 247/66, 249/73 Provokation 348 Raumgestalt und Sozialverhalten 340 Rechtsförmigkeit 350 Systemrelevanz 365/76 Vermittlung neuer Sinnsysteme 335 Zugriff auf Architektur 373

Architekturform 431 Affinität zur Serienproduktion 418 Autonomie 374/110 politische Präfiguration 363/63 Architekturgeschichte 70, 101, 103, 106 Architekturgeschichtsschreibung als Fremdbestimmung 102/4 als Modernisierungsbaustein 108 und Architekturproduktion 106 Architekturhistoriker als Akteur 101, 102 Doppelrolle 107 Erbordnung 117 Wissenschaftliche Theoriebildung durch... 71 Architekturikone Rückbau ästhetischer Aneignung 218/19 unter Alltagsbedingungen 31 Architekturkanon (s. Kanon) Architekturlaien 24/6 Architekturmoderne als Reformbewegung 62, 87, 89, 91 als Staatsbaukunst 93, 94/20 als Subversion 93 und Sozialismus 90/5, 256, 257/16, 257/19 und Wohnungsmarkt 258 Architekturpolitik 78, 78/50, 224/58 Architekturpreise 213, 213/4, 258, 369, 370, 443 Architektursoziologie 8, 271, 271/15, 331/86 Architekturtourismus 323, 370, 437, 443 Architekturvermittlung 156, 214/10, 320 Architekturwettbewerbe 359/55, 372/101 Archiv 68/67, 206/16 der kanonischen Werke 171 der legitimen und legitimierenden Werke 321, 362 Inventar 50, 203/4 Ästhetik 442, 443 Abstraktion 378 Antikontextualität 367 ästhetische Standards 379 Ausübung von Ästhetik, 251, 445 Autoreferentialität 234 Banalität 33/47 Collage als Mittel sozialer Distanzierung 221, 221/43 das Fremde/das Eigene 394 Echtheitssuche 423 Fremdheit 325/53, 373, 374/110, 407, 409, 411, 431, 431/15 Industrieaffinität der Architekturmoderne 411 Lakonik des Althergebrachten 373, 410, 410/46, 421 Minimalismus 247 Moderne Form als gute Form 412 Moralität 395, 412, 412/58 Neuheit 410 Ornament 395, 396 Primat von Form über Funktion 321/30

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Sachregister Ästhetik (Forts.) Purifizierung 346 Reform 413/62 Repertoire des rustikalen Stils 392, 393 Sentimentalität 432 Standardprodukt 418 Subversion 179, 180/76 Totalität der modernen Form 414, 415, 415/75 Verlangsamung des ästhetischen Verfalls 398, 399/60 Ästhetische Aneignung 218/19 Ästhetische Erziehung 12, 229, 315, 334, 369, 402, 411/48, 413, 427/55, 445 der Arbeiterschaft 95/24, 257 der dörflichen Gesellschaft 214 Etablierung neuer Werte 226 Pädagogik der ... 120 Ästhetisches Handeln 121, 122/110, 182/82 (Uhl), 346, 446 Ästhetisierung 69, 76/36, 152, 275, 275/40, 295, 330, 335/108, 346, 356, 441, 442, 443, 444 soziale Vereinzelung 315, 366 Totalität 365, 369 Avantgarde 50/46, 348, 415/71 Bauernhaus als Fahrhabe 173/48 als Referenz ländlichen Bauens 79, 186, 202, 215, 237 als Typ 187, 190/17 Delokalisierung 173, 173/48, 208/24, 209 Einraum 195 Farbe 218, 219/25 Fenster 196 Flurküchenhaus 194, 194/37, 195 Holzbau 147, 216 Lebenshaus 188/7 offene Funktionalität 198, 200, 204/9 Raumerfahrung aus dem Bauernhaus 310 Schopf 147 Stube 193, 194, 195, 196/44, 286 Umgang mit dem Bauernhausbestand 190 und antiker Kultbau 210, 212/34 und Architektur 149, 190/17, 215, 235, 285/94 zeitgemäßes Wohnen im ... 197 Bauernhausforschung 188, 190/17 im Nationalsozialismus 77, 147 Bauernhof 271/14 (Def.) als Gewerbebetrieb 191 Hofgründung 203, 203/6 Neugründungen im Nationalsozialismus 274/32 Bauernmöbel 393/29 Designauszeichnung 409 Bauernstand und Industrieproletariat 83 Bauernstube 389, 414 Sehnsucht nach der Bauernstube 392 Tiroler Stube 394 Baugenehmigung als Rechtsakt 58

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Baugenehmigungsverfahren 350 Berufungsweg 119, 119/94 Folgen rechtlicher Freiräume 358 Rolle der Gemeinden 111, 111/43, 118, 368/88 strittige ... 219, 353, 353/23 Baugesetz 352/18, 441 Baugruppen 302/39, 308, 309, 445 Bauherr als Kostenverwalter 36 Ausschluß vom System Architektur 66 Beziehung zwischen Architekt und Bauherr 67 Intellektuelles Bauherrenmilieu 115 Vertrauensstellung des Architekten 65, 67 Bauherren Kritik am Verwirklichungsdrang 331 Provokation durch Architektenplanung 222 Bauindustrie 263/53, 364 Baukörpergröße 236 Baukosten 36, 262/53, 266 Baukultur Bäuerliche Baukultur 149 Genese 224/58 Volk als Verwalter 118 Baukünstler 14, 102/3 Baum 126, 126/16, 127, 128 Baumeister 254, 255/7 Baumeisterhaus 174, 174/50 Baurecht 441 Bauplanungsrecht (dtsch.) 333/87 Baupolizeirecht 111 Baurechtsautorität der Gemeinde 111, 111/43, 118, 119, 368/88 Baurechtskulturen 111, 351/10, 356, 357, 368/88 Enteignung 351/11 Genehmigungsrecht als Gestaltungsmacht 112 gesetzliche Neufassung 353 Neubewertung von Hygienefragen 157 Planvorlageberechtigter 364/72 Bauschule 82, 109/39 Bauträger 253 als Bauunternehmer 254 Honorarpolitik 267 und Architekt 261 und Wettbewerbe 262 und Wohnungsmarkt 255 Wohnbau 99, 100/50 Bauwirtschaftsfunktionalismus 46 Bebauungsplan 356, 356/32, 356/36, 357/45, 359/48, 365/77 Blockbau (s. Strickbau) Community of Practice 16, 21/15 Cultural Studies 8 Decorum 49, 49/41 Denkmalschutz 198, 352/15, 367/84, 371/96 Design Funktionalität 199 Super-Design 437

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Designer 406, 414 Designer-Maker 206, 415 Dilettantismus 179, 180/76, 181/77 Ding (Def.) 276/43 Dorf Alleinstellungsmerkmale 328, 343 als Lebensform 295 als Standort 183, 274, 296, 327, 440, 442 als Wohnort 232, 443 Architektur 284, 298, 317, 318/15, 324, Atmosphäre 329, 342 Autonomie 293 Kirchdorf 286/97, 300 Marketing 328, 328/69, 336, 373, 440 Modell Dorf 271/8 Nahversorgung 329 neue ökonomische Grundlage 326, 327 Wandel von Sozialstruktur und Baukultur 272/20, 283, 334, 344 Dorfentwicklung 270/8, 271/10, 276, 276/41, 371/97 neues Dorf 317, 342 Neuplazierung sozialer Institutionen 304 wachsende Bedeutung von Architektur 275, 372 Dorferneuerungspreise 296/3, 334/101, 371 Dorfgesellschaft Akademiker im Dorf 317 Eliten 317, 323, 324, 373 Kirchplatz und Dorfplatz 316, 317/13 Organisationsstruktur 278 stake holders 329/73, 343/143, 354/26, 359 Vereine 297, 298 Eigenhändigkeit 165, 173, 182/83, 200, 306, 309, 313 Substanzerhalt 310 und Gemeinschaftlichkeit 312 Einfachheit 62/35, 155, 259, 392, 395, 411, 412, 423/31 Einfamilienhaus 272/19, 441 Abgrenzung vom Einfamilienhaus 311 Abwesenheit von Architektur 364 als Repräsentant sozialer Initiativkräfte 108 Einzelner 439 Autonomie 296/6 Desorientierung 204 Funktionalisierung 434 Gestaltungsraum 165, 365 Handlungskompetenz 182 Rollenzuweisung durch den Staat 120, 183, 183/84 Selbstgestaltung/Fremdgestaltung 256 Verfügbarmachung 437 Ensemble 329, 366, 444 Ensembleschutz 331 historisches Ensemble 317, 342 Umnutzung historischer Bauten 341 Entvölkerung 272/24 Ethnizität 70/10, 71, 71/11, 71/12, 71/13, 72, 72/14, 109/39, 148, 188, 189, 310, 409 Europa der Regionen 13, 119, 119/96, 151, 324/47, 327/62

Experten Entmündigung durch Experten 181/77 Experten- und Laienwahrnehmung 40 konkurrierende Experten 164 Fachwerk 129, 129/35 Familie 444 als Speicherort für Erfahrung 278 Handwerksbetrieb und Familie 376, 381, 385 Haus und Familie 282 Kleinfamilie 307, 444 Parzelle und Familie 279 und Nachbarschaft 281 Wegenetz und soziales Netz 384 Farbe als antikonservatives Signal 219 als Traditionselement 220 das farbige Haus 218 Fassade 40, 236, 251, 253, 359/54 als Hausgesicht 217, 218, 259 des Dorfes 371 Schindelfassade 168/24, 188/6, 221/41 Stilfassade 9 vergrauende Holzfassade 162/75, 216 Fenster Bauernhausfenster 196, 197 Eigenbau-Fenster 180 fremdartige Fensterformen 218 Fertighaus 174, 176/61, 205, 419/8 Flachdach 258/24, 259 Flexibilität 260, 260/33 Flexibler Grundriß 261 Wohneigentum macht unflexibel 260, 260/33 Foot 42 Form 443 (s.a. Architekturform, Ästhetik, Moderne Form, Rustikalität, Typ, Typus, Typologie) Autarkie 348 Formtradition 408 Fremdartigkeit 407 Gute Form 406/25, 410, 413, 423/31 Handwerkskopie 420 Maschinengerechtigkeit 412, 412/57, 412/60, 430/8 Materialgebundenheit 415 moderne Form 388, 405 moderne und handwerkliche Form 430 Modularität 436 Moralität 395 nach der Diskreditierung des Rustikalen 401 Neuheit 409 prototypisches Entwerfen 418 Selbstähnlichkeit 237/25 Serienreife 427 soziale Gebundenheit 421 Werksentwurf 421 Würdeform 319 zeitgemäße Form 88, 396 Forstgesetz, österreichisches 135/47 Forstwirtschaft 134

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Sachregister Fortschritt 183, 408 der landwirtschaftlichen Technik 188, 188/11 Fortschrittskritik 158, 197 Frauen Frauenrollen 159, 181, 249 Frauenrunde im Dorf 278/52 Friedhof 287/100 als Bild einer sozialen Vision 286 Funktionalismus 50/42, 434 als Sektierertum 62/35 Ganzes Haus 186/4 Gebrauchsgegenstand 406, 422 Gemeinde 271 als Baurechtsautorität 111, 111/43, 118, 368/88 Bauausschuß 318, 359, 443 Rechtsposition (Schweiz) 112 Selbstdarstellung 343 Verwendung lokaler Rohstoffe 133, 151 Gemeinschaftlichkeit 443, 444, 446 Bauen als Gemeinschaftserlebnis 304, 306 Begegnungsräume schaffen 312 Gemeinschaftsbildung als Kulturleistung 282 Haus- und Gemeinschaftsordnung 307 schichtenübergreifende Interaktion 309 Schutz in Krisensituationen 307 Sozialkompetenz von Kindern 312 und Eigenhändigkeit 309, 312 Vereinzelung 239, 260, 311, 315, 359, 359/53, 366, 444 Gemeinschaftseigentum 313 Gemeinschaftsstrukturen, arbeitsförmig 346/167 Gemeinwohl 256 Gender 250/75, 251, 252/86, 277 Genossenschaften Brunnengenossenschaften 279 Genossenschaftl. Selbsthilfe i. d. Landw. 294/130 Landw. Produktionsgenossenschaften (LPG) in der DDR 274/32 landw. Verwertungsgenossenschaften 273 Gesamtkunstwerk 50/42, 251, 322 Geschichtsschreibung 189 (s.a. Architekturgeschichtsschreibung) Geschmack 10, 160, 412/58, 413, 442, 443, 423/31 Gesellschaft Religion (Durkheim) 287/102 vergreisende Gesellschaft 260 Gesellschaftlicher Erziehungsprozeß 110 Gestaltungsbeirat 331, 441, 443 als Gestalter 366/84, 367/84, 368 im Baugenehmigungsverfahren 357, 363/65 und Raumordnung 351 Gestaltungsbeiräte 275/39, 350, 350/8, 367, 369 Grundstücksbeiräte 359/54 Ordnungsbegriff 365 Rolle 275 Salzburger Modell 350/10 Statut 351/10

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Globalisierung 134, 275/34 (Def.), 417, 437 Globalisierungseffekte im 19. Jh. 290 Globalisierungskritik 270/8 Grundbesitz 187 Grundriß 40, 43, 43/11, 237, 432/19 Figuren der horizontalen Schnitte 50 Flexibler Grundriß 261 Korridorgrundriß 44/14, 194/37, 238 Siedlungsgrundriß 43/11 und Sozialverhalten 248 Habitus 10, 12, 15 (Def.) Affinität der Habitusformen 309/71 der Architekten 61, 61/33, 230, 315, 323 der Gebildeten 308 traditioneller ... der ländlichen Gesellschaft 228 verbindender Bauherrenhabitus 116/75 wissenschaftlicher ... 233 Handeln Bauen als Handeln 304 Mitgestaltung 436, 446 Reinigungspraxis 180, 196, 196/44, 250 Verlust ästhetischer Kompetenz 435 zweckmäßiger Gebrauch 434 Handwerk als Bauhandwerk außerarchitektonische Zugänge zum Bauen 172 Bauträger als Handwerksbetrieb 254 Saisonale Auswanderung der Bauhandwerker 83 Handwerk als Organisationsstruktur 381/1, 403 Abschaffung durch EU-Bürokratie 175 Berufspolitik 407 Handwerksbetriebe als regionale Ressource 152 im Nationalsozialismus 386/21 im Sozialismus 384/13 Landwirtschaft und ländliches Handwerk 316/4 Ortsgebundenheit 377, 384 Repräsentation 404, 417, 427 strukturelle Stärke 384/12 Territorialisierung 177/67, 383 Handwerk als Produzierendes Handwerk 405, 418 Allround-Tischlerei 424 Arbeitsform 408 Autarkie des Einzelbetriebes 385 Fertigungstiefe 380, 383 Funktionsbegriff 198 Handwerk als Technologieträger 327/63 Individualisierung der Kundenwünsche 379 Konkurrenzschutz 152, 175/54, 408 Mechanisierung des Handwerks 174, 181 Messen schaffen Geschäftskontakte 426 Produktmarketing 427, 428/59 Renaissance der Massivholztischlerei 378 Stoff, Ortsbindung 376 Vermeidung von Spezialisierung 177/66 Handwerk als soziale Kategorie 177, 178 Handwerk und Architektur Handwerksförderung durch Architektur 169/32 Handwerk ist nicht Architektur 170, 326

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Handwerk und Architektur (Forts.) Konkurrierende Baukulturen 11, 57, 105 Reform durch Architektur 175/53, 178 Repräsentation durch Architektur 169 Romantisierung 115/68 Spaltung der Handwerkerschaft 408 Umetikettierung zu Architektur 210 Handwerk und Industrie 380/25 Abwertung des Handwerks 433 Industrialisierung des Handwerks 173, 174, 418 Unterscheidung zum Industriebetrieb 175 Modernisierung des Handwerks Antitraditionalismus 409, 413 Arbeitsweise 378, 388, 379, 420 Aufbrechen der Familienstruktur 386 Betriebsvergrößerungen 390 gewandelte soziale und ökonomische Rahmenbedingungen 417 Intellektualisierung der Handwerkerschaft 397 Veränderung der Kundenbeziehung 379 Handwerker als Designer-Maker 206, 415 als Produzent 206, 407 Ausbildung,Vorbilder,Wissensaneignung 385, 387 Berufsbestimmung 381 Beschneidung seiner Gestaltungskompetenz 184 Holzhandwerker 375 Kundenbeziehung 379, 404, 412, 414, 425 Leistungsumfang 429 Selbstverständnis 405, 416, 435 Verarbeitungswissen 171, 171/41 Werkzeugmacher 387/29 Handwerkerhaus 205, 217, 326 Handwerkliches Wissen als soziale Erfahrungsgeschichte 305/50 Handwerkliche Form 175, 217, 303/40, 386, 415/71, 419, 420, 437 Autorenschaft 206/16 Formentscheidung als Fertigungsentscheidung177 Formentwicklung 387 Formtradition 399, 401 handwerksgerechte Konstruktionen 114 Handzeichnung, Werkzeug, Werkstück 387 Industrieprodukte im Tischlerhandwerk 419 Raumkunst 435 Serientauglichkeit 411 Verlust handwerklicher Formkultur 184, 388, 415 Handwerklichkeit 198 als architektonisches Stilmittel 38, 169, 178 Handwerksbetrieb als Familienbetrieb 376 Familienhierarchie und Werkstatthierarchie 381 Tischlerei als Werk von Generationen 385 Haus 308 als Erinnerungsbatterie 192 als pädagogische Demonstration 229 als sozialer Auftritt 193, 213 als Wohn- und Arbeitshaus 444

Haus (Forts.) Beziehungen zur Gemeinschaft 193 Elternhaus 192 Ganzes Haus 308 Haus und Familie 282 Hochhaus, gesellschaftliche Bewertung 258 Lebenswerk Haus 392 Prairiehouses 42, 242 und Landschaft 187, 194, 242/45 und Name 192/26 Hausforscher 188, 189/12 Hauslandschaften 188, 189, 189/12, 190/17 Heimat 277, 437 Architekturkanon als Heimat 51 ästhetische Heimaten 347 Beheimatung 159, 434, 436, 431/15 Entfremdung 409 Nationalsozialismus 389 Heimatfilm 191, 191/21 Heimatschutz 352/15 Heimatschutzbewegung 211 Heimatschutzstil 92 Holz 375, 376 als Material des Christuskreuzes 127, 128 als ungeformte Materie 129 als vertrauter Baustoff 131 Asthaltigkeit 136, 151 Farbe 137 Holzfestigkeit 139, 140/64 Massivholz oder Plattenwerkstoffe 377 Plattenwerkstoffe 377/8, 377/9, 377/10 Schnittbild 138 zur Architekturvermittlung 156 Holzbau als österreichischer Nationalstil 150, 151/29 als Signalgeber 164 als Träger architektonischer Kultur 123 Anteil im österreichischen Wohnbau 164/3 antike Holzbaukultur 129, 129/30, 145 Förderung 164/2 in der Kultarchitektur Ostasiens 145 Industriebau, Holzkonstruktionen 146 Kennzeichen ökologisch bewegter Bauherren 131 Massivholzkonstruktionen für waldreiche Regionen 151 Materialgerechtigkeit 168, 170, 171/41 Resozialisierung durch Architektur 150 Russischer Holzbau 145, 148 Überleben des Mythos 129 und Architekturentwicklung 168/26 und Bauernhaus 131, 147, 149 und Ethnizität 149/24 und Regionalismus 123 Universalität 163 Verschiebung der Deutungsmacht vom Handwerk zur Architektur 150 wissenschaftliche Zuschreibung 147

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Sachregister Holzhaus 443 braucht und erlaubt Zuwendung 310 Flexibilität 182/83 Holzwirtschaft Hallholz, Montanindustrie 135/47 Holzhandel in der Antike 135/47 Holzmarketing 139 Holzpreis 134 Kleinräumigkeit 136 Mondholz 139, 140/64 Sortierklassen 136 Wiederentdeckung der Weißtanne als Bauholz 141 Honorarordnung der Architekten 53, 59 Außerkraftsetzen der HOA 60, 60/28, 87/97, 267 Hyle 129 Idealstaat 119, 230 (s.a. Architektur und Staat) Industrialisierung 288 als Kultur 87, 422 Arbeiterhäuser 86 Bauernstand und Industrieproletariat 83 des Bauens 45 Heimarbeit 82 im Holzbau 134, 173 Industrieproletariat 86 Industrie und Landwirtschaft 86, 94 Landflucht und Wohnungsnot 86 Meisterhäuser 86/89 Sozialdemokratie 94 Soziale Befriedung der Arbeiterschaft 86 Soziale Folgen 85 Textilindustrie 85, 252/84, 291 Trennung von Arbeiten und Wohnen 414 Vorarlberger Arbeitersiedlungen 86, 94, 95/26 Institutionalisierung des Selbstbaus 112, 287, 304, 445 von Architektur 9 (s.a. Architekten, Architektenkammer, Architektenschaft) Kanon 50, 321 Kriterien für die Einordnung von Architektur 102 Pflanzenformen 145 und neue Baukunst 436 und Typus 174/50, 233 Kapitalismus 437, 444 Kirche als Institution 286/96, 440 Gemeinschaftlichkeit 315 Soziale Rolle 288, 297 Kolonisierung 130, 413/63 Konstruktion 431 als Formträger 114/67 Anschaulichkeit 172/44 handwerksgerechte 114 technische Konstruiertheit 235, 251 traditionelle Konstruktionsweisen 378 Kontinuität in der Architekturmoderne zw. Vor- und Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs 93 Kontinuitäten zw. NS-Zeit und Zweiter Republik 95

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Kreativwirtschaft 36/57 Kultur als Landbau 42, 191 als Mittel gesellschaftlicher Unterscheidung 10, 217, 217/15, 340 Gemeinschaftsbildung als Kulturleistung 282 legitime Kultur 11, 33, 234, 321, 346, 349/4 Kulturgut 51, 51/53, 340/127 Kulturlandschaft 187 als Allgemeingut 185 Ästhetisierung 350 Handwerksform, Friedhöfe 388 Intaktheit der Kulturlandschaft 79 Kultivierung von Land 42, 130, 191 neue Bewertungsmaßstäbe 336 Werkstättendichte 383 Kulturpflege, Professionalisierung 118 Kulturvolk 340/127 Kunst als Bedeutungsebene von Architektur 24 als Waffe 230/94 Auftragskunst 264, 320 Autonomie versus Funktionserfüllung 29 gesellschaftlicher Leitanspruch der Kunst 230,322 Individualisierung 315 Kunstfeld 26, 33 Kunstkontext schützt vor Übergriffen 37 Neoplastizisten 50/42 Primat der Form 230/95 Religion und Kunst als soziale Medien 315 Sinnstiftung 317, 320, 322 Sozialisation des Betrachters 10 und Technik 230/97, 432 Kunsthandwerk 251, 252/84 Künstler Avantgarde als Initiatoren von Gesellschaftsreform 104 Gegnerschaft zu staatlichen und kirchlichen Autoritäten 230, 230/93 Produktionsakt 321/30 und Handwerker 432 Werkbezug 415 Landflucht 272/24, 273 Entvölkerung von Dörfern 202 Folge der Mechanisierung der Landwirtschaft 115 und Wohnungsnot 86 Landhaus 186/4 (Def.) Praxen des rustikalen Landhausbaus 211 Landleben 231, 239, 306, 392 Ländliches Bauen Ansprüche an Architektur 296 Ästhetisierung 275, 275/40 Autonomie 303/40 Einfamilienhausbau 351, 351/13 Selbstbau als praxische Tradition 112 städtisches und ländliches Bauen 43 Tourismusbauten 76/36, 209, 351, 389/5

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Ländliche Gesellschaft Ausbau des Schulsystems 204, 228/77, 284 Definitionsmacht über das Zeitgemäße 232 Familien 341/135 konservatives Milieu 220 Kritik an der ländlichen Gesellschaft 213 Kritik an Tradition 228 Lehrer, Exponenten sozialen Wandels 204, 228, 229/87, 284/92 Reduzierung dörflicher Selbsthilfe 342 Selbstbestimmung 112, 324, 325 sozialer Wandel 202, 227, 232, 414, 429 Stadtflucht 115, 273, 351, 364 wachsende Akademikerschicht 204, 213, 228 Ländlicher Raum Abwertung 135, 445 Autonomie und Autonomieverlust 202, 305 Infrastruktur 301 Modernisierung 439, 442 Musealisierung 275/40, 406 Sehnsuchtskulisse 398 Stadt-Land-Gegensatz als Mythos 270/6 Strukturprobleme 79 Umstrukturierung 373 Verödung, Raumplanung 79/57 (s.a. Landflucht) Widmung ländlicher Räume 274 Ländlicher Raum, Wirtschaft Abhängigkeit von Subventionen 202/3 Geldwirtschaft 181, 292/126, 326/60, 327/60 Handwerk als Prägekraft 178/70, 384/12, 402 kleinräumiges Wirtschaften als Schutz 135 Konkurrenz zwischen Nachbardörfern 328 Ökonomisierung 274, 295, 343, 359, 367 Standortkonkurrenz 372 Trennung von Wohn- und Arbeitsort 205 wirtschaftlicher Umbau 272 Zukunft 270/5 Landnahme 41 Mondlandung 42/10 Landschaft 240, 442, 443 freie Landschaft 352 Haus in der Landschaft 187, 242/45 Ökonomisierung 69, 125 Schädigung 329 Überführung von Natur- in Kulturlandschaft 130, 272/22 Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen zu Bauland 187 visueller Landschaftsbezug 346, 444 Wohnen in der Landschaft 239, 337 Zersiedlung der Landschaft 308/70 Landschaftsbild 81, 141, 187, 191, 208/24, 290, 336, 345/154, 355 als öffentliches Gut 118, 119/91, 291, 291/116 agrarisch geprägtes 81 Orts- und Landschaftsbild 118 Landschaftsgebundenes Bauen 77, 243/48, 352/15

Landverbrauch für Bauland 187, 352, 372/100, 344/152 (Schweiz) Landvermessung 43, 440 Landwirtschaft 272, 293, 441 Agrarindustrie 441 agrarisch geprägtes Landschaftsbild 81, 191 Agrarpolitik 271/8, 272/21, 293 Agrarsubventionen 202/3, 273, 273/27, 273/28, 273/29, 291/116, 294/130 Agrarwandel und Industrialisierung 291 als Gewerbe 273/30 Bergbauern 270/8, 272/21, 272/24 Genossenschaftliche Selbsthilfe 294/130 Kapitalisierung 292/121, 292/126 Landschaftspflege 273/30 Landwirtschaft/Handwerk 316/4, 383 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) in der DDR 274/32 Mechanisierung 115, 115/70 Multifunktionalität 273, 291/116 Nationalsozialismus 274/32 Nebenerwerbslandwirtschaft 94, 277/45, 291, 291/117, 292/125 Schwabenkinder 82 Selbstversorgung der Familie 290/111 Strukturwandel 289 und Industrie 86, 288 Vorrangstellung 202/1, 273 Vorsäß- und Almwirtschaft (Vorarlberg) 125 Legitimierung Nichtarchitektur 11, 234, 346, 349/4 Nichtkunst 321 Leitbild Landentwicklung und Dorferneuerung 371/97 Machen 57, 171, 172, 262, 305, 387/29 Massivbau 205, 254 für Kirche und Aristokratie 146 Repräsentativität 217 Material Culture (Dingkultur) 231, 231/2 Materialgerechtigkeit 168, 170, 171/41, 410 Milieu (Def.) 16 Möbel 375, 429 Mobilität 301, 431/9 Moderne Bewegung der Neue Mensch 88, 430, 430/9 Ideologie 418 Lebensreform 62, 284/92, 406/25 Skeptizismus 415/71 Werkstattmoderne/Bauhausmoderne 422 Moderne Form 388, 405 (s.a. Form) Autorenentwurf 415 Eliteorientierung 413/62 Fabrikproduktion 418 Flächigkeit 400 gegenwärtige Formkultur 88 handwerksfremde Formtraditon der Moderne 430 Moralität 411

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Sachregister Mond Mondholz 139 Mondlandung 42/10 Mondzyklen 140/64 Musealisierung 275/40, 406 Mythos der Daphne 126 Überleben im Holzbau 129 Nachbarschaft 444 Nachbarschaft/Ensemble 371 soziale und ästhetische 366 Nationalsozialismus Bauernhausforschung 77, 147 Handwerk 386/21 Heimatbegriff 389 Naturbetrachtung 128 Neue Heimat 95/27, 98, 98/39 Neugründungen von Bauernhöfen, Raumordnung, Umsiedlungskampagnen 274/32 Sozialwohnbau 90/6, 92, 95/27, 98, 98/39 Traditionspflege 393/26 Natur und Technik 127 Naturbezug 127, 128, 239, 240, 243 Entgegensetzung zur Natur 240/40 Hereinholung der Natur ins Haus 242 Ökologische Bewegung 191/24 Standfestigkeit des Hauses 245, 246 Symbolik 244 Naturschutz 191 Nichtarchitektur 11, 234, 346, 349/4 Objekt (Def.) 276/43 Ökologische Bewegung 191/24, 226, 244 Operationalisierung 62/35 Ordnung als Signatur 49 Architektonische Ordnung 48 Haus- und Gemeinschaftsordnung 307 Heterogenität 365 höhere Ordnung 285 Kultur 339 Modularität 45, 436 Ordnung schaffen ist gestaltbildend 338 Toleranz 338 Tradition 339 Verhandlungspraxis 339 Ordnungen 440 Ordnungsbegriff der Gestaltungsbeiräte 365 Ordnungstraditionen 338/121 Soziale und geometrische Ordnungen 44 Welche Ordnungen? 337 Wessen Ordnungen? 339 Orts- und Landschaftsbild 13, 118, 352 als Metaarchitektur 365 Ortsbildsatzungen 190, 191/19, 330/84, 360, 360/58 und gemeindliche Baurechtsautorität 111/43 Ortsgestaltung 372, 372/99, 372/100 Partizipation 121, 122/110, 166, 183, 445

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Parzelle (Weiler) 193 als Familienbastion 280 als soziale Gestalt 280 Parzelle (Grundstück) 43 Plan 41 (etym. Def.) als Bauanleitung 58 als Urkunde 58, 207 als Zeichnung 387 Planung als Rechtsakt 207 Dominanz von Architektur über Handwerk 168 Materialnutzung 137 Nichtakademische Planer 58, 206, 207, 360, 361/60, 361/61, 385, 387, 415 Planungsbefugnis 63/40 Planungsbetroffene 166, 445 Planungsprozeß, Partizipation 121, 122/110, 166, 183, 445 Wirtschaftsfaktor Planungsleistung 324, 325/50 Postmoderne 123, 215, 270 Privatheit 194, 200, 238, 247/66, 249/73 Produktion (s.a. Handwerk als Produzierendes H.) Eigenbedarfs-/Exportproduktion 390 Fabrikproduktion und Handwerksproduktion 424 Fertigungskette 380 Fertigungstiefe 380, 383 Individualfertigung und Region 418 in kleinen Werkstätten 424/42, 425 Produktionsstandort 384 Produktionsweise 423, 424 Produktivität 423 Produktmarketing 404, 425 Produzent 397, 414 Serienproduktion 413, 418, 422, 423, 424 Publikation 54, 54/9, 55/16, 68, 68/67, 427 Qualität 259 von Architekten aus Bauherrensicht 56 von Holz als Baustoff 136, 137, 138, 139 Raster 42, 47, 363/63 Rationalismus 127 Raum als Container 436 Raumkonzeption 430 Raumkunst 435 Raummodule 47 Raumplanung 329, 350, 352/17 als Instrument territorialen Verwaltens 12 als Steuerung der Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung 352/21, 372/100, 441 Boden- und Betriebsreform der DDR 274/32 Einschränkung des Besitzrechts 351 Flächenwidmung 353, 441 Gestaltung durch Bebauungspläne 332 im Nationalsozialismus 274/32 Musealisierung 332 Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen 187 Verödung ländlicher Räume 79/57

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Raumplanungsgesetz, Raumplanungsstelle (Vorarlberg) 353, 441 Rechtliche Unmittelbarkeit (Schmitt) 295/2 Region 154, 326 Regional Governance 13, 119/96, 327/62, 324/47 Regionalentwicklung 440 als Standortentwicklung 368/90 als Standortmarketing 131, 328, 372 Regionalisierung 324/47 Regionalismus 123, 398 Regionalität als Marketinginstrument 152 als politisches Zukunftsmodell Europas 119, 151, 324/47 als Wertegemeinschaft 160, 162/78 Architektursprache 155 Aufruf von Tradition 150 Reinigungspraxis 180, 196, 196/44, 250 Religion als gemeinschaftsbildendes Medium 285, 287, 287/102, 297 und Kirche 286, 288, 296/8 und Kult 297/10, 304, 321 und Kunst 315 Rohbau Rohbauargument 251, 431 und Kunstbau 170 Romantik 392 Naturbeziehung 128 Romantisierung des Handwerksbegriffs 115/68 Romantizismus 116/75, 232/4 Rustikalität 208, 208/24, 413 Bauernmöbel und Rustikalmöbel 393 Chalets 208/24, 210 Präsenz des Rustikalen 389 Praxen des rustikalen Landhausbaus 211 Verankerung in der ländlichen Bevölkerung 405 Sache (Def.) 276/43 Sachlichkeit 430/8 Sakralbau 25, 240/40 als Holzbau 146, 160/73 als Massivbau 146, 205 Schönheit 10, 90, 217, 387, 410, 412/58 Schönheitsideale 434 soziale Relativität des Schönheitsbegriffs 104 worauf gerichtet, zu wessen Gunsten? 104 Schule 283, 305/49, 440, 445 Selbstbau 50/43, 116, 172, 178 Gestaltungsraum des Einzelnen 165 Institutionalisierung als Fronarbeit 112, 287, 304, 445 Selbstbaubewegung 244,306, 445 Selbstbausiedlungen 121 technologisches downsizing 179, 180, 180/76 Selbsthilfe 181/77, 445 Selbstversorgung 91, 163, 182, 270/8, 290, 382, 383, 445

Siedlerbewegung 91, 112 Siedlung Abgrenzung vom Einfamilienhaus 311 Agglomeration 202, 271/8, 441 archaische Siedlungstätigkeit 130 Randsiedlungen (Vorarlberg) 91, 94/22 Umsiedlung 97 Siedlungsgesellschaften 92, 92/17, 95/27 Social Engineering 12, 87/95, 92, 92/16 (Def.) Sozialdemokratie 94, 286/87, 291, 291/117 Sozialer Wohnbau 89, 90, 255, 423 Großsiedlungsbau 46 Minimalwohnungen 431 Nationalsozialismus 90/6, 92, 95/27, 98, 98/39 Sozialismus und Architekturmoderne 90/5, 256, 257/16, 257/19 Soziographie 108/34 Stake holders (Anspruchsgruppen) 323, 324/47 (Def.), 441 Stil 314, 390, 414 Alpiner Stil 209, 398 Handwerklichkeit als Stilmittel 169, 178, 399 Holzbau als österreichischer Nationalstil 150, 151/29 Ornament 396 Primitivität 208/24 Stilreinheit 190 Stilwandel 388, 414, 435 Strickbau 130, 177/64, 252/83 Bautentypologie 174/49 Maschinenstrick 205 Strickhaus 173 Stube 193, 194, 195, 196/44, 286 (s.a. Bauernhaus) Subsistenzwirtschaft (s. Selbstversorgung) Südtirolersiedlungen 91, 91/12, 309/70 Talschaften 74/26 Technik Entgegensetzung zur Natur 127 Primat der Technik 433 Technokratie 45 Technologisierung 115 Territorial Governance (s. Regional Governance) Textilien 250, 252/83 Tischler (Schreiner) 375 Totalität 64, 167, 295 Tourismusarchitektur 76/36, 209, 389/5 Tourismusgewerbe 390, 408, 441 Tradition 150, 204 (Def.), 226, 339, 402 abstrakte Versatzstücke 220 Auflösung der Tradition 204 Instrumentierung der Traditionspflege 392/26 Kritik an Tradition 228 Lakonik des Althergebrachten 373, 410, 410/46, 421 Traditionskonzepte 171 Umdeutung 408, 409 Widerstand gegen Funktionalisierung 434

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Sachregister Transport von Baumaterial 130, 133 Typ 421 Typen (Lettern) 233/8 und Industrieproduktion 232/7 Typus 236, 237 Typus und Kanon 233 Typologie 204/9, 232, 233 materialbezogene Hierarchie dörflicher Haustypen 153 Ortsbezug 410/47 Primat der Form 235, 236/18 Systematisierung dörflicher Haustypen 211 Verwischung baulicher Typen 203 Verdichtung 309/70, 313, 344 Vereinödung 190/17, 203, 241, 289, 290/111, 290/113, 349, 349/5, 440 Vereinzelung 239, 260, 311, 315, 359, 359/53, 366, 444 (s.a. Einzelner) Villa 187, 431 Volk als Verwalter von Baukultur 118 Volkskunde 189 Wahrnehmung (s.a. Ästhetik, Wissen) Bild des Materials 380 Bildgedächtnis 170 Erfahrungswissen 373 Expertenwahrnehmung 40 Handzeichnung 387 Hierarchisierung der menschlichen Sinne 330 Kategoriale Schnitte 55/14 Laienwahrnehmung 40 Lakonik des Althergebrachten 373, 410, 410/46, 421 Lesbarkeit des klassischen Dekorationsrepertoires 399 Schule des Sehens 334/101, 372/99 Visualität 444 Visuelle Sensibilisierung 333 Wald Entwaldung 135/47 Gemeindewald 133 Nutzung von Gebirgswäldern 139 Pfarrwald 133, 326/59 Schutzwald 135/47 Waldbesitz 132, 133/43 Waldrodung 130, 187, 191 Weißtanne 141 als Schutzwaldbaum 143 Fassade 162/75 Qualität 142/73 Täfer 137 Verarbeitung 142 Vermarktungsstrategie 144 Weißtanneboden 156, 157 Einsatz in Kommunalbauten 157, 157/63 Fertigungsweise 157, 157/62 Genehmigungshindernisse 158 Reinigungspraxis 157/60, 159

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Wert 161, 370, 443 Wertewandel 158, 226 Wertmaßstäbe 145 Wirklichkeit 7 Wissen 8 (Def.) ästhetische Kompetenz 435 atheoretisches Wissen 16 Bildwissen 171 dörfliches Wissen 305, 326/58 Eigenhändigkeit 306 embodied knowledge (inkorporiertes Wissen) 110, 231/1, 305, 305/48 (Def.), 335, 387/33, 444 Erfahrungswissen 199, 310, 305/50, 373 Fachwissen 379 händisches Wissen 138, 434 handlungsleitendes Wissen 16 handwerkliches Wissen 117/82, 171, 171/41, 305 377, 381, 387 Hierarchie der Wissensarten 305, 326/58, 433 intellektuelles Wissen 305, 305/49 Machen 57, 171, 172, 262, 305, 387/29 Materialwissen 170 Wissensaneignung 385 Wissensmilieu 173 Wissenssoziologie 8 Wohnatmosphäre 246/65 Wohnbau 446 dörfliche Wohnbautypologie 344 Holzbauanteil im österreichischen ... 164/3 Mustersiedlungen 412/61 Sozialer Wohnbau 46, 89, 90, 90/6, 92, 95/27, 98, 98/39, 255, 423, 431, 434 Sozialstruktur des Wohnungsmarkts 255 und Sozialismus 90/5, 256, 257/16, 257/19 Wohnungsmarkt 253, 258 Wohnen 228, 228/85, 375, 444 als Bestandteil des Habitus 231 in der Landschaft 239 lernen 433, 437 und Arbeiten 304, 308 Wohnbedarf 95/24, 413/62, 421 Wohnlandschaft 337, 344, 441 Wohnlichkeit 247, 249/72, 252/82, 436 Wohnungsfrage 87 Wohnungsnot 86, 90 Zentraldirigismus 190/17, 289, 303/40, 349, 355, 440 Zirbe 143/84, 144, 394 Zivilisation 436 Technologisierung 115 und Kultur 105, 110 Ziviltechniker 12, 63/40, 349/5, 360, 361/59, 362/63, 440 Zunft 82, 252/84, 403, 403/11 Auer Zunft 82, 166/13 Zweck und Bedeutung 9, 35 Zweckmäßiger Gebrauch 434

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463 Literaturverzeichnis

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Banham Reyner: CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne); in: Vittorio M. Lampugnani: Lexikon der Architektur des 20. Jahrhunderts; Stuttgart: Hatje, 1983 (1. Aufl.), S. 50 Barnay Markus: Die Erfindung des Vorarlbergers – Ethnizität und Landesbewußtsein im 19. und 20. Jahrhundert; Bregenz: Vorarlberger Autorengesellschaft, 1988 Barnay Markus: Vorarlbergs Sonderfahrt durch die 2. Republik – Vom Alemannenmythos zur Euregio Bodensee; in: Robert Kriechbaumer (Hg.): Liebe auf den zweiten Blick – Geschichte der österreichischen Bundesländer seit 1945; Wien: Böhlau, 1998; S. 261 ff Barnay Markus: Vorarlberg-Leitfaden. Was Staatsbürgerschaftswerber über unser Land wissen sollten; Bregenz: okay.zusammen leben/Projektstelle für Zuwanderung und Integration, 2006 Barnay Markus: Rundgang oder Sackgasse? Anmerkungen zum „Ausstellungs- und Bespielungskonzept“ des neuen Landesmuseums; in: Kultur, Dornbirn: 1/2009, S. 4 f Barnay Markus: Eine erfolgreich preisgegebene Institution? Das Landesmuseum steht endlich zur Diskussion; in: Kultur, Dornbirn: 4/2009, S. 48 Bauer Klaus-Jürgen: Minima Aesthetica – Banalität als strategische Subversion der Architektur; Dissertation Bauhaus-Universität Weimar, 1996 Baur Priska, Rentsch Hans: Agrarpolitische Mythen – Argumente zur Versachlichung der Debatte; Zürich: Avenir Suisse, 2008 Bechter, Faißt, Nenning, Schwärzler, Stöckler, Gemeinde Hittisau (Hg.): HolzKultur Hittisau; Hittisau 2004 Becker, Steiner, Wang (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert: Österreich (Katalog DAM Frankfurt/M und AZ Wien); München: Prestel, 1995 Berchtold Markus: Was passiert mit den alten Häusern im Bregenzerwald?; in: Heimatpflegeverein Bregenzerwald (Hg.): Bregenzerwald-Heft Jg. 27/2008, S. 112; Riefensberg, 2008 Bereuter Kurt: Weltkulturerbe Bregenzerwald – Berechtigte Hoffnung auf eine positive Weichenstellung? http://www.kufobregenzerwald.at Berger Jutta: „Wir bauen, was der Gast will“ – Ausgerechnet im Architekturland Vorarlberg reiten Hoteliers eine Attacke gegen zeitgenössisches Bauen; Der Standard, 16. 06. 2005, S. 11 Berger Jutta: „Geschmacksdiktat“ im Montafon – Der Architekturstreit im Montafon entzweit die Regierungspartner; Der Standard, 28. 06. 2005, S. 9 Berger Peter L., Luckmann Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – Eine Theorie der Wissenssoziologie; Frankfurt/M.: Fischer, 1969 (Orig. New York: Doubleday, 1966) Berger Wilhelm: Shopping als Kultur; in: ide 3-2004, S. 10 ff Bergmann Frithjof: Neue Arbeit – Neue Kultur; Freiamt: Arbor, 2004 Bergquist M., Michélsen O. (Hg.): Josef Frank – Architektur; Basel: Birkhäuser, 1995 Bertsch Christoph: Industriearchitektur und Denkmalschutz; in: Montfort 2/1980, Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, S. 127 ff Bertsch Christoph: Das älteste Arbeiterwohnhaus Österreichs – Eine Herausforderung an Kunstgeschichte und Denkmalpflege; in: Montfort 1/1980, Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt Bertsch Christoph: Die ehemalige Spinnerei Getzner, Mutter & Cie in Nenzing; in: Vorarlberger Oberland, Kulturinformation Heft 3/1983 Bertsch Christoph: Arbeiterwohnhäuser des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Vorarlberg – eine Bestandsaufnahme; in: Bauforum Jg. 14 1983/84 Bertsch Christoph (1987/1): Industriekultur in Vorarlberg: Arbeiten und Wohnen im 19. Jahrhundert, Teil 1; in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege Jg. 61 1987 Heft 1/2 Bertsch Christoph (1987/2): Industriekultur in Vorarlberg: Arbeiten und Wohnen im 19. Jahrhundert, Teil 2; in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege Jg. 61 1987 Heft 3/4 Bertsch Christoph: Die Herausforderung des Alltäglichen – Marginalien zur Geschichte der Baukunst in Vorarlberg; in: Bau – Handwerk – Kunst; Innsbruck: Inst. für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck, 1994 Bertsch Christoph, Steurer-Lang Maria Rose: Bau – Handwerk – Kunst; Beiträge zur Architekturgeschichte Vorarlbergs im 20. Jahrhundert (Ausstellungskatalog); Innsbruck: Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck, 1994

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Berufsvereinigung der Bildenden Künstler Vorarlbergs (Hg.): Architektur in Vorarlberg seit 1960; Bregenz, Ruß 1993 Bilgeri Benedikt: Geschichte Vorarlbergs; Wien: Hermann Böhlau’s Nachf., 1971 Blank Konrad: Vereinödung in der Herrschaft Bregenz; in: Sulzberg – Stationen der Geschichte; Gemeinde Sulzberg: 1999; S. 44 ff Blumer, Jacques: Erfahrungen mit der Entwicklung neuer Wohnformen – Planungsprozeß, Architektur, Nutzerverhalten; in: Wüstenrot Stiftung (Hg.): Neue Wohnformen; Stuttgart, Kohlhammer 1999 Bohnsack Ralf: Dokumentarische Methode – Theorie und Praxis wissenssoziologischer Interpretation; in: Hug Theo (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen; Baltmannsweiler: Schneider, 2001 Bohnsack Ralf, Nentwig-Genemann Iris, Nohl Arnd-Michael (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis – Grundlagen qualitativer Sozialforschung; Opladen: Leske+ Budrich, 2001 Botton Alain de: Glück und Architektur – Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein; Frankfurt/M.: Fischer, 2010 Bourdieu Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen; Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 Bourdieu Pierre: Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Orig.: La distinction. Critique sociale du jugement; Paris 1979); Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987 Bourdieu Pierre: Homo Academicus; Frankfurt/M: Suhrkamp, 1988 (frz. Orig. 1984) Bourdieu Pierre (u.a.): Der Einzige und sein Eigenheim; Hamburg: VSA-Verlag, 1998 Bourdieu Pierre, Darbel Alain: Die Liebe zur Kunst – Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher; Konstanz: UVK, 2006 (orig. L’ amour de l’ art; Paris, 1966) Breuß Renate: Eine Schule des Geruchs/Volksschule in Doren; in: zuschnitt 15.2004: Wien, ProHolz Austria Breuß Renate (2006/1): Nah bei den Bäumen – Gespräch mit Markus Faißt; in: zuschnitt 23.2006, Wien: ProHolz Austria, S.7 Breuß Renate (2006/2): So wie die Weißtanne es will; zuschnitt 23.2006, Wien: ProHolz A., S. 18 f Breuß Renate, Metzler Klaus: Interview mit Anton Mohr; Werkraum-Zeitung Nr. 3, 2001, S. 10 f Brüderlin Markus: Kunstprodukt – Heimat; in: Köb Edelbert, Kunsthaus Bregenz (Hg.): Bau – Kultur – Region. Regionale Identität im wachsenden Europa – das Fremde (Symposiumsbericht); Bregenz: KUB, 1996; S. 33 ff Buchli Victor (Ed.): The material culture reader; Oxford: Berg, 2002 Bundesdenkmalamt, Abt. für Denkmalforschung (Hg.): Dehio-Handbuch, Die Kunstdenkmäler Österreichs: Vorarlberg; Wien: Anton Schroll, 1983 Bundesdenkmalamt, Landeskonservatorat für Vorarlberg in Zusammenarbeit mit der Landesinnung der Vorarlberger Tischler (Hg.): Historische Fenster in Vorarlberg; Bregenz: 2002 Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (Hg.): Standesregeln der Ziviltechniker; Wien: BIK, 2000 Bundschuh Werner: „Wir sind stolz darauf, daß wir eine Einheit bilden, wir fühlen uns als Individualität im Völkerleben!“ Vom „Alemannenmythos“ und seinen Auswirkungen; in: Pammer Michael (Hg.): Historicum; Linz: Herbst 2000, S. 14 Bürgi Daniel, Leuthold Ursula: Erarbeitung eines Marketingkonzepts für Graubündner Mondund Gebirgsholz; Diplomarbeit, Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur, 2007 Büssgen Antje: Glaubensverlust und Kunstautonomie; Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn; Heidelberg: Winter, 2006 Caminada Gion A.: Holzbau: Kriterien für die Systemwahl; Werkraum-Zeitung 3/2001, S. 5 Certeau Michel de: Kunst des Handelns; Berlin: Merve, 1988 (Orig.: L’ invention du quotidien. Arts de faire; Paris, 1980) Crary Jonathan: Aufmerksamkeit – Wahrnehmung und moderne Kultur; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002 (amerik. Orig.: 1999) Cufer Margarethe u.a. (Hg.): Meisterschule Roland Rainer; Wien: Springer, 1998

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Czaja Wojciech: Der Architekt als Sozialarbeiter; Der Standard 07. 07. 2007, S. A8 Delitz Heike, Fischer Joachim (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft – Theorien für die Architektursoziologie; Bielefeld: Transcript, 2009 Delitz Heike: Architektursoziologie; Bielefeld: Transcript, 2009 Diener, Herzog, Meili, deMeuron, Schmid, ETH-Studio Basel: Die Schweiz – Ein städtebauliches Porträt; Basel: Birkhäuser, 2006 Dietrich Helmut: Verdichtung von Stadtrandsiedlungen; Diplomarbeit TU Wien (Prof. Ernst Hiesmayr), 1985 Dillemuth Stephan: Old and New Monsters – The Academy and the Corporate Public; Manuskript eines Redebeitrags beim Symposium der IGBK „Reality Check – who is afraid of master of arts?“ Mainz, 2006 Döllgast Hans (1951/1): Alte und neue Bauernstuben; München: Bruckmann, 1951 (1. Aufl. 1937) Döllgast Hans (1951/2): Heitere Baukunst; München: Reindl, 1951 Döllgast Hans: Häuser Zeichnen; Ravensburg: Maier, 1957 Dreier Werner, Pichler Meinrad: Vergebliches Werben – Mißlungene Vorarlberger Anschlußversuche an die Schweiz und an Schwaben (1918–1920); Bregenz: Vorarlberger Autorengesellschaft, 1989 Düllo Thomas: Material Culture – zur Neubestimmung eines zentralen Aufgaben- und Lernfeldes für die Angewandten Kulturwissenschaften; Habilitationsvortrag Universität Magdeburg, 2008 Durkheim Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981 (Orig.: Paris: Alcan, 1912) Dworzak Hugo: Was Gott durch einen Berg getrennt... (Text der Eröffnungsansprache der Ausstellung „Austria West“); Dornbirn, 12. 12. 2003 Eberl Winfried: Der Weg des Baumes vom Wald zum Werkstoff Holz; in: zuschnitt 8.2002, S. 11 Eberle Dietmar: Das Handwerk der Architektur; in: Natter, Pfanner (Hg.): Architectura Practica – Barockbaumeister und moderne Bauschule aus Vorarlberg; Bregenz: Vorarlberger Landesmuseum, 2006 Eisinger Angelus, Schneider Michel, Avenir Suisse (Hg.): Stadtland Schweiz – Untersuchungen und Fallstudien zur räumlichen Struktur und Entwicklung in der Schweiz; Basel: Birkhäuser, 2003 Eisterer Eduard: Die geographische Sonderstellung Vorarlbergs in Österreich; in: Vorarlberger Lehrerzeitung Nr. 1/1978;Katholischer Lehrerverein Vorarlbergs (Hg.); Feldkirch: Teutsch, 1978 Elser Oliver: Ausstellung mit schwerer Identitätskrise – Was will die Avantgarde in der alten Stadt?; in: Der Standard, 11.09.2004 Eschenlohr Falko: Stopp in Langenegg; in: Mikado 7/2005 (S. 32 ff). Kissing: WEKA Europäische ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung: Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa; www.landentwicklung.org (download 14.10.2009) Evans Robin: Menschen, Türen, Korridore; in: Arch+ 134/135 (1996), S. 85 ff Fabach Robert, Vorarlberger Architekturinstitut (Hg.): Architekturland Vorarlberg; Bregenz: Vorarlberg Tourismus, o.J. Fabach Robert: Bau, Kunst, Energie und Effizienz-Verhältnisse; in: Kultur; Dornbirn, April 2004 Fabach Robert: Ländliche Urbanität?; in: Kultur; Dornbirn, Februar 2004 Fabach Robert: Zwischen Weltmeister und Kistenkrise: Der Versuch einer Situationsbeschreibung der Architektur in Vorarlberg; in: Kultur; Dornbirn, Oktober 2003 Fabach Robert: Über nahe Liegendes und fern Gesehenes (Temporäres Werkraum-Gebäude Andelsbuch); in: Kultur; Dornbirn, November 2003 Fabach Robert: Vision Rheintal; in: Kultur; Dornbirn, Juni 2004 Felder Franz Michael: Aus meinem Leben; Bregenz: Libelle, 2004 (urspr. 1868) Feurstein Eva Maria: Wälderspitz; Hohenems: Bucher, 2007 Feurstein Helmut: Raumplanung und Baugestaltung; in: Gemeinde Schwarzenberg (Hg.): Schwarzenberger Heimatbuch, 2000; S. 22 ff Fink Walter: Architekturstreit im Montafon; Vorarlberger Nachrichten (VN), 25. 05. 2005

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Fischer Susanne: Blätter von Bäumen; München: Hugendubel, 1980 Forster Kurt W.: Engadiner Häuser, in: Philip Ursprung: Herzog & DeMeuron – Naturgeschichte; Baden: Lars Müllers, 2002; S. 349 Frampton Kenneth: Grundlagen der Architektur – Studien zur Kultur des Tektonischen; München: Oktagon, 1993 Frisch Max: Der Laie und die Architektur – Ein Funkgespräch (1954); in: Max Frisch, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge; Frankfurt/M., Suhrkamp Frisch Max, Burckhardt Lucius, Kutter Markus: achtung: Die Schweiz. Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat (1954); in: Max Frisch, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge; Frankfurt/M., Suhrkamp Frühsorge Gotthard: Die Kunst des Landlebens. Vom Landschloß zum Campingplatz. Eine Kulturgeschichte; München: Köhler+Amelang, 1993 Funk, Marx: Ziviltechnikerurkunden im Verwaltungsverfahren; in: Österreichische Juristenzeitung, Heft 14–15, 5. August 2002 Füßl Peter: Interview mit den Baukünstlern Hans Purin und Roland Gnaiger; in: Kultur Nr. 1, Dornbirn, 1992; S. 10 ff Gaenßler, Kurrent, Nerdinger, Peter/BDA, TUM (Hg.): Hans Döllgast 1891–1974; München: Callwey, 1987 Gantenbein Köbi: Die Tradition ist tot und muß gerettet werden; in: Werkraum-Zeitung Nr. 4 (2002), S. 3 Gebhard Helmut, Frei Hans (Hg.): Bauernhäuser in Bayern, Bd. 7: Schwaben; Kreuzlingen: Heinrich Hugendubel, 1999 Gemeinde Trogen/Stiftung Kinderdorf Pestalozzi: Programm Studienauftrag Boden/Büel/Unterstadel; St. Gallen: Strittmatter Partner AG, 2010 Gemeinnützige Vorarlberger Architektur Dienstleistung GmbH (Hg.): Wohnbauforum Script 2002 „Zukunft des Wohnens“; Dornbirn, Vorarlberger Architekturinstitut 2003 Dies.: Wohnbauforum Script 2003 „Wohnen und Wert“; Dornbirn, Vorarlberger Architekturinstitut 2004 Dies.: Wohnbauforum Script 2004 „Wohnen & ... Leben“; Dornbirn, Vorarlberger Architekturinstitut 2005 Gentner Monika: Architekturjounalisten rennen heute um ihr Leiberl; in: konstruktiv 265, Januar/Februar 2008, S. 13 ff Giedion Sigfried: Die Herrschaft der Mechanisierung – Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (Orig.: Mechanization Takes Command; Oxford 1948) Frankfurt/M: Europ.Verlagsanstalt, 1982 Giedion Sigfried: Raum, Zeit, Architektur – Die Entstehung einer neuen Tradition; (Orig.: Space, Time and Architecture; Cambridge 1941); Ravensburg: Otto Maier, 1965 Giencke Volker: Text zur Preisverleihung Holzbaupreis 2004 / Studentenwettbewerb „warpvisions“ in Schwarzenberg; in: zuschnitt 13/2004: Wien, ProHolz Austria Gleiter Jörg H.: Finsternismomente; ach Nr. 25, 2007 Gnaiger Roland, Stiller Adolph (Hg.): Möbel für Alle – Designinitiative Werkraum Bregenzerwald (Ausstellungskatalog); Salzburg: Pustet, 2002 Gnaiger Roland (2009/1): Die Mühen langer Märsche. Beobachtungen zum Vorarlberger Holzbaupreis 2009; in: Vorarlberger Graphische Anstalt Eugen Ruß & Co (Hg.): Stadt, Land, Holz: Holzbaupreis 2009; Schwarzach, 2009; S. 4 Gnaiger Roland (2009/2): Weites Feld und bunte Wiesen; in: Verein LandLuft (Hg.): LandLuft Baukultur-Gemeindepreis 2009; Wien, 2009; S. 10 Gögl Hans-Joachim, Landschaft des Wissens –Verein zur Förderung der Wissenschaft,Wirtschaftskultur und Regionalentwicklung (Hg): Strategien des Handwerks; Bern: Haupt, 2005/2 Gögl Hans-Joachim, Kittinger Josef: Tage der Utopie – Entwürfe für eine gute Zukunft. Tagungsband 2007; Hohenems: Bucher, 2007 Götzger Heinrich, Prechter Helmut: Das Bauernhaus in Bayrisch-Schwaben; München: Callwey, 1960

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Gorz André: Auswege aus dem Kapitalismus – Beiträge zur politischen Ökologie; Zürich: Rotpunkt, 2009 (frz. Original: „Écologica“, Paris: Éditions Galilée, 2008) Grabher Herbert: 01.10.1972: Neues Vorarlberger Baugesetz; in: Österreichische Bauzeitung Nr. 42, 14.10.1972, S. 1572 ff Greber Gebhard: Die Südtiroler Umsiedler in Vorarlberg; in: Montfort 4/1979, Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, S. 259 Greussing Kurt (Hg.): Im Prinzip: Hoffnung – Arbeiterbewegung in Vorarlberg 1870–1946; Bregenz: Fink, 1984 Greussing Kurt: Creative Industries in Vorarlberg (unveröffentlichte Studie) o.J. (ca. 2005) Greussing Kurt: Wie die Kuh zur Sau gemacht wird – AgroSAUrier, EU-Agrarpolitik und Weltkulturerbe Bregenzerwald; in: Kultur 4/2007, S. 14 f Gronegger Thomas: Roma Decorum – Gestaltungsprozesse im Baukörper; Salzburg: Pustet, 2000 Grüne Bildungswerkstatt (Hg.): 20 Jahre Grünes Vorarlberg; Bregenz: Eigenverlag, 2004 Haas Friedl: Das Montafonerhaus und sein Stall; Montafoner Schriftenreihe 3; Schruns: Heimatschutzverein im Tale Montafon, 2001 Habermas Jürgen: Moderne und postmodere Architektur; Rede zur Ausstellungseröffnung von „Die andere Tradition – Architektur in München 1800 bis heute“, veröffentlicht im gleichnamigen Katalog; München: Callwey, 1981, S. 8 ff Häusler Wolfgang, Hypothekenbank Vorarlberg (Hg.): Gemeinsam Bauen. Beispiele verdichteter Bauweise in Vorarlberg; Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, 1984 Heidegger Martin: Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen; Marbach: Deutsche Schillergesellschaft, 2005 Hell Bodo: Beispiele bäuerlicher Lignoglossie; in: zuschnitt 16.2004, S.15 Helferich Silke, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat; Bielefeld: Transcript, 2012 Hermann Isabell, Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (Hg.): Die Bauernhäuser beider Appenzell; (Bd.31 der Reihe „Die Bauernhäuser der Schweiz“); Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 2004 Herrmanns Henner: Über den profanen Umgang mit sakraler Architektur; in: Raum & Ritus, Magazin für Theologie und Ästhetik 46/2007 Hiesmayr Ernst (1991/1): Analytische Bausteine; Wien: Löcker, 1991 Hiesmayr Ernst (1991/2): Einfache Häuser; Wien: Löcker, 1991 Hiesmayr Ernst (1991/3): Von der „Neuen Einfachheit“ zu einer „Neuen Lebensweise“; in: Gedenkschrift Wolf Juergen Reith (Hg. Broggi, Mario F.); Schaan: Binding-Stiftung, 1991 Hiesmayr Ernst: Eine neue Tradition. 240 Jahre Handwerker- und Gewerbezunft Egg-Großdorf; Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, 1995 Höhns Ulrich: Grenzenloser Heimatschutz 1941. Neues, altes Bauen in der „Ostmark“ und der „Westmark“; in: Lampugnani Vittorio Magnago: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Bd. 1: Reform und Tradition (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt/M.); Stuttgart: Hatje, 1992; S. 283 Hoffmann-Axthelm Dieter: Über die Zuständigkeit des Architekten und den Gebrauchswert der Architektur; in: CENTRUM Jb. Architektur und Stadt; Braunschweig: Vieweg, 1995; S. 8 ff Hofreither Markus: Agrarproduktion, Handelsordnung und Umwelt; in: Schweizerische Gesellschaft für Agrarwirtschaft und Agrarsoziologie (Hg.): Multilateralismus und Bilateralismus: Perspektiven für die Schweiz und ihre Landwirtschaft (Tagungsband); Zürich 2005 Holzmüller Walter: Der feine Unterschied oder der neue und der alte Fehler; in: Vorarlberger Autorenverband (Hg.): Frauenzimmer; Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, 1984 Hüter Karl-Heinz: Das Bauhaus in Weimar; Berlin (DDR): Akademie-Verlag, 1976 Hüter Karl-Heinz: Sprache des Neuen Bauens; urspr. in: form + zweck 3/1981; überarb. in: Lüder Dagmar (Hg.): Das Schicksal der Dinge, Beiträge aus form + zweck; Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1989; S. 134 Hüter Karl-Heinz: Neues Bauen in Magdeburg; urspr. in: form + zweck 2/1983; überarb. in: Lüder

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Literaturverzeichnis

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Dagmar (Hg.): Das Schicksal der Dinge, Beiträge aus form + zweck; Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1989; S. 104 Ilg Karl: Landes- und Volkskunde, Geschichte, Wirtschaft und Kunst Vorarlbergs; (Bd. 1–4) Innsbruck: Wagner, 1961–68 Jahoda M., Lazarsfeld P., Zeisel H.: Die Arbeitslosen von Marienthal – Ein soziographischer Versuch; Leipzig: Hirzel, 1933 (1. Aufl.); Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1975 Johann Elisabeth: Mythologie des Waldes; in: zuschnitt 8/2002, Wien: proHolz Austria, S. 9 f Johler Reinhard: Mir parlen Italiano und spreggen Dütsch piano: Italienische Arbeiter in Vorarlberg (1870–1914); Feldkirch: Rheticus-Ges., 1989 Johler Walter: Architekt Alfons Fritz (1900–1933) dem Bregenzerwälder Baukünstler zum 100. Geburtstag, in: Bregenzerwald-Heft Jg. 19/2000; Alberschwende: Heimatpflegeverein Bregenzerwald Juen-Rohner Elisabeth: Gemeinsam wohnen; in: Vorarlberger Autorenverband (Hg.): Frauenzimmer; Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, 1984 Kaiser Gabriele: Von der Hand in den Kopf und im Blick das Ganze – Die Handwerkskultur der Familie K.; in: zuschnitt 26/2007, Wien: proHolz Austria, S. 10 Kapfinger Otto: Laudatio Vorarlberger Baukünstler 18. 12. 1991; in: Kultur Nr. 1/1992, S. 4 Kapfinger Otto, Kunsthaus Bregenz, Vorarlberger Architekturinstitut (Hg.): Baukunst in Vorarlberg seit 1980. Ein Führer zu 260 sehenswerten Bauten; Ostfildern: Hatje, 1999 Kapfinger Otto: Lebens- und Patinafähigkeit im Holzbau; in: zuschnitt 4.2001, S. 14 ff Kapfinger Otto, Architekturforum Tirol (Hg.): Bauen in Tirol seit 1980. Ein Führer zu 260 sehenswerten Bauten; Salzburg: Pustet, 2002 Kapfinger Otto (2003/1): Sutterlüty Markt in Weiler (A); in: zuschnitt 10.2003, Wien: proHolz Austria Kapfinger Otto, Vorarlberger Architekturinstitut (Hg.) (2003/2): Konstruktive Provokation – Neues Bauen in Vorarlberg; Salzburg: Pustet, 2003 Kapfinger Otto (2003/3): Bauen in Vorarlberg – Was steht an? Impulsreferat zu der vom ORFLandesstudio veranstalteten, von Walter Fink moderierten Diskussion am 06. 11. 2003 im Bertolini-Haus, Dornbirn; Manuskript Kapfinger Otto (Hg.): Hermann Kaufmann – Wood Works – Ökorationale Baukunst; Wien: Springer, 2009 Kapfinger Otto: Hans Purin – Baukünstler 1933–2010 – Eine Würdigung; in: konstruktiv 278, Juli 2010, S. 41 Kirmeier, Kramer, Lankes, Brockhoff (Hg.): Bayerns Weg in die Moderne – Bayerisches Handwerk 1806 bis 2006 (Ausstellungskatalog Deutsches Museum München); Augsburg: Haus der Bayerischen Geschichte, 2006 Klemm Heiner F. (Hg.): Im Schatten des Schönen: Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten; Bielefeld: Aisthesis, 2006 Klingholz Rainer: Herr Minister, wir schrumpfen! Plädoyer für eine neue Demographiepolitik; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.06.2009; S. 31 Köb Edelbert, Kunsthaus Bregenz (Hg.): Bau – Kultur – Region. Regionale Identität im wachsenden Europa – das Fremde (Symposiumsbericht); Bregenz, KUB 1996 Köfler Gretl: Vielfalt als Corporate Design – Marketingkonzepte der Tiroler Supermarktkette M-Preis; Deutsche Bauzeitung, 06.07.2006 Kräftner Johann: Naive Architektur in Niederösterreich; St. Pölten: Nö. Pressehaus, 1977 Kräftner Johann: Naive Architektur II – Zur Ästhetik ländlichen Bauens in Niederösterreich; St. Pölten: Nö. Pressehaus, 1987 Kramer Ferdinand: Funktionelles Wohnen; urspr. in: form + zweck 4/1980; überarb. in: Lüder Dagmar (Hg.): Das Schicksal der Dinge, Beiträge aus form + zweck; Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1989; S. 74 Krammer Josef, Scheer Günter: Die Veränderung der Landschaft durch Wirtschaft, Technik und Politik; in: Achleitner (1977), S. 111

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Kühn Christian: Kein Geruch nach Gummi; Die Presse, 30.09.2006, Spectrum, S. IX Kühne Josef: Agrarstruktur – Raumordnung, Agrarstrukturelle Rahmenplanung durch Bodenreformationen, 15 Jahre Bäuerliches Siedlungsgesetz und Bäuerlicher Siedlungsfonds in Vorarlberg; Wien: Springer, 1975 Kurrent Friedrich: Einige Häuser, Kirchen und dergleichen; Salzburg: Pustet, 2001 Kurrent Friedrich: Texte zur Architektur; Salzburg: Pustet, 2006 Kurrent Friedrich: Aufrufe – Zurufe – Nachrufe; Salzburg: Müry-Salzmann, 2010 Kurrent Friedrich: Zur Gründungsgeschichte der Österreichischen Gesellschaft für Architektur; in: www.oegfa.at Lampugnani Vittorio Magnago (Hg.): Lexikon der Architektur des 20. Jahrhunderts; Stuttgart: Hatje, 1983 (1. Aufl.) Lampugnani Vittorio Magnago: Vorwort zu: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Bd. 1: Reform und Tradition (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt/M.); Stuttgart: Hatje, 1992; S. 9 Lang Maria-Rosa: Handwerk & Form – Nachlese; in: Andelsbuch informiert, Dez. 1991, S. 18 ff Leeb Franziska: Coole Hunde – arme Schlucker. Die Lage der Architekten: prekär. Die der Architektinnen: ein erschütterndes Sittenbild. Eine Studie hat das Berufsfeld Architektur unter die Lupe genommen; Die Presse, 16. 02. 2008, Spectrum, S. XI Lehrerarbeitskreis „Heimatkunde im Unterricht“: Land Vorarlberg – eine Dokumentation; Bregenz: Ruß, 1988 Lieb Norbert, Dieth Franz: Die Vorarlberger Barockbaumeister; München: Schnell & Steiner, 1960; 2. Aufl. 1967 Lingenhöle Walter: Vorarlberg; Innsbruck: Pinguin, 1983 Lins Guntram: Ansprache zur Verleihung des Internationalen Kunstpreises des Landes Vorarlberg an die Gruppe Vorarlberger Baukünstler im Dez. 1991; in: Kultur Nr. 1; Dornbirn: 1992, S. 8 f Lissenko Lew Michailowitsch: Die russische Holzbaukunst; München: Callwey, 1989 List Elisabeth: Die gesellschaftliche Orientierung der Kulturwissenschaften; in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Band II, Stuttgart: Metzler, 2004, S. 41 Loos Adolf: Sämtliche Schriften (Ins Leere Gesprochen 1897–1900/Trotzdem 1900–1939); Wien: Herold, 1962 Lowenstein Oliver: Architecture in Scotland 2006–2008 – Building Biographies; Glasgow: The Lighthouse, 2008 Lowenstein Oliver: A tale of two regions: Vorarlberg and Graubünden. The Alpine sources of a new architectural regionalism; in: Fourth Door Review 8, Lewes: Hyacinth House, 2009; S. 38 Lowenstein Oliver: Kaufmann Country; in: Fourth Door Review 8, Lewes: Hyacinth House, 2009; S. 94 Lustenberger Kurt: Der Schnitt durch den Plan; in: Werk, Bauen+Wohnen 12/1995. Maak Niklas: Neuigkeiten aus der Vergangenheit der Zukunft – Was können wir heute von den Utopien der sechziger Jahre lernen? Die Ausstellung „Megastructure reloaded“ in Berlin entdeckt Raumkünstler wie Eckhard Schulze-Fielitz und Gordon Matta-Clark neu; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2008, S. 40 Maeder Herbert (Hg.): Das Land Appenzell; Olten: Walter, 1977 Mangold Marina: Neues Bauen in Vorarlberg – Ein Brückenschlag zwischen traditioneller Einfachheit und lebensbezogener Moderne (Diplomarbeit); Wien: Akademie der Bildenden Künste, Institut für Lehramtsstudien, Fach: Werkerziehung 2004 Matzig Katharina: Urlaub vom schlechten Stil – Ferienhäuser waren lange Zeit wie Abstellkammern, inzwischen setzt man auch hier auf gute Architektur; Süddeutsche Zeitung, 25. 06. 2009, S. 32 Mätzler Igor, Merz Susanne: Die Entstehung der Vorarlberger Bauschule; Analyse am Inst. für Gebäudelehre und Entwerfen, Prof. Arch. Anton Schweighofer, TU Wien, 1986 Mayr Christine: Streifzug durch die Wohnlichkeit. Mit Blick auf die Siedlung Im Fang, Höchst, Vorarlberg; Diplomarbeit Fachhochschule Augsburg, Studiengang Architektur o.J. (ca. 1997)

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Mitscherlich Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte – Anstiftung zum Unfrieden; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1965 Moos Stanislaus von: Die zweite Entdeckung Amerikas – Zur Vorgeschichte von „Mechanization Takes Command“; Nachwort in: Sigfried Giedion: „Die Herrschaft der Mechanisierung“; Frankfurt/M.: Europ.Verlagsanstalt, 1982 Moosbrugger Mathias: Die Etablierung institutionalisierter Kirchlichkeit im Hinteren Bregenzerwald des Mittelalters – Formende Kräftefelder und Strukturen; in: Montfort 3/2009, Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, S. 163 Morak Franz: Eröffnungsansprache zur Ausstellung „Austria West: New Alpine Architecture“, Österreichisches Kulturforum New York, 24.06.2004, Manuskript Moser Oskar: Bautradition und Zentraldirigismus in der jüngeren historischen Entwicklung unserer Hauslandschaften; in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, CXXI. Band, S. 11; Wien: Ferdinand Berger und Söhne, 1991 Münz Rainer: Bevölkerungsentwicklung im 21. Jahrhundert; in: Gemeinnützige Vorarlberger Architektur Dienstleistung GmbH (Hg.): Wohnbauforum Script 2002; Dornbirn: Vorarlberger Architekturinstitut, 2003 Natter Tobias (Hg.): „Kanton Übrig“. Als Vorarlberg zur Schweiz gehören wollte (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum Bregenz 2009); Bregenz: Vorarlberger Landesmuseum, 2009 Natter Tobias, Pfanner Ute (Hg.): Architectura Practica – Barockbaumeister und moderne Bauschule aus Vorarlberg; Bregenz: Vorarlberger Landesmuseum, 2006 Nerdinger Winfried (Hg.): Architekturschule München 1868–1993 – 125 Jahre Technische Universität München; München: Klinkhardt & Biermann, 1993 Nerdinger Winfried (Hg.): Neue Architektur in Augsburg und Umgebung; Exkursionsführer Baumeister 10; München: Callwey, 1995 Nerdinger Winfried: Die Verdrängung der Geschichte – Walter Gropius als Architekturlehrer; Vortragstext 2004 Nerdinger Winfried (Hg.): 100 Jahre Deutscher Werkbund 1907–2007; München: Prestel, 2007 Niederstätter Alois: 250 Jahre Schwarzenberg Zum Hof 1755–2005; Gemeinde Schwarzenberg: 2005 Niederstätter Alois: Evangelische Kirchen in Vorarlberg; Bregenz: Evang. Pfarrgemeinde, 2010 Nußbaumer Peter (Hg.): Planungsempfehlung für Neu- und Umbauten von Objekten in der Gemeinde Langenegg: Langenegg, 2002 Oechslin Werner (Hg.): Die Vorarlberger Barockbaumeister (Katalog); Einsiedeln: Benzinger, 1973 Oechslin Werner: „Materialvision“: die Moderne ein Form- oder ein Bauproblem?; in: Daidalos Nr. 56, Juni 1995; S. 64–73 Ottillinger Eva B. (Hg.): Wohnen zwischen den Kriegen – Wiener Möbel 1914 bis 1941; Wien: Böhlau, 2009 Pallasmaa Juhani: The thinking hand – Existential and Embodied Wisdom in Architecture; Chichester: Wiley, 2009 Peer Johann, Gemeinde Langenegg (Hg.): Dokumentation über die Kulturlandschaften, Stand Frühjahr 2002; Gemeinde Langenegg, 2002 Peer Johann: Holzschutz an den Bauernhäusern des Bregenzerwaldes: in: zuschnitt 12/2006, S. 4 ff Pehnt Wolfgang: Kirchen auf Abbruch; Vortrag bei der Evang. Akademie Recklinghausen; www.evakre.de/archiv/pehnt-vortrag%20drohende%20verluste.pdf Perger Josef, Caminada Gion A.: Autarkie in einem offenen Netz; in: Gögl Hans-Joachim, Kittinger Josef: Tage der Utopie – Entwürfe für eine gute Zukunft. Tagungsband 2007; Hohenems: Bucher, 2007 Pias Claus: Triumph der Gleichform – Gut ist, was zusammenpaßt: Ernst Neufert fand das Maß aller Dinge; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.1994 Pichler Meinrad: Bauen um jeden Preis – Dipl. Ing. Alois Tschabrun (1900–1994) und die Selbsthilfe; in: Quergänge – Vorarlberger Geschichte in Lebensläufen; Hohenems: Bucher, 2007

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Podbrecky Inge, Franz Rainald (Hg.): Leben mit Loos (Schriften des Verbands österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, Bd. 3); Wien: Böhlau, 2008 Posener Julius: Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur I: Die moderne Architektur (1924–1933); ARCH+48, Aachen, 1979 Posener Julius: Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur II: Die Architektur der Reform (1900–1924); ARCH+53, Aachen, 1980 Pöttler Viktor Herbert: Freilichtmuseen – Archive der Hausforschung; in: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, CXXI. Band, S. 23; Wien: Ferd. Berger und Söhne, 1991 Prechter Günther (Hg.): Vorläufer; Architekturhistorische Loseblattsammlung; Augsburg, 1996 Prechter Günther: Raumkonzepte der Moderne; Augsburg, 1997 Prechter Günther: Auch geniale Liberos können daneben schießen – Was man nicht in den Beinen hat, muß man im Kopf haben: Die fatalen Umbaupläne für das Münchner Olympiastadion; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.2000, S. 51 Prechter Günther: Wo sich Berlin barock gibt – Architektur befreit sich aus der Falle der Moderne – Zu den Hauptstadt-Bauten von Frank Gehry und Daniel Libeskind; Süddeutsche Zeitung, 15./16.04.2000, S. III Prechter Günther: Auf den Spuren Michelangelos – Vergessene Sprache des bauplastischen „Decorum“: Die Ausstellung „Groneggers Werkstatt“; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.2001, S. 47 Prechter Günther: Der Berg ruft – Dem einen die Kiste, dem andern versteinertes Haupt: Salzburger Zaudern um ein Museum der Moderne; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2001, S. 52 Prechter Günther: Möbel für Alle; zur gleichnamigen Ausstellung der „Designinitiative Werkraum Bregenzerwald“ im Ringturm, Wien; für die Frankfurter Allgemeine Zeitung; unveröffentlicht, 2002 Prechter Günther: Bauen als Choral der Welt – Schöner meditieren: Vor fünfzig Jahren schuf Le Corbusier das Kloster La Tourette; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.04.2003, S. 42 Prechter Günther: Wellen schlagen für Kulturen – Westöstliches Schatzhaus: Die neueröffnete „Maria-Biljan-Bilger-Halle“ in Sommerein; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2004, S. 42 Prechter Günther: Ufo am Rheintalhang; Magazin der Vorarlberger Nachrichten, 03.12.2004, S. 7 Prechter Günther: Evangelisches Pfarrhaus der Kreuzkirche am Ölrain; in: Robert Fabach (Hg.): Konstruktive Provokation – Ausfahrten, Entstehung und Schlüsselbauten der Vorarlberger Baukultur seit 1960 (Exkursionsführer); Bregenz 2005, S. 4 Prechter Günther: Holzbau im öffentlichen Raum; Vortragsmanuskript, Regionaler Holzbautag Bad Tölz, 2008 Prechter Günther: Architektur im Modernisierungsprozeß des ländlichen Raumes; Vortragsmanuskript, Abstractband der Tagung des Nachwuchsnetzwerks Stadt – Raum – Architektur; ETH Zürich, 2010 Prechter Günther: Architektur im Kunstunterricht – Handlungsspielräume für die Unterrichtspraxis aus sozialwissenschaftlicher Perspektive; Vortragsmanuskript Lehrgang „Architektur und Gestaltungskompetenz“, Akademie Dillingen, 2011 Prechter Günther: Contemporary exchange processes between architectonic and vernacular building in the rural environment; Vortragsmanuskript Tagung „Alltagsarchitektur/Contemporary Vernacular“ der AG Architektursoziologie, TU Wien, 2011 Prechter Günther: Architektur als soziale Praxis|Gespräche; Bregenz: Eigenverlag, 2012 Purin Hans: Mit Wohnungen soll man keine Architektur machen; in: Gemeinnützige Vorarlberger Architektur Dienstleistung GmbH (Hg.): Script Wohnbauforum 2004 „Wohnen & ... Leben“; Dornbirn, 2004; S. 14 Radtke Frank-Olaf: Wiederaufrüstung im Lager der Erwachsenen: Bernhard Buebs Schwarze Pädagogik für das 21. Jahrhundert; in: Micha Brumlik (Hg.): Vom Mißbrauch der Disziplin; Weinheim: Beltz, 2007; S. 204 Rainer Roland: Ebenerdige Wohnhäuser; Wien: Berglandverlag, 1948

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Rainer Roland: Anonymes Bauen Nordburgenland; Salzburg, Verlag Galerie Welz, 1961 Rainer Roland: Anonymes Bauen im Iran; Graz: Akad. VA, 1977 Rainer Roland: Bauen und Architektur; Graz: Akad. VA, 1980 Rainer Roland: Baukultur, Landschaft, Ortsbild, Stadtbild; Wien: Böhlau, 1990 Rainer Roland: Vitale Urbanität: Wohnkultur und Stadtentwicklung; Wien: Böhlau, 1995 Rambow Riklef: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur; Münster: Waxmann, 2000 Raspotnig Paul: Planungsbegutachtung durch Gestaltungsbeiräte – Das Salzburger Modell und seine Nachfolger in Österreich; Dissertation TU Wien, Fakultät für Architektur und Raumplanung, 2007 Reichenbach-Klinke Matthias (Hg.): Architektur macht Gäste – Das Montafon auf der Suche nach Identität – Zeitgemäße und ortsgerechte touristische Entwicklung im alpinen Raum: Unterlagen zum Semesterentwurf 2007/08 an der Technischen Universität München, Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum Reichardt Sven, Siegfried Detlef: Das alternative Milieu – Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983; Göttingen: Wallstein, 2010 Reichlin Bruno: Die Moderne baut in den Bergen; in: Mayr-Fingerle Christoph (Hg.): Neues Bauen in den Alpen, Architekturpreis 1995; Basel: Birkhäuser, 1996 Reichlin Bruno, Steinmann Martin: Die Architektur der Landschaft; in: Friedrich Achleitner: Die Ware Landschaft; Salzburg: Residenz, 1977; S. 49 ff Rentsch Hans, Avenir Suisse (Hg.): Der befreite Bauer – Anstöße für den agrarpolitischen Richtungswechsel; Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2006 Rentsch Hans, Baur Priska, Avenir Suisse (Hg.): Agrarpolitische Mythen – Argumente zur Versachlichung der Debatte; Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2008 Republik Österreich: Einreichung der Kulturlandschaft Bregenzerwald für die Aufnahme in die Welterbeliste; REGIO Bregenzerwald, 2006 Roesler Sascha: Von Baukulturen und architektonischen Milieus – Ausstellung und Katalog „Konstruktive Provokation“ zur Vorarlberger Architekturszene im Kunsthaus Bregenz; in: Werk, Bauen+Wohnen 5/2005; Zürich: Verlag Werk AG, S. 70 Rudigier Andreas: Heimat Montafon. Eine Annäherung; Schruns: Heimatschutzverein Montafon, 2007 Rüdisser Elisabeth: Übers Planen nachdenken; in: Vorarlberger Autorenverband (Hg.): Frauenzimmer; Dornbirn: Vorarlberger Verlagsanstalt, 1984 Rukschcio Burkhardt, Schachel Roland: Adolf Loos – Leben und Werk; Salzburg: Residenz, 1982; Sagmeister Rudolf, Sagmeister-Fox Kathleen, Raiffeisenwerbung Vorarlberg (Hg.): Impressionen vom Bauen und Wohnen – Bauen und Wohnen in Vorarlberg seit dem Mittelalter (Ausstellungskatalog); Bregenz: 1987 Sagmeister Rudolf, Sagmeister-Fox Kathleen: Holzbaukunst in Vorarlberg (Katalog); Bregenz, Eugen-Ruß-Verlag 1990 Schadewaldt Wolfgang (Hg. Schudoma Ingeborg): Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, Tübinger Vorlesungen, Bd. 1; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978 Schall Karl: Feuersteine. Jugendprotest und kultureller Aufbruch in Vorarlberg nach 1970; Bregenz: Vorarlberger Autorengesellschaft, 2007 Schauer Rainer: Braucht der Urlauber Geranien am Balkon? – In Vorarlberg protestieren Montafoner Hoteliers gegen eine angeblich tourismusfeindliche moderne Architektur; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 06. 2005, S. R7 Scheidl Hans Werner: Ein kühnes Experiment der „Proleten“. Das „Rote Wien“. Pragmatismus und Ideologie als Weg aus der Katastrophe nach 1918; Die Presse 17.06.2010, S. 28 Schiller Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen; in: Sämtliche Werke Bd. 8, S. 305 ff; Berlin: Aufbau, 2005 Schipflinger Thomas, Gemeinde Langenegg (Hg.): Leben in Langenegg; Langenegg: 2000 Schürer Oliver, Helmut Gollner (Hg.): Berufsfeld Architektur 1.0 – Bestandsaufnahme und Zeitdiagnose; Wien: Lit Verlag, 2008

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Schütte Ulrich: Architekturwahrnehmung, Zeichensetzung und Erinnerung in der Frühen Neuzeit – Die architektonische Ordnung des „ganzen Hauses“; in: Tausch Harald (Hg.): Gehäuse der Mnemosyne; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 Schütte-Lihotzky Margarete: Die Wohnung für die alleinstehende berufstätige Frau; urspr. in: form + zweck 2/1984; überarb. in: Lüder Dagmar (Hg.): Das Schicksal der Dinge, Beiträge aus form + zweck; Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1989 Schwarz Rudolf (1953/1): „Bilde Künstler, rede nicht“; in: Alfons Leitl (Hg.): Baukunst und Werkform Heft 1, Frankfurt/M.: 1953, S. 9 Schwarz Rudolf (1953/2): Was dennoch besprochen werden muß; in: Alfons Leitl (Hg.): Baukunst und Werkform Heft 1, Frankfurt/M.: 1953, S. 191 Sedlaczek Robert: Das österreichische Deutsch; Wien: Ueberreuter, 2004 Seifert Alwin: Im Zeitalter des Lebendigen; Planegg: Müller, 1941 Seifert Alwin: Das echte Haus im Gau Tirol-Vorarlberg. Eine Untersuchung über Wesen und Herkunft des alpenländischen Flachdachhauses und die Grundsätze einer Wiedergeburt im Geiste unserer Zeit; Innsbruck: NS-Gauverlag Tirol-Vorarlberg, 1943 Seifert Alwin: Ein Leben für die Landschaft; Düsseldorf: Diederichs, 1962 Selle Gert: Ideologie und Utopie des Design. Zur gesellschaftlichen Theorie der industriellen Formgebung; Köln: M. DuMont Schauberg, 1973 Selle Gert: Design-Geschichte in Deutschland. Produktkultur als Entwurf und Erfahrung; Köln: DuMont, 1987 Selle Gert: Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wohnens; Frankfurt/M.: Campus, 1993 Sennett Richard: Handwerk; Berlin: Berlin Verlag, 2008 (Orig. The Craftsman, New Haven: Yale University Press, 2008) Steeger Frank: Der Referentenentwurf zur neuen HOAI und seine Konsequenzen; Baukultur Ausgabe 3; Berlin 2008 Steger Bernhard: Gemeinsam Bauen; in: Architektur & Bauforum Nr. 21/2006 Steger Bernhard (2007/1): Vom Bauen – Zu Leben und Werk von Ottokar Uhl; Wien: Löcker, 2007 Steger Bernhard (2007/2): Schluß mit Wohnbau!; in: Architektur & Bauforum Nr. 6/2007 Steiner Christian: Handwerk oder Design?; in: Werkraum-Zeitung Nr. 2 (2000), S. 5 Steiner Dietmar: Siedlung „Im Fang“, Höchst, Vorarlberg 1978–79; in: Becker Annette, Steiner Dietmar, Wang Wilfried (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert – Österreich; München: Prestel, DAM Frankfurt/M., AZ Wien, 1995 Strasser Peter: Eine konstruktive Provokation: Die Halde in Bludenz im Pariser Palais de la Porte Dorée. Zur Präsentation moderner Architektur aus dem Bezirk Bludenz in der Vorarlberger Architekturausstellung in Frankreich – einige Bemerkungen; in: Geschichtsverein Region Bludenz (Hg.): Bludenzer Geschichtsblätter, Heft 71 (2004), S. 76 ff Sutterlüty Georg (Hg.): Ruf aus Vorarlberg um Gleichberechtigung. Politik in Vorarlberg vor 1918; Regensburg: Roderer, 2002 Swoboda Otto: Alte Holzbaukunst in Österreich Bd. 1; Salzburg: Müller, 1975 Swoboda Otto: Alte Holzbaukunst in Österreich Bd. 2; Salzburg: Müller, 1978 Swoboda Otto: Alte Holzbaukunst in Österreich Bd. 3; Salzburg: Müller, 1986 Swozilek, Kopf, Türtscher, Amt der Vorarlberger Landesregierung, Abteilung Raumplanung und Baurecht (Hg.): Gemeindeentwicklung in Vorarlberg (Broschüre); Bregenz, 2002 Tausch Harald (Hg.): Gehäuse der Mnemosyne – Architektur als Schriftform der Erinnerung; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 Taut Bruno: Die Stadtkrone; Jena: Diederichs, 1919 Temel Robert: Die TechnikerInnen und der Humanismus; konstruktiv 280, Wien: Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, Dez. 2010, S. 26 f Temel Robert, Kamleithner Christa: Utopien des Alltäglichen. Die 60er und 70er zwischen Moderne und Postmoderne; in: ÖGFA #1/04; Wien: Österreichische Gesellschaft für Architektur, 2004, S. 2 f

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Literaturverzeichnis

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Anhang

Wirthensohn Ernst: Thal – „Die Wiederfindung des Ortes“. Ein Positionspapier; Jänner 1997 Wirthensohn Ernst (1999/1): Schulstiftung von Johann Baptist Kinzelmann; in: Sulzberg – Stationen der Geschichte; Gemeinde Sulzberg, 1999, S. 60 ff Wirthensohn Ernst (1999/2): Thaler Pfarrchronik von Martin Sinz; in: Sulzberg – Stationen der Geschichte; Gemeinde Sulzberg, 1999, S. 68 ff Wirthensohn Ernst / Dorfgemeinschaft Thal Selbsthilfeverein (Hg.): Bericht über die Gründungsversammlung und 1. Jahreshauptversammlung; Thal: Eigenverlag, 1990 Ders.: Jahresbericht 1991–92: „Statuten“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 1993–94; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 1994–95; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 1995–96; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 1996–97; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 1997–98: „Die neue Volksschule Thal“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 1998–99: „Das neue Gemeinschaftshaus“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 1999–2000 „Drei Fraktionsvorsteher“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2000–2001 „Ein Fest für Martin Sinz“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2001–2002 „Schwerpunkt Nahversorgung“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2002–2003 „Krone unter neuer Führung /Neue Plätze für Thal“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2003–2004 „Jubiläum 15 Jahre Selbsthilfeverein“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2004–2005 „Ein Jugendraum für Thal; NS-Opfer Stampfers Erich“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2002–2003 „125 Jahre Pfarre Thal“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2007 „Der neue Thalsaal“; Thal: Eigenverlag, o.J. Ders.: Jahresbericht 2008 „20 Jahre Dorfgemeinschaft Thal e.V.“; Thal: Eigenverlag, o.J. Woltron Ute: Wann, wenn nicht jetzt; Der Standard, 19.05.2007, S. A8 Wortmann-Weltge Sigrid: Bauhaus-Textilien; Schaffhausen: Stemmle, 1993 Zeller Thomas: „Ganz Deutschland sein Garten“: Alwin Seifert und die Landschaft des Nationalsozialismus; in: Radkau J., Uekötter F. (Hg.): Naturschutz und Nationalsozialismus; Frankfurt/M.: Campus, 2003; S. 273–307 Zschokke Walter: Luzide Haut über massigem Körperbau – Einkaufszentrum Kirchpark, Lustenau; in: zuschnitt 7.2002; Wien: proHolz Austria Zschokke Walter: „Die Möglichkeiten sind längst nicht ausgeschöpft“, Gespräch mit Anton Kaufmann und Hermann Kaufmann; in: Werk, Bauen+Wohnen 1/2 2001; Zürich, Verlag Werk Zschokke Walter: Helmut Dietrich, Much Untertrifaller – Architektur, Städtebau, Design; Wien: Springer, 2001 Zschokke Walter (Hg.): Dietrich|Untertrifaller – Bauten und Projekte seit 2000; Wien: Springer, 2008 Zürcher Ernst: Fällzeitpunkt, Mondphasen und Holzeigenschaften; in: Bündnerwald 2/2000, Chur (CH); S. 58

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Der Autor

Günther Prechter, Dr.-Ing., geboren 1965 in München. Forscht, lehrt und publiziert zu Geschichte, Theorie und Soziologie der Architektur. Freiberuflicher Architekt seit 1997. 2011 Promotion in Architektur an der Technischen Universität München. Lebt mit seiner Familie in Bregenz. Berufsausbildung zum Tiefdruck-Retuscheur, Studium Kommunikationsdesign, Architekturstudium. Planungsaufträge bereits während der Studienzeit. Nach Abschluß eigenes, partnerschaftliches Architekturbüro in Augsburg. Schwerpunkte in Hochbauentwurf, Raumgestaltung, Ausstellungsgestaltung, Möbeldesign, Objektdesign für Serienprodukte. 1998 Sonderpreis für Innenraumgestaltung im Rahmen des Kunstförderpreises der Stadt Augsburg. 2003 Gründungsmitglied im fächerübergreifenden Arbeitskreis Architektur und Schule in Augsburg. Seither Konzeption und Durchführung von Architekturvermittlung an Schulen: Schülerseminare, Schülerbaustellen und Lehrerfortbildungen. Ab 2003 Materialerhebung für die vorliegende Studie, Übersiedlung nach Vorarlberg und freie Zusammenarbeit mit Dietrich|Untertrifaller Architekten, Bregenz. 2007 Berufung in eine internationale Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Gestaltungsdidaktik für das Handwerk als Grundlage eines Bachelor-Studiengangs an der New Design University, St. Pölten. Publikationen: Vorläufer (1996, Herausgabe einer architekturhistorischen Loseblattsammlung), Raumkonzepte der Moderne (1997, Einzelausstellung Architekturmuseum Schwaben, Augsburg), zahlreiche Aufsätze zu Architekturund Designthemen in Fachzeitschriften und Tageszeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine). Lehrund Vortragstätigkeit in Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz. Aktuell: Konzeption der Tagung Jenseits von Stadtland, 2013 in Bezau, Vorarlberg.

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