Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends: Die elementaren Kategorien Leben und Leistung [1 ed.] 9783428441594, 9783428041596

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Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends: Die elementaren Kategorien Leben und Leistung [1 ed.]
 9783428441594, 9783428041596

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JÜRGEN

POESCHEL

Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends

Schriften zur R e ch t s t h e οr i e Heft 75

Anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends Die elementaren Kategorien Leben und Leistung

Von

Dr. Jürgen Poeschel

D U N CK ER

& H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 04159 3

Meinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit wurde i m Sommersemester 1977 von der juristischen Fakultät der Universität Göttingen als Dissertation angenommen. I m wesentlichen konzipiert wurde sie aber noch zu Lebzeiten Rudolf Smends, also vor seinem Todestage am 5. J u l i 1975. Die der Interpretation eines lebenden Autors entsprechende Sprach- und Zeitform wurde nicht mehr geändert. Auch konnte die reichhaltige Literatur zum und seit dem Tode Smends nicht mehr berücksichtigt werden. Die Arbeit richtet sich an zwei Lesergruppen: Bei der ersten Gruppe handelt es sich u m die Spezialisten von Staats- und Verfassungstheorie, für die Smend und seine Position ein Begriff sind. Für diese Leser bedarf es einführender Worte hier nicht. Sie werden ohne weiteres schon dem Thema, der Gliederung und schließlich der Einleitung entnehmen können, daß es darum geht, dem Mosaik der Staatstheorie Smends und so der Staatstheorie überhaupt — interpretierend und ergänzend — einen kleinen Stein hinzufügen. Bei der zweiten Gruppe von mutmaßlichen Lesern handelt es sich u m solche, die von der allgemeinen juristischen Methode oder von anderen Fakultäten herkommen. Diesen sei gesagt, daß der hier unternommene Versuch, bestimmte Probleme und Lücken des Smendschen Systems einer sinngemäßen Lösung bzw. Ergänzung zuzuführen, so spezialistisch nicht bleibt, wie er auf den ersten Blick erscheint. Zwar geht es i n den ersten zwei Kapiteln der Arbeit vornehmlich um die spezialistische Einordnung i n das System Smends und die Smend interpretierende wissenschaftliche Literatur. Was sich so an noch offenen und zu behandelnden Themen herausschält, beweist m. E. dann aber eine überraschende und für Smend bezeichnende Aktualität: Was der Mensch heute — bewußt oder unbewußt — an Formen und I n halten von Staat und Politik fordert, ist eine das Spezialinteresse von Verfassungstheoretikern weit überschreitende, hier allerdings nur an Beispielen behandelte Frage. Aber i n der Tat ist bekanntermaßen die „geisteswissenschaftliche" Staatstheorie Rudolf Smends dem an der allgemeinen juristischen Methode ausgerichteten Leser nicht leicht zugänglich. Gegenstand und Methode der „Integrationslehre" passen aber auch nicht i n das Schema der übrigen Fakultäten. So geht es nicht viel besser als dem Juristen oft auch dem soziologisch, ja selbst dem geisteswissenschaftlich und philosophisch Vorgebildeten, der sich Smend zuwendet. Das mag auch zusam-

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Vorwort

menhängen m i t der Gründlichkeit, m i t der Smend i n seinen Schriften die persönliche Beziehung zu seinem eigenen Werk getilgt hat (vgl. Gerhard Leibholz, I n Memoriam Rudolf Smend, Gedenkrede, gehalten am 17.1. 1976, Göttingen 1976, S. 40), sind es doch gerade die persönlichen Momente, die ein erstes Verstehen erleichtern können. Für uns Teilnehmer an Smends Seminar i n den späten sechziger Jahren i n Göttingen jedenfalls war es i m Bemühen u m die Interpretation der Integrationslehre sehr aufschlußreich, als i h r Autor es zu einer der auch i m kleineren Kreise seltenen Offenbarungen zu seiner Person als Wissenschaftler kommen ließ. A n diesem Abend, an dem w i r seine am 18. Januar 1933 an der Berliner Universität gehaltene Rede „Bürger und Bourgeois i m deutschen Staatsrecht" behandelten und von ihm je eines seiner von 1933 übriggebliebenen Druckexemplare erhielten, überließ er es nicht wie sonst allein seinen Hörern, die politisch-konkreten oder gar die seine Person betreffenden Schlüsse aus der staatstheoretischen Diskussion zu ziehen; vielmehr gab er m i t ungewohnter Bereitschaft die 1933 verfaßte Rede zu erkennen als Bekenntnis zur politisch-ethischen Welt seines Vaters sowie als Entwurf eines Geschichtsbildes, das entgegen der Denunziation der deutschen Vergangenheit durch den politischen Extremismus von links und rechts Gegenwart und Zukunft verpflichten und so vor allem der damals unmittelbar bevorstehenden nationalsozialistischen Machtübernahme Widerstand bieten sollte. Die Scheu Smends vor persönlichen Offenbarungen i m Bereich der Wissenschaft überträgt sich auch dem, der lange m i t Smend und über Smend gearbeitet hat. Eingedenk der Erfahrung, wie sehr die Information über die Situation zwischen Wissenschaftler und Gegenstand das staatstheoretische Verständnis erleichtern kann und u m des — vielleicht auch studentischen — Lesers willen, möchte ich mich aber von der Smendschen Diskretion für die Länge diese Vorworts dispensieren und Rechenschaft ablegen über den eigenen Zugang zu teilweise recht abstrakten Seiten der Staatstheorie Smends, wie der Staatstheorie überhaupt. Zunächst zur konkreten Erfahrungsbasis des i n meiner Arbeit bekundeten politisch-theoretischen Interesses und seiner Richtung: Sie findet sich i n meinem westpreußisch-bäuerlichen Elternhaus und seinem politischen Schicksal. I m Collegium Albertinum i n Göttingen, dessen M i t gliedern und Freunden ich hier danke, haben w i r uns die ostdeutsche Katastrophe i n ihren Voraussetzungen und Folgen zu deuten gesucht. A n dem Phänomen der Außenpolitik i n der gegenwärtigen politischen Welt — trotz neuartiger ideologischer Uberlagerungen und Verwerfungen — sind w i r dabei nicht vorbei gekommen. So ist m i r auch die Smendsche Staatstheorie zuerst an der Teilerscheinung der Außenpolitik

Vorwort und ihrer doch existentiellen Bedeutung anschaulich und praktisch geworden. I m Rahmen der evangelischen Kirche war es vor allem mein früherer Religionslehrer und heutiger Freund Pastor Hans May, der m i r bewußt machte, daß grundlegende Erfahrungen über den Menschen immer zugleich erkenntnistheoretische Konsequenzen haben: Die Wahrheit, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, nötigt eben unmittelbar zu einem Tasten nach Bereichen, die sich rationalem Zugriff entziehen — ein Ausgangspunkt, der auf bestimmte Seiten auch der zunächst „weltlichen" Staatstheorie Smends vorbereitet. Der Universität Göttingen und ihren Vertretern zur Zeit meines Studiums habe ich es zu danken, wenn ich die erstrebte Selbstvergewisserung nicht nur i n einer geistigen Gemeinschaft, sondern darüber hinaus i n der strengen Form von Staatstheorie und politischer Anthropologie versuchen durfte. Seit Mitte der sechziger Jahre — schon bald nach Beginn meines Studiums — gewährte m i r Rudolf Smend i n seinem Seminar und mehr noch i n den Jahren 1969 - 1973 i n vielen privaten Gesprächen das unersetzliche Privileg, seine Integrationslehre nicht als fertiges, festes Produkt, sondern als immer noch werdende Materie kennenzulernen und als Gegenstand persönlichen Ringens, an dem ich A n t e i l nehmen durfte. Peter von Oertzen (in Göttinger Presse vom 14./15. Januar 1967) hat dieses Erlebnis unübertroffen ausgedrückt: „ . . . w i r fanden unter der behutsamen Anleitung unseres Mentors zu uns selbst, jeder auf seine Weise." Da ich Smend selbst nicht mehr dafür danken kann, richte ich meinen Dank an seine verehrte Frau Gemahlin, die freundlich und hilfreich meine Gespräche m i t ihrem Mann bis fast i n die letzte Zeit seines 93jährigen Lebens hinein ermöglichte — anregend und begrenzend, je nachdem wie seine Gesundheit es erforderte. Als meinem verehrten Doktorvater danke ich Herrn Professor Dr. Ernst Rudolf Huber. Er hat diese Arbeit bedacht m i t vielfältiger praktischer und ideeller Hilfe. Besonderen Dank schulde ich i h m für die Toleranz und das Verständnis, m i t denen er meinem — i h m zum Teil fernerstehenden — wissenschaftlichen Ansatz durch Anregung, K r i t i k und Bestätigung zur weiteren Entfaltung verholf en hat. So wenig wie Smend kann ich noch Werner Weber danken. Obwohl er i n manchem wissenschaftlich ein Antipode Smends war, habe ich m i r doch gerade deswegen i n seinem Seminar die Eigenart des Smendschen Denkens und dessen konkrete Konsequenz bewußt machen können (zu einigen Konsequenzen i m kommunalen Bereich vgl. meinen Aufsatz zu Problemen der Gebietsreform i n DÖV 1977, S. 231 ff.).

10

Vorwort

Herrn Professor Dr. K a r l Michaelis und seinem „Reinhäuser Kreis" danke ich für das schon über ein Jahrzehnt währende Gespräch über Probleme der Rechtstheorie, das sich für bestimmte Fragen dieser Arbeit als anregend erwiesen hat. Herrn Professor Dr. Dietrich Rauschning und Herrn Professor Dr. HansHugo K l e i n danke ich dafür, daß ich den Smend-Ansatz i n ihren öffentlich-rechtlichen Seminaren einbringen und diskutieren durfte, Herrn Professor Dr. Rauschning darüber hinaus für immer wieder gewährte Hilfe bis h i n zur Übernahme des Korreferates i m Promotionsverfahren und zur Förderung bei der Drucklegung dieser A r b e i t Dem Lande Niedersachsen und der Bremer Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und der Universität danke ich für finanzielle Unterstützung. Meiner Verlobten Marlene Reemts danke ich für geduldige Hilfe beim Korrekturlesen. Für die Diskussion über Probleme meiner Arbeit danke ich schließlich auch vielen Kommilitonen, deren Namen ich hier nicht nennen kann — auch denen, die die hier vertretene staatstheoretische Position abgelehnt haben. Wie gesagt, ist die folgende Schrift noch vor dem Tode Smends entstanden, genauer: i n der politisierten Atmosphäre der „Studentenrevolution" Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Weithin i n Opposition zu deren politischer Richtung hat diese Arbeit doch Anteil am geistig-politischen Aufbruch jener Zeit i n neue Dimensionen jenseits des sogenannten Lebensstandards, indem sie diesen Aufbruch auf der Basis der Staatstheorie Rudolf Smends anthropologisch zu verstehen sucht. Zugleich muß sie seinem utopischen Uberschwang eine Reihe von begrenzenden anthropologischen Bestimmungen entgegenhalten. I n beiden Beziehungen, i n der Aufzeichnung eines unerfüllten geistig-seelischen Identifikationsbedürfnisses des gegenwärtigen politischen Menschen einerseits, i n der Aufgabe ideologiekritischer Grenzziehung andererseits, ist sie sich gewiß, auch heute noch aktuell zu sein. Wolfenbüttel, i m Frühjahr 1978 Jürgen

Poeschel

Inhaltsverzeichnis

Einleitung und Abgrenzung des Themas

17

Erstes Kapitel Die Auffassung des anthropologischen Problems in der Smend-Interpretation im Verhältnis zum Ansatz der eigenen Interpretation I. Die Vernachlässigung des Problems i n der Smend-Interpretation I I . Z u r Gewinnung eines Begriffs der politischen Anthropologie I I I . Die anthropologisch relevanten Schriften Smends

24 28 33

I V . Thesen zum inhaltlichen Akzent der politischen Anthropologie bei Smend 35 1. Z u m Verhältnis Einzelner/Staat bei Smend

35

2. Z u r Auffassung v o m Wesen des Menschen bei Smend

37

V. Notwendigkeit einer Staatstheorie u n d Anthropologie verbindenden Interpretation Smends

Zweites

38

Kapitel

Überblick über die staatstheoretischen Aussagen der Integrationslehre und ihre explizite anthropologische Begründung I. Uberblick über den staatstheoretischen I n h a l t der Integrationslehre

42

1. Smends Ausgangspunkt von der Kulturphilosophie Theodor L i t t s

42

2. Der Begriff der Integration als staatstheoretische Konkretisierung des kulturphilosophisch-phänomenologischen A p r i o r i L i t t s

44

Inhaltsverzeichnis

12

3. Integrationsfaktoren als empirisch erfaßte Typen staatlicher E i n heitsbildung — das Integrationssystem — die Außenpolitik I I . Z u r Darstellungsweise u n d Methode Smends 1. Z u m Verhältnis von Theorie u n d Empirie bei Smend

46 48 48

2. Z u r Bedeutung der wissenschaftsgeschichtlichen u n d polemischen Situation f ü r die Interpretation der Integrationslehre

49

3. Kurzer E x k u r s zur Interpretation Smends durch Mols

54

I I I . Referierende Darstellung des anthropologischen Moments

55

1. Methodischer Ausgangspunkt

55

2. Der phänomenologische Begriff des I n d i v i d u u m s

56

3. Die Lückenhaftigkeit der expliziten anthropologischen Begründung bei Smend

58

Drittes

Kapitel

Z u erschließende anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends und deren grundsätzliche Ergänzbarkeit mit Hilfe gegenwärtiger philosophischer Anthropologie

I. Die Kategorien Leben u n d Leistung I I . Die Kategorie der Gruppe

62 68

I I I . Die Kategorie der Geschichtlichkeit

71

I V . Die Kategorie der Ganzheit

76

V. Das Moment der historischen Situation

Viertes

84

Kapitel

Die Kategorie der Leistung I. Smends undeutliche Stellungnahme zum Leistungsproblem u n d die Möglichkeit einer anthropologischen K l ä r u n g

92

Inhaltsverzeichnis I I . Begründung der Leistung von außen

97

1. Notwendigkeit der Leistung nach außen

97

2. Notwendigkeit der Leistung nach innen

100

I I I . Begründung der Leistung von innen

103

1. Innere Begründung der Leistung nach der psychologisch-kausalwissenschaftlichen Methode

104

2. Innere Begründung der Leistung aus der Ratio des Menschen

106

3. Innere Begründung der Leistung nach der anthropologisch-empirischen (historisch-geisteswissenschaftlichen) Methode

109

4. Innere Begründung der Leistung nach der anthropologisch-theoretischen Methode

114

I V . Z u m Rang der Leistung i n der Staatstheorie Smends

Fünftes

123

Kapitel

Die Kategorie des Lebens

I. Die Vieldeutigkeit des Lebensbegriffs bei Smend u n d die Möglichkeit seiner anthropologischen Präzisierung I I . Der Begriff des Erlebnisses

128 132

1. Z u m anthropologischen Erlebnisbegriff

132

2. Z u m staatstheoretischen Erlebnisbegriff

140

I I I . Leben als Prozeß 1. Z u m anthropologischen Grundmodell des Lebensprozesses

150 151

2. Z u m politischen Lebensprozeß u n d seinen institutionellen Sicherungen I V . Das Problem des Lebensniveaus

156 165

1. Die V e r w i r r u n g über die zeitlos-ideelle Komponente des Staatsbegriffs Smends 2. Z u r anthropologischen Lösung des Geltungsproblems

165 172

3. Z u r staatstheoretischen A n w e n d u n g des anthropologischen Geltungsmodells

179

14

Inhaltsverzeichnis Sechstes Kapitel Zur Struktur des Lebens und zum Verhältnis von Leben und Leistung

I. Z u m Begriff der S t r u k t u r I I . Z u r S t r u k t u r des individuellen Lebens aus seinen Relationen

196 199

1. M i t den elementaren Funktionen von Leben u n d Leistung gegebene Relationen

199

2. M i t den differenzierten Lebensfunktionen (des Gemeinschaftserlebens, der politisch-geschichtlichen Selbstgestaltung u n d des Ganzheitsstrebens) gegebene Relationen

204

I I I . Z u r S t r u k t u r des Staates

208

Literaturverzeichnis

219

Die Lust des Menschen am Leben, am In-der-Welt-Sein, (ist) untrennbar von seiner Lust am Sich-wohl-Beflnd e n . . . Der Mensch, der tief u n d v ö l l i g davon überzeugt wäre, daß i h m das Sich-wohl-Befinden, oder zumindest eine Annäherung daran, nicht gelingen kann, u n d daß er sich m i t dem bloßen u n d nackten Sich-Befinden begnügen müßte, begeht Selbstmord. Das Sich-wohl-Befinden u n d nicht das Sich-Befinden ist die Grundnotwendigkeit des Menschen, die Notwendigkeit der Notwendigkeiten . . . Daher ist f ü r den Menschen n u r das objektiv Überflüssige notwendig. Dies w i r d m a n für paradox halten, aber es ist die pure Wahrheit. Die biologisch objektiven Notwendigkeiten sind an sich nicht notwendig f ü r ihn. Findet er, daß er sich ganz auf sie beschränken muß, so weigert er sich, sie zu befriedigen, u n d zieht es vor, zu unterliegen. Sie verwandeln sich i n Notwendigkeiten nur, w e n n sie als Bedingungen des I n der-Welt- S eins erscheinen, das seinerseits i n subjektiver F o r m notwendig ist, das heißt, w e i l es das Sich-wohlBefinden i n der W e l t u n d das Überflüssige möglich macht. Daraus geht hervor, daß selbst das o b j e k t i v Notwendige f ü r den Menschen n u r i m Hinblick auf das Uberflüssige notwendig ist. K e i n Zweifel, der Mensch ist ein Lebewesen, f ü r das n u r das Überflüssige notwendig ist. Ortega y Gasset, Betrachtungen über die Technik Stuttgart 1949, S. 29 u. 31.

Einleitung und Abgrenzung des Themas Die folgende Arbeit fragt, wie sich i n der Staatstheorie Rudolf Smends der Staat zu bestimmten objektiven und subjektiven Notwendigkeiten des Menschen 1 verhält. U m den hier zu bearbeitenden engen Ausschnitt aus der Totalität des Gegenstandes Staat und Mensch, wie er sich allgemein und insbesondere bei Smend darbietet, kurz zu bezeichnen, sei angeschlossen an das theoretische System Smends selbst, das er vor allem i n seinem Hauptwerk »Verfassung und Verfassungsrecht 4 (1928) entwickelt hat. Dabei ist die jeweils umfassende, hier aber zu vernachlässigende Thematik stufenweise auszugrenzen. I. I n ,Verfassung und Verfassungsrecht 4 geht es Smend vor allem darum, einen notwendigen Zusammenhang von Staatstheorie, Verfassungstheorie und Staatsrecht aufzuzeigen und zu belegen, „daß alle drei sich gegenseitig tragen, bestätigen, richtigstellen" 2 . Was Smend i n diesen drei Bereichen darlegt, w i l l deshalb nicht an sich und als Einzelheit verstanden werden, sondern nur als Beispiel des genannten Zusammenhanges 3 . Seine spezifische wissenschaftliche Legitimation sucht Smend vor allem als Verfassungsjurist 4 und damit i n der Ebene des positiven Verfassungsrechts, „denn gerade aus der Beschäftigung m i t dem positiven Staatsrecht sind diese Anschauungen herausgewachsen — am positiven Recht müssen sie sich also wiederum bewähren" 5 . 1 Der Gegensatz subjektiv/objektiv t r i f f t das Gemeinte nicht exakt, sondern w i l l es n u r annähernd u n d vorläufig bezeichnen, w i e auch das Z i t a t Ortegas als u m der Verdeutlichung w i l l e n überpointiert anzusehen ist. 2 So Smend i n seinem H a u p t w e r k »Verfassung u n d Verfassungsrecht' (S. 120), dessen methodischer u n d thematischer Rahmen auch die anderen staatswissenschaftlichen Arbeiten Smends umfaßt. Die Schriften Smends, Plessners u n d anderer werden i n der vorliegenden A r b e i t aus den jeweils erst später erschienenen Sammelbänden zitiert, jedoch zur schnelleren Orientierung unter k u r zer Kennzeichnung des ursprünglichen Titels; vgl. zum genaueren Beleg deshalb grundsätzlich das Literaturverzeichnis. 8 Vgl. Smend, ebd. 4 Vgl. Smend, Das Problem der Institutionen, S. 500 f., Bürger u n d B o u r geois, S. 310 f. 5 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 233.

2 Poeschel

18

Einleitung

Eine anthropologische Fragestellung wie die hier gewählte durch alle drei Bereiche und ihre Einzelheiten hindurchzuverfolgen, wäre nicht überall gleichermaßen ergiebig und würde darüber hinaus i n Uferlosigkeit führen. Es gilt daher, eine Beschränkung auf den staatstheoretischen Gegenstand vorzunehmen, die den von Smend postulierten Zusammenhang nicht i n Frage stellt, ihn aber gleichwohl thematisch i n den Hintergrund treten läßt 6 . Infolgedessen werden hier die Bereiche des Staatsrechts und der Verfassungstheorie kaum betreten; lediglich die rückwirkende Bestätigung, die deren i n vielem konkretere Darstellung durch Smend auch für die wissenschaftliche Legitimation seiner Staatstheorie bedeutet, w i r d gelegentlich i n Anspruch genommen. I I . Legt man die vorgenommene Beschränkung auf die „Bruchstücke einer Staatslehre" 7 zugrunde, so zeichnet sich trotz aller Bruchstückhaftigkeit einer ausdrücklich als solcher bezeichneten staatstheoretischen Skizze 8 folgendes Koordinatensystem ab: methodisch 9 : A („überempirische") Theorie, Β („geisteswissenschaftliche") Empirie; gegenständlich 10 : C Individuum, D Gemeinschaft, E objektiver Sinnzusammenhang. Dazwischen liegt nach dem angedeuteten Urteil Smends ein weites und streckenweise unbekanntes Feld. Wenn nun die vorliegende Arbeit das anthropologische Moment der Smendschen Staatstheorie zusammenhängend zu erfassen und diese i n seinem Licht zu interpretieren sich vornimmt, so erzwingt der genannte Entwurfcharakter selbst für diesen Ausschnitt noch weitere Beschränkimg. Das Thema dieser Arbeit grenzt sich deshalb vornehmlich ein: gegenständlich auf den Pol des Individuums (C), während der Pol der Gemeinschaft oder konkreter des Staates nur i n den jeweiligen Fragestellungen und i n Beispielen berührt w i r d und der Pol des objektiven Sinnzusammenhanges noch weiter zurücksteht, methodisch auf die Ebene der Theorie (A), während die Ebene der Empirie wiederum vornehmlich nur i n Fragestellung und Beispielen betreten wird. Dabei w i r d von der erkenntnistheoretischen Legitimität der Smendschen Staatslehre ausgegangen, ihr wissenschaftlicher Gesamtrahmen als festes Datum einβ Trotz des vornehmlich verfassungsjuristischen Anspruchs Smends findet Zech, Die Rechtfertigung des Staates, S. 43, i n der Staatstheorie Smends sogar das Kernstück der Integrationslehre. Auch von der politischen Wissenschaft w i r d Smend vorwiegend i m Bereich der Staatstheorie diskutiert, ζ. B. Mols, Allg. Staatslehre . . . , S. 24 A n m . 13, S. 129 f. 7 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 119. 8 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 120. 9 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 139. 10 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126.

Einleitung

19

gesetzt und seinerseits nicht mehr problematisiert. Die erwähnten L ü k ken innerhalb des Smendschen Systems, soweit sie den hier gewählten Ausschnitt betreffen, sind dann interpretierend einzugrenzen und, sofern erforderlich und möglich, i m Sinne des Systems auch m i t konvergierenden anthropologischen Lehren vorsichtig auszufüllen — ein Verfahren, zu dem die andeutende Schreibweise Smends und der Programmcharakter seiner Theorie von sich aus nötigen 1 1 . Auch diese Eingrenzung läßt von Smend hergestellte kreishafte Z u sammenhänge i n den Hintergrund treten: Das zwischen den verschiedenen Ebenen (A und B) bzw. Polen (C, D, F) „ h i n und her oszillierende", „dialektische" bzw. „zyklische" Vorgehen Smends 12 w i r d durch die hier vorzunehmende gewisse Isolierung der Koordinaten Theorie (A) und Individuum (C) notwendigerweise teils unterbrochen, teils vereinfacht. I m Gefolge dieser Isolierung treten trotz des grundsätzlichen Versuchs, „Smend-immanent" zu bleiben, unumgängliche Akzentverlagerungen, möglicherweise sogar Überakzentuierungen ein, die allein zu Lasten des Verfassers gehen. Subsumiert man die beabsichtigte Isolierung bestimmter Probleme der Thematik und des Systems Smends unter die Formel des hermeneutischen Zirkels 1 3 , so kann sich — abgesehen von Beispielen — wegen der notwendigen Beschränkung dieser Arbeit der Zirkel der hier unternommenen Interpretation Smends nicht mehr schließen; denn nicht nur die Konsequenzen für das Verfassungsrecht, sondern teilweise sogar für die Staatstheorie und den Pol der Gemeinschaft i m engeren Sinne des Staates müssen zu kurz kommen 1 4 . Legt man den angedeuteten Gesamtrahmen zugrunde, so kann eine Erörterung des hier gewählten Ausschnitts nur eine theoretische und streckenweise leider recht abstrakte Vorarbeit darstellen. Gleichwohl darf dieser Ausschnitt innerhalb des Gesamtsystems Smends ein besonderes Gewicht beanspruchen. Das w i r d besonders anschaulich etwa i m folgenden neueren Satze Smends: 11 Vgl. generell f ü r die Staatsauffassimg Smends Mayer, Die Krisis . . . , S. 32 f. 12 Vgl. ζ. B. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 130,188,139. 13 Vgl. dazu Gadamer, Wahrheit u n d Methode, S. 178 f., S. 250 ff., S. 275 ff. 14 Eine Reihe der sich hier abzeichnenden Konsequenzen findet sich i m A n schluß an Smend formuliert bei Jacob Wackernagel, Der Wert des Staates. Untersuchung über das Wesen der Staatsgesinnung 1934. Dem i n t u i t i v e n V o r gehen Wackernagels, S. 265 ff. wiederum fehlt die hier gesuchte anthropologische Verbindlichkeit; ähnliches g i l t f ü r Hans Adolf Dombois, Strukturelle Staatslehre, 1952, u n d die Arbeiten der übrigen „Smendschule", vor allem von Konrad Hesse, Wilhelm Hennis, Horst Ehmke, Richard Bäumlin, Axel von Campenhausen, Henning Zwirner, Peter Häberle, soweit sie nicht ohnehin i m hier noch weiter zurückgestellten verfassungsrechtlichen Bereich beheimatet sind. 2*

20

Einleitung

„ . . . eine demokratische Staats- u n d Verfassungslehre k a n n nicht am formalen Staatswillen einsetzen, sondern n u r am Menschen i n seiner gesellschaftlichen, politischen Lage, an der Frage, was von i h m zu erwarten, was i h m zu bieten u n d zuzumuten sein möge 1 5 ."

I n diesem Sinne sind für Smend der Mensch, seine Eigenschaften und Bedürfnisse eine Vorgegebenheit des Staates 16 , was ohne weiteres die Bedeutung der anthropologischen Fragestellung für die Staatstheorie Smends anzeigt. Sollte der demokratische Ausgangspunkt als zu eng erscheinen, u m den Rang des anthropologischen Moments bei Smend zu kennzeichnen, so ist an die Tatsache zu erinnern, daß die Staatstheorie Smends vom Einzelnen ausgeht 17 , womit Smend allerdings nicht ein (isoliert gedachtes) Individuum, vielmehr den Menschen i n seinen (dialektisch gedachten) Bezügen m e i n t 1 7 a . Und weiter zielt die Staatstheorie Smends i n ihrer Stoßrichtung hauptsächlich gegen die — von Smends theoretischem und geisteswissenschaftlich-empirischem Blickpunkt 1 8 aus gesehen — Metaphysik des juristischen Positivismus 19 sowie gegen Kelsens reine Rechtslehre auf die Wirklichkeit des Staates 20 . Diese aber erweist sich letztlich als nichts anderes als die Wirklichkeit des Menschen selbst. I I I . Die zusammenhängende grundsätzliche Erörterung des anthropologischen Problems i n seiner notwendigen Verbindung m i t dem Staatsproblem i n der Theorie Smends w i r d bestimmte anthropologische Kategorien zutage fördern: Leistung, Leben, Gruppe, Geschichtlichkeit, Ganzheit, das Moment der historischen Situation. Zwischen den Kategorien Leistung und Leben einerseits und den übrigen anthropologischen Bestimmungen andererseits ergibt sich dann jedoch ein gewisser Einschnitt insofern, als hier die ersteren als besonders elementare, schon am Modell des Einzelmenschen abzulesende aufgefaßt werden, die zwar notwendig i n die Dimension der Gemeinschaft hineinführen, aber dieses vielschichtige und verwirrende Thema doch nicht i n gleichem Maße wie die letzteren Kategorien zum Gegenstande machen. Eine an sich m i t Hilfe heutiger philosophischer Anthropologie durchgängig mögliche und notwendige eingehende Klärung und systemimmanente Ergänzung der i m Zusammenhang jeweils n u r kurz angerissenen anthropologischen Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends (im Dritten Kapitel) 15 16 17 17a 18 19 20

Smend, Deutsche S t a a t s r e c h t s w i s s e n s c h a f t . . S . 460. Smend, Deutsche Staatsrechtswissenschaft, S. 460 f. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 130. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 125 ff. Smend, Integrationslehre, S. 475 f. Smend, Integrationslehre, S. 479 A n m . 3. Dazu i m einzelnen später.

Einleitung muß sich i m Rahmen dieser Arbeit i m wesentlichen auf die elementaren Kategorien von Leistung (im vierten Kapitel) und Leben (im fünften und sechsten Kapitel) beschränken. Doch w i r d derart wenigstens an ihnen die prinzipielle Bedeutung der Anthropologie für die Staatstheorie bis i n Einzelheiten hinein exemplifiziert, die Notwendigkeit einer ebenso detaillierten Bearbeitung auch der weiteren, zum Teil spezielleren Kategorien begründet und deren Durchführung vorbereitet. Durch die Konzentration auf die Kategorien von Leistung und Leben entfällt hier der Raum für eine ausführliche Auseinandersetzung m i t den politisch umstrittensten Fragen der Gegenwart, etwa nach dem Verhältnis von Demokratie, Sozialstaat und Rechtsstaat einerseits und einer sich i m System Smends abzeichnenden A n t w o r t andererseits. Statt dessen w i r d i n der Explikation der Kategorien Leistung und Leben herangeführt an ein — jedenfalls bis vor kurzem — fast vergessenes Thema: Es ist die „Problematik des (in einem weiten Sinne nationalen, d. Verf.) Kulturstaats" 2 1 als eines Staates, „der sich als K u l t u r weiß und verwirklicht" und „ i n dem K u l t u r sich als Staat weiß und v e r w i r k licht" 2 2 , wobei der Begriff der K u l t u r i m Gegensatz zu demjenigen der Zivilisation nicht vor allem auf die äußeren, „objektiven" Daten zielt, sondern auf die Totalität menschlichen Lebens und darin auch dessen innere subjektive Bedingungen 23 und also die eigentlich anthropologische Komponente m i t umf aßt. Die Problematik des Kulturstaates wurde i n der Weimarer Zeit noch lebendig empfunden 24 . Sie liegt auch der lebensphilosophischen Smendschen Staatstheorie zugrunde 25 , die als A n t w o r t auf jene Zeit und als Ausdruck jener Zeit angesehen werden kann 2 6 , ohne sich allerdings i n diesem zeitgebundenen Aspekt wesentlich zu erschöpfen 27 . Neuerdings hat Axel von Campenhausen den „staatlichen Beruf zu Schule, Bildung und Erziehung" wieder aus der geistig-sittlichen A u f 21

Vgl. den T i t e l Ernst Rudolf Hubers, „ Z u r Problematik des Kulturstaats", Tübingen 1958. 22 Huber, Z u r Problematik des Kulturstaats, S. 26. 23 Vgl. parallel Hub er, Z u r Problematik des Kulturstaats, S. 28; auch neuerdings zum Begriff der K u l t u r , insbesondere der K u l t u r als Gegenstand staatlicher Gestaltungsmacht, u n d zum Begriff des Staates als Kulturgebilde Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 5 ff. u n d die dort angeführte Literatur. Bezeichnenderweise nennt auch der v o n Smend bei Abfassung der Integrationstheorie i n erster L i n i e herangezogene Theodor Litt seine „das Ganze von Leben u n d W i r k l i c h k e i t " intendierende Lehre „Kulturphilosophie", Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 44. 24 Vgl. Hub er, Z u r Problematik des Kulturstaats, S. 4 f. 25 Vgl. Oppermann, S. 7 A n m . 6. 26 Vgl. Smend, Integrationslehre, S. 481; vgl. auch Mols, S. 212 A n m . 37. 27 Vgl. dazu einstweilen Smend selbst, Integration, S. 485.

22

Einleitung

gäbe des Staats als eines Kulturstaats begründet, und zwar weithin i m Smendschen Geiste und unter ausdrücklicher Berufung auf Smend 2 7 a , allerdings auf Grund der begrenzteren Fragestellung ohne nähere Berücksichtigung der anthropologischen Voraussetzungen i m Sinne dieser Arbeit. I n der Tat kann auch heute an der Bedeutung der Kulturstaatsproblematik kein ernsthafter Zweifel aufkommen: Die kulturgestaltende Macht des Staates 28 w i r d mindestens am Beispiel der staatlichen Schule und ihrer lebensprägenden Wirkung jedermann deutlich und der heutige politische Kampf w i r d wesentlich geführt auf diesem Felde 2 9 ; und umgekehrt w i r d die staatsgestaltende Macht der K u l t u r von den W i r k u n gen bezeugt, die von der jeweiligen kulturellen Richtung i n der Gesamtgesellschaft auf die Form des Staates ausgehen 30 . Wenigstens negativ, durch das Unbehagen an der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft, scheint das Problem heute vielen bewußt zu werden 3 1 . Eine Interpretation anthropologisch-staatstheoretischer Texte wie die folgende kann und darf sich zwar nicht unmittelbar auf den Kampfplatz der aktuellen politischen Diskussion begeben, die sich m i t dem leider weithin noch zu materialistisch und oberflächlich aufgefaßten Begriff der „Qualität des Lebens" 3 2 nur langsam an den erahnten K e r n eines alten Themas herantastet 33 . Sie versucht aber einige Kategorien bewußt zu machen, bzw. grundsätzlicher zu erfassen, die die Gefährdung einer humanen K u l t u r i n der Industriegesellschaft, die existentielle Dimension des Kampfes u m die K u l t u r , sowie des Staates als K u l t u r f o r m dieses Kampfes einsichtiger werden lassen. Freilich handelt es sich auch bei den zu erwartenden anthropologischen Resultaten zunächst noch vor allem u m abstrakte Voraussetzungen angemessenen Begreifens. Aber angesichts einer Gegenwart, i n der die eindimensionalen rationalen technischen und zivilisatorischen Kategorien der Industriegesellschaft alle hochbedingten Verstehensmöglichkeiten der K u l t u r i m Sinne eines komplexen humanen Zusammenlebens überwuchern 34 , infolgedessen insbesondere der Institutions- und 27a

A. von Campenhausen, bes. S. 230 ff. Vgl. dazu Huber, Z u r Problematik des Kulturstaats, S. 12 ff. 29 Vgl. Huber, Z u r Problematik des Kulturstaats, S. 18 ff. 80 Vgl. Huber, S. 21 ff.; vgl. zur unverminderten A k t u a l i t ä t der K u l t u r staatsproblematik auch Oppermann, S. 15 ff. 81 Dazu später. 82 Vgl. etwa den die Beiträge verschiedener Autoren umfassenden, unter der Redaktion von Günter Friedrichs veröffentlichten Sammelband „Aufgabe der Z u k u n f t , Qualität des Lebens", 1972. 83 So w i r d nicht zufällig die Kulturstaatsidee zurückgeführt auf den aristotelischen Satz, daß der Staat u m des bloßen Lebens w i l l e n entstehe, aber bestehe u m des vollendeten Lebens willen, Oppermann, S. 15 A n m . 31. 84 Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 212 ff. 28

Einleitung Staatslehre angemessene Denkmittel entglitten sind 3 5 oder zu entgleiten drohen 3 6 , muß man sich immer wieder Zeit und Raum für den ersten Schritt nehmen. Anderenfalls würden letztlich auch die i n der vorliegenden Arbeit nur kurz, allgemein aber u m so häufiger diskutierten Formen des Staates als Demokratie und Sozialstaat unverständlich bleiben — jedenfalls als m i t dem (modernen) Menschen wesenhaft verbundene Kulturformen und damit i n ihrer Tiefendimension.

35

Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 15 f., S. 250 ff. Vgl. für die Begrifflichkeit der Staatslehre Hub er, Z u r Problematik des Kulturstaats, S. 5 f. 36

Erstes

Kapitel

Die Auffassung des anthropologischen Problems in der Smend-Interpretation im Verhältnis zum Ansatz der eigenen Interpretation I . D i e Vernachlässigung des Problems i n der Smend-Interpretation A n g e s i c h t s d e r schon p r i m a facie i n s A u g e f a l l e n d e n h e r v o r r a g e n d e n S t e l l u n g des a n t h r o p o l o g i s c h e n M o m e n t s i n n e r h a l b d e r S t a a t s t h e o r i e Smends i s t es u m so m e r k w ü r d i g e r , daß i n e i n e r Z e i t , i n d e r d i e A n t h r o p o l o g i e schon g e n e r e l l e i n M o d e a r t i k e l z u w e r d e n d r o h t 1 u n d i n e i n e r n a c h p o s i t i v i s t i s c h e n Wissenschaft i h r e B e d e u t u n g speziell als „ p o l i t i s c h e A n t h r o p o l o g i e " f ü r S t a a t s - u n d P o l i t i s c h e T h e o r i e k l a r e r k a n n t i s t 2 , der anthropologische A s p e k t d e r v i e l b e a c h t e t e n I n t e g r a t i o n s l e h r e Smends selbst so w e n i g beachtet w i r d 2 3 . F ü r das h i e r i n A n g r i f f g e n o m m e n e a n t h r o p o l o g i s c h e P r o b l e m v e r s p r i c h t deshalb auch die b i s h e r i g e i m ü b r i g e n r e i c h h a l t i g e Smend-Interp r e t a t i o n w e n i g E r t r a g 3 . W e n n m a n v o n d e n i n erster L i n i e verfassungs1 Wein, Philosophische Anthropologie, S. 119. Die heutige Bedeutung der Anthropologie w i r d dadurch verstärkt, daß zentrale Themen der philosophischen Anthropologie sich als w o h l wichtigste geistige Brücke zwischen Ost u n d West erweisen. Wein, S. 122 ff.; Lemberg, Reformation i m Kommunismus, S. 25 ff. 2 Statt vieler: Klaus Philippi, Untersuchungen über das Verhältnis der A n thropologie zur Staatslehre unter besonderer Berücksichtigung einzelner L e h ren aus dem 19. Jahrhundert, Diss. j u r . (Maschinenschrift) Mainz 1948, vgl. besonders den 1. T e i l u n d die dort aufgeführte Literatur. Erich Kaufmann, Die anthropologischen Grundlagen der Staatstheorie . . . , S. 365 f.; Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 46 ff.; Scheuner, A r t . Staat, S. 654, 656; Das Wesen des Staates . . . , S. 255, 242; Lauf er, Homo H o m i n i Homo, S. 325 ff.; 323, 336, 341 f.; Ryffel, G r u n d p r o b l e m e . . . , S. 10 f.; F. Müller, Entfremdung, S. 9. 2a M i t einer Ausnahme: Füßlein, Mensch u n d Staat (1973), bezeichnet die Integrationslehre Smends ausdrücklich als „einen wesentlichen Baustein zu einer anthropologischen Staatslehre", Füßlein, Seite 22, u n d zieht sie wiederholt f ü r seine anthropologisch ansetzende Staatstheorie heran, Füßlein, S. 9, 20, 23, bes. S. 121 ff., 124 ff., 126 ff. Aber der Smend gewidmete Raum reicht nicht aus, u m das anthropologische Thema bei Smend auch n u r annähernd zu umreißen u n d Füßlein überhaupt zu der i m folgenden erörterten Smendinterpretation i m engeren Sinne zu rechnen. 8 Deshalb erübrigt sich auch i m Rahmen dieser A r b e i t eine breitere Auseinandersetzung m i t der Sekundärliteratur.

I. Die Vernachlässigung des Problems

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juristisch fragenden Smend-Interpreten absieht, so sind als wichtigste Arbeiten für die Zeit bis 1945 außer Kelsens polemisch überspitzter und letztlich verständnisloser Gegenschrift 4 die Interpretationen Zechs 5 und Mayers 6 zu nennen 7 . Ein ausführlicher Beitrag zu Smend findet sich auch bei Wohlgemuth 8. Für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg ist besonders hinzuweisen auf die eingehenden Arbeiten Bartlspergers 9 und Mols 10, die an eindringender Intensität und Reichhaltigkeit der Auswertung die erstgenannten sich zu sehr i n Polemik verschwendenden sicherlich noch übertreffen. Trotzdem bieten alle fünf Schriften entweder schon thematisch für das anthropologische Problem wenig oder nichts oder widersprechen, soweit sie das Thema überhaupt anschlagen, der i m folgenden entwickelten Sicht wesentlich i n der inhaltlichen Aussage. Mayer berührt m i t seinem Ausleuchten der Hintergründe der Smendschen Staatstheorie nur scheinbar die Ebene der Anthropologie, denn i n Wirklichkeit prüft er nicht die immanente wissenschaftlich ausgewiesene Anthropologie des Smendschen Systems, sondern die wirkliche oder vermeintliche weltanschauliche oder ideologische Haltung des Autors der Integrationslehre 11 , also etwas ganz anderes als die objektivierte staatstheoretische Erörterung, etwas, was der Ideologieverdacht vielmehr hinter i h r vermutet. Er prüft also i m Bereich der scheinbaren Berührung m i t dem anthropologischen Problem den Glauben, nicht die Wissenschaft Smends und sagt über die Anthropologie Smends i n Wirklichkeit nichts aus. Ähnliches gilt für die bekannte Schrift Kelsens „Der Staat als Integration", die vor allem die politische, angeblich staatstheologische Gesinnung Smends zu entlarven versucht 12 . Auch Wohlgemuth w i r f t Smend politische Wertung v o r 1 3 und verweist alles, was i n der Linie der anthropologischen Fragestellung gefunden 4 Kelsen, Der Staat als Integration, Eine prinzipielle Auseinandersetzung, Wien 1930. 5 Zech, Die Rechtfertigung des Staates i n der normativen Staatstheorie u n d der Integrationslehre, H a m b u r g 1934. 6 Mayer, Die Krisis der deutschen Staatslehre u n d die Staatsauffassung Rudolf Smends, Jur. Diss. K ö l n 1931. 7 Diese Wertung n i m m t auch Mols vor, Mols, Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie? Interpretationen zu i h r e m Verhältnis am Beispiel der Integrationslehre Rudolf Smends, B e r l i n 1969, S. 129. 8 Wohlgemuth, Das Wesen des Politischen i n der heutigen deutschen neoromantischen Staatslehre, E i n methodenkritischer Beitrag zu seiner Begriffsbildung, Emmendingen 1933. 9 Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- u n d Rechtstheorie, Diss. j u r . Erlangen - Nürnberg 1964. 10 s. Fußnote 7. 11 Vgl. Mayer, S. 32 ff., S. 92 f. 12 Kelsen, S. 29 ff., 49 ff., 60 ff., 69 ff., 85 ff. 13 Wohlgemuth, S. 48, S. 52.

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1. Kap.: Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation

werden könnte, von vornherein i n das Reich lediglich weltanschaulicher Metaphysik 1 4 . Zechs Bemühen u m die Rechtfertigung des Staates i n der Integrationslehre ist dem Problem schon wesentlich näher, denn gerechtfertigt werden kann der Staat nur vor dem Menschen 15 , von dem Smend als einer Vorgegebenheit spricht. Doch w i r d bei Zech der Mensch selbst ausdrücklich nicht erforscht 16 und führt höchstens als Reflex der „institutionellen und konkreten" Staatsrechtfertigung ein undeutliches Schattendasein. Hinsichtlich der anthropologischen Fragestellung ähnlich zu bewerten ist auch die Schrift Bartlspergers. Sie prüft die Integrationslehre als Voraussetzung einer Rechtstheorie 17 und sprengt damit den hier abgesteckten Rahmen. Wo sie sich m i t der Staatstheorie direkt befaßt 18 , ist eine Anthropologie vielleicht indirekt zu erschließen, aber i n dem Vergleich und der Weiterentwicklung von Smends Staatsbegnîî 10 m i t der Hartmannschen nachidealistischen Lehre vom objektiven Geist und den Schichten des Seins, denen er aufliegt 2 0 , selbst nicht ausdrücklicher Gegenstand. Mols schließlich ist an Smend i n erster Linie „epistemologisch", d. h. wissenschaftstheoretisch interessiert 21 . Er erörtert vor allem den wissenschaftlichen Rahmen Smends und seine wissenschaftliche Stringenz, die er i m wesentlichen eindrucksvoll bestätigt. Was bei i h m Problem ist, w i r d hier als festes legitimes Datum und als Rahmen eingesetzt. Immerh i n w i r d bei Mols, soweit auch er gegenständlich-inhaltlich fragt 2 2 , das anthropologische Thema ausdrücklich und ausführlich angeschlagen 23 . Er interpretiert es jedoch explizit als normativ 2 4 und spart bewußt die Auseinandersetzung m i t Smends Einbeziehung auch der irrationalen Seite des Menschen aus 25 . Damit engt er trotz wertvoller Ansätze die Fragestellung i n einer Weise ein, die der Bedeutung des anthropologischen 14

Wohlgemuth, S. I X ff.; S. 189 ff., S. 49, S. 95, S. 184. Zech, S. 37, S. 63 ff., S. 70. 16 Ausdrücklich Zech, S. 22. Eine eigentlich anthropologische Grundlegung der Staatstheorie kennzeichnet er als einen anderen Weg, Zech, S. 73 A n m . 41. 17 Bartlsperger, S. 126 ff. 18 Es ist i h r Verdienst, dies nicht i n polemischer, die unvermeidlichen U n ausgeglichenheiten einer dialektischen Theorie antinomisch vergröbernder Weise zu tun, sondern i n verstehender Haltung, die offengebliebene Probleme ihrer sinngemäßen Lösung zuzuführen sucht, vgl. besonders Bartlsperger, S. 57 f. 19 Bartlsperger, S. 4 ff., S. 33 ff., S. 81 ff., S. 100 ff. 20 Bartlsperger, S. 57 ff. 21 Mols, S. 15 ff. 22 Mols, S. 127 ff. 23 Z u r anthropologischen Fragestellung vgl. Mols, S. 77 ff. 24 Mols, S. 83, S. 188, S. 262 ff.; S. 241 ff., S. 119 ff. 25 Mols, S. 220, bes. auch A n m . 82. 15

I. Die Vernachlässigung des Problems

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Moments und seinen Konsequenzen bei Smend nicht gerecht zu werden vermag. Es scheinen vor allem zwei Faktoren zu sein, die auf die Vernachlässigung des anthropologischen Themas i n der Smend-Interpretation hinwirken: Einmal ist es ein metaphysisch-weltanschaulich-normativer, seine eigene wissenschaftliche Stringenz selbst nicht hocheinschätzender Begriff der politischen Anthropologie 2 6 , der sich, sofern er gleichwohl wissenschaftlich legitim sein w i l l , selbstkritisch zu einer „Minimalanthropologie" verengt 2 7 . Darüber hinaus ist es offenbar auch die relativ späte ausdrückliche Erwähnung des Begriffs bei Smend 28, die selbst jemanden der Integrationslehre nahestehenden wie Scheuner 29 zwar die spätere explizite anthropologische Fragestellung Smends 80 , nicht aber die methodisch bedeutenderen Ansätze und ein gutes Stück ausgeführter A n thropologie vor allem i n Smends Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht" wahrnehmen läßt. So liegt selbst i n Scheuners sensibler Würdigung des Smendschen Werkes 3 1 sichtbar eine Diskrepanz, denn statt nach der gesamten Ausführung wissenschaftlicher Anthropologie fragt Scheuner i n Verfolgung der „tieferen Fundamente" 3 2 unvermittelt „nach dem metaphysischen Sinn des Staates und den ethischen Problemen" bei Smend 33 . Da weder m i t der normativen Verengung noch m i t der metaphysischen Verflüchtigung des Begriffs der politischen Anthropologie der systematisch zu erfassende Gegenstand der folgenden Arbeit bezeichnet ist, gilt es vorweg einerseits einen methodischen, gegenstandsaufschließenden Begriff des Gemeinten anzudeuten und andererseits auch ein Richtungszeichen inhaltlicher A r t zu setzen, das die hier vertretene Interpretation gerade von i m übrigen recht verwandten Auffassungen 34 deutlich abgrenzt.

28 So nicht explizit, aber der intendierten Sache nach Mayer, Wohlgemuth , Kelsen. 27 So Mols, S. 88, S. 81 A n m . 26 i m Anschluß an Bergstraesser. 28 Smend i n der A b h a n d l u n g Politisches Erlebnis . . . aus dem Jahre 1943, S. 346. 29 Vgl. etwa Scheuners Übernahme des Integrationsgedankens i m A r t . Staat, S. 656. 30 Scheuner, Rudolf S m e n d . . . , S. 436. 81 Scheuner, Rudolf Smend. 32 Scheuner, Rudolf Smend, S. 443. 33 Scheuner, Rudolf Smend, S. 440. 34 E t w a derjenigen Scheuners u n d Mols.

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1. Kap.: Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation II. Zur Gewinnung eines Begriffs der politischen Anthropologie

Der geforderte methodisch bewußte und doch genügend offene Begriff der politischen Anthropologie als der Frage nach dem „Wesen des Menschen" und seines gegebenenfalls wesenhaften Verhältnisses zur Politik und zum Staat findet sich vor allem bei Helmuth Plessner . Plessner unterstellt der Anthropologie „das Psychische ebenso wie das Geistige, das Individuelle ebenso wie das Kollektive, das i n einem beliebigen Zeitquerschnitt Koexistierende ebenso wie das Geschichtliche", dazu „alle Seinsweisen und Darstellungsformen" des Menschen 35 . Dieser nahezu unausfüllbar weite Begriff erfährt jedoch eine gewisse Einschränkung als Wesenserkenntnis des Menschen 36 , i n der der Mensch „als Mensch" angesprochen ist 3 7 . Damit w i r d eine Eingrenzung auf den Bereich vorgenommen, „der zwischen den Extremen größtmöglicher Vereinzelung und größtmöglicher Verallgemeinerung eine nicht genau festzulegende Mitte h ä l t " 3 8 . Wendet man sich zunächst dem verallgemeinernden Aspekt zu, so kann das Ergebnis anthropologischen Fragens nur eine menschliche „ S t r u k t u r " sein, „die formal und dynamisch genug sein muß, um die i n der ganzen Breite ethnologischer und historischer Erfahrung ausgelegte Mannigfaltigkeit als mögliche Modi des Faktisch-werdens dieser Struktur sichtbar zu machen" 39 . M i t dem gleichen Recht könnte man auch von einem Bündel von Grundfunktionen des Menschen sprechen, wobei der Begriff der Struktur das stärker gegenständlich (auch i m sozialen Zusammenhang) Verfestigte und Verwirklichte, derjenige der Funktion eher die noch zu bewältigende Aufgabe und die Dynamik ihrer Realisierung zum Ausdruck bringt 4 0 . Trotz solcher grundsätzlichen Differenz von Struktur 85

Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 248. Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 290. 37 Plessner , Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, S. 119. 38 Plessner , Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, S. 119. 39 Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 254; die dort aufgeführten Einschränkungen werden später berücksichtigt. 40 Vgl. Litt, Erkenntnis u n d Leben, S. 90 ff., S. 109 f. A n m . 1; Spranger, L e bensformen, S. 14 ff.; vgl. auch Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 31, aber lediglich auf das System, nicht den Einzelnen bezogen. Ä h n l i c h Luhmann, Grundrechte, S. 18, dort auch A n m . 9, S. 195 ff. Ausdrücklich bemerkt hier der bedeutendste deutsche Vertreter der amerikanischen funktionalen Systemtheorie eine Verwandtschaft zwischen dieser u n d dialektischen Sozialtheorien Hegel - Mararscher A b k u n f t , Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 34, denen letztlich auch die Staatstheorie Smends zuzurechnen ist. Speziell zu Smends Grundrechtslehre n i m m t Luhmann v o m Boden der Systemtheorie aus selbst Stellung, Luhmann, Grundrechte, S. 44 ff. E i n kurzer wissenschaftstheoretischer Vergleich zwischen Smends Staatslehre u n d der Systemtheorie Parsons' findet sich bei Mols, S. 250 ff. Über gelegentliche Hinweise hinaus ist es i m folgenden nicht möglich, zu erwartende fruchtbare Berührungspunkte heraus36

II. Zum Begriff der politischen Anthropologie

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und Funktion wären sie demnach i m wesentlichen nur verschiedene Aspekte und Modi derselben Sache 41 . A u f Ähnliches zielt auch der Gehlens che Begriff der Kategorie 4 2 . — Mögen solche Strukturen, Funktionen, Kategorien „empirisch-analytisch" aus der Fülle des historischen Materials induziert sein 43 , mögen sie umgekehrt aus „singulär fundierter Wesenserkenntnis" gewonnen 44 und derart nicht aus der erfahrbaren Geschichte entnommen sein, sondern die logischen und wirklichen Voraussetzungen erfahrbarer Geschichte am Einzelobjekt 4 5 und i n diesem speziellen Sinne eine „apriorische" Form darstellen 46 , mögen sie sich schließlich aus einer Verbindung empirischen und apriorischen Vorgehens ergeben 47 , i n jedem Falle w i r d beansprucht, methodisch bewußt und erkenntnistheoretisch abgesichert vorgegangen zu sein 48 . I n jedem Falle entsteht weiter ein Zusammenhang von formalen Wesensbestimmungen des Menschen, über die i m wesentlichen überraschendes Einvernehmen herrscht und die jedenfalls i n die weitere empirische Einzelarbeit als apriorisches Moment eingehen. Wenn Badura der Integrationslehre Smends eine deduktive Methode attestiert, „insofern als sie nach der Aufstellung des Axioms von der ,Wirklichkeit des Staates durch Integration 4 die einzelnen staatlichen Phänomene i m Sinne dieses Prinzips interpretiert und klassifiziert" 49 , so glaubt er, damit Smend die Überschreitung der Grenze aller Staatswissenschaft vorzuwerfen 5 0 . Er übersieht aber, daß dieses „ A x i o m " und die daran anschließende „Deduktion" nicht Ausdruck willkürlicher ideogischer Setzung sind, sondern ihrerseits wissenschaftlich verantwortetes zuarbeiten. Einen nicht auf ein soziales System, sondern — w i e hier — den Einzelnen bezogenen Funktionsbegriff entwickelt Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer u n d personenfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie . . . , S. 37 ff. 41 Vgl. etwa auch Litt, Erkenntnis u n d Leben, S. 91. 42 Gehlen, Der Mensch, S, 12, 15, 67, 382, 392. 43 Gehlen, Der Mensch, S. 10 f. Urmensch, S. 7 ff. 44 So Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 6, m i t Volkelt; vgl. ähnlich auch Spranger, Lebensformen, S. 34 f. 45 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. V I . 46 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 25 f.; vgl. auch Spranger, Lebensformen, S. 32. 47 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 251 ff., besonders S. 257 ff. i m Anschluß an Dilthey . 48 Vgl. Plessner, Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie, S. 117; Macht u n d menschliche Natur, S. 268 ff.; Die Aufgabe der philosophischen A n thropologie, S. 128 ff.; Spranger, Lebensformen, S. X I ; Gehlen, Der Mensch, S. 15 ff.; Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 4 f., erhebt den A n spruch der Phänomenologie, die er gegenständlich i n die Welt der sozialen Wesensverknüpfungen, S. 8, methodisch i n das dialektische Denken hinein fortentwickelt, S. 18 ff. 49 Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, S. 189. 50 Badura, S. 189.

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1. Kap.: Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation

Ergebnis, das dem Maßstab moderner Anthropologie standhält, so daß eine positive Wendung seiner zitierten Feststellung möglich w i r d 5 1 : Ganz entsprechend dem von Smend geübten Verfahren spricht der von Smend zugrunde gelegte Eduard Spranger i n durchaus positivem Sinne von der Notwendigkeit deduktiven Vorgehens bei der systematischen Erfassung des Menschlichen 52 , von einem deduktiven Moment i n allem Verstehen 53 . Selbst Gehlen w i l l seine empirische Anthropologie als eine „philosophische" Disziplin verstanden wissen, insofern sie auf eine Gesamtanschauung des Menschen zielt, die jeder EinzelWissenschaft, die nur einen besonderen Aspekt des Menschen thematisiert, vorgeordnet ist 5 4 . Und Litt, an dessen Kulturphilosophie und Erkenntnistheorie Smend vor allem anschließt, verwahrt sich selbstverständlich gegen den terminus Deduktion i. S. inhaltlich konkreter Festlegung 55 , beansprucht aber andererseits, daß die von i h m formulierten Strukturen einen gegenständlichen Rahmen jeder konkreten menschlich-sozialen Wirklichkeit darstellen 56 , so daß sie nicht anders als die apriorischen Bestimmungen der anderen genannten Autoren zur Grundlage einer Deduktion i m weiteren Sinne dienen. Dieses deduktive Moment i m Verhältnis zur empirisch-geisteswissenschaftlichen Einzelwissenschaft ist nicht zu Unrecht m i t der Mathematik i m Verhältnis zur Empirie, etwa der Physik, verglichen worden 5 7 ; speziell Litt behauptet seinen streng theoretischen, logischen Charakter 5 8 , jedenfalls für den Bereich des „Geistigen" 5 9 . M i t der Mathematik teilt es auch einen erheblichen Abstraktionsgrad, den aber innerhalb einer auf Gegenständliches zielenden Interpretation über den hier bearbeiteten Umfang auszubreiten sicher nicht gerechtfertigt wäre 6 0 / 6 1 , wenn es nicht noch mehr und anderes wäre, als die Mathematik i m Verhältnis zur Empirie, nämlich nicht nur Methode, sondern, wie angedeutet, zugleich grundlegende gegenständliche Aussage über das Wesen des Men51 I n positivem Sinne w i r d das Vorgehen Smends m i t Deduktion bezeichnet bei Bartlsperger, S. 13. 52

Spranger, Lebensformen, S. 30 ff. Spranger, Lebensformen, S. 440. 54 Gehlen, Der Mensch, S. 11 ff.; erst recht g i l t das f ü r Litt, I n d i v i d u u m u n d u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 25, u n d Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 242, 291 ff.; Die Aufgabe . . . S. 117. 55 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 33 ff. 56 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 31 ff.; S. 137 f. 57 Schilling, A p r i o r i u n d F a k t i z i t ä t . . . , S. 26 ff. 58 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. V I . 59 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 6. 60/81 Schon Litt bekagt, daß diesem Gegenstand notwendigerweise die ü b liche „Verständlichkeit" abgehe u n d seine w i r k l i c h „eingängige" Darstellung schwerlich möglich sei, Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. I X . 53

II. Zum Begriff der politischen Anthropologie

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sehen selbst 62 , das als solches m i t der Methode der Einzelwissenschaften (im Gebiet der Geisteswissenschaften i m weitesten Sinne) nicht erfaßbar ist 6 8 und diesen zum eigenen Schaden allzuleicht aus den Augen gerät. Wenn oft schon die Eigengesetzlichkeit der Einzelfachmethoden daran schuld ist, daß dem einen als ideologisches Postulat erscheint, was dem anderen längst als wissenschaftlich erhärtete Selbstverständlichkeit gilt, so mag es für die Staatstheorie u m so mehr i n einer Zeit zunehmender Ideologisierung der politischen, auch der politikwissenschaftlichen Diskussion 6 4 am Platze sein, auf den anstrengenden Abstraktionsgrad einer formalen Anthropologie zurückzugreifen i n der Hoffnung, daß gerade diese sich als geeignetes Instrument einer Ideologiekritik und als neutrale Basis wissenschaftliche Auseinandersetzung erweisen w i r d 6 5 . N u r w e i l alle Einzelwissenschaft dauernd i n Gefahr ist, den Bezug zum gemeinsamen an sich w o h l unbestrittenen humanen Mittelpunkt zu verlieren, weil insbesondere einer positivistischen Staatsrechtswissenschaft der Mensch aus den Augen geraten war, weil andererseits jede auf die Wirklichkeit zielende, erst recht aber eine demokratisch ansetzende Staatslehre sich notwendig auf ihren Mittelpunkt, den Menschen, besinnen und dabei möglichst ideologiefrei verfahren muß, mag es gerechtfertigt sein, i m folgenden vorwiegend das abstrakte Moment der Anthropologie zu diskutieren, wie es teils als expliziter Ausgangspunkt, teils als unausgesprochene aber notwendig zu erschließende Voraussetzung der Integrationslehre Smends zugrunde liegt. So dezidiert die postulierten Strukturen, wie i m einzelnen zu zeigen sein wird, nicht nur die Möglichkeit der Geschichte offenlassen, sondern geradezu die Geschichtsmacht des Menschen formulieren sollen 66 , so sind sie doch selbst noch als dynamische und formale Größen i n Gefahr, i n ein starres, unhistorisches Schema umzuschlagen, etwa derart, daß der aufgeklärte, seiner selbst, seiner Freiheit und Geschichtsmacht bewußt gewordene moderne europäische Mensch sich i n ihnen gegenüber früheren bzw. außereuropäischen Kulturen absolut setzt 67 . Abgesehen von 62

L i t t , I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 26 f. Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 34 ff.; S. 411. 64 Lemberg, Ideologie u n d Gesellschaft, S. 310 ff.; S. 15 f.; S. 52 f. Solche Erscheinungen stellen eher eine Folge der oben erwähnten Rationalisierung als einen Widerspruch zu i h r dar. Vgl. Gehlen, Urmensch, S. 93, 246, 254 ff. 65 Wein, S. 120; S. 158 ff. Diese ideologiekritische F u n k t i o n der Anthropologie t r i t t i m Fortgang dieser A r b e i t i m m e r deutlicher hervor. ββ Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 269, 276 ff. Litt drückt das so aus, daß der von i h m gefundene abstrakte Rahmen nicht n u r nicht konkreter E r f ü l l u n g widerspreche, sondern diese vielmehr postuliere, Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 136 ff., S. 414, Erkenntnis u n d Leben, S. 58 ff., S. 61 ff., S. 212 ff. 87 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 255 ff. 63

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1. Kap.: Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation

der tatsächlichen Erscheinung, daß das Selbstverständnis des Europäers sich m i t der Technik zunehmend über die Erde h i n ausbreitet, kann dieser Gefahr der Verengung i m Bereich der Wissenschaft dadurch begegnet werden, daß man die zu diskutierenden Strukturen von vornherein als ein sozusagen relatives A p r i o r i 6 8 auffaßt, m i t h i n als ein solches, das von vornherein nicht nur grundsätzlich offen ist für konkrete, je individuelle Weisen des Menschseins, sondern offen ist auch für solche Denkweisen, die europäischem Selbstverständnis widersprechen 69 . Als ein A p r i o r i also, das sogar sich selbst i n gewissem Umfang zur Disposition der politisch-geschichtlichen Selbstgestaltung des Menschen stellt 7 0 . Insofern w i l l es nur regulativ sein, d. h. falsche Fixierungen vom Menschen und seiner irrationalen Freiheit und Macht fernhalten 7 1 und selbst die Möglichkeit mitdenken, daß der nichtfeststellbare Mensch sich feststellt, indem er seine Freiheit von sich w i r f t 7 2 . Durch diese Offenheit zur je besonderen Seite h i n w i r d die Dimension des Politischen von Anbeginn i n den Ansatz der philosophischen Anthropologie aufgenommen, die so konzipierte Anthropologie ist eo ipso politische Anthropologie 7 3 . Das hiermit angesprochene konkret-individuelle, „besondere" Moment der Anthropologie w i r k t um vieles farbiger als die „mathematische" Anthropologie, ist aber u m so mehr i m Streit und entbehrt i m gleichen Maße der ideologiekritischen und regulativen Kraft. Es steht deshalb i m folgenden i m Hintergrund und kommt nur i m dritten Kapitel bei der Skizzierung der historischen Situation etwas ausführlicher zu Wort. Nach dieser Skizze des Begriffs der politischen Anthropologie kann prima facie angenommen werden, daß Smends über sein gesamtes Werk verstreute Aussagen über das politische Individuum i n den gezeigten weiten Rahmen fallen samt ihrer auf der Philosophie Theodor Litts und — i n ihrer Bedeutung für die Theorie Smends oft übersehen — der Phi88

Plessner m i t Dilthey , Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 269, S. 273 ff. 89 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 257 ff. 70 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 277 ff. 71 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 282, 273; Wein, S. 119 f., S. 148 ff. 72 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 243 f. 73 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 290 f.; S. 304 ff.; S. 2 4 3 1 Z u m grundsätzlich politischen Aspekt ausführlicher später; die durch die Dimension der P o l i t i k geforderte Relativität eignet allerdings i n geringerem Grade etwa den apriorischen Bestimmungen Litts, sofern diese sich ausschließlicher auf die allgemein menschliche F u n k t i o n des Verstehens gründen, Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 36, während die hier interessierenden Ausschnitte der Anthropologie Plessners vor allem die Erfassung der hochdifferenzierten aber labileren u n d relativeren F u n k t i o n der politisch-geschichtlichen Selbstgestaltung u n d ihrer S t r u k t u r e n zum Gegenstande haben.

I I I . Anthropologisch relevante Schriften Smends

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losophie Sprangers aufbauenden erkenntnistheoretischen und k u l t u r philosophischen Grundlage. Auch Litt selbst beurteilt seine Lehre von der „ S t r u k t u r des Geistes" als Anthropologie 7 4 und setzt sich entsprechend m i t der Anthropologie etwa Gehlens auf einer Ebene auseinander 7 5 . Auch Spranger handelt „über den Charakter des Menschen und über die Grundformen, deren er fähig i s t " 7 6 . I I I . Die anthropologisch relevanten Schriften Smends Die wichtigste Arbeit Smends ist „Verfassung und Verfassungsrecht" (1928)77. Sie hat zum wesentlichen Inhalt dasjenige staatstheoretische System 78 , das man i n Staatsrechtswissenschaft und Staatstheorie als Integrationslehre bezeichnet 79 . Obwohl von Smend nur als Programm verstanden, findet sich darin seine methodisch geschlossenste Leistimg 8 0 , deren Denkansätze dann deutlich i n spätere Schriften hinein ausstrahlen. Als die beiden wichtigsten Zeugnisse, vom hier verfolgten Aspekt der Anthropologie her gesehen, sind zu nennen „Bürger und Bourgeois i m deutschen Staatsrecht" (1933) und „Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert" (1943), die sich explizit m i t dem Typ des modernen politischen Menschen und seiner Krise befassen 81 . I n „Verfassung und Verfassungsrecht" selbst kommt der Begriff der politischen Anthropologie allerdings noch nicht vor, sondern erst viel später i n der schon genannten Arbeit „Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert" (1943). Seither rückt er zunehmend i n den Vordergrund der wissenschaftlichen Fragestellung Smends: I n seinem Beitrag „Das Problem der Institutionen und der Staat" (1956) richtet er die Forderung einer stärkeren anthropologischen Aufhellung seiner Lehre i m Sinne des existenziellen Charakters des Staates an sich 74 Litt, Mensch u n d Welt, S. 5; anders noch i n engerem biologischen Sinne der Anthropologie Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 167. 75 L i t t , Mensch u n d Welt, S. 287 ff. 76 Spranger, Lebensformen, S. 3. 77 Vgl. auch Mols, S. 23. 78 System hier untechnisch verstanden. 79 Vgl. zum Sprachgebrauch des Integrationsbegriffs i n der verfassungsrechtlichen Erörterung u n d i m weiteren Rahmen Smend, Integrationslehre, S. 476. Mols stellt i n einem systematischen E n t w u r f zur methodischen G r u n d legung der politischen Theorie i m Begriff des Politischen die bisher w o h l breiteste Gesprächsbasis zwischen der Politikwissenschaft u n d der Integrationslehre her (besonders Mols, S. 43, S. 15), indem er den Begriff des P o l i t i schen der Integrationslehre als einen Beitrag zu jenem Versuch wertet, Mols, S. 17. 80 Mols, S. 140. 81 Scheuner, Rudolf Smend, S. 436, sieht darin offenbar ebenfalls Ausstrahlungen von Verfassung u n d Verfassungsrecht.

3 Poeschel

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1. Kap. : Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation

selbst 82 und akzentuiert danach diese Aufgabe — nicht ohne sie zugleich i n Angriff zu nehmen — immer eindringlicher 8 3 . Implizit jedoch, teilweise sogar recht versteckt, verteilt sich der Inhalt dessen, was hier unter politischer Anthropologie verstanden werden soll, nicht nur auf die bisher genannten Schriften, sondern wohl nahezu über das gesamte staatstheoretische Werk Smends. Unter Bezugnahme auf den vorgeführten Begriff der politischen A n thropologie erhärtet sich vor allem die These, daß der wesentliche anthropologisch-theoretische Ansatz Smends — hauptsächlich i m Anschluß an Litt und Spranger —, bisher weitgehend unerkannt, schon i n seinem Hauptwerk „Verfassung und Verf assungsrecht" vorliegt und daß es nicht angehen kann, an seiner Stelle nur ein ideologisch-metaphysisches A x i o m 8 4 oder einen normativen Ausschnitt 8 5 zu sehen oder auch neben dem gewiß bedeutenden erkenntnistheoretischen und methodischen Aspekt den schon von Litt und Spranger betonten gegenständlichen und gleichwohl methodisch ausgewiesenen Aspekt der Anthropologie 8 6 zu vernachlässigen bzw. normativ zu verkürzen 8 7 . Die eigentümliche Lage eines anthropologischen Interesses an der Staatstheorie Smends ist also derart, daß es unmöglich von der „Integrationslehre" i m engeren Sinne des Hauptwerkes „Verfassung und Verfassungsrecht" abstrahieren kann, andererseits aber Smends anthropologischer Beitrag damit keineswegs ausgemessen ist. Vielmehr verweist die Integrationslehre schon von sich aus insofern auf spätere anthropologische Ergänzungen, als sie ohne diese nur schwer verständlich ist 8 8 . I m Gegensatz zu der i m Normalfall wohlbegründeten Beschränkung einer Interpretation auf ein bestimmtes Werk eines Verfassers 89 muß deshalb bei der Bestandsaufnahme zum hier gewählten Thema das weite Zeitstrecken m i t radikalen geschichtlichen Umbrüchen umfassende Gesamtwerk Smends zugrunde gelegt werden. Derart Smend aus dem Rahmen 82

Smend, Das Problem der Institutionen . . . , S. 516. Smend, Staat, S. 520, S. 525 f. 84 So Mayer, Kelsen, Wohlgemuth, vgl. oben S. 25; Badura, vgl. oben S. 29; w e n n auch positiv gewendet, selbst Scheuner, vgl. oben S. 27 d. A. 85 So Mols, vgl. oben S. 26; Scheuner, vgl. oben S. 27. 86 Beide Seiten deutlich bei Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 36 ff. u n d Spranger, Lebensformen, S. 32 f. 87 So geschieht es leider bei Mols, der das eigentlich anthropologische Problem w i e Scheuner erst i n v i e l späteren Schriften Smends verortet, vgl. Mols, S. 185 ff. 88 Vgl. Badura, S. 184 f. f ü r die philosophischen Grundlagen Smends i m Anschluß an Litt; Ähnliches g i l t w o h l selbst für Smends frühe Abhandlung „ D i e politische Gewalt i m Verfassungsstaat u n d das Problem der Staatsform" (1923). 89 So beschränkt sich ζ. B. Bartlsperger auf Verfassung u n d Verfassungsrecht, Bartlsperger, S. 2. 83

IV. Inhaltliche Thesen zur politischen Anthropologie bei Smend

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seines staatstheoretischen Lebenswerkes heraus zu interpretieren mag i m vorliegenden Fall zusätzlich legitimiert sein durch die große Geschlossenheit — methodischer und inhaltlicher A r t —, die seine Arbeiten allgemein auszeichnet 00 und die bei dem Thema der politischen Anthropologie als dem fundamentalen Aspekt seiner Theorie erst recht vorausgesetzt werden kann 9 1 . I V . Thesen zum inhaltlichen Akzent der politischen Anthropologie bei Smend 1. Zum Verhältnis Einzelner/Staat

bei Smend

Neben der methodischen These, daß i n der Smend-Interpretation schon Begriff und äußere Stellung der politischen Anthropologie verkannt werden, müssen, u m die Aufgabe dieser Arbeit gerade gegenüber i n vielem verwandten Auffassungen abzugrenzen, einige Thesen inhaltlicher A r t aufgestellt werden. Dazu bietet sich zunächst ein Vergleich m i t Scheuner an, dessen Nähe zu Smend Mols m i t Recht feststellt 92 . Genauer untersucht, differieren andererseits Scheuner und Smend entscheidend. Scheuner sagt: „ N u r i m Rahmen einer politischen Anthropologie w i r d die grundlegende Rolle des Staates als höchster Instanz des menschlichen Lebens zur Wahrung von Ordnung, Frieden und Gerechtigkeit erkennbar 9 8 ." Ordnung, Frieden und Gerechtigkeit sind gewiß Güter, die auch bei Smend einen bedeutenden Rang einnehmen 94 , aber doch einen anderen als bei Scheuner, der offenbar i n ihrem Schutz sich „eine humane und zivilisierte Existenz" 9 5 denkt. Dagegen heißt es an zentraler Stelle bei Smend: „Die staatliche Welt bedeutet für den Einzelnen eine Möglichkeit geistiger Auswirkung und damit zugleich persönlicher Selbstgestaltung 96 ." 90

Scheuner, Rudolf Smend, S. 434, 436. Auch Mols verfährt i n dieser Weise, besonders für das Wissenschaftsverständnis Smends, Mols, S. 244 A n m . 17, aber auch i m übrigen, z. B. S. 187, 185. 92 Mols, S. 197 t 93 Scheuner, Das Wesen des Staates . . . , S. 255. 94 Smend, Staat u n d Politik, S. 370, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 196 zur Ordnung; Smend, Staat, S. 521 zum Frieden; Smend, Staat u n d Politik, S. 376 ff. u n d Smend, Das Bundesverfassungsgericht, S. 592 f. zur Gerechtigkeit. 95 Scheuner, A r t . Staat, S. 654 links. 96 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131; h i e r i n k a n n w o h l der eigentliche politisch-anthropologische Ansatz Smends gesehen werden. Dazu i m einzelnen später. 91

3*

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1. Kap.: Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation

Obwohl weithin ein noch dunkler Satz, ist er doch erkennbar weit entfernt von einer vornehmlich äußerlich schützenden Funktion des Staates. I n dieser Konzeption klingt vielmehr an, daß gerade die politische Einordnung des Menschen „seine grundlegende anthropologische Wesenheit als geschichtliches Wesen deutlich und wirklich macht 9 7 ". Es geht also Smend nicht so sehr u m „eine humane und zivilisierte Existenz" i m Schutz des Staates, sondern direkt i m Staate durch polttische Selbstverwirklichung, es geht i h m u m „den Staat als remedium libidinis, als Heilmittel für die Begierde, nämlich der Leidenschaft der geschichtlichen Selbstentfaltung 9 8 ". U m den Unterschied zwischen der Sicherung und der gerechten Ordnung der mehr äußeren Existenz und der aktiven 9 9 Beteiligung des ganzen, auch des inneren, subjektiven Menschen i m Staate — an dieser Stelle findet sich das eigentliche Anliegen Smends, so lautet die inhaltliche These dieser Arbeit — noch erkennbarer zu machen, mag auch die Uberdehnung bis zum Gegensatz erlaubt sein, der etwa durch das bekannte Verhältnis Hobbes / Rousseau veranschaulicht werden könnte: Wie es Hobbes vor allem u m die Sicherung der physischen Existenz des Menschen geht und er u m ihretwillen den naturrechtlichen Verbund von Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag löst und den Gesellschaftsvertrag — die Konsequenz der Spontaneität und Freiheit des Menschen — streicht, dagegen den Herrschaftsvertrag allein übrig läßt, so beseitigt umgekehrt Rousseau den Herrschaftsvertrag, u m sich ausschließlich dem Gesellschaf tsvertrag zuzuwenden 100 . Der anthropologische Sinn der Vertragskonstruktion Rousseaus ist die i m Zustand der Zivilisation einzig mögliche Verwirklichung des Wesens des Menschen i m Sinne seiner natürlichen, nun aber verlorenen Einheit und Freiheit 1 0 1 , und zwar nicht einer abstrakt-negativen Freiheit vom Staate, sondern einer konkret-positiven, substantiellen Freiheit i m Staate 1 0 2 ; von der Seite des Staates her gesehen, bedeutet diese Teilhabe Gemeinschaftskonstituierung 1 0 3 . 97 Smend, Staat, S. 526; doch ist der Weg noch w e i t v o n einer Möglichkeit der A u s w i r k u n g bis zur Realisierung des eigentlichen (geschichtlichen) Wesens i m letzteren Satz; zu dieser Bewegung i n Smends Werk später. 98 Dombois, Politische u n d christliche Existenz, S. 102 übermittelt i n dieser Formulierung eine offenbar n u r mündliche aber bezeichnende Äußerung Smends. 99 Wie sich damit der „eigentümlich intransitive Aspekt" (Mols, S. 275) des Begriffs des Politischen bei Smend, sowie sein doch zunächst „passiver" Erlebnisbegriff verträgt, ist sehr schwierig zu beantworten u n d f ü h r t schon i n den K e r n dieser Arbeit. 100 vgL p. Müller, Entfremdung, S. 28 ff.; Kaufmann, Die anthropologischen Grundlagen . . . , S. 367. 101 102

Müller, Entfremdung, S. 32. Müller, Entfremdung, S. 39 ff.

IV. Inhaltliche Thesen zur politischen Anthropologie bei Smend

37

Formelhaft könnte man sagen: Bei Hobbes erfüllt der Staat objektiv-äußere, bei Rousseau subjektivinnere Notwendigkeiten für den Menschen 104 . Nun kann Scheuner sicher nicht unter Hobbes subsumiert werden 1 0 5 und Smend nicht unter die totalitären Konsequenzen eines Rousseau. Trotz vieler Berührungspunkte stehen beide, Scheuner und Smend, irgendwo jenseits des derart überpointierten Gegensatzes. Die beiden Parallelen dienen lediglich dazu, auf den ersten Blick Verwandtes stärker zu differenzieren, um so vor allem das Anliegen Smends deutlicher zu konturieren 1 0 6 . Darüber hinaus sollen sie hier nicht verfolgt werden 1 0 7 . 2. Zur Auffassung vom Wesen des Menschen bei Smend Der bisherige anthropologische Hinweis bezieht sich nur auf das abstrahierte Verhältnis Einzelner / Staat bei Smend. U m es weiter andeutend i n Richtung der hier vertretenen Interpretation Smends auszufüllen, ist bei dem i n gewissem Sinne vorgegebenen und eingebrachten Wesen des Menschen einzusetzen. Einen ersten Anhaltspunkt ergab die Sentenz Ortegas, ihre Unterscheidung und Verbindung von subjektiven und objektiven Notwendigkeiten des Menschen. Z u r weiteren Differenzierung und genaueren Akzentuierung i n der intendierten Richtung sei erinnert an klassische Positionen der deutschen Geistesgeschichte: Karl Marx schen" 108 . 108

erfaßt m i t Hegel „die Arbeit als das Wesen des Men-

Müller, Entfremdung, S. 29 f. Vgl. auch zu Hobbes, Hennis, Ende der Politik, S. 522 f. 105 Bei Scheuner sind die genannten Güter u n d Sicherungen gewiß gedacht als Voraussetzung der Entfaltung des ganzen, auch des inneren Menschen u n d seiner sittlichen Bestimmung (vgl. Scheuner, A r t . Staat, S. 656 Ii.), w e n n auch letzteres nicht so entschieden i m Raum des Politischen w i e bei Smend. 106 Z w a r bemerkt Mols die hervorragende Stellung der aktivbürgerlichen Selbstgestaltung i n der Staatstheorie Smends (vgl. Mols, S. 208), aber die aufgezeigte grundsätzliche Differenz zwischen dem üblichen Ordnungsdenken u n d der Auffassung Smends w i r d von Mols nicht gewürdigt, vielmehr eingeebnet, vgl. etwa Mols, S. 193, S. 197 f. 107 Es wäre aber sicher reizvoll, Smends Berührungspunkte m i t Rousseau weiter zu untersuchen; so fällt allgemein auf das Zurücktreten des herrschaftlichen Moments bei Smend — jedenfalls i n Verfassung u n d Verfassungsrecht —, weiter die Parallele der Unterscheidung von Bürger u n d Bourgeois bei Smend (Bürger u n d Bourgeois, S. 309 ff.), „citoyen" u n d „bourgeois" bei Rousseau (zu den Hintergründen bei Rousseau vgl. Löwith, V o n Hegel zu Nietzsche, S. 258 ff.). Smend selbst weist darauf hin, daß die volonté générale Rousseaus, dynamisiert aufgefaßt, seinem Prinzip der Integration entspricht (Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 181 f.). 108 Zit. nach Löwith, S. 305. 104

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1. Kap.: Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation

Für Schiller dagegen gilt: „. . . der Mensch spielt nur, wo er i n voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt 109." I n der eigentümlichen Verbundenheit und Totalität, auf die Smend zielt, findet sich beides bei Goethe i m Ausruf Egmonts angesichts seines sicheren Todes: „Süßes Leben! schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und W i r kens, von dir soll ich scheiden? 110 " Als Leistung und Leben i m Staat lassen sich diese Wesensbeschreibungen wohl durch das gesamte staatstheoretische Werk Smends verfolgen; dabei erscheint ganz parallel dem Ausspruch Goethes das politische Leben als Dasein u m seiner selbst willen als dem Pol des Wirkens, d. h. aber der Leistung, gegenübergestellt, und als das Umfassende ist es dieser zugleich i n gewissem Sinne übergeordnet 111 . Wenn i n der Sicht Smends, wie gesagt, auch innere, subjektive Notwendigkeiten Mensch und Staat verbinden, so gründet der Staat i m Sinne dieser weiteren Differenzierungen nicht nur i n der Leistung, sondern i m „selbstzwecklichen Leben" des Menschen selbst 112 . Aber i m Lichte dieser weiteren Differenzierungen zeigt sich: Sogar diejenigen Funktionen, i n denen der Mensch i m Staat zunächst leistet, sind nicht mehr nur, was das Ortega-Wort noch offen läßt, M i t t e l zum eigentlichen Leben, sondern, wie die Marasche Kategorie der Arbeit offenbart, viel unmittelbarer Selbstrealisierung und also Leben. So führt die Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends teilweise zwar durch Zonen abgestufter Mittelbarkeit, letztlich aber auf allen Wegen m i t innerer Notwendigkeit i n den Bereich des rational schwer zu fassenden Lebensbegriffs.

V. Notwendigkeit einer Staatstheorie und Anthropologie verbindenden Interpretation Smends Wenn es die angedeutete Bezogenheit von Staat und Einzelnem und deshalb auch von Anthropologie und Staatstheorie 113 tatsächlich gibt und wenn danach der zugrunde gelegte Begriff des Menschen über das Staatsverständnis eines politischen Denkers mitentscheidet, so kann 109

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen . . . , 15. Brief. Goethe, Egmont, 5. Aufzug; auf diese Parallele hat Smend selbst mich hingewiesen. 111 Dieses komplizierte Verhältnis w i r d noch Gegenstand ausführlicher D a r stellung sein. 112 Smend, Staat, S. 520. 118 Vgl. dazu oben S. 24 d. Arb. 110

V. Verbindung von Staatstheorie und Anthropologie bei Smend

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es nicht verwundern, daß eine Interpretation Smends, die nur Teilaspekte seiner zugrunde gelegten Anthropologie berücksichtigt oder ihren angedeuteten Facettenreichtum für eine ideologische Setzung hält, Gefahr läuft, Smend nach der einen oder anderen Seite hin gründlich mißzuverstehen. Je nach Blickpunkt hat man i h m die Absolutsetzung irgend eines Aspekts vorgeworfen, die vitaleren Komponenten des Lebensaspekts etwa als Vitalismus 1 1 4 , Biologismus, Psychologismus 115 , Emotionalismus und Irrationalismus 1 1 6 , als ob Smends anthropologischer A n satz nicht dem Rationalen und Leistungsmäßigen auch i n der normativen verinnerlichten Form einen legitimen Platz bereithielte; oder man hat positiv oder negativ vornehmlich das Normative, Ethische 117 , vermeintlich Idealistisch-Geistige 118 , Spirituelle 1 1 0 gewürdigt, als ob Smend nicht andererseits das lebensmäßig Wirkliche i n Abwehr eines moralisierenden Rationalismus und einer missionierenden Technokratie i m weitesten Sinne 1 2 0 vor allem akzentuierte. Hier w i r d deutlich, daß nur die bewußte Beachtung der ganzheitlich zugrunde gelegten Anthropologie derartig widersprüchliche Einseitigkeiten i n der Interpretation samt ihren politischen Einordnungen 1 2 1 vermeiden bzw. über i h r Recht oder Unrecht begründet entscheiden kann. Das gilt u m so mehr, als man als Smends besondere Leistung eine außerordentlich enge Bezogenheit von Anthropologie und Staatstheorie ansehen muß, i n deren Gefolge jedes wesentliche staatstheoretische Problem sein anthropologisches Gegenstück besitzt 1 2 2 . 114

S. 264. 115

Badura,

S. 189; Rohatyn,

Die verfassungsrechtliche

Integrationslehre,

Rohatyn, S. 264; Kaufmann, V o r w o r t , Rechtsidee u n d Recht, S. X X I . Wohlgemuth, S. 192, S. 22 A n m . 2, S. 49, S. 162 ff.; Badura, S. 189; Franke, Das Daseinsproblem des Staates, S. 269 f. 117 So Mols, vgl. oben S. 26. 118 Bartlsperger, S. 45, S. 91 ff.; Mayer, S. 82 ff., S. 91 ff.; Heller, Staatslehre, S. 89. 119 Kaufmann, Z u r Problematik des Volkswillens, S. 246; an anderer Stelle bringt er den Spiritualismus m i t dem Anarchismus i n Verbindung, Die anthropologischen Grundlagen . . . , S. 367 f. 120 Dazu später. 121 Smend, Integrationslehre, S. 481, weist selbst auf fehlerhafte politische Einordnungen seiner Lehre hin. 122 I n dieser Verzahnung liegt, was die „deduktive", ideologiekritische V e r bindlichkeit einer staatstheoretischen Sicht angeht, sogar das entscheidende Problem. Litt jedenfalls, der doch Smend den wesentlichen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt lieferte, ist diese enge Verknüpfung, w o er i n der ersten konkreten Auflage von „ I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft" i n bestimmte staatliche Bereiche hinübergreift, streckenweise nicht geglückt, vgl. etwa die K r i t i k Litts durch Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 148 A n m . 18. E i n ähnlich enger Zusammenhang von Anthropologie u n d Staatstheorie w i e bei Smend findet sich erst neuerdings wieder bei Denninger, Rechtsperson u n d Solidarität, aufschlußreich dafür ist schon die Fragestellung, Denninger, S. 6 ff. 116

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1. Kap.: Smend-Interpretation/Ansatz der eigenen Interpretation

Während ζ. B. der selbst anthropologisch, aber i m Vergleich zu Smend zu eng und normativ ansetzende Scheuner keine tiefere anthropologische Erklärung für das eigentümliche Pathos des National- wie des Sozialstaates bietet, sondern sie lediglich als historische und kontingente Tatsache registriert 1 2 3 , enthält der lebensphilosophisch-anthropologische A n satz Smends ganz andere und tiefere Interpretationsmöglichkeiten solcher geschichtsmächtigen Faktoren, wie sie als Demokratie, Nationalund Sozialstaat die weltweit beherrschende Erscheinung der Industriegesellschaft und ihrer unpersönlichen Zwänge immerhin (noch oder schon) modifizieren. M i t Recht sagt Mols: „Die Theorie der Integration ist theoretisch gedeutete Erfahrung 1 2 4 ." Dann kann jedoch der hervorragende A n t e i l der Anthropologie an solcher Deutung durch Smend nicht nach irgendeiner Seite h i n verkürzt werden, ohne daß Verzerrungen i n der Interpretation auch jener Deutung die Folge wären. Es ist kein Wunder, daß man i n der MoZsschen Smend-Interpretation Maßstäbe für eine K r i t i k heutiger Ordnung vermißt und daß i n i h r heute brennende Probleme wie „Demokratie und Publizität, Offenheit und Freiheit" keine angemessene Berücksichtigung finden 125. Denn die Maßstäbe einer K r i t i k , wie der Deutung all jener Phänomene finden sich sämtlich i m vielschichtigen anthropologischen Bereich der Smendschen Integrationslehre, dessen ausgewogene Erfassung nicht nur bei Mols mißlingt. M i t Rücksicht auf diese Funktionen der Anthropologie würde es auch nicht genügen, i m folgenden das anthropologische Moment auszubreiten, wie es vor allem — als philosophische Grundlage Smends — bei Litt, Spranger und — damit konvergierend — bei Plessner , Gehlen, Wein vorliegt, und so wiederum i n weitgehender Isolierung zu belassen. Vielmehr ist es i n seiner zum Teil von Smend hergestellten, zum Teil sinngemäß herstellbaren konstitutiven Verbindung m i t der Staatslehre Smends und an diesem Beispiel i n seiner Relevanz für die Staatstheorie überhaupt darzustellen. Es geht der vorliegenden Arbeit also darum, die anthropologischen Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends ans Licht zu heben, mögen sie nun explizit 1 2 6 oder mehr i m p l i z i t 1 2 7 zugrunde gelegt sein, und sie i n ihrem Rang und ihren weitreichenden Ausstrahlungen i m staatstheoretischen System Smends bis hinein i n konkrete Antworten 123

Vgl. Scheuner, A r t . Staat, S. 660 f., speziell f ü r den Pluralismus der Nationalstaaten, S. 656 links. 124 Mois, S. 256. 125 Vgl. die Besprechung der Molsschen Interpretation durch Haberle i n J Z 1971, S. 271. 126 Vgl. das 2. K a p i t e l d. A r b . 127 Vgl. das 3. K a p i t e l u n d folgende d. A r b .

V. Verbindung von Staatstheorie und Anthropologie bei Smend

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auf konkrete Fragen der politischen Gegenwart wenigstens an Beispielen zu verdeutlichen. Dabei w i r d sich herausstellen, daß Smend m i t seiner „Skizze" i n großem Maße den gemeinsamen Kern moderner Anthropologie getroffen hat. Darüber hinaus mag sichtbar werden, daß er seinerseits i m Zuge der Verbindung jenes Kerns m i t einer empirischen Staatslehre den zuweilen sogenannten Tiefstand der politischen Anthropologie i n Deutschland 128 u m einiges angehoben hat, das Aufmerksamkeit verdient. Wenn man von der Smendschen Staatstheorie gesagt hat, „daß hier ganz neue, bisher kaum geahnte Bereiche staatlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeit wissenschaftlicher Betrachtung eröffnet werden" 1 2 9 , so war i h r das wohl nur u m den Preis einer erheblichen Lückenhaftigkeit und Systemlosigkeit 1 8 0 möglich. Das gilt nach Smends eigener Ausage gerade von dem hier zu untersuchenden anthropologischen Sektor 1 3 1 . U m so begründeter erscheint deshalb gerade hier der schon allgemeine Eindruck, daß selbst angesichts zahlreicher gewichtiger Stellungnahmen aus Staatslehre, Staatsrechtslehre und politischer Wissenschaft 132 die ιSmendInterpretation kaum erst begonnen habe 1 3 3 . Auch dies rechtfertigt den hier unternommenen neuen Versuch.

128

Mols, S. 266. Zech, S. 51. 130 Vgl. Zech, S. 55; Mayer, S. 32 f.; Wohlgemuth, Kelsen, S. 2. 131 Smend, Das Problem der Institutionen, S. 516. 132 Mols, S. 129, nennt die Z a h l von 80 Titeln. 133 Mols, S. 129. 129

S. 50; Franke,

S. 268;

Zweites

Kapitel

Überblick über die staatstheoretischen Aussagen der Integrationslehre und ihre explizite anthropologische Begründung I m folgenden soll (I) ein kurzes Referat des staatstheoretischen Inhalts der Integrationslehre gegeben werden, soweit er zum Verständnis der folgenden Arbeit unerläßlich ist. Es schließt sich an (II) ein kurzer Methode und Darstellungsweise von „Verfassung und Verfassungsrecht" isolierender Uberblick, nicht als Selbstzweck, sondern weil nur die Vergegenwärtigung dieses Ansatzes zu einer geordneten zusammenhängenden Kenntnisnahme bestimmter Themen des Inhalts, gerade auch soweit er sich aus weiteren Schriften ergänzen läßt, instandsetzt. Schließlich (III) ist das anthropologische Moment i n der Integrationslehre methodisch und inhaltlich zu isolieren, soweit es explizit aber nur kurz und bruchstückhaft den systematischen Ansatz der Smendschen Staatstheorie i n „Verfassung und Verfassungsrecht" mitbegründet. Die mehr implizit erschließbaren anthropologischen Voraussetzungen der Staatstheorie Smends und ihre Ergänzbarkeit sowohl m i t Hilfe weiterer Schriften Smends selbst als auch m i t Hilfe philosophischer Anthropologie werden i m dritten Kapitel behandelt. I. Überblick über den staatstheoretischen Inhalt der Integrationslehre 1. Smends Ausgangspunkt

von der Kulturphilosophie

Theodor Litts

„Staats- und Staatsrechtslehre haben es zu t u n m i t dem Staat als einem Teil der geistigen Wirklichkeit", sagt Smend 1, und er zeichnet deshalb i m Anschluß an die Phänomenologie Theodor Litts die notwendige Struktur jeder geistigen Wirklichkeit überhaupt, der K u l t u r i m allgemeinen, u m diese dann auch als Wesen des Staates zu beanspruchen 2 . Problematisch ist der Ubergang von dem allgemeinen Gebiet der K u l t u r zu der besonderen Gestaltung des Staates, da die Charakteristika der K u l t u r dem Wesen des Staates zu Unrecht nur unterlegt sein könnten 3 . Smend belegt die Identität der Struktur beider, einmal mehr punk1 2 3

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 136. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 136,131. Vgl. Smend, ebd.

I. Zum staatstheoretischen Inhalt der Integrationslehre

43

tuell, indem er nachzuweisen sucht, daß auch der Staat ein geschlossener Kreis i m Sinne Theodor Litis als sozusagen lebendiger Träger aller K u l t u r ist 4 , zum anderen i n fortwährenden Selbstvergewisserungen i n der Konkretisierung seines Staatsverständnisses 5 . Der geschlossene Kreis Litts ist jedoch nur ein Moment der K u l t u r . Weitere notwendige Momente aller geistigen Wirklichkeit sind für Smend i m Anschluß an Litt außer der Gemeinschaft des geschlossenen Kreises der Einzelne und der objektive Sinnzusammenhang 6 . Isoliert gedacht, hat streng genommen keines dieser Momente Realität: Der isolierte Einzelne ist als ein über primitives, rein biologisches Dasein sich erhebendes geistiges Wesen nicht denkbar ohne den dauernden Z u sammenhang m i t den Mitmenschen und deren Sinn- und Wertstreben 7 . Die menschliche Gruppe ohne jeden gemeinsamen kulturellen Bestand an Werten wäre nichts als eine Mehrzahl einsamer Einzelner oder allenfalls ein rein vitales Gebilde, jedenfalls nicht eine geistige Wirklichkeit 8 . „Ideell-zeitloser Sinnzusammenhang" 9 bzw. „ideeller Sinngehalt" 1 0 sind schon per definitionem nicht „zeitlich-real" 1 1 . Sie können Sinn- und Wertwirklichkeit nur i m Leben und für das Leben realer Menschen gewinnen 1 2 . Es handelt sich also bei den drei Momenten vor allem u m Denkmittel, geeignet, die geistige Wirklichkeit zu erschließen, weniger schon u m Bilder und Typen der Wirklichkeit selbst, wie Smend sie dann i n den empirischen Typen der „Integrationsfaktoren" vorführt 1 3 . Sie erfüllen ihren Zweck nur, wenn jedes Moment als offen für die Relation zu den jeweils anderen Gegenständen der Geisteswissenschaft, zum Ganzen, gedacht w i r d und so der selbständigen Substanz weitgehend entbehrt 1 4 , weshalb ein dialektisch oder zyklisch vorgehendes Beschreiben die einzig angemessene Darstellungsform ist 1 5 . 4

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131 f. z. B. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 125 ff. f ü r die Frage E i n zelner/Staat, S. 128 zum Problem der Teleologie des Staates, S. 136 ff. allgemein. 6 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126. 7 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 129,160. θ Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 138, S. 130 f. 9 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131, S. 138. 10 I m Gegensatz zu reellem Sinngehalt, Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 167. 11 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 138. 12 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 139. 13 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 139. 14 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 129 f. 15 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 130. 5

44

2. Kap. : Überblick über die Integrationslehre

I n der Offenheit dieser Momente und ihrer Dialektik sieht Smend das phänomenologische Apriori, die Verständnisvoraussetzung aller Geisteswissenschaft 1®, das er i m Fortgang der Untersuchung zur beständigen methodischen Selbstkontrolle verwendet. 2. Der Begriff der Integration als staatstheoretische Konkretisierung kulturphilosophisch-phänomenologischen Apriori

Litts

Von diesem Ausgangspunkt der Offenheit her ergeben sich aber auch bestimmte gegenständliche, wenn auch zunächst noch formale Konsequenzen für die Sicht der Wirklichkeit der Gemeinschaft und des Staates: Die Gemeinschaft ist kein i n sich ruhendes kollektives Ich, keine kollektive Substanz, sondern „ n u r das Einheitsgefüge der Sinnerlebnisse der Individuen" 1 7 ; i h r Wesen ist die „soziale Verschränkung", ein notwendiges Ineinander individuellen und überindividuellen Lebens 18 . N u r soweit ein realer Zusammenhang zwischen den Einzelnen gegeben ist, lebt die Gemeinschaft. Das beinhaltet schon der Begriff des geschlossenen Kreises Litts als einer Personenmehrheit, i n der „jeder m i t jedem i n wesensgestaltendem Zusammenhang steht" 1 9 . Sie lebt eigentlich und nicht nur biologisch aber auch nur, wenn sie einem Sinnzusammenhang angehört, Wertverwirklichung ist 2 0 . Wegen dieser Zentrierung der gemeinschaftlichen Wertwirklichkeit i m seinerseits offenen Einzelnen faßt Smend zusammen: „Dieses Einheitsgefüge selbst aber, auch w e n n es sich noch so sehr i n S y m bolen, Formen, Satzungen verfestigt, ist doch stets i m Flusse, denn es ist n u r w i r k l i c h , sofern es stets v o n neuem aktualisiert oder vielmehr neu hervorgebracht w i r d 2 1 .

Diese „funktionelle Aktualisierung und Weiterbildung" durch die Einzelnen und i n den Einzelnen i n einem dauernden Prozeß ist notwendiges Wesen jeder geistigen Wirklichkeit und heißt bei Smend für das Teilgebiet des Staates „Integration" 2 2 . Hier liegt für den Staat seine „ K e r n substanz" 23 und sein Angelpunkt i m Bereich der Wirklichkeit 2 4 . Deshalb folgt daraus für den Staat: 16

Smend, Verfassimg u n d Verfassungsrecht, S. 126, S. 130. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126, S. 129. 18 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126. 19 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 239, zitiert bei Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131. 20 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 160. 21 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 132. 22 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 136. 23 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 136. 24 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 137. 17

I. Zum staatstheoretischen Inhalt der Integrationslehre

45

„Der Staat ist nur, w e i l u n d sofern er sich dauernd integriert, i n u n d aus den Einzelnen aufbaut — dieser dauernde Vorgang ist sein Wesen als geistig-soziale Wirklichkeit 2 *." U n d i n der Wendung gegen falsche Überhöhung u n d Substantialisierung des Staates: „So ist insbesondere der Staat nicht ein ruhendes Ganzes, das einzelne Lebensäußerungen, Gesetze, diplomatische Akte, Urteile, Verwaltungshandlungen v o n sich ausgehen läßt. Sondern er ist überhaupt n u r vorhanden i n diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Bestätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind, u n d i n den noch wichtigeren Erneuerungen u n d Fortbildungen, die lediglich diesen Z u sammenhang selbst zum Gegenstande haben 2 «." Die so aufgefaßte Existenz der staatlichen Lebens- u n d Schicksalsgemeinschaft ist immer prekär. „Sie ist nicht eine natürliche Tatsache, die hinzunehmen ist, sondern eine Kulturerrungenschaft, die w i e alle Realitäten des geistigen Lebens selbst fließendes Leben, also steter Erneuerung u n d Weiterführung bedürftig, eben deshalb aber auch stets i n Frage gestellt i s t 2 7 . "

Die Erhaltung des geforderten wesensgestaltenden Zusammenhanges bedarf daher der Unterstützung durch bestimmte Integrationsmittel. Die Unübersehbarkeit des staatlichen Zusammenhanges und seiner zeitlichen, räumlichen, sachlichen Ausdehnung w i r d überbrückt durch Techniken „sozialer Vermittlung" 2 8 , ζ. B. den politischen Bericht, politische Symbolisierungen und Repräsentationen 29 . Die gleichwohl verbleibende Motivationsschwäche eines so unübersehbaren und darum für seine Mitglieder unverständlichen Gebildes wie des Staates und die Passivität wie der Widerspruch vieler Staatsbürger werden ausgeglichen durch rechtliche und tatsächliche, unter Umständen unfreiwillige Inanspruchnahme der Einzelnen 30 , also auch durch Herrschaft 31 . Aber auch Herrschaft ist nichts Letztes, sondern ist legitimierungsbedürftig und letztlich auf die Anerkennung durch die Einzelnen angewiesen 32 , d. h., wieder auf andere Formen der Gemeinschaftsbildung. Ähnliches gilt für die Verfassung. Sie erfüllt für diesen Prozeß vor allem zwei Funktionen, die miteinander wieder i n Zusammenhang stehen: einmal ist sie seine rechtliche, humanisierende Ordnung, die heteronome Geltung beansprucht 33 , aber tatsächlich nicht heteronom gewährleistet ist 3 4 ; zum anderen ist sie Anregung und Stabilisierung des 25 26 27 28

Litts. 29 30 31 32 33 34

Smend, Smend, Smend, Smend,

Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. Verfassung u n d Verfassungsrecht,

Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,

Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung Verfassimg

und und und und und und

Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht,

138. 136. 135. S. 133 m i t einem Ausdruck

u. S. 162 ff. S. 134. S. 157 f. S. 150, S. 158. S. 189. S. 195 f.

2. Kap.: Überblick über die Integrationslehre

46

Integrationsprozesses 35 und damit ein — wenn auch wichtiges —• Integrationsmittel unter anderen 86 . Die Gravitation des staatlichen Integrationsprozesses ruht i n sich selbst und ist weder durch Herrschaft noch Verfassung gewährleistet 37 . 3. Integrationsfaktoren als empirisch erfaßte Typen staatlicher Einheitsbildung — das Integrationssystem — die Außenpolitik Smend versucht diesen i n sich schwingenden Prozeß zu verstehen und dessen Beobachtung ordnend zu beschreiben i n seinem empirischen System der Integrationsfaktoren: „Es handelt sich dabei u m eine empirische Gruppierung, i n die die einzelnen Erscheinungen der W i r k l i c h k e i t nicht rein aufgehen, die aber i m m e r h i n geeignet ist, die hauptsächlichen Typen der Begründung der staatlichen W i r k l i c h k e i t i n i h r e r Eigenart hervortreten zu lassen 3 8 ."

Darin unterscheidet er die einheitsbildenden Faktoren i n drei Typen. „Persönliche" Integration nennt er die Gemeinschaftsbildung vor allem „durch Führer, Herrscher, Monarchen, öffentliche Funktionäre jeder A r t " 3 9 , deren Aufgabe also i n der technischen Ausführung politischer Zwecktätigkeiten keineswegs erschöpft ist 4 0 . Als „funktionelle" Integration 4 1 erscheinen kollektivierende Lebensformen, angefangen von aller „direkten A k t i o n " i m weitesten Sinne bis h i n zu den mittelbaren Formen etwa i n Wahlen, parlamentarischen Verhandlungen, deren hintergründiger, die politische Gemeinschaft integrierender Sinn oft übersehen wird, zugunsten der mehr vordergründigen technisch-juristischen Funktionen 4 2 . Z u r funktionellen Integration zählt Smend auch alle Vorgänge des integrierenden politischen Kampfes und der Herrschaft 43 . Schließlich nennt er als dritten Typus die „sachliche Integration". Darunter ist nicht einfach nur zu verstehen die Staatszwecklehre der Staatstheorie, sondern Smend geht es vor allem u m die Rückwirkung der Zwecktätigkeit auf die Gemeinschaft und ihre Integration durch 35

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 139, besonders S. 189 ff. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 189. 37 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 195 ff. 38 Smend, Verfassimg u n d Verfassungsrecht, S. 139. 39 Smend, Integrationslehre, S. 476; die Integrationsfaktoren werden hier kurz referiert nach Smends eigener Zusammenfassung i n dem A r t i k e l „ I n t e grationslehre" (1956). 40 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 144 f. 41 Smend, Integrationslehre, S. 476 f. 42 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 144 f. 43 Smend, Integrationslehre, S. 476 f. 36

I. Zum staatstheoretischen Inhalt der Integrationslehre

47

das Erlebnis des eigenen Wirkens an der Totalität des staatlichen Sinngehalts 44 . Das Erleben seiner Fülle w i r d ermöglicht und erreicht durch politische Symbole wie Fahnen, Wappen, Staatshäupter, politische Zeremonien, nationale Feste 45 . Abgesehen von seiner sonstigen sachlichen Bedeutung erscheint hier das Staatsgebiet als wichtigste Symbolisierung des Wertbesitzes eines Staatsvolkes 46 . Smend hält diese Typenbildung für nicht abschließend und w i l l sie lediglich beispielhaft, aus praktischen Gründen gewählt haben 47 . Gleichwohl hält er daran fest, daß trotz möglicher verschiedener Akzentuierungen i n Geschichte und Gegenwart der „Staatsverband seine Einheit hat vermöge sämtlicher Integrationsfaktoren 4 8 ". Er behauptet sogar: „ D i e Integrationstheorie liefert eine Staatstheorie, die i n erster L i n i e w e nigstens von der Wesensbestimmung u n d Legitimierung des Staats durch andere Werte, insbesondere den Rechtswert, absehen u n d f ü r alle K u l t u r systeme m i t beliebigen »Grundvariablen 4 oder ,Primatfaktoren 4 vermöge der Elastizität des Systems der Integrationsfaktoren, insbesondere der sachlichen, Geltung beanspruchen k a n n 4 9 . "

Smend versucht m i t seiner Theorie auch Unbewußtes zu erfassen. Er lehnt deshalb alle rationalistische Wisenschaft ab, die nur das Bewußte und naturalistischem Denken Zugängliche sieht, andererseits hütet er sich vor der irrationalistischen Alternative, die „ i m Agnostizismus der organischen Theorie steckengeblieben" ist, wie vor aller Zurückführung des geistigen Lebens auf kausale (biologische u. ähnl.) Gesetzlichkeit 50 . Z u r Formel für die schwer zu treffende Mitte zwischen jenen Irrwegen des Rationalismus und Biologismus dient i h m Sprangers Begriff der „Wertgesetzlichkeit des Geistes" 51 , konkretisiert von Smend zur Integrationsgesetzlichkeit des politischen Geistes 52 . Damit soll jenseits „ i r r a tionalistischer" Wisenschaft doch der A n t e i l des Irrationalen und Unbewußten am Zustandekommen des Integrationssystems und damit des Staates gekennzeichnet sein 53 . Z u diesem auch das Unbewußte einschließenden und darauf zählenden politischen Lebenssystem gehört untrennbar auch das Moment der Außenpolitik 5 4 . 44 45 48 47 48 49 50 51 52 53 54

Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,

Verfassung u n d Verfassungsrecht, Integrationslehre, S. 477. Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Verfassung u n d Verfassungsrecht,

S. 167. S. 170. S. 142. S. 175. S. 186. S. 141. S. 141. S. 207. S. 171. S. 171.

48

2. Kap.: berblick über die Integrationslehre

Denn obwohl auf den ersten Blick anders geartet, mehr durch die Heteronomie der außenpolitischen Kräftekonstellationen und deren Eigengesetzlichkeit geprägt 55 , beweist es doch seine Zugehörigkeit zum als Integration aufgefaßten Wesen des Staates und des Politischen darin, „daß beide Richtungen Selbstgestaltung der staatlichen Individualität, d. h. Integration sind" 5 6 . Jene nichttechnische Komponente aller vordergründig technischen Vorgänge, wie sie auch i n den Integrationsfaktoren enthalten ist, nämlich der Aspekt der Integration, erscheint hier i m Bereich der Außenpolitik als „Objektlosigkeit", die aller politischen Wesensbestimmung eignet i m Gegensatz etwa zu nur wirtschaftspolitischen Aktionen 5 7 . „Innenpolitischer Gehalt und außenpolitische Relation des Staates sind nicht zwei Teile, sondern nur zwei Momente seiner W i r k lichkeit und Individualität 5 8 ." Ungemein dicht formuliert findet sich der Kern inhaltlicher Aussage und methodischen Vorgehens zusammengefaßt i m folgenden Satz Smends: „ W e n n das überempirisch aufgegebene Wesen des Staates sein Charakter als souveräner Willensverband u n d seine dauernde Integration zur W i r k lichkeit als solcher ist, so ist es Sache empirischer Beobachtung, die Faktoren dieser V e r w i r k l i c h u n g aufzuzeigen 5 9 ."

I I . Zur Darstellungsweise und Methode Smends 1. Zum Verhältnis

von Theorie und Empirie bei Smend

Es ist die Frage, ob die gepriesene Formulierungsdichte 60 des zuletzt zitierten Satzes nicht zu teuer erkauft ist m i t den zahlreichen Mißverständnissen, die er gezeitigt hat. Es handelt sich dabei vor allem u m zwei Fehlinterpretationen zur ersten Hälfte des Satzes, durch deren Richtigstellung die spezifische Eigenart von Smends Darstellungsweise und Methode exemplarisch herausgehoben werden kann. Die eine Interpretation unterstellt, Smend habe m i t der darin enthaltenen Kennzeichnung des Wesens des Staates als Integration den Unterschied des Staates zu anderen Verbänden treffen wollen 6 1 . Die andere findet i m ersten „überempirischen" Teil des Satzes die „zeitlos-ideelle" Seite des Staatsbegriffes Smends* 2. 55

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 176 f. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 177. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 179. 58 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 179 f. 59 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 139. 60 Vgl. zum schriftstellerischen S t i l Smends i m allgemeinen Hesse, AöR, S. 113. 61 etwa Mols, S. 195; Heller, S. 166, S. 89; Kelsen, S. 46; Mayer, S. 53 ff., S. 57 ff.; Zech, S. 46 f., S. 50 f. Die Frage der Besonderheit des Staates aus der Sicht Smends w i r d i m 3. K a p i t e l dieser A r b e i t erörtert. 56

57

II. Zur Darstellungsweise und Methode Smends

49

Beide Mißverständnisse sind letztlich i m Methodischen begründet, i n der Verkennung des Verhältnisses von Theorie und Empirie und ihres vornehmlichen Sinnes bei Smend. Wie sich aus dem Satz entnehmen läßt, fragt Smend s Integrationslehre ständig von zwei Seiten her: Einmal von der Theorie her, die sich empirisch auszuweisen hat 6 3 , zum anderen geht er von der Empirie, dem geisteswissenschaftlichen Verstehen, aus, das sich ständig der Kontrolle der Theorie unterziehen muß. Hatte das theoretische Moment i m A n schluß an Litt sich als Phänomenologie verstanden, so entbehrt auch die Empirie nicht phänomenologischer Züge, insofern sie von dem konkret Erfahrenen auf dessen abstraktere Verständnisvoraussetzungen zurückgreift 6 4 und die empirischen Bestandteile so systematisiert 65 . Auch hier ist Smends Vorgehen wahrhaft „zyklisch" oder „dialektisch". Die Dialektik vollzieht sich also nicht nur i n der Ebene zwischen den oben genannten Polen aller geistigen Wirklichkeit (dem Individuum, der Gemeinschaft, dem objektiven Sinnzusammenhang), sondern auch i n der Ebene der Vermittlung zwischen Theorie und Empirie 6 6 u n d offenbart sich auch i n der Darstellung, was die referierende Zusammenfassung Smendscher Gedanken so schwierig gestaltet 67 . 2. Zur Bedeutung der wissenschaftsgeschichtlichen und polemischen Situation für die Interpretation der Integrationslehre Diese methodische Bedeutung der genannten Formel und des Integrationsbegriffs überhaupt, insbesondere auch der zunächst ausschließlich methodische Sinn des Begriffes „überempirisch" erschließt sich jedoch zwingend nur einer Interpretation Smends, die seinem gedrängten und knappen Stil Rechnung trägt. Dazu gehört vor allem die Berücksichtigung der historischen, hier vor allem wissenschaftsgeschichtlichen und sozusagen polemischen Situation, i n die Smend seine Lehre hineinstellt und die angesichts jenes Stils auch dort fortwährend zum Kontext zählt, wo sie nur angedeutet ist. Das zur Kennzeichnung der von Smend vorausgesetzten Situation obligatorische Stichwort heißt Krise des deutschen Staates, der objektiven 82

Mols, S. 181 ff.; Mayer, S. 51; Kaufmann, V o r w o r t , S. X X X I I I f. So noch richtig auch Mols, S. 133, S. 226. 64 Vgl. etwa auch Smend, Das Problem der Institutionen, S. 516. 65 Vgl. etwa das empirisch gewonnene „Integrationssystem", Smend, V e r fassung u n d Verfassungsrecht, S. 170. 68 E i n solches Verfahren entspricht durchaus dem oben (S. 29 ff. d. Arb.) angedeuteten Verhältnis zwischen Strukturtheorie u n d empirischer Einzelwissenschaft bei Litt; letztlich geht es w o h l auf Dilthey zurück, Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 268 f. 87 Vgl. dazu Mols, S. 141 u. die dort i n A n m . 44 u. 45 Angeführten. 63

4 Poeschel

50

2. Kap.: Überblick über die Integrationslehre

Ordnungen, des modernen Menschen überhaupt 6 8 . Für den vorliegenden methodischen Zusammenhang handelt es sich insbesondere u m eine „ K r i sis der Staatslehre" 69 , m i t deren Diagnostizierung i n einem Kapitel Smend bezeichnenderweise den ersten Teil von „Verfassung und Verfassungsrecht" und damit die hier interessierende „Staatstheoretische Grundlegung" beginnt. Er liefert darin jedoch keine wirkliche Bestandsaufnahme, sondern erschöpft sich wesentlich i n Polemik vor allem gegen Kelsen, Max Weber, Meinecke. Die Begründung für diese mangelnde Auseinandersetzung liegt allerdings nahe, und nur deshalb wurde sie hier vorgeführt: Einmal stellt diese polemische Situation den Rahmen dar, i n dem und gegen den Smend seine Lehre entwickelt, — insofern realisiert Smend die zunächst ausgesparte Auseinandersetzung i m gesamten Fortgang seiner Arbeit — zum anderen stehen die genannten Autoren auch offenbar nicht so sehr als einzelne Positionen und i m Detail zur Diskussion, sondern als repräsentative Vertreter staatstheoretischen Denkens m i t einem Heer von Anhängern und Vorgängern i m Hintergrund. N u r das Typische und Repräsentative an ihnen interessiert, es w i r d dann von Smend jeweils an gegebener Stelle aufgenommen. Insbesondere gilt Kelsen für Smend als der radikale Exponent des juristischen Formalismus 7 0 und damit des wissenschaftlichen Hauptgegners Smends 71, und die Widerlegung dieser Position stellt trotz aller Komplexität der Aspekte das übergeordnete Anliegen zumindest der ersten vier staatstheoretisch grundlegenden Kapitel von „Verfassung und Verfassungsrecht" dar. Dieser doch so sichtbare Sachverhalt w i r d bei der Interpretation Smends offenbar vielfach unterschätzt, weshalb das Vorgehen Smends hier genauer zu belegen ist. Wenn die methodische neukantische K r i t i k Kelsens der bisherigen Staatslehre die erkenntnistheoretische Legitimation abspricht, wenn sie darüber hinaus eine eigene Methode zur Erkenntnis der staatlichen W i r k lichkeit nicht zu bieten h a t 7 2 und schließlich i n der negativen These gipfelt, daß der Staat keine soziale Wirklichkeit sei 73 , so lassen sich die Ausführungen Smends i n den folgenden entscheidenden Kapiteln nur als A n t w o r t auf jene Thesen begreifen. Es geht Smend also i n dieser A n t w o r t u m zweierlei: a) u m eine Methode, die erkenntnistheoretisch ausgewiesen der Ke Isenschen K r i t i k 68

Vgl. V i m 3. K a p i t e l dieser Arbeit. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 121 ff., vgl. aber auch S. 180 ff. 70 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 124. 71 Smend, Integrationslehre, S. 479 A n m . 3. 72 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 124. Kelsen w i r d hier n u r aus der Sicht Smends referiert. 78 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 121, S. 131. 69

II. Zur Darstellungsweise und Methode Smends

51

standhalten kann, da er dieser K r i t i k ein begrenztes Recht nicht abspricht 7 4 , b) u m die Erkenntnismöglichkeit des staatlichen Gegenstandes durch diese Methode — nicht u m die Reinheit des Vorgehens u m ihrer selbst w i l l e n 7 5 — und zwar des Gegenstandes i n seiner Wirklichkeit, d. h. hier zunächst i n seiner Struktur 7 6 . Deshalb steht bei Smend absolut i m Vordergrund der Staat als Strukturproblem, nicht als Wertproblem 7 7 . Diese „seinswissenschaftliche" A u f gabe — i m Gegensatz zu einer normativen Ausrichtung — verspricht nun (methodisch und gegenständlich) Litts Strukturtheorie der prinzipiellen Möglichkeit nach für jede geisteswissenschaftlich-empirische Einzelwissenschaft zu leisten 78 , also auch für die Staatstheorie, wie Smend sie auffaßt. Vor allem deshalb schließt Smend sich der Littschen Philosophie an 7 9 . M i t dem Anschluß an das schon erwähnte strukturimmanente A p r i o r i i m Sinne Litts ist jedoch auf dem Wege zum angestrebten Ziel, die W i r k lichkeit des Staates gegen Kelsen methodisch aufzuschließen, zu belegen, zu begründen, zu verteidigen 8 0 , erst ein Etappenziel erreicht. Bisher nämlich ist erst Zugang verschafft zum „geistigen Leben", zur „Wirklichkeit der K u l t u r " 8 1 überhaupt. Der entscheidende Schritt h i n zur Realität des Staates steht also noch aus. Smend t u t i h n i m Kapitel „Der Staat als realer Willensverband" m i t dem Satz: „Die Wirklichkeit des Staates... k a n n . . . nur die eines Teilgebietes der geistigen Wirklichkeit i n dem dargelegten Sinne sein" 8 2 , und er unternimmt, diese Behauptung i m einzelnen zu beweisen 83 . So weist er nach, daß der Staat, soweit er überhaupt tatsächlich existiert 8 4 , ein geschlossener Kreis i m Sinne Litts ist, m i t h i n jene vorher aufgezeigten allgemeinen Kriterien geistiger Wirklichkeit auch auf i h n zutreffen, m i t h i n auch der Staat wirklich i n jenem allgemeinen Sinne sowie erkennt74 So habe sie ζ. B. m i t Recht alle unmethodische N a i v i t ä t beseitigt, Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 124,169,131. 75 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 124 f.; S. 131; S. 182. 76 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131. 77 Vgl. Smend f ü r engere Beispiele, aber zugleich prinzipiell zu verstehen, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 125. 78 Vgl. Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 34 ff. 79 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126 bes. auch A n m . 7. 80 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131. 81 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126. Litts Phänomenologie versteht sich selbst als „universale Theorie des Geistes" (Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 46), als das Ganze von Leben u n d W i r k l i c h k e i t zu begreifen suchende Kulturphilosophie (Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 44). 82 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131. 83 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131 ff. 84 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 134 f.

4*

2. Kap.: Überblick über die Integrationslehre

52

nistheoretisch zugänglich ist. Damit hält Smend i n Erwiderung der erkenntnistheoretischen Skepsis Kelsens die Wirklichkeit des Staats, und zwar i n ihrer bisher erst knapp bezeichneten Struktur, für theoretisch erschlossen und erwiesen. Nicht aber glaubt er m i t dieser Erkenntnis die Wirklichkeit des Staats auch schon tatsächlich gesichert, worauf er zur Vermeidung jedes idealistischen Mißverständnisses ausdrücklich hinweist 8 5 , ist es doch gerade die strukturtheoretische Erkenntnis, die das Wesen jeder geistigen Wirklichkeit als der steten Erneuerung bedürftig erweist 8 6 . I m Kapitel „Integration als grundlegender Lebensvorgang des Staates" 8 7 vertieft Smend jenen Beweis und nennt den vorher aufgezeigten Bestand an allgemeinen Merkmalen und deren Dialektik, die jeder geistigen Wirklichkeit, soll sie dieses Prädikat verdienen, notwendig eingelagert sind, i m Rahmen des Staates „Integration" 8 8 . „Integration" ist also, u m m i t Litt zu sprechen, „allgemeines Wesen" des Staates, seine „Struktur", die, weil sie das notwendige M i n i m u m jeder geistigen W i r k lichkeit ausmacht, auch i m Staate sich auswirkt. Deshalb kann Smend sagen: „Hier liegt der Angelpunkt des Staatlichen i m Bereich der W i r k lichkeit . . . " 8 9 und kann an dieser Stelle, weil für alles geistige Leben zwingend, seine „Kernsubstanz" finden, den „Kernvorgang des staatlichen Lebens" 9 0 . Soweit reicht für Smend der streng logische, theoretische Charakter seiner Ausführungen, die er Kelsen entgegenhält. Seine selbstgesetzte und zunächst durch die polemische Situation klar begrenzte Aufgabe bestand darin, die geistige Wirklichkeit auch des Staates einsichtig zu machen, und zwar theoretisch, d. h. unvermeidlich i n dem Bereich, der logisch notwendiges, darum aber allgemeines Wesen des Staates, soweit er Wirklichkeit zu sein beansprucht, darstellt und das der Staat m i t anderen Gestaltungen des Geistes teilt. Angesichts der vielen Mißverständnisse an dieser Stelle k a n n nicht genug betont werden, daß Smend, i m Zusammenhang verstanden, hier eindeutig ist: Der Aspekt der Integration ist n u r ein Problem der Staatstheorie 9 1 , u n d jedenfalls unterscheidet er den Staat nicht von anderen Verbänden, denn die Integration ist nicht das „ S i n n p r i n z i p " des Staates, sondern lediglich dasjenige seiner Verfassung 9 2 . I m übrigen ist die Besonderheit des Staates i m Vergleich zu anderen Gebieten der K u l t u r Smends Thema hier nicht 9 », sein 85 88 87 88 89 90 91 92

Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend, Smend,

ebd. Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung Verfassung

und und und und und und und

Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht, Verfassungsrecht,

S. 132. S. 136 - 142. S. 136 f. S. 137. S. 136. S. 123, S. 180. S. 120.

II. Zur Darstellungsweise und Methode Smends

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angedeuteter spezifischer Charakter als souveräner Willensverband w i r d an anderer Stelle u n d dort auch n u r andeutend begründet® 4 u n d i m wesentlichen einfach vorausgesetztes. K r i t i k e r n , die bei Smend bemängeln, daß sein Prinzip der Integration ein Prinzip aller Gruppen sei — u n d damit zu erkennen geben, daß sie die erste Wirklichkeitserschließende F u n k t i o n des Begriffes „Integration" nicht gesehen haben oder f ü r sehr gering veranschlagen — müßte Smend w o h l entgegenhalten, daß er zunächst gegen Kelsen eben dies habe zeigen wollen, er sich also zur Leistung anrechne, was dort k r i t i s i e r t werde 9 «.

Zusammengefaßt ist der zitierte Satz fast Wort für Wort zu interpretieren wie folgt: Der Terminus „überempirisch" ist methodisch gemeint, steht i m Gegensatz zum Terminus „empirisch" i n der zweiten Hälfte des Satzes und heißt theoretisch i m Sinne der Strukturtheorie Litts. Die Kennzeichnung des Wesens des Staates als souveräner W i l lensverband ist gegenständlich gemeint und soll die Besonderheit des Staates i m Vergleich zu anderen Verbänden lediglich andeuten, ohne daß Smend i n Anspruch nimmt, die darin liegende wesentliche Aussage hier schon begründet oder gar theoretisch verbindlich abgeleitet zu haben. Die Wendung der Aufgegebenheit der dauernden Integration zur Wirklichkeit als solcher ist ebenfalls gegenständlich gemeint und bedeutet, daß der Staat wie alles geistige Leben der steten Erneuerung durch die einander zusammenschließende A k t i v i t ä t der Menschen bedürftig ist. Die Kombination der Begriffe „überempirisch" und „aufgegeben" w i l l zusammenfassend ausdrücken, daß die ausführlich dargestellte tatsächliche Problematik der Wirklichkeit des Staates durch Integration theoretisch einsichtig gemacht wurde. Dieses Vorgehen hält sich, u m es noch einmal zu betonen, i n engster Anlehnung an die methodische Anweisung Litts und beansprucht gegen Kelsens K r i t i k , zur Wirklichkeit des Staates vorgestoßen zu sein und zugleich die erkenntnistheoretische Grundlegung für die Geisteswissenschaft auch des Sondergebietes Staat geschaffen zu haben, deren Reich nunmehr beginnt. Letztere erhebt ihrerseits keinen theoretischen, sondern „ n u r " noch einen empirischen Anspruch, weshalb auch Smends geisteswissenschaftlich-empirisch gewonnenen Integrationsfaktoren weder endgültig noch vollständig sein wollen. 98

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 138. I m verfassungstheoretischen T e i l von Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 195 f. 95 Smend, ebd. u. S. 273. Die hier vorhandene Lücke ist v o n Smend selbst zunächst also bewußt i n K a u f genommen u n d erst i n späteren Arbeiten zunehmend ausgefüllt worden; darauf w i r d noch einzugehen sein. 96 Vgl. die oben i n A n m . 61 dieses Kapitels genannten K r i t i k e r ; das wäre auch zu sagen gegen Mols, der, Smend wohlmeinend interpretierend, jenen K r i t i k e r n m i t dem Hinweis begegnet, daß Smend das Prinzip der Integration für den Staat i m m e r h i n inhaltlich ausgestattet habe, Mols, S. 196. 94

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2. Kap.: Überblick über die Integrationslehre 3. Kurzer Exkurs zur Interpretation

Smends durch Mols

Wenn ausgerechnet an dieser insgesamt auf die Wirklichkeit zielenden Kernstelle Mols, der i n sorgfältigster Weise die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Integrationslehre ermittelt 9 7 , i m Begriff des überempirischen Wesens des Staates die zeitlos-ideelle Seite, und das heißt bei i h m das normative Moment des Smendschen Staatsbegriffes, findet 98, so scheint dieses Mißverständnis Methode zu zeigen, und zwar normative Methode, die Smend gerade hier i n der Abwehr des k r i t i schen Normativismus Kelsens mindestens i n das zweite Glied rückt. Hier drängt sich doch die Frage Gehlens auf 9 9 , ob man denn so schnell i m A b soluten sei, ohne gegangen zu sein. A u f dem Trümmerfelde, das, aus der Sicht Smends, Kelsens K r i t i k i n der Staatslehre hinterlassen hatte, konnte der Wiederaufbau nur tastend beginnen 1 0 0 , und da mußte zunächst die Begrenzung der Aufgabe auf den Beleg der Wirklichkeit des Staates naheliegen. Mols nennt zutreffend die verschiedenen Erkenntnisschichten bei Smend, vor allem die „logoswissenschaftliche" — bei Litt „seinswissenschaftliche" — Basis und darauf aufbauend schließlich auch die „ethoswissenschaftliche" Komponente 1 0 1 . Er schiebt jedoch, ausgehend von den Ansprüchen einer normativen politischen Theorie 1 0 2 , das ethoswissenschaftlich-normative Moment bei Smend i n einen Vordergrund, der dem auf die Wirklichkeit zielenden Ansatz Smends widerspricht. Denn die ethoswissenschaftliche direkt Normatives erfassende Erkenntnisschicht kommt i n der hier interessierenden staatstheoretischen Grundlegung kaum vor, sondern deutlich erst i m verfassungstheoretischen Teil und dort immer noch belegt m i t schwerwiegenden Vorbehalten 1 0 3 . Und jedenfalls gibt die genannte methodische und gegenständliche — von Mols vielfach i n Bezug genommene! 104 — Kernstelle dafür nichts her: Der Gegensatz überempirisch/empirisch ist keineswegs identisch m i t dem Gegensatz ideell bzw. normativ/wirklich, denn das Normative findet sich — allerdings wie es i n der Wirklichkeit tatsächlich vorkommt, nicht i n theoretischer Reinheit — als Moment wie auf der theoretischen, überempirischen auch auf der empirischen Seite 1 0 5 , und beide 97

Vgl. Mols, S. 142 ff. Siehe oben A n m . 62 dieses Kapitels. 99 Zit. bei Jonas, Die Institutionenlehre, S. 34. 100 Smend, Politisches Erlebnis, S. 359. 101 Mols, S. 241 ff. 102 Mols, besonders S. 262 ff. 103 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 188 ff. 104 Mols, S. 133, S. 181 ff., S. 189; S. 191; S. 198; S. 226; S. 239. 105 Vgl. etwa Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126, besonders auch A n m . 7 u. S. 131, A n m . 17 f ü r die mehr theoretische, überempirische Seite; f ü r die Empirie sei n u r erinnert an den Begriff der „Wertgesetzlich98

III. Referierende Darstellung des anthropologischen Moments

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Male geht es ausdrücklich i n erster Linie u m die Erfassung der W i r k lichkeit, einmal mehr vom theoretischen Ansatz her ins Konkrete hineinfolgernd, zum andern mehr von der Empirie her beschreibend und systematisierend. I n der Tat scheint aber ganz anders als i m vorliegenden Zusammenhang i n viel späteren Äußerungen Smends der Begriff „überempirisch" zugleich auch soviel wie normativ zu bedeuten 106 . Es mag sein, daß Mols — diese Stelle rückprojizierend 1 0 7 — auch dadurch getäuscht wurde. Das Problem des Normativen w i r d i m 5. Kapitel erörtert; dort ist auch eine weitere kurze Auseinandersetzung m i t Mols vorzunehmen. Der hier schon vorgeführte andeutende Exkurs zu Mols kann jedoch einmal mehr angesichts der Gefahren der durch die verwirrende Vielfalt der ineinander gedrängten Aspekte vieldeutig gewordenen Terminologie der Integrationslehre warnen vor einer Auswertung der Smendschen Staatstheorie für fremde Zwecke, bevor Smend nicht genügend aus sich heraus, „Smend-immanent" verstanden ist. Wenn schon die bisherige „immanente" Darstellung Smends den entschiedenen Zugriff Smends auf die Wirklichkeit des Staates deutlich machen konnte, so ist damit zugleich die anthropologische Fragestellung aus der wissenschaftlichen Stoßrichtung Smends heraus legitimiert: Die Wirklichkeit des Staates, die zunächst gerade nicht durch zeitlos-ideelle, normative, rational-zweckhafte oder auch organizistische Konstruktion überhöht ist, kann nur als Wirklichkeit des Staates „ i n und aus den Einzelnen" 1 0 8 verstanden werden und damit als Wirklichkeit des Menschen selbst. I I I . Referierende Darstellung des anthropologischen Moments 1. Methodischer

Ausgangspunkt

Die Darstellung des anthropologischen Moments hat auszugehen ebenso wie der gesamte staatstheoretische Ansatz Smends von dem phänomenologischen Apriori, den drei Polen des Individuums, der Gemeinschaft und des objektiven Sinnzusammenhangs. Der anthropologischen Frage nach dem Wesen des Menschen i n seinem Verhältnis zum Staate entspricht der Pol des Individuums, der i n den verwickelten dialektischen Fortgang von Smends Darstellung des Staates bis i n die empirische Konkretisierung hinein einbezogen ist. Weil das Kollektive nur keit des Geistes", die i n allen Integrationsvorgängen sich auswirke (Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 170ff.; besonders g i l t das natürlich für die sachl. Integration, die Einheitsbildung durch einen Wertgehalt (Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 160 ff.). 106 Vgl. Smend, Staat u n d P o l i t i k (1946), S. 369. 107 Mols, S. 186 f. 108 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 138.

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2. Kap.: Überblick über die Integrationslehre

„das Einheitsgefüge der Einzelanteile an dem Gesamterlebnis (ist)" 1 0 9 , durchläuft notwendig auch der Pol des Individuums alle Stationen der Konkretisierung des Pols der Gemeinschaft vom formalen geschlossenen Kreis Litts bis zum empirisch i m Integrationssystem und seinen vereinheitlichenden Faktoren erfaßten und beschriebenen Staat und w i r d so seinerseits empirisch konkret, indem der empirische Staat als i n empirischen Individuen lebend und wirklich daseiend verstanden wird. Die zitierte Formel über das Zusammenwirken des überempirischen und des empirischen Staatsmoments gilt sinngemäß auch für den Einzelnen, ohne dessen dauerndes Gegenüber der Pol des Staates dem dialektischen Ansatz Smends gemäß gar nicht greifbar würde. Es fällt allerdings ins Auge — und bei einer Staatstheorie kann es wohl auch nicht anders sein, die, so sehr sie auch den Einzelnen m i t einbezieht wie die Lehre Smends, doch ihre Intention i n erster Linie auf den Pol der Gemeinschaft gerichtet hat — daß die Konkretisierung des Pols des phänomenologischen Ich zum politischen Individuum nicht i n gleichem Maße relativ bruchlos gelingt, wie die Konkretisierung des Pols der Gemeinschaft zum empirischen nationalen Verfassungsstaat Zunächst ist das Gefälle dieser nicht ganz bruchlosen Konkretisierung des Pols des Individuums, vom phänomenologischen Ansatz aus gesehen, nachzuzeichnen, u m danach (im nächsten Kapitel) zu zeigen, daß derartige Brüche für das Verständnis des dialektisch gegenüberliegenden Pols der Gemeinschaft und des Staates keineswegs folgenlos sind. Hier w i r d dann deutlich — und davon war Smend bei seinem theoretischen Ansatz ja auch bewußt ausgegangen — daß Lücken auf der einen Seite auch Leerstellen, mindestens aber Undeutlichkeiten, auf der anderen Seite bedeuten und umgekehrt Evidenzen hier ein bezeichnendes Licht auf Probleme dort werfen können. Aus diesem System von Verweisungen entfaltet sich das anthropologische Thema bei Smend i m einzelnen. Daraus kann i m Rahmen der vorliegenden Arbeit n u r der sich u m die Kategorien von Leistung und Leben gruppierende Ausschnitt i n angemessener Ausführlichkeit behandelt werden (4., 5. und 6. Kapitel). 2. Der phänomenologische Begriff

des Individuums

Der phänomenologische Begriff des Individuums bei Smend ist zunächst wie die anderen Pole des phänomenologischen A p r i o r i gekennzeichnet durch seine Offenheit. Er soll dadurch eine „innere Elastizität" und eine „Beweglichkeit i n den Gliedern und Gelenken" 1 1 0 bewahren und so die dialektische Einfügung des Menschen i n die soziale W i r k 109

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 132. Smend verwendet hier Ausdrücke Litts; Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 127. 110

III. Referierende Darstellung des anthropologischen Moments

57

lichkeitsstruktur erschließen und verständlich machen 111 . Damit weist Smend zugleich die Annahme einer individuellen Substanz zurück, die geeignet wäre, das Soziale einseitig zu determinieren. Andernfalls drohte bei dem Ausgang vom Einzelnen dessen Metaphysierung, wie bei dem Ausgang von einer kollektiven Substanz die Metaphysierung des Staates auf der Hand liegt. Smend lehnt deshalb ab jeden monistischen Ausgang vom Individuum zum dann notwendig sekundären Sozialen, sei er psychologischer, biologischer und damit kausaler A r t einerseits 112 oder individualistisch-rationalistischer A r t andererseits, wo das fertige rationale Individuum der staatlichen Gemeinschaft einfach voraufgesetzt w i r d und dann nur noch eine teleologische vom Individuum ausgehende Reihe zugelassen wird, die den Staat zum M i t t e l individueller Zwecke erklärt 1 1 3 . Damit sind keineswegs psychologische, biologische Eigenschaften des Menschen als für Staat und Politik und ihren Menschen irrelevant erk l ä r t 1 1 4 , sondern nur ihrer determinierenden, alles Verstehen eines freien Partners ausschließenden K r a f t beraubt. Es ist damit auch nicht gesagt, daß der Mensch i m Staate seine Ziele und Aufgaben nicht etwa auch zweckhaft realisiere, nur der Kurzschluß von der rationalen Zwecktätigkeit des Menschen auf den Zweckcharakter des Gesamtzusammenhanges, hier des Staates, ist zurückgewiesen 115 . Der auf Litt aufbauende phänomenologische Ausgangspunkt sich vor allem i n folgendem Satz:

findet

„Die phänomenologische S t r u k t u r des Ich der Geisteswissenschaften ist nicht die eines objektivierbaren Elements des geistigen Lebens, das zu diesem Leben i n kausalen Beziehungen stände. Es ist nicht an u n d f ü r sich, vorher, u n d alsdann als kausal f ü r dieses Leben denkbar, sondern nur, sofern es geistig lebt, sich äußert, versteht, an der geistigen Welt A n t e i l hat, d . h . auch i n irgendwelchem allgemeinsten Sinne Gemeinschaftsglied, intentional auf andere bezogen ist. Seine Wesenserfüllung u n d Wesensgestaltung v o l l ziehen sich n u r i n geistigem Leben, das seiner S t r u k t u r nach sozial ist 1 * 6 ."

Von daher erscheint jede „natürliche Ausstattung" des Menschen i n ihrer bestimmenden, erklärenden Potenz relativiert 1 1 7 . Die weitere Begründung dieser Relativierung enthält die Kernsätze des anthropologischen, phänomenologischen Ansatzes Smends, der i n seiner Bedeutung für die Integrationslehre der theoretischen Ableitung des Staates als I n 111

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 127 ff. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 126,130 f., 128. 113 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 128 f. 114 Vgl. das relative Recht der Rede v o m v i t a l e n Machttrieb des Menschen, Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 130,160. 115 Vgl. ζ. B. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 165 f. 118 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 125. 117 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 130. 112

58

2. Kap. : Überblick über die Integrationslehre

tegration wohl i n nichts nachsteht. Deshalb werden diese Kernsätze hier wörtlich und ausführlich zitiert: „Eine erklärende Herleitung des Staates aus dieser Triebgrundlage ist j e doch nicht möglich. E i n m a l deshalb, w e i l der Staat ein unentwirrbares Geflecht natürlicher Anlagen i n Anspruch n i m m t . Ferner deshalb, w e i l hinter der A k t i v i t ä t auf einem einzelnen Lebensgebiet nicht n u r eine vereinzelte ,Anlage', sondern die ganze Persönlichkeit w i r k s a m w i r d . V o r allem aber darum, w e i l das politische w i e alles geistige Leben i n die ideell-zeitlosen Sinnzusammenhänge e i n t r i t t u n d daher n u r aus der Gesetzlichkeit des Lebens einer- u n d des Sinnes andererseits zusammengenommen verstanden w e r den kann. Die staatliche Welt bedeutet f ü r den Einzelnen eine Möglichkeit geistiger A u s w i r k u n g u n d damit zugleich persönlicher Selbstgestaltung — hier liegt der wichtigste, von den herkömmlichen Darstellungen meist übersehene Ansatzpunkt der politischen Ethik, f ü r die Staatstheorie aber nicht so sehr die Grundlage wie ein durchgehendes Moment ihres Gegenstandes, auf das als solches zurückzukommen sein w i r d 1 1 8 .

Es folgen dann i m Rahmen der theoretischen Ableitung nur noch einzelne konkretisierende Hinweise etwa zu der perspektivischen Verstehensmöglichkeit des Staatsbürgers 119 und zu dem Problem des schlafenden wie des auch i m übrigen scheinbar politisch völlig passiven Staatsbürgers 1 2 0 , der doch gleichwohl i n der i h n und das Ganze gestaltenden seelischen Wechselwirkung i m Staate stehe, denn „diese (die einmal realisierte, d. Verf.) Zugehörigkeit besteht fort, da der Mensch nicht das punktuelle Ich seines Augenblicksbewußtseins, sondern die monadische Einheit seines Wesens- und Erlebnisganzen ist, auch solange er schläft oder nicht daran d e n k t " 1 2 1 . 3. Die Lückenhaftigkeit der expliziten anthropologischen Begründung bei Smend Das Warum dieser Feststellungen w i r d ohne die Lektüre der angegebenen Belegstellen bei Litt aus sich heraus nicht verständlich 1 2 2 . Erst recht w i r d später nicht ausdrücklich gekennzeichnet, wann und wo Smend, wie versprochen, auf das Moment der politischen Auswirkung des Einzelnen und seiner gleichzeitigen Selbstgestaltung zurückkommt, weshalb der anthropologisch-theoretische Ansatz mehr oder weniger an dieser Stelle abbricht. Spätere empirische Andeutungen sind jedenfalls damit nicht deutlich i n Beziehung gesetzt. A u f diese Weise entgeht dem Leser zwischen dem abstrakten anthropologischen Ansatz i m A n schluß an Litt auf der einen Seite und den konkreten empirischen Bruch118

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 130 f. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 132 f. 120 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 133 f. 121 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 134. 122 Das gilt w i e oben (1. Kapitel, A n m . 88) angedeutet, schon für die Theorie Smends i m allgemeinen. 119

III. Referierende Darstellung des anthropologischen Moments

59

stücken auf der anderen Seite gerade das beide Seiten verbindende Element, das es als gleichwohl zugrunde liegende und seinerseits noch vorwiegend formale anthropologische Voraussetzung der Smendschen Staatstheorie zu erweisen und i n Kategorien zu konzipieren gilt. Ähnliches wie für das Verhältnis Theorie/Empirie i n der Anthropologie ist zu beobachten bei der Beziehung Anthropologie/Staatstheorie. Auch hier auf beiden Seiten Andeutungen, die mehr oder weniger isoliert bleiben und doch i n Wirklichkeit sozusagen unterirdisch zusammengehören. Die unterirdische Verbindung der oft auf beiden Seiten lückenhaften Andeutungen gilt es i m folgenden nachzuweisen und zum Vorteil beider Seiten auszuwerten, wobei ein durch Andeutungen Smends legitimierter Rückgriff auf Beiträge gegenwärtiger philosophischer Anthropologie unerläßlich ist. Die damit vorgenommene und weiter vorzunehmende Feststellung von Unklarheiten, Spannungen und Fragen w i l l keine K r i t i k sein, denn viele dieser Fragen waren eben zum Teil nicht Smends Hauptfragen oder noch nicht angesichts seines Programmentwurfs. Trotzdem ergeben sie sich nicht von außen, sondern aus der immanenten Logik, aus den „Implikationen" des i n der Integrationslehre entworfenen großflächigen Systems, das i n keiner Hinsicht Vollständigkeit beansprucht und jeweils eher nur Lösungsrichtungen andeutet. W i r glauben deshalb i m Sinne Smends zu handeln, wenn w i r die grundsätzliche Ergänzbarkeit seines Systems nach der anthropologischen Seite h i n aufweisen und andeuten, welche Beiträge vor allem der gegenwärtigen philosophischen Anthropologie i m wesentlichen systemimmanent und m i t Nutzen für die Staatstheorie verwertet werden könnten. Es handelt sich dabei u m ein Vorgehen etwa i m Sinne des hermeneutischen Zirkels, das hier ausführlich n u r an den Kategorien Leistung und Leben durchgeführt werden kann: Es sind aus dem Ganzen der Theorie Smends einzelne Momente, „anthropologische Kategorien", herauszulösen: Leistung, Leben, Gruppe, Geschichtlichkeit, Ganzheit, das Moment der historischen Situation, die nicht unbedingt auf einer Ebene liegen 1 2 3 . Z u r Veranschaulichung und Vertiefung der anthropologischen Kategorien eignet sich insbesondere die philosophische Anthropologie etwa Litts, Sprangers, Plessners, Gehlens, Weins, soweit sie der Lehre Smends 123 So ist ζ. B. die Kategorie des Lebens i n verschiedener Hinsicht übergeordnet; ähnliches g i l t f ü r die Kategorie der Ganzheit; die Kategorie der Gruppe hingegen gehört an sich zur allerdings mehr soziologischen als anthropologischen ausführlichen u n d expliziten Begründung der Integrationslehre i m Anschluß an Litt, während es i m folgenden n u r noch u m einen engen anthropologischen Aspekt des schon wiederholt erwähnten Pols der Gemeinschaft geht.

60

2. Kap.: Überblick über die Integrationslehre

zugrunde liegt, m i t der Linie Smends konvergiert oder auch umgekehrt Smend durch Kontrastierung veranschaulichen hilft. Die Beziehung des Pols des Individuums zum Gegenüber des Pols des Staates w i r d sodann trotz der (relativen) Isolierung der Anthropologie i n den Kategorien i m Auge behalten. Ein ähnlich zyklisches Verfahren der Darstellung wie i m Zusammenhang Staat/Einzelner ist angemessen auch für das Zusammenwirken von Theorie und Empirie. N u r ein solch zyklisches bzw. dialektisches Vorgehen entspricht dem Gegenstand i m allgemeinen, einer Interpretation Smends i m besonderen. Unter dem Gesichtspunkt des hermeneutischen Zirkels läßt sich das Anliegen einer anthropologisch ansetzenden Interpretation Smends i n folgende zwei Fragen zusammenfassen: a) Hat die innere Logik und Bewegung i n Smends Werk nicht zur Voraussetzung bzw. zum Ziel etwa folgende der staatstheoretischen analoge anthropologische Aussage 124 : Wenn es das überempirisch aufgegebene Wesen des Menschen ist, sich i m Staat geschichtlich-politisch auszuwirken und damit zugleich persönlich selbst zu gestalten, so ist es Sache empirischer Beobachtung, die jeweiligen Formen dieser Verwirklichung i n empirischen politischen Menschen· und Haltungstypen nachzuzeichnen. b) Sieht man hierin das geschichtliche Wesen des Menschen, welche staatstheoretischen Entsprechungen (theoretische und empirische) hat diese anthropologische Aussage zur Folge? Die Beantwortung beider Fragen kann i m Verlaufe dieser Arbeit nur an wenigen Beispielen demonstriert werden. Erst eine Anthropologie und Staatstheorie bei Smend zusammenfassende, hier mehr nur punktuell mögliche Behandlung vermag die durchgehende Dialektik beider angemessen darzustellen. Doch läßt die hier vorgenommene Beschränkung und Akzentuierung die Konturen des anthropologischen Moments u m so klarer heraustreten; sie erweist seine prinzipielle Bedeutung für die Staatstheorie Smends wie für die Staatstheorie überhaupt. Wie aber trotz der kunstvollen Dialektik von Staatstheorie und A n thropologie bei Smend der hauptsächliche Duktus, wie angedeutet, staatstheoretisch ist, so verfährt die Staatslehre Smends trotz gründlicher theoretischer Absicherung doch i n erster Linie empirisch-geisteswissenschaftlich 125 . Deshalb treten notwendig die komplementären Momente der Theorie und der Anthropologie i n der Darstellung durch 124 I n Anlehnung an die oben (S. 48 ff. d. A.) ausführlich Formel zu Wesen u n d W i r k l i c h k e i t des Staates. 125 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 186.

interpretierte

61 Smend etwas i n den Hintergrund. I h r wirkliches Gewicht für die Staatslehre Smends kommt daher i n diesem Vordergrunde der Darstellung schwerlich zum Ausdruck. Deshalb n i m m t diese Arbeit sich nicht nur i n erster Linie des anthropologischen Moments an, sondern legt i m folgenden darüber hinaus den Akzent auf die Seite der Theorie, während das empirische Moment nurmehr zur Untermalung dient 1 2 6 .

126 Selbstverständlich m i t Ausnahme der Ausführungen zur historischen Situation (3. K a p i t e l V. d. Arb.).

Drittes

Kapitel

Zu erschließende anthropologische Voraussetzungen der Staatstheorie Rudolf Smends und deren grundsätzliche Ergänzbarkeit mit Hilfe gegenwärtiger philosophischer Anthropologie I. Die Kategorien Leben und Leistung 1. Das Gemeinsame aller (empirischen) Integrationsfaktoren ist, wie oben kurz angedeutet 1 , daß sie verständlich machen — i n einer späteren Formulierung Smends ausgedrückt — „wie alle scheinbar nur zwecktechnischen Einrichtungen i m Staat zugleich auch den Sinn haben, diese lebendige Einordnung i n den politischen Lebensvorgang anzuregen und zu gewährleisten.. ." 2 . Zwecktätigkeit und politisches Leben erscheinen als die beiden durchgehenden anthropologischen Grundnenner, wobei Smend das größere Gewicht der Funktion des politischen Lebens beimißt, ist doch bei i h m das Wort Leben nach einer Formulierung Mols 9 geradezu i n den Rang eines Arguments erhoben 3 . Der Begriff des Lebens erfährt verwirrend vielfältige Ausprägungen: Es gibt das mehr vitale 4 , „persönliche Leben i n seiner durch die soziale Beziehung gegebenen strukturellen Verschränkung" 5 und dann das mehr „geistige Leben" 6 , das i n den Bereich des zeitlosen Sinns hineinführt 7 und i n seiner Substanz Wert- und Sinnverwirklichung ist 8 . Schließlich bedeutet Leben i m Sinne Smends auch ganz wesentlich Erleben 9 . Diese Unterscheidung i n Leistung 1 0 und Leben ist von Smend nicht nur bei der Konzeption der Integrationsfaktoren, sondern konsequent 1

Siehe oben S. 46 f. d. A . Smend, Das Problem der Institutionen, S. 505. Mols, S. 144. 4 Vgl. auch Bartlsperger, S. 41 f. 5 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 138. 6 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 130 f. 7 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131,138 f. 8 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 160. 9 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 161 ff. 10 I n Verfassung u n d Verfassungsrecht noch i n Parenthese gesetzt (vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 202) w i l l dieser Begriff zunächst die Zwecktätigkeit des Menschen formulieren, eignet sich dann aber zur E r fassung weiterer grundlegender Bereiche. 2

3

I. Die Kategorien Leben und Leistung

63

für nahezu jedes staats- und verfassungstheoretische Detail i m Rahmen der Integrationslehre durchgeführt worden 1 1 . Der Sache nach kommen diese Kategorien aber auch vor i n der ersten Schrift, die den Integrationsgedanken, wenn auch noch nicht i n der endgültigen Fassung von „Verfassung und Verfassungsrecht" 12 , v o r t r ä g t Es handelt sich u m „Die politische Gewalt i m Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform" aus dem Jahre 1923, wo Smend den Bereich der Regierung als den politischen, w e i l totalen und gestaltenden, von der dienenden Funktion der Verwaltung abgegrenzt: „ V o n diesem Standpunkt aus bestimmt sich die Regierung als der T e i l des bezeichneten Bereichs (des ganzen Umfangs der Staatsfunktionen, d. Verf.), der i n den Kreis der Politik fällt, d. h. i n dem der Staat sich und sein Wesen bestimmt und durchsetzt, die Verwaltung dagegen als der Teil, i n dem der Staat anderen Zwecken dient oder n u r die technischen M i t t e l für seine politischen Funktionen schafft 1 3 ." Diesen „Begriff des Politischen", der auch für die Außenpolitik die „Selbstgestaltung der staatlichen Individualität", „die Wesensbestimmung" des Staates als „Objektlosigkeit" von der technischen Verwaltung und aller weiteren mehr technisch-gegenstandsbezogenen Tätigkeit abhebt 1 4 , hat Smend dann auch für die endgültige Fassung der Integrationslehre i n „Verfassung und Verfassungsrecht" übernommen 1 5 . Wie deutlich auch hier, anthropologisch gesprochen, die Politik als Leben, die Verwaltung und alle mehr technische Tätigkeit als Leistung erscheinen, braucht kaum betont zu werden 1 5 3 . 11 Vgl. z.B. für das Wesen der Verfassung Smend, S. 196; für die Staatsorgane, S. 202; für die Staatsfunktionen, S. 211 ff.; für die Frage der Staatsform, S. 222; für das Wesen des Bundesstaates, S. 223, S. 227 f.; die gleiche Unterteilung läßt sich nachweisen für die positivrechtlichen Folgerungen (S. 233 ff.), woran nur pauschal erinnert werden kann. 12 Vgl. zu dieser Entwicklung i n der Integrationslehre Mols, S. 140; die hier festzustellende Verlagerung überakzentuierend Mayer, S. 47 ff. 13 Smend, Die politische Gewalt, S. 79. 14 Smend, Die politische Gewalt, S. 80 f.; Verfassung und Verfassungsrecht, S. 177 ff. 15 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 219 f., S. 238, aber auch S. 177. 15a Damit soll nicht ausgeschlossen werden, daß nicht unter anderem Gesichtspunkt — etwa wenn man die integrierende Funktion der Regierung eines Staates den desintegrierenden Tendenzen des sich selbst überlassenen gesellschaftlichen Lebensprozesses gegenüberstellt — die Regierung zugleich L e i stung i n höchstem Grade sein könnte. N u r scheinbar liegt i n derartigen Einordnungen ein Widerspruch: Wenn man m i t Smend davon ausgeht, daß es substantiell definierbare Stützpunkte des geistigen Lebens nicht gibt, so ist es nur folgerichtig, daß die Wissenschaft sich m i t relativen Begriffen begnügen muß, die lediglich nach Akzenten zwischen dialektisch fließenden Polen unterscheiden; dazu i m folgenden, bes. i m letzten Kapitel.

6 4 3 .

Kap.: Zu erschließende anthropologische Voraussetzungen

Als Leben und Leistung i m Staate sind diese Kategorien bei Smend auch i n jüngeren Arbeiten ausdrücklich bestätigt, wenn er Wesen und Werk des Menschen und des Staates unterscheidet, ihnen Lebens- und Leistungswerte zuordnet und beklagt, daß der überaus perfekt leistende moderne Staat u m so mehr vor dem Herzen der Menschen versagt habe 16 . Diese exemplarischen Hinweise mögen zunächst genügen, u m zu zeigen, daß Smend m i t der Verwendung der anthropologischen Kategorien von Leistung und Leben i n der Staatstheorie sich eine Möglichkeit zur grundsätzlichen Systematisierung dieses komplexen Gebietes zu erschließen sucht und daß der interpretierende Rückgang auf diese anthropologischen Kategorien wiederum einen Schlüssel zur Interpretation der Smendschen Staatstheorie selbst sowie zu ihrer systemimmanenten Ergänzung liefern könnte. A u f einzelne Anwendungsfälle w i r d später einzugehen sein. Wenn aber derart i n der Anthropologie eine systematische Basis gefunden werden soll, so stellt sich schon hier die Frage, wie Leben und Leistung m i t dem bisher referierten phänomenologischen Ausgangspunkt zusammenhängen und wie sie sich insbesondere als Funktionen desselben Menschen zueinander verhalten. Wenn nach dem Gesagten sich die Funktion der Leistung als objektbezogene Zwecktätigkeit und die Funktion des Lebens als subjektbezogene Selbstgestaltung nahelegt, so erscheint als paradox, daß gerade auch die Funktion der staatlichen Zwecktätigkeit, zunächst doch der des Lebens entgegengesetzt, ebenfalls eine Ausprägung des Lebens darstellt: Ohne Rücksicht auf die tatsächliche Realisierung der angestrebten Ziele und also den tatsächlichen „teleologischen Nutzeffekt" vollzieht sich i m Kampf u m den Erfolg „Wesensbildung und Wesenserfüllung", stellt sich Sinn ein und also „Leben" 1 7 . I n dieser Wendung des Lebensbegriffs w i r d zunächst eine wichtige auch methodische Funktion deutlich, nämlich alle falsche rationalistische Teleologie zurückzuweisen und ihre Fehlkonstruktionen zu verfolgen bis hinein i n ihre vermeintliche Domäne, die Zwecktätigkeit des Menschen selbst. Darüber hinaus w i r d so die eigentümliche Verbundenheit von Leben und Leistung angedeutet Dieser i m Rahmen der sachlichen Integration gegebene Hinweis erhält weitere Kontur, wenn man eine versteckte Anmerkung Smends zu den Ausführungen zur funktionellen Integration heranzieht; dort bemerkt Smend nur beiläufig, daß Willensakte i m Namen der Gemeinschaft „rückwirkend m i t zu den integrierenden Funktionen (gehören) — ebenso wie sich die menschliche Einzelpersönlichkeit i m Realisieren und Erleben ihrer Funktionen zugleich selbst herstellt" 1 8 . 16 17

Smend, Das Problem der Institutionen (1956), S. 508. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 165 f.

I. Die Kategorien Leben und Leistung

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Damit ist auch der Anschluß an den oben vorgeführten expliziten anthropologischen Ansatz Smends hergestellt: Wenn die Wesenserfüllung und persönliche Selbstgestaltung des Menschen sich nur vollzieht i n „geistiger Auswirkung", i n „geistigem Leben, das seiner Struktur nach sozial ist", so umfaßt diese Struktur des Lebens offenbar Leben und Leistung; wie das Leben sich um seiner Selbstgestaltung und Selbsterfüllung willen immer auch leistend i m weitesten Sinne u m eine nicht nur entgegenkommende M i t w e l t bemühen muß, so w i r k t umgekehrt, i n großem Maße nicht intendiert, vielmehr i m irrationalen Erlebnis wesentlich unbewußt, diese Bemühung selbst noch i n den scheinbar nur technischen und äußerlichen Formen der Leistung i m handgreiflichsten Sinne gestaltend auf dieses „leistende Leben" zurück. Das Leben besitzt also die Struktur der immer auch umweghaften, leistenden, indirekten Selbstgestaltung, die Leistung wiederum ist, so sehr sie sich direkt nur einem sachlich begrenzten Objekt zuzuwenden vermag, doch auch Leben, insofern sie, über alle direkte Zuwendung hinausgehend, indirekt auf die Selbstgestaltung des Menschen zurückwirkt und darin seinem personalen Sein i n dessen Totalität verbunden ist. W i r glauben nicht, diese Struktur des menschlichen Seins 19 , das anthropologische Phänomen der indirekten Selbstgestaltung, hier schon voll verständlich machen zu können, versprechen aber, es nicht allein als bisher i n der Interpretation Smends vernachlässigte, verständnisaufschließende anthropologische Mitte der Integrationslehre zu erweisen, sondern zugleich als übereinstimmende Mitte zum Teil ganz verschiedener heute maßgeblicher anthropologischer Lehren 2 0 . 2. Vorerst mögen folgende Hinweise ausreichen: a) I n der philosophischen Anthropologie w i r d — ζ. T. ausdrücklich unter dem Begriff des Lebens — versucht, die Grundsituation des Menschen zu erfassen. Z u diesem Zwecke vergleicht man das Verhältnis des Menschen zur Welt m i t dem Verhältnis des Tieres zu seiner Umwelt. I n diesem Vergleich zeigt sich eine Kongruenz zwischen dem Tier (seinen je artspezifischen Organen und Instinkten) und seiner (je nach A r t speziellen) Umwelt, während das Verhältnis des Menschen zur Welt gekennzeichnet ist durch Inkongruenz, Spannung und Offenheit. 18 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 154 A n m . 26, ähnlich aber auch S. 201. 19 Das wiederum die Bezeichnung „Leben" rechtfertigt, w e i l es als umfassende Kategorie die Funktionen des Lebens u n d der Leistung i m engeren Sinne umschließt. 20 Vgl. m i t ausführlichen Belegen das vierte, fünfte u n d sechste Kapitel. Smend selbst weist diesem Phänomen i n seinem zentralen Satz über die geistige A u s w i r k u n g u n d Selbstgestaltung i m Staate die Rolle eines durchgehenden Momentes der Staatstheorie zu, vgl. noch einmal oben S. 58 d. Arb.

5 Poeschel

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3. Kap.: Zu erschließende anthropologische Voraussetzungen

Damit ist jedoch weder einer U nVerbundenheit der beiden Größen das Wort geredet noch einer physischen oder geistigen Autarkie des Menschen. Auch geistig ist das Ich nicht denkbar ohne Welt, denn es entwickelt sich und gestaltet sich zur geistigen Individualität nur i n der Auseinandersetzung m i t einem Gegenüber. Das Tier ist prinzipiell „fert i g " ; der Mensch gestaltet sich, aber nicht absolut und direkt, sondern auf dem Umweg über ein Gegenüber (den Mitmenschen, seine Arbeit usw.). Deshalb läßt sich das Charakteristische des menschlichen Lebens ausdrücken i m Begriff der indirekten Selbstgestaltung. Die Selbstgestaltung ist, wie gesagt, auch deshalb indirekt, weil der Mensch etwa i n seiner Arbeit direkt und bewußt nur einen bestimmten Zweck intendiert, dabei aber zugleich durch wiederkehrende Erlebnisse auch unbewußt geprägt und motiviert wird. Soll das Gegenüber für das Subjekt diese prägende K r a f t haben, so muß es als lebende Gestalt erlebt werden können. M i t diesem formalen Merkmal w i r d eine notwendig irrationale Seite i m Prozeß der indirekten Selbstgestaltung bezeichnet und hingewiesen auf etwas wie einen allgemeinen Lebenstrieb des Menschen. b) Innerhalb der Gesamtkonstellation kann unterschieden werden bzw. die Grundsituation kann differenziert werden wie folgt: Es gibt verschiedene unumgängliche Relationen des Menschen, i n denen der Mensch sich indirekt gestaltet und entsprechend differenzierte Funktionen entwickelt. Als sich i n den Extremen gegenüberliegende Relationen seien genannt die Relation Ich — Natur einerseits, die Relation Ich — Du andererseits. Die Relation Ich — Natur scheint die Tendenz zur Rationalisierung zu besitzen, d. h. den allgemeinen Lebenstrieb zum Leistungstrieb und weiter zur nahezu absoluten Rationalität zu differenzieren. Die i h r entsprechende Funktion gibt daher das reinste Modell aller Leistung ab. Die Relation Ich — Du ist dagegen nicht rationalisierbar. Der niemals i n Gesetzmäßigkeiten rational feststellbare andere Mensch stellt andererseits die vollkommenste Erfüllung einer lebenden Gestalt i m Gegenüber dar. I n i h r findet das Erleben bzw. der allgemeine Lebenstrieb des Menschen seine vollkommenste Realisierung. Die Differenzierung des allgemeinen Lebenstriebs i n dieser Relation gibt daher das Paradigma der Funktion des Lebens i m Sinne menschlicher Selbsterfüllung ab. c) Der so konzipierte Lebensbegriff ist also zweideutig: Einmal bezeichnet er die Gesamtsituation, zum anderen die innerhalb dieses Ganzen der Leistung polar gegenübergestellte Funktion.

I. Die Kategorien Leben und Leistung

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I n jedem Falle aber w i l l die Verwendung der Kategorie „Leben" bei Smend zunächst von den relativ eindeutigen und auf die physische Existenz bezogenen Leistungsproblemen hinlenken auf die schwerer faßbaren, aber unter Umständen noch dringlicheren geistig-seelischen Probleme des Menschen. d) Die Relation Ich — Staat steht — soweit spezifizierbar — i n der Staatstheorie Smends zwischen Leistung und Leben i n ihrem reinsten Sinne, i m übrigen umf aßt sie beides. Das Leistungsproblem w i r d herkömmlich (in der Staatszwecklehre) sowie gegenwärtig (etwa i m Gefolge Forsthoff s i m Begriff der Daseinsvorsorge i n einem weiten Sinne) gebührend behandelt. Das Lebensproblem erscheint dagegen als ein bisher vernachlässigter, erst von Smend derart herausgestellter Aspekt. Die dadurch u. a. sichtbar gewordene anthropologische Figur der indirekten Selbstgestaltung liefert aber nicht nur den systematischen Schlüssel zu dem Problemkreis von Leben und Leistung i m engeren Sinne. Als fundamentale anthropologische Bestimmung dient sie darüber hinaus als Wegweiser und Begrenzung durch die Fülle der Probleme, die sich einer an die Staatstheorie Smends herangehenden anthropologischen Fragestellung aufdrängt. Auch die i m weiteren vorzunehmende anthropologische Kategorienbildung stellt auf diesen Hintergrund ab. Legt man das Leitmotiv der indirekten Selbstgestaltung zugrunde, so korrespondieren bei Smend 21 , ähnlich wie der Grundnenner Leistung m i t Verwaltung, und der Grundnenner Leben m i t Politik, weitere zu erschließende Kategorien m i t staatstheoretischen Gegenstücken, etwa der Grundnenner „Gruppe" m i t den Problemen der Gemeinschaft i m Staate, der Außenpolitik und des Pluralismus der Staaten; der Grundnenner „Geschichtlichkeit" m i t dem Problem der viel vermißten Besonderheit des Staates, dessen Lösung i n der Richtung seiner Souveränität zu suchen ist; der Grundnenner „Ganzheit" m i t dem Problem der umfassenden Selbstverwirklichung i n der Ganzheit des Staates, bzw. der tatsächlichen Entfremdung des Menschen i n der heutigen pluralistischen Industriegesellschaft; das grundsätzlich immer zu beachtende besondere Moment der historischen Situation m i t einer ganz bestimmten, aber nur sehr verstreut zum Ausdruck gebrachten historischen Sicht Smends. Die „unterirdische" Verbindung dieser oft auf beiden Seiten lückenhaften Bestimmungen und die Richtung, i n der Lösungen jeweils zu suchen wären, sollen i m folgenden wenigstens angedeutet werden.

21 Dieser verbindende H i n t e r g r u n d k a n n erst i m Durchgang durch die folgenden Kategorien der Gruppe, der Geschichtlichkeit usw., sichtbar gemacht werden.

5*

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3. Kap. : Zu erschließende anthropologische Voraussetzungen II. Die Kategorie der Gruppe

1. Zwar steht bei Smend i m Anschluß an Litt eine Theorie der Gemeinschaft i m Mittelpunkt des Denkens 22 und auch die Außenpolitik findet deutliche zusammenhängende Erwähnung als ein diese Gemeinschaft mitkonstituierender Faktor 2 3 . Auch w i r d die Außenpolitik weiter i n einer Fülle empirischer Einzelbeobachtungen berührt 2 4 ; gleichwohl fehlt eine Systematisierung der Einzelheiten, die dem System der Integrationsfaktoren für den Bereich der Innenpolitik adäquat an die Seite treten könnte 2 5 und die zugleich etwas über den theoretischen Anspruch und die tiefere anthropologische Begründung der umstrittenen Konzeption der Außenpolitik bei Smend samt ihren Nationalstaatsimplikationen 2 8 verraten würde. Insbesondere fehlt eine Auseinandersetzung m i t der anthropologischen Notwendigkeit des Außenverhältnisses der Gemeinschaft überhaupt: Smend n i m m t m i t der Behauptung von gegenseitiger Selbstgestaltung der Staaten i n der Außenpolitik nur negativ Stellung gegen ein sie gegeneinander isolierendes mechanistisches Denken 2 7 . Eine positive Begründung w i r d auch nicht ersetzt durch einen Hinweis auf Litt, der an der angegebenen Stelle eine positive Begründung ebenso unterläßt wie Smend selbst 28 . I m übrigen umfaßt Litts „Gesamterlebnis seiner Idee nach das erlebbare Universum" 2 9 , wie der „geschlossene Kreis" seine „vollkommenste Erfüllung i n der Kulturmenschheit" findet 30. Die Konzeptionen des Gesamterlebnisses wie des geschlossenen Kreises Litts, an die Smend zunächst anschließt, entbehren also per definitionem eines Außenverhältnisses. I n richtiger Erkenntnis dieser Lücke stellt Mols fest: „Versucht m a n n u n die Bedeutung der Integrationslehre für eine p o l i t i sche Theorie zu werten, die das komplizierte Geflecht der Internationalen 22

Vgl. dazu, w e n n auch kritisch, Mayer, S. 32, 66, 69, 86, 89 ff., 94 u n d passim. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 176 ff. 24 z. B. i m Zusammenhang der persönlichen Integration, Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 47 f., der sachlichen Integration S. 161 bes. S. 163; bei einzelnen verfassungstheoretischen u n d verfassungsrechtlichen Fragen z. B. S. 200 Anm. 2, S. 264, S. 216; vgl. auch spätere Äußerungen zum i m m e r auch außenpolitischen Beruf eines Volkes i n Smend, Bürger u n d Bourgeois, S. 324 f., i n Das Problem der Institutionen, S. 513 f., i m A r t . Staat, S. 520 f., S. 524; vgl. aber auch schon die ursprüngliche Konzeption der Außenpolitik i n Die politische Gewalt (1923), S. 80 f., später von Smend ausdrücklich übernommen i n Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 177. 25 Mols, S. 276. 26 Stark kritisiert bei Mols, S. 275. 27 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 177 ff. 28 Vgl. Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 381. 29 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 245. 30 Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 396 f. 23

II. Die Kategorie der

G

e

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P o l i t i k i n sich einbezieht, so stehen auf der Aktivseite die deutliche Forderung Smends, alle Bereiche der P o l i t i k als ein Ganzes zu begreifen, auf der Passivseite dagegen alle I m p l i k a t i o n e n eines Denkens, das dennoch aus seinem selbstgesetzten Rahmen nichts Faßbares anzubieten weiß, so daß der Saldo negativ w i r d 3 1 . "

Ein solches Verdikt ist jedoch vorschnell, solange nicht auf die bei Smend zugrunde gelegte Ebene der Anthropologie zurückgegangen und derart erst wirklich geprüft wird, ob die Implikationen des Denkens Smends und sein selbstgesetzter Rahmen nicht eben doch Faßbares auch für eine Theorie der Außenpolitik anzubieten wissen. Statt deshalb an dieser Stelle i n ein anderes System auszuweichen 32 , w i r d hier vielmehr versucht, i m Rückgang auf die von Smend zugrunde gelegte anthropologische Kategorie der Gemeinschaft, bzw. der Gruppe, und m i t Hilfe der anthropologischen Figur der indirekten Selbstgestaltung diese offensichtliche Lücke i m System Smends i m Sinne dieses Systems auszufüllen; zugleich steht dadurch zu erwarten, daß die häufig kritisierte Konzeption des Staates als Gemeinschaft bei Smend 33 i n ihrer Eigenart verdeutlicht wird. 2. Der erste Schritt zur systematischen Grundlegung der Außenpolitik des Staates i m Sinne Smends ist i n der Erörterung des Außenverhältnisses der Gruppe allgemein zu tun. Dafür ließe sich zunächst schon bei Litt i n der ersten Auflage von „ I n dividuum und Gemeinschaft" Material finden. Dort begründet Litt das Außenverhältnis der Gruppen daraus, daß sie erst i n solch gegenseitiger Abhebung von Eigenem und Fremdem — w i r nennen es hier Innen und Außen — ihren Angehörigen erlebbar werden 3 4 . Gehlen 35 spricht wie vom indirekten Selbstbewußtsein des Einzelnen auch von einem notwendig indirekten Selbstbewußtsein der Gruppen und begreift damit das Außen i m allgemeinsten Sinne als Voraussetzung jedes be wußten Gruppenhandelns. Plessner versteht das Außen einer Gruppe als das M i n i m u m der Gemeinschaft i m Inneren; „immer ist Gemeinschaft kreishaft gegen ein unbestimmtes Milieu abgeschlossene Sphäre der Vertrautheit. I h r wesensnotwendiger Gegenspieler, Hintergrund, von dem sie sich abhebt, ist die Öffentlichkeit, der Inbegriff von Leuten und Dingen, die nicht mehr dazugehören', m i t denen aber gerechnet werden muß" 3 6 , und „Gemeinschaft ohne diese Grenze ist keine Gemeinschaft mehr" 3 7 . 31

Mols, S. 276. Mols, S. 276. 33 z. B. von Badura, S. 49 f. ; Kelsen, S. 28 f. u n d vor allem Mayer, vgl. oben Fußn. 22. 34 Vgl. Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 1. Aufl., S. 88. 35 Gehlen, Urmensch, S. 204, Mensch, S. 402. 36 Plessner, Grenzen, S. 45. 32

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3. Kap.: Zu erschließende anthropologische Voraussetzungen

Schließlich ist i n der modernen Gruppentheorie das Thema des Außenverhältnisses der Gruppen i n der Gegenüberstellung von ingroup und outgroup schon als klassisch kanonisiert 3 8 . Diese Außen Verhältnisse sind einerseits Bindung jeder Gemeinschaft, die der Mensch braucht, nicht aus äußeren Gründen, sondern weil i h m Gemeinschaft „soziales und moralisches Leben, Verständigung und Erfüllung schlechthin" ist 3 9 . Andererseits bedeuten sie enge „Grenzen der Gemeinschaft" 40 , deren Anerkennung eine Unzahl utopisch-grenzenloser (im übertragenen wie i m Wortsinne) Gemeinschaftskonzeptionen ausschließt und die Unumgänglichkeit gesellschaftlichen Machtkampfes und Konflikts bewußt werden läßt 4 1 . Eine Gruppe i m weiteren Sinne ist aber auch der Staat 4 2 , d. h. er muß wie jede Gruppe dem Gemeinschaftsbedürfnis des Menschen entgegenkommen und teilt m i t jeder Gruppe die engen Grenzen der Gemeinschaft, m i t h i n als M i n i m u m der Gemeinschaft das unumgängliche Außenverhältnis, das i h m die Pflicht zur Außenpolitik auferlegt. Von daher werden auch National- und Sozialstaatskonzeptionen i m Gegensatz zu rein historischen oder teleologisch-materialistischen Deutungen als Antworten auf das innere Bedürfnis des Menschen nach Gemeinschaft verständlich 43 , die allerdings m i t Hoffnungen auf eine homogene nationale Einheit oder m i t der Erwartung einer sozialistischen „Weltinnenpolitik" 4 4 alsbald nach der einen oder anderen Seite h i n utopisch überfrachtet sind 4 5 . Denn nach innen umfaßt der Staat eine Vielzahl von Gruppen, die er nur mühsam durch seine spezifische Gemeinschaft zusammenhält, und nach außen grenzt er an seinesgleichen. Wie gesagt bedeuten aber alle diese Gruppengrenzen Kampf, sind — legt man die Konzeption der Integration als eines Prozesses zugrunde — 87

Plessner, Grenzen, S. 51. Vgl. König, A r t . Gruppe i n : Fischer-Lexikon, Soziologie, S. 105 f. 89 So Gehlen, Urmensch, S. 47 zur Kategorie der Gegenseitigkeit, die für i h n gleichbedeutend m i t derjenigen der Gemeinschaft ist, Gehlen, Urmensch, S. 49. 40 Vgl. schon den Plessnersctien T i t e l : Grenzen der Gemeinschaft. 41 Vgl. dazu neuerdings wieder w i e Smend (vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 151 A n m . 8) i m Anschluß an Simmel. Coser.* Theorie sozialer Konflikte. 42 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131 f. 48 F ü r den Nationalismus i n einem weiten Sinne vgl. Lemberg, Nationalismus, Bd. I, S. 22 ff.; Nationalismus, Bd. I I , S. 97 ff.; für den nicht mehr n u r ökonomisch u n d materialistisch ansetzenden freiheitlichen Sozialismus i n der Bundesrepublik vgl. Weisser, A r t . Sozialismus I V , 5 i n HdSW, S. 514. 44 So merkwürdigerweise der Smend-Schüler Ehmke, P o l i t i k der p r a k t i schen Vernunft, S. 213 f. 45 Vgl. die K r i t i k Plessners (Grenzen, S. 45 ff.) an den politischen Konzeptionen des radikalen Nationalismus u n d Sozialismus. 88

III. Die Kategorie der Geschichtlichkeit

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immer dynamisch i m Fluß, sind einerseits Anlaß von Konflikten, andererseits ihr befristet befriedigendes Ergebnis. I I I . Die Kategorie der Geschichtlichkeit 1. Auch der Geschichtlichkeit des Menschen ist an sich bei Smend volle Aufmerksamkeit zuteil geworden. Doch hat wohl die Subsumtion des Geschichtsproblems vor allem unter die sachliche Integration 4 6 dieses seiner wirklich politisch-existenziellen Bedeutung i n einer dynamischen Staatstheorie beraubt und die Geschichte allzusehr i n das Reich einer Wertverwirklichung abgedrängt 47 , die leicht als lediglich gleichgerichtete friedliche Arbeit oder rationale Diskussion mißverstanden werden könnte. Wenn Smend gelegentlich die Geschichte zugleich als Resultat politischen Kampfes erwähnt 4 8 , so bleibt eine solche Äußerung zu isoliert, um ohne weiteres als Brücke zu bestimmten staatlichen Erscheinungen erkennbar zu sein, die allerdings ohne diesen Bezug zur Geschichtlichkeit des Menschen ihrerseits für den Leser unverständlich bleiben müssen. Es handelt sich dabei vor allem u m die zunächst unbegründet gebliebene Besonderheit des Staates, um den Staat als souveränen Willensverband 4 9 , als letztinstanzliche Ordnungsmacht, die nach Smend kategorisch notwendig i s t 5 0 und deren „Dasein und Leben" „Selbstzweck" besitzt 5 1 . Die Begründung dieser Notwendigkeit verweist zurück auf anthropologische Voraussetzungen, die m i t Smends Formel der primären Geistesgesetzlichkeit 52 , hier i m Bereich des Politischen 53 gelegentlich konkretisiert zur „Integrationsgesetzlichkeit des politischen Geistes" 54 , eher verunklart als geklärt gelten können 5 5 . Spätere Äußerungen Smends zeigen i n der Tat an, daß die Lösung, wie hier vorgeschlagen, i m Bereich des Geschichtsproblems zu suchen ist 5 6 . Auch hier, i n der Beziehung Staat/Geschichtlichkeit, w i r d die Figur der indirekten Selbstgestaltung als Wegweiser dienen können. 48

Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 167. Vgl. Mayer, S. 72 f., 83 ff., u. passim; Smend bemerkt später, i n der I n t e grationslehre kämen Geschichte u n d Tat zu kurz, Integrationslehre (1956), S. 480. 48 Smend, Verfassimg u n d Verfassungsrecht, S. 174. 49 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 139. 50 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 196. 51 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 197. 52 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 136. 53 Vgl. o. S. 63 d. A . u. dort A n m . 13 - 15. 54 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 207. 55 z. B. zu eng interpretiert bei Mols, S. 181. 58 Smend, Art Staat, S. 521; Anklänge auch schon i n Bürger u n d Bourgeois, S. 323 ff. 47

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3. Kap.: Zu erschließende anthropologische Voraussetzungen

2. Der bei Smend lückenhaft gebliebene Begriff der Geschichtlichkeit läßt sich ergänzen nicht nur durch die verwandte Anthropologie Litts und Freyers 57, sondern vor allem auch durch die politische Anthropologie Plessners, die Smend i n diesem Zusammenhang neuerdings selbst heranzieht 58 . Wiederum m i t der Anthropologie Plessners konvergierende anthropologische Bestimmungen finden sich auch i n dem jüngst erschienenen geschichtsanthropologischen Beitrag von Alfred Heuss 59. Danach ist Geschichte vor allem die Veränderung der menschlichen Verhältnisse i n der Zeit, der der Mensch allerdings immer auch eine gewisse Beständigkeit und Kontinuität abzuringen versucht 60 . Der Prozeß der Geschichte ist aber — ohne damit schon einem Fortschrittsglauben das Wort zu reden — nicht nur ein dem Menschen äußerliches gleichgültiges Geschehen, das an seinem Kern spurlos vorüberzöge. Dann wäre „die Rastlosigkeit der Menschen von Generation zu Generation soviel Wert wie der Lauf eines Eichhörnchens i n der unter seinen Füßen sich drehenden Trommel" 6 1 . Statt dessen geschieht i n diesem Prozeß w i r k lich etwas, und nur deshalb ist er „Geschichte" 62 . I n i h m gewinnt nämlich der Mensch, der nicht wie das Tier i n seinen Instinkten festgelegt ist und i m Verhältnis der Offenheit seinesgleichen, der Welt und zuletzt auch sich selbst gegenübersteht 63 , seine je besondere Individualität 6 4 . Deshalb ist die Substanz des Menschen selbst „geschichtliche S t r u k t u r " 6 5 . Grundsätzlich ist das Maß von Macht und Ohnmacht, m i t dem der Mensch diesem Geschehen gegenübersteht, nicht bestimmbar 66 . Jedenfalls bedeutet „,geschichtlichen' Charakters sein" immer auch „seine Gestalt nicht aus den Händen einer überlegenen Gewalt als unabänderliche Schickung entgegenzunehmen, sondern aus selbsteigenem Wollen, T u n und Schaffen zur Reife bringen" 6 7 und also Führung des eigenen Le57 Smend benutzte u. a. auch Frey er schon zur philosophischen Grundlegung von Verfassung u n d Verfassungsrecht, vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 149. 58 Vgl. Smend, Staat, S. 526. 59 Vgl. Heuss, Z u m Problem einer geschichtlichen Anthropologie i n : K u l t u r anthropologie 1973, S. 150 ff.; vgl. dort S. 152, 192, die Hinweise auf Plessner. 80 Vgl. Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 265, S. 288 f., Heuss, Z u m Problem einer geschichtlichen Anthropologie, S. 178 ff., S. 177 ff. 61 Plessner , Stufen, S. 339. 62 Plessner , ebd. 63 Dazu ausführlich später. 64 Vgl. Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 279. 65 Frey er, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 235, S. 176 ff. 66 Vgl. Plessner, S. 309 ff.; Gerhard Krüger, Geschichte u n d Gegenwart, S. 109 ff., u n d Alfred Heuss, Z u m Problem einer geschichtlichen Anthropologie, S. 188 ff. betonen vielleicht allzu pessimistisch die Seite der Ohnmacht. 67 Litt, Mensch u n d Welt, S. 27.

III. Die Kategorie der Geschichtlichkeit

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bens 68 . Angesichts der Offenheit seines Lebens und der Fülle der Möglichkeiten, die es i h m zu versprechen scheint, muß der Mensch der fließenden und i h n begrenzenden Zeit wenige bestimmte und einseitige abringen, die er allein zu realisieren vermag, — das macht den notwendigen Entscheidungscharakter der geschichtlichen Existenz des Menschen aus 69 . Die Funktion solcher Entscheidung ist äußerst komplex. M i t rationalen oder dezisionistischen Konstruktionen einer absoluten Entscheidung w i r d man ihr nicht gerecht 70 . Der Mensch muß sich bei ihrer bewußten selbstbestimmenden Realisierung zugleich schon i m Unbewußten w i r k samer und hilfreicher psychischer Tendenzen bedienen. Er ist deshalb gerade auf der komplexen Ebene totaler geschichtlicher Entscheidung zur indirekten Selbstgestaltung gezwungen, das heißt hier: er vermag außer i n seltenen Augenblicken seine Möglichkeiten nicht abstrakt zu erörtern und auszuwählen; diese sind vielmehr gewöhnlich nicht nur befrachtet m i t eigenen Wünschen und Ängsten, sondern zugleich besetzt und beansprucht von realen Personen, die sie lebten, leben oder leben wollen. Ihnen gegenüber entscheidet er sich, indem er sich m i t bestimmten Menschen und ihren Positionen identifiziert und andere negiert; letzteres aber nicht so sehr, weil er ihre Aggressionen fürchtet, sondern das Lockende ihrer Möglichkeiten, die grundsätzlich auch die seinen sind, die er aber nicht alle zugleich realisieren kann. Deshalb — so verstehen w i r Plessner 71 — ist die Erkenntnis unumgänglich, „daß der Mensch nur als Freund oder Feind gemeinschaftsoffen zu leben vermag" 7 2 . Deshalb identifiziert er sich m i t der Vergangenheit oder der Zukunft und ihren Trägern, das eine als Norm seiner Gegenwart durch die Negation des anderen definierend 73 . Insgesamt bedeutet das unausweichlich auch Kampf des Menschen gegen den Menschen 74 , i n dem der Mensch sich und seiner Gruppe erst Ge88

Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 288. Vgl. dazu Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 279, S. 286 ff., Grenzen, S. 49 ff.; Heuss, Z u m Problem . . S . 189 ff.; Frey er, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 235 ff. ; Gehlen, aber allgemeiner gehalten, Urmensch, S. 176, Seele, S. 48. 70 Vgl. gegen die rationalistische Version Plessner, Grenzen, S. 49 ff. ; nach Gehlen (Mensch, S. 363) behält der W i l l e allgemein etwas v o n einem „ V e r h ä l t nis", d. h. er ist nicht denkbar als absolute u n d abstrakte Größe; gegen eine vereinfachende Version der spezifisch staatlich-politischen Entscheidung vgl. Huber, Z u r Problematik des Kulturstaats, S. 16. 71 Vgl. bes. Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 283 ff. 72 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 314. 73 Vgl. zur „Grundfigur historischen Geschehens" Frey er, Theorie . . S. 215 ff.; zum „,natürlichen* Verhältnis von Vergangenheit u n d Gegenwart" Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 279, bes. i n seiner S t r u k t u r der „Verschränkung", S. 286 ff.; vgl. auch Lemberg, Ideologie u n d Gesellschaft, S. 168 ff. 89

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3. Kap.: Zu erschließende anthropologische Voraussetzungen

stalt gibt und der als Kampf um die Geschichte auf die Ebenen der umfassenden Gruppen und Institutionen und der höchstmöglichen Macht 7 5 , d. h. letztlich zum souveränen Staat führt; denn der Staat ist der Status einer Menschengruppe „untereinander und i m Gegensatz gegen andere" 7 6 , den sie der Offenheit der Zeit (vertikal) und der Vielfalt der Gegenwart (horizontal) abgerungen hat 7 7 . Da dieser Kampf um die selbstmächtige Seite der menschlichen Geschichte geführt wird, ist er Politik, „denn Politik ist flüssige Geschichte, heißt Geschichte machen" 78 . „Sie ist dann p r i m ä r kein Gebiet, sondern der Zustand des menschlichen Lebens, i n dem es sich nicht n u r äußerlich u n d juristisch, sondern v o n G r u n d u n d Wesen aus seine Verfassung gibt u n d sich gegen u n d i n der Welt behauptet. Sie ist der Horizont, i n dem der Mensch die Sinnbezüge seiner selbst u n d der Welt, das gesamte A p r i o r i seines Sagens u n d Tuns g e w i n n t 7 9 . "

Daraus resultiert die Würde des spezifisch politischen Kampfes u m Macht, an dem deshalb — der allgemein bewußt gewordenen Freiheit und Selbstmacht des menschlichen Wesens gemäß — heute jeder teilhaben soll 8 0 . Das Ziel der geschichtlichen Selbstgestaltung macht deshalb nicht nur die Würde des Staates und seiner Souveränität aus, sondern liefert auch die tiefere Begründung heutiger Gleichheits- und Demokratienormen 8 1 . Wenn man so w i l l , ist dies eine Rückkehr zur Hegelsehen Bestimmung des Staates als Wirklichkeit der sittlichen Idee 8 2 i n allerdings unidealistischer existenzieller Version 83 . 74

Vgl. Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 282. Vgl. Heuss, Z u m Problem . . . , S. 178 ff. 76 Vgl. Smend i m engeren Zusammenhang der Grundrechtsfunktionen, V e r fassung u n d Verfassungsrecht, S. 264. 77 Z u m Begriff des Staates als des umfassenden Status des Menschen vgl. Dombois, Politische u n d christliche Existenz, S. 100; zur Verknüpfung der beiden genannten Dimensionen i m Begriff des Staates vgl. Dombois, S t r u k t u relle Staatslehre, S. 42 u n d Smend selbst, Staat, S. 520 u n d S. 525 f. 78 Plessner, Grenzen, S. 114; vgl. ähnlich auch Heuss, Z u m Problem . . S. 183 ff. u n d Dombois, Politische u n d christliche Existenz, S. 99 f. 79 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 290. 80 Vgl. Smend, Staat, S. 522. 81 Vgl. Smend, Staat, S. 525 f.; diese grundsätzliche, „innere" Begründung des Staates u n d seiner Formen ist abzuheben von heute üblichen lediglich historischen, normativen u n d teleologischen Ableitungen, von „Unstaatstheorien" wie dem radikalen Marxismus u n d Liberalismus zu schweigen, vgl. dazu Smend selbst, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 174, S. 219. 82 Vgl. auch Hub er für seinen verwandten Begriff des Kulturstaates, Zur Problematik des Kulturstaats, S. 27. 83 Vgl. Plessners Distanzierung von verschiedenen Formen des Idealismus, Macht u n d menschliche Natur, S. 315, S. 265 f.; eine unidealistische Verwendung des Hegelwortes zur Bestimmung des Politischen findet sich auch bei Schmitz: Die Freund-Feind-Theorie . . . , S. 16 A n m . 31. 75

III. Die Kategorie der Geschichtlichkeit

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Sofern der Kampf der oben genannten Gruppen die Ebene von Politik, Geschichte und Staat erreicht, hat er teil an deren Würde und Existentialität. Die Übertragung der Ergebnisse der Gruppentheorie auf den Staat mag allgemein problematisch sein 84 , die Notwendigkeit des Außenverhältnisses einer Gruppe und seine Konsequenzen erfahren hingegen bei politisch relevanten Gruppen und vor allem bei der besonderen Gruppe Staat eine zusätzliche und eigenständige Begründung aus der anthropologischen Funktion der geschichtlichen Selbstgestaltung. I m Zuge ihrer Realisierung differenziert sich notwendig eine besondere soziale Struktur heraus, die die inneren Bedingungen des Entscheidenmüssens widerspiegelt. Plessner faßt die notwendige Beziehung zwischen der Funktion geschichtlicher Selbstgestaltung und einer entsprechenden politischen Struktur zusammen: „Nach dem Prinzip der Unbestimmtheitsrelation zu sich oder der offenen Frage k a n n der Mensch nicht n u r die Notwendigkeit i n einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft überhaupt existieren zu müssen, sondern auch die N o t w e n digkeit der Partikularität seiner Existenz i n gegeneinandergestellten V ö l k e r n m i t verschiedenen Sprachen u n d Sitten, also verschiedenen Vertrautheitssphä-

ren und Traditionen begreifen^."

Damit sind die anthropologischen Voraussetzungen der staatstheoretischen Konzeption von Außenpolitik und souveränem Nationalstaat bei Smend nicht nur durch eine allgemeine Gruppentheorie, sondern auch durch eine spezifische Geschichts- und politische Anthropologie angedeutet. Das sich derart i n der Linie Smend I Plessner abzeichnende FreundFeind-Verhältnis der politischen Gruppen ist nun allerdings nicht m i t dem Pendant bei Carl Schmitt zu verwechseln 86 : Zunächst ist schon die Dynamik der Subjekte dieses Verhältnisses bei Smend ganz anders akzentuiert 8 7 . Weiter ist gerade die bei Carl Schmitt i n den Hintergrund getretene Freundseite i m Smendschen Begriff der Integration und des Politischen i n den Vordergrund gerückt 88 . Vor allem aber ist der politische Kampf nicht gekennzeichnet vom K r i t e r i u m physischer Bedrohung wie bei Carl Schmitt? 9. Die physische Bedrohung ist eher marginales M i t t e l des politischen Kampfes 9 0 , der i m Normalfall i m Gegensatz zu 84

Vgl. Hofstätter, Gruppendynamik, S. 195. Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 314; vgl. ähnlich Dombois, Politische u n d . . . , S. 100 zur politisch-staatlichen Existenz des Menschen. 86 Obwohl sich Carl Schmitt auf Plessner beruft, Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 47 f. 87 Vgl. Wohlgemuth , S. 170 ff. 88 Vgl. Wohlgemuth , S. 157 ff. zur Akzentuierung der „Kunkelseite" des Politischen bei Smend, seiner „Schwertseite" bei Carl Schmitt. 89 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20 u n d passim; vgl. dazu auch Schmitz, S. 99. 90 Vgl. Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 247. 85

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jenem pessimistischen Ernst eher m i t einem Spiel zu vergleichen ist 9 1 , nicht um das Dasein, vielmehr um das Sosein geführt w i r d 9 2 . Aber auch dieser Kampf hat seinen Ernst, denn er ist von „existentieller Notwendigkeit, d. h. das Leben der Menschen i n seiner Breite umfassend" 93 , und berührt die letzten Reservate des Individuums 9 4 . Und m i t diesem Kampf, resultierend nicht aus einem Aggressionstrieb oder ähnlichem, sondern umgekehrt aus seiner Gemeinschaftsoffenheit und Selbstbestimmungsfähigkeit und damit moralisch unverdächtigen, sozusagen den menschlichsten Seiten seines Wesens 95 , muß der Mensch seinen Frieden machen. IV. Die Kategorie der Ganzheit 1. Der theoretische Begriff der Ganzheit und seiner Synonyme der Totalität, der Einheit, der Individualität sind von Smend fast so häufig gebraucht wie sein zum Rang eines Arguments erhobener Lebensbegriff. Der Begriff der Ganzheit spielt eine hervorragende Rolle ζ. B. in der schon referierten Auseinandersetzung Smends m i t der erkenntnistheoretischen Skepsis Kelsens: Die Wirklichkeit des Staates, die „Geschlossenheit" seines „Zusammenhanges" 96 und damit seine Integration zur Einheit 9 7 sind trotz aller zwischenzeitlichen Entfernung des Einzelnen aus dieser Einheit i n diesem begründet, „da der Mensch nicht das punktuelle Ich seines Augenblicksbewußtseins, sondern die monadische Einheit seines Wesens- und Erlebnisganzen ist . . . " 9 8 und ihm aus diesen sozusagen tieferen, unbewußten Schichten immer wieder die Motivation zu neuer Einordnung zuwächst. 91 Vgl. Plessner , Macht u n d menschliche Natur, S. 245, Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 151. 92 Vgl. Plessner , Grenzen, S. 121. 93 Smend, Das Problem der Institutionen, S. 508, m i t Dombois zum Staat. Das zunächst verwandte Verständnis des Staates als Selbstzweck i m Sinne politisch-geschichtlicher Existenzbehauptung bei Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 190 ff., mag dagegen ebenfalls für zahlreiche differierende A u f fassungen stehen. Denn Krüger stellt anders als Smend beim K r i t e r i u m der Existenz i m Akzent auf ihre äußere Bedrohung ab, bes. S. 193. Vor allem deshalb w i r d der Staat dann nicht w i e bei Smend als die gesamte menschliche Geschichte begleitende politische Lebensform (vgl. etwa Smend, Das Problem der Institutionen, S. 501 ff.), sondern enger „als ein ausgesprochen modernes Gebilde gedeutet, das von der Neuzeit' hervorgebracht wurde und daher auch w o h l m i t dieser Epoche vergehen w i r d " , ff. Krüger, S. V I I , der Sache nach S. 193, S. 1 ff. 94 Plessner, Macht u n d menschliche Natur, S. 316. 95 Vgl. Plessner, Grenzen, S. 24 f. 96 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 131. 97 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 136 ff. u n d schon i n Die politische Gewalt, S. 82, S. 85. 98 Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 134.

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Auch i m übrigen w i r d der Ganzheitsbegriff i n zahlreichen Fällen verwandt, um die Einheitsbildung sowohl des Staates wie der Einzelnen und ihre Parallelen zu kennzeichnen und ihre Sphären nicht so sehr gegeneinander abzugrenzen, als vielmehr ineinander zu „verschränken" 9 9 . Andererseits ist die eigentlich praktische Problematik jedenfalls der Einheitsbildung des Einzelnen — i m Gegensatz zur ausführlich betonten praktischen Aufgegebenheit der Einheitsbildung des Staates — i n Smends Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht" nicht diskutiert. Erst sehr viel später 1 0 0 scheint eine praktische Folgerung aus dem schon theoretisch nur bruchstückhaft zugrunde gelegten Ganzheitsbegriff sich zum umfassenden Entfremdungsproblem zu radikalisieren: Das Phänomen der Entfremdung i m staatlichen Bereich, das Smend der Sache nach schon i n „Verfassung und Verfassungsrecht" andeutet 1 0 1 , später als solches aber explizit begreift ,ist doch wohl nur möglich i m Verhältnis zu einem Anderen, das irgendwie zur eigenen Ganzheit gehört, i h r aber gleichwohl entglitten ist. Demnach wäre nicht nur die Existenz des Staates, sondern auch die Existenz und die Ganzheit des Einzelnen ein Problem „nicht deshalb, weil ihre Wirklichkeit erkenntnistheoretisch i n Frage stände, sondern weil sie ein praktisches Problem i s t 1 0 2 " . Es wäre zu zeigen, daß erst ein systematischer Ausgang von dieser Ganzheits- bzw. Entfremdungsproblematik i m Zusammenhang m i t dem Problem der Geschichtlichkeit das abschließende Argument für die Besonderheit des Staates, seine kategorische Notwendigkeit und seine Souveränität liefert. Mindestens liegt diese Verbindung i n der logischen Tendenz des Werkes Smends und w i r d durch dessen tatsächliche Entwicklung i n dieser Richtung immer stärker akzentuiert 1 0 3 . Allgemein aber gilt: Wenn der Ganzheitsbegriff sichtlich i m Zentrum heutiger weltanschaulicher Auseinandersetzung steht 1 0 4 , so offenbar we99 Vgl. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 125 f., S. 162, S. 170 f., besonders S. 189 u n d passim. 100 I m A r t . Staat (1959), S. 526. 101 z. B. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 162. 102 So Smend gegen Kelsen f ü r die W i r k l i c h k e i t des Staates, Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 134. 103 I n „Die politische Gewalt" (1923), S. 80 f. finden sich lediglich auf den ersten Blick unverbindlich erscheinende Parallelen zwischen der Totalität des Einzelnen u n d der Totalität des Ganzen. I n „Verfassung u n d Verfassungsrecht" (1928), S. 125 ff. u n d passim ist das Verhältnis beider Totalitäten als ein dialektisches u n d darum jedenfalls formal notwendiges dargestellt. I m A r t . „Staat" (1959) S. 526 ist die Rede von der Selbstverwirklichung des E i n zelnen als eines geschichtlichen Wesens, die durch praktische Entfremdung gefährdet erscheint. D a m i t w i r d , wenn auch noch i n unklarer Weise, eine mehr inhaltliche Beziehung angedeutet u n d dem Staat eine m i t der Geschichtlichkeit u n d Ganzheit des Menschen zusammenhängende existentielle Aufgabe zugewiesen.

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gen des besonderen verdichtenden, ja axiomatischen Charakters, der seiner jeweiligen Konzeption für eine Fülle von Folgeproblemen — auch solchen staatstheoretischer A r t — eignet. Es steht deshalb zu erwarten, daß eine anthropologisch sorgfältig begründete Konzeption i n diesem Punkte das ideologiekritische Element der Anthropologie ganz besonders hervortreten läßt und i n gleichem Maße eine Staatstheorie „diesseits der Utopie" 1 0 5 aufbauen hilft, um die es Smend durchweg geht 1 0 6 . 2. Den bei Smend undeutlich gebliebenen Ganzheitsbegriff eingehend zu vertiefen, ist hier nicht der Ort, denn mehr noch als jeder andere der bisher verwandten Begriffe w i l l er die Aspekte des Menschlichen, die ihrerseits erst ausführlicher als b i s h e r 1 0 6 a zu entfalten wären, i n ihrer Einheit zusammenzufassen 107 . U m wenigstens die prinzipielle Ergänzbarkeit dieser kompliziertesten Kategorie und ihre i n der Linie Smends sich abzeichnende Richtung zu belegen, sei aber ein etwas ausführlicherer Uberblick gegeben: Der Ganzheitsbegriff ist nicht mehrdeutig aufgrund einer etwaigen mangelhaften Bestimmung bei Smend, sondern vermöge der grundsätzlichen Zweideutigkeit des Gegenstandes, die er bezeichnet. Recht verstanden w i l l er nämlich nicht einer vermeintlichen Autarkie und Selbstgenügsamkeit des Menschen das Wort reden 1 0 8 , sondern entgegen einseitigen kausalen Zuordnungen 1 0 9 einerseits den Menschen anerkennen als Person i m Sinne einer selbstbestimmten einheitsbildenden Absetzung von ihrer Umwelt, „die i n der Welt unserer Erfahrung nicht ihresgleichen h a t " 1 1 0 , andererseits doch der Tatsache der indirekten Selbstgestaltung Rechnung tragen und so das zugehörige Gegenüber m i t einbeziehen. Z u r „komplexen dynamischen Ganzheit des Menschlichen" 111 gehört deshalb auch und den Namen der Ganzheit verdient deshalb auch jenes „überindividuelle dynamische Ganze der Wechselbezüglichkeit" 112 , 104 Vgl. Litt, Mensch u n d Welt, S. 21; Wein spricht sogar v o m Geschichtemachen der Theorie der Entfremdung, Wein, S. 120,123,137,151. 105 Vgl. den T i t e l der Plessnerschen Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1966. ιοβ v g l . e t w a Smend, Das Problem der Institutionen, S. 515. io6a Die hier angemessene Ausführlichkeit bleibt i n den nächsten drei K a p i teln lediglich den Kategorien der Leistung u n d des Lebens vorbehalten, w ä h rend auf die Kategorien der Ganzheit, der Geschichtlichkeit, der Gruppe i m wesentlichen n u r noch als auf verschiedene staatstheoretisch wichtige K o n k r e tisierungen des Lebensbegriffs zurückzukommen ist. 107

Vgl. Litt, Vgl. Litt, 109 Vgl. Litt, 110 Vgl. Litt, 3. Aufl. S. 400. 111 Wein, S. 112 Wein, S. 108

Mensch u n d Welt, S. 19. Mensch u n d Welt, S. 21, 23. Mensch u n d Welt, S. 20 A n m . 4 ausgeführt S. 308. Mensch u n d Welt, S. 22, ferner I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 150. 147.

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i n dem der Mensch seine Persönlichkeit i m Prozeß der indirekten Selbstgestaltung i m Angesichte eines Gegenübers erst herstellt. Das Prädikat der menschlichen Ganzheit kommt daher sowohl dem Subjekt zu, als auch der dieses erst konstituierenden Relation zwischen Ich und Gegenüber als ganzer. Wenn man so w i l l , kann man darin auch zwei grundsätzliche Ganzheitsbegriffe sehen, die sich nur dann nicht ausschließen, wenn sie dialektisch gefaßt sind 1 1 3 . Die Ganzheit des Menschen besitzt also sozusagen zwei Pole. Helmuth Plessner erf aßt die sich u m zwei Pole bildende bzw. sich i n zwei Polen zentrierende Ganzheit i m Doppelgängertum, i n der Duplizität des Menschen, der seine Identität nicht nur i n seinem Hier sondern auch i n seinem Dort besitzt 1 1 4 . I n keinem Pol kann der Mensch wesenhaft festgestellt werden, keinen kann er entbehren 1 1 5 . Die wohl beste Fassung für den gemeinten anthropologischen Sachverhalt findet sich i n einer alten theologischen Formel. Dombois 116 n i m m t sie auf, u m sie auch i n weltlichen Zusammenhängen auf soziale Tatbestände anzuwenden 117 . Hier interessiert lediglich das formale Verhältnis, dessen nicht „explizite" sondern „implizite", sich zwischen Grenzwerten bewegende Definition lautet: Die fraglichen Pole „dürfen weder getrennt noch vermischt werden" 1 1 8 . Dombois wählt zur Veranschaulichung dieses dynamischen Verhältnisses das B i l d einer Ellipse, deren „Brennpunkte" weder zu weit auseinandergetrieben werden, noch zu einem Punkt, dem Mittelpunkt eines konzentrischen Kreises, zusammenfallen dürfen 1 1 9 . So kann die Ganzheit des Menschen theoretisch nur schwer erfaßt werden und eignet sich mehr nur als kritisches Modell und negatives Prinzip 1 2 0 , indem sie Maßstab w i r d für empirische Situationen und ebenso für theoretische Konzeptionen des Menschen. Sofern sich diese — gemessen an diesem Begriff — i n seinen Extremen ansiedeln, stellen sie entweder starke Vereinseitigungen dar oder verdienen als schon ein118

Vgl. Litt, I n d i v i d u u m u n d Gemeinschaft, 3. Aufl., S. 286, A n m . 1. Vgl. Plessner , Soziale Rolle . . . , S. 28 ff., Das Problem der Öffentlichkeit . . . , S. 19 ff., Stufen . . . , S. 290 ff. 115 Vgl. Plessner , ebd., Wein, S. 158; allenfalls ist nicht theoretisch-wesenhaft, sondern i m praktischen Vollzug durch den Menschen eine Option für diese oder jene Seite möglich, vgl. Plessner, Soziale Rolle . . . , S. 30 f.; w e n n demgegenüber Jonas, Die Institutionenlehre . . . , S. 58, ohne weitere Begründung auch i m Rahmen der Wissenschaft eine Entscheidung für eine der beiden Seiten für möglich hält, so k a n n diese n u r ideologisch sein. 116 Dombois, Politische u n d christliche Existenz, S. 139. 117 Dombois, Politische u n d christliche Existenz, z. B. S. 145,140. 118 Dombois, Politische u n d christliche Existenz, S. 139. 119 Dombois, Politische u n d christliche Existenz, S. 142 f. 120 Wein, S. 151,159 f. 114

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getretener Verlust der Ganzheit i m Sinne mindestens einer jener beiden Ganzheiten voll den V o r w u r f der Entfremdung. Denn der Mensch ist nur möglich i n dem „Spielraum" zwischen Subjektivem und Übersubjektivem 1 2 1 , i n der Situation der „Schwebe" zwischen Ich und Gegenüber gewinnt er seine Freiheit 1 2 2 . Deshalb ist der Entfremdungsbegriff Reflex des Ganzheitsbegriffs 123 ; er hat darum den Formen der Ganzheit, vor allem jenen beiden grundsätzlichsten, i m Bilde einer Ellipse veranschaulichten zu folgen und teilt so die Zweideutigkeit des Ganzheitsbegriffs 124 . Selbstentfremdung des Menschen wäre entsprechend das Mißlingen einer angemessenen ganzheits- und individualitätsbegründenden A b standnahme von der Welt und darin die Unterdrückung seiner selbstbestimmenden Funktionen zugunsten der fremdbestimmten, bzw. die funktionslose Abspaltung der ersteren von den letzteren. Selbstentfremdung des Menschen wäre umgekehrt aber auch eine zu große Entfernung von jenem prinzipiell zur eigenen Identität gehörigen Gegenüber. Die erste Entfremdungsart thematisiert vor allem die marxistische Denktradition und zwar m i t einer derartigen Einseitigkeit, daß sie Gefahr läuft, schon i n der mehr oder minder explizit zugrundegelegten theoretischen Konstruktion eine nicht vorhandene Autarkie des Menschen anzunehmen und darin die zweite Entfremdungsart zu fixieren 1 2 5 . Das w i r d deutlich etwa auch bei Adorno, wenn er sagt: „ I n der antagonistischen Gesellschaft sind die Menschen, jeder einzelne, unidentisch m i t sich, Sozialcharakter (d. h. gesellschaftlich determiniert, d. Verf.) und psychologischer (d. h. individuell determiniert, d. Verf.) i n einem und kraft solcher Spaltung a priori beschädigt 126 ." Hier w i r d die Aufspaltung einzig der historisch begründeten verfehlten, „antagonistischen" Gesellschaftsordnung zugerechnet, das unumgängliche Mindestmaß einer Aufspaltung aus dem konstitutionellen Doppelgängertum des Menschen nicht mehr als konstitutionelles Schicksal des Menschen begriffen 1 2 7 . Die umgekehrte Gefahr der theoretischen Fixierung, nunmehr auf den zweiten Pol der menschlichen Ganzheit, ergibt sich etwa i n der Anthropologie Gehlens. Gehlen kommt das Verdienst zu, die zweite Entfrem121 122

123 V 124

Wein, S. 151. Vgl. L i t t , Mensch u n d Welt, S. 35. g l

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