Anfangsgründe der Volkssouveränität. Immanuel Kants 'Staatsrecht' in der >Metaphysik der Sitten< [1. ed.] 9783465045755

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Anfangsgründe der Volkssouveränität. Immanuel Kants 'Staatsrecht' in der >Metaphysik der Sitten< [1. ed.]
 9783465045755

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Martin Welsch · Anfangsgründe der Volkssouveränität

Herausgegeben von Gerald Hartung und Alexander Schnell in Zusammenarbeit mit Andrea Esser (Jena) Anne Eusterschulte (Berlin) Rahel Jaeggi (Berlin) Rainer Schäfer (Bonn) Philipp Schwab (Freiburg)

KlostermannWeißeReihe

Martin Welsch

Anfangsgründe der Volkssouveränität Immanuel Kants ‚Staatsrecht‘ in der ›Metaphysik der Sitten‹

KlostermannWeißeReihe

Die vorliegende Publikation wurde als Dissertation an der Universität Heidelberg eingereicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Originalausgabe © 2021 · Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf EOS Werkdruck von Salzer, alterungsbeständig ISO 9706 und PEFC-zertifiziert. Druck und Bindung: docupoint GmbH, Barleben Printed in Germany ISSN 2625-8218 ISBN 978-3-465-04575-5

Inhalt Textgrundlage, Zitierweise und Siglen …..................................... . 11 Vorspann ……......................................................................... 13 Einleitung ….......................................................................... 19 1. Das Problem: Die double bind-Paradoxie der repräsentativen Demokratie ............ 2. Zur Ideengeschichte des Problems: Hobbes, Rousseau, Sieyes ...................................................... 3. Kants ‚Staatsrecht‘: Seine Position in der Ideengeschichte der repräsentativen Demokratie sowie in der gegenwärtigen Forschung...................................... 4. Nähere Bestimmung des Forschungsansatzes .............................

19 22

25 33

Vorstudie zum Postulat des öffentlichen Rechts …......................... 39 1. Überblickschaffende Interpretation: Das Postulat des öffentlichen Rechts in den §§ 41 und 42 …........... 2. Stand- und Gesichtspunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts …..................................... 3. Die Hobbes’sche Lektüre: Das Postulat des öffentlichen Rechts als Staats- und Autorisierungsgebot …...................................... 4. Eine alternative Lektüre …..................................................... 4.1 Das Postulat des öffentlichen Rechts ist kein Staatsgebot …....... 4.2 Das Postulat des öffentlichen Rechts fordert die Behauptung der Freiheit materialer letztinstanzlicher Selbstbestimmung ..... 5. Die Funktion des Postulats des öffentlichen Rechts in der Genese von Strukturen öffentlichen Rechts ........................ 6. Erläuterung und Zusammenfassung mit Blick auf die Kantische Terminologie der Epistemologie praktischer Erkenntnis ............... 7. Ausblick auf das ‚Staatsrecht‘ .................................................

40 45

47 49 50 52 59 64 68

Hauptteil: Interpretation des ‚Staatsrechts‘ von 1797 ...................... 71 Zum Aufbau des ‚Staatsrechts‘ .................................................... 71 A. Der erste Paragraphenblock: §§ 43-49 ...................................... 73

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

I. Die erste Sektion des ersten Paragraphenblocks: §§ 43-45 ............ 73 Einleitung .............................................................................. 73 1. Zu § 43 .............................................................................. 78 1. Überblickschaffende Interpretation .......................................... 78 2. Präzisierende Interpretation ................................................... 79 2. Zu § 44 .............................................................................. 84 1. Überblickschaffende Interpretation .......................................... 84 2. Präzisierende Interpretation ................................................... 86 3. Zu § 45 .............................................................................. 92 1. Überblickschaffende Interpretation .......................................... 2. Präzisierende Interpretation ................................................... 2.1 Näheres zu § 45,1 ............................................................ 2.2 Näheres zu § 45,2 ............................................................ 2.3 Verdeutlichung mit Blick auf die Forschungsliteratur ..............

92 95 97 100 101

II. Zum Zentrum des ersten Paragraphenblocks: § 46 ...................... 107 Einleitung .............................................................................. 107 1. Zu § 46,1 ............................................................................. 119 1. Überblickschaffende Interpretation: Die Begründung der Volkssouveränität ..................................... 2. Interpretation vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus ................................... 3. Zum Verfahren der Volkssouveränität: „sofern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“ .................. 3.1 Kant und Rousseau: Eine konstruktive Parallellektüre ........................................ 3.1.1 Die Rousseau-Referenz: „s’engager avec eux-mêmes, chacun envers tous et tous envers chacun d’eux“ ............. 3.1.2 Entidealisierung und Entfiktionalisierung der Volkssouveränität bei Kant und Rousseau ................. 3.1.2 a Entidealisierung und Entfiktionalisierung

119 123 133 133 133 135

Inhalt der neuzeitlichen Doktrin der (Volks-)Souveränität durch Rousseau .......... 3.1.2 b Entidealisierung und Entfiktionalisierung der Rousseau’schen Volkssouveränität durch Kant ................................................. 3.1.3 Volkssouveränität und das Problem 3.1.2 der Widerrechtlichkeit traditioneller Herrschaft bei Kant und Rousseau .............................................. 3.1.3 a Zur Widerrechtichkeit traditioneller Souveränität: Die Rousseau’sche Engführung von Herrschaft und Sklaverei ......................... 3.1.3 b Zur Unrechtsanfälligkeit einseitiger Verfügungen: Der Rousseau’sche Rekurs auf die Logik des Willens .............................. 3.1.4 Fazit ...................................................................... 3.2 Kant und Hobbes: Eine subversive Gegenlektüre ............................................ 3.2.1 Die Hobbes’sche Gegenlektüre: Volkssouveränität und ‚politische‘ Autorisation ............... 3.2.2 Kritik der Gegenlektüre und Relektüre des § 46,1: Das Prinzip der ‚politischen‘ Autorisation als Prinzip der Selbstverneinung des Willens .................. 3.3 Kersting und Maus: Die Prozeduralismus-Interpretation des § 46,1 ....................... 3.3.1 Die Frage nach den motivationalen Voraussetzungen ....... 3.3.2 Kritik der Interpretation ............................................ 3.3.3 Zu den freiheitsphilosophischen Voraussetzungen ...........

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2. Zu § 46,2 ............................................................................. 166 1. Überblickschaffende und erläuternde Interpretation .................... 2. Präzisierende Interpretation ................................................... 2.1 Zur Person des Staatsbürgers ............................................. 2.2 Zum Attribut der bürgerlichen Selbstständigkeit ....................

166 171 171 176

3. Zu den eingerückten Absätzen ................................................ 181 Einleitung .............................................................................. 181 1. Überblickschaffende und erläuternde Interpretation .................... 185 1.1 Zum ersten eingerückten Absatz ........................................ 185

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

1.2 Zum zweiten eingerückten Absatz ...................................... 2. Präzisierende Interpretation ................................................... 2.1 Zu den Beispielen ........................................................... 2.2 Zur Verwirklichungslehre der Volkssouveränität ................... 2.3 Fazit ............................................................................

190 196 196 201 203

III. Die zweite Sektion des ersten Paragraphenblocks: §§ 47-49 ......... 205 Einleitung .............................................................................. 205 1. Zu § 47 .............................................................................. 210 1. Interpretation des § 47, Teil 1 (Sätze 1 und 2) .............................. 2. Interpretation des § 47, Teil 2 (Satz 3) ........................................ 2.1 Lektüre der exoterischen Darstellungsebene ......................... 2.2 Problematisierung der ersten Lektüre .................................. 2.3 Gegenlektüre .................................................................

213 219 219 222 226

Überleitung zu den §§ 48 und 49 ................................................. 236 2. Zu § 48 ............................................................................... 239 1. Überblickschaffende und erläuternde Interpretation .................... 239 2. Präzisierende Interpretation ................................................... 244 2.1 Zu Absatz 1: Die Ordnung der drei Gewalten ........................ 2.1.1 Zum ersten Gliederungspunkt: Die Beiordnung der drei Gewalten ............................... 2.1.2.Zum zweiten Gliederungspunkt: Die Unterordnung der drei Gewalten ........................... 2.1.3 Zum dritten Gliederungspunkt: Die Vereinigung der drei Gewalten .............................. 2.2 Zu Absatz 2: Die drei Gewalten als Staatswürden ................... 2.2.1 Die perspektivische Lektüre ....................................... 2.2.2 Probleme der nicht-perspektivischen Lektüre …..............

244 246 252 254 255 255 258

3. Zu § 49 .............................................................................. 261 1. Überblickschaffende Interpretation: Erster Zugang zur Lektüre ...... 261 2. Interpretation der einzelnen Absätze in textnaher Lektüre ............ 265 2.1 Zu Absatz 1 ................................................................... 265

Inhalt

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2.2 Zu Absatz 2 ................................................................... 280 2.3 Zu Absatz 3 ................................................................... 286 2.4 Zu Absatz 4 ................................................................... 296 Rückblick auf den ersten Paragraphenblock (§§ 43-49) ...................... 307

B. Die Allgemeine Anmerkung „Von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins“ .......................................................... 1. Zur Überschrift und dem Projekt der Allgemeinen Anmerkung ......... 2. Zur Thematisierung der Volkssouveränität in der Allgemeinen Anmerkung ................................................. 2.1 Schrittweise Reform ........................................................ 2.2 Volkssouveränität als Gedankenexperiment …....................... 2.3 Parlamentarisch-repräsentative Demokratie .......................... 2.4 Fazit .............................................................................

309 310 311 312 314 316 321

C. Der zweite Paragraphenblock: §§ 50-52 „Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“ ............................................ 323 Einleitung .............................................................................. 323 1. Zu § 50 .............................................................................. 326 2. Zu § 51 .............................................................................. 335 Einleitung .............................................................................. 335 1. Überblickschaffende Interpretation …....................................... 2. Lektüre und Diskussion der exoterischen Darstellungsebene ......... 3. Gegenlektüre und präzisierende Interpretation .......................... 3.1 Zu den Sätzen 1 und 2: Volkssouveränität und Repräsentation ................................. 3.2 Zu den Sätzen 5 und 6: Die demokratische Staatsform als repräsentatives System des Volks .......................................

340 344 350 350

356

3. Zu § 52 .............................................................................. 366

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

Überblick ............................................................................... 366 1. Zu Absatz 1 ........................................................................ 2. Zu Absatz 2 ........................................................................ 2.1 Lektüre der exoterischen Darstellungsebene ......................... 2.2 Gegenlektüre ................................................................. 3. Zu Absatz 3 sowie dem eingerückten Absatz .............................. 3.1 Lektüre der exoterischen Darstellungsebene ......................... 3.1.1 Zu Absatz 3 ............................................................. 3.1.2 Zum eingerückten Absatz .......................................... 3.2 Gegenlektüre ................................................................. 3.2.1 Zu Absatz 3 ............................................................. 3.2.2 Zum eingerückten Absatz ..........................................

366 376 378 379 390 391 391 395 401 401 418

Rückblick auf den zweiten Paragraphenblock (§§ 50-52) ................... 427

Schluss ................................................................................. 439

Literatur ................................................................................ 457 Danksagung …........................................................................ 475

Textgrundlage, Zitierweise und Siglen Als Textbasis für die Interpretation des ‚Staatsrechts‘ werden ausschließlich die ersten beiden, von Kant selbst autorisierten Auflagen der Rechtslehre von 1797 und 1798 herangezogen. Auf Modernisierungen wird weitgehend verzichtet, Änderungen erfolgen nur in sehr wenigen Fällen und betreffen lediglich die Schreibweise. Diskutiert werden jedoch die teils gravierenden Text-Änderungen der gängigen Ausgaben, insbesondere diejenigen der Akademie-Ausgabe sowie der Neuedition von Bernd Ludwig. Zitat-Angaben beziehen sich im Fall der Rechtslehre auf die beiden ersten Auflagen und stehen eingeklammert im Text, anderweitige Zitat-Angaben hingegen in Fußnoten. Für die Primärtexte Kants finden dabei die unten aufgelisteten Siglen und Abkürzungen Verwendung, im Regelfall wird die Akademie-Ausgabe zitiert. Ausführlichere Informationen sind im Literaturverzeichnis angegeben. Siglen Anth GMS KpV KrV KU TL OP RGV SF TP WA ZeF

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre Opus Postumum Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Der Streit der Fakultäten Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Zum ewigen Frieden

Weitere Abkürzungen EMdS ERL Allg. Anm. eA

Einleitung in die Metaphysik der Sitten Einleitung in die Rechtslehre Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins eingerückter Absatz, eingerückte Absätze

Vorspann Kants ‚Staatsrecht‘ von 1797 ist rezeptionsgeschichtlich betrachtet der Text, welcher Sieyes’ Lehre von der repräsentativen Demokratie und dem französischen Verfassungsdenken in Deutschland „die nachhaltigste Wirkung sicherte“.1 Entsprechend wird das ‚Staatsrecht‘ auch heute noch weitgehend einhellig als Plädoyer für die moderne repräsentative Demokratie gelesen, wie wir sie kennen; 2 immerhin heißt es dort ausdrücklich: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen“ (§ 52,3). Und diese Worte scheinen unzweideutig zu sein. Denn wie sonst sollte man sie lesen, wenn nicht als philosophische Affirmation der repräsentativen Demokratie? Tatsächlich aber legt das ‚Staatsrecht‘ im näheren Kontext dieser Stelle die vielleicht schärfste Analyse und Kritik der demokratischen Moderne nach 1789 vor. Bisher musste das unerkannt bleiben. Denn ebendiese Auseinandersetzung ist im ‚Staatsrecht‘ als abschließender Part einer Text-Rhetorik ins Werk gesetzt, die bis jetzt völlig unerforscht blieb. Sie stellt einen Höhepunkt und ein Glanzstück des Kantischen Schaffens dar, ist aber auch als Exempel dafür zu sehen, wie abgründig und verwegen philosophisches Schreiben sein kann. So gehört es zum Repertoire dieser Rhetorik, Text-Defekte als gezielte Text-Strategien einzusetzen. Das aber erweckt den Anschein, die ›Metaphysik der Sitten‹ sei bestenfalls eine „spröde, sperrige Spätschrift, die kompositorisch unausgewogen und bisweilen fahrig 1 2

Hofmann 1974, 411. Diskutiert wird derzeit nur, ob Kant nicht auch nicht-demokratische Systeme als normativ gleichwertig mit der von ihm angeblich befürworteten repräsentativen Demokratie erachte, vgl. z. B. Hirsch 2017, 319, 329, einschl. Fn. 309, Joung 2006, 105-108 und Hanisch 2016, 71-73, – oder ob er der repräsentativen Demokratie unter bestimmten Umständen eine radikaldemokratische Volkssouveränität im Sinne Rousseaus normativ vorziehe, vgl. grundlegend Maus 1992, 196-200 und Thiele 2014, 76-91, weiterhin aber auch Breitenband 2019, 83-86 und Marey 2018, 576 f. Hierbei handelt es sich jedoch eher um randständige Positionen, denn: „That Kant favors a representative democracy in the Doctrine of Right is apparent“, Byrd/Hruschka 2010, 181.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

in der Gedankenführung“ ist.3 Doch fern davon, der Geistesverfassung des alt gewordenen Autors oder chaotischen Vorgängen bei der Drucklegung geschuldet zu sein, gründet die problematische Verfassung des Spätwerks eben in der Brillanz seiner Text-Rhetorik. Ausdruck hiervon ist allerdings nicht nur die charakteristische Dunkelheit des Textes, sondern auch die klare und „durchsichtige Architektonik des Staatsrechts“4, die den Text auf das moderne Verständnis ‚politischer‘ Repräsentation festzulegen scheint. Zwar ist auch die Architektonik-Interpretation in der Kant-Forschung bisher unangefochten. Folgt man jedoch diversen Texthinweisen, so erweist sich die offensichtliche Architektonik als bloß scheinbare – und eine viel komplexere Gegen-Architektonik wird erkennbar. Hierzu gibt es ebenfalls noch keine Forschung. Mit diesem Buch werde ich das Kantische ‚Staatsrecht‘ in seiner philosophischen und ideengeschichtlichen Eigentümlichkeit zur Darstellung bringen, indem ich die Originalversion von 1797 weitgehend kommentatorisch verfahrend interpretiere, um auf diese Weise erstmals das text-rhetorisch realisierte Erkenntnisprogramm von Kants metaphysischen Anfangsgründen des Staatsrechts zu erschließen. Hierbei stelle ich allerdings weitere Rezeptionslinien in Frage. Denn in der Durchführung meines Ansatzes wird ein Staatsdenken Kontur gewinnen, das den gängigen Auffassungen über die Kantische Staatsphilosophie schroff entgegensteht.5 So wird sich zeigen: Beim „Staat in der Idee“ handelt es sich nicht um eine regulative Idee, die nur schwer oder gar unmöglich zu verwirklichen ist; es ist eine konstitutive praktische Idee, welche die rechtsgesetzlich präzise bestimmte Minimalbedingung angibt, die jeder Staat aufweisen muss, um überhaupt ein Staat zu sein – eine Bedingung, die freilich noch nicht mit der Volkssouveränität zu identifizieren ist. Zudem hat Kant sein Lehrstück vom Passivbürger gegenüber der Vorgängerschrift zum Gemeinspruch von 1793 dahingehend geändert, dass im ‚Staatsrecht‘ der Aktivbürger-Status nicht mehr an ökonomische sowie ge3 4 5

Vgl. Kersting 1984, 71. Ludwig 1999, 173, Fn. Detailliertere Zusammenfassungen meiner Forschungsergebnisse befinden sich in den jeweiligen Einleitungen zu den §§ 43-45, § 46, §§ 47-49, in der Überleitung zu den §§ 48 und 49, im Rückblick auf die §§ 50-52 sowie im Schluss in Fn. 607, wo ich mich der tatsächlichen und nicht bloß scheinbaren Architektonik des ‚Staatsrechts‘ widme.

Vorspann

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schlechtliche Qualifikationen gekoppelt ist; rechtlich gesehen soll nun jeder (und jede) mündiger Aktivbürger werden können, der (oder die) es sein will, und zwar jederzeit. Nicht zuletzt erweist sich die Annahme als unhaltbar, Kant bestimme die Rousseau’sche Republik lediglich als Staat für „Götter oder Engel“, nicht aber für uns Menschen. 6 Meiner Lektüre zufolge endet das ‚Staatsrecht‘ nämlich mit einem letzten und in gewisser Weise ersten Anfangsgrund der Volkssouveränität, der besagt: Die Rousseau’sche Volkssouveränität ist die schlechtweg notwendige, zugleich jedoch die einzig mögliche und einzig wirkliche Form staatlich-souveräner Herrschaft. Alle anderen Formen hätten in der Menschengeschichte bloß scheinbar bestanden; herrschend seien bisher immer nur die ursprünglich souveränen Völker gewesen. Denn die Ausübung der Volkssouveränität sei genauso unumgänglich wie der Gebrauch der menschlichen Freiheit unausweichlich. – Doch ebenso unumgänglich ist im Licht dieser Erkenntnis ein Neuanfang der Volkssouveränität. Auch für ihn steht der Titel meines Buches: ›Anfangsgründe der Volkssouveränität‹. Volkssouveränität als unumgängliche Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung bedeutet im neuen, Kantischen Sinn indes: permanente Subversion überkommener Formen von Recht, Staat und Herrschaft. Darin realisiert sich im späten ‚Staatsrecht‘ von 1797 nichts anderes als das Kantische Programm einer kritischen Metaphysik der Freiheit als genuin praktische Metaphysik: Althergebrachte Rechtsund Herrschaftsstrukturen werden zuerst einmal als historisch gegeben angenommen, daraufhin jedoch auf ihre Konformität mit der menschlichen Freiheit und Würde geprüft, um gegebenenfalls a priori so weiterbestimmt zu werden, dass sie sich von Formen der Unfreiheit zu Ausdrucksformen der Freiheit selbst wandeln. Die tradierten Formen bleiben bestehen, doch sie werden in ihrer Logik „von unterst zu oberst“ gekehrt – sie werden subvertiert7. Vom Alten aus immerfort das Neue zu denken und praktisch zu realisieren, das heißt im Spätwerk Kants: Metaphysik der Freiheit.8 Allerdings wurde dem Neuen von 1789 – der Verfassung der Volkssouveränität – durch Sieyes’ Einfluss etwas Altes und zutiefst 6 7 8

Ludwig 1999, 178 f. Handwörterbuch Georges, 2892. Vgl. bereits KU, Einleitung, V,1.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

Freiheitswidriges eingeschrieben, das gleichwohl etwas sehr Modernes ist: das von Hobbes übernommene Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation. Denn die Logik dieses Prinzips ist durch und durch antidemokratisch. Sie zielt darauf ab, die VolkssouverXnitXt gänzlich zu absorbieren und somit das eigentlich Neue der Revolution von 1789 im Keim zu ersticken. Das ist das Problem, von dem das ‚Staatsrecht‘ von 1797 tatsächlich handelt. Zu Beginn des „repräsentativen Zeitalters“9 verfasst, identifiziert dieser Text das wohl am tiefsten sitzende Strukturproblem moderner demokratischer Verfassungen; ein Problem, das bis heute nicht in seiner ganzen destruktiven Logik erkannt wurde und sich nach wie vor virulent auswirkt. Nach Auskunft der „Rechtslehre“ hingegen kann das Prinzip der Autorisation zwar durchaus im Privatrecht seinen Sinn und Zweck haben, nicht aber im öffentlichen Recht, wenn die staatsbürgerliche Selbstbestimmung auf dem Spiel steht. Vielmehr soll das autoritäre Prinzip in einer solchen Praxis der Selbstbestimmung überwunden werden. Dass das ‚Staatsrecht‘ von 1797 ein fundamentales Problem heutiger Demokratien zum Gegenstand hat, darum geht es in nachfolgender Einleitung. Um dies zu verdeutlichen, reaktualisiere ich dort zuerst die Problematik des Kantischen Textes und kontextualisiere sie ideengeschichtlich. Dazu sehe ich vorerst vom Kant-Text ab und gehe stattdessen von der immer wieder hör- oder lesbaren Gegenwartsdiagnose aus, die repräsentative Demokratie befinde sich in einer Krise. In Abgrenzung zu den gängigen Sichtweisen entwickle ich allerdings eine alternative Analyse, die den Kern des Problems in der Verfassungsstruktur der modernen repräsentativen Demokratie selbst sieht, genauer: im Widerstreit zwischen VolkssouverXnitXt (als Praxis öffentlich-rechtlicher Freiheitsbehauptung) und ‚politischer‘ Autorisation (als Praktik der Willens- und Freiheitsverneinung); ein Widerstreit, der sich zu Ungunsten der VolkssouverXnitXt aufzulösen scheint. ‚Politische‘ Autorisation bedeutet zugleich Ausübung und Auslöschung der VolkssouverXnitXt (1.). Während sich in der politischen Philosophie der Gegenwart hierzu wenig Konstruktives finden lässt, ist die Genealogie des Verfassungsproblems sehr aufschlussreich (2.). In ihrem Licht wird letztlich auch die Besonderheit des ‚Staatsrechts‘ in der Ideengeschichte der 9

Weiß 2009, 187.

Vorspann

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repräsentativen Demokratie deutlich (3.): Sowohl das ‚Staatsrecht‘ als Text als auch die gegenwärtige Diskussion über diesen Text bringen das Strukturproblem der modernen repräsentativen Demokratie exakt zur Darstellung; und der Struktur dieses Problems entspricht wiederum ein Grundkonflikt, der die Ideengeschichte des neuzeitlichen Staats- und Verfassungsdenkens kennzeichnet, welcher nach 1789 Einzug in die Verfassungen moderner Demokratien gehalten hat. Auf diesem Reflexionsniveau angekommen, werde ich schließlich (in elf Punkten) ein weiterführendes Forschungsprogramm aufstellen, methodisch bestimmen, und so zum Hauptteil der Arbeit überleiten, dem indes eine Vorstudie vorangestellt ist (4.).

Einleitung

1. Das Problem: Die double bind-Paradoxie der repräsentativen Demokratie In der Publizistik ist es ein Gemeinplatz, dass sich die repräsentative Demokratie in einer Krise befindet, Politikverdrossenheit und Massenproteste werden als Zeichen dafür gewertet. Die politik- und sozialwissenschaftliche Theorie dieser Krisendiagnose ist die der „Postdemokratie“:10 Das Repräsentativsystem habe früher seinen demokratischen Zweck erfüllt, doch diese Zeit sei vergangen. Derzeit gleiche sich das System wieder dem vordemokratischen Zustand an, sodass die Demokratie zur leeren Hülse werde. Für Vertreter der Postdemokratiethese liegt dies jedoch nicht am Repräsentativsystem selbst; seine Degeneration sei äußerlich bedingt, nach Ansicht von Colin Crouch durch Wirtschaftsmacht. Die Rede von der Krise der repräsentativen Demokratie ist allerdings nicht neu, man denke etwa an die Debatten der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Vielmehr gibt es Anlass anzunehmen, dass sie grundsätzlicher Art ist. Eine solche Diagnose hat der italienische Philosoph Giuseppe Duso als Ergebnis seiner ideengeschichtlichen Forschung vorgelegt: Ihm zufolge ist die Logik der modernen demokratischen Repräsentation in Wahrheit eine autoritäre. 11 So gesehen konnte die repräsentative Demokratie niemals etwas anderes gewesen sein als das, was man heute als „Postdemokratie“ bezeichnet. Autoritär ist die repräsentative Demokratie demnach, insofern ihr Prinzip der Repräsentation dasjenige der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation ist. Gegenwärtig ist dieses Prinzip in jeder demokratischen Verfassung verankert, mag sie eine repräsentative Demokratie konstituieren wie die Bundesrepublik Deutschland oder eine „(semi-)direkte“12, wie die Schweiz: Durch den periodisch erfolgenden (Wahl-)Akt der Autorisation übertragen die Staatsbürger ihre Kompetenz politisch zu handeln auf Repräsentanten und werden da10 11 12

Rancière 2009, Crouch 2004, Mouffe 2011. Duso 2006, 86, 18-29. Gamper 2010, 219-223.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

durch zugleich zu Autoren von deren Handlungen.13 Damit tragen vorrangig die Staatsbürger die Verantwortung für das Tun und Lassen der Stellvertreter. Das aber hat absurde Konsequenzen:14 Protestieren die Staatsbürger gegen ihre Repräsentanten, so protestieren sie gegen sich selbst; herrscht unter ihnen Politikverdrossenheit, so sind sie nur ihrer selbst überdrüssig; lehnen sie sogar in Form eines Volksentscheids ein Gesetz ab, das ihre Vertreter kürzlich über sie beschlossen haben, so diskreditieren sie ihre eigene Gesetzgebung. Aufgrund dieser Logik ist das moderne Prinzip der Repräsentation nicht lediglich dem Prinzip der Volkssouveränität beigeordnet, sondern es ist selbst dieses: Zwar haben die Staatsbürger ihre Kompetenz politisch zu handeln auf ihre Repräsentanten übertragen, doch die Handlungen der politischen Akteure sind auf die Willen der Staatsbürger zurückzuführen und ihnen zuzurechnen. Obwohl sie also unfähig sind, de facto politisch zu handeln, sind und bleiben sie de jure die einzigen politischen Akteure im Staat. Allein das Volk ist der Souverän. Politisches Handeln ist aber nicht irgendein Handeln, es besteht in der Ausübung der Staatsgewalt. Diese soll als höchste Gewalt – Souveränität – über allen Einzelwillen stehen und sie jederzeit brechen können. Damit erstreckt sich der politische Autorisationsakt nicht nur auf ein klar abgrenzbares Handlungsfeld (politische Autonomie), sondern er richtet sich auf die Kompetenz letztinstanzlicher Selbstbestimmung in toto (Autonomie überhaupt). Giuseppe Duso deckt mit seiner Studie zum modernen Prinzip der Repräsentation jedoch nicht nur eine dunkle Seite demokratischer Verfassungen auf, sondern diskreditiert das demokratische Projekt in der Tradition von Carl Schmitt als Ganzes. Nach Duso ist es grundsätzlich unmöglich, den Gedanken der Volkssouveränität von der Dominanz der Repräsentation zu lösen. 15 Damit verkennt er meines Erachtens allerdings das normative Potential der Demokratie wie auch die eigentliche Ursache ihrer Krise. Demokratien fußen nämlich weniger auf dem Gedanken der Repräsentation qua Autorisation als vielmehr primär auf dem Gedanken der öffentlich-rechtlichen Autonomie des Volkes. Das Recht dazu wird den Menschen durch jede demokratische Verfassung zugestanden. Zudem wird ih13 14 15

Duso 2006, 21 f., 62-64, 85, 107, 122. Vgl. Skinner 2008, 108 f. Duso 2006, 96-100, 112-4, 161-69.

Generiert durch Universität Leipzig, am 25.11.2022, 01:08:54.

Einleitung

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nen durch politische Bildung von klein auf nahegebracht, es sei ihre Pflicht, dieses Recht auch wahrzunehmen: Volkssouveränität soll von den Staatsbürgern aktiv ausgeübt werden. Wenn Staatsbürger nun, beispielsweise in einer Demonstration, die Autorität ihrer Willensäußerungen gegen ihre Repräsentanten geltend machen, so tun sie genau dies. Obwohl die Bürger also über den Akt der Autorisation hinaus nicht weiter politisch handeln können und sollen, wird genau dies von ihnen erwartet. Im juristischen Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung ist ihnen jedoch fortan weder möglich, tatsächlich in letzter Instanz politisch zu handeln, noch auf die politisch Handelnden einzuwirken, ohne einen radikalen Selbstwiderspruch zu begehen. Sie haben die Kompetenz dazu schließlich rechtskräftig delegiert, diese wird an ihrer Stelle in ihrem Namen ausgeübt und sie gelten fortan als die Autoren dieser Ausübung. Folglich haben sie hiergegen auch nichts geltend zu machen. Die Rationalität der ‚politischen‘ Autorisation und Repräsentation verlangt, dies sein zu lassen. Demokratien der Gegenwart setzen ihre Staatsbürger somit einer irrationalen, da nicht zu erfüllenden Doppelverpflichtung aus (double bind)16: Einerseits sollen die Staatsbürger Volkssouveränität ausüben, andererseits aber genau das auch unterlassen. Dadurch destabilisieren sich moderne Demokratien selbst. Letztlich handelt es sich hierbei um ein verfassungsrechtliches Strukturproblem, nämlich wie die zwei tragenden Prinzipien moderner Demokratie – Volkssouveränität und Repräsentation – zu ordnen sind: Das Prinzip der Volkssouveränität wird gegenwärtig dem Prinzip der Repräsentation in concreto untergeordnet, weil die Autorisation eine Absorption der Volkssouveränität bewirkt. Und darum soll die Volkssouveränität nicht nur ausgeübt, sondern zugleich nicht ausgeübt werden, zumindest nicht über den Akt der Autorisation hinaus. Das kennzeichnet die double bind-Paradoxie. 16

Mit dieser Einschätzung schließe ich mich Alexander Weiß an, der eine verwandte Struktur in Sieyes’ Lehre von der Parlamentsöffentlichkeit aufgedeckt hat, 2009, 185-7. Weiß sieht die double bind-Paradoxie allerdings nur in der stark eingehegten Form, dass nach Sieyes das Parlamentspublikum einerseits zwar Kritik an der Parlamentsarbeit ausüben soll, um die „Rationalität“ des Parlaments zu „garantieren“, andererseits aber in diese Arbeit selbst nicht eingreifen dürfe, weil es dann wiederum die „Rationalität“ des Parlaments „stören“ würde. Es soll die „Grenze zwischen Parlament und Publikum“ strikt einhalten.

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22

Anfangsgründe der Volkssouveränität

Befragt man die politische Philosophie der Gegenwart nach einem konstruktiven Vorschlag diesbezüglich, so wird man nicht fündig. Insofern sie die repräsentative Demokratie bejaht, liegt ihr weitreichendster Vorschlag in der punktuellen Ergänzung des Repräsentativsystems durch plebiszitäre Entscheidungsverfahren.17 Doch mit diesem Vorschlag wird die problematische Struktur noch nicht einmal angetastet.

2. Zur Ideengeschichte des Problems: Hobbes, Rousseau, Sieyes Reflektiert man die Ideengeschichte repräsentativer Demokratien, so ist es immerhin möglich, die Struktur des Problems zu verstehen. Dazu drei Punkte: Erstens wird erkennbar, dass das Prinzip der Repräsentation qua Autorisation für sich genommen ein dezidiert antidemokratisches rechtstechnisches Instrument ist. Das lässt sich einsehen, wenn man seine Spuren von den modernen Verfassungen aus über Sieyes und Locke zu Hobbes zurückverfolgt. Denn Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation ist das ultimative Instrument in Hobbes’ autoritärer Staatsphilosophie, weil es Freiheit als letztinstanzliche Selbstbestimmung neutralisiert. Mit diesem Instrument richtete sich Hobbes gegen die Forderungen seiner Zeitgenossen, um der Freiheit willen müsse man eine demokratische Staatsform etablieren.18 Nämliche Forderung wurde im Zuge der Rehabilitation eines Freiheitsverständnisses laut, das in den Digesten des Römischen Rechts festgehalten ist.19 Diesem Verständnis zufolge hört man auf, ein echter handlungsfähiger Akteur zu sein, sobald man unter der Herrschaft eines Anderen steht. Falle die Selbstbestimmung in letzter Instanz weg, so sei auch alle Handlungsfreiheit (nach dem Paradigma physikalischer Bewegungsfreiheit) bedeutungslos.20 Diese Logik mache letzten Endes, so die offizielle Propaganda des Unterhauses im Jahr 1649, die demokratische Staatsform notwendig. Um dem zu kontern hatte Hobbes im ›Leviathan‹ den Freiheitsbegriff der Tradition unter der Hand zu demjenigen der 17 18 19 20

Barber 2004, Maus 2011; vgl. Weber 2012 und Hidalgo 2014, 148-51. Skinner 2008, 11-14, 95. Skinner 2008, 12 f., 45 f., 97 f. Vgl. Skinner 2006.

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Handlungsfreiheit umgedeutet.21 Freilich, diese Umdeutung war „enorm polemisch und in der Tat epochemachend“ – doch meines Erachtens ist sie bei weitem nicht „die ungeheuerlichste Unverfrorenheit im gesamten Leviathan“, wie Quentin Skinner behauptet. 22 Denn Hobbes führt mit dem Instrument der Autorisation außerdem noch eine Struktur ins Feld, die den gegnerischen Freiheitsbegriff letztinstanzlicher Selbstbestimmung absorbiert: Einerseits dient Hobbes die Autorisation als Maske, die der Gegenseite suggeriert, letztinstanzliche Selbstbestimmung sei gegeben, was im Grunde auch der Fall ist. Andererseits ist die Autorisation aber auch die (Realisations-)Form, durch welche Selbstbestimmung de facto verhindert wird. 23 Die Idealisierung der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung, welche die ‚politische‘ Autorisation bewirkt, soll sie faktisch wirkungslos machen. Auf solch einer Autorisation beruht nach Hobbes 24 allerdings jeder Staat, selbst die Demokratie.25 Zweitens kann man einsehen, dass das Prinzip der Volkssouveränität mit dem modernen Prinzip der Repräsentation unverträglich ist: wenn man ersteres auf Rousseaus gegen Hobbes gerichtete Staatslehre zurückführt. Rousseau geht nämlich davon aus, dass man erst 21 22 23

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Hobbes, Leviathan, Kap. 21, 146, Skinner 2008, 97 f. Skinner 2008, 97. Hobbes, Leviathan, Kap. 16, 17, 21 und 30. Meines Wissens hat auf diese Struktur erstmals Karl Marx hingewiesen. Laut ihm wird im Kapitalismus mit den angeborenen Freiheitsrechten Ausbeutung sowohl kaschiert als auch ermöglicht. Vgl. MEW 23, 189 f. und erläuternd hierzu Faber/Petersen 2012, 28 f. Hobbes, Leviathan, Kap. 17, 134, Kap. 21, 171. Wenn im Folgenden vom Hobbes’schen Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation die Rede sein wird, heißt das freilich nicht, Hobbes habe dieses Prinzip erfunden. Vielmehr hat er es – was ebenfalls Quentin Skinner nachgewiesen hat – von jenen „democratic gentlemen“ übernommen, welche das Instrument der Autorisation als freiheitsphilosophisch einzig mögliche und zugleich notwendige Bedingung der Etablierung von Herrschaft überhaupt ansahen und in ihren Bestrebungen (bereits) ein Konzept ‚virtueller‘ (Parlaments-)Repräsentation entwickelten. Was man Hobbes jedoch sicher zurechnen kann, ist die kritische Erkenntnis, dass dieses Repräsentations-Verständnis und -Prinzip ein autoritäres ist – und eben kein genuin demokratisches, das ausschließlich eine „parliamentarian theory of popular sovereignity“ begründet. Vgl. Skinner 2018, insb. 190 f., 196-221.

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Hobbes’ pseudodemokratisches Prinzip der Repräsentation wieder in einer staatsbürgerlichen Praxis der Volkssouveränität auflösen muss, damit Volkssouveränität auch in einem affirmativen Sinn wirklich und wirksam werden kann – und mit ihr die alte Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung. Hobbes ließ das Prinzip der Volkssouveränität in der Struktur der Repräsentation qua Autorisation absorbieren; Rousseau dagegen will die Repräsentation in der Volkssouveränität auflösen. Die Volkssouveränität wäre dann wieder entidealisiert und die Repräsentation auf den Nullpunkt faktischer Selbstrepräsentation zurückgeführt: „le Souverain […] ne peut être représenté que par lui même“26. Studiert man die Schriften des Abbé Sieyes, lässt sich aber auch drittens verstehen, warum beide Prinzipien den Verfassungen europäischer Demokratien gegenwärtig nur in Form jener problematischen Beiordnung innewohnen. Denn Sieyes übernahm Rousseaus Lehre von der politischen Autonomie des Volkes, gliederte ihr jedoch wieder Hobbes’ Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation ein. Wenig verwunderlich ist dabei, dass Sieyes’ Rechtfertigung des „système représentatif“ argumentativ nicht von der (alten) Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung ausgeht, sondern lediglich von der (neuen) Hobbes’schen Handlungsfreiheit.27 Trotz aller deklarierten Volkssouveränität haben die Menschen darum in Sieyes’ Staat jenseits von Akten der Delegation „keinen besonderen Willen geltend zu machen“.28 Mit dieser Strukturentscheidung hatte sich Sieyes bekanntlich in den Verfassungsdiskussionen der Französischen Revolution gegen die Vertreter des Rousseau’schen Standpunktes durchgesetzt. So hielt Hobbes’ anti- und pseudodemokratisches Prinzip Einzug in die Verfassungen moderner Demokratien.29 Die Genealogie des gegenwärtigen Verfassungsproblems ist also äußert aufschlussreich, weil durch sie nicht nur der historische Ursprung der double bind-Paradoxie aufgedeckt, sondern zugleich deren Problemstruktur deutlicher wird: In modernen Verfassungen koexis26 27

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Rousseau, Contrat Social, II, 1,2. Vgl. Sieyes 1793: „Des intérêts de la Liberté dans l’état social et dans le système représentatif“, wobei es sich um den ersten Teil einer Studie handelt, deren zweiter Teil nie erschienen ist, vgl. Lembcke/Weber 2010a 43-45 sowie 2010b, 270. Sieyes 1789b, 15 f.: „ils n’ont pas de volonté particulière à imposer“. Vgl. Duso 2006, 57 f.

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tieren im Rahmen eines Verfassungssystems zwei Philosophien der Volkssouveränität, die einander widerstreiten, da sie Ausdruck diametral entgegengesetzter Wertschätzungen der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung sind. Die eine bejaht sie, die andere verneint sie.

3. Kants ‚Staatsrecht‘: Seine Position in der Ideengeschichte der repräsentativen Demokratie sowie in der gegenwärtigen Forschung Kants ‚Staatsrecht‘ von 1797 nimmt in der Ideengeschichte der repräsentativen Demokratie eine höchst eigentümliche Position ein. Zu Beginn des „repräsentativen Zeitalters“30 verfasst, bringt dieser Text mit seiner augenscheinlich zweigeteilten Architektonik 31 exakt die zwei einander widerstreitenden Philosophien der Volkssouveränität zur Darstellung, welche als Ensemble das Verfassungsproblem der modernen Demokratie kennzeichnen. Am Anfang wird mit Rousseau, aber gegen Hobbes, Locke sowie Sieyes Repräsentation verneint (§ 46); am Ende hingegen wird Repräsentation bejaht, nun scheinbar gegen Rousseau, aber mit Hobbes, Locke sowie Sieyes (§ 52). Es könne „nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“ (§ 46,1). Das ist ein klares Plädoyer für Rousseaus nicht-repräsentativen Staat. Trotzdem aber heißt es mit Anspielung auf Sieyes und das französische Verfassungsdenken, alle „wahre Republik“ sei und könne „nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“ (§ 52,3). In der Forschungsliteratur ist man sich allerdings weitgehend einig, dass Kant lediglich Sieyes’ repräsentativen Staat hatte verwirklicht wissen wollen.32 Nicht zuletzt liegt dies am bisher unangefoch30 31 32

Weiß 2009, 187. Vgl. Ludwig 1999, 173, Fn. Gemahnt wird freilich immer wieder, man dürfe unser heutiges Verständnis von repräsentativer Demokratie nicht in einer „unhistorische[n] Lesart“ auf das Kantische ‚Staatsrecht‘ projizieren, insbesondere nicht auf das finale Plädoyer für „ein repräs entatives Syste m des Volks“, vgl. Maus 1992, 137, 140 und neuerdings Marey 2018, 578 f.,

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tenen Stand der Architektonik-Interpretation. Ihr zufolge bringe Kant mit der Rousseau’schen Republik im ersten Teil des ‚Staatsrechts‘ lediglich den „Staat in der Idee“ zur Darstellung (die respublica noumenon); die „wahre Republik“ sei aber Sieyes’ Staat im zweiten Teil (die respublica phaenomenon). Allein diesen gelte es zu verwirklichen. Damit scheint der textimmanente Gegensatz einseitig aufgehoben zu sein. Trotz dieses Konsenses stehen in der Forschung zwei widerstreitende Lesarten einander gegenüber, die zusammen genommen wieder den inneren Gegensatz des ‚Staatsrechts‘ in seiner Unversöhnlichkeit zur Darstellung bringen: Gegenwärtig überwiegt eine potentiell autokratische, antirousseauistische Lesart33, der jedoch von einer Minderheit an Forschern eine „radikaldemokratische“, rousseauistische entgegen gehalten wird34. Beide gehen in ihren Kernthesen auf zwei Studien zurück: erstere auf Wolfgang Kerstings ›Wohlgeordnete Freiheit‹ von 1984,35 letztere auf Ingeborg Maus’ ›Zur Aufklärung der

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nisch 2016, 71-73, insb. Fn. 16 sowie Eisfeld 2015, 235 f., 240-42. Da die Schlüsselstelle des § 52,3 jedoch sehr deutlich auf das demokratische Repräsentativsystem des Nachbarlandes Frankreich hinweist, sich dabei zugleich aber auch wörtlich auf Sieyes bezieht, kann man meines Erachtens sehr wohl davon ausgehen, dass Kant diese – durchaus moderne – Variante der repräsentativen Demokratie gekannt hat: § 52,3 spielt eindeutig auf sie an. Z. B.: Chotaŝ 2018, 2293, Rost 2018, 111-116, Hirsch 2017, 19 f., Hanisch 2016, 71, Fn. 16, 73 f., Hruschka 2015, 36 f., Eisfeld 2015, 235-243, Horn 2014, 223-225, Maliks 2014, 103 f., 107, Tuschling 2013, 107-10, 117 f., Wolff 2013, 59-61, 68, von Beyme 2013, 90 f., Flikschuh 2012, 22, 38, Gebhardt 2012, 23 f., Grawert 2012, 507 f., 515, Täschner 2012, 136-38, 143 f., 146, Herb/Nawrath 2009, 40, Ottmann 2009, 100 f. Ripstein 2009, 199, 202, 213 f., Möllers 2008, 63-65, Pinzani 2008, 231 f., Duso 2006, 25, 100107, Joung 2006, 51, 92, 107, Niebling 2005, 139 f., 159, Dreier 2004, 751, Goyard-Fabre 2000, 89-91. Z. B.: Breitenband 2019, 82, Fn. 176, 83-86, Thiele 2014, 76-91, Eberl 2008, 186, 190-92 f., 195, Niesen 2001, 573 f., 586, Brunkhorst 1994, 142, 220225; ferner: Brandt 2000, 294 sowie Marey 2018, 576 f., die in der Frage nach der Volkssouveränität indes ganz klar auf der Gegenseite zu verorten ist, 568-570. Vgl. Gerhardt 2007, 11: „Bis heute […] bewegt sich die Diskussion auf dem Niveau, das er vorgegeben hat“, – was meines Erachtens immer noch gilt.

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Demokratietheorie‹ von 1992. Das Streitobjekt ist dabei jener Satz gegen Anfang des ‚Staatsrechts‘, der sagt, dass „nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“ kann (§ 46). Unstrittig ist, dass es sich dabei um genau dasselbe nicht-repräsentative Gesetzgebungsverfahren handelt, das Rousseau im ›Contrat Social‹ von 1762 fordert.36 Strittig ist nur, ob das dargestellte Verfahren verwirklicht werden soll. Laut Kersting reiche es aus, wenn es in einem Gedankenexperiment simuliert werde, egal von wem und egal in welcher Staatsform. Der wirkliche Wille der Menschen müsse dabei nicht beachtet werden.37 Maus setzt dem entgegen, Kant fordere die Verwirklichung des Verfahrens in einer „radikaldemokratischen Staatsform, in der tatsächlich der Wille aller präsent ist“.38 Wenig überraschend ist freilich, dass das jeweils vorausgesetzte Freiheitsverständnis beider Lesarten der letzte Grund ihrer Divergenz ist. Maus sieht im radikaldemokratischen Projekt Kants und Rousseaus eine „Form der Freiheitssicherung“, die der „einen großen Freiheit der Selbstgesetzgebung“ verschrieben ist.39 Kerstings Interpretation beruht hingegen auf der Annahme, lediglich Rousseau lege seiner Philosophie der Volkssouveränität ein „Recht auf Autonomie und Selbstherrschaft“ zugrunde, nicht aber Kant. 40 Vielmehr sei Rousseaus Rechts- und Freiheitsverständnis „Kant völlig frem[d]“, weil er dessen „Radikalisierung des Freiheitskonzeptes“ nicht teile. Sie bestehe darin, den tatsächlichen Willen und dessen materiale letztinstanzliche Selbstbestimmung in den Mittelpunkt zu stellen. Damit komme „eine nicht auf Handlungsfreiheit reduzierbare Selbstbestimmungskomponente“ ins Spiel, welche „die Herrschaftseinrichtung mit dem Problem der Unrepräsentierbarkeit des individuellen Willens belaste“. Sie mache ein „Demokratiemodell der Herrschaft“ notwendig – auf das Kant letztlich verzichten könne.41 In der gegenwärtigen Diskussion um das ‚Staatsrecht‘ artikuliert sich somit erneut derselbe ideengeschichtliche Grundkonflikt, der 36 37 38 39 40 41

Kersting 1984, 312-14, Maus 1992, 156 f., 215. Kersting 1984, 312-14. Maus 1992, 55. Maus 1992, 55. Kersting 2002, 50, 54 f. Vgl. Kersting 2002, 50, 46 f., 66, aber auch 1984, 281, 312-314.

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mit Hobbes seinen Anfang nahm. Hierbei bringen die Parteien des Streits jeweils ein Charakteristikum des gegenwärtigen Stands dieses Konflikts zum Ausdruck: Kersting spricht von einer „Devoluntarisierung“ und „Idealisierung“ der Rousseau’schen Volkssouveränität durch Kant,42 die im Rahmen einer „Rekonstruktion des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags“ mit „anti-rousseauistischen Implikationen“ vollzogen werde43. Zum einen wird dabei mit den Worten „Devoluntarisierung“ und „Idealisierung“ präzise die Strategie bezeichnet, die Hobbes’ Prinzip der Repräsentation qua Autorisation eingeschrieben ist: Indem die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung durch das Prinzip der Autorisation sozusagen auf sich selbst zurückgeworfen wird, tritt eine „Idealisierung“ dieser Freiheit ein. Die wiederum hat den Effekt einer „Devoluntarisierung“ der tatsächlichen Willen der Menschen. Zum anderen ist dieses Prinzip aber im Rahmen einer nach-rousseauistischen Philosophie der Volkssouveränität notwendig anti-rousseauistisch: Rousseaus Versuch, die Logik des Hobbes’schen Prinzips zu neutralisieren, wird durch eine erneute Einführung des Prinzips selbst wieder neutralisiert.44

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Kersting 2007, 33, 35. Kersting 2011, 71 f. Kersting und Maus sehen in Hobbes’ Autorisierungvertrag irreführenderweise ein „demokratische[s] Telos“, Kersting 2009, 13; Hobbes habe „demokratischen Optionen (jedenfalls angesichts der politischen Umstände seiner Zeit) noch fern“ gestanden, Maus 2018, 51, Kursivdruck: M.W.; in Hobbes’ „absorptiv-identitäre[r] Repräsentation“, welche durch die Autorisierung begründet sei, schimmere bereits Rousseaus „demokratische Fabel“ durch, Kersting 2009, 162, vgl. auch Thiele 2017. Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Ideengeschichte sind solche Einschätzungen zu korrigieren: Rousseaus Contrat Social ist nicht Hobbes’ Autorisierung eingeschrieben, sondern der Contrat Social ist ein Versuch, die antidemokratische Logik dieses Instruments wieder in eine demokratische umzukehren. Auch bringt Rousseau mit seiner „Radikalisierung des Freiheitskonzeptes“ weniger „die Vormoderne gegen die Moderne in Stellung“, vgl. Kersting 2002, 46 f., 12 f. Vielmehr ist Hobbes’ „epochemachender Augenblick“ darin zu sehen, eine neu aktualisierte „republikanische Theorie der Freiheit“ zu diskreditieren, Skinner 2008, 13, 95 f., – deren Partei Rousseau schließlich ein Jahrhundert später übernimmt. Rousseaus „verweigerte Moderne“, Herb 2000, erscheint in neuem Licht.

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Die Lesart von Maus hingegen ruft nicht nur das normative Potential einer Philosophie der Volkssouveränität in Erinnerung, die auf der „großen Freiheit“ letztinstanzlicher Selbstbestimmung gründet. An ihrer Deutung ist zugleich die Aporie der gegenwärtigen politischen Philosophie abzulesen, welche sich angesichts der Krise der repräsentativen Demokratie eingestellt hat. Denn das Prinzip der Repräsentation qua Autorisation ist auch bei Maus der blinde Fleck des Staatsdenkens: Die Vereinbarkeit der repräsentativen Logik von Sieyes mit der repräsentationskritischen von Rousseau wird im Rahmen ihres Rousseauismus als selbstverständlich vorausgesetzt. 45 Entsprechend reduziert sich ihr heftig umstrittener Rousseauismus auf die Möglichkeit punktueller Ergänzungen des Konzepts der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Entscheidungen des Volkes.46 Weil Sieyes’ repräsentative Logik nun aber darin besteht, das Prinzip der Volkssouveränität zu absorbieren, ist auch die nach eigenem Anspruch „radikaldemokratische“ Lesart von Maus47 nur eine ungewollt autoritäre. Daraus folgt, dass es trotz allem Gegensatz im Grunde nur eine Lesart der Kantischen Staatsphilosophie gibt, sodass der Streit über sie weitgehend gegenstandslos ist. Doch genau deshalb lässt sich in ihm vorzüglich das gegenwärtige Verfassungsproblem ablesen. Wie problematisch dieser Standard-Lektüre zufolge das Kantische ‚Staatsrecht‘ auch als philosophischer Text ist, muss allerdings erst eigens herausgestellt werden. Bisher wird die Problematik in der gegenwärtigen Diskussion nämlich nur passiv zur Darstellung gebracht, nicht aber aktiv reflektiert. So zeigt sich bei genauerem Blick auf die Kant-Literatur, dass bisher jede Interpretation des ‚Staatsrechts‘ einen Normativitätsverlust zwischen den beiden Teilen des Textes verzeichnet hat: Das, was im ersten Teil des ‚Staatsrechts‘ im Rahmen der Darlegung des „Staat[s] in der Idee“ (der respublica noumenon) gefordert wird – unvermittelte, Rousseau’sche Volkssouveränität –, gilt im zweiten Teil offenbar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt für die „wahre Republik“ (die respublica phaenomenon). Vor allem die antirousseauistische Lesart bringt diesen Grundzug beson45 46

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Vgl. Maus 1992, 196-98 sowie Mehring 2013, 437 f. So heißt es ferner, bei Kant, Rousseau und Locke handele es sich um „nahezu identische Modelle radikaler, auf »ungeteilter« Volkssouveranitat basierender Demokratie“, Maus 2011, 321. Maus 1992, 55 sowie 2011, 321.

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ders deutlich zur Sprache: Die „nicht-repräsentative Republik Rousseaus“ sei eine „Staatsform für Götter oder Engel, und daher […] für die menschliche Gesellschaft nicht mehr […] als ein Ideal“, so Bernd Ludwig48. Nun geht aus dem ersten Teil des ‚Staatsrechts‘ allerdings recht unmissverständlich hervor, dass die Prinzipien des nicht-repräsentativen Rousseau’schen Staates dort nicht lediglich für Götter oder Engel begründet werden, sondern stattdessen von „uns“ zu verwirklichen sind. Dazu seien wir „durch einen categorischen Impera tiv“ verpflichtet (vgl. § 49,4). Darum konstituieren die zwei Teile des ‚Staatsrechts‘ der Standard-Lektüre zufolge weniger „so viel verschiedene[n] Welten“49 von Göttern und Engeln einerseits sowie Menschen andererseits. Von zwei disparaten Sphären der Normativität muss man indes sprechen. Wodurch diese Sphären charakterisiert sind, bringt zuerst einmal die rousseauistische Interpretation von Maus zum Ausdruck. Ihr zufolge hängt die Verwirklichung der nicht-repräsentativen respublica noumenon letztlich von „bestimmten pragmatischen Umständen“ ab.50 Zudem macht die Weiterentwicklung der Maus’schen Lesart durch Ulrich Thiele deutlich, was das heißt:51 Die im ersten Teil kategorisch zu verwirklichenden Grundsätze nicht-repräsentativer Volkssouveränität gelten nach Maßgabe des zweiten Teils eben nicht mehr kategorisch. Mit anderen Worten: Aus kategorischen Imperativen werden hypothetische, deren Befolgung von den jeweiligen empirischen Umständen abhängt. So begründete schließlich auch Sieyes sein „système représentatif“: pragmatisch.52 Damit scheint festzustehen, was die beiden Teile des ‚Staatsrechts‘ so unversöhnlich voneinander trennt: Auf der einen Seite wird eine Philosophie der Volkssouveränität geltend gemacht, die es um der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung willen unbedingt in einer Praxis der Volkssouveränität zu verwirklichen gilt. Auf der anderen 48

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Ludwig 1999, 179. Ferner spricht Wolfgang Kersting von dem „Traum von einem guten und gerechten Leben“, „wie es ein den Sternen entstammender göttlicher Gesetzgeber […] einrichten würde“, 1984, 283. KU, Einleitung, II,9. Maus 1992, 197. Thiele 2003, 96 f. sowie 2014, 76-91. Vgl. Sieyes 1789a, 35 f., 48, Art. 30, Sieyes 1793 und hierzu Thiele 2009, 16 sowie 2008, 74-76, vgl. aber auch die differenzierende Sicht von Asbach, 2009, 132-34, und Weiß, 2009, 172.

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Seite ist diese Forderung allem Anschein nach aufgehoben, weshalb letzten Endes wohl auch die Idealisierung der Volkssouveränität im Prinzip der Repräsentation Kant zufolge erlaubt sein könnte. Auch wenn die Vertreter der antirousseauistischen Lesart es – durchaus zurecht – ablehnen würden, das reine Vernunftrecht Kants derart pragmatisch begründet zu lesen, so sind sie es doch, die dessen pragmatischen Zug, das „kritisch-entspannt[e] Verhältnis zur geschichtlichen Wirklichkeit“, durchaus zu würdigen wissen.53 Vergegenwärtigt man sich die Normativitätsstruktur in ihrer Widersprüchlichkeit, so kommt es einem beinahe so vor, als hätte Kant im ‚Staatsrecht‘ zwei Entwicklungsstufen festgehalten: Im ersten Teil wäre das die Stufe der „Jugend“, in der die Menschen sozusagen „für das Umdrehen“ der „Welt“ sind.54 Dafür steht Rousseaus „verweigerte Moderne“55 eines nicht-repräsentativen Staates am Anfang des ‚Staatsrechts‘. In einem zweiten Teil scheinen hingegen die „Jahre der Verwirklichung“ eingetreten zu sein; die Jahre also, in denen die Menschen, nun auch selbst in die Jahre gekommen, auf einmal so gut wie „nichts mehr davon gewußt [haben] und noch weniger wissen wollen“, was sie einst kategorisch forderten und stattdessen „am Bestehenden“ hängen sowie alles davon abhängig machen. 56 Dafür steht offenbar Sieyes’ wahrer, wirklicher und repräsentativer Staat am Ende des ‚Staatsrechts‘.57 Die Architektonik des ‚Staatsrechts‘ würde somit das Scheitern des Projekts metaphysischer Anfangsgründe des Staatsrechts realisieren. Denn sobald die Anfangsgründe der Volkssouveränität „uns“ nicht mehr unbedingt durch kategorische Imperative verpflichten, haben sie nach Kantischer Auffassung ihre Geltung als Freiheitsgesetze eingebüßt. Der zweischrittige Gang des ‚Staatsrechts‘ wäre somit einer der Auflösung desselben. Nun könnte man das wiederum der Senilität des altgewordenen Kant anlasten, denn unkantischer 53 54 55 56 57

Vgl. Kersting 1984, 283. Vgl. Musil 1965, I, 11. Herb 2000, 184, 188. Vgl. Musil 1965, I, 11. Selbstverständlich war es 1797 revolutionär, für diesen Staat die Stimme zu erheben. Doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der repräsentative Staat Sieyes’ auch empirisch „durch die gegebenen historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse als erforderlich begründet“ war, Asbach 2009, 132. Darauf weist Sieyes nachdrücklich hin, vgl. 1793.

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könnte die Architektonik einer Kantischen Schrift wohl kaum ausfallen. So scheint die offensichtliche Architektonik auch ganz offensichtlich von der Geistesschwäche des Autors zu zeugen: Wenn Kant am Anfang des ‚Staatsrechts‘ mit Rousseau, aber gegen Hobbes, Locke sowie Sieyes Repräsentation verneint und am Ende schließlich, scheinbar gegen Rousseau, aber mit Hobbes, Locke sowie Sieyes Repräsentation bejaht, so kann man das auch als Beweis dafür auffassen, dass Kant nicht mehr in der Lage dazu war, einen zusammenhängenden und widerspruchsfreien Text zu schreiben.58 Die augenscheinliche ‚Staatsrecht‘-Architektonik bringt in ihrer Widersinnigkeit aber eben auch das Verfassungsproblem der modernen repräsentativen Demokratie zur Darstellung. Der Text weist somit allegorisch auf das eigentliche Problem hin; Form und Inhalt sind an diesem Punkt identisch. Zugleich ist das ‚Staatsrecht‘ aber auch nicht auf seine offensichtliche Architektonik zu reduzieren, denn der Systematik dieser Architektonik laufen diverse Textstellen zuwider. So nahm Bernd Ludwig in seiner Neuedition der Rechtslehre (von 1986) die meisten und gewagtesten Text-Änderungen im ‚Staatsrecht‘ eigens vor, um die sichtbare Architektonik gegen diese Text-Irritationen noch offensichtlicher zu machen. 59 Ist die große Architektonik nun einerseits als fehlerhaft erkennbar, der Fehler andererseits aber als Teil des philosophischen Projekts zu identifizieren, so ist offenbar eine neue Herangehensweise gefordert: Text-Irritationen sind nicht interpretatorisch zu umgehen oder gar editorisch zu beseitigen, sondern als Hinweise auf eine weitere Textebene zu nehmen, die wiederum in ihrer Relation zu jener offensichtlichen Architektonik gedeutet werden müssen.

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Externe Faktoren heranzuziehen, die den Text so weit ruiniert hätten, dass er auf die offensichtliche, doch problematische ‚Staatsrecht‘-Architektonik hinausläuft, scheint mir hingegen sehr abwegig. So hatte Bernd Ludwig chaotische Vorgänge bei der Drucklegung für die „mißglückte Realisierung des Drucktextes“ verantwortlich gemacht, vgl. 1999, 173, Fn. Vgl. wieder Ludwig 1999, 173, Fn.

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4. Nähere Bestimmung des Forschungsansatzes Dieser Vorgehensweise sehe ich mich in vorliegender Arbeit verpflichtet, weshalb ich sie nun mit Blick auf bereits bestehende Ansätze der Textinterpretation (in elf Punkten) konkreter bestimme. Mit ihr grenze ich mich (1.) von der Methode des interpretatorischen Eklektizismus ab sowie (2.) von derjenigen des editorischen Eklektizismus. Erstere ist die gängige Methode, das ‚Staatsrecht‘ zu interpretieren; letztere lediglich eine Variation ersterer. So legen die meisten Interpreten ihrer Deutung zwar den Originaltext zugrunde, doch er fungiert nicht als letzte Autorität für die jeweilige Auslegung. Eine Vielzahl von Textstellen soll sie verbürgen, wobei man auf das gesamte Textkorpus von Kants Werk zugreift. So müssen die Schwierigkeiten des Originaltextes nicht gedeutet, sondern können umgangen werden. Der editorische Eklektizismus dagegen ist mit dieser Handhabung insofern verwandt, als hier die beliebige Anordnung des Textmaterials nicht lediglich im Rahmen der Text-Auslegung erfolgt, sondern von der Stufe der Interpretation auf die Stufe der Edition vorgelagert wird. Dieses Verfahren geht auf Bernd Ludwig (1986) zurück und hat erklärtermaßen zum Zweck, die immer wieder beklagten Text-Probleme mit editorischen Mitteln zu beheben60. Hingegen schließe ich mich (3.) der Methode der strengen Rückbindung an den autoritativen Text an. Sie besteht darin, ausschließlich den Text des ‚Staatsrechts‘ in seiner ursprünglichen Anordnung von Paragraph zu Paragraph auszulegen, ohne dass textexterne Quellen als Belege für die Interpretation herangezogen werden oder der Text im Vorfeld abgeändert wird. Michael Wolff hat diese Methode (2013) in einer kleineren Studie exemplarisch angewandt, auch um gegen Ludwig zu demonstrieren, wie stimmig sich die Originalversion des ‚Staatsrechts‘ doch auslegen lässt und wie wenig es editorischer Eingriffe bedarf. Wolff suggeriert dabei indes, die immer wieder beklagten Probleme seien gar nicht vorhanden oder zumindest nicht von Gewicht, man müsse dem Text nur genügend Aufmerksamkeit schenken. Aus dem Blick gerät somit jedoch notwendigerweise die eigentümliche Text-Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ und der durch sie realisierte Problemdiskurs, worauf es in meinem Neuansatz schließlich ankommt. Deswegen werde ich die Bedenken Ludwigs und all derje60

Ludwig 2009, XXVIII-XXX.

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nigen Leser ernst nehmen, die den Zustand des Originaltextes als „verdorben“ ansehen – „ein Phänomen“, „welches jedem Leser, der sich dem Buch nähert, unmittelbar ins Auge fällt“ und „selbst nach längerer Beschäftigung mit dem Werk […] nicht verblassen“ will.61 Dass offensichtliche Defekte eines Textes nicht notwendig Textfehler sind, sondern auch als Textstrategien einer spezifischen Rhetorik fungieren können, daran hat Leo Strauss in den 40er und 50er Jahren erinnert und Heinrich Meier ab den 80er Jahren. 62 Der methodische Ansatz, der von dieser Seite vorgeschlagen wird – allerdings nicht expressis verbis für die Lektüre des Kantischen ‚Staatsrechts‘63 –, ist die Erforschung eines „Forgotten Kind of Writing“. Dieses kennzeichne sich dadurch, dass unmittelbar ins Auge fallende Fehler dazu ins Werk gesetzt sind, den aufmerksamen Leser auf eine kaschierte (esoterische) Darstellungsebene hinzuweisen, die in gewisser Weise unter der offensichtlichen (exoterischen) Textebene verborgen liegt. Zum einen sei der Gebrauch solch einer Rhetorik durch die externe Bedingung politischer Zensur und Verfolgung motiviert gewesen und als Kriegslist (strategème) zu verstehen.64 So heißt einer der beiden maßgeblichen Aufsätze von Leo Strauss „Persecution and the Art of Writing“ (1941). Zum anderen liege aber auch im Gedanken der Aufklärung selbst ein Grund, so zu schreiben; ein Grund, der über eine instrumentelle Rhetorik hinausweist, in die Richtung einer philosophischen Rhetorik:65 Indem die philosophisch entscheidende Bedeutungsebene vom Leser selbst erschlossen werden muss, ihm sogar diverse Hürden in den Weg gelegt werden, die er kraft eigener Denkanstrengung zu überwinden habe, übe der Text ihn im „Weiter-

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Ludwig 1988, 3, 75. Dem Text wird zudem unterstellt, dass er sich „schon allein gegen den Versuch einer fortlaufenden Kommentierung sperrt“; selbst „nach mehrfacher genauer Lektüre“ sei „kein nachvollziehbarer sachbezogener Aufbau […] aufzuspüren“. Strauss 1941, 1954, Meier 2008 [1984]. Die Annahme ist hier, dass bestimmte Defekte, „dem Autor nicht verborgen geblieben sein [können …], will man nicht annehmen, daß er zu sehen und zu bedenken nicht imstande war, was dem gemeinen Leser ins Auge springt“, Meier 2008, XXVIII, vgl. Strauss 1941, 492. Vgl. aber Strauss 1941, 499: „Kant, whose case is in a class by itself“. Meier 2008, XXVI-XXIX, Strauss 1941, 491. Meier 2008, XXIV, XXVIII, Strauss 1941, 500-504.

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und Selberdenken“; „faire penser les autres“, das sei die Maxime des „Forgotten Kind of Writing“. Meines Erachtens ist es sehr plausibel, das Kantische ‚Staatsrecht‘ als Produkt solch einer Kunst des Schreibens anzusehen: Zum einen hat Kant in Zeiten der politischen Verfolgung und Zensur gelebt und geschrieben, zum anderen gilt er als der Autor der Aufklärung schlechthin, und zwar der Aufklärung über das Denken und Handeln in eigener Verantwortung. Aber noch mehr: Kant hat als philosophischer Autor auch die politische Konfrontation nicht gescheut, sondern sie immer wieder provoziert – und zwar auf seine ganz eigene Weise.66 Darum wird meine Interpretation des ‚Staatsrechts‘ auch (4.) eine Rhetorik-Analyse sein, die zum Ziel hat, den Kantischen Text als Manifestation einer charakteristischen Text-Rhetorik zu erforschen.67 Methodisch knüpfe ich dabei zwar (5.) an das Projekt der Erforschung jenes „Forgotten Kind of Writing“ an. Doch der Ansatz von Strauss und Meier muss meines Erachtens weiterentwickelt werden, um als Methode der Textinterpretation brauchbar zu sein. Denn in der Nachfolge von Strauss und Meier kann man zwar vorzüglich Schriften auf ihre verschiedenen Darstellungsebenen hin analysieren und diese hinsichtlich Adressatenkreisen sowie diversen Konfliktlinien differenzieren.68 Aber wie diese Ebenen wiederum auf das architektonische Ganze einer genuin philosophischen Text-Rhetorik zurückgeführt werden können, bleibt bei Strauss und Meier ungeklärt. Vielmehr gibt es bei Strauss sogar die Tendenz, die offensichtliche (exoterische) Textebene in Anbetracht einzelner Textstellen, auf die es angeblich allein ankomme, insgesamt als bedeutungslos zu erklä-

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Vgl. Stangneth 2003, XXXVII. Dass Kant ein geschickter Rhetoriker war, darauf wurde in der Literatur bereits mehrfach hingewiesen, neuerdings von Maja Schepelmann, 2017: ›Kants Gesamtwerk in neuer Perspektive‹. Studien zur Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ (von 1797) gibt es bislang allerdings keine. Eine Ähnlichkeit zur ‚Staatsrecht‘-Rhetorik weist jedoch Kants Schrift über das radikale Böse (von 1793) auf, deren spezifische Text-Rhetorik sich als eine der Täuschung und (Selbst-)Lüge erkennen lässt, vgl. hierzu meinen Aufsatz „Kant über den Selbstbetrug des Bösen“, 2019, 53 ff. Vgl. Meier 2011, 23, wo diesbezüglich von einer „politisch-philosophischen Topographie“ die Rede ist.

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ren.69 Doch das wäre ein grober Verstoß gegen die von mir gewählte Methode der strengen Rückbindung an den autoritativen Text. Wie lassen sich philosophische Schriften textnah und methodisch behutsam interpretieren, die nicht nur verschiedene Darstellungsebenen aufweisen, sondern dadurch auch das Missverständnis aufseiten der Leserschaft strategisch provozieren? Darüber geben auch die Abhandlungen des Yaler Literaturtheoretikers Paul de Man Auskunft. 70 Denn fernab von postmodernistischer Beliebigkeit werden dort in textnahen Interpretationen literarische, philosophische und poetische Texte in einem Verfahren der gestuften Lektüre voneinander getrennter Darstellungsebenen ausgelegt: Verschiedene Ebenen eines Textes werden in je separaten, doch sukzessiv aufeinanderfolgenden Lektüren ‚gelesen‘ und in Verhältnis zueinander gesetzt – dahingehend, dass ein philosophisches Programm erkennbar wird. Freilich, dieses Vorgehen steht in den Studien de Mans letztlich im Dienst seines eigenen philosophischen Projekts.71 Doch das bedeutet wiederum nicht, dass sich sein Verfahren dadurch von Vornherein als Methode für die Lektüre eines Kantischen Textes disqualifiziert und nicht auf das Kantische Projekt einer kritischen Metaphysik der Freiheit bezogen werden könnte. Darum werde ich, sofern der Text es verlangt, meine Interpretation des ‚Staatsrechts‘ (6.) in (freier) Anlehnung an dieses Lektüre-Verfahren organisieren; auf diese Weise möchte ich (7.) die charakteristisch-Kantische „Art of Writing“ im ‚Staatsrecht‘ von 1797 erforschen; doch darum reflektiere ich meine Lektüre auch (8.) auf Kants eigenes philosophisches Programm genuin praktischer Erkenntnis und deren spezifische Epistemologie. Methodisch muss noch eine weitere Besonderheit des ‚Staatsrecht‘-Textes berücksichtigt werden: dass in ihm „bei größter Mühe kein roter Faden der Interpretation […] aufzufinden“ ist, mit dem sich sein Erkenntnisprogramm nachvollziehen lässt 72 – und dass Kant seinen Lesern einen solchen roten Faden schuldig bleibt, wird sogar als Merkmal seiner späten Rechts- und Staatsphilosophie gese69 70

71 72

Vgl. Strauss 1941, 490 f. Vgl. etwa de Mans Kritik der Rousseau-Lektüre Derridas, de Man 1971, 102-141, die in Hinblick auf die Rousseau-Lektüren im zweiten Teil der ›Allegories of Reading‹ von 1979 zu lesen ist. Vgl. Menke 1993, 280-287. Ludwig 1988, 75.

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hen.73 Meines Erachtens gibt es einen solchen Leitfaden jedoch, er ist nur nicht im Textabschnitt selbst zu finden, sondern unmittelbar vor ihm. Darauf hat Hans Friedrich Fulda bereits 1997 hingewiesen:74 Das „Postulat des öffentlichen Rechts“ (§ 42,1) ist der rote Faden zum ganzen Öffentlichen Recht, und damit eben auch zu dessen erstem Abschnitt, dem ‚Staatsrecht‘. Genauer: Zum einen ist das Postulat der Leitfaden zur praktischen Erkenntnis von Anfangsgründen des öffentlichen Rechts und folglich auch zur Einsicht in die philosophische Systematik der Anfangsgründe des ‚Staatsrechts‘ einerseits sowie zur Entschlüsselung der Text-Systematik und -Rhetorik andererseits. Zum anderen legt das Postulat zugleich, als epistemologische wie genuin praktische Voraussetzung, den Standpunkt, die Perspektive und die Einstellung fest, von der aus diese Erkenntnis stattzufinden hat, ferner aber auch die Lektüre des ‚Staatsrechts‘. Im Hauptteil folgender Arbeit soll das ‚Staatsrecht‘ darum (9.) erstmals in seiner Originalversion fortlaufend interpretiert werden anhand des textimmanenten Leitfadens, den das Postulat des öffentlichen Rechts vorgibt. Lediglich die weitläufige Allgemeine Anmerkung ist von diesem (quasi-)kommentatorischen Verfahren ausgenommen und wird nur mit Blick auf bestimmte Themenfelder punktuell interpretiert und diskutiert. Der Interpretation des ‚Staatsrechts‘ stelle ich allerdings (10.) eine Vorstudie voran, welche die Bedeutung des Postulats des öffentlichen Rechts für die philosophische Systematik des ‚Staatsrechts‘ eigens herausstellt. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass mein Vorgehen (11.) in besonderer Weise der Intertextualität des Kantischen ‚Staatsrechts‘ Rechnung trägt – wenngleich ich mich dazu verpflichte, die Methode der strengen Rückbindung an den autoritativen Text einzuhalten. Immerhin kennzeichnet sich mein Ansatz auch durch die Erforschung der komplexen Rolle, die das ‚Staatsrecht‘ in der Ideen- und Verfassungsgeschichte der modernen repräsentativen Demokratie einnimmt. Methodisch zulässig ist dies zum einen, da der Text selbst auf andere Texte und Kontexte verweist und zu ihnen Stellung nimmt. Dadurch werden zusätzliche Parallellektüren notwendig. Zum anderen ermöglicht das Verfahren der gestuften und koordinierten TextLektüre, die bisherigen Lektüren des ‚Staatsrechts‘ in die Interpretati73 74

Horn 2014, 12 f. Fulda 1997, 290.

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on miteinzubeziehen und zu würdigen. Somit ist es möglich, der Textrezeption umfassend Rechnung zu tragen. Schließlich kann die ‚Staatsrecht‘-Lektüre mittlerweile nicht mehr von dem losgelöst werden, was das Kantische ‚Staatsrecht‘ heute für uns ist – und diese Rezeption ist durch die spezifische Text-Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ durchaus provoziert. Indem meine Studie derart methodisch verfährt, bricht sie jedoch auch radikal mit dem, was das ‚Staatsrecht‘ für uns heute ist; sie zeigt vielmehr, was es künftig für uns sein sollte: die Schrift, mit der Kant dazu auffordert, die Grenzen der demokratischen Moderne nach 1789 in einem Neuanfang der Volkssouveränität zu überschreiten. Denn was das ‚Staatsrecht‘ überwinden will, ist jenes bis heute unbeachtet gebliebene Fundamentalproblem der modernen repräsentativen Demokratie, bestehend im Widerstreit zwischen dem Prinzip der VolkssouverXnitXt einerseits und dem zutiefst antidemokratischen Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation andererseits. – ‚Politische‘ Autorisation bedeutet Absorption der Volkssouveränität.

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Vorstudie zum Postulat des öffentlichen Rechts Die Vorstudie soll darlegen: Das Postulat des öffentlichen Rechts ist nicht nur der Schlüssel zur philosophischen Systematik des ‚Staatsrechts‘ sowie der Leitfaden zu dessen Rhetorik; es ist zugleich ein Gebot, das die Behauptung der Freiheit und Autonomie letztinstanzlicher Selbstbestimmung impliziert, das aber zugleich aus dieser Freiheit entspringt – jener Freiheit, die Kant angeblich völlig fremd sei, 75 oder die in der Rechtslehre überhaupt keine Rolle spiele76. Letzten Endes gründet auf ihr die philosophische Systematik des ‚Staatsrechts‘, und von ihrem Standpunkt aus ist der ‚Staatsrecht‘-Text zu lesen.77 Zum Nachweis soll im Folgenden (1.) das Postulat des öffentlichen Rechts im Kontext der Übergangsparagraphen 41 und 42 interpretiert werden. Dann aber ist (2.) zu präzisieren, dass der Standpunkt der Adressaten dieses Postulats kein fiktiver ist, wie weitgehend angenommen wird, er ist einer im Hier und Jetzt. Problematisiert werden muss jedoch auch die gängige Lesart, welche das Postulat des öffentlichen Rechts (3.) als Staatsgebot deutet:78 Es postuliere die Autorisation einer souveränen Gewalt. Zudem wird das Postulat in der Literatur als Gebot interpretiert, welches „das Aushalten, das Erleiden 75 76 77

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Vgl. wieder Kersting 2002, 50, 46 f., 66 sowie 1984, 281, 312-314. Vgl. z. B. Horn 2014, 50-53. Damit knüpfe ich an die Studien von Hans Friedrich Fulda an, 1997 sowie 2013, und führe sie fort. Berücksichtigt wird hierbei auch ein (noch) unveröffentlichtes Typoskript mit dem Titel „Begriff und Begründung der Menschenrechte – Kantisch gedacht und beurteilt“, 2021. Die erwähnten Studien stellen einen fundamentalen und produktiven Neuansatz dar, was besonders deutlich hervorgeht aus der Formulierung einer Kantischen Philosophie der Menschenrechte, die Fulda vom Postulat des öffentlichen Rechts aus entwickelt, 2013, 103 ff. Vgl. z. B. Tang 2019, 216 f., Mertens 2018, 2576, Hirsch 2017, Kap. 5 und 6, Klemme 2013, 172-74, Eberl/Niesen 2011, 129-131, Byrd/Hruschka 2010, 24-32, Friedrich 2004, 157, Höffe 2001, 209, Kersting 1984, 259. Eine Reihe von Interpreten sehen wohlgemerkt bereits in der dritten Ulpianischen Rechtspflicht „gleich zu Beginn der Rechtslehre“ ein Staatsgebot, so etwa Hirsch 2017, 253 f., 268-271, Friedrich 2004, 69 und Kersting 2004, 84. Aber auch in den §§ 1-9 des Privatrechts sei eine „eigentumstheoretische Staatsbegründung“ zu finden, ja sogar eine Begründung der Volkssouveränität, vgl. Ludwig 1988, 161 und zur Kritik Fulda 1997, 285.

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von Unrecht“ fordere.79 Demnach wäre das Postulat des öffentlichen Rechts ein Gebot, das im Einklang mit der neuzeitlichen Tradition die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung strukturell verneinen würde. Demgegenüber soll das Postulat (4.) in einer alternativen Interpretation so gedeutet werden, dass es zum einen noch kein Staatsgebot ist (4.1), zum anderen aber die Behauptung der Freiheit letztinstanzlicher und zugleich materialer Selbstbestimmung mit einfordert (4.2). In Anschluss an diese alternative Deutung lässt sich dann schließlich (5.) die Funktion des Postulats in der Genese von Strukturen öffentlichen Rechts bestimmen sowie darlegen, inwiefern das Postulat des öffentlichen Rechts der Schlüssel zur philosophischen Systematik auch des ‚Staatsrechts‘ ist. Das hierzu Gesagte sei dann (6.) mit genauem Blick auf die Terminologie der Kantischen Epistemologie praktischer Erkenntnis zusammengefasst und erläutert. Abschließend erfolgt (7.) ein Ausblick auf das ‚Staatsrecht‘ und seine Rhetorik.

1. Überblickschaffende Interpretation: Das Postulat des öffentlichen Rechts in den §§ 41 und 42 Das Postulat des öffentlichen Rechts wird im zweiten der beiden Übergangsparagraphen aufgestellt, welche die vorhergehenden Ausführungen zum Privatrecht schließen (§§ 41 und 42), indem sie den „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt“ (Titel der §§ 41 und 42) darlegen sowie vollziehen. Der Formulierung des Postulats (in § 42,1) geht jedoch zuerst einmal ein Hinweis voran, aus welchem Kontext es hervorgeht. Dieser ist das „Privatrecht“, allerdings das „Privatrecht im natürlichen Zustande“. Entsprechend lautete die gemeinsame Überschrift der §§ 41 und 42: „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem rechtlichen Zustande überhaupt“ (Kursivdruck: M.W.). Es stellt sich also die Frage, inwiefern das Postulat des öffentlichen Rechts aus genau diesem „Privatrecht im natürlichen Zustande“ hervorgeht, und das „nun“, am Ende des Privatrechts. Zuerst jedoch ein Blick auf die Formulierung des Postulats an einschlägiger Stelle:

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Vgl. z. B. Kersting 1984, 374 und Hirsch 2017, 350.

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Vorstudie

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„Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit, übergehen“ (§ 41,1, Satz 1).

Der Formulierung zufolge ist das Postulat des öffentlichen Rechts (1.) ein persönlich adressiertes Gebot; es ist als Imperativ in der Anredeform der zweiten Person formuliert („du sollst“). Dieses Gebot ist jedoch wiederum (2.) kontextualisiert. Es richtet sich an Personen, die „im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins“ stehen – eine Bedingung, die für Menschen (auch heute noch) dadurch erfüllt ist, dass „der Erdboden eine nicht gränzenlose, sondern sich selbst schließende Fläche ist“ (§ 43)80. Bevor man allerdings erfährt, worin das Sollen besteht, wird (3.) dargelegt, auf welche Weise man es zu erfüllen habe: „mit allen anderen“, also kooperativ81 mit all denjenigen Menschen, mit denen man „im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins“ steht. Worin das Gebot nun besteht, wird abschließend angegeben: Zuerst einmal gelte es (4.1), „aus jenem [natürlichen Zustande] heraus“ zu gehen – aus dem „Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins“ lässt sich wohlgemerkt nicht herausgehen, wenn es tatsächlich unvermeidlich ist (Kursivdruck: M.W.). Doch nicht allein dies. Man habe (4.2) „in einen rechtlichen Zustand […] über[zu]gehen“, der wiederum (4.3) qua Parenthese als Zustand „einer austheilenden Gerechtigkeit“ expliziert wird: Der rechtliche Zustand ist der einer austheilenden Gerechtigkeit (Kursivdruck: M.W.). Das Postulat des öffentlichen Rechts stellt also als Gebot, wenn es befolgt wird, besagten Übergang her, von dem auch die gemeinsame Überschrift der §§ 41 und 42 spricht: den „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem rechtlichen Zustande überhaupt“. Zum weitergehenden Verständnis des Gebotenen lohnt sich deshalb ein Blick auf den vorigen § 41. Dort wird (1.) gleich zu Beginn der Begriff des rechtlichen Zustandes exponiert; er steht für „dasjenige Verhältniß der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“. Was den rechtlichen Zustand demnach kennzeichnet, 80 81

Fulda 1997, 275, 280, Höffe 2001, 128 f. Fulda 2013, 108 ff., einschl. Fn. 21.

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ist das Alleinstellungsmerkmal eines zuerst einmal unbestimmt gelassenen Sets an „Bedingungen“. Dieses garantiere die (prozedurale) Erfüllung eines fundamentalen subjektiven Rechtsbedüfnisses, welches letztlich allen Menschen zuzuschreiben sei: „dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“ (§ 43). Gleich im Anschluss daran wird indes angegeben, das „formale Princip der Möglichkeit“ solch eines rechtlichen Zustandes heiße die „öffentliche Gerechtigkeit“ (2.1); und diese öffentliche Gerechtigkeit könne wiederum mit Blick auf das in Frage stehende Mein und Dein der Menschen „nach Gesetzen“ in drei Sphären öffentlicher Gerechtigkeit „eingetheilt werden“ (2.2): „in die beschützende (iustitia tutatrix)[,] die wechselseitig er werbende (iustitia commutativa) und die austheilende Gerechtig keit (iustitia distributiva)“. All dies besagt der erste Satz des ersten Absatzes von § 41; der zweite der beiden Sätze führt schließlich an (2.3), was jene Gesetze jeweils besagen, denen zufolge die öffentliche Gerechtigkeit derart eingeteilt werden könne; aber auch (2.4) um welche Gesetze es sich dabei konkret handelt: „Das Gesetz sagt hie b ei erstens, bloß welches Verhalten innerlich der Form nach re cht ist (lex iusti); zwe ite ns , was als Materie noch auch äußerlich gesetzfähig, d. i. dessen Besitzstand rechtlich ist (lex iuridica); dritt ens , was und wovon der Ausspruch vor einem Gerichtshofe in einem besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze diesem gemäß, d. i. Re ch t ens ist (lex iustitiae)“.

Die letztgenannte Ausführung wird darauf wiederum zweifach kommentiert: „jenen Gerichtshof selbst“ nenne man auch pars pro toto „die Gerechtigkeit eines Landes“ (2.5); und „ob eine solche sei oder nicht sei, [könne] als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden“ (2.6). Das rührt daher: Der „Ausspruch vor einem Gerichtshofe“ besagt, was „Rechtens ist“ und macht es damit (formal) möglich, dass „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“. Auf diese Weise schließlich kann das subjektive Rechtsbedürfnis der Menschen prozedural befriedigt werden, „dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“ (§ 43). Kurz, mit dem Bestand eines Gerichtshofes als Instanz distributiver Gerechtigkeit wird (zumindest formal) garantiert, dass ein rechtlicher Zustand im eingangs exponierten Sinn bestehen kann.

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Vorstudie

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Entsprechend heißt es zu Beginn des zweiten Absatzes (3.): „Der nicht-rechtliche Zustand, d. i. derjenige, in welchem keine austheilende Gerechtigkeit ist, heißt der natürliche Zustand (status naturalis)“ (Kursivdruck: M.W.). Vor diesem Hintergrund wird klar, was genau das Postulat des öffentlichen Rechts in § 42 fordert: Aus dem natürlichen Zustand herauszugehen, in welchem keine austheilende Gerechtigkeit ist; und zwar dadurch, dass man in einen Zustand übergeht, in dem eben dies (austeilende Gerechtigkeit) der Fall ist: „in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit“. Laut § 42,1 geht das Postulat des öffentlichen Rechts aber „[a]us dem Privatrecht im natürlichen Zustande […] hervor“ (Kursivdruck: M.W.). Wie das zu deuten ist, darauf verweist ebenfalls der zweite Absatz des § 41. Nach Kantischer Vorstellung kann der natürliche Zustand nämlich durchaus ein gesellschaftlicher sein, in dem es bereits „rechtmäßige Gesellschaften“ geben kann, „(z. B. eheliche, väterliche, häusliche überhaupt und andere beliebige mehr)“ (Kursivdruck: M.W.). Es können also schon differenzierte Systeme erworbenen Rechts bestehen, die wiederum auf dem angeborenen Recht (der Freiheit) basieren, wobei sowohl das erworbene wie auch das angeborene Recht einen je eigenen Schutz vonnöten haben – durch eine je eigene Sphäre öffentlicher Gerechtigkeit nach einem je eigenen (naturrechtlichen Gesetz): die iustitia commutativa zufolge der lex iuridica und die iustitia tutatrix zufolge der lex iusti (vgl. § 41,1 sowie ERL, AB 43 f).82 Aber noch mehr: Die ganze Idee öffentlicher Gerechtigkeit besteht schon im Naturzustand als praktische Idee, die man als solche eben auch praktisch verwirklichen kann; darum kann auch der Naturzustand durchaus bereits ein Zustand öffentlicher Gerechtigkeit sein (§ 36).83 Doch im Naturzustand gelte eben noch „kein Gesetz a priori […]: »du sollst in diesen Zustand treten«“, – „wie es wohl vom rechtlichen Zustande gesagt werden kann, daß alle Menschen, die mit einander (auch unwillkührlich) in Rechtsverhältnisse kommen können, in diesen Zustand treten sollen“. Kurz, das Postulat des öffentlichen Rechts geht zwar aus dem Privatrecht im natürlichen Zustand hervor, gilt aber noch nicht in ihm selbst. Deshalb kann der Naturzustand immer nur zufälligerweise ein Zustand öffentlicher Ge82 83

Fulda 1997, 274. Fulda 1997, 274, verneint wird dies z. B. von Hirsch, 2017, 299, 211 ff., vgl. aber auch Kirste 2010, 116-118.

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rechtigkeit sein, nicht aber notwendigerweise. Es hängt eben allein von der (gesetzlich unbestimmten) Willkür der Menschen ab, ob nach der Idee der öffentlichen Gerechtigkeit „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“, – oder nicht. In Ermangelung der Bedingung dafür kann der Naturzustand schließlich höchstens ein provisorisch-rechtmäßiger sein, niemals aber ein vollständig-rechtlicher – und diese Bedingung ist das Postulat des öffentlichen Rechts. Das Postulat des öffentlichen Rechts wird in § 42 aber auch argumentativ begründet. Denn nach der Formulierung des Postulats erfolgt der Hinweis, sein „Grund“ lasse sich „analytisch aus dem Begriffe des Rechts, im äußeren Verhältniß, im Gegensatz der Gewalt (violentia) entwickeln“ (§ 42,1, Satz 2). Als diese Entwicklung kann man die Begründung ansehen, die in den beiden abschließenden Absätzen des § 42 vorgelegt wird. Auf sie soll hier nicht näher eingegangen werden;84 ein Blick ist lediglich auf ihren Endpunkt zu werfen, also auf die letzte und entscheidende der drei Behauptungen, aus denen das Kantische Argument besteht. Sie besagt, die Menschen täten „im höchsten Grade […] unrecht“ mit dem Vorsatz, im Naturzustand „sein und bleiben zu wollen“, welcher „kein rechtlicher ist, d. i. in dem Niemand des Seinen wider Gewaltthätigkeit sicher ist“. Weshalb dies so sei, besagt die qua Asterisk (*) an das Wort „unrecht“ angefügte Fußnote: „Aber sie thun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen, und alles der wilden Gewalt, gleichsam gesetzmäßig, überliefern, und so das Recht der Menschen überhaupt umstürzen“. Entscheidet man sich also für den Vorsatz, im nicht-rechtlichen Zustand bleiben zu wollen und damit, das Postulat des öffentlichen Rechts nicht zu befolgen, so heißt das: Man verneint das Recht der Menschen und bejaht die im Gegensatz dazu stehende Gewalttätigkeit. Dagegen muss vom Standpunkt des Rechts (reiner rechtlich-gesetzgebender Vernunft) das Postulat des öffentlichen Rechts notwendigerweise als kategorischer „du sollst“-Satz aufgestellt werden: weil sonst genau dieser Standpunkt (reiner rechtlich-gesetzgebender Vernunft) in der Bejahung der Gewalttätigkeit verneint werden würde. Anders gesprochen: Der Grund des Postulats lässt sich „analytisch aus dem Begriffe des Rechts, im äußeren Verhältniß, im Gegensatz der Gewalt (violentia) entwickeln“ (§ 42,1, Satz 2). 84

Ausführlich hierzu: Fulda 1997, 277-283.

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2. Stand- und Gesichtspunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts Das Postulat des öffentlichen Rechts scheint oberflächlich genommen nur die neuzeitliche und letztlich Hobbes’sche Lehre vom exeumdum est e statu naturae zu reaktualisieren.85 Nach der gängigen Auffassung dieser Lehre treten isolierte Individuen aus einem „fiktiven Naturzustand“ heraus, um in einer ebenso „fiktiven Vertragssituation“ als „Freie und Gleiche eine politisch institutionalisierte Gesellschaft überhaupt erst zu errichten“; im Zuge dessen könne man einsehen, auf welchen Grundsätzen ein Staat freiheitlich zu errichten sei.86 Die Originalität der Kantischen Position wäre in diesem Schema aber verkannt87 – und mit ihr auch die spezifische Standpunktbestimmung der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts. Auf beides hat Hans Friedrich Fulda hingewiesen. Denn: Einerseits ist nach vorliegender Stelle das Gebot, den Naturzustand zu verlassen, eines, das „sich an mich und meinesgleichen in einem Zustand richtet, in dem wir uns wirklich befinden“, so Fulda.88 Im „Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins“ mit anderen zu sein ist für jeden der auf dem Erdball lebenden Menschen unvermeidlich, die ja nicht alle und lebenslänglich als Einsiedler existieren können. Damit ist der Standpunkt des Adressaten eben doch einer auf der „Erde“; es wird also doch nicht „von allem weltlich Gegebenen“ abstrahiert.89 Andererseits aber ist der „natürliche Zustand (status naturalis)“ – als „derjenige, in welchem keine austheilende Gerechtigkeit ist“ (§ 41,2) – auch und vor allem ein subjektiver Zustand: Der Fall, dass keine distributive Gerechtigkeit herrscht, besteht „nicht erst dann, wenn es keinen Gerichtshof gibt, der Rechtsstreitigkeiten entscheidet; sondern jeweils auch schon dann, wo ich in einem strittigen Fall mein Recht, wie ich es beurteile, in die eigene Hand nehme, anstatt die Entscheidung dem zuständigen Gericht zu überlassen und mich ihr zu beugen. Und ganz wie ich selbst befindet sich jeder, der erfolgreich den 85 86 87 88 89

Fulda 1997, 268 f. Vgl. exemplarisch Maus 2011, 162 f. sowie Hirsch, 2017, 211. Fulda 1997, 271 ff. Fulda 1997, 269 sowie 2013, 106 ff., Kursivdruck: M.W. So aber Maus 2011, 163, vgl. dagegen Höffe 2001, 129.

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Richter oder gar Richter und Gesetzgeber in eigener Sache macht, im natürlichen Zustand“.90

Natürlich ist dieser Zustand zu nennen, weil der für ihn charakteristische „Gesichtspunk[t]“ – der „Ort“, von wo aus man etwas „betrachtet“ sowie der „Standpunkt“, von dem aus man etwas „beurteilt“ 91 – den Blick auf die Frage einschränkt, „was […] an sich recht [sei], wie nämlich hierüber ein jeder Mensch für sich zu urtheilen habe“ (§ 36,3, Kursivdruck: M.W.). Das aber ist der Gesichtspunkt der Privatvernunft, nach der jeder Mensch sein Recht zuallererst beurteile (vgl. § 38,3). Damit handelt es sich weniger um einen Zustand, den man nur willkürlich einnimmt, sondern vielmehr um einen, der quasi natürlich ist, eben „wie ich es beurteile“92. Ihm steht der Gesichtspunkt der öffentlichen Vernunft mit der Frage entgegen: „was ist vor einem Gerichtshofe recht, d. i. was ist Rechtens“ (§ 36,3). Hier wird „das Recht in Ansehung einer Sache nicht, wie es an sich ist (als ein persönliches)“ beurteilt; geurteilt wird stattdessen „wie es [das Recht] am leichtesten und sichersten abgeurtheilt werden kann, (als Sachenrecht)“ (§ 39,7), – nach dem „Grundsatz der distributiven Gerechtigkeit “ (§ 39,6). In dieser Hinsicht besteht letztlich das Defizit der Privatvernunft und ihres Gesichtspunktes. Darauf, dass „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“ (§ 41,1, Kursivdruck: M.W.), schaut sie nämlich nicht. Mit anderen Worten: Ihr Ziel ist es nicht, dass ein „rechtlicher Zustand“ besteht, als „dasjenige Verhältniß der Menschen unter einander“, in dem solch eine allseitige Rechtssicherheit möglich ist (vgl. § 41,1). Darum ist die Rechtszuteilung nach ihrem Prinzip letztlich „mehrentheils unmöglich“ (§ 39,5), woher wiederum die Notwendigkeit rührt, den Gesichtspunkt der öffentlichen Vernunft qua Einstellungswechsel einzunehmen. Diese Notwendigkeit spricht schließlich das Postulat des öffentlichen Rechts aus: Zwar handelt es sich um „zwei verschieden[e]“, aber „beiderseits wahr[e]“ Gesichtspunkte, die „neben einander bestehen können“ (§ 36,3) – trotz der Divergenz ihrer Urteile in bestimmten Fällen. Doch der Gesichtspunkt der Privatvernunft läuft darauf hinaus, „in einem Zustande […] bleiben zu wollen, der kein rechtlicher ist, d. i. in dem Niemand des Seinen wider Ge90 91 92

Fulda 1997, 272 sowie 2013, 106 ff. Georges, 1098 f. Fulda 1997, 272, Kursivdruck: M.W.

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waltthätigkeit sicher ist“ (§ 42,3). Und das kommt eben der Einstellung gleich, „dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen [zu wollen], und alles der wilden Gewalt, gleichsam gesetzmäßig, [zu] überliefern, und so das Recht der Menschen überhaupt um[zu]stürzen“ (§ 42,3, Fn.). Das aber ist wie gesagt der argumentativ-entscheidende Grund, auf dem das Postulat des öffentlichen Rechts basiert. Genau darum nämlich ist es geboten, dem Gesichtspunkt der öffentlichen Rechtsvernunft Priorität einzuräumen – trotz der (Quasi-)Natürlichkeit, Vorgängigkeit und Wahrheit des Gesichtspunktes der Privatvernunft.93

3. Die Hobbes’sche Lektüre: Das Postulat des öffentlichen Rechts als Staats- und Autorisierungsgebot So simpel der gebotene Einstellungs- und Perspektivenwechsel sein mag, er ist nicht unproblematisch. Kant spricht im dritten Hauptstück des Privatrechts (§§ 36-40) offen Anmaßungen an, die der Übergang von der privaten zur öffentlichen Vernunft mit sich bringt. So soll man nicht mehr nur das, was „an sich selbst recht ist“, kraft eigenen Urteils weiter für sich behaupten dürfen (§ 36,3 einschl. eA). Man müsse auch „Zwang“ zu Leistungen erleiden, die „der unverleihbaren menschlichen Freiheit zuwider“ 94 sind und deren Autorisation „im Grunde unrecht“ ist (§ 40,3). Es scheint jedenfalls so, als fordere das Postulat des öffentlichen Rechts, die Disposition sei ein für alle Mal festzulegen, dass nicht mehr das eigene Urteil als letzte Instanz der Selbstbestimmung zu gelten habe, sondern das der fremden Instanz des Gerichtshofes. Damit würde das Postulat in seinem Effekt auf die Hobbes’sche Autorisierung hinauslaufen. In Einklang damit wird das Postulat des öffentlichen Rechts in der Forschungsliteratur überwiegend als „Staatsgebot“ verstanden. Es 93

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Dem liegt ganz grundsätzlich das (Bedingungs-)Verhältnis von Freiheit und Perspektive (oder Gesichtspunkt) zugrunde, auf das Friedrich Kaulbach verwiesen hat, 1985, 90-98: Kaulbach bezeichnet die „Freiheit des Entwurfes“ von „Perspektiven“ sogar als eigenes „Vermögen“ und spricht von einer „Autarkie der perspektivischen Vernunft“, die sich in ihrer „Fähigkeit der Perspektivenwahl“ zeige. Ich folge hier der zweiten Auflage, in der Erstauflage heißt es: „der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider“, Kursivdruck, M.W.

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sei ein unmittelbares Gebot, in den status civilis einzutreten. Mehr noch: Die staatsrechtliche Gehorsamspflicht verlange „das Aushalten, das Erleiden von Unrecht“95. So verstanden wäre das Postulat des öffentlichen Rechts eine rigoristische Forderung, die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung um des Rechtsfriedens willen aufzugeben, auch wenn das „im Grunde unrecht“ sei. Kant hätte damit sein ‚Staatsrecht‘ bereits im Privatrecht auf das Hobbes’sche Programm festgelegt: Um das Schreckensszenario des Naturzustandes zu vermeiden, gelte es, sich nicht von einer falschen Freiheit verführen zu lassen, sondern eben diese Freiheit einer staatlichen Institution als letzter Instanz der Willensbestimmung unterzuordnen. Die Kantische Staatslehre würde mit dem Postulat des öffentlichen Rechts lediglich Hobbes’ Position reproduzieren.96 95 96

Kersting 1984, 374. Welche weitreichenden Folgen die Autorisation einer souveränen Gewalt an diesem Punkt hätte, bringt die Interpretation von Philipp-Alexander Hirsch besonders deutlich zum Ausdruck, vgl. 16-20. Hirsch zufolge basiert das (vermeintliche) Staatsgebot in § 42 nämlich darauf: Äußerlich-rechtliche Fremdverpflichtung könne überhaupt erst dann als innere Selbstverpflichtung gelten, wenn die Willen der Einzelnen über die Idee der Volkssouveränität im faktischen Herrschaftswillen fiktiv absorbiert seien; nur so (und bereits dann) könne der Pflicht des honeste vive genüge getan werden, das bekanntlich die Behauptung der Freiheit und Autonomie von den Einzelnen fordert; darauf gründet laut Hirsch das (angebliche) Staatsgebot des § 42, das bereits die (antirousseauistische) Volkssouveränität impliziere, Kap. 5 und 6, vgl. z. B. 226 f., 239 f., 245-47, 302 f. Das jedoch habe zur Folge: Jede herrschaftliche Fremdverpflichtung sei vonseiten der Menschen als rechtmäßig zu beurteilen, weil sie als Staatsbürger jegliche Herrschaftsakte als innere Selbstverpflichtungen „interpretieren“ müssten, 329 f., 311-15, – sogar dann, wenn „einem bestimmten Teil der Bevölkerung sämtliche Rechte, das Existenzrecht eingeschlossen, aberkannt [werde] (etwa den Juden in NS-Deutschland)“, 369; „bei Kant [gäbe es] keine obrigkeitlichen Maßnahmen, die schon als solche unmöglich Ausdruck des vereinigten Volkswillens sein können“, 370; und jeder beliebige Herrscher sei „vernunftnotwendig als Repräsentant des vereinigten Volkswillens anzusehen“, 18. Damit deckt Hirsch freilich weniger eine ideengeschichtlich originelle Position auf, vgl. 19-21, sondern expliziert vielmehr die Logik der Hobbes’schen Autorisation in seiner ganzen Problematik anhand des Kantischen ‚Staatsrechts‘: „every Subject is Author of every act the

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4. Eine alternative Lektüre Betrachtet man das Postulat des öffentlichen Rechts in seinem Kontext, so eröffnet sich die Möglichkeit einer anderen Lesart. Zum einen (Kap. 4.1) ist das Postulat des öffentlichen Rechts dort noch nicht als Staatsgebot formuliert, sondern in gewisser Weise anarchisch – oder, besser gesagt: behauptet direkt aus der Perspektive der Freiheit, diese verstanden als die jedem je eigene Autonomie (reiner rechtlich-gesetzgebender Vernunft). Auch darauf hat Hans Friedrich Fulda hingewiesen.97 Zum anderen (Kap. 4.2) muss das Postulat des öffentlichen Rechts aber auch mit einer Reihe elementarer Rechtsgesetze und -pflichten in Einklang stehen, um überhaupt als praktisches Postulat bestehen zu können, so ebenfalls Fulda. 98 Zu diesen Rechtsgesetzen und -pflichten gehört an erster Stelle die lex iusti sowie das aus ihr entspringende honeste vive. Letzteres aber ist als Pflicht einer inneren und äußeren Behauptung der „Freiheit überhaupt“ (§ 47) zu verstehen – und diese Freiheit ist die Freiheit materialer letztinstanzlicher Selbstbestimmung. Berücksichtigt man beide Punkte hinreichend, so ist das Postulat des öffentlichen Rechts in § 42 von den soeben aufgezeigten Einwänden nicht mehr betroffen. Stattdessen bietet es eine attraktive Alternative zum traditionell-neuzeitlichen Staatsdenken, das diesen Problemen verhaftet bleibt. Die Alternative gründet letztlich darauf: Der Gesichtspunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts wird als Gesichtspunkt eben durch die Notwendigkeit bestimmt, mit dem honeste vive vereinbar zu sein, welches wiederum der Behauptung jener ‚alten‘ Freiheit letztinstanzlicher (materialer) Selbstbestimmung absolute Priorität einräumt. Diese Bestimmung erweist sich im Rahmen der ›Rechtslehre‹ als äußerst präzise und vielschichtig.

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Soveraign doth“, Leviathan, Kap. 21, 170, vgl. Einleitung. Bezeichnend ist jedoch, dass Hirsch der Kant-Forschung seine Interpretation als ausdrücklich „autonomietheoretische“ Position anbietet, welche die Pflicht der Freiheitsbehauptung (das honeste vive) erstmals hinreichend berücksichtige. Fulda 2013, 107, 111: „Gewiss dürfen wir nicht davon ausgehen, der Übergang, um den es nun zu tun ist, müsse zu einem Staat mit seinem Souverän führen“. Fulda 2013, 107, 113 f.

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4.1 Das Postulat des öffentlichen Rechts ist kein Staatsgebot Das Postulat des öffentlichen Rechts fordert in § 42,1 nur den Übergang „in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit“ (Kursivdruck: M. W.). Doch nach § 41,1 sowie der gemeinsamen Überschrift ist dieser Zustand der rechtliche Zustand überhaupt. Als solcher ist er allerdings lediglich einer, der durch das Dasein und die Wirksamkeit eines Gerichtshofes gekennzeichnet ist. So werde, zum einen, der „Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes“ genannt, zum anderen könne seine Existenz „als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden“ (§ 41,1). Mit seiner Etablierung wird nämlich das „formale Princip der Möglichkeit“ eines rechtlichen Zustandes als praktische Idee verwirklicht, wobei das Prinzip wiederum die „öffentliche Gerechtigkeit“ heiße. Laut den Übergangsparagraphen konstituiert ein Gerichtshof somit bereits, zumindest formaliter, einen rechtlichen Zustand „als dasjenige Verhältniß der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“.99 Die gemeinsame Überschrift der §§ 41 und 42 ist daher Ausdruck einer Limitation: Das Postulat des öffentlichen Rechts fordert mit dem Übergang in einen rechtlichen Zustand lediglich den „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt“ (Kursivdruck: M.W.). Unter diesem „Zustande überhaupt“ ist dabei die Minimalbedingung zu verstehen, die jedem besonderen rechtlichen Zustand zugrunde liegen muss, damit er überhaupt einer ist. Zwar kann auch ein bürgerlicher Zustand (Staat) diese Bedingung erfüllen, doch gefordert wird solch ein Zustand durch das Postulat des öffentlichen Rechts vorerst noch nicht. Wenn lediglich ein Gerichtshof etabliert und anerkannt werden soll, so ist dazu weder ein Herrschaftsverhältnis mitsamt der Rollenverteilung von imperans und subditus nötig, noch eine Autorisation, die solch ein Verhältnis ermöglichen würde, ganz zu schweigen von der Einrichtung einer „staatliche[n] Allmacht“100. Naheliegender ist vielmehr, dass die 99

Fulda 2013, 107, 111: „Unter einfachen zwischenmenschlichen Verhältnissen […] mag ein Rabbi oder Mullah [bereits] bewirken, dass die Menschen seiner Umgebung aus dem nicht-rechtlichen Zustand heraustreten, und er für richterliche Gerechtigkeit sorgen kann“. 100 Vgl. Kersting 1984, 282.

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Adressaten des Postulats zuerst einmal selbst vom Gesichtspunkt ihrer Privatvernunft zu dem der öffentlichen Vernunft überzugehen haben, indem sie den „Grundsatz der distributiven Gerech tigkeit“ (§ 39,6) als ihren eigenen anerkennen – und von dieser Einstellung aus dann schließlich situativ, doch pflichtgemäß dem Rechtsspruch der äußeren Instanz zustimmen.101 Ein jeder kann auf diese Weise – nach wie vor – aus „seinem eigenen Recht[,] zu thun, was ihm recht und gut dünkt“, handeln, ohne dabei von der „Meinung“ irgend eines „Anderen […] abzuhängen“; jeder könnte „seinem eigenen Kopfe“ folgen (vgl. § 44,1). Mit anderen Worten: „Ein Anarchist, der Kant bis hierher aufmerksam genug studiert, müsste seine helle Freude […] haben“.102 In den Übergangsparagraphen ist allerdings bereits vom Staat als bürgerlichem Zustand oder bürgerlichem Verein die Rede („status civilis“, „unio civilis“, vgl. § 43), und zwar in den letzten drei Absätzen des § 41. Auch das mag die Interpreten dazu verleitet haben, den rechtlichen Zustand überhaupt mit dem bürgerlichen Zustand zu identifizieren. Bei genauerem Blick zeigt sich indes: Dort wird (in Abs. 2) lediglich die historische Position Achenwalls diskutiert („(wie Achenwall meint)“), welcher dem zuvor exponierten nicht-rechtlichen Zustand den gesellschaftlichen entgegen setzt, was falsch sei. Um diese Position zurückzuweisen, geht der Text schließlich über das zuvor exponierte Gegensatzpaar (rechtlicher Zustand – nicht-rechtlicher 101

So haben B. Sharon Byrd und Joachim Hruschka anlässlich § 49,1 darauf hingewiesen, Kant verstehe die „Subsumption eines Falles“ unter das Gesetz zum Erwerb oder Erhalt des Seinen (auch noch im ‚Staatsrecht‘) primär als eine Angelegenheit der einzelnen Staatsbürger, 2010, 149-157, 152 f., einschl. Fn. 49: „Kant’s use of this concept [„of subsumption“] is different from the way the concept is used in legal parlance on the European continent. As the concept is used today, it is the judge (and not the citizen) who reaches the judgement from the subsumption. […] In modern sense of subsumption, a citizen who subsumes a case does it like the judge does, but it is the judge, not the citizen, who is responsible for the subsumption of cases“. 102 Fulda 2013, 106, Fn. 14. Somit können die Übergangsparagraphen wohlgemerkt nicht als Nachweis für die These herangezogen werden, Kant sei der erste Rechtsstaatstheoretiker gewesen. Diese vertritt Hruschka, 2015, 13, indem er die Begriffe ‚rechtlicher Zustand‘ und ‚Rechtsstaat‘ schlicht gleichsetzt, vgl. Byrd/Hruschka 2010, 25 ff. und ferner 2015, 32.

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Zustand) hinaus. Damit greifen die letzten drei Absätze des § 41 allerdings weniger auf das ‚Staatsrecht‘ hinaus als auf die Begrifflichkeiten des damaligen Staatsdenkens zu. So heißt es distanzierend, dem nicht-rechtlichen Zustand werde „der bürgerliche (status civilis)“ entgegengesetzt. Ebenso zurückhaltend werden daraufhin Benennungen diskutiert: „Man kann den ersteren und zweiten Zustand den des Privatrechts, den letzteren und dritten aber den des öffentlichen Rechts nennen“ (§ 41,3); „[s]elbst der bürgerliche Ver ein (unio civilis) kann nicht wohl eine Gesellschaft genannt werden)“ (§ 41,4; Kursivdruck: M.W.). Unmittelbar vor dem ‚Staatsrecht‘ ist der Begriff ‚Staat‘ also bereits Teil der Diskussion, jedoch lediglich als historisch gegebener Begriff. Auf der Ebene der eigentlich philosophischen Arbeit bleibt eine a priorische Bestimmung dieses Begriffes aber noch aus – wie sie für die Kantische Metaphysik der Freiheit charakteristisch wäre (s. u., Fn. 146). Stattdessen wird an der entscheidenden Stelle, wo das Postulat des öffentlichen Rechts aufgestellt wird, vom Staat abstrahiert. Daran zeigt sich: Einerseits mischt sich Kant mit seiner Rechtslehre durchaus in die damaligen Diskussionen um das öffentliche Recht ein, das allerdings in kritischer Distanz. Andererseits entspricht dieser Distanz aber auch der Wille, in Abgrenzung zum damaligen (und heutigem) mainstream differente Strukturen öffentlichen Rechts zu denken – in denen letztinstanzliche Selbstbestimmung nicht in der Struktur einer ‚politischen‘ Autorisation aufgegeben wird. Davon zeugt bereits das Postulat des öffentlichen Rechts in seiner ersten Formulierung.

4.2 Das Postulat des öffentlichen Rechts fordert die Behauptung der Freiheit materialer letztinstanzlicher Selbstbestimmung Mit dem Postulat des öffentlichen Rechts scheinen die Menschen darauf verzichten zu müssen, das geltend zu machen, was sie „für sich“ selbst als „an sich recht “ beurteilen (vgl. § 36,3). Das käme einem Verzicht darauf gleich, sein eigenes Recht zu behaupten, aber auch seine eigene Freiheit. Sein Recht nach dem Prinzip der distributiven Gerechtigkeit zu beurteilen: das wäre nur eine weitere Form, seine Freiheit aus Freiheit zu verneinen, vergleichbar mit derjenigen einer ‚politischen‘ Autorisation. Eine Feindschaft gegen die Freiheit würde

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sich damit auch im Postulat des öffentlichen Rechts manifestieren. Indes: Seine Freiheitswürde gegen Andere zu behaupten – „seinen Werth als den eines Menschen“ – fordert die erste elementare Rechtspflicht des Menschen. „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)“ lautet sie (ERL, AB 43 f.). Würde das Postulat gegen sie verstoßen, so wäre es als Rechtspflicht nichtig; nach dem dritten Hauptstück (§§ 3640) scheint das allerdings der Fall zu sein. Blickt man nun vom ersten der beiden Übergangsparagraphen (§ 41,1) auf die Einleitung in die Rechtslehre zurück, so ist festzustellen: Dasselbe naturrechtliche Gesetz, nach dem die erste elementare Rechtspflicht besteht (lex iusti), liegt auch der beschützenden Gerechtigkeit (iustitia tutatrix) zugrunde, welche wiederum (zusammen mit der wechselseitig erwerbenden Gerechtigkeit (iustitia commutativa)) in der distributiven Gerechtigkeit (iustitia distributiva) aufgehoben ist, welche die öffentliche Gerechtigkeit insgesamt repräsentiert. Diesem Gesetz (lex iusti) zufolge soll schließlich auch das Prinzip distributiver Gerechtigkeit darauf Acht geben, „welches Verhalten innerlich der Form nach recht ist“ (ebd., Kursivdruck: M.W.). Die Selbstbehauptung dessen, was die Menschen „für sich“ selbst als „an sich recht“ beurteilen (§ 36,3), soll darum also gerade nicht aufgegeben werden; in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts muss die erste elementare Rechtspflicht rechtlicher Selbstbehauptung notwendigerweise mitbefolgt werden103. So zeichnet sich die Sicherheit des rechtlichen Zustandes letztlich dadurch aus, dass „jeder seines Rechts teilhaftig werden kann“, wenn er es will (ebd., Kursivdruck: M.W.). Die erste elementare, (pseudo-)ulpianische Rechtspflicht, das honeste vive,104 ist jedoch auch eine Pflicht der Selbstbehauptung der Freiheit. Diese Selbstbehauptung richtet sich einerseits explizit gegen einen sich selbst degradierenden Freiheitsgebrauch, andererseits bezieht sie sich auf die Freiheit überhaupt, verstanden als Kompetenz letztinstanzlicher materialer Selbstbestimmung. Genau hiermit wird der Stand der ›Rechtslehre‹ im ideengeschichtlichen Streit um die Freiheit normativ bestimmt (s. o. (Einleitung)). Darum im Folgenden eine genauere und weiterführende Diskussion, ausgehend vom Kantischen Text zum honeste vive: 103 104

Fulda 2013, 107. Grundlegend hierzu: Pinzani 2005, 73-79 und Kersting 1984, 167-174.

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„Se i ein rechtliche r Me ns ch (honeste vive). Die rechtliche Ehrb ar keit (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: »mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.«“ (ERL, AB 43 f.)

Direkt auffällig ist, dass die Forderung, ein rechtlicher Mensch zu sein, in der eingeklammert nachgesetzten Formulierung mit der Forderung gleichgesetzt wird, überhaupt ehrbar zu leben. Zwar wird im folgenden Satz die rechtliche Ehrbarkeit als honestas iuridica expliziert. Von dieser ist die honestas interna zu unterscheiden, die Kant in der ›Tugendlehre‹ als iustum sui aestimium bezeichnet,105 also als gehörige Selbstschätzung.106 Aber die Angabe des Inhalts dieser honestas iuridica wie auch ihre Formulierung als Pflicht verdeutlicht, dass es ihr zufolge nicht bloß um das äußere Recht geht. Im „Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten“, darin bestehe die honestas iuridica; „[m]ache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“, das sei die Pflicht (Kursivdruck: M.W.). Damit ist die rechtliche Ehrbarkeit in nichts weniger zu sehen als in der Behauptung der eigenen Würde, die im Kantischen Sinn als der spezifische Wert der Freiheit des Menschen zu verstehen ist, als „absolut[er] inner[er] Werth“107. Dieser soll nun auch äußerlich in Relation zu Anderen als (Selbst-)Zweck geltend gemacht werden. Das aber ist weit mehr, als im Sinn des äußeren Rechts einen klar abgesteckten und rechtsgesetzlich zugeteilten Raum äußerer Handlungsfreiheit zu behaupten.108 Vielmehr geht es um die Behauptung der „Freiheit überhaupt“ (§ 47), welche sowohl der Rechtslehre als auch der Tugendlehre gemein ist109. Darum ist die Forderung, ein rechtlicher Mensch zu sein, in gewisser Weise auch diejenige, überhaupt ehrbar zu leben (honeste vive) – ehrbar leben im Sinn des Vorzugs, ein freies Wesen zu sein110. 105

TL, § 4,5. Kersting 1984, 170-72, Pinzani 2005, 77 f. 107 TL § 4,5 sowie § 11,1-3, Kursivdruck: M.W, vgl. GMS, AA 04: 434.31436.07. 108 Vgl. Kersting 1984, 172, Fn. 226. 109 TL, Einleitung, XIV,1: „der Begriff der Freihe it, der jenen beiden [Rechts- und Tugendlehre] gemein ist“. 110 Vgl. TL, § 4,5 sowie Adelung 1793, 1649-1652. 106

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Die Freiheit überhaupt, deren Wert es hier zu behaupten gilt, ist aber genau jene Freiheit letztinstanzlicher materialer Selbstbestimmung, welche Kant angeblich „völlig frem[d]“ sei.111 Die zu behauptende Selbstzweckhaftigkeit des Menschen steht nach Kantischem Verständnis schließlich in Relation zu den „eigenen Zwecke[n]“ („Privatzwecke[n]“), „die ein jede[r] sich selbst setzen mag“. 112 In diesem Kontext (des Reichs der Zwecke) wurde aber auch der Würde-Gedanke eingeführt, als metastufiger Wert der „Gesetzgebung selbst […], die allen Wert bestimmt“: der „Autonomie“.113 Zwar ist deren Grundgesetz ein formales, kein materiales; es geht um die Gesetzesförmigkeit der Maximen. Doch die sind Ausdruck eines Wollens, das wiederum einen Gegenstand habe, eine Materie. Diesbezüglich bewirke die Form des Gesetzes lediglich, dass das Wollen ein freies sei, das nicht durch das determiniert ist, was gewollt werde: „Nun ist freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime“.114 Was man will, soll man in letzter Instanz selbst festlegen. Das aber ist letztinstanzliche und zugleich materiale Selbstbestimmung par excellence. Diese Selbstbestimmung gilt es schließlich in ihrer Partikularität und Materialität zu behaupten, wenn der Wert und Vorzug des Menschen geltend gemacht werden soll.115

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Vgl. wieder Kersting 2002, 50, 46 f., 66 sowie 1984, 281, 312-314. Christoph Horn nimmt dagegen an, 2014, 50-52, die Rechtslehre wolle nur der materialen Willensbestimmung gerecht werden, nicht aber der inneren (und nur formalen) Selbstgesetzgebung (Autonomie); letztinstanzliche und materiale Willensbestimmung stellt Horn einander gegenüber. 112 GMS, AA 04: 433.17-25. 113 GMS, AA 04: 434.25-436.07, insb. 436.02-07. 114 KpV, § 8, Anmerkung I. 115 So heißt es in der ›Tugendlehre‹ zum einen, das „Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen“, sei „das Charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede von der Tierheit)“, TL, Einleitung, VIII, 1,1 a). Zum anderen wird klargestellt, dass auch die „rein[e] practisch[e] Vernunft“ ein „Vermögen der Zwecke überhaupt“ ist: weil sie im Fall der Indifferenz gegenüber den partikularen und materialen Zwecken überhaupt „keine practische Vernunft sein würde“, TL, Einleitung, IX,5 und 6, Kursivdruck: M.W.

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Bei der Forderung des honeste vive handelt es sich jedoch zudem um eine innere Rechtspflicht. Deshalb mag die gebotene Handlung zwar darin bestehen, nach außen „seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten“, doch dieses Gebot ist nach innen gerichtet. Rechtlich gefordert ist primär eine „innere Haltung“, eine „Selbstbehauptung“.116 In gewisser Weise kann man also von einem inneren Schutz der äußeren Freiheit sprechen, der hier rechtlich geboten ist.117 Freilich ist dabei nicht zu vergessen, dass die honestas iuridica als positives Gebot formuliert ist, nicht nur die äußere Freiheit, sondern die „Freiheit überhaupt“ aktiv zu behaupten. Dennoch macht es Sinn, die Forderung des honeste vive „in erster Linie“ als „Verbot der Selbstversklavung“ zu verstehen.118 Sich gegenüber anderen „zum bloßen Mittel“ zu machen, würde nämlich heißen, sich „zum bloßen Werkzeuge“ ihrer Verfügung zu degradieren (vgl. Allg. Anm., D,4). Mit Blick auf solch eine Einstellung bestimmt Kant (ebd.) den Begriff des Sklaven („servus in sensu stricto“); „[o]hne alle Würde“ wäre ein solcher. Demnach liefe die Unterlassung der Befolgung der ersten (pseudo-)ulpianischen Rechtspflicht auf eine „Selbstentwürdigung“ hinaus; es wäre ein Akt, durch den man „auf seine ganze Freiheit Verzicht thut, mithin aufhört, eine Person zu sein“ (§ 30,3, Allg. Anm., D,4); von einer „Selbstauflösung menschlicher Willens- und Handlungsfähigkeit“119 müsste die Rede sein. Doch die soll nicht nur durch ein Verbot der Selbstversklavung verhindert werden, sondern eben durch das Gebot, aktiv „seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten“. Ähnliche Problematisierungen der Selbstversklavung finden sich bekanntlich in der naturrechtlichen Tradition, insbesondere aber bei Rousseau.120 Entscheidend ist jedoch, dass Kant mit diesem Problemzusammenhang die Kernelemente jenes antik-römischen Freiheitsdenkens in seine ›Rechtslehre‹ integriert – „das Herzstück der römisch-republikanischen Tradition öffentlichen Lebens“121 –, gegen welches Hobbes polemisierte. Entscheidend ist diesbezüglich „die Qualität des Menschen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein“. Sie er116

Pinzani 2005, 75, 78. Pinzani 2005, 75. 118 Pinzani 2005, 75 f., Kersting 1984, 171 f. 119 Kersting 1984, 171. 120 Pinzani 2005, 76, vgl. Rousseau, Contrat Social, I,4. 121 Skinner 2008, 11. 117

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wähnt Kant im Kontext des angeborenen Rechts der Freiheit, also ebenfalls im Bereich des honeste vive und der lex iusti.122 Das Dasein sui iuris, mitsamt der Fähigkeit aus und nach eigenem Recht zu handeln, stand nach dem antik-römischen Verständnis nämlich für die libertas des liber homo: sich in seiner eigenen Gewalt zu befinden und nicht in der Gewalt von jemandem anderen 123. Der hingegen, der letzteres sei, wäre ein Sklave und aller Freiheit beraubt. Zwar mögen ihm Freiheitsspielräume eingeräumt sein, in letzter Instanz unterstehe er aber nicht dem eigenen Willen, sondern einem fremden; er sei überhaupt kein echter handlungsfähiger Akteur.124 Mit Blick hierauf wird klar, dass das ideengeschichtliche Kampfgeschehen (vgl. Einleitung) bereits am Punkt des honeste vive der ›Rechtslehre‹ internalisiert ist: Der Wert der libertas soll äußerlich behauptet werden, durch eine Pflicht, die selbst wiederum aus dieser Freiheit entspringt. Das impliziert, dass es ein äußeres Kampfgeschehen gibt, in dem sich die Freiheit als wehrhafte Freiheit aufzustellen hat, will sie ihren Wert nicht einbüßen. Doch mehr: Dieses Kampfgeschehen wird durch die erste elementare Rechtspflicht zugleich in das Subjekt selbst hinein verlagert. Das honeste vive ist wie gesagt die Forderung nach einer inneren Selbstbehauptung der Freiheit, die freilich eine äußere zum Gegenstand hat. Damit wird das äußere Kampfgeschehen, sowie die Notwendigkeit, sich in ihm zu behaupten, ins Innere übertragen – wohl aber auch umgekehrt. Gefordert ist also eine innere Einstellung und Haltung, die als solche nicht äußerlich erzwingbar ist und zugleich den Gebrauch der Freiheit überhaupt festlegt. Solch eine Einstellung, vielmehr aber deren Gegeneinstellung, hat Kant im Ersten Stück der Religionsschrift125 bestimmt, indes nur allgemein-moralisch, nicht speziell moralisch-rechtlich:126 Eine oberste Maxime fungiere als „subjektive[r] Grund des Gebrauchs seiner [des Menschen] Freiheit überhaupt“. Durch sie werde entweder die Überordnung der Freiheit über die ei122

Vgl. Pinzani 2005, 75. Vgl. Digesta, 1.6: „De his qui sui vel alieni iuris sunt“. 124 Skinner 2008, 46, 12, Skinner 2006. 125 Dieser Text wurde unter dem Titel „Über das radicale Böse in der menschlichen Natur“ selbständig publiziert und kann meines Erachtens auch entsprechend (d. h. allgemein-moralisch) gedeutet werden, vgl. dagegen jedoch Klemme 1999, 127 f. 126 Vgl. insb. RGV, AA 06: 20.22-21.18 sowie 36.01-33. 123

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gene Glückseligkeit (Selbstliebe) festgelegt (gute oberste Maxime), oder deren Unterordnung (böse oberste Maxime). Zwar werden beiden Ordnungen mit Blick auf das Problem der Motivation („Ordnung der Triebfedern“, oberste Maximen) diskutiert, wovon an vorliegender Stelle der Einleitung in die Rechtslehre abstrahiert ist127. Die Haltungen selbst werden dort jedoch präzise in ihrer Logik bestimmt. Im Fall der freiheitsbejahenden Einstellung wird der unbedingte Wert der Freiheit – die Würde der Autonomie, welche allen Wert festlegt – als oberstes Prinzip des Freiheitsgebrauchs affirmiert und damit auch behauptet. Die freiheitsverneinende Einstellung hingegen maßt es sich an, das Handeln nach der Maßgabe dieser obersten Instanz grundsätzlich von jenen untergeordneten Wertgesichtspunkten selbst abhängig zu machen.128 Das Wollen ist infolgedessen durch externe Gesichtspunkte bedingt; Handlungen, die „über allen Preis erhaben“ sind, mithin „eine Würde“ haben, sind ausgeschlossen. 129 In gewisser Weise hat sich der Mensch daher mit der grundsätzlichen Unterordnung seiner Autonomie ‚verkauft‘: Er hat es innerlich aufgegeben, sich gegen sich selbst zu behaupten; folglich hat er nunmehr einen „Preis, für den er sich weggiebt“ 130. Daher ist es auch fragwürdig, ob er äußerlich für den Wert und die Würde der Freiheit einsteht, wenn er es innerlich nicht tut. Kant zufolge ist es allerdings (ähnlich wie bei Rousseau) nicht möglich, durch die Setzung der freiheitswidrigen Einstellung die Freiheit selbst gänzlich aufzulösen, sondern diese lässt sich nur degradieren.131 Entsprechend kann sie sich und ihren Wert subjektintern weiter behaupten, als reine praktische Vernunft. In diesem Sinn ist wohl 127

Darum gebrauche ich im Folgenden für die geforderte sowie für die abgelehnte Haltung nicht pauschal die Worte ‚gut‘ und ‚böse‘. 128 Vgl. Dörflinger 2008, 94: „Der Akt der Entscheidung für die Überordnung des sinnlichen Motivs […] kann auch verstanden werden als der freie Akt der Bejahung der Fremdbestimmung durch die eigene Bedürfnisexistenz, der zugleich freier Akt der Negation der moralischen Selbstbestimmung in der Selbstverpflichtung durch das Sittengesetz ist; kurz: er kann verstanden werden als freier Akt der Zustimmung zur Heteronomie und der Abweisung von Autonomie“. Darum spreche ich fortan ausdrücklich von einer freiheitsverneinenden Einstellung. 129 GMS, AA 04: 434.31-34. 130 RGV, AA 06: 38.35. 131 Vgl. z. B. RGV, AA 06: 27.27-28.24 sowie 46.01-10.

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letztlich auch das Aufstellen und Geltendmachen des honeste vive zu deuten.

5. Die Funktion des Postulats des öffentlichen Rechts in der Genese von Strukturen öffentlichen Rechts Mit dem Postulat des öffentlichen Rechts soll also allem voran auch die Rechtspflicht des honeste vive befolgt werden. Das macht das Postulat zu einer höchst anspruchsvollen Forderung: Jeder seiner Adressaten soll kooperativ „mit allen anderen“, aber auch gegen diese anderen, seine Freiheit und sein Recht behaupten, wie zugleich auch die Freiheit und das Recht dieser anderen – ein Übergang in einen „rechtlichen Zustand“ soll stattfinden, in dem „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“ (§ 42,1, Kursivdruck: M.W.). Nach Maßgabe der §§ 41 und 42 wird dieser Übergang jedoch wie gesagt lediglich als Übergang in den rechtlichen Zustand überhaupt bestimmt. Nicht in einen Staat soll man eintreten, sondern lediglich für die Existenz eines Gerichtshofes sei Sorge zu tragen. Damit klären die Übergangsparagraphen weniger den Übergang zum ‚Staatsrecht‘, als sie ihn zunächst einmal verdunkeln. Mit der Etablierung eines Gerichtshofes scheint das Postulat des öffentlichen Rechts nämlich bereits vollzogen zu sein, und mit ihm der gebotene Übergang. Weswegen es also eines weiteren Übergangs in einen Staat bedarf, ist noch fraglich; doch von dessen Notwendigkeit zeugt gerade das unmittelbar anknüpfende ‚Staatsrecht‘ als erster Abschnitt des Öffentlichen Rechts. Allerdings lohnt es sich, der Frage nachzugehen, wie es dazu kommt. Denn hierbei lässt sich die Funktion erkennen, welche das Postulat des öffentlichen Rechts in der Genese von Strukturen öffentlichen Rechts besitzt:132 Probleme, die sich in der Befolgung des Postulats stellen, lassen das Postulat selbst zum Problem werden. Soll es als solches weiter bestehen, müssen am Leitfaden des Postulats neue Strukturen generiert werden, die Abhilfe schaffen. Die Notwendigkeit des Übergangs in den Staat ließe sich also schließlich erklären, wenn man ein derartiges Problem ausfindig machen könn132

Zugleich gelangt man so zum systematischen Punkt der Kantischen Rechtsphilosophie, von dem aus Menschenrechte (im heutigen Sinn) begrifflich bestimmt, begründet und gegliedert werden können, vgl. Fulda 2013, 111-121.

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te. Deshalb nun mehr zur epistemologischen Funktion des Postulats des öffentlichen Rechts, und darum zuallererst ein Blick auf die Kantische Terminologie.133 Postulat und Problem werden in der ›Jäsche-Logik‹ zusammen innerhalb eines Paragraphen behandelt (§ 38). Die dortigen Ausführungen sind sehr hilfreich, auch das Postulat des öffentlichen Rechts in § 42,1 noch genauer zu verstehen. Ein „Postulat“ ist demnach „ein praktischer, unmittelbar gewisser Satz oder ein Grundsatz, der eine mögliche Handlung bestimmt, bei welcher vorausgesetzt wird, daß die Art, sie auszuführen, unmittelbar gewiß sei“ (§ 38,1).

Die unmittelbare Gewissheit besteht zwar auch für den Grund des Postulats, sofern es ein Satz ist, der auf nicht weiter beweisbaren Voraussetzungen beruht. Primär bezieht sich die Gewissheit aber auf die Ausführung der im Satz enthaltenen Forderung. Mit dieser Eigenschaft grenzt sich ein Postulat von einem Problem ab: „Prob le me (problemata) sind demonstrable, einer Anweisung bedürftige Sätze, oder solche, die eine Handlung aussagen, deren Art der Ausführung nicht unmittelbar gewiß ist“ (§ 38,2).

Ist man also Adressat eines Postulats, weiß man bereits durch den Satz und ohne besondere „Anweisung“, auf welche Art die Handlung auszuführen ist; und zudem weiß man, dass ihre Ausführung überhaupt möglich ist. Besinnt man sich auf das dritte Hauptstück des ersten Teils der Rechtslehre (§§ 36-40), so wird leicht verständlich, warum die im Postulat nach § 42,1 gebotene Übergangshandlung als praktisch unmittelbar gewiss und nicht der Anweisung bedürftig vorgestellt wird: Der Beginn der Befolgung, aber auch der Nicht-Befolgung besteht in einer simplen, doch „folgenreiche[n] Änderung eines Vorsatzes“ 134. Würde man sich (qua Vorsatz) entschließen, das Postulat des öffentlichen Rechts nicht zu befolgen, hätte man einfach die Einstellung der natürlichen Privatvernunft beizubehalten. Will man es hingegen befolgen, so gilt es, seine Privatvernunft in Rechtsangelegenheiten zurückzustellen und dem Gesichtspunkt der öffentlichen Vernunft Vor133 134

Vgl. die folgenden Ausführungen mit Fulda 2013, 206-110. Fulda 1997, 285.

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rang einzuräumen. Ein Einstellungswechsel in beide Richtungen dürfte dabei nicht zum Problem werden, da man es zwar mit „zwei verschiedenen“, doch „beiderseits wahren Gesichtspunkten“ zu tun hat (§ 36,3). Unterstellt wird durch ein praktisches Postulat wie gesagt, es sei „unmittelbar gewiß“, dass das Ziel des Übergangs erreicht werden kann; aber auch die Art, wie dies zu tun ist, sei ebenso gewiss. So legt das Postulat des öffentlichen Rechts die Art und Weise, wie sein Ziel erreicht werden soll, dadurch fest, dass es eine kooperative Befolgung einfordert: „mit allen anderen“, in gemeinsamer Praxis. Das Ziel selbst ist hierbei der Übergang in einen „rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit“. Eine ganz andere Frage ist indes, was man alles tun muss, um dieses Ziel zu erreichen. Doch aus Sicht des dritten Hauptstückes und der Übergangsparagraphen ist auch dies zuerst einmal unproblematisch. Denn vorerst sind die Adressaten des Postulates eben nur aufgefordert, gemeinschaftlich das Urteil eines „Gerichtshof[es] (forum)“ (§ 36,2) anzuerkennen. Und falls solch eine Instanz noch nicht etabliert ist, muss dies eben kooperativ nachgeholt werden. Dabei kann der Begriff dieser Instanz durch das Prinzip der öffentlichen Gerechtigkeit (vgl. § 41,1) als hinreichend bestimmt gelten. Was man also zu tun hat, ist klar. Grundsätzlich sagt ein praktisches Postulat selbst aber nichts darüber aus, was alles zu tun ist, um die von ihm geforderte Handlung auszuführen. Das nämlich ist problematisch im obigen Sinn; hierzu bedarf es der Anweisung in Form einer (Rechts-)Lehre. Allerdings dient einerseits die Zielvorstellung, andererseits aber auch das Wissen, dass und auf welche Art das Ziel zu erreichen ist, als Leitfaden dafür, all das Wissen zu generieren, was zur Ausführung der Handlung getan werden muss. Damit ist der Prozess der Befolgung des Postulats zugleich der Rahmen, in welchem ein Prozess der praktischen Erkenntnis vollzogen wird, die darüber belehrt, was genau zu tun ist, um die Forderung des Postulats zu befolgen – und so die vorerst problematische Ausführung im Sinn einer Aufgabe zu erfüllen. Eine ganz andere Art von Problem würde hingegen jener drohende Widerspruch zwischen dem Postulat des öffentlichen Rechts und der ersten (pseudo-)ulpianischen Rechtspflicht darstellen, auf den das dritte Hauptstück hindeutete. Mit ihm wäre das Postulat in seiner Geltung als Rechtsprinzip in Frage gestellt, womit es selbst zu einem problematischen Satz werden müsste. Behoben wurde diese

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rigkeit aber mit der Einrichtung der öffentlichen Gerechtigkeit auch nach dem Rechtsgesetz der lex iusti (§ 41,1). Bevor das Postulat des öffentlichen Rechts in § 42 aufgestellt wird, kann man also bereits sehen, dass es selbst – mitsamt dem, was es alles fordert – nicht statisch und unzerbrechlich für sich bestehen kann. Das allerdings impliziert die Lesart, derzufolge das Postulat des öffentlichen Rechts als „staatsrechtliche Gehorsamspflicht […] das Aushalten, das Erleiden von Unrecht“ verlange; und laut der die „staatliche Allmacht“ durch das externe, „anderenorts“ hervorgebrachte „Verfassungsprinzip“ des ursprünglichen Vertrags lediglich „domestiziert“ werden könne.135 Das Problem ist aber eben fundamentaler: Gefordert ist der Übergang in einen „rechtlichen Zustand“, verstanden als „dasjenige Verhältniß der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“. Hierbei ist die „öffentliche Gerechtigkeit“ das „formale Princip der Möglichkeit“ eines solchen Zustandes. Wenn jedoch die „öffentliche Gerechtigkeit“ von vornherein strukturell Unrecht produzieren würde, wäre ihr Prinzip nicht das der „Möglichkeit“ eines rechtlichen Zustandes, sondern das seiner Unmöglichkeit. Es würde gerade nicht bedingen, dass „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“. Von daher müsste das Postulat, in einen rechtlichen Zustand überzugehen, der Forderung gleichkommen, im nicht-rechtlichen zu bleiben. Das Postulat des öffentlichen Rechts hätte sich aufgelöst. Damit aber wäre für immer und unausweichlich „alles der wilden Gewalt, gleichsam gesetzmäßig, überliefer[t], und so das Recht der Menschen überhaupt um[ge]stürz[t]“. Die Rechtslehre wäre gescheitert. Eine neue Lesart ist also nötig, welche die Möglichkeit der Auflösung des Postulats des öffentlichen Rechts als Resultat befolgungsimmanenter Probleme mit einkalkuliert. Hierzu ist am Punkt der Befolgung des Postulats anzusetzen: Wie bereits vorweggenommen, ist durch die persönliche Formulierung des Postulats („du sollst“) das verpflichtete Subjekt identisch mit dem Leser (aber auch dem Autor) als einer im Hier und Jetzt stehenden Rechtsperson. Dabei wird die Kooperation „mit allen anderen“ in Rechtsbeziehungen kommen könnenden Subjekten als notwendig eingefordert. Zudem sind alle 135

Vgl. (exemplarisch) Kersting 1984, 374, 282 f.

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adressierten Subjekte Adressaten der drei (pseudo-)ulpianischen Rechtspflichten, die ebenfalls persönlich adressiert sind („Sei“, „Thue“, „Tritt […] in [… ein]“). Kraft dieser Doppeladressierung haben die Adressaten schließlich selbst für eine Praxis zufolge dem Postulat zu sorgen, die mit der Befolgung jener elementaren Rechtsgesetze vereinbar ist.136 Dabei ist die gebotene Befolgung des Postulats wiederum in doppelter Hinsicht zu verstehen: Nach dem Wortlaut des § 42 ist sie primär eine genuin praktische Angelegenheit; eine gemeinsame Praxis der Kooperation in der wichtigsten unter allen Rechtsangelegenheiten (§ 41,1) ist gefordert. Letztlich impliziert diese Forderung aber auch das Gebot, einen Prozess praktischer Erkenntnis zu vollziehen, und zwar der Erkenntnis von metaphysischen Anfangsgründen des Rechts in Form von Freiheitsgesetzen. Solche müssen generiert werden, sobald sich die gebotene Befolgung des Postulats als problematisch erweist.137

136 137

„Substanz-Erhaltung“ ist das Stichwort, vgl. Fulda 2013, 113 f. Zur Verdeutlichung der Interpretation ist es hilfreich, auf die von Kant immer wieder gebrauchte Sprache der Pathologie zurückzugreifen. Im übertragenem Sinn kann man sich die befolgungsimmanenten Probleme nämlich als Krankheiten denken, welche durch entsprechende Heilmittel überwunden werden können, die es aber erst zu finden gilt. Hierbei wäre eine derartige Krankheit als Krise zu verstehen und der befolgungsimmanente Prozess des Suchens und Findens von Heilmitteln als kritische Phase, welche ihrem Begriff nach ergebnisoffen ist. So gedeutet könnte man interpretativ den Charakter der Probleme berücksichtigen, die drohen, das Postulat des öffentlichen Rechts selbst aufzulösen. Denn im Fall einer solchen Krise stände zur Entscheidung, ob die Krankheit entweder eine positive Wendung nimmt, oder eine negative, letztlich mit letalem Ausgang. Letal wäre er, wenn sich das Postulat des öffentlichen Rechts auflösen würde. Und dieser Fall würde eintreten, wenn kein angemessenes Heilmittel gegen die anstehende Krankheit ge- oder erfunden werden könnte – also wenn die Vereinbarkeit des Postulats des öffentlichen Rechts mit der Befolgung der elementaren Rechtspflichten nicht prinzipiell gewährleistet werden könnte.

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6. Erläuterung und Zusammenfassung mit Blick auf die Kantische Terminologie der Epistemologie praktischer Erkenntnis Das Gesagte sei nun in Hinblick auf die Kantische Terminologie der Epistemologie praktischer Erkenntnis reflektiert, erläutert und zusammengefasst: Das Postulat des öffentlichen Rechts zu befolgen, ist laut den §§ 41 und 42 (1.) eine Rechtspflicht, die (2.) auf einem (Rechts-)Gesetz a priori gründet (§ 41,2) und deren Befolgung wiederum (3.) kraft eigenen Vorsatzes subjektiv affirmiert werden muss (vgl. § 42,2 und 3). Das Rechtsgesetz entspringt dabei wie jedes praktische Gesetz a priori der allgemein-moralischen Freiheitsgesetzgebung (Autonomie) reiner praktischer Vernunft – auch Rechtsgesetze sind aufgrund ihres Freiheitsursprungs moralische Gesetze (EMdS, I,8 sowie IV,2). Die reine praktische Vernunft ist in Hinblick auf Rechtsangelegenheiten jedoch die „reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft“ (Allg. Anm. E, I,6, Kursivdruck: M.W.). Mit Blick auf die Explikation der zwei konstitutiven Stücke jeder (Freiheits-)Gesetzgebung ist das so zu verstehen (EMdS, III,1): Erstens wird durch die Gesetzgebung eben „ein Gesetz“ gegeben, „welches die Handlung, die geschehen soll, objectiv als nothwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht“ (Kursivdruck: M.W.). Auf diese Weise wird „die Notwendigkeit einer Handlung vorstellig gemacht“, mit der Statuierung einer Pflicht zugleich aber auch „Verbindlichkeit“ erzeugt. Und die „Verbindlichkeit “ ist hierbei wiederum zu verstehen als „die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem categorischen Imperativ der Vernunft“ – all dies zunächst einmal allgemein-moralisch (EMdS, IV,4, einschl. eA, Kursivdruck).138 138

Kant unterscheidet zudem noch den Autor eines Gesetzes, der das Gesetz abfasst, vom Gesetzgeber als Verpflichtungsgeber, der nicht notwendig auch der Autor sein muss: „Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der G ese tzge b e r (legislator). Er ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes“, EMdS, IV, AB 28 f. Dass jedoch (a priori erkennbare) Freiheitsgesetze (moralische Gesetze) überhaupt keinen Urheber haben, geht aus dem abschließenden Teil des eben (nur unvollständig) zitierten Absatzes wohlgemerkt nicht hervor, was allerdings Hirsch annimmt, 2017, 223, 262. Denn dass Freiheitsgesetze Kant zufolge so „ausgedrückt“ werden können, Kursivdruck: M.W., dass sie einem „göttlichen Willen“ entspringen, der

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Zweitens wird durch die Gesetzgebung aber auch bestimmt, aufgrund welcher Motivation („Triebfeder“) diesem Imperativ Folge zu leisten ist. Doch die Gesetzgebung kann dies auch bewusst unbestimmt lassen. Denn die Bestimmung in puncto Motivation kann einmal so geschehen, dass die Idee der Pflicht selbst der subjektive Beweggrund („Triebfeder“) ist – oder die Bestimmung lässt es eben unbestimmt, aus welcher Motivation heraus das Gesetz befolgt und die Pflicht erfüllt werden soll (EMdS, III,2). Im ersteren Fall ist die Gesetzgebung dann eine ethische, im zweiten schließlich eine juridische – diejenige der rechtlich-gesetzgebenden Vernunft (ebd.). Hängt die Befolgung einer Pflicht nun aber zudem noch vom Beschluss eines subjektiv-innerlichen Vorsatzes ab, der die Befolgung dieser Rechtspflicht affirmiert, so heißt dies im Fall einer (inneren oder äußeren) Rechtspflicht: Es muss offen bleiben, aus welchen motivationalen Gründen dieser Vorsatz angenommen und befolgt wird. Ein Rückblick auf die ›Kritik der praktischen Vernunft‹ und die dort aufgestellten „Kategorien der Freiheit “139 zeigt indes: Genau an diesem Punkt ist eine terminologische Neubestimmung vonnöten, welche der Epistemologie genuin praktischer Rechtserkenntnis Rechnung trägt. Der „Tafel der Kategorien der Freiheit “ zufolge140 lassen sich nämlich Rechtsgesetze nach wie vor (der Quantität nach) als „[a] priori objective sowohl als subjective Principien der Freiheit“ deuten und Rechtspflichten (der Modalität nach) als vollkommene Pflichten – jener subjektive Vorsatz aber nicht mehr (der Quantität „lauter Rechte und keine Pflichten hat“, ohne ihn dabei „als Urheber desselben [bzw. derselben] zu denken“, will nur sagen: In dieser Betrachtung hat es allein darauf anzukommen, sich (einen derart souveränen) Gott als Verpflichtungsgeber vorzustellen, – zu (Freiheits-)Gesetzen, dessen Urheber man selbst ist, kraft reiner praktischer Vernunft. Was für schwerwiegende freiheitsphilosophische Konsequenzen jedoch ein Verzicht auf eben diese Urheberschaft hätte, das kann man wiederum an der „autonomietheoretischen“ Lesart von Hirsch ablesen, s. o. 139 KpV, AA 05: 65.27-57.23. Wie das Projekt der „Metaphysik der Sitten“ haben die „Kategorien der Freiheit“ die „Bestimmung einer fre ie n Willkür “ zum Gegenstand, vgl. EMdS, II,5, verstanden als Bestimmung der Freiheit, die ausschließlich durch die Freiheit selbst erfolgt, als Vermögen erstursächlicher Kausalität und letztinstanzlicher Selbstbestimmung. 140 Vgl. KpV, AA 05: 66.16-36.

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nach) als Maxime. Denn Maximen sind motivational bestimmend und bestimmt;141 doch besagter Vorsatz ist aufgrund seiner rechtlichen Bestimmung eben motivational unbestimmt. Zu erwägen ist daher eine punktuelle Erweiterung der Kategorien der Freiheit dahingehend, dass anstelle der (motivational bestimmten) Maxime auch eine (motivational unbestimmte) innere Einstellung oder Haltung stehen kann. Doch die wäre trotz ihrer Innerlichkeit nicht als (quasi-)ethische misszuverstehen – weil sie keine Maxime ist. Den Vorsatz zu beschließen, das Postulat des öffentlichen Rechts befolgen zu wollen, hat nach Kant oberste Priorität: Es sei „das Erste“, was einem „zu beschließen obliegt“, will man nicht „allen Rechtsbegriffen entsagen“ (§ 44,1) – denn ansonsten würde man „dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen, und alles der wilden Gewalt, gleichsam gesetzmäßig, überliefern“ (§ 42,3, Fn.). Diese Vorrangigkeit bedeutet jedoch wie gesagt nicht, das Postulat des öffentlichen Rechts müsse auf Kosten jener (elementaren) Rechtsgesetze (lex iusti, lex iuridica, lex iustitiae) und der von hier aus aufgestellten (elementaren) Rechtspflichten befolgt werden. Diese Rechtsgesetze sind nämlich wiederum als in dem Rechtsgesetz enthalten zu denken, auf dem das Postulat gründet, und entsprechend müssen die korrespondierenden Rechtspflichten in der Befolgung des Postulats zugleich mitbefolgt werden können – allem voran das honeste vive als Gebot der inneren und äußeren Behauptung der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung (der Autonomie). Das honeste vive ist nämlich als Gebot des Selbstschutzes der Freiheit zu verstehen, und zwar als Schutz vor einem Freiheitsgebrauch, der sich selbst verneint und damit auch den Grund aller Pflichten: die Autonomie. Mit dem zu beschließenden Vorsatz ist schließlich auch eine innere Haltung mit einzunehmen, die, in Analogie zur obersten Maxime des Guten, der Freiheit (Autonomie) oberste Priorität einräumt – aber eben keine Maxime ist.142 141 142

Vgl. KpV, AA 05: 67.15-20. Auch im Hinblick auf die elementare innere Rechtspflicht des honeste vive ist ein Blick auf die Tafel der „Kategorien der Freiheit“ erhellend, genauer, die „Taf el de r Kat egorie n de r Freihe it in A nse hung de r Be griff e des Gute n und Bösen“, KpV, AA 05: 66.16-3, Kursivdruck: M.W. Warum das honeste vive nämlich als innere Rechtspflicht der Freiheitsbehauptung eine elementare ist, lässt sich mit Blick auf die Kategorie der Relation erklären. Denn was mit der äußeren Behauptung

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Zuletzt muss das Rechtsgesetz, welches das Postulat des öffentlichen Rechts als Pflicht aufstellt, in zweifacher Richtung als integrativ gedacht werden: Einerseits hat es jene elementaren Rechtsgesetze in sich aufzunehmen, andererseits ist es aber auch selbst wieder auf eine offen-integrative Struktur hin ausgelegt, und zwar durch die spezifische Logik seiner Befolgung als praktisches Postulat. Wie dargelegt führt diese nämlich zur Genese weiterer Rechtsgesetze und -pflichten. Notwendig ist dies wie gesagt darum, weil das Postulat in seiner Befolgung nicht mit der Befolgung der in ihm enthaltenen elementaren Rechtspflicht in Widerstreit geraten darf. Dann nämlich würde sich das Postulat in seiner rechtsgesetzlich gegründeten Autorität auflösen; seine Befolgung käme seiner Nicht-Befolgung gleich und würde auf eine freiheitswidrige Praxis der Gewalttätigkeit hinauslaufen. Nur deshalb gilt es schließlich, weitere Rechtsgesetze und -pflichten öffentlichen Rechts zu generieren – allem voran metaphysische Anfangsgründe des öffentlichen Rechts. Doch diese Gesetze gilt es dann wiederum in zusätzlichen Schritten praktischer Erkenntnis zu systematisieren – hin zu einem „Gebäude“ öffentlichen Rechts (vgl. § 43). Aber: Wie viele Rechtsgesetze dies auch sein mögen, sie müssen in dem einen Rechtsgesetz enthalten sein können, auf welchem das Postulat des öffentlichen Rechts gründet. Das ist unabdingbar, sollen die Gesetze doch wie jene elementaren Rechtsgesetze und -pflichten in der Befolgung des Postulats mitbefolgt werden – mit entsprechender Haltung, versteht sich. Denn dass der eigenen Freiheit Priorität eingeräumt wird, ist nicht nur eine unabdingbare praktische Voraussetzung der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts, sondern

der Freiheit nach innen verteidigt werden soll, ist erstens die „Pe rsönlichkeit“ selbst, als diejenige Eigenschaft, welche eine Person zur Person macht, vgl. EMdS, IV, AB 22. Doch mit der (Freiheits-)Persönlichkeit ist eben auch der Grund aller Freiheitsgesetze und -pflichten zu behaupten und zu verteidigen: die Autonomie. Und diese elementare Eigenschaft steht zur Disposition, beschließt man, das honeste vive nicht befolgen zu wollen. Zudem wird mit der Verneinung der (Freiheits-)Persönlichkeit aber zum einen auch der innere und äußere Personenstatus verneint, zum anderen die interpersonale Interaktion mit anderen Menschen. Deshalb richtet sich das honeste vive (der Relation nach) zweitens auch auf „den Zustand der Person“ und drittens auf die wechselseitige Relation „einer Person auf den Zustand der anderen“.

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auch eine epistemologische genuin praktischer Vernunfterkenntnis metaphysischer Anfangsgründe des öffentlichen Rechts.

7. Ausblick auf das ‚Staatsrecht‘ Die gebotene Rechtspraxis stellt in mehrfacher Hinsicht die Weichen für das ‚Staatsrecht‘ und seine Rhetorik. Zuerst einmal wird durch sie die scheinbar starre Trennung von „Metaphysik“ und „Praxis“ aufgehoben, welche Kant gegen Anfang der Vorrede (Abs. 2) ankündigte. Dort hieß es, die „Metaphysik des Rechts “ sei von der „Praxis“ strikt zu trennen, nur erstere würde im Haupttext der Paragraphen ihre Berücksichtigung finden, nicht aber letztere. Damit wird mit Blick auf das ‚Staatsrecht‘ suggeriert, „die politische Dimension“ werde „systematisch“ ausgeblendet,143 vielleicht sogar „zugunsten einer theoretischen Selbstbezüglichkeit“;144 die „Welt des Gedankens“ (metaphysischer Anfangsgründe des öffentlichen Rechts) wäre klar von der „Welt der Tat“ getrennt.145 Dem steht jedoch der soeben explizierte Prozess der Genese von metaphysischen Anfangsgründen des öffentlichen Rechts entgegen: Die Metaphysik entsteht in genuin praktischer Erkenntnis aus der Rechtspraxis heraus und ist ein Teil von ihr; die „Welt des Gedankens“ entspringt der „Welt der Tat“ und ist zugleich praktisch auf sie zurückzubeziehen. Die geforderte Praxis ist dabei indes eine andere als die „empirische Rechtspraxis“ der bloßen „Anwendung“ von metaphysischen Anfangsgründen „auf in der Erfahrung vorkommende Fälle“. Doch allein von letzterer sprach die Vorrede.146 143

Ludwig 1988, 2 f. Mandt 1976, 304-306. 145 Vgl. Cassirer 1929, 291. 146 Kant nennt sein Werk zudem ›Metaphysik der Sitten‹ und deren zwei Teile jeweils „Metaphysische Anfangsgründe“, Kursivdruck: M.W. Doch der Ausdruck „Metaphysik“ darf hier nicht mit Ahistorizität gleichgesetzt oder als reine, abstrakte Theorie (fehl-)gedeutet werden, wie z. B. neuerdings von Macarena Marey, 2018, 566, 576, 579. Denn Kantische Metaphysik versteht sich als a priorische Bestimmung empirisch gegebener Begriffe und folglich als angewandte Metaphysik. So heißt der ›Kritik der Urteilskraft‹ zufolge ein „Prinzip metaphysisch, wenn es die Bedingung a priori vorstellt, unter der allein Objecte, deren Begriff empirisch 144

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Man kann also festhalten: Zwar mag die Vorrede einen apolitischen Charakter des ‚Staatsrechts‘ in Aussicht stellen, aber demgegenüber ist das ‚Staatsrecht‘ als Teil einer kooperativen Rechtspraxis auszulegen, als deren Agent der im Hier und Jetzt befindliche Leser persönlich identifiziert wird. Doch diese Praxis steht als Prozess permanent im Schatten möglicher Krisen, durch welche sie selbst fundamental in Frage gestellt wird. Diese Krisen werfen den Adressaten des Postulats vor den Stand des Postulats in § 42 zurück, weil sie die Unterordnung der Privatvernunft unter die öffentliche als prinzipiell fragwürdig erscheinen lassen. Ein weiteres Charakteristikum des Öffentlichen Rechts und ‚Staatsrechts‘ ist zudem: Die dort im Haupttext aufgestellten Anfangsgründe werden nicht explizit auf die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts zurückgeführt – wodurch der Prozess ihrer Erkenntnis im Dunkeln bleibt. Stattdessen sind die Anfangsgründe im lapidaren Stil einer Rechtslehre vorgetragen, der ebenfalls den Anschein dogmatischer Selbstbezüglichkeit erweckt. Gegen diesen Anschein gilt es jedoch, die dort aufgestellten Anfangsgründe in den gebotenen Praxiszusammenhang und Erkenntnisvorgang zu integrieren. Dies hat der Leser selbst zu leisten und nach § 42 eben nicht nur als Leser, sondern primär als der vom Postulat des öffentlichen Rechts direkt angesprochene Adressat desselben, der zudem auch der Adressat jener elementaren Rechtspflichten ist. Mit diesen Pflichten soll die Befolgung des Postulats schließlich im Einklang stehen. Aber noch mehr: Der Leser hat als Adressat des Postulats außerdem selbst zu überprüfen, ob die dort vorgelegten Anfangsgründe sich in den Rahmen seiner Befolgung integrieren lassen oder nicht. Und das gilt auch bezüglich der Vereinbarkeit mit den elementaren Rechtspflichten, allen voran dem honeste vive. gegeben sein muß, a priori weiter bestimmet werden können“, KU, Einleitung, V,1, Kursivdruck: M.W, vgl. Höffe 2001, 128-132, Simon 1996, 23436 sowie Simon 2003, 15. Darum kann man im ‚Staatsrecht‘ ein Programm erwarten, an dessen Anfang historisch gegebene, umstrittene und freiheitsrechtlich problematische Begriffe des neuzeitlichen Staatsdenkens stehen, die jedoch a priori so weiterbestimmt werden, dass sie mit der Freiheit harmonieren. So lässt sich schließlich systematisch erklären, warum im ‚Staatsrecht‘ unter dem Titel „Metaphysik“ ideengeschichtliche Positionen sowie zeithistorische Diskussionen ausgehandelt und entschieden werden.

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Letztlich ist aber auch hinreichend zu berücksichtigen, dass mit der sozusagen anarchischen Forderung des Postulats die Notwendigkeit des Staats vorerst aufgehoben ist: Wenn, dann ist das die Stunde Null der Kantischen Philosophie des öffentlichen Rechts.147 Vor dem Hintergrund der eben vorgelegten Logik, der gemäß die Anfangsgründe des öffentlichen Rechts generiert werden, ist aber auch klar: Diese sozusagen anarchische Forderung wird wohl zum Problem werden – weil es sonst kein ‚Staatsrecht‘ gäbe.

147

Vgl. dagegen Maus 2011, 162, wo in der „Konstruktion einer fiktiven Vertragssituation“ die „Stunde Null der modernen praktischen Philosophie“ gesehen wird.

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Hauptteil Interpretation des ‚Staatsrechts‘ von 1797

Zum Aufbau des ‚Staatsrechts‘ Die Interpretation des ‚Staatsrechts‘ sollte mit einem genauen Blick auf den Text-Aufbau beginnen. Denn bereits dadurch lassen sich Charakteristika des Werkabschnitts erkennen, die in der Kant-Literatur bislang keine Berücksichtigung fanden. Ganz offensichtlich ist jedoch zuerst einmal, dass im ‚Staatsrecht‘-Text drei Segmente voneinander separiert sind: Ein erster Block von Paragraphen ist durch eine „weitläufige“ Anmerkung (mit dem Titel „Allgemeine Anmerkung von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins“) getrennt von einem zweiten, der das ‚Staatsrecht‘ schließt. Im Gegensatz zum ersten Paragraphenblock steht dieser letzte unter einer Überschrift („Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“). Er umfasst drei Paragraphen, ersterer hingegen sieben. Hinsichtlich des ersten Paragraphenblocks ist bis jetzt allerdings unbeachtet geblieben, dass er eine von Kant oft verwendete „Bauform“148 aufweist – die jedoch nicht wie sonst durch die Überschriften der Paragraphen sichtbar gemacht ist, da die einzelnen Paragraphen im ‚Staatsrecht‘ unbetitelt bleiben. Für besagte Form ist ein symmetrischer Aufbau charakteristisch, nach dem – üblicherweise – eine Zahl homogen betitelter Paragraphen zu einem abweichend betitelten Zentrum hinführt und eine gleiche Zahl wiederum homogen betitelter Paragraphen von diesem Zentrum wegführt. 149 Durch diesen Aufbau wird ein „sichtbares Zentrum“ gebildet und somit „der zentrale Gedanke […] nicht nur diskursiv ausgeführt, sondern auch 148 149

Vgl. Brandt 2008, 41-43. So enthält die Erste Abteilung der Analytik der teleologischen Urteilskraft wie der erste Paragraphenblock des ‚Staatsrechts‘ ebenfalls sieben Paragraphen. Allerdings tragen die ersten und letzten drei Paragraphen dort homogen betitelte Überschriften, die alle mit dem Wort „Von“ oder „Vom“ beginnen, wogegen der mittlere, vierte Paragraph einen Thesentitel trägt. Das ergibt folgendes Bild: Von – Von – Von / Dinge, als Naturzwecke, sind organisierte Wesen / Vom – Vom – Von. Ähnlich ist auch die Einleitung der ›Kritik der Urteilskraft‹ gegliedert.

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anschaulich gezeigt“.150 Wie verhält es sich damit im ‚Staatsrecht‘ von 1797? Aus der Lektüre des ersten Paragraphenblocks geht zwar hervor, dass der mittlere, zwischen den ersten und den letzten drei Paragraphen stehende § 46 das Zentrum bildet, was sich letztlich auch in der Rezeption des Paragraphen abzeichnet: In ihm wird die (Rousseau’sche) Volkssouveränität begründet. Doch um ein „sichtbares Zentrum“ handelt es sich eben nicht, – was freilich nichts daran ändert, dass der erste Paragraphenblock die altbekannte „Bauform“ aufweist. Das aber ist wiederum charakteristisch für das ‚Staatsrecht‘, seine Rhetorik und letztlich auch für seine tatsächliche Architektonik: Strukturen inhaltlicher wie formaler Art werden als solche oft nicht äußerlich gekennzeichnet. Berücksichtigt man jedoch diesen Aufbau des ersten Paragraphenblocks, so besteht das ‚Staatsrecht‘ nicht nur aus drei Segmenten, sondern es enthält auch drei Triaden von Paragraphen (§§ 43-45 / § 47-49 / §§ 50-52) – zuzüglich eines außerordentlichen, zentralen (vierten) Paragraphen (§ 46). In Anlehnung an diese Konstellation werde ich meine Interpretation einteilen:

Erster Paragraphenblock Erste Triade Zentrum Zweite Triade

§§ 43-45 § 46 §§ 47-49

Allgemeine Anmerkung Zweiter Paragraphenblock Dritte Triade

150

§§ 50-51

Brandt 2008, 41 f., einem Hinweis von Ulrike Santozki folgend.

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A. Der erste Paragraphenblock: §§ 43-49 I. Die erste Sektion des ersten Paragraphenblocks: §§ 43-45

Einleitung Von den ersten drei Paragraphen (§§ 43-45) kommt dem letzten (§ 45) in der Forschungsliteratur besondere Bedeutung zu. Er wird als sehr wichtig angesehen für die weitgehend unumstrittene Architektonik des ‚Staatsrechts‘. Denn mit ihm leite Kant die Darstellung des „Staat[s] in der Idee“ ein, welche sich auf alle folgenden Paragraphen des ersten Blocks erstrecke, also auf die §§ 46-49, die das Kernstück des ersten Teils des ‚Staatsrechts‘ bilden. Alles, was im ersten Block dann ab § 45 gesagt werde, beziehe sich auf den „Staat in der Idee“ – auch und insbesondere die Rousseau’sche Volkssouveränität in § 46. Mit dieser Deutung des § 45 wird somit auch der spätere Übergang von Rousseaus nicht-repräsentativem Staat in § 46 zu Sieyes’ repräsentativem System in § 52 erklärt: Als „Staat in der Idee“ handele es sich beim Rousseau’schen Staat des § 46 um ein unerreichbares, doch bewunderungswürdiges „Ideal“ für „Götter oder Engel“; um ein „Gesetzgebungsverfahren unter Idealbedingungen“, das unter realen Bedingungen nicht verwirklicht werden könne. 151 So gesehen ist der Übergang zur sozusagen realistischeren Staatskonzeption im zweiten Teil des ‚Staatsrechts‘ unumgänglich. In besonderer Weise herausgestellt wird diese architektonische Funktion des § 45 durch die Neuedition des Rechtslehre-Textes, die Bernd Ludwig 1786 vorgenommen hat: Ludwig lässt das ‚Staatsrecht‘ mit § 45 beginnen, wozu er die §§ 43 und 44 aus dem ‚Staatsrecht‘ herausnimmt und vor dasselbe plaziert, und zwar unter die Überschrift der Übergangsparagraphen.152 Denn die §§ 43 und 44 würden angeblich „(noch) nicht vom Staatsrecht“ sprechen, „sondern vom öffentlichen Recht überhaupt (und von dessen drei Unterabschnitten eben einer das Staatsrecht selbst ist)“; in § 45 werde dann jedoch „der Begriff des Staates definiert“ und „damit das eigentliche Staatsrecht

151 152

Vgl. Ludwig 1999, 179 sowie Kersting 1984, 351. Ludwig 1988, 75-79 und 1999, 173.

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erst eröffnet“;153 und in den anschließenden Paragraphen erfolge aber eben ausschließlich die Bestimmung des Staats in der Idee.154 Ludwigs editorische Praxis mag sehr umstritten sein, doch der Sache nach steht sie im Dienst der gängigen Lesart. So versucht Michael Wolff wie gesagt gegen Ludwig nachzuweisen, dass die Reihenfolge, in der die Kantische Ausgabe von 1797 die Teile des ‚Staatsrechts‘ zur Darstellung bringt, für das Verständnis des Kantischen Textes „grundlegend“ ist.155 Aber auch nach Wolff bereitet schon der erste Absatz des § 45 darauf vor, „dass im ganzen folgenden Text nicht in erster Linie reale Staaten in Betracht gezogen werden sollen, sondern der »Staat in der Idee […]«“,156 – in den §§ 46-49 erfolge die „Darstellung der Idee des republikanischen Staates“.157 Entsprechend sagt Wolff dann bezüglich § 46, dass Kant hier „zu einer normativen Aussage übergeht“, die „keinen in realen Staaten bestehenden Sachverhalt mehr wieder[gibt]“, sondern sich auf „die gesetzgebende Gewalt in der Res publica noumenon“ bezieht. Befindet sich die gesetzgebende Gewalt „im Besitz des »vereinigten Volkes« (als der Gesamtheit der aktiven Staatsbürger)“, so sei sie ein „bloßes »Gedankending«“.158 Und von da aus wird direkt auf den zweiten Paragraphenblock hingedeutet, dem zufolge die respublica noumenon in einer repräsentativen Demokratie zu verwirklichen sei – gegen Rousseau 159. Obwohl Wolff also das ‚Staatsrecht‘ unter strikter Rückbindung an den Originaltext liest, kann seine Lektüre exemplarisch herangezogen werden für die Auslegung des Kantischen Textes in der Annahme jener zweigeteilten Architektonik, welche Ludwig durch seine Neuedition lediglich stützt. Im Folgenden werde ich eine ganz andere Deutung des § 45 vorlegen, für die jedoch ebenfalls gilt, dass „der Sinn der Reihenfolge, in der die Teile des Staatsrechts in der Ausgabe von 1797 stehen“ für das Verständnis desselben „grundlegend ist“. 160 Indem ich die §§ 4345 als Schritte und Stufen der Befolgung des Postulats des öffentli153

Ludwig 1988, 75; so auch Hirsch 2017, 311. Ludwig 1999, 173. 155 Wolff 2013, 57, 69 f. 156 Wolff 2013, 59. 157 Wolff 2013, 66 f. 158 Wolff 2013, 60 f. 159 Wolff 2013, 68. 160 Wolff 2013, 69 f., Kursivdruck: M.W. 154

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Erster Paragraphenblock, erste Sektion (§§ 43-45)

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chen Rechts lese, weise ich nämlich nach, dass ihre Reihenfolge in der Ausgabe von 1797 nicht beliebig ist. Dabei deute ich die Triade der §§ 43-45 vor der Begründung der Volkssouveränität im Zentrum des Paragraphenblocks als geschlossen vordemokratische Sektion des ‚Staatsrechts‘; die Triade nach § 46 hingegen als genuin demokratische Sektion. Auf diese Weise erfährt zum einen die „Bauform“ des ersten Paragraphenblocks interpretativ Berücksichtigung, zum anderen positioniere ich mich damit gegen die Praxis der Aussonderung der §§ 43 und 44 aus dem ‚Staatsrecht‘-Text. Zur Übersicht fasse ich meine Interpretation nun vorausgreifend zusammen: Ihr zufolge handeln die §§ 43 und 44 keineswegs nur „vom öffentlichen Recht überhaupt ([…] von dessen drei Unterabschnitten eben einer das Staatsrecht selbst ist)“161. In § 43 wird der Staat nämlich als (historisch) gegebener, aber problematischer Ausgangspunkt gesetzt. Als solcher ist er der Grund von neu auftretenden Schwierigkeiten, die in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts schließlich zur Rechtfertigung der beiden übrigen Formen des öffentlichen Rechts führen; vom ‚Staatsrecht‘ aus werden die zwei weiteren Abschnitte des öffentlichen Rechts immanent entwickelt. Begründet wird der Staat aber erst in § 44 mit der Weiterbestimmung des Postulats des öffentlichen Rechts zum Gebot, in den „bürgerlichen Zustand“ zu treten, also zum Staatsgebot. Es handelt sich in den beiden Übergängen der §§ 42 und 44 also nicht um einen „doppelten Übergang“ in den Staat;162 ein Staatsgebot liegt erst in § 44 vor. Dort ist es jedoch präzise dasselbe Freiheitsverständnis, dem das Postulat des öffentlichen Rechts schon in seiner ersten, sozusagen anarchischen Fassung gerecht wurde, das nun als Problem identifiziert wird, welches indes mit der Neuformulierung des Postulats als Staatsgebot sogleich überwunden werden soll. Auf diese Weise erfolgt die Begründung des Staats als ‚Heilmittel‘ im Kontext einer befolgungsimmanenten Krise des Umgangs mit dem Postulat des öffentlichen Rechts. Nun könnte man meinen, die §§ 43-45 würden es lediglich unbestimmt lassen, ob der Staat ein demokratischer ist oder nicht – wie es auch die neuzeitliche Staatslehre vor Rousseau suggeriert. Allerdings 161 162

Ludwig 1988, 75. So aber Ludwig 1988, 78.

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besteht das besagte ‚Heilmittel‘ darin, (dem Recht) jener problematischen (anarchischen) Freiheit letztinstanzlicher materialer Selbstbestimmung ein Ende zu setzen, und zwar durch die Übernahme des neuzeitlichen Modells der Souveränität, die ja bekanntlich durch eine ‚politische‘ Autorisation konstituiert werden muss. Doch mit diesem Schritt ist die Befolgung des Postulats zwangsläufig am ideengeschichtlichen Punkt der Hobbes’schen Position angelangt, – die aufgrund der Befürwortung des Prinzips der ‚politischen‘ Autorisation nur scheinbar eine potentiell-demokratische Position ist; tatsächlich hingegen ist sie eine antidemokratische (vgl. Einleitung). Dasselbe gilt für die erste Sektion des ‚Staatsrechts‘ von 1797. Hierüber geht das ‚Staatsrecht‘ jedoch vor Begründung der Volkssouveränität in § 46 nicht hinaus. Stattdessen ist zu erwarten, dass die derart als ‚Heilmittel‘ begründete Struktur in der weiteren Befolgung des Postulats allererst selbst wieder freiheitsrechtlich problematisiert werden muss, damit es überhaupt Anlass gibt, die Postulatsbefolgung zu modifizieren – hin zur Volkssouveränität. Weil der „Staat (civitas)“ vor einer solchen Begründung der Volkssouveränität aber noch gar nicht als autonome Bürgerschaft, also als civitas bestimmt ist, kann in § 45 auch noch nicht von einer (vollständigen) Definition desselben die Rede sein. Stattdessen erfolgt in § 45,1 die rechtsgesetzliche Herleitung einer konstitutiven Minimalstruktur, die ein jeder Staat aufweisen muss, um überhaupt ein Staat zu sein („die Form eines Staats überhaupt“, Kursivdruck: M.W.) und in § 45,2 dann die Bestimmung der Verwirklichungsbedingung dieser Minimalstruktur (die „drei Gewalten“). Der Staat allerdings, der diese konstitutive „Form eines Staats überhaupt“ aufweist, wird dort als „Staat in der Idee“ bezeichnet. Als Idee handelt es sich hierbei zwar um eine Vorstellung der Totalität, die aber eben nicht die Totalität eines vollständig bestimmten Idealstaates ist. Vielmehr steht der „Staat in der Idee“ in § 45 lediglich für die Abstraktion einer conditio sine qua non, ohne die kein Staat als Staat bestehen kann. Erstens wird daran ersichtlich, wie weit das ‚Staatsrecht‘ in § 45 noch von einer Definition des Staats entfernt ist, wenn selbst der „Staat in der Idee“ nur die Abstraktion einer minimalen Grundvoraussetzung ist. Die Annahme, dass Kant mit der Definition des Staats „das eigentliche Staatsrecht […] eröffnet“,163 ist aber auch methodo163

Ludwig 1988, 75, Hirsch 2017, 311.

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logisch fragwürdig. Kant war nämlich, wie später auch Hegel, 164 offenbar davon überzeugt, „daß in der Philosophie die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen als anfangen müsse“.165 Schaut man indes an das Ende des ‚Staatsrechts‘, so lässt sich keine Aussage mehr finden, die in Frage käme, den „Ehrennamen der Definition“166 zu tragen. Ob das ‚Staatsrecht‘ also überhaupt eine Definition des Staates darbietet, ist fraglich.167 Zweitens ist der Staat in der Idee aber auch durch seine rechtsgesetzliche Herleitung präzise bestimmt und dadurch eine in sich geschlossene Einheit. Darum besteht kein Grund, ihn projektiv und expansiv auf die folgenden §§ 46-49 zu beziehen, sodass all das dort Gesagte und vor allem das die Volkssouveränität Betreffende sich notwendigerweise auf diesen „Staat in der Idee“ bezieht. § 45 eignet sich dann freilich nicht mehr dazu, die Standard-Lesart des ‚Staatsrechts‘ zu stützen, die sich an der Annahme einer zweigeteilten Architektonik ausrichtet. Aber noch mehr: Drittens untergräbt § 45 auch aktiv die offensichtliche architektonische Zweiteilung des ‚Staatsrechts‘. Zum einen nämlich ist der „Staat in der Idee“ als Form eines Staats überhaupt eine konstitutive praktische Idee168 – die nicht mit den regulativen Ideen der theoretischen Philosophie gleichzusetzen ist,169 aber auch nicht als unerreichbares Ideal verstanden werden darf, zu dem man sich nur in unendlicher Annäherung hinbewegen könne. Denn: Die „Idee eines Staats überhaupt“ (§ 47) gilt es eben unbedingt und unmittelbar zu verwirklichen, wenn überhaupt ein Staat bestehen soll. Zum anderen legt § 45 mit den drei Gewalten aber auch die konstitutive Bedingung der Verwirklichung dieses und folglich jeden Staates fest. § 45 bestimmt damit sowohl den Staat in der Idee als auch die Bedingung seiner vollständigen Verwirklichung. Das geschieht wohlgemerkt im Rahmen ebenjenes ersten Teils des ‚Staatsrechts‘, der an164

Hegel, GPR, § 2. KrV, A 730 f./B 758 f. 166 KrV, A 730/B 758. 167 Vgl. Marx 2019, insb. 38, wo ein wichtiger Beitrag geleistet wird zur Erforschung der Art und Weise, wie Kant philosophisch schreibt. 168 Eine solche kennzeichnet sich vor allem dadurch, dass sie „durch Handeln wirklich wird“, vgl. Fulda 1997, 274. 169 Siehe allerdings für einen behutsamen Versuch von der Pfordten, 2009, 48 f. 165

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geblich nur den „Staat in der Idee“ zum Gegenstand habe, nicht aber dessen Verwirklichung in einer respublica phaenomenon. Dadurch wird (auch) die zweigeteilte Architektonik des ‚Staatsrechts‘ „unvermeidlich untergraben“ – und muss „endlich einstürzen“ (vgl. § 43, Satz 3). Soviel sei im Voraus zur ersten Paragraphen-Triade gesagt. Nun zu den §§ 43-45 im Einzelnen.

1. Zu § 43

1. Überblickschaffende Interpretation § 43 ist nicht in Absätze untergliedert, aber die drei Sätze, aus denen er besteht, sind jeweils durch einen Gedankenstrich voneinander abgetrennt und so als drei Teile kenntlich gemacht. Dabei umfasst der letzte Satz (und Teil) mehr als ein Drittel des Textvolumens. Im ersten Satz wird der Begriff des öffentlichen Rechts exponiert, im zweiten erfolgt eine weitere Bestimmung dieses Begriffs, und im dritten Satz wird daran anknüpfend schließlich die Notwendigkeit von Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht hergeleitet. Dies geschieht im Ausgang vom Staat, der als (historisch) gegeben vorausgesetzt, aber aus verschiedenen Perspektiven benannt wird. Vom Gegenstand des ersten (Text-)Abschnitts des Öffentlichen Rechts – dem Staat – wird somit die Notwendigkeit dieses Gegenstandes und des Abschnitts selbst aufgezeigt, wie auch des Themas der zwei weiteren (Text-)Abschnitte (und damit auch zweier weiterer Abschnitte der Lehre vom öffentlichen Recht, zusätzlich zum ‚Staatsrecht‘): Völkerrecht und Weltbürgerrecht. Darum kann man sagen, dass aus dem Staatsrecht heraus die jeweiligen Gegenstände der beiden folgenden (Text-)Abschnitte als „Formen des rechtlichen Zustandes“ erst (immanent) gerechtfertigt werden. Abschließend erfolgt ein Hinweis auf das systematische, doch fragile Verhältnis dieser drei Formen zueinander: Mangele es an einem Rechtsprinzip lediglich aufseiten einer dieser Formen, so müsse „das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden, und endlich einstürzen“ (Kursivdruck: M.W.). Die überblickhafte Lektüre des dritten Satzes verdeutlicht bereits drei Punkte: Erstens gibt der dritte Satz Zeugnis von jener

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lität der Erzeugung von Strukturen öffentlichen Rechts, die sich in einer Stufenfolge vollzieht und deren Schritte nicht zu vertauschen, aber auch nicht zu überspringen sind. Zweitens wird das von mir oben rekonstruierte Krisendenken im Rahmen der Befolgung des Postulats explizit als zur Systemlogik des öffentlichen Rechts gehörig erklärt: Wenn eine der drei Formen des rechtlichen Zustandes rechtlich mangelhaft strukturiert ist, dann führt dies zur Auflösung dieser Form als Form des rechtlichem Zustandes. Der rechtliche Zustand ist dann in Wahrheit ein nicht-rechtlicher, – was zugleich bedingt, dass sich auch alle anderen Formen des rechtlichen Zustandes zu nichtrechtlichen transformieren. Drittens kann aufgrund der prozessualen Genese der Formen des Völker- und Weltbürgerrechts unter der Voraussetzung des Staats aber bereits auch die Plazierung von § 43 im ‚Staatsrecht‘ als gerechtfertigt gelten, und sogar in der Lehre vom öffentlichen Recht innerhalb metaphysischer Anfangsgründe der Rechtslehre. Denn in § 43 geht es damit nicht nur um „das öffentlich[en] Recht überhaupt ([…] von dessen drei Unterabschnitten eben einer das Staatsrecht selbst ist)“,170 sondern um die Rechtfertigung der zwei folgenden Formen und Abschnitte, ausgehend vom Staat. Wie es allerdings zum Staat selbst kommt, wird in § 43 nicht reflektiert; er wird vorerst nur als (historisch) gegeben vorausgesetzt. Das ist sozusagen der blinde Fleck des § 43, – der in weiterer Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts indes dringend als solcher identifiziert und problematisiert werden muss.

2. Präzisierende Interpretation (Zu Satz 1:) Das Postulat des öffentlichen Rechts forderte nach § 42,1, in einen „rechtlichen Zustand“ überzugehen. Im Anschluss daran wird zu Beginn des Öffentlichen Rechts und ‚Staatsrechts‘ der Begriff des öffentlichen Rechts exponiert: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffe ntlic he Rec ht“ (Satz 1).

170

Vgl. Ludwig 1988, 75.

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Demnach ist der Gegenstand des öffentlichen Rechts auf das vom Postulat des öffentlichen Rechts vorgeschriebene Ziel hin ausrichtet: Es handelt sich um einen Komplex bestimmter „Gesetze“, der dem Zweck dienen soll, einen rechtlichen Zustand hervorzubringen („um […] hervorzubringen“, Kursivdruck: M.W.). Dazu „bedürfen“ die Gesetze „einer allgemeinen Bekanntmachung“, deswegen müssen sie öffentliche sein. Das rührt wohl auch daher, dass das vom Postulat des öffentlichen Rechts gebotene Ziel in einer öffentlichen Kollektivaktion erreicht werden muss: Es soll öffentlich vollzogen werden, „mit allen anderen“ (§ 42,1). Das Postulat selbst verbürgt jedoch wie gesagt nur, dass man das von ihm geforderte Ziel auch erreichen kann; was dazu getan werden muss, das wird von ihm im Ausdruck seiner Forderung („du sollst […]“) wohlgemerkt offen gelassen. Vonseiten der „Gesetze“, die das öffentliche Recht ausmachen, wird man solch eine Auskunft indes erwarten können. Sie sind explizit dem Ziel verschrieben, „einen rechtlichen Zustand hervorzubringen“, also den geforderten Endzustand zu erreichen, wohl aber auch zu bewahren. (Zu Satz 2:) Der zweite Satz bestimmt (1.) „das öffentliche Recht“ nicht nur als „Inbegriff“, also als geschlossenes Ganzes,171 sondern auch als „System von Gesetzen“ (Hervorhebung: M.W.). Damit wird auf eine innere Ordnung verwiesen. Zudem werden (2.) zwei mögliche Adressaten dieses Systems von Gesetzen festgelegt. Entweder ist der Adressat „ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen“ oder „eine Menge von Völkern“. Und beide Adressatengruppen, also beide Mengen entweder natürlicher oder juristischer Personen, haben (3.) folgendes gemein: a) Ihren Standpunkt: Die Gruppen-Mitglieder sind „im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend“. b) Ein Bedürfnis: Sie „bedürfen“ eines „rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Ve rf assung (constitutio)“. c) Den Bezug ihres Bedürfnisses als Mittel auf den übergeordneten Zweck: „dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“.

Mit diesen drei Punkten wird die standpunktabhängige Interessenlage der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts exakt rekapituliert, aber zugleich auch zweifach weiterbestimmt: Zum einen wer171

Vgl. Adelung 1796, 1372 f.

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den nun auch Völker berücksichtigt, zum anderen der Bedarf einer „Verfassung (constitutio)“ artikuliert, verstanden als „rechtliche[r] Zustan[d] unter einem sie [die Menschen und Völker] vereinigenden Willen“. Mit Blick auf diesen Zustand ist allerdings weniger die Verwendung des Begriffs „Verfassung “ neu; vielmehr ist er bereits aus § 41,3 bekannt: „Die Gesetze des letzteren [„des öffentlichen Rechts“] betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung)“, das Beisammensein der „Menschen unter sich“. In Rückblick auf den Begriff des rechtlichen Zustandes überhaupt (§ 41,1) lässt sich dieser Verfassungsbegriff als „Verhältniß der Menschen unter einander“ auslegen, in dem „allein jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“. Doch nach den Übergangsparagraphen konnte solch eine Verfassung bereits durch die Anerkennung einer Instanz distributiver Gerechtigkeit verwirklicht werden. Dazu musste noch kein Herrschaftsverhältnis mit seiner Rollenverteilung von imperans und subditus (vgl. § 47) eingerichtet werden. Denkbar war, dass die Adressaten des Postulats selbst nach dem „Grundsatz der distributiven Gerechtigkeit “ (§ 39,6) urteilen und situativ den Rechtsspruch der äußeren Instanz anerkennen – dadurch aber nach wie vor in letzter Instanz ihrem eigenen Kopf folgen. Entsprechend ließ sich der Verfassungsbegriff in § 41,3 als „Anarchie“ deuten im Sinn der ›Anthropologie‹: als Ordnung von „Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt“172 (vgl. Vorstudie). Hingegen ist in § 43 der Zielpunkt des „rechtlichen Zustandes unter einem sie [die Menge von Menschen] vereinigenden Willen“ nicht mehr jener (anarchische) rechtliche Zustand überhaupt. So wird der in Rede stehende rechtliche Zustand im dritten Satz explizit als der „bürgerliche“ bezeichnet. Vom bürgerlichen Zustand war in § 41 aber wie gesagt nur antizipatorisch die Rede, als besondere Form des rechtlichen Zustandes (vgl. Vorstudie). Der „bürgerliche“ Zustand ist nämlich eindeutig durch das Über-Unterordnungsverhältnis gekennzeichnet, das mit einer „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) einhergeht: Die Menschen stehen hier passiv unter einem Willen, dessen charakteristische Eigenschaft es ist, sie aktiv zu vereini-

172

Anth, AA 07: 330.30-331.02; den Begriff der Anarchie verstehe ich demnach im Gegensatz zu dem der Anomie.

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gen, was ihn zu einem höchsten überlegenen und darum wortwörtlich souveränen Willen macht. An dieser Stelle des § 43 ist das Wort „Verfassung (constitutio)“, aber auch dasjenige der „Vereinigung“ (vgl. § 45,1), freilich in zweifachem Wortsinn zu lesen: Zum einen bezeichnet es immer noch die horizontale Form des „Beisammenseins (Verfassung)“ der „Menschen unter sich“. Doch die Form und Verfassung ist nun als das Produkt oder Ergebnis des vereinigenden Willens anzusehen. Darum ist zum anderen aber auch die Tätigkeit dieses Willens selbst als „Verfassung“ oder „Vereinigung“ zu verstehen: Die Menschen bedürfen der „Verfassung“ oder „Vereinigung“ als Akt und Prozess eines sie aktiv-vereinigenden Willens. Worin dieses neue Bedürfnis der Menschen gründet, bleibt in 43 aber wie gesagt unausgesprochen. (Zu Satz 3:) Während der Begriff „Verfassung (constitutio)“ im zweiten Satz sowohl für den rechtlichen Zustand von Menschen und Völkern steht, wird er im dritten Satz ausschließlich auf den Zustand der Menschen festgelegt; von „Völkern“ ist vorerst keine Rede mehr. Diesem Zustand werden anhand drei verschiedener Perspektiven drei Namen zugesprochen: Betrachtet man ihn als „Zustand der Einzelnen im Volke, in Verhältnis untereinander“ so „heißt“ er „der bürgerliche (status civilis)“; nimmt man hingegen „das Ganze derselben, in Beziehung auf seine eigene[n] Glieder“ in den Blick, heiße er „der Staat (civitas)“; und der wiederum werde „seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein, das gemeine Wesen (res publica latius sic dicta) genannt“ (Kursivdruck: M.W.).173 Dass es sich hierbei nicht um (Real-)Definitionen handelt, geht bereits aus dem Gebrauch der Verben ‚heißen‘ und ‚nennen‘ hervor. Sie weisen darauf hin, dass man es eher mit einer „Namenerklärung“ zu tun hat: „d. i. diejenige, welche bloß zur Unterscheidung des Objects von allen andern zureicht und aus einer vollständigen und bestimmten Exposition des Begriffs hervorgeht“ (§ 5,1)174. Allerdings ist auch diesbezüglich noch Vorsicht angebracht, weil im Text selbst das Nennen noch durch die Passivform in distanzierender Rede ausgedrückt wird (‚wird genannt‘). Die letzte der zwei übrigen Benennungen verdeutlicht nämlich, dass das Genannt-werden auch ein 173 174

Vgl. Rousseau, Contrat Social, I, 6,10. Siehe zudem KrV, A 730 f./B 758 f.

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historisch gegebenes und zudem sehr fragwürdiges Sich-Nennen sein kann: Laut der vorletzten Benennung heiße das gemeine Wesen zuerst einmal „in Verhältniß […] auf andere Völker eine Macht (potentia) schlechthin“; im nächsten und abschließenden Schritt wird das gemeine Wesen dann aber überraschenderweise zum sich selbst benennenden Subjekt: „was sich aber auch wegen (anmaßlich) angeerbter Vereinigung ein Stammvolk (gens) nennt“ (Kursivdruck: M.W.). Das Sich-Nennen erweist sich als historische Begriffspraxis, die auf einer Anmaßung gründet. Zwar heißt das nun nicht, auch die ersten drei Staatsbegriffe seien bloße Anmaßungen. Aber dennoch ist es sinnvoll, auch sie als Rekapitulationen historisch gegebener Begriffe zu lesen, welche für die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts relevant sind. Empirisch Gegebenes ist es schließlich, das einerseits zu den ersten beiden Formen des öffentlichen Rechts zuallererst „zu denken Anlaß giebt“, und andererseits zu den beiden letzten „unumgänglich hinleitet“: einerseits ist es die anmaßliche Selbstbenennung staatlich verfasster Völker, andererseits die Begrenztheit des Erdbodens, welche den Stand der Wechselwirkung unausweichlich macht. Damit ist allerdings nicht gesagt, Kant übernehme unkritisch empirisch gegebene Begriffe – wie den des Staats – und erhebe sie ohne Begründung zu metaphysischen Anfangsgründen. Vielmehr gilt es in einer Kantisch verstandenen Metaphysik der Freiheit (vgl. Vorstudie, Fn. 146), diese Begriffe in einem Prozess praktischer Erkenntnis a priori weiter zu bestimmen: zu je einer Form des öffentlichen Rechts sowie zu einem System („Gebäude“) aller drei Formen, um der Hervorbringung eines rechtlichen Zustandes willen. Wenn es nämlich nur einer der „drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes“ an der Bestimmung durch Rechtsprinzipien fehlt, könne das Ziel der Etablierung eines rechtlichen Zustandes nicht erreicht werden – weil die drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes dann in Wahrheit nicht-rechtliche wären.175 Das gilt es zu vermeiden, und zwar vonseiten der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts selbst. 175

Vgl. Thiele 1998, 255-267, der in seiner Interpretation des § 43 das Postulat des öffentlichen Rechts sowie das durch seine Befolgung generierte System öffentlichen Rechts als „dreidimensional“ deutet. Thiele skizziert dabei, wie ein Defekt in jeweils nur einer der drei „Dimensionen“ den Bestand eines peremptorisch rechtlichen Zustandes aufs Spiel setzt, 259 f.

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2. Zu § 44

1. Überblickschaffende Interpretation § 44 reflektiert den blinden Fleck des § 43, indem er bestimmt, was die staatliche „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,1) notwendig macht. Diese wurde in § 43 wie gesagt einfach als (empirisch) gegeben vorausgesetzt. Im Rückblick auf das Postulat des öffentlichen Rechts war das durchaus irritierend. Denn das Postulat forderte in § 42 lediglich die Anerkennung eines Gerichtshofes, nicht aber die Etablierung einer Gewalt- und Herrschaftsstruktur (vgl. Vorstudie, 4.1). Von einer solchen Struktur ist nun aber in § 44 durchgehend die Rede, obgleich diffus: Von einer „äußere[n] machthabende[n] Gesetzgebung“ wird gesprochen, von „öffentlich gesetzliche[m] Zwang“, von „hinreichende[r] Macht“ (§ 44,1), einer „Recht ausübende[n] Gewalt“ (§ 44,2) und schließlich vom „bürgerlichen Zustand“ (eingerückter Absatz). Die Hauptarbeit bündelt § 44 im ersten Absatz; der zweite sowie der eingerückte Absatz haben hingegen erläuternden Charakter. Im ersten Absatz wird (1.) die Erfahrung und das Faktum des Bösen als Grund ausgeschlossen, aus dem sich die Menschen in einem anarchischen Zustand befehden und der Herrschaft letztlich notwendig mache; man könne die Menschen „so gutartig und rechtliebend“ denken, „wie man will“.176 Stattdessen liege es (2.) „a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes“. Doch darunter wird jetzt ein anarchischer Zustand verstanden, und das aus folgendem Grund (3.): „aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt , und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“. Der ultimative Grund also, der die Möglichkeit der Gewalttätigkeit schafft und Herrschaft notwendig macht, ist das subjektive Recht, völlig eigenständig und unabhängig in Angelegenheiten des Rechten und Guten zu urteilen und zu handeln, sich also diesbezüglich in letzter Instanz jeweils nur selbst zu bestimmen. 176

Im Gegensatz zur Religionsschrift, AA 06: 32.34-33.02, soll also nicht auf die „Menge schreiender Beispiele“ rekurriert werden, „welche uns die Erfahrung an den Thate n der Menschen vor Augen stellt“, vgl. Willaschek 1992, 151 ff. – Beispiele, die angeblich den „förmlichen Beweis“ von der Bösartigkeit der Menschen erübrigen.

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Das Böse muss daher nicht als Grund angenommen werden – und sei es nur in der ethisch neutralen Form jener freiheitsdegradierenden inneren Haltung, gegen die sich das honeste vive wendet (vgl. Vorstudie, 4.2). Weil nun aus diesem Recht die Möglichkeit der „Gewaltthätigkeit“ der „Menschen, Völker und Staaten“ folge, habe der Mensch (4.) mit oberster Priorität einen „Grundsatz“ zu beschließen, vorausgesetzt er wolle „nicht allen Rechtsbegriffen entsagen“. Dieser ist das principium exeundum est e statu naturali, das § 44,1 in Anlehnung an den Wortlaut des Postulats in § 42,1 aufstellt. Auf diese Weise wird das Postulat des öffentlichen Rechts neu bestimmt – und somit tatsächlich zum Staatsgebot. Im zweiten Absatz erfolgt (1.) der Hinweis, dass der natürliche Zustand des Menschen („sein natürlicher Zustand“), obgleich ein Zustand immer drohender Gewalttätigkeit, zwar kein „Zustand der Ungerechtigkeit (iniustus)“, aber doch einer der „Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus)“ sein dürfte. Ersterer (der „Zustand der Unge rechtigkeit “) besteht darin, „einander nur nach dem bloßen Maaße seiner Gewalt zu begegnen“, – was wohl die (satanische) „Maxime der Gewaltthätigkeit“ und letztlich die äußerste „Bösartigkeit“ der Menschen voraussetzen würde, von welcher der vorige Absatz sprach.177 Dagegen ist der Zustand der „Rechtlosigkeit“ lediglich dadurch gekennzeichnet, dass dann, „wenn das Recht streitig (ius controversum)“ ist, sich „kein competenter Richter findet, „rechtskräftig den Ausspruch zu thun“. Ein Modus, rechtlich zu handeln, war es immerhin laut dem vorigen Absatz, der die strukturelle Möglichkeit der Gewalttätigkeit bedingte: Der natürliche Zustand der Rechtsbefolgung generiert den Naturzustand – selbst dann noch, wenn nicht mehr nach dem Gesichtspunkt der Privatvernunft geurteilt wird, sondern nach dem Prinzip der distributiven Gerechtigkeit, letzteres jedoch nach eigenem Gutdünken. Schließlich wird in unmittelbarem Anschluss festgelegt, es gelte nicht nur, sich „mit allen anderen“ dahin zu „vereinigen“, sich einer Herrschergewalt „zu unterwerfen“ (Abs. 1), sondern (2.) zu diesem Übergang dürfe auch „jeder“ jeden Anderen „mit Gewalt antreiben“. Abschließend erfolgt (3.) eine Begründung für die Behauptung, der natürliche Zustand sei einer der

177

Vgl. RGV, AA 06: 37.18-23 sowie im ‚Staatsrecht‘: Allg. Anm, A,4, Fn. und E, I,1.

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Rechtlosigkeit. Hierauf bezieht sich (4.) der eingerückte Absatz am Ende des Paragraphen. Die Begründung (3.) setzt wieder am entscheidenden Punkt des Handlungsmodus an, „aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt , und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“. Es wird nämlich eingeräumt, dass – jeder „nach […] seinen [eigenen] Rechtsbegriffen“ – „etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann“. Einerseits wird damit ein Wille zum rechtlichen Handeln vorausgesetzt, andererseits verweist die Sperrung aber bereits auf das Problem. Die rechtlichen Handlungen erfolgen nämlich allein nach den eigenen Begriffen der Einzelnen. Aber auch diesbezüglich gilt: „daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird“178. Der Grund für die Behauptung wird nun darein gesetzt, dass solch eine „Erwerbung doch nur provisorisch ist, so lange sie noch nicht die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich hat“, und das aus zwei Gründen. Zum einen fehle die Bestimmung durch eine „öffentliche (distributive) Gerechtigkeit“; zum anderen sei die Erwerbung „durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert“. Abschließend (4.) argumentiert der eingerückte Absatz für die Notwendigkeit der Möglichkeit, bereits vor dem Eintritt in den bürgerlichen Zustand Erwerbungen provisorisch als rechtlich zu erkennen. Nur auf Basis von provisorischem äußeren Mein und Dein gäbe es diesbezügliche Rechtspflichten – und dazu sei letztlich auch das Gebot zu zählen, vom natürlichen Zustand in den bürgerlichen überzugehen. Deshalb müssten provisorische Erwerbungen bereits im natürlichen Zustand möglich sein.

2. Präzisierende Interpretation Das Postulat des öffentlichen Rechts forderte in § 42 lediglich die (freiwillige) Anerkennung eines Gerichtshofes, nicht aber die Etablierung einer staatlichen Gewalt- und Herrschaftsstruktur. So gesehen musste es irritieren, dass § 43 umstandslos den Staat als gegeben voraussetzte. Von diesem Standpunkt aus ist es allerdings noch irritie178

Anth, AA 07: 193.01-07.

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render, dass der vorstaatlich-anarchische Zustand nun § 44 zufolge als nicht-rechtlicher identifiziert wird, ja sogar als „Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes“. Denn damit erweist sich die Forderung des Postulats (in § 42), in einen rechtlichen Zustand überhaupt überzugehen, zunächst einmal als gleichbedeutend mit der Forderung, einen bestimmten nicht-rechtlichen Zustand zu bewirken, ja sogar die Vernunftidee desselben zu verwirklichen. Denn wenn man nur einen Gerichtshof ohne Herrschaftsstruktur institutionalisiert, wofür in den §§ 41 und 42 der rechtliche Zustand überhaupt stand, so etabliert man einen herrschaftsfreien, anarchischen Zustand. Doch dieser wird jetzt auf einmal als ein nicht-rechtlicher bezeichnet. § 44 gibt allerdings präzise an, worin das Problem in § 42 liegen musste: in „jedes seinem eigenen Recht zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“. Gewahrt wird dieses Recht freilich ganz sicher, wenn es nur geboten ist, ausschließlich einen Gerichtshof anzuerkennen. So war es durchaus denkbar, dass die Einzelnen selbst den Übergang vom natürlichen Zustand der Privatvernunft zu dem der öffentlichen Vernunft zustande bringen, indem sie nach dem Prinzip der letzteren handeln und auf dieser Basis den Urteilsspruch des Gerichtshofes situativ anerkennen (vgl. Vorstudie). Jetzt aber in § 44 heißt es auch, dass es das Recht hierzu ist (derart „zu tun“, was einem „recht und gut dünkt“), das die Möglichkeit von Gewalttätigkeit zwischen Menschen, Staaten und Völkern bedingt. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um irgendein Recht, sondern um dasjenige, welches die Kompatibilität des Postulats des öffentlichen Rechts mit der ersten elementaren Rechtspflicht (des honeste vive) sicherstellte – die im dritten Hauptstück des Privatrechts noch fragwürdig war (vgl. wieder Vorstudie). So verweist auch § 44 explizit in den Bereich der lex iusti, auf der das honeste vive gründet: Der zweite Absatz betont nämlich, dass der natürliche Zustand des Menschen eben keiner der „Ungerechtigkeit“ sein durfte, wobei diesem Wort das lateinische iniustus eingeklammert nachgesetzt wird („Ungerechtigkeit (iniustus)“). Der natürliche Zustand des Menschen („sein natürlicher Zustand“) ist nach § 44 schließlich nur ein Modus des grundlegenden (Rechts-)Interesses, „dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“ (§ 43). Dem gemäß kann man das „Recht zu tun, was ihm recht und gut dünkt , und hierin von der

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Meinung des Anderen nicht abzuhängen“ als das Recht des honeste vive deuten. Denn wie oben dargelegt musste das honeste vive als Pflicht einer umfassenden Freiheitsbehauptung gegenüber Anderen verstanden werden und dazu ist selbstverständlich auch die Behauptung des eigenständigen wie unabhängigen Urteilens und Handelns zu zählen – die Behauptung letztinstanzlicher materialer Selbstbestimmung. Sein „eigener Herr (sui iuris)“ zu sein, also aus eigenem Recht heraus zu handeln, darum ging es. Insofern das Postulat des öffentlichen Rechts in § 42 dieses subjektive Recht inkorporierte, lief es nicht Gefahr, mit der Rechtspflicht des honeste vive zu kollidieren: Weil der Spruch des Gerichtshofes in letzter Instanz vom Urteil der Einzelnen abhängig war, wurde der Befolgung des honeste vive oberste Priorität eingeräumt. Und deswegen war in § 42 der gebotene Endzustand einer, den man letztlich auch als anarchischen bezeichnen konnte. Doch nun wird das Recht, worauf die Kompatibilität des Postulats des öffentlichen Rechts mit der ersten elementaren Rechtspflicht gründet, als Ursache immer noch möglicher Gewalttätigkeit identifiziert. Mit diesem Problem ist die erste Krise in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts erreicht: Will man einen rechtlichen Zustand (überhaupt) verwirklichen, bewirkt man einen nicht-rechtlichen. Noch mehr, man arbeitet eben sogar an der Verwirklichung der „Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes“. Die Befolgung des Postulats läuft damit auf seine Nicht-Befolgung hinaus; ein Übergang vom nicht-rechtlichen Zustand in den rechtlichen ist so unmöglich. Die öffentliche Vernunft hätte sich damit im Bestreben, Recht anstatt „Gewalt (violentia)“ zu bewirken (vgl. § 42,1) genauso unvermögend erwiesen wie die Privatvernunft. Nicht nur das Postulat des öffentlichen Rechts könnte nicht weiter als solches bestehen, sondern auch die praktische Vernunft hätte sich in Rechtsangelegenheiten als inkompetent erwiesen. Diesbezüglich kann man von einer Krise sprechen. Denn die praktische Vernunft befindet sich nun in einer Notlage, die sie an den Punkt einer unumgänglichen Entscheidung drängt: Einerseits hat sie die defizitäre Struktur eigenverantwortlich selbst produziert; andererseits hängt es jetzt von ihr ab, diese so neu zu arrangieren, dass sie als praktische Vernunft wieder mit sich selbst in Übereinstimmung kommt. Dabei kann sie freilich auch scheitern. Die in § 44 dargelegte Strategie besteht nun wie gesagt darin, das Postulat des öffentlichen Rechts neu zu formulieren:

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„man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, ges etzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten“.

Anstatt lediglich einen anarchischen rechtlichen Zustand als Ziel zu setzen, wird nun offen gefordert, „vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand [zu] treten“ (Kursivdruck: M.W.) – das Postulat des öffentlichen Rechts wird zum Staatsgebot. Mit Blick auf das Problem wird dabei zum einen der Naturzustand, den es zu verlassen gilt, als einer charakterisiert „in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt“. Zum anderen ist die Übergangshandlung dahingehend modifiziert, dass sie von einer nur unbestimmt als öffentlich festgelegten Kooperations-Praxis („mit allen anderen“) zu einer Praxis fortbestimmt ist, „sich mit allen anderen […] dahin [zu] vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen“ (Kursivdruck: M.W.). Gefordert ist nun also eine öffentliche Vereinigungshandlung, die auf eine Unterwerfungshandlung zielt. Bezüglich letzterer ist zwar nur davon die Rede, „sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen“. Doch mit dem Verb ‚unterwerfen‘ ist präzise der Akt der Etablierung des „sie vereinigenden Willen[s]“ vor § 44 (in § 43) auf den Begriff gebracht, zugleich aber auch derjenige der Einsetzung der „Herrschergewalt (Souveränität)“ nach § 44 (in § 45). Zudem wird im zweiten Absatz aber auch die Praxis öffentlicher Unterwerfung durch die Kompetenz ergänzt, widerspenstige Menschen hierzu mit Gewalt anzutreiben. Die Strategie, die Forderung des Postulats des öffentlichen Rechts auf diese Weise präzisierend neu zu formulieren, kann in mehrfacher Hinsicht als erfolgreich gelten, wenn man sich vor Augen hält, worin § 44 das zu überwindende Problem sieht – darin nämlich: dass „jeder seinem eigenen Kopfe folgt“. So wird, erstens, der Zustand, in den es einzutreten gilt, nun als einer festgelegt, „darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt […] wird“. Die Bestimmung des Rechtsspruches ist dadurch an ein Gesetzgebungswerk zurückgebunden. Damit wird auf eine sprachlich und

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grifflich homogene Rechtspraxis abgezielt, die dem Chaos entgegenstehen und -wirken soll, dass jeder nach seinen eigenen „Rechtsbegriffe[n]“ urteilt und handelt, wie „ihm recht und gut dünkt “. Zweitens soll dem Einzelnen die so bestimmte Anerkennung des Seinen durch „hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist)“ zu Teil werden. Der Gedanke ist hier derjenige des „externalistischen Institutionalismus“, die sogenannte Rechtslehren-Logik:179 Man kann auch zur Befolgung eines gerichtlichen Urteils gezwungen, also rein äußerlich motiviert werden, und zwar durch die Triebfeder (das Motiv) der Abneigungen (EMdS, III,2.). Damit soll verhindert werden, dass man im Fall einer Divergenz zwischen dem eigenen und dem gerichtlichen Urteil ersterem Folge leistet. Das war das Hauptproblem des anarchischen Zustandes. Dass bloß äußerer Zwang aber nicht zur ultimativen letztinstanzlichen Willensbestimmung ausreicht und daher höchstens zweitrangig sein kann, ist spätestens seit Hobbes klar. Solch eine Lösung wäre aber auch mit der Kantischen Freiheitsphilosophie unvereinbar. Denn ihr zufolge kann man weder durch eine äußere noch durch eine innere Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden, es sei denn man nimmt die bestimmende Triebfeder kraft freier Willkür in seine Maxime auf – oder präziser: man beschließt sie als Grund- und Vorsatz (vgl. Vorstudie, Kap. 6).180 In der Literatur ist diese Annahme als Incorporation Thesis bekannt.181 Darum ist es drittens nötig, dass sich die Menschen „dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen“ (Kursivdruck: M.W.); die Willensbestimmung durch äußeren Zwang muss von den Menschen selbst wiederum gewollt werden, als praktischer Grundsatz. Das aber heißt, dass sie es wollen müssen, in Rechtsangelegenheiten nicht mehr primär ihrem eigenen Kopf zu folgen, sondern nunmehr der Bestimmung durch eine äußere Triebfeder Vorrang einzuräumen. 179

Vgl. Kersting 2002, 68, 50. Denn RGV, AA 06: 23.03-24.05: „die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofe rn de r Mensch sie in s eine Maxime aufge nomme n hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten w ill ); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen“. 181 Allison 1990, 147. 180

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Viertens zielt die kollektive Vereinigung aber auch und vor allem auf eine Unterwerfung „unter“ einen die Menschen „vereinigenden Willen“ (§ 43, Kursivdruck: M.W.). Das Verb ‚unterwerfen‘ hieß nach dem damaligen common sense immerhin primär, sich „von seiner oder eines andern Gewalt abhängig machen“, „dessen höchste Gewalt über sich thätig erkennen“.182 So lässt sich im Rückblick auf § 43 in der Neuformulierung des Postulats eine bemerkenswerte Spiegelung feststellen: Die Vereinigung der Willen von oben ist bedingt durch die Vereinigung der Willen von unten. Die Notwendigkeit dessen entspringt dabei derselben Grundannahme über die „Freiheit der Willkür“ und ihre „absolut[e] Spontaneität […] ([…] Freiheit)“, die als Incorporation Thesis bekannt ist: Wenn Menschen nach dem Eintritt ihrer natürlichen Mündigkeit (vgl. § 30,1) nicht nach ihrem eigenen Willen und Urteil handeln, sondern unter „Leitung eines anderen“ stehen, dann muss diese Unmündigkeit „selbst verschulde[t]“ sein.183 So wird auch im übernächsten § 46 der naturaliter Unmündige vom civiliter Unmündigem unterschieden, welcher eben selbstverschuldet unmündig ist (§ 46,2); anders ausgedrückt: im „Reich […] der Freiheit“ ist „niemand Sklave (Leibeigener) […], als der, und solange er es will“184. Darum letztlich muss der Willensvereinigung von oben eine Willensvereinigung von unten vorausgehen. Nach dieser Grundannahme der Freiheitsphilosophie ist die Anerkennung einer fremden, äußeren Instanz als Instanz letztinstanzlicher Willensbestimmung nämlich nur möglich, wenn sie als eigene und innere Instanz anerkannt, also internalisiert wird. Dem entspricht nun exakt die Logik der ‚politischen‘ Autorisation, – ja (Fremd-)Herrschaft überhaupt ist freiheitsphilosophisch betrachtet ganz grundsätzlich auf eine derartige Willens-Autorisation angewiesen.185 Mit dem letzten (vierten) Punkt, der die vorigen drei in sich einschließt, liegt die ultimative Lösung des Problems vor, das die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts gefährdete, aber auch das 182

Adelung 1801, 933 f. WA, AA 08: 35.01-13. 184 RGV, AA 06: 82.01-06. 185 Dieser Gedanke geht wie gesagt weniger auf Hobbes zurück, sondern vielmehr auf jene „democratic gentlemen“, die in Rekurs hierauf ihre „parliamentarian theory of popular sovereignity“ freiheitsphilosophisch rechtfertigen wollten – und in Hobbes einen erbitterten Gegner fanden, vgl. Skinner 2018, 198 ff., 207-211, 211 ff. 183

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Postulat selbst: Wenn sich alle Menschen gemeinschaftlich einem einzigen Willen unterwerfen und diesen als letzte Instanz ihrer Willensbestimmung anerkennen, dann folgt im Grunde keiner mehr seinem Kopf, sondern nur noch dem Kopf dieses einen Oberhaupts. Das problematische „Recht“ des Menschen, „zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“ wäre aufgehoben – mitsamt der Willenskompetenz hierzu, die unter dem Schutz dieses Rechts steht (Kursivdruck: M.W.). Damit ist das Postulat des öffentlichen Rechts nicht nur auf dem Niveau der neuzeitlichen Staatslehre vor Rousseau angelangt; vielmehr hat es sich auch das zentrale Prinzip der Hobbes’schen Staatsphilosophie zu eigen gemacht (vgl. Einleitung). Denn die (durch und durch freiheitsfeindliche und antidemokratische) Logik der Hobbes’schen Autorisation ist es letztlich, welche das befolgungsimmanente Strukturproblem behebt. Dass dieses Prinzip aber nicht nur eine hohe Problemlösungskompetenz mit sich bringt, sondern selbst wiederum praktische Probleme ersten Ranges aufwirft, liegt auf der Hand. Denn wie soll man in Befolgung des honeste vive seine Freiheit und Würde gegen andere rechtlich behaupten, wenn man nicht mehr in letzter Instanz seinem Kopf folgen können darf? Und in der Tat: Vom Standpunkt der weiteren Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus gesehen wird sich genau das als Problem erweisen.

3. Zu § 45

1. Überblickschaffende Interpretation § 43 setzte den Staat begrifflich voraus, ohne ihn zu begründen; § 44 begründete den Staat, ohne ihn begrifflich zu bestimmen. So deuteten die dort verwendeten Begriffe zwar auf die „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) hin, und schließlich wurde das Postulat des öffentlichen Rechts in § 44,1 explizit als Gebot reformuliert, „vor allen Dingen“ in einen „bürgerlichen Zustand“ zu treten, also in den Staat. Der bürgerliche Zustand stand nach § 43 immerhin für denselben Gegenstand, der dort auch „Staat“ genannt wurde. Trotzdem

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blieb die Rede in § 44 weitgehend diffus, vom Staat wurde nicht explizit gesprochen. Dem steht nun kontrastierend § 45 gegenüber, was bereits bei oberflächlicher Lektüre ersichtlich ist. Dessen zwei Absätze beginnen nämlich beide mit Bezug auf den Begriff „Staat“: der erste damit, zu sagen, was ein Staat ist („Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“); der zweite gibt an, was ein jeder Staat in sich enthält („Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica)“). Hierbei geht auch hervor, dass der „Staat“ von der „Herrschergewalt (Souveränität)“ begrifflich zu differenzieren ist: Letztere ist in ihm enthalten, doch darum eben nicht mit ihm als Ganzem zu identifizieren. Im Vergleich mit § 43 fällt allerdings auch auf: Der Begriff „Staat (civitas)“ ist in keinem der beiden Absätze des § 45, aber auch nicht in § 44, durch Sperrung des Worts hervorgehoben – obwohl erneut und sehr präzise mit Sperrungen gearbeitet wird. Daher wird der Blick des Lesers – selbst angesichts der vermeintlichen Definition am Anfang des § 45 – nicht auf den Staatsbegriff gelenkt, aber auch nicht auf das, was von ihm gesagt wird. Stattdessen ist im ersten Absatz der Ausdruck „Staat in der Idee“ gesperrt hervorgehoben; im zweiten sind es hingegen die „drei Gewalten “ sowie das, was über sie ausgeführt wird. Was also kraft der Hervorhebungen im Zentrum steht, ist nicht der Begriff oder gar die Definition des Staates selbst, sondern jeweils ein wichtiges Moment desselben. Der erste Absatz weist folgende Schritte auf: Zunächst wird im ersten der beiden Sätze gesagt, dass ein Staat „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ ist (1.). Die eigentliche Bestimmung des Absatzes erfolgt jedoch daran anschließend im zweiten Satz (2.): Sofern die in Rede stehenden Rechtsgesetze bestimmter Art sind, nämlich „a priori nothwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend“ (Vordersatz), sei die „Form“ des Staats „die Form eines Staats überhaupt“ (Nachsatz, Kursivdruck: M.W.). Damit ist die Form hergeleitet, die jeder besondere Staat nachweisen muss, damit er überhaupt ein Staat ist (vgl. die Rede vom rechtlichen Zustand überhaupt in den §§ 41 und 42). Entsprechend ist im abschließenden Relativsatz von derjenigen Form die Rede, „welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient“ (Kursivdruck:

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M.W.). Weil es sich hierbei um die „Form eines Staats überhaupt“ handelt, ist die Norm als conditio sine qua non zu verstehen: Falls ein Staat diese rechtsgesetzlich bestimmte Form nicht aufweist, ist er überhaupt kein Staat – höchstens ein angeblicher, jedenfalls keiner, der so zu heißen verdient. Dieser Staat überhaupt wird jedoch in einer Parenthese mit einem weiteren Namen versehen sowie kurz erläutert (3.): Er sei „der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprincipien sein soll“. Orientiert man sich an der Sperrung, so ist dies der zentrale Punkt des Absatzes. Zugleich lenkt die Sperrung aber auch davon ab, dass der „Staat in der Idee“ lediglich eine nachgeordnete Bezeichnung für denjenigen Staat ist, dessen Form einem jedem Staat zugrunde liegen muss, soll er überhaupt einer sein. Der zweite Absatz stellt gleich zu Beginn die Klarheit und Deutlichkeit her, die in den §§ 43 und 44 in puncto „Herrschergewalt (Souveränität)“ fehlte: Genau „drei Gewalten“ sind es, die jeder Staat in sich enthalte. Allerdings wird diese Dreiheit („trias politica“) in unmittelbarem Anschluss als Einheit eines „allgemein vereinigten Willen[s] in dreifacher Person“ expliziert. Dunkel ist freilich (1.), was unter einem „allgemein vereinigten Willen“ zu verstehen ist. Zuvor war nur vom vereinigendem Willen die Rede (§ 43), nicht aber davon, dass dieser zugleich ein vereinigter sei – obwohl man davon ausgehen muss, dass es sich hier in § 45,2 um denselben Willen handelt. Zudem ist mit der Rede von einem „allgemein vereinigten Willen“ aber auch noch nicht zwangsläufig der „allgemein vereinigte Volkswille“ zu verstehen, von dem im nächsten § 46,1 die Rede sein wird (Kursivdruck: M.W.). Das bedarf der Erläuterung. Dunkel ist zudem (2.) die Rede von einem „Willen in dreifacher Person“. Doch wie dies zu verstehen ist, wird nach dem Kolon dargelegt und dann in § 48 weiter ausgeführt. Die Darlegung erfolgt in zwei Schritten: Zuerst wird gesagt, welche der drei Gewalten in welcher Person korporiert ist oder in Erscheinung tritt: „die He rrsc he rge walt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollzie hende Ge walt in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die re c htsprec he nde Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria)“.

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Bereits hieraus geht hervor, warum von einem Willen in dreifacher Person die Rede ist. Denn insofern die zweite und die dritte Gewalt „zu Folge“ und „nach dem Gesetz“ handeln, führen sie den gesetzgebendem Willen aus und sind darum seinem souverän-überlegenen Wollen untergeordnet. Somit gibt es nur eine „Herrschergewalt (Souveränität)“ und nur einen souveränen Willen im Staat. Bezüglich dieser Darlegung wird dann lapidar festgestellt: „gleich den drei Sätzen in einem practischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Ges etz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist“.

Zwar scheint es so, als handele es sich bei der Anordnung der drei Gewalten nach den drei Sätzen des praktischen Syllogismus lediglich um eine Analogie. Doch aus der Ausführung geht hervor, dass auch die Tätigkeit der drei Gewalten nach diesem Modell strukturiert ist.186 Zugleich verdeutlicht dies aber auch, dass es sich lediglich um die Momente der Praxis eines Willens handelt, dessen Funktionen zwar getrennt sind, aber auch wieder „so ineinander greifen, daß sich daraus ein praktischer Syllogismus ergibt“187 – zum Zweck, die Menschen dahin zu vereinigen, dass jeder „seines Rechts theilhaftig werden kann“ (§ 41,1). Auf diese Weise soll der mit dem Postulat des öffentlichen Rechts erhobenen Forderung genüge getan werden.

2. Präzisierende Interpretation Die Reformulierung des Postulats des öffentlichen Rechts in § 44 forderte eine fundamentale Neuausrichtung des Standpunktes und der Perspektive seiner Adressaten: Anstatt ihren je eigenen Köpfen zu folgen, sollen sie sich nun zusammen vereinigen, um sich alle gemeinsam dem obersten gesetzgebenden Willen zu unterwerfen. Dabei blieb jene „Menge von Menschen“ des § 43 der vorrangige Adressat – obwohl in § 44,1 auch von Völkern und Staaten die Rede war. Denn das Postulat wurde ausschließlich als Forderung reformuliert, 186 187

Fulda 2001, 12. Fulda 2001, 12.

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in einen „bürgerlichen Zustand“ zu treten, was Völker und Staaten nicht betrifft, zumindest nicht direkt. Genau diese „Menge von Menschen“ steht nun auch im Mittelpunkt der Aussage, die zu Beginn des § 45 über den Staat getroffen wird: „Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“. Die Formulierung knüpft dabei eng an den Wortgebrauch des § 43 an und dadurch wiederum an den dort bestimmten Praxiszusammenhang. An erster Stelle verweist die Bestimmung des Staats als „Vereinigung einer Menge von Menschen“ auf den zweiten Satz des § 43. Demnach bedarf eine „Menge von Menschen“ einer – dort im dritten Satz „Staat (civitas)“ genannten – „Verfassung (constitutio)“ als „des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen“ (Kursivdruck: M.W.). Vereinigung und Verfassung waren zwei Worte für ein und dieselbe Sache. Dabei ist der Begriff „Verfassung“ jedoch aufgrund des Bedürfnisses nach Vereinigungstätigkeit eines Willens doppeldeutig auszulegen: als horizontale „Form“ des „Beisammenseins (Verfassung)“ der „Menschen unter sich“ (§ 41,3), aber auch als Verfassungstätigkeit eines vertikal über den Menschen mit ihren jeweiligen Eigenwilligkeiten stehenden Willens. Dasselbe gilt für den Begriff „Vereinigung“. Dem gemäß kann man auch die vorliegende Stelle des § 45 so lesen, dass der Staat einerseits die Form einer horizontalen Verfassung der Menschen unter sich ist, andererseits aber auch der Prozess fortwährender Formgebung qua Willensaktivität. Allerdings heißt es in § 45,1, ein Staat sei „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (Kursivdruck: M.W.). Auch damit wird auf § 43 rekurriert. Denn zur Hervorbringung eines rechtlichen Zustandes bedurfte es nicht nur eines vereinigenden Willens, erforderlich war zuerst einmal „ein System von Gesetzen“ für besagte „Menge von Menschen“, so die ersten beiden Sätze des § 43. Mit der Rede von der Vereinigung unter Rechtsgesetzen wird jedoch die vertikal-prozedurale Dimension der Vereinigung durch einen vereinigenden Willen dem Blick entzogen und das Moment der horizontalen Verfassung – die „Form“ des „Beisammenseins“ – rückt in den Vordergrund. Dieser Perspektivenwechsel lässt sich mit Rekurs auf das dritte Kapitel der Einleitung in die Metaphysik der Sitten auslegen; auf diese Weise ist zugleich aber auch die architektonische Zweiteilung des § 45 zu deuten. Nun stellt nach besagtem Kapitel der Einleitung (Abs.

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1) ein „Gesetz“, als erstes Stück „aller Gesetzgebung“, lediglich eine „Handlung, die geschehen soll, objectiv als nothwendig“ vor. Und sofern das Gesetz mehrere Handlungssubjekte betrifft, kann man sagen, dass es eine horizontale Vereinigung ihrer Handlungen vorschreibt. Doch das prozessuale Moment, wie diese Handlung wirklich werden soll, ist allein mit dem Gesetz noch nicht gegeben. Es muss in einem äußerlich hinzutretenden „zweite[n] Stück“ hinzugefügt werden, so dieselbe Stelle der Einleitung. In Anlehnung an diese Differenzierung kann man die Zweiteilung des § 45 wie folgt auslegen: Im ersten Absatz wird zuerst bestimmt, dass ein Staat „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ ist; dann wird infolge einer Spezifikation der Rechtsgesetze die „Form eines Staats überhaupt“ festgelegt, welche durch diese Gesetze bestimmt sei. Hiermit erfolgt zugleich eine Anspielung auf die Rede von der „rechtliche[n] Form“ des horizontalen „Beisammenseins (Verfassung)“ der „Menschen unter sich“ in § 41,3. Diese horizontale Vereinigung oder Verfassung tritt jedoch im zweiten Absatz in den Hintergrund – und der sie prozessual hervorbringende Wille rückt wieder in den Vordergrund. Dessen Gewalt wird allerdings präzise als eine bestimmt, die darauf angelegt ist, auf eine klar strukturierte Weise jene horizontale Vereinigung oder Verfassung nach Rechtsgesetzen hervorzubringen: In § 45,2 wird der Zielpunkt des Willens in der „Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz“ festgelegt (Kursivdruck: M.W.), wodurch eine rechtliche Verfassung der Menschen unter sich prozedural wirklich wird, in der „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“ (§ 41,1). Und dieses Ziel soll erreicht werden, indem der Wille über die Menschen als gesetzgebende, Gesetze vollziehende und nach Gesetzen rechtsprechende Gewalt verfügt. Auf diese Weise wird der vereinigende Wille als immanente Verwirklichungsbedingung des Staates bestimmt, – des Staates als horizontaler Vereinigung der Menschen unter Rechtsgesetzen.

2.1 Näheres zu § 45,1 Die zentrale Bewegung des ersten Absatzes ist wie gesagt der Schluss von den jeweiligen Rechtsgesetzen auf die Form des Staates: Die Rechtsgesetze, nach denen die Vereinigung einer Menge von Menschen erfolgt und besteht, bestimmt die Form des Staates, verstanden als solch

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eine Vereinigung. Und die „Form eines Staats überhaupt“ – dann auch „Staat in der Idee“ genannt – liegt vor, „[s]o fern diese [Gesetze] als Gesetze a priori nothwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend (nicht statutarisch) sind“. Wie ist das zu verstehen? Zuerst einmal ist das eingeklammerte „(nicht statutarisch)“ nicht misszuverstehen. Zwar sollen die Gesetze keine „positive[n] Gesetze“ in dem Sinn sein, dass sie, „ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden)“ (EMdS, IV, AB 24). Trotzdem gehören sie aber auch zu jenem „Inbegriff“ oder „System von Gesetzen“, „die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen“ (§ 43). Kurz: Auch sie sind als Gesetze, die eine Vereinigung einer Menge von Menschen hervorbringen sollen, notwendig „öffentliche“. Allerdings sollen sie nicht allein auf Satzung, also Statuten beruhen, sondern a priori als „nothwendig“ erkennbar sein – da sie „aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend“ seien. Was es mit diesen „Begriffen des äußeren Rechts überhaupt“ auf sich hat, wird jedoch nicht weiter erläutert. In der Kant-Forschung gibt es diesbezüglich eine Interpretation, die allerdings nicht explizit auf § 45 Bezug nimmt, – obwohl sie sich vorzüglich dazu eignet, den dort so bezeichneten „Staat in der Idee“ zu deuten. Diese Interpretation hat Peter König vorgelegt: 188 König weist nach, dass sich in beiden Teilen der Metaphysik der Sitten Abschnitte befinden, in denen „die Grenze zwischen der rationalen und der statutarischen (oder empirischen) Rechts- bzw. Tugendlehre überschritten“ wird. Im Fall der Rechtslehre ist dies der episodische Abschnitt des Privatrechts (§§ 32-35), wobei es sich um eine „Übergangslehre in Gestalt einer Rechtslehre überhaupt“ handele. Für sie sei charakteristisch, „dass sie sowohl den Bereich des Naturrechts wie den des statutarischen umfaßt“; in ihr gehe es um die Frage, „wie das Recht insgesamt beschaffen sein muß, sofern man von seinen naturrechtlichen und seinen statutarischen Attributen abstrahieren kann“. Der Begriff von einem Recht überhaupt zeichne sich hier nun dadurch aus, dass er sich auf eine „dem Naturrecht wie dem statutarischen Recht gemeinsame objektive Realität bezieht“. Und nach den Bestimmungen des episodischen Abschnitts des Privatrechts stehe 188

König 1999, 147-151, König 2001.

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dieser Begriff für „das in der Idee gedachte, reine und ganz intellektuelle Rechtsverhältnis, das allem Naturrecht, aber auch allem statutarischen Recht zugrunde liegt (sofern es sich überhaupt um Recht handelt)“. Durch folgende „minimale Eigenschaften“ sei dieses Verhältnis ausgezeichnet: (1.) „absolute (gesetzliche) Sicherheit des Rechts (öffentliche Befreiung von allen Ansprüchen)“ (2.) „absolute (gesetzliche) Kontinuität des Besitzrechts (es gibt keine herrenlosen Sachen)“ (3.)„absolute (gesetzliche) Vollständigkeit der Rechtsgemeinschaft (alle Menschen sind zur Teilnahme berechtigt)“. 189

Dem lässt sich von meiner Seite hinzufügen, dass sich diese drei gesetzlichen Bestimmungen auch aus den drei Rechtsgesetzen herleiten lassen, auf denen die drei (pseudo-)ulpianischen Rechtspflichten gründen (ERL, AB 43 f.), aber auch die drei Sphären der öffentlichen Gerechtigkeit (§ 41,1). Aber noch mehr: Die „Rechtslehre überhaupt“ vermag es, kraft dem Begriff von einem Recht überhaupt, auch „über das Naturrecht hinaus einen Maßstab für die Einrichtung der Gesetze im öffentlichen rechtlichen Zustand und für die Beurteilung ihrer Vernunftmäßigkeit“ zu geben.190 Damit legt König den Schlüssel zum Verständnis des § 45,1 und der dortigen Rede vom „Staat in der Idee“ vor, – ohne indes auf § 45 ausdrücklich Bezug zu nehmen. Doch dies lässt sich leicht nachholen: Nach dem ersten Satz des § 45,1 ist ein Staat wie gesagt die horizontale Vereinigung, Verfassung oder Form des Beisammenseins der Menschen unter Rechtsgesetzen. Hinsichtlich dieser Rechtsgesetze kann man nun allerdings auch ausschließlich diejenigen Gesetze in den Blick nehmen, die aus besagtem Begriff von einem Recht überhaupt und aus den unter ihn fallenden „Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend sind“ (Kursivdruck: M.W.), – also aus besagten drei minimalen Eigenschaften. Wenn man sich das (staatliche) Zusammensein der Menschen dann ausschließlich nach diesen minimalen gesetzlichen Bestimmungen konstituiert vorstellt, so denkt man einen Staat, dessen „Form die Form eines Staats überhaupt“ ist, – also einen Staat, dessen Form jedem besonde189 190

König 1999, 151. König 1999, 151, wo auf OP, AA 21: 178.13-30 verwiesen wird.

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ren Staat zugrunde liegen muss, damit er überhaupt ein Staat ist. Für nichts weniger, aber auch für nichts mehr als für diese Form steht schließlich „der Staat in de r Ide e , wie er nach reinen Rechtsprincipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inne ren) zur Richtschnur (norma) dient“.

2.2 Näheres zu § 45,2 Wie ich bereits oben feststellte, ist laut § 45,2 der Wille in dreifacher Person die immanente Verwirklichungsbedingung eines jeden Staats, insofern er als „vereinigende[r] Will[e]“ (§ 43) die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ konstituiert und formiert, welche der „Staat (civitas) ist“ (§ 45,1). Doch damit ist dieser Wille zugleich die Verwirklichungsbedingung besagter Minimalform eines Staats überhaupt, die ein jeder besondere Staat aufweisen muss, soll er überhaupt ein solcher sein. Kurz, er ist die conditio sine qua non der conditio sine qua non. In der Angabe dieser zwei unabdingbaren Bedingungen ist schließlich das Resultat des § 45 und seiner zwei Absätze zu sehen und an dieser Stelle abschließend festzuhalten: § 45,2 gibt die konstitutive Bedingung der Verwirklichung jener Form an, die § 45,1 als für jeden Staat konstitutiv aufstellt. Das bedeutet aber eben auch: Den „Staat in der Idee“ gilt es als konstitutive Idee zu verwirklichen, damit ein Staat überhaupt ein Staat ist – und die drei Gewalten in ihm (der souveräne Wille in dreifacher Person) können und sollen dies leisten. Somit gibt § 45 an, was am nunmehr erreichten Punkt in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts zu tun ist: Jetzt ist darauf zu achten, dass zwei minimale Bedingungen erfüllt sind, damit ein Staat als konstituiert gelten kann. Dass der souveräne Wille im Kontext des § 45 allerdings lediglich als der „allgemein vereinigt[e] Will[e]“, nicht aber schon als der „allgemein vereinigte Volkswille“ (§ 46,1) bezeichnet wird (Kursivdruck: M.W.), ist lediglich Ausdruck des erreichten Niveaus in der Befolgung des Postulats. In § 44,1 wird nämlich nur die kollektive Vereinigung zu einer Unterwerfungspraxis als Gebot aufgestellt, nicht aber bereits die Volkssouveränität eingefordert. Dazu würde es eines weiteren Begründungsschrittes bedürfen – der in § 46 schließlich auch

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erfolgt, wo dann entsprechend auch vom „allgemein vereinigte[n] Volkswille[n]“ die Rede sein wird (Kursivdruck: M.W.). Vor dieser Begründung gilt es aber eben, den „allgemein vereinigten Willen“ in Rückbindung an das in § 44,1 neu formulierte Postulat des öffentlichen Rechts vordemokratisch zu lesen: Der souveräne Wille soll die Menschen unter sich vereinigen, ist selbst aber wiederum konstituiert durch die Vereinigung dieser Menschen, sich ihm zu unterwerfen. Das macht ihn zu einem „allgemein vereinigten Willen“: Zum einen ist der Wille allgemein durch den gemeinsamen Vereinigungs- und Unterwerfungsakt der Menschen gegründet; zum anderen müssen im Zuge der Unterwerfung aber auch alle Einzelwillen in diesem Willen allgemein vereinigt werden. Denn erst wenn die Ansprüche dieser Einzelwillen, sich letztinstanzlich selbst bestimmen zu können, im souveränen Willen aufgehoben sind, kann dieser überhaupt erst ein letztinstanzlich verfügender souverän-überlegener Wille sein. Vom Gesichtspunkt der Freiheitsphilosophie aus ist das – mitsamt der Autorisation dieses Willens – die formale Bedingung des Bestandes einer vor- und vorerst nichtdemokratischen „Herrschergewalt (Souveränität)“.

2.3 Verdeutlichung mit Blick auf die Forschungsliteratur § 45 kommt nun tatsächlich eine besondere Bedeutung für die Gesamt-Architektonik des ‚Staatsrechts‘ zu – das allerdings nicht, weil er die offensichtlich-zweigeteilte Architektonik desselben stützt, sondern weil sich von ihm aus die angebliche Systematik bereits als falsch und bloß scheinbar erkennen lässt. Dieselbe Einteilung nämlich, welche die Architektonik des ‚Staatsrechts‘ (im Großen) kennzeichnet, ist bereits mit dem zweigeteilten § 45 (im Kleinen) realisiert: Im ersten Teil wird der „Staat in der Idee“ bestimmt, und zwar vollständig, im zweiten die Bedingung, unter der dieser verwirklicht werden kann, auch wiederum vollständig. Dass in den §§ 45-49 also ausschließlich der Staat in der Idee dargestellt werde und erst später dessen Verwirklichung in einer respublica phaenomenon, wird damit eindeutig widerlegt – und somit die Autorität jener angeblichen Architektonik des ‚Staatsrechts‘ in Frage gestellt (oder bildlicher gesprochen: „untergraben“, vgl. § 43, Satz 3).

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Angesichts meiner soeben vorgelegten Interpretation erweisen sich aber auch zwei Grundannahmen der Standard-Interpretation des Staats in der Idee als unhaltbar, und mit ihnen auch die Funktion, welche diese Annahmen in der übergeordneten Architektonik-Interpretation einnehmen. Dies ist zum einen: der „Staat in der Idee“ in § 45 sei lediglich eine regulative Idee, die entweder nicht oder nur unvollständig verwirklicht werden könne; zum anderen: der in § 45 thematisierte Staat in der Idee erstrecke sich expansiv auf die folgenden §§ 46-49, wodurch das dort Gesagte ebenfalls nicht oder nur unvollständig verwirklicht werden könne. Beim „Staat in der Idee“ handelt es sich jedoch wie dargelegt um eine rechtsgesetzlich präzise bestimmte Minimalbedingung, die ein jeder Staat aufweisen muss, um überhaupt ein Staat zu sein. Genau darum ist sie einerseits keine weit entfernte und bloß regulative Idee, die einen Spielraum der Verwirklichung zulassen würde; sie ist eine konstitutive conditio sine qua non. Als solche muss sie andererseits wiederum klar abgegrenzt und in sich geschlossen sein, ist es aber auch durch ihre rechtsgesetzliche Bestimmung. Zwar kann man noch nicht sagen, hiermit liege eine vollständig bestimmte Definition des Staats in seiner Totalität vor.191 Denn was ein „Staat (civitas)“ im Sinne einer Definition „ist“, kann in § 45 allein deshalb noch nicht vorliegen, da bis jetzt noch nichts über den „Staatsbürger (cives)“ (§ 46,2) ausgesagt worden ist und folglich auch noch nichts über den Staat als Bürgerschaft (die civitas). Aber mit dem „Staat in der Idee“ liegt trotzdem bereits eine klar abgegrenzte und in sich geschlossene Totalität vor: insofern er als minimaler und unverzichtbarer Kern eines jeden Staats bestimmt ist. Weil es sich beim Staat in der Idee aber um solch eine in sich geschlossene Minimalbedingung handelt, gibt es schließlich keinen Grund, die Anfangsgründe der §§ 46-49 pauschal unter den Titel „Staat in der Idee“ zu subsumieren, geschweige denn die Verwirklichung dieser Anfangsgründe mit Rekurs auf die Lehre von den regulativen Ideen in Frage zu stellen. Man beachte eben auch: Wir haben es mit einer Idee im Prozess genuin praktischer Vernunfterkenntnis zu tun, nicht aber im Kontext theoretischer Erkenntnis. Das betrifft zum einen die Volkssouveränität, zum anderen die Gewaltenteilung. Mit Blick auf die Forschungsliteratur ist hinsichtlich 191

Vgl. Ludwig 1988, 75 sowie Hirsch 2017, 311.

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ersterer erneut zu rekapitulieren, dass die §§ 43-45 insgesamt eine vordemokratische Sektion des ‚Staatsrechts‘ bilden, als civitas wurde der Staat noch nicht bestimmt. Um eine „Staatsbegründung ohne Demokratiebegründung“192 handelt es sich darum, aber auch die Gewaltenteilung und letztlich der „Staat in der Idee“ bestehen vorerst vollständig unabhängig von der Volkssouveränität.193 Auch deshalb gibt es keinen textimmanenten Anlass, den „Staat in der Idee“ bereits auf die Volkssouveränität bezogen zu lesen. Dagegen besteht jedoch ein Zusammenhang zwischen der Gewaltenteilung und dem Staat in der Idee. Doch dieser ist gerade nicht darin zu sehen, dass die Gewaltenteilung als bloße Idee nicht physisch zu verwirklichen sei, wie vor allem Ludwig annimmt.194 Denn die gewaltengliedrige Form des souveränen Willens ist eben die Verwirklichungsbedingung des Staats in der Idee, die es in der Befolgung des Postulats selbst wiederum vorrangig zu verwirklichen gilt. Die zweigeteilte Architektonik des ‚Staatsrechts‘ erweist sich nach vorliegender Interpretation also als falsch – doch das heißt nicht, dass es sie nicht geben würde und all die Interpreten völlig falsch liegen, die sie als „klare“ und „durchsichtige Architektonik des Staatsrechts“195 identifizieren wollen. Es gibt sie in gewisser Weise schon, aber eben nur als falsche, bloß scheinbare, und weil es sie gibt, sind die Interpretationen, die sie zum Gegenstand machen, auch nicht gegenstandslos. Interpretiert wird immerhin eine vorhandene Ebene des ‚Staatsrechts‘, wenn auch nur eine scheinbare. Diese Interpretationsleistung ist durchaus wichtig und wertvoll, weil auch der Schein der falschen Architektonik auf die Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ zurückgeführt werden muss. Nur muss man dieser Rhetorik als solcher auch gebührend Rechnung tragen. Darum ein abschließender Blick auf die Text-Rhetorik des § 45: Eine zentrale Funktion nimmt hier vor allem die Sperrung ein in der Rede vom „Staat in der Idee“. So lässt die Hervorhebung des Wortes „Idee“ den Leser zuallererst unwillkürlich an die regulativen Ide192

Niesen 2001, 586. Dagegen aber Möllers 2008, 54: „Für Kant, Rousseau und die Federalists ist die Gewaltenteilung von der Frage demokratischer Legitimation nicht zu trennen, ja letztlich nicht zu unterscheiden“. 194 Ludwig 1999, 177-180, 183f. und hieran anschließend Hirsch 2017, 311 f., 317-319, 320 ff., 330. 195 Ludwig 1999, 173. 193

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en der theoretischen Philosophie denken, die fiktiv sind und nicht wirklich Vorhandenes beschreiben, aber auch an deren Entsprechungen in der praktischen Philosophie, wie zum Beispiel diejenige des ewigen Friedens. Auf letzteren kann man sich Kant zufolge bekanntlich nur in unendlicher Annäherung zubewegen, niemals aber ihn erreichen. Nun geht aus dem Textzusammenhang von § 45 indes klar hervor, dass es sich hier nicht um solch eine regulative Idee handeln kann, – sondern stattdessen um eine konstitutive. Denn „Staat in der Idee“ ist lediglich die nachgeordnete Bezeichnung für denjenigen Staat, dessen (Minimal-)Form für einen jeden Staat konstitutiv ist, soll er überhaupt ein Staat sein; der Punkt der vollständigen Verwirklichung ist somit nicht als unerreichbares Ende angesetzt, sondern steht am Anfang aller Staatspraxis. Hierauf hätte Kant ebenfalls mit einer Sperrung hinweisen können, beispielsweise durch die Hervorhebung des Wortes „überhaupt“ in der Rede von der „Form eines Staats überhaupt“. Damit wäre der Zusammenhang zwischen den Begriffen „Staat überhaupt“ einerseits und „Staat in der Idee“ andererseits deutlicher herausgestellt worden (Kursivdruck: M.W.). Aber auch eine kurze Erläuterung des verwendeten Ideenbegriffs hätte wohl geholfen.196 Solche Hinweise sind in § 45 allerdings ausgeblieben. Mit der alleinigen Sperrung („Staat in der Idee“) wird jedoch nicht nur die Fiktivität der Idee suggeriert, sondern auch der expansive, sich vermeintlich auf die folgenden §§ 46-49 erstreckende Charakter dieses Staates: Ist vom „Staat in der Idee“ die Rede, so evoziert dies die Vorstellung, dass es sich um den (Ideal-)Staat in seiner Totalität handelt – und nicht nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner, der jedem besonderen Staat als konstitutive Minimalform zugrunde liegen muss. Denn warum sollte der eine und einzige „Staat in der Idee“ nicht für die Idee der Volkssouveränität (§§ 46 und 47) und Gewaltenteilung (§§ 48 und 49) stehen, ferner aber auch 196

So wäre im Rahmen der Kantischen Terminologie der Hinweis möglich gewesen, dass der Begriff einer praktischen Idee als qualifizierter Begriff von einer Totalität synonym mit dem Zweckbegriff gebraucht und darum durchaus als konstitutive praktische Idee gedeutet werden kann. Solch ein Wortverständnis findet sich etwa in § 65,3 der Kritik der teleologischen Urteilskraft, wo später in § 77,1 auch eine Thematisierung von empirischen Gegenständen stattfindet, die vollständig einer übersinnlichen Idee entsprechen.

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alles umfassen, was zu einem Idealstaat sonst noch hinzu gehören müsste? So gesehen handelt es sich bei der ‚expansiven‘ Lesart des „Staat[s] in der Idee“ weniger um eine Projektion der Interpreten, als vielmehr um eine Deutung, die der Text selbst provoziert. Diese lässt sich zwar infolge einer genauen Lektüre des Textes korrigieren, doch das ändert nichts daran, dass dort nach wie vor die irreführende Rede steht: Die Rede von der Idee suggeriert ein Mehr, das jedoch aufgrund der Fiktivität einer Idee in puncto Verwirklichung eher ein Weniger sein dürfte.

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II. Zum Zentrum des ersten Paragraphenblocks: § 46

Einleitung Im zentralen § 46 wiederholt sich dieselbe Struktur wie im vorigen § 45: Der Paragraph reproduziert in seiner Zweiteilung die zweigeteilte Architektonik des ‚Staatsrechts‘, steht dabei aber in Widerspruch zu ihr und untergräbt sie dadurch letztlich. Das ist in § 46 noch offensichtlicher als in § 45. Denn die Handhabung, Textstücke durch Einrückung vom Haupttext abzuheben, wurde gleich zu Beginn der Rechtslehre inhaltlich codiert. Zufolge der Vorrede gehöre die „Metaphysik des Rechts “ nämlich „in den Text“; die „Praxis“ der „Anwendung“ dieser Metaphysik „auf in der Erfahrung vorkommende Fälle“ hingegen „in zum Theil weitläufige Anmerkungen“ (Abs. 2, Kursivdruck: M.W.). So wird im Haupttext des vorliegenden Paragraphen (§ 46,1 und 2) die Rousseau’sche Volkssouveränität begründet; in den eingerückten Absätzen (§ 46, eA 1 und 2) dagegen deren Verwirklichung in einer respublica phaenomenon thematisiert – in einem Lehrstück der verlustlosen, doch zeitlich differenzierten Verwirklichung des Rousseau’schen Staats, wie zu zeigen sein wird. Damit widerlegt der zentrale § 46 die zweigeteilte Architektonik des ‚Staatsrechts‘ nicht lediglich formal, wie der vorige § 45 es tat, sondern auch inhaltlich. Denn die Annahme der Architektonik-Interpretation, der erste Paragraphenblock bringe lediglich die respublica noumenon zur Darstellung – den Rousseau’schen Idealstaat – und erst der zweite Teil thematisiere deren Verwirklichung in einer respublica phaenomenon – in einem „eigenständigen“ und eindeutig antirousseauistischen „Lehrstück“197 –, all das ist nun nicht länger haltbar. Die Rhetorik, die auf diese Weise ins Werk gesetzt ist, kann man als subversive Rhetorik bezeichnen: Einerseits suggeriert der Text besagte Gesamt-Architektonik und konstituiert sie darum auch in gewisser Weise. Andererseits wird die Architektonik jedoch durch eben diesen Text auf eine viel weniger ersichtliche Art und Weise untergraben, widerlegt und verneint, – was wohlgemerkt nicht dazu führt, dass die übergreifende Architektonik aufhört, zu wirken. Sie erfährt lediglich eine Korrektur von einem anderen Stand- und Gesichts197

Ludwig 1999, 176, 178 f.

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punkt aus. Darum lässt sich die Rhetorik des Textes als subversive Rhetorik deuten: Die übergreifende ‚Staatsrecht‘-Architektonik bleibt nach wie vor bestehen, muss jedoch in ihrer Logik „von unterst zu oberst [ge]kehr[t]“ werden – es gilt, sie zu subvertieren.198 Im zentralen § 46 fungiert das Prinzip der Subversion allerdings nicht nur als Prinzip der Rhetorik, sondern es wird zugleich zur Logik des praktisch-philosophischen Projekts. Denn Volkssouveränität bedeutet § 46 zufolge, dass die traditionelle Souveränität bewahrt bleibt, doch ihre freiheitswidrige Logik zu einer der Freiheit selbst ge- und verkehrt wird. Sie soll „von unterst zu oberst [ge]kehr[t]“, also subvertiert werden, das aber nicht etwa heimlich und intrigant, sondern in einer Praxis öffentlich-rechtlicher Freiheitsbehauptung, ausgeübt von sich selbst bestimmenden Staatsbürgern. Dabei fungiert das Prinzip der Subversion letztlich auch als Prinzip der Metaphysik der Freiheit, verstanden als genuin praktische Metaphysik: In einer öffentlich-rechtlichen Praxis der Freiheitsbehauptung soll der tradierte Begriff der Souveränität praktisch so weiterbestimmt werden, dass er von einer Form der Verneinung der Freiheit zu einer Ausdrucksund Ausübungsform derselben wird (vgl. Vorstudie, Fn. 146). Als ebenso subversiv erweist sich die Begründung der Volkssouveränität: Mit dem Plädoyer für die Rousseau’sche Volkssouveränität wird zwar das Locke’sche Modell abgelehnt, demzufolge das Volk seine ursprüngliche Souveränität einer beliebigen Person in die Hände legt.199 Aber das Modell Locke bleibt trotzdem bewahrt, und zwar als Form, in der sich die Begründung der Rousseau’schen Volkssouveränität vollzieht. Denn wie der Freiheitsbeweis der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ wird die Begründung der Volkssouveränität als praktisch-performativer Akt zu deuten sein, durch den die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung und -verpflichtung (reiner praktischer Vernunft) die Kompetenz letztinstanzlicher Selbstbestimmung und -verpflichtung in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sozusagen sich selbst in die Hände legt – und so den eigenverant198

Nach dem lateinisch-deutschen Handwörterbuch von Klaus Ernst Georges, 2892, heißt subvertere zum einen „von unterst zu oberst kehren, umkehren, umstürzen“, zum anderen „umstürzen, stürzen, vernichten“. Wenn ich im Folgenden von Subversion spreche, beziehe ich mich auf erstere Wortbedeutung, nicht aber (nur) auf letztere; Subversion verstehe ich nicht einfach (und zu einfach) als Vernichtung. 199 Locke, Second Treatise, § 134.

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wortlichen und selbstbejahenden Gebrauch dieser Freiheit affirmiert und gegen die Stimmen behauptet, welche sie verneinen oder verleugnen.200 Das als freiheitswidrig und rechtlich unmöglich erkannte Modell der Locke’schen Volkssouveränität wird so zu einer Form der Freiheitsbehauptung selbst. Es bleibt bewahrt, doch es wird „von unterst zu oberst [ge]kehr[t]“, also subvertiert. Die genaue Argumentation für die Volkssouveränität in § 46,1 wurde in der Forschungsliteratur bislang allerdings kaum berücksichtigt, aber auch deren Deutung als praktisch-performativer Akt reiner praktischer Vernunft ist bisher ausgeblieben. Gleiches gilt für die Codierung der Trennung von Haupttext und eingerückten Absätzen: Auch sie ist in ihrem systematischem Folgereichtum weitgehend unberücksichtigt geblieben. Der Grund ist wieder in der enormen Suggestivität der (vermeintlichen) ‚Staatsrecht‘-Architektonik zu sehen. Die Argumentation für die Rousseau’sche Volkssouveränität muss nämlich zwangsläufig als unerheblich erachtet werden, wenn man davon ausgeht, Rousseaus Staat sei antirousseauistisch zu verwirklichen. Das hat zu einer beachtlichen Nicht-Beachtung der eigentlichen philosophischen Arbeit im Text des § 46 geführt. Unter Verweis auf die „durchsichtige Architektonik“ des ‚Staatsrechts‘ wurde der Text und Kontext des § 46 aber auch selbst als „systematisch 200

Vgl. Wolff 2018, 143-155, der darauf hinweist, dass es sich beim Freiheitsbeweis der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ insofern um ein „Faktum der Vernunft“ handelt, als alle Expositionsschritte im ersten Teil des Beweises „reine Vernunftoperationen sind und ein reines Vernunftprodukt zum Ergebnis haben“, wodurch sich die reine praktische Vernunft selbst als praktisch-gesetzgebend ankündigt – gegen die Position (David Humes), welche die Vernunft auf eine „Sklavin der Leidenschaften“ reduziert und somit die Existenz der zu beweisenden Willensfreiheit (erstursächlicher Kausalität) leugnet, 148, 152 f., Kursivdruck: M.W. Somit wird der Freiheitsbeweis zwar argumentativ vorgetragen, doch der Beweis ist in erster Linie eine Selbstbehauptung vonseiten des in Frage stehenden Freiheitsvermögens, eben weil dieses damit seinen eigenen Herrschaftsanspruch affirmiert und deklariert. In besagter Konfliktlinie kann man letztlich, so Wolff, 144-46, den Grund sehen für die Planänderung Kants: statt einer Kritik der reinen praktischen Vernunft eine umfassende Kritik der praktischen Vernunft überhaupt zu verfassen, welche sich auch auf die empirisch-bedingte Vernunft erstreckt, – die letztlich mit der ‚bösen‘ Vernunft der Religionsschrift zu identifizieren ist, vgl. Sargentis 2011, 53 f.

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schief“ bezeichnet, zumindest stellenweise; und darum wurde zur Interpretation gegen den expliziten Wortlaut aufgerufen, insofern dieser der übergreifenden Architektonik punktuell entgegenstehe. 201 Demgegenüber werde ich § 46 nun erstmals ausführlich sowie dem Wortlaut nach interpretieren, und zwar in einer gestuften Interpretation, welche die verschiedenen Ebenen des Textes berücksichtigt, aber auch verschiedene Modi diskutiert, wie er sich lesen lässt. Zuerst soll dabei die offensichtliche, doch systematisch-diskriminierte Argumentation für die Volkssouveränität in § 46,1 interpretiert werden (zu § 46,1, Kap. 1) und in unmittelbarem Anschluss daran eine Lektüre dieser Argumentation vom Gesichtspunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus erfolgen (Kap. 2). Dabei wird sich zeigen: Im Zuge der Begründung der Volkssouveränität wird die zuvor innerhalb der vordemokratischen Sektion des ‚Staatsrechts‘ in ihrem Recht verneinte Freiheitsperspektive (s. o. (zu § 44) als Gesichtspunkt der Argumentation selbst rehabilitiert und von hier aus schließlich die Volkssouveränität als Praxis der öffentlich-rechtlichen Behauptung dieses Gesichtspunkts begründet – all dies dem Postulat des öffentlichen Rechts zufolge und gemäß dem in ihm enthaltenen honeste vive. Bei der Begründung der Volkssouveränität kommt es folglich weniger auf die Argumente selbst an, als vielmehr auf die Wahl des Stand- und Gesichtspunktes, von dem aus und für den argumentiert wird: entweder aus Freiheit für die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung oder aus Freiheit gegen diese Freiheit. Wie der Freiheitsbeweis der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ ist die Begründung der Volkssouveränität in § 46,1 eben als standpunktabhängiger und standpunktaffirmierender performativer Akt einer sich selbst bejahenden Freiheit zu deuten, der sich gegen die Verneinung dieser Freiheit richtet. Polemik ist das Stichwort: Die Begründung wie auch die Praxis der Volkssouveränität sind letzten Endes beide Akte und Praktiken der Behauptung des Stand- und Gesichtspunktes der Freiheit, die polemisch gegen Praktiken der Freiheitsverneinung agieren. Insofern ist ihnen jenes historisch-ideengeschichtliche „Kampfgeschehen“ der Auseinandersetzung zwischen den Freunden und den Fein-

201

Hirsch 2017, 311 ff., 330 und mit Blick auf § 49: ebd., 327, einschl. Fn. 298.

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den der Freiheit eingeschrieben (vgl. Einleitung und Vorstudie) – wie der Kantischen Metaphysik der Freiheit selbst.202 Der zentrale § 46 bezieht jedoch auch noch auf eine andere Weise Stellung im ideengeschichtlichen „Kampfgeschehen“. Das Willensbildungsverfahren der Volkssouveränität, demzufolge „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“, ist in § 46,1 nämlich eine wörtliche Übersetzung aus Rousseaus ›Contrat Social‹.203 Dieser Rousseau-Referenz werde ich in einer Parallel-Lektüre des § 46,1 sowie des ›Contrat Social‹ nachgehen (Kap. 3.1). Dadurch lassen sich nicht nur interpretatorische Schwierigkeiten beheben. Erkennbar wird auch, dass sich in § 46,1 die ideengeschichtliche Aktion Rousseaus wiederholt, wenn dem Freiheitsgesichtspunkt, der zuvor verneint wurde (s. o. (zu § 44)), in der Argumentation für die Volkssouveränität wieder zu seinem Recht verholfen wird. Rousseau hatte schließlich den antik-römischen Freiheitsbegriff letztinstanzlicher Selbstbestimmung gegen die Verneinung desselben durch Hobbes und die neuzeitliche Staatslehre rehabilitiert (vgl. Einleitung, Kap. 2), welche im Kantischen ‚Staatsrecht‘ wiederum in der vordemokratischen Sektion desselben zur Darstellung gekommen ist. Aber noch mehr: Im Rekurs auf das Gesamtwerk Rousseaus zeigt sich auch, dass diese Rehabilitation gegen das Epochenproblem des Despotismus gerichtet ist; genauer: gegen die allgemeine Praxis der Menschen, sich ihrer Freiheit und Verantwortung in einer Praxis ‚politischer‘ Selbstversklavung (qua ‚politischer‘ Autorisation) entledigen zu wollen. In der Kantischen Philosophie steht für dieses Problem der Begriff der „selbst verschuldeten Unmündigkeit “204. Allerdings wiederholt sich in § 46,1 nicht nur die ideengeschichtliche Bewegung Rousseaus. Vielmehr führt Kant Rousseaus Projekt der Entidealisierung und Entfiktionalisierung der neuzeitlichen Dok202

So gesehen gilt für die Frage nach der Begründung der Volkssouveränität letztlich dasselbe wie für die Debatte um die Willensfreiheit: „dass die Kontroverse sich nicht allein durch den Sieg der einen oder anderen Seite in argumentativer Gegnerschaft entscheidet. Es geht auch um unsere Bereitschaft oder Weigerung, ja überhaupt unsere Fähigkeit, etwas […] stärker Verankertes und seelisch Machtvolleres zur Disposition zu stellen, als eine bloß philosophische oder auch wissenschaftliche Position es wäre“, vgl. Pothast 2011, 22 f., Kursivdruck: M.W. 203 Rousseau, Contrat Social, II, 4,8. 204 WA, AA 08: 35.

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trin der (Volks-)Souveränität fort, indem er wiederum die Rousseau’sche Philosophie der Volkssouveränität entidealisiert und entfiktionalisiert – insofern die volonté générale zugunsten der volonté de tous aus dem Begriffssystem des ‚Staatsrechts‘ gestrichen wird. Erkennbar wird das, wenn man den Kantischen Sprachgebrauch in Rousseaus Sprache zurückübersetzt. Es verhält sich daher nicht so, wie gewöhnlich angenommen wird, sondern umgekehrt: Kant idealisiert nicht die Rousseau’sche Philosophie der Volkssouveränität in einer Privilegierung der volonté générale,205 sondern entidealisiert diese Philosophie, da er in seiner Rezeption ganz auf den ideologisch wie philosophisch fragwürdigen Begriff eines idealen Volkswillens verzichtet. Untergraben lässt sich die Argumentation des § 46,1 allerdings auch in einer Hobbes’schen Gegenlektüre – wenn man in der Lektüre die Logik des Prinzips der ‚politischen‘ Autorisation als Voraussetzung annimmt (Kap. 3.2). Rechtmäßig ist dann nämlich auch eine Konzeption der Volkssouveränität nach ebendiesem Prinzip. Hobbes führte das Prinzip schließlich ins Feld, um die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung gegen sich selbst zu richten und dadurch zu neutralisieren. So agierte er gegen die Versuche seiner Zeitgenossen, welche die antik-römische Freiheit in demokratischer Absicht rehabilitieren wollten (vgl. Einleitung, Kap. 2). Damit zeigt sich auch hier: Es kommt weniger auf die Argumente an, die für die Volkssouveränität vorgetragen werden, als vielmehr auf den Stand- und Gesichtspunkt, von dem aus und für den sie vorgetragen werden – und von dem aus sie sich wiederum auf die eine oder andere Weise deuten lassen. Doch darum wird sich die Hobbes’sche Gegenlektüre unter dem freiheitsverneinenden Gesichtspunkt auch einfach in einer ReLektüre vom entgegengesetzten, freiheitsbejahenden Standpunkt aus berichtigen lassen. Von hier aus lässt sich letztlich auch der Deutungskonflikt verstehen, der in der Literatur zum ‚Staatsrecht‘ ausgetragen wird (Kap. 3.3). Denn zufällig ist es nicht, dass die antirousseauistische Lesart Kerstings davon ausgeht, das Recht der Freiheit materialer letztinstanzlicher Selbstbestimmung spiele im ‚Staatsrecht‘ keine Rolle, und dass die Rousseau’sche Lesart von Maus hingegen genau diese Freiheit als 205

Vgl. Kersting 1984, 312-14 und in der jüngsten Literatur Marey 2018, 558 f., 568, 573.

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entscheidend erachtet. Bis jetzt wurde die Standpunktabhängigkeit beider Lektüren jedoch noch nicht eigens diskutiert206 und das verweist meines Erachtens auch auf das gemeinsame Problem beider Lesarten. Die Standpunktunabhängigkeit ist schließlich das Charakteristikum des philosophischen Prozeduralismus, den Kersting und Maus bei Kant und Rousseau sehen: Das Verfahren der Volkssouveränität verbürge die Qualität des positiven Rechts – unabhängig von den subjektiven Voraussetzungen sowie den jeweiligen Standpunkten der Verfahrensteilnehmer (den Staatsbürgern). Berücksichtigt man allerdings genau diese Voraussetzungen, so ist die Prozeduralismus-Interpretation umzukehren: Verfahren verbürgen weniger die Qualität von Souveränitätsakten in Unabhängigkeit von den subjektiven Voraussetzungen der Staatsbürger; vielmehr sind die subjektiven Voraussetzungen ebendieser Bürger ausschlaggebend dafür, in welcher (Verfahrens-)Form die Volkssouveränität verwirklicht wird. Die Alternativen sind eben diese: entweder in einem idealisierten und fiktionalisierten Verfahren ‚simulierter Demokratie‘, das unter der Voraussetzung einer ‚politischen‘ Autorisation steht, oder in einem entidealisierten Verfahren einer öffentlich-rechtlichen Praxis der Freiheitsbehauptung aktiver Staatsbürger; mit anderen Worten: entweder freiheitswidrig in einer Hobbes’schen Reidealisierung und Refiktionalisierung der Rousseau’schen Volkssouveränität, oder mit Rous206

So bespricht Macarena Marey in ihrem Aufsatz von 2018, „The Ideal Character of the General Will and Popular Sovereignty in Kant“, vorwiegend die Positionen von Maus und Kersting, stellt sich jedoch schlussendlich gegen Maus mit der These, 568-70, Kant philosophiere im ‚Staatsrecht‘ nicht aus der subjektiven Perspektive der Menschen heraus, sondern „from the objective […] perspective of the validity of positive law“ – und darum sei keine tatsächliche Zustimmung zu den positiven Gesetzen nötig (obgleich möglich, 576 f.), vgl. mit Kersting 1984, 313. Freiheitsphilosophisch reflektiert wird diese Sicht indes nicht – obwohl Marey sich damit vom entscheidenden Gedanken Kants verabschiedet „eine Person [sei] keinen andern Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen“, EMdS, IV,9, AB 22, Kursivdruck: M.W. Entsprechend bringt Marey auch den Begriff der vollkommenen Pflicht („unconditional duty“) wie selbstverständlich in Opposition zu demjenigen der Selbstverpflichtung („self-obligation“), zugunsten ersterem, vgl. 567, ferner 559.

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seau freiheitsbejahend infolge einer Entidealisierung und Entfiktionalisierung der Hobbes’schen (Pseudo-)Volkssouveränität. Die diskriminierende Funktion der großen ‚Staatsrecht‘-Architektonik erstreckt sich allerdings nicht nur auf die praktisch-philosophische Arbeit im ersten Absatz (§ 46,1). Von ihr betroffen ist ebenso die Lehre vom Staatsbürger, die im zweiten Absatz entfaltet wird (in § 46,2). So dürfe auch die dortige Bestimmung der Attribute des Staatsbürgers nicht beim Wort genommen werden, da sich diese Bestimmung, berücksichtige man die Architektonik, ebenfalls nur auf den „Staat in der Idee“ beziehe.207 Nur für ideale Staatsbürger gelte sie (nur für „Engel oder Götter“), nicht aber für die staatsbürgerliche Praxis von Menschen, die im Hier und Jetzt stehen (nicht für „uns“).208 Nimmt man demgegenüber den Text des § 46,2 doch beim Wort, was ich in meiner Interpretation genauestens tun werde, so lässt sich der Absatz wie folgt deuten: Das in § 46,1 begonnene Projekt der praktischen Subversion traditioneller Souveränität wird in § 46,2 fortgesetzt, indem die ‚natürliche‘ Rechtsperson weiterbestimmt wird zur komplexen Doppelrolle des Staatsbürgers, welche sowohl die Rolle des Untertanen (subditus), als auch diejenige des Souveräns (imperans) umfasst und beide zusammenführt. Nur so wird zu verhindern sein, dass Menschen in der Affirmation staatlicher Herrschaft ihre Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung aufgeben und sich dadurch selbst versklaven: Zu verhindern ist das nur, wenn sie sich einerseits als Glieder des Souveräns selbst verpflichten, andererseits aber als Untertanen stets nur ebendieser Verpflichtung Folge leisten. Ausschließlich auf diese Weise können Menschen im Staat ihre ‚eigenen Herren‘ sein und bleiben. Allerdings steht die Rolle des Staatsbürgers lediglich für die Möglichkeit solch einer Freiheit; realisiert werden muss sie in einer Praxis der Staatsbürger – und mit ihr die Volkssouveränität. Doch wie jede Praxis letztinstanzlicher Selbstbestimmung hat dies vom jeweils einzelnen Menschen selbst aus zu geschehen: in einem eigenverantwortlich-vermittelnden Changieren zwischen der Person des Verpflichtenden und der des Verpflichteten, et vive versa. Weil beide Personen (imperans und subditus) aber in ihren Stand- und Gesichtspunkten unvereinbar sind, ist die Rolle des 207 208

Vgl. Hirsch 2017, 330, Fn. 312. Vgl. Ludwig 1999, 179 sowie § 49,4.

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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Staatsbürgers nicht nur als Doppelrolle komplex, sondern eben auch eine komplexe Doppelrolle. Das indes kennzeichnet nicht nur die Kantische Staatsbürgerrolle in § 46,2, sondern auch den Rousseau’schen Begriff des Citoyen: „Sujet et […] Souverain sont des corrélations identiques dont l’idée se réunit sous le seul mot de Citoyen“, so heißt es im ›Contrat Social‹.209 In der Literatur wurde bis jetzt allerdings noch nicht berücksichtigt, dass das ‚Staatsrecht‘ mit der Rousseau’schen Bestimmung der Attribute des Staatsbürgers von der Position der Vorgängertexte abgerückt ist, namentlich von der Position des Gemeinspruchs (von 1793) sowie der Friedensschrift (von 1795). Stattdessen wird eine Kontinuität unterstellt.210 Doch ganz offensichtlich sind die drei Attribute des Staatsbürgers (Freiheit, Gleichheit, Selbstständigkeit) im ‚Staatsrecht‘ nicht mehr drei separaten Rollen zugeteilt (Mensch, Untertan, Staatsbürger) wie in den Vorgängertexten. Alle drei Attribute sind nun Attribute des einen Staatsbürgers, welcher jedoch die Rollen des subditus und imperans in sich bündelt – dem Rousseau’schen Begriff präzise entsprechend. Die Revision von 1797 hat einen genuin freiheitsrechtlichen Sinn: Die drei Attribute der Staatsbürgerrolle ermöglichen es so, dass man als Mensch kraft der Staatsbürgerrolle seine Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung durchgehend öffentlich-rechtlich behaupten kann und damit eben seine Würde als Mensch im Staat – in einer eigenverantwortlichen Praxis ebendieser Freiheit und Würde. Zufällig ist es darum nicht, dass sich die beiden eingerückten Absätze an- und abschließend dem fundamentalen Problem widmen, dass sich Menschen dieser Freiheit und Würde entledigen und damit aller Verantwortung entziehen wollen: jener Praktik „selbst verschuldete [r] Unmündigkeit “211 – die wiederum durch das Prinzip ‚politischer‘ Autorisation realisiert wird, das jeder vordemokratischen Herrschaft zugrunde liegt. Dagegen wendet sich die Lehre der Volkssouveränität (des § 46) polemisch und subversiv. Eine genaue Interpretation der eingerückten Absätze lege ich zum Abschluss meiner Interpretation des § 46 vor. Mit ihr grenze ich mich

209

Rousseau, Contrat Social, III, 13,5. Näher dazu unten. 211 WA, AA 08: 35. 210

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in entscheidenden Punkten von der Standard-Interpretation ab: 212 So wird in der Sekundärliteratur die „selbst verschuldet [e] Un mündigkeit“ – die Selbstverneinung des Willens, der Wille zur Selbstversklavung – nicht als das zentrale Problem identifiziert, dem die Kantischen Lehre vom Aktiv- und Passivbürger Rechnung trägt, und entsprechend der Text nicht von diesem Problemgesichtspunkt aus interpretiert sowie diskutiert. Stattdessen geht man erneut davon aus – unter der Annahme einer Kontinuität des ‚Staatsrechts‘ von 1797 zum Vorgängertext von 1793 –, Kant komme es primär darauf an, den Ausschluss wirtschaftlich unselbständiger Menschen vom Stimmrecht zu rechtfertigen, aber auch die Exklusion der angeblich naturaliter unselbständigen Frauen. Was folglich primär diskutiert und kritisiert wird, sind diese Exklusionen, einerseits in ihrer etwaigen Berechtigung, andererseits in ihrer evidenten Anmaßlichkeit. Mit der Kontinuitätsannahme wird jedoch übersehen, dass Kant nicht nur in § 46,2, sondern auch in den eingerückten Absätzen ‚seine‘ Position gegenüber dem Vorgängertext gänzlich verändert hat: Nur noch (vertragsrechtlich unmögliche) Selbstversklavungen – zu denen indes alle Dienste zählen, die zur traditionellen Herrschaftseinheit des Hauses in Verbindung stehen – weisen Menschen als unselbständig aus, (vertragsrechtlich mögliche) Arbeitsverträge hingegen nicht mehr. Zudem bleibt es unbestimmt, ob die historische Unmündigkeit der Frau, die im Text als gegeben vorausgesetzt wird, eine natürliche oder ‚nur‘ eine selbstverschuldete ist („naturaliter vel civiliter“). Identifiziert man die „selbst verschuldet [e] Unmündigkeit “ hingegen als das eigentliche Problem der eingerückten Absätze, so lässt sich die dort vorgelegte Lehre vom Aktiv- und Passivbürger erstmals als konsistente und gänzlich unproblematische Verwirklichungslehre der Anfangsgründe der Volkssouveränität im Haupttext auslegen. Ihr zufolge sind die Anfangsgründe verlustlos zu verwirklichen, doch zeitlich differenziert. Denn: Auch der Wille derjenigen Menschen, die ihre Freiheit nicht selbst behaupten wollen, muss den Anfangsgründen der Volkssouveränität zufolge öffentlich-rechtlich geachtet werden. Nach Auskunft der eingerückten Absätze bedeutet das jedoch nichts anderes als: die temporäre Exklusion dieser Menschen von der Praxis der Volkssouveränität, die schließlich eine Pra212

Vgl. an dieser Stelle statt vielen nur die exemplarische Darstellung von Christoph Horn, 2014, 84-91.

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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xis der Freiheitsbehauptung ist, tolerieren, aber auch praktisch realisieren zu müssen. Und ‚temporär‘ heißt hierbei lediglich das: solange, bis diese Menschen ihre Freiheit selbst behaupten wollen. So gedeutet besteht die Kantische Lehre vom Aktiv- und Passivbürger allein in der Anwendung des Prinzips der Achtung der tatsächlichen Willenseinstellungen und -betätigungen der Menschen – also jenes Freiheitsprinzips, das für die Begründung der Volkssouveränität ausschlaggebend war – auf das Problem von Menschen, die ihre eigenen Willen nicht achten. Dass aber selbst diese Willen noch geachtet werden müssen, ist freiheitsrechtlich unproblematisch – weitaus unproblematischer als jenes Prinzip der offensichtlichen Architektonik, demzufolge der Wille der tatsächlichen Menschen (deren letztinstanzliche materiale Selbstbestimmung) grundsätzlich nicht be- und geachtet werden muss.213 Allerdings ist die gängige Lesart auch im Fall der eingerückten Absätze nicht einfach nur eine Fehllektüre, die allein der Unachtsamkeit der Interpreten geschuldet wäre. Sie ist wieder eine, die der Text selbst provoziert. So wird auf höchst suggestive, aber eben auch auf höchst irreführende Weise deklariert, die „Abhängigkeit“ und „Ungleichheit“ der Unselbständigen sei „keinesweges der Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen […] entgegen“ (eA 2, Satz 1). Es scheint, als würden krasseste Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse gerechtfertigt. Zudem ist die radikale Abkehr von der Position der Vorgängerschrift in den eingerückten Absätzen nicht kenntlich gemacht. Das suggeriert die Kontinuität beider Schriften, trägt aber letztlich auch maßgeblich zur Konstitution der Position des ‚Staatsrechts‘ bei, welche jenes empörende Ausmaß an staatsbürgerlicher Diskriminierung dem Anschein nach gutheißt: Die universal-freiheitsrechtlich begründete Volkssouveränität wird hier offenbar auf das Modell einer exklusiven Polisphilosophie verkürzt, wie sie durch die Aristotelische ›Politik‹ tradiert ist.214 Aber noch mehr: Nach dem Wortlaut des dritten Attributs (der Selbstständigkeit) bekommen all die exkludierten Menschen ihre „bürgerliche Persönlichkeit“ von Anderen vorgestellt, und das heißt im Kontext des ‚Staatsrechts‘: ihre Freiheitspersönlichkeit. Präziser, ihre Persönlichkeit wird ihnen von der Gemeinschaft der souve213 214

Vgl. Kersting 2007, 30 sowie 1984, 313. Bien 1976, 78 f, 80 f.

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rän-herrschenden Aktivbürger – von ökonomisch privilegierten Männern – fingiert und dem Modell der Vormundschaft zufolge „paternalistisch übergestülpt“215. Nach eigener Vorstellung und in eigener Verantwortung sollen diese Menschen also nicht leben können – nur weil sie wirtschaftlich unterprivilegiert oder Frauen sind. Damit präsentieren die eingerückten Absätze auf der exoterischen Darstellungsebene eine menschenverachtende Verwirklichung der Volkssouveränität des Haupttextes, die in offenem Widerspruch zu ihr sowie zu ihren freiheitsrechtlichen Voraussetzungen steht. Die Scheinebene der eingerückten Absätze des § 46 suggeriert und konstituiert so im Kleinen eine ähnlich freiheitsfeindliche und menschenunwürdige Verwirklichungslehre der respublica noumenon, wie die offensichtliche Architektonik des ‚Staatsrechts‘ im Großen.216 Demgegenüber soll in meiner Interpretation nun allem voran die nicht-offensichtliche Ebene der tatsächlichen philosophischen Arbeit entfaltet werden, die freilich politisch weniger problematisch ist.

215 216

Habermas 1996, 301. Es ist also eine dreifache Entsprechung zu verzeichnen und zu deuten: Erstens erfolgt vom Gesichtspunkt der (scheinbaren) Gesamt-Architektonik eine systematische Diskriminierung ganzer Argumentationslinien; zweitens entspricht dem zum einen die (vermeintliche) Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen von der staatsbürgerlichen Praxis öffentlich-rechtlicher Selbstbestimmung; und dem wiederum korrespondiert drittens die Logik des modernen Prinzips der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation, das durch besagte Architektonik (offenbar) begünstigt wird und demzufolge die Diskriminierung oder gar Auslöschung von Personengruppen freiheitsrechtlich nicht weiter von Belang ist. Denn wie Hobbes im Allgemeinen und Hirsch im Besonderen (an Kant) verdeutlichen, verneint dieses Prinzip die tatsächlichen Willen der Menschen und ihre Freiheitswürde so sehr, dass es sogar rechtmäßig sei, wenn „einem bestimmten Teil der Bevölkerung sämtliche Rechte, das Existenzrecht eingeschlossen, aberkannt [werden] (etwa den Juden in NS-Deutschland)“; „bei Kant [gibt es] keine obrigkeitlichen Maßnahmen, die schon als solche unmöglich Ausdruck des vereinigten Volkswillens sein können“, so Hirsch, 2017, 369 f., vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 21, siehe Vorstudie, Fn. 96.

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1. Zu § 46,1

1. Überblickschaffende Interpretation: Die Begründung der Volkssouveränität Der erste Absatz des § 46 stellt zuerst eine These auf (Satz 1), die in den drei folgenden Sätzen (2-4) formallogisch begründet wird. Offensichtlich ist das durch den Gebrauch von Signalwörtern zu Beginn der Sätze: „Denn“ (Satz 2), „Nun“ (Satz 3), „Also“ (Satz 4). Damit unterscheidet sich der erste Absatz vom übrigen Text des § 46, der in einem lapidar-dogmatischen und lediglich explikativen Stil gehalten ist. (Zu Satz 1:) Die These ist folgende: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ (Satz 1).

Mit ihr wird die Notwendigkeit faktischer Volkssouveränität behauptet. Die These besagt nämlich, dass es (1.) nur einen einzigen Willen gibt, dem die gesetzgebende Gewalt zukommen kann; gibt es aber nur eine einzige Möglichkeit, muss von Notwendigkeit gesprochen werden. Dabei ist die gesetzgebende Gewalt (2.) nicht nur eine der drei Gewalten, sondern vor allem die eine und einzige „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2), deren souverän-gesetzgebendem Willen alle übrigen Gewalten untergeordnet sind. Nach dem unmittelbar vorangehenden § 45,2 liegt die souveräne Gewalt nämlich „in der [Person] des Gesetzgebers“. Laut der These kann aber (3.) nur das Volk selbst diese Person sein, obgleich in Vereinigung. Letzterer Punkt (3) ist wie folgt zu verstehen: Der souveräne Wille soll nicht mehr nur ein bloß fingierter „allgemein vereinigte[r] Will[e]“ (§ 45,2) sein, wie ihn die traditionell-neuzeitliche Souveränitätslehre annehmen musste, aber auch das ‚Staatsrecht‘ in seinem vordemokratischem Stadium (§§ 43-45, Kursivdruck: M.W.). Nun soll der „allgemein vereinigte Volkswille“ (Satz 4) der souveräne Wille im Staat sein: der „Will[e] des Volkes“ (Satz 1), der „Wille Aller“ (Satz 4), die volonté de tous (Kursivdruck M.W.). Entsprechend wird § 46,1 in der Sekundärliteratur einhellig im Sinn von Rousseaus ›Contrat Social‹ gelesen: radikaldemokratisch. Allerdings ließ sich auch der

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gierte „allgemein vereinigt[e] Will[e]“ in § 45,1 gewissermaßen als „Volkswille“ deuten, aber eben nur als fiktiver. Doch die Souveränität eines fiktiv-fingierten Willens wird in § 46,1 nicht begründet; vielmehr ist das durch die vordemokratische und vor-rousseau’sche Sektion des ‚Staatsrechts‘ bereits (implizit) geschehen. (Zu Satz 2:) Die Begründung setzt im zweiten Satz mit einer normativen Bestimmung der gesetzgebenden Gewalt ein, wobei dieser Satz indes selbst wieder ein Begründungsverhältnis enthält, das durch die Vordersatz-Nachsatz-Struktur zum Ausdruck kommt: „Denn, da von ihr [der gesetzgebenden Gewalt] alles Recht ausgehen soll [Vordersatz], so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht217 thun könne n [Nachsatz]“ (Satz 2).

Hier geht es um die rechtliche Konsistenz der gesetzgebenden Gewalt als „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2). Diese ist schließlich nicht nur (wie bei Hobbes) über die Menschen um der souverän-gewaltkräftigen Einhegung von Konflikten willen eingesetzt, sondern um des Rechts willen: Durch sie soll „jeder seines Rechts theilhaftig werden“ können (§ 41,1, Kursivdruck: M.W.). Entsprechend besagt der im Vordersatz dargelegte Grund auch, dass von der gesetzgebenden Gewalt „alles Recht ausgehen soll“ (Kursivdruck: M.W.). Damit wird auf die unmittelbar zuvor in § 45,2 ausgeführte Bestimmung des souveränen Willens rekurriert: Zwar ist die rechtliche „Zuerkennung des Seinen eines jeden“ ein eigentümlicher Akt der „rechtsprechende[n] Gewalt“. Im „Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält“ spricht sie aus, „was im vorkommenden Falle Rechtens ist“. Doch diese Zuerkennung hat „nach dem Gesetz“ zu erfolgen, das auf den übergeordnet-souveränen Willen der gesetzgebenden Gewalt zurückgeht (Kursivdruck: M.W.). Obwohl die gesetzgebende Gewalt nicht in persona Recht spricht, soll von ihr „alles Recht ausgehen“.218 Aus dieser normativen Bestimmung wird im Nachsatz gefolgert, dass die erste Gewalt „durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun können“ darf – so ist das „muß“ hier zu verstehen. Damit ist nicht bloß gesagt, sie dürfe als Quelle allen Rechts selbst kein Un217 218

Zweite Auflage: „Unrecht“. Damit wird freilich nicht gesagt, „dass gesetzgebende und rechtsetzende Gewalt dasselbe“ sind, wie Wolff annimmt, 2013, 60.

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recht produzieren, wodurch sie ihre rechtliche Konsistenz verlieren würde. Sie soll (1.) „niemand unrecht thun können“; nach ihr soll „jeder seines Rechts theilhaftig werden“ können (§ 41,1, Kursivdruck: M.W.). Verfehlt ist dieses Soll aber nicht erst bereits, sobald sie faktisch irgendjemandem unrecht tut. Die bloße Möglichkeit, irgendjemandem im Volk unrecht zu tun, reicht bereits aus, dass die erste Gewalt ihre rechtliche Konsistenz einbüßt. Denn sie soll (2.) – darauf verweist auch die Sperrung – „niemand unrecht thun können“, das aber auch (3.) „schlechterdings“ (Kursivdruck: M.W.), also „unter allen umständen“219. Gleichgültig wie idealwidrig die Umstände auch immer sein mögen: Besteht die bloße Möglichkeit, dass die gesetzgebende Gewalt irgendjemandem unrecht tut, so ist sie als rechtliche Gewalt disqualifiziert – und folglich eine nicht-rechtliche. (Zu Satz 3:) Unter welcher Bedingung die gesetzgebende Gewalt eingerichtet werden muss, damit sie „schlechterdings niemand unrecht thun können“ kann, ermittelt der dritte Satz. Diese Ermittelung erfolgt allerdings in Abstraktion vom vorliegenden Fall der Verfügung einer souverän-gesetzgebenden Gewalt über ein Volk. Angegeben wird lediglich, durch welche Art der Verfügung Unrecht immer möglich ist (Teilsatz 1), durch welche hingegen nie (Teilsatz 2) und warum dies so ist (Teilsatz 3): „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Ande re n verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue [Teilsatz 1], nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt [Teilsatz 2] (denn volenti non fit iniuria [Teilsatz 3])“ (Satz 3).

Hierbei handelt es sich um zwei Grundformen einer Verfügung überhaupt – „des Gebietenden (imperans) gegen den Gehorsamenden (subditus)“ (§ 47) –, welche sich beide in einem Über-Unterordnungsverhältnis artikulieren. Diese zwei Formen unterscheiden sich lediglich dadurch, dass das Subjekt, über das verfügt wird, im ersten Fall nicht das verfügende Subjekt selbst ist – es ist ein Anderer –, im zweiten hingegen schon. Dabei handelt es sich im ersten Fall (intersubjektiver Verfügung) um die Grundform, die für das traditionelle Herrschaftsverhältnis charakteristisch ist. Der zweite Fall (intrasubjektiver Verfügung) ist demgegenüber derjenige der inneren Willens- und Selbstbestimmung. Aber nur in letzterem Fall seien unrechte Verfü219

Grimm, Bd. 15, 541.

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gungen nie möglich, wofür das Prinzip volenti non fit iniuria bürge: Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht. Dagegen wird das traditionelle Modell zwischenmenschlicher Herrschaft als eines herausgestellt, in dem Unrecht immer möglich ist. Rechtmäßig kann Herrschaft folglich nur nach dem Modell innerer Selbstbestimmung eingerichtet werden. (Zu Satz 4:) Im abschließenden Satz wird das nun bereitstehende Wissen über eine Verfügung überhaupt auf den staatsrechtlichen Fall der Verfügung der gesetzgebenden Gewalt gegenüber dem Volk angewandt. Auf diese Weise wird zum einen das Wissen generiert, wie die gesetzgebende Gewalt eingerichtet werden muss, damit sie der Anforderung entspricht, „durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht thun [zu] können“ (Satz 2). Zum anderen soll sich hierdurch aber auch die eingangs aufgestellte These, welche die Notwendigkeit faktischer Volkssouveränität behauptet, als begründet erweisen. Beides erfolgt in einer zweistufigen Konklusion, ersterer Punkt auf der ersten Stufe, letzterer auf der letzten: „Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen [Erster Schluss], mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein [Zweiter Schluss]“ (Satz 4, Kursivdruck: M.W.).

Die Applikation des Modells der inneren Selbstbestimmung auf die gesetzgebende Gewalt erfordert demnach (1.), dass alle Menschen im Volk nicht nur Untertanen dieser Gewalt sind, sondern als Einzelne diese Gewalt zugleich selbst ausüben: Nur der „Wille Aller“ (die volonté de tous) „kann […] gesetzgebend sein“. Damit der „Wille Aller“ aber überhaupt ein singulärer gesetzgebender Wille sein kann, muss er (2.) ein „übereinstimmende[r] und vereinigte[r] Wille Aller“ sein. Unter welcher Bedingung dies möglich ist, gibt die Parenthese des „so fern“-Satzes an. Denn mit ihr wird (3.) nicht nur gesagt, wodurch der „Wille Aller“ überhaupt „gesetzgebend sein“ kann, sondern vielmehr auch, wie er überhaupt erst zu einem übereinstimmenden und vereinigten Willen werden kann: „so fern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“. Ein allseitiges und einstimmiges Beschlussverfahren ist demzufolge die Bedingung der Genese dieses Willens. Damit steht die zentrale Differenz fest, welche die vordemokratische Entwicklungsphase des ‚Staatsrechts‘ von

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ner demokratischen trennt, die nun erreicht ist: Der „allgemein vereinigt[e] Will[e]“, von dem § 45 sprach, konnte und musste vonseiten des (vordemokratischen) Souveräns einfach fingiert werden; der „allgemein vereinigte Volkswille“ des § 46 hingegen soll vom Volk selbst erzeugt werden, und zwar in einem Verfahren, in dem „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“.

2. Interpretation vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus (Zu Satz 1:) Wem soll die „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) zukommen? Diese Frage zu beantworten ist ab dem Punkt der Weiterbestimmung des Postulats des öffentlichen Rechts zum Staatsgebot (§ 44,1) unumgänglich. Das Postulat fordert nun nämlich von seinen Adressaten, sich dahin zu „vereinigen“, sich einem überlegensouveränen Willen zu „unterwerfen“. Doch wessen Wille soll das sein? Bis vor § 46 blieb das offen. § 46 hingegen gibt gleich zu Beginn eine Antwort auf diese Frage: mit der These, dass die erste und (pars pro toto) souveräne Gewalt „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ kann. Der Wille desselben Volks also, das eines Willens über ihm bedarf, der es vereinigt (§ 43, Satz 2), muss dieser vereinigende Wille selbst sein – und dafür soll es bereits einen vereinigten Willen aufweisen. Das besagt die These des ersten Satzes von § 46,1, wenn man den Satz aus der Perspektive eines Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts deutet. (Zu Satz 2:) Liest man die Begründung der Volkssouveränität aus dieser Perspektive, so wird erkennbar, dass die Begründung mit derjenigen des Staatsgebots in § 44,1 strukturgleich ist. Die Argumentation für die Volkssouveränität setzt nämlich mit der Herleitung einer Bedingung ein, die erfüllt sein muss, damit die gesetzgebende Gewalt als „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) rechtlich konsistent ist: Als Quelle allen Rechts darf sie selbst kein Unrecht produzieren; sie soll „schlechterdings niemand unrecht thun können“. Erfüllt sie diese Anforderung nicht, so ist sie keine rechtliche Herrschergewalt, sondern eine nicht-rechtliche. Zugleich verfehlt sie dann aber auch ihren Zweck, einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, weil sie in diesem Fall notwendigerweise einen nicht-rechtlichen Zustand konstituieren würde. Dafür reicht bereits die bloße Möglichkeit, dass

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sie irgendjemandem unrecht tun kann, worauf die Sperrung („unrecht thun können“) verweist; der rechtliche Zustand ist als einer bestimmt, in dem „jeder seines Rechts theilhaftig werden“ kann, und die öffentliche Gerechtigkeit soll schließlich genau dies grundsätzlich ermöglichen (§ 41,1, Kursivdruck: M.W.). Bestände hingegen die bloße Möglichkeit unrechter Verfügungen seitens der souveränen Gewalt, so würde das als Staatsgebot reformulierte Postulat des öffentlichen Rechts nun genauso problematisch sein, wie es zuvor in seiner anarchischen Formulierung gewesen ist. Seine Forderung wäre dann nämlich, sich solch einer problematischen Herrschergewalt zu „unterwerfen“. Das Postulat, in einen rechtlichen Zustand überzugehen, würde damit aber dem Gebot gleichkommen, im nicht-rechtlichen Zustand zu bleiben, und die Befolgung des Postulats wäre gleichzusetzen mit seiner Nicht-Befolgung. Es müsste sich als solches auflösen. Die zweite Krise in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts wäre eingetreten: Die praktische Vernunft hätte erneut eine staatsrechtlich-defizitäre Struktur eigenverantwortlich selbst produziert. Die neue nicht-anarchische, sozusagen als ‚Heilmittel‘ eingeführte (Herrschafts-)Form, die das Strukturproblem der anarchischen Form eigentlich zu beheben hätte, wäre rechtlich genauso problematisch wie die anarchische. Und erneut würde es von der praktischen Vernunft abhängen, diese so umzugestalten, dass sie als rechtliche Struktur wieder in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Freiheit und des Rechts käme. Nur so könnte das Projekt des öffentlichen Rechts aufrecht erhalten werden (vgl. Vorstudie, Kap. 5). (Zu Satz 3:) Der vorletzte Satz gibt wie gesagt an, durch welcherlei Art von Verfügung grundsätzlich immer Unrecht möglich ist (1.), und durch welche hingegen nie (2.). Ermittelt wird so die Bedingung, unter der die souveräne Gewalt notwendigerweise eine nicht-rechtliche ist, aber eben auch die Bedingung, unter der sie eine rechtliche sein kann – allerdings zuerst einmal in Abstraktion vom Fall einer souveränen Gewalt. Mit Blick auf die Problematik praktisch-grundsätzlicher Krisen in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts (vgl. wieder Vorstudie, Kap. 5) ist das aber so zu lesen: Es wird dargelegt, im Fall welcher Struktur von Herrschaft notwendigerweise eine Krise auftritt und diese zugleich einen negativen Ausgang nehmen muss; aber dann auch, unter welcher Bedingung die

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Krise einen positiven Ausgang nehmen kann oder womöglich gar nicht auftritt. Diese Kehrtwende vom negativen zum positiven Ausgang ist zugleich text-rhetorisch zur Darstellung gebracht, und zwar in der gegenläufigen Bewegung des dritten Satzes. Denn dort wird zuerst von einem Fall ausgegangen, der sich in der juridischen Beurteilung als problematisch erweist („Nun ist es, [Fall 1:] wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, [Urteil 1:] immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht thue“); daraufhin wird dann aber in einer Wendung umgekehrt von der juridischen Beurteilung ausgehend derjenige Fall ausfindig gemacht, der juridisch unproblematisch ist („[Urteil 2:] nie aber in dem, [Fall 2:] was er über sich selbst beschließt“). In dieser Bewegung kommt zugleich die Wende zur Darstellung, die der Verlauf des ‚Staatsrechts‘ mit § 46 nimmt. Dessen vordemokratische Sektion rekapitulierte nämlich lediglich das Niveau des neuzeitlichen Staatsdenkens, das die Souveränität nach dem Modell intersubjektiver Verfügung eingerichtet wissen wollte. Hier verfügt „jemand etwas gegen einen Anderen“, in letzter Instanz. Das ist der staatsrechtliche und zugleich historische Ausgangspunkt im ersten Teilsatz. „Nun“, in § 46, wird dieser gegebene Fall aber plötzlich als einer beurteilt, in dem es „immer möglich [ist], daß er [der imperans] ihm [dem subditus] dadurch unrecht thue“. Nach Maßgabe des vorigen Satzes ist somit das Modell traditioneller Souveränität rechtlich disqualifiziert, mit ihm aber auch die vordemokratische Sektion des ‚Staatsrechts‘, – und damit schlussendlich die Formulierung des Postulats des öffentlichen Rechts als Gebot, sich solch einer Gewalt zu unterwerfen; die zweite Krise in der Befolgung des Postulats wäre eingetreten. Doch dann wird bereits die Kehrtwende eingeleitet mit der Bestimmung der Verfügung, durch welche solche Unrecht-Handlungen „nie“ möglich sind: die Verfügung nach dem Modell innerer Selbstbestimmung. Verwunderlich ist diese Festlegung nicht. Schließlich wird das Prinzip der Einwilligung direkt als Maßstab der juridischen Beurteilung dieses Falles angeführt (volenti non fit iniuria), wohl aber indirekt auch für den vorigen Fall. Zu bemerken ist freilich, dass das Prinzip der Einwilligung das Prinzip der inneren Selbstbestimmung selbst ist. Das heißt dann aber: Mit der Anführung dieses Prinzips wird in § 46 der Gesichtspunkt des in § 44 verneinten Freiheitsrechts des Menschen (s. o. (zu § 44)) rehabilitiert: seinem eigenen Kopfe

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gend „zu thun, was ihm recht und gut dünkt “ (§ 44,1), die Perspektive desjenigen Rechts also, das die Befolgung des honeste vive überhaupt erst rechtlich ermöglicht. In § 44 wurde dieses Recht einerseits als Grund angegeben, warum ein anarchischer Zustand ein nicht-rechtlicher ist, andererseits aber auch in der Neuformulierung des Postulats als Unterwerfungsgebot systematisch beseitigt. Die eigentliche Kehrtwende des § 46 ist darum die juridische Beurteilung selbst, sofern sie aus der nun rehabilitierten Freiheitsperspektive (der Einwilligung) vorgenommen wird. Und so ist es auch diese Perspektive, die das ‚Staatsrecht‘ auf ihr Modell festlegt: das Modell innerer Selbstbestimmung. Zugleich wird mit der Rehabilitation des Prinzips der Einwilligung deutlich, was genau das ‚Heilmittel‘ der ersten Krise in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts selbst wieder problematisch macht und damit die zweite Krise auslöst: In § 44 wird um des Rechtsfriedens willen das Recht des honeste vive verneint, das darin besteht, seine eigene Freiheit überhaupt mit Recht zu behaupten (die Freiheit materialer letztinstanzlicher Selbstbestimmung (vgl. Vorstudie, 4.2)). Darum ist diese Verneinung aus der Perspektive des verneinten Freiheitsrechts selbstverständlich als Rechtswidrigkeit zu beurteilen. Und deswegen ist das ‚Heilmittel‘, welches die Krise des § 44 scheinbar zu überwinden vermochte, nun selbst wiederum der Auslöser einer weiteren Krise in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts. (Zu Satz 4:) Was zur Überwindung dieser zweiten Krise allerdings noch fehlt, ist das Wissen, wie das intrapersonale Modell innerer Selbstbestimmung auf den interpersonalen Fall staatlicher Souveränität angewandt werden kann. Dieses Wissen ist mit dem Modell selbst noch nicht gegeben. Daher gilt es, ausfindig zu machen, wie das anarchische Modell innerer Selbstbestimmung mit dem disqualifizierten traditionellen Modell staatlicher Herrschaft in einem höherstufigen Modell vereint werden kann. Dieses Modell bestimmt nun der letzte Satz in seinen Anfangsgründen: Einerseits geht es immer noch um die gesetzgebende Gewalt als „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2), durch deren Willen das Volk vereinigt werden soll. Das Modell staatlicher Souveränität bleibt als solches also unangetastet, obwohl es eigentlich in seiner Verfügungsstruktur disqualifiziert ist. Andererseits wird dieses Modell aber so eingerichtet, dass im souveränen Herrschaftsakt über das „Volk“ (als „Menge von Menschen“ (§ 43))

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jeder Mensch (aus dieser Menge) lediglich „über sich selbst beschließt“. Das soll die Genese des souverän-gesetzgebenden Willens durch jenes Verfahren verbürgen, durch das der Wille aller Einzelnen – der „Wille Aller“, die volonté de tous – so in Übereinstimmung gebracht und vereinigt wird, dass er ein einziger gesetzgebender Wille ist: indem „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“ (Satz 4), und folglich jeder „über sich selbst beschließt“ (Satz 3). Dieses Verfahren ermöglicht es schließlich, dass wieder ein jeder zufolge dem honeste vive, als Pflicht der Freiheitsbehauptung gegen Andere, „seinem eigenen Kopfe folgen“ und tun kann, „was ihm recht und gut dünkt “ – nun allerdings nicht mehr ohne „von der Meinung des Anderen […] abzuhängen“ (vgl. § 44,1). Das problematische Freiheitsrecht, das den anarchischen Zustand zum nicht-rechtlichen machte, kommt damit also nicht nur wieder zu seinem Recht, sondern wird zugleich institutionell korrigiert. Ähnlich verhält es sich auch mit der „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2). Aus der Perspektive besagten Freiheitsrechts könnte man nämlich auch denken, in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts sei die Rückkehr zum Zustand der Anarchie notwendig, ist doch die traditionelle Verfügungsstruktur der Herrschaft als freiheitsrechtlich inkonsistent und juridisch unmöglich erkannt. Dem ist aber nicht so. Die Herrschergewalt soll in ihrer einseitig-vertikalen Verfügungsstruktur weiter bestehen und mit ihm das „Maschinenwerk der Vereinigung des Volks durch Zwangsgesetze“ (§ 51), doch eben nicht mehr in ihrer traditionell-freiheitswidrigen Logik. Denn nach wie vor ist dieses Modell in seiner intersubjektiv-einseitigen Verfügungsstruktur freiheitsrechtlich disqualifiziert; qualifiziert ist nur das Modell intrapersonaler Selbstbestimmung. Wird nun die Herrschaftsstruktur der Souveränität nach letzterem Modell eingerichtet, so erfolgt eine Umwandlung der Logik neuzeitlicher Souveränität zu einer Logik der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung. Die Umwandlung der freiheitswidrigen Logik traditioneller Herrschaft zur Logik der Freiheit selbst ist folglich nicht als Ausgleich beider Logiken zu verstehen. Ausschließlich diejenige der Freiheit wird durch eben diese Freiheit rechtlich qualifiziert und entsprechend soll die freiheitswidrige Logik traditioneller Souveränität durch die prozedural institutionalisierte Praxis dieser Freiheit einseitig umgekehrt werden: Die einseitig-vertikale Verfügung über die Menschen ist

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bedingt durch einen horizontal-allseitigen Beschluss der Menschen über sich selbst. Das ist Volkssouveränität, verstanden als Form der Subversion traditioneller Souveränität:220 Die traditionell-freiheitswidrige Logik der Herrschaft wird einseitig „von unterst zu oberst [ge]kehr[t]“, von einer Logik der Unfreiheit zu einer der Freiheit. Insofern handelt es sich um eine Zerstörung und Vernichtung einer Logik durch eine andere. Denn bewahrt wird lediglich die Form des traditionellen Modells (vgl. § 52,1), ‚herrschend‘ aber ist die letztlich anarchische Logik der Freiheit. Genau hierin vollzieht sich schließlich das Kantische Programm einer Metaphysik der Freiheit (vgl. Vorstudie, Fn. 146): Der historisch gegebene Begriff neuzeitlicher Souveränität wird als Ausgangspunkt genommen, freiheitsrechtlich problematisiert und schließlich durch die Freiheit selbst a priori so weiterbestimmt, dass die freiheitswidrige Souveränität zu einer Form der Freiheit selbst wird. Volkssouveränität als Subversion traditioneller Souveränität ist es also, wodurch die zweite Krise in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts eine positive Wendung nimmt. Doch was bedeutet das für die Adressaten des Postulats, aber auch für das Postulat selbst? Zuerst einmal hat die Einführung der Volkssouveränität nicht die Konsequenz, dass das Postulat des öffentlichen Rechts aufhören muss, ein Staats- und Unterwerfungsgebot zu sein, weil man es wieder als anarchische Forderung reformulieren müsste (wie anfänglich in § 42). Weiterhin sollen sich alle Menschen „mit allen anderen […] dahin vereinigen“, sich einer Herrschergewalt zu „unterwerfen“ (§ 44,1). Doch nun gilt es auch, sich zur Etablierung und Kultivierung eines rechtlichen Zustandes allseitig „mit allen anderen […] dahin [zu] vereinigen“, hinsichtlich bestimmter Materien des öffentlichen Rechts gesetzgebend zu sein – und durch das allseitige Verfahren der Bildung eines gesetzgebenden Willens zugleich die einseitige Verfügungsstruktur traditioneller Herrschaft freiheitsrechtlich im Geist der Freiheit zu subvertieren, genauer: im Geiste der Herrschaftsfreiheit (Anarchie). Durch das Postulat des öffentlichen Rechts ist das nun geboten. Denn am nunmehr erreichten Punkt seiner Befolgung kann die gesetzgebende Gewalt nur noch dem derart gebildeten Willen des Volkes zukommen; und diese Gewalt muss um der gebotenen Etablierung eines rechtlichen Zustandes willen notgedrungen auch ausgeübt werden. 220

Vgl. Georges, 2892.

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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Die Praxis der Volkssouveränität ist allerdings nicht nur als Praxis der Freiheit zu verstehen. Sie ist zugleich eine der Freiheitsbehauptung. Das Problem der Reformulierung des Postulats als Staats- und Unterwerfungsgebot (in § 44) war nämlich, jenes (problematische) Recht der Freiheitsbehauptung zu verneinen, auf das die Befolgung der ersten elementaren Rechtspflicht des honeste vive angewiesen war. Doch diese Verneinung musste notwendigerweise zu einer befolgungsimmanenten Krise führen. Denn das Postulat des öffentlichen Rechts kann wie gesagt nur unter der Bedingung bestehen, dass die drei elementaren Rechtspflichten, die in ihm enthalten sein müssen, mitbefolgt werden können (vgl. Vorstudie). Und allein um die Befolgung der ersten dieser drei Pflichten wieder zu gewährleisten – der des honeste vive –, wird die Volkssouveränität im vorliegenden § 46 als einzig rechtlich-mögliche Form der Souveränitätsausübung begründet: Folglich ist die Pflicht, die Souveränität „mit allen anderen“ auszuüben, auch als Pflicht zu deuten, mit diesen anderen seine Freiheit zu behaupten, zugleich aber auch gegen sie. Eine wechselseitige Behauptung dieser inneren Freiheit nach außen, und zwar vonseiten eines jeden gegenüber allen (und allen gegenüber einem jeden): das erfolgt, wenn in Befolgung des honeste vive „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe“ beschließt (bzw. beschließen). Mit Rekurs auf das Postulat des öffentlichen Rechts zeigt sich also: Volkssouveränität als Subversion traditioneller Souveränität ist nicht bloß ein ‚theoretisches‘ Konzept; es geht nicht um eine ausschließlich ‚theoretische‘ Bestimmung eines historisch gegebenen, doch problematischen Begriffs. Vielmehr handelt es sich um eine öffentliche Aktion des Volkes221 um des Rechts und der Freiheit willen – nach einem praktischen Begriff. So wird an diesem Punkt wieder deutlich: Bei der Kantischen Metaphysik der Freiheit handelt es sich um eine genuin praktische Metaphysik; die Umwandlung der Logik des tradierten Begriffs der Souveränität soll in erster Linie praktisch erfolgen – durch die Freiheit, um der Freiheit willen und in einer gemeinsamen Praxis der Freiheit. Indes: Als subversiv war bisher auch die Text-Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ zu charakterisieren. Denn der ‚Staatsrecht‘-Text konstituiert 221

Volkssouveränität als Subversion traditioneller Souveränität heißt folglich auch nicht, dass der Staatsapparat etwa heimlich untergraben werden sollte.

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und affirmiert zwar die offensichtliche ‚Staatsrecht‘-Architektonik, aber widerlegt, verneint und untergräbt sie zugleich in ihrer Logik. 222 Doch nun wird die Volkssouveränität selbst, und wohlgemerkt im Zentrum des ersten Paragraphenblocks, als öffentliche Praxis der Subversion traditioneller Souveränität bestimmt. Daran ist ersichtlich: Bei der Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ handelt es sich nicht lediglich um ‚nur Rhetorik‘, sondern die Rhetorik ist in gewisser Weise strukturgleich mit der Volkssouveränität verfasst, die das philosophische Zentrum auch des ganzen ‚Staatsrechts‘ bildet – als öffentlich-rechtliche Denk- und Handlungsform. (Zu Satz 4 und 1:) Entsprechend handelt es sich bei der Begründung der Volkssouveränität nicht allein um eine formallogische Argumentation für eine These. Vielmehr erfolgt eine Selbstbetätigung und -bestätigung, aber auch Selbstverpflichtung der Freiheit, die wiederum eine Praxis der Selbstbetätigung, -bestätigung, und -verpflichtung genau dieser Freiheit zum Ziel und Gegenstand hat. In diesem Sinn ist schließlich auch die These im ersten Satz zu lesen, dass die gesetzgebende Gewalt ausschließlich „dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ kann (Kursivdruck: M.W.). Mit ihr wird letzten Endes nämlich die Locke’sche Philosophie der Volkssouveränität als Selbstverhältnis des Volkes reformuliert und neu interpretiert – und zwar wieder in der charakteristisch subversiven Art und Weise. Denn: Das Verb „zukommen“ hieß nach dem damaligen common sense auch ‚überbracht‘ und ‚überliefert werden‘223. So verstanden ist die Frage, wem die gesetzgebende und zugleich souveräne Gewalt zukommt, im Kontext der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts als Anspielung auf Lockes Modell der Volkssouveränität zu lesen. Diesem Modell zufolge überbringt oder überliefert das Volk die souveräne Gewalt, die ursprünglich die seinige ist, einer beliebigen Person. In deren Händen habe die oberste Gewalt dann zu liegen, „sacred and unalterable“.224 Genau dieses Modell der Volkssouveränität wird mit der These des § 46,1 aber nicht nur übernommen, sondern auch verneint, soll der These zufolge doch die souveräne Gewalt ausschließlich dem Volk 222

Vgl. zu § 45, 2.3, aber auch die jeweilige Einleitung zu den §§ 43-45 einerseits sowie zu § 46 andererseits. 223 Adelung 1801, 1757. 224 Locke, Second Treatise, § 134.

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selbst zukommen können. Denn dass das Volk seine souveräne Gewalt jemand anderem überbringt oder überliefert, wird hiermit expressis verbis als rechtlich-unmöglich erklärt. Das Volk kann sich diese Gewalt höchstens selbst übertragen. Doch das ist streng genommen widersinnig – es sei denn man versteht die Übertragung in einem ausgeweiteten Sinn als Selbstbestätigung und zugleich Selbstverpflichtung. Eine Selbstverpflichtung kann und muss nach Kantischem Verständnis nämlich ausschließlich als interpersonales (aber eben nicht intersubjektives) Verhältnis vorgestellt werden.225 So hieß das Verb „zukommen“ weiterhin auch jemandes „Pflicht“, aber auch „Befugnissen, Gerechtsamen gemäß sein“, letzteres verstanden als die „in einem Rechte oder Gesetze gegründete Befugniß“226: Wie es dem Volk als Pflicht zukommt, dem Willen über ihm zu gehorchen, so soll es ihm nun zudem auch zukommen, die Herrschergewalt dieses Willens selbst zu betätigen – als Pflicht, die ihm durch das Postulat des öffentlichen Rechts auferlegt wird. Denn auch das heißt es, dass die souveräne Gewalt nur dem Volk zukommen „kann“. Zugleich steht ihm diese Gewalt jetzt aber auch als rechtsgesetzlich gegründete Befugnis zu, welche diese Pflicht flankiert; ähnlich wie jemandem, der sagt, dass ihm etwas „von Gott und Rechts wegen zu[kommt]“227. Folglich kann man die Metapher des Übertragens und Überlieferns – mitsamt dem Locke’schen Modell selbst – auch auf die reine praktische Vernunft übertragen. Denn sie ist die Instanz, welche den Menschen durch ihr Postulat die Herrschergewalt in die Hände legt, als Pflicht und Befugnis. Lockes Modell wird so gesehen nicht nur verneint, sondern auch bewahrt. Doch die Verpflichtung ist dabei lediglich eine Selbstverpflichtung der Menschen, – das „verpflichtete“ und das „verpflichtende Subjekt“ sind identisch, numero idem228; die reine praktische Vernunft ist kein selbständiges Subjekt, sondern nur die menschliche Freiheit selbst, sofern sie sich ausschließlich (‚rein‘) als solche betätigt, reflektiert und affirmiert. So konnte man letztlich auch den Freiheitsbeweis in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ lesen: 229 Die Freiheit behauptet und affir225

Vgl. TL, §§ 1-4, 13,3. Adelung 1801, 1757, Adelung 1796, 582. 227 Adelung 1801, 1757. 228 TL, § 4,1, § 13,3 einschl. Fn. 229 Vgl. Wolff 2018, 143-155, 144-46, 148, 152 f., s. o. 226

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miert sich als reine praktische Vernunft selbst, praktisch – und zwar gegen diejenigen Stimmen, welche die transzendentale und erstursächliche Freiheit reiner praktischer Vernunft in Abrede stellen. Als Selbstbestätigung und -affirmation ist nun aber auch die Bestimmung zu verstehen, ausschließlich dem Volk könne die Souveränität zukommen: Die Instanz der Freiheit der Menschen im Volk (das heißt der Freiheit ersturspünglicher Kausalität und letztinstanzlicher Selbstbestimmung) verpflichtet das Volk qua Selbstbestätigung und -affirmation, genau diese Freiheit in Rechtsangelegenheiten gemeinschaftlich auszuüben – und somit diese Freiheit öffentlich-rechtlich zu betätigen und zu affirmieren. Durch diese Verpflichtung reiner praktischer Vernunft wird das Postulat des öffentlichen Rechts gegenüber seiner Reformulierung in § 44 schließlich als Staatsgebot neu formuliert. Als Gebot kollektiver Selbstbehauptung der Freiheit wird nämlich der Versuch der neuzeitlichen, vor-rousseau’schen Staatslehre dezidiert abgelehnt, Rechtsfrieden zum Preis der Freiheitsverneinung zu erkaufen. Hiervon zeugte § 44. Damit macht sich die reine praktische Vernunft als Instanz der Freiheit gegen sich selbst als bloße Rechtsvernunft geltend, aber eben auch gegen sich selbst als historische Vernunft. Denn mit der praktischen Erkenntnis des § 46 ist das Projekt der traditionell neuzeitlichen Staatslehre vor Rousseau zugleich als freiheitswidriges Projekt erkannt. So ist die praktische Erkenntnis in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts zugleich eine historische Erkenntnis – und auf dem Boden der Geschichte soll das Postulat des öffentlichen Rechts schließlich auch als praktisches Postulat vollzogen werden.

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3. Zum Verfahren der Volkssouveränität: „sofern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“ 3.1 Kant und Rousseau: Eine konstruktive Parallellektüre 3.1.1 Die Rousseau-Referenz: „s’engager avec eux-mêmes, chacun envers tous et tous envers chacun d’eux“ Der zentrale § 46 lässt sich nicht nur von einem textexternen Standpunkt aus als ideengeschichtliche Parteiname deuten, sondern er nimmt selbst Stellung ein im historischen ‚Kampfgeschehen‘. So ist die Begründung der Volkssouveränität wie gesagt weniger eine formallogische Argumentation, als vielmehr ein performativer Akt der Freiheitsbehauptung, der sich auch polemisch gegen die Bestrebungen des neuzeitlichen Staatsdenkens wendet, die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung zu verneinen. Der Text nimmt jedoch noch in einer anderen Weise ideengeschichtlich Stellung. Das dort systematisch zentrale Verfahren allseitiger Willensbildung, nach dem „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“, ist nämlich eine wörtliche Übersetzung aus Rousseaus ›Contrat Social‹ (1762): „s’engager avec eux-mêmes, chacun envers tous et tous envers chacun d’eux“230. Als solche ist die Rousseau-Referenz allerdings nicht kenntlich gemacht, was wohlgemerkt nicht als Plagiat zu werten ist, sondern als kaschierte Parteinahme. Das Verfahren ist nämlich (1.) auch in Rousseaus bekanntem und wirkmächtigem ›Contrat Social‹ philosophisch zentral, ja es ist der contrat social selbst. Zudem ist seine Formulierung (2.) durch das rhetorische Mittel des Chiasmus höchst einprägsam und verfügt dadurch über einen hohen Wiedererkennungswert, ähnlich wie die von Dumas popularisierte Devise Un pour tous, tous pour un. Ferner lässt sich die Phrase im Œuvre Rousseaus aber auch (3.) außerhalb des ›Contrat Social‹ als Bezeichnung für diesen ‚Kontrakt‘ finden, so im sechsten ‚Brief vom Berge‘:„un pacte d’une espece particuliere, par lequel chacun s’engage envers tous, d’ou ensuit l’engagement réci-

230

Rousseau, Contrat Social, II, 4,8.

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proque de tous envers chacun“231. Für bestimmte Leser ist die Rousseau-Referenz also eindeutig erkennbar, für bestimmte wohl aber auch nicht. Die Parteinahme ist und bleibt kaschiert. In der Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ nimmt die Bezugsnahme auf Rousseau eine wichtige Funktion ein, da sie eine von ebenfalls drei Rousseau-Referenzen ist, die an augenfällig wichtigen Stellen positioniert sind: Die erste, kaschierte, an vorliegender Stelle im Zentrum des ersten Paragraphenblockes (§ 46,1); die zweite, nicht-kaschierte, ganz am Ende dieses Blockes („wie auch Rousseau behauptet“, § 49,4); und die letzte wieder ganz am Ende des ‚Staatsrechts‘. Dort erfolgt ein nicht-kaschierter Verweis auf die Unveräußerlichkeit des Gesetzgebungsrechts sowie auf den Gesamtwillen als Urgrund aller öffentlichen Verträge (§ 52, eA), also auf zwei Topoi des ›Contrat Social‹. Diesen Rousseau-Referenzen muss in der Deutung des ‚Staatsrechts‘ große Beachtung beigemessen werden – nicht zuletzt aufgrund ihrer Plazierung in Form einer weiteren Triade. Im Folgenden werde ich § 46,1 darum mit Blick auf den Referenztext Rousseaus interpretieren. Dies wird der soeben vorgelegten Auslegung einerseits weiter Kontur geben, andererseits lassen sich auf diese Weise unberücksichtigt gebliebene Schwierigkeiten interpretatorisch klären. So wurde bisher die Frage ausgeblendet, um welche Art von Unrecht es sich überhaupt handelt, das aus der Freiheitsperspektive betrachtet vonseiten der souveränen Gewalt droht. Daher war bis jetzt unklar, warum die souveräne Gewalt eine Gefahr für die Freiheit darstellt, aber auch, inwiefern man sich dieser Gefahr zu entziehen vermag, wenn man kraft jenes Willensbildungsverfahrens die freiheitswidrige Logik traditioneller Souveränität subvertiert. Der Text des § 46,1 gibt zwar allein für sich keine Antworten auf diese Fragen. Vom Paralleltext des ›Contrat Social‹ lassen sich diesbezüglich allerdings verschiedene Problemniveaus auch des ‚Staatsrechts‘ differenzieren – und so § 46,1 interpretieren.

231

Rousseau 1764, 237.

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3.1.2 Entidealisierung und Entfiktionalisierung der Volkssouveränität bei Kant und Rousseau 3.1.2 a Entidealisierung und Entfiktionalisierung der neuzeitlichen Doktrin der (Volks-)Souveränität durch Rousseau

Auch die neuzeitliche, vor-rousseau’sche Staatslehre musste annehmen, dass der souveräne Wille ein „allgemein vereinigte[r] Wille“ (§ 45,1) ist. Aus technischen Gründen der Souveränitätsausübung sollten in diesem Willen die vielen Einzelwillen der Menschen im Volk absorbiert sein: in einem einzigen herrschenden Willen. Darum konnte auch er in gewisser Weise als „allgemein vereinigte[r] Volkswille“ betrachtet werden (§ 46, Kursivdruck: M.W.), allerdings nur als fiktiver und fingierter Volkswille. So ließ sich jegliche Form der Souveränitätsausübung als Volkssouveränität deuten, besser aber: als eine fiktive und stark idealisierte Pseudo-Volkssouveränität. Nun argumentierte ich in meiner eben vorgelegten Interpretation des § 46, dass es in Kants Begründung der Volkssouveränität gerade nicht darum geht, diese Art von Herrschaft zu rechtfertigen, sondern stattdessen eine, in der das Volk selbst kraft seines tatsächlichen Willens der Souverän im Staat ist. Letzteres sollte staatstechnisch durch das Willensbildungsverfahren ermöglicht werden, nach dem „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“. Genau dieses Willensbildungsverfahren ist in Rousseaus ›Contrat Social‹ Programm: Mit dem allseitigen Beschlussverfahren des contrat social (durch das „s’engager avec eux-mêmes, chacun envers tous et tous envers chacun d’eux“) sollen die freiheitswidrig-problematischen Fiktionalisierungen und Idealisierungen der neuzeitlichen Staatslehre durch eine öffentliche Praxis der Freiheitsbetätigung freiheitsrechtlich korrigiert werden. Das heißt nach Rousseau allerdings nicht, in puncto Souveränität müsse jegliches Moment des Fiktiven und Idealen neutralisiert werden. Auch Rousseau bezeichnet den Souverän (in Verweis auf eine bestimmte Perspektive) als fiktionales Vernunftwesen, weil er kein natürlicher Mensch sei: „et regardant la personne morale qui constitue l’Etat comme un être de raison parce que ce n’est pas un homme“.232 So habe das Volk als Menge natürlicher Personen natürlicherweise keinen homogen vereinigten Willen. 232

Rousseau, Contrat Social, I, 7,7.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

Doch solch ein Wille soll in der Staatspraxis der Volkssouveränität nicht mehr nur dadurch generiert werden, dass man ihn wie in der neuzeitlichen Staatslehre bloß fingiert. Nun gilt es, ihn prozedural zu generieren – durch die Staatskunst oder -technik des Willensbildungsverfahrens, qua contrat social. Die eigentümliche Leistung dieses Verfahrens ist folgende: Durch allseitige Teilnahme an ihm kann nur das, was alle distributiv gemeinsam wollen (der allgemeine, allen distributiv gemeine Wille) synthetisiert werden – und zwar zu einem künstlichen Willen einer moralischen Person, verstanden als „fiktive und aus mehreren [natürlichen Personen als Gliedern] zusammengesetze Person“233. Dieser Wille ist kraft eben dieses Verfahrens dann der allgemein vereinigte Wille und seine personale Verkörperung ist der Souverän; denn nur dieses Verfahren erzeuge „un corps moral et collectif, composé d’autant de membres que l’assemblée a de voix“234. Dabei ist das Wort ‚moralisch‘ wohlgemerkt nicht bereits als ‚sittlich-gut‘ zu lesen, sondern als Gegensatzbegriff zu ‚natürlich‘ – wie auch bei Kant235. In diesem Sinn ist der Souverän eine fiktive Person, jenes „être de raison“: ein Kunstprodukt, das keine natürliche Person (kein Mensch) ist, „ce n’est pas un homme“. Doch insofern die Fiktionalität der souveränen Person in besagtem Willensbildungsverfahren gründet, ist der souveräne (Volks-)Wille nicht lediglich fingiert. Dank ihm ist er an die tatsächlichen Willen des historisch-wirklichen Volkes zurückgebunden. So gesehen ist das Volk auch de facto der Souverän im Staat.

233

Achenwall/Pütter 1750, § 540: „Hinc socii considerantur ut una persona, qualis persona ficta ex pluribus composita dicitur moralis seu mystica“, vgl. Maus 2011, 328 f. und Byrd/Hruschka 2010, 171-73. 234 Rousseau, Contrat Social, II, 6,10. 235 Vgl. Maus 2011 329 sowie Byrd/Hruschka 2010, 3 f.: „»Moral« in Kant’s terminology means non-physical. This meaning comes from Pufendorf ’s distinction between entia physica and entia moralia, physical and moral entities. »Moral« thus became to mean non-physical and »physical« to mean non-moral“.

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3.1.2 b Entidealisierung und Entfiktionalisierung der Rousseau’schen Volkssouveränität durch Kant

Kant übernimmt das Willensbildungsverfahren des ›Contrat Social‹ nicht nur in wörtlicher Übersetzung. Seine knapp bemessenen Worte wählt und präzisiert er auch so, dass er nicht nur auf Rousseaus Philosophie der Volkssouveränität verweist, sondern auch philosophisch zu ihr Stellung nimmt. Diese Stellungnahme bezieht sich vor allem auf Rousseaus Unterscheidung zweier Willen des Volkes: volonté générale und volonté de tous. Genauer:236 Einerseits sei die volonté générale der volonté de tous immanent und könne durch das Verfahren ermittelt werden, so Rousseau; andererseits nehme die volonté générale gegenüber der volonté de tous aber den Status eines unveränderlichen, reinen und letztlich unfehlbaren Willens ein. Letzteres lässt sich deuten als Problematik der „Unterscheidung zwischen unfehlbarer, normativ richtiger volonté générale und der fehlbaren, in den empirischen Abstimmungsergebnissen sich ausdrückenden volonté de tous“.237 Kants Stellungnahme besteht nun entgegen der gängigen Lesart238 darin, zugunsten der volonté de tous die volonté générale aus dem Vokabular des ‚Staatsrechts‘ zu streichen. Damit entfällt die Problematik eines idealen und unfehlbaren Volkswillens, welche Rousseaus ›Contrat Social‹ immer wieder unter den Verdacht des Antidemokratismus, ja sogar Totalitarismus gestellt hat.239 Von Belang ist nur noch der tatsächliche Wille der Menschen sowie die prozedurale Genese dieses Willens in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts. Auf diese Weise treibt Kant Rousseaus Projekt der Entidealisierung und Entfiktionalisierung der neuzeitlichen Staatslehre ein Stück weiter voran – mit Rousseau gegen Rousseau.240 236

Rousseau, Contrat Social, II, 3, IV, 1. Maus 2011, 344. 238 Vgl. exemplarisch Kersting 1984, 312-14 und Marey 2018, 558 f., 568, 573. 239 Vgl. grundlegend Talmon 1961, 38-49 sowie Hildebrand 2013, 61 f., der auf die Bedeutung dieser Rousseau-Lektüre in der alten Bundesrepublik eingeht, aber auch selbst die Möglichkeit des Totalitären bei Rousseau angelegt sieht, 53 f. 240 Allerdings: Ob Rousseaus Idealisierung in diesem Projekt nicht doch eine bisher unberücksichtigte philosophische und rhetorische Funktion einnimmt, gilt es zuallererst noch zu diskutieren. Aber das ist Aufgabe 237

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

Die philosophische Stellungnahme wird deutlich erkennbar, wenn man das von Kant gebrauchte Vokabular in Rousseaus Sprache zurückübersetzt. So ist der „Wille Aller“ (Satz 4) eine wörtlichere Übersetzung der volonté de tous als die gegenwärtig geläufige, die das Wort „Gesamtwille“ wählt (wie auch Kant in § 52, eA).241 Klar ist allerdings, dass hierunter der tatsächliche Wille Aller zu verstehen ist, oder, wenn man so will, der „empirische Wille der Bürger (die volonté de tous)“242. Demnach ist der „übereinstimmende und vereinigte Wille Aller“ (Satz 4) identisch mit dem „vereinigten Willen des Volkes“ (Satz 1) oder dem „allgemein vereinigte[n] Volkswille[n]“ (Satz 4). Deshalb kann letzterer Wille nicht einfach als der „allgemeine Wille“ interpretiert und schließlich als normativ unfehlbare volonté générale gedeutet werden, die in scharfer Abgrenzung zur volonté de tous stehe243. Angemessener ist, den „vereinigten Willen des Volkes“ (Satz 1) als volonté unifiée oder volonté synthetisée de tous zu übersetzen und den „allgemein vereinigte[n] Volkswille[n]“ (Satz 4) als volonté unifiée généralement de tous. Denn der Wille Aller ist darum im Zustand der allgemeinen Vereinigung oder Übereinstimmung, weil Alle ihn kraft öffentlicher Praxis in diesen Zustand gebracht haben, also allgemein vereinigt haben. Deshalb kann man ihn schließlich den „allgemein vereinigte[n] Volkswille[n]“ nennen. Kant bezeichnet den „vereinigten Willen des Volkes“ als den „übereinstimmende[n] und vereinigte[n] Wille[n] Aller“ (Satz 4), übersetzbar als volonté de tous consensuel et unifiée. Hiermit trägt er präzise und sogar präziser als Rousseau folgenden zwei Umständen der Rousseau’schen Philosophie der Volkssouveränität Rechnung: Zum einen hat der „allgemeine Wille“ (volonté générale) – nun verstanden als der allen distributiv gemeinsame Willen – dem Willen Aller (volonté de tous) immanent zu sein244. Zum anderen soll er durch der Rousseau-Forschung. Vgl. die Übersetzung von Hans Brockard, 2010, z. B. III,2. 242 Wolff 2013, 68, der auf Ernst Fraenkels (naheliegende) Unterscheidung zwischen einem hypothetischen und empirischen Volkswillen zurückgreift, Fraenkel 2004, 201-206, obwohl ein (rein) empirischer Wille nach Kantischem Verständnis angesichts des Vernunftursprungs einer jeden (freien) Handlung selbstverständlich ein Unding ist, vgl. RGV, Erstes Stück, IV, s. u., zu § 47, 2.2. 243 Vgl. Kersting 1984, 312 f. 244 Rousseau, Contrat Social, II, 3,2, IV, 1. 241

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das Verfahren des wechselseitigen Sich-Vertragens aktiv aus ihm hervorgebracht und zu einer moralischen Person synthetisiert werden. Doch bei Kant ist eben nur noch vom „vereinigten Willen des Volkes“ als dem „Wille[n] Aller“ die Rede – also nur noch von der volonté de tous. Damit entfällt die volonté générale als idealer, normativ unfehlbarer Volkswille. So wird ganz am Ende des ‚Staatsrechts‘ noch unmissverständlicher der „Gesamtwill[e] des Volks“ – die volonté de tous – als „Urgrund aller öffentlichen Verträge“ identifiziert (§ 52,3, aA). Überträgt Kant das Verfahren des ›Contrat Social‹ in sein ‚Staatsrecht‘, so übernimmt er damit auch die Logik des Abstimmungsmechanismus, den Rousseau dort explizierte. Dieser wird von Rousseau als Kunst („un art“) verstanden (im Sinn einer Staatstechnik),245 durch die Bedingung allseitiger und wechselseitiger Verpflichtung nur solche Willensresultate zustande zu bringen, die Ausdruck des allgemeinen Interesses sind.246 Damit eignet sich diese Technik als eine, durch die sich das Volk in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts rechtmäßig zu einem gemeinen Wesen konstituieren kann. Vom „gemeine[n] Wesen“ heißt es in § 43 nämlich, es werde 245 246

Rousseau, Contrat Social, II, 3,2, Fn., II, 1,3. Kraft dieser Bedingung werde aus der „volonté de tous“, verstanden als Summe von Einzelwillen („somme des volontés particulaires“), die Summe derjenigen Willensmeinungen („somme de différences“) weggenommen, die sich wechselseitig aufreiben („les plus et les moins qui s’entre-détruisent“). Übrig bleibe von der anfänglichen Summe der „volonté de tous“ dann die kleinere der „volonté générale“, vgl. Contrat Social, II, 3,2. Das leiste das Verfahren durch die Forderung nach Einstimmigkeit. Denn zum einen impliziert diese Forderung ein Vetorecht Aller, Verfügungen Anderer, welche den eigenen Interessen zuwiderlaufen, zurückweisen zu können. Zum anderen verbürgt sie, dass „dans cette institution, chacun se soumet nécessairement aux conditions qu’il impose aux autres“, II, 4,7. Der Grund dafür ist weniger die Form der Allgemeinheit der zu beschließenden Gesetze („l’universalité […] de l’objet“, II, 6,8), welche gleichgültig gegenüber Ungleichheiten ist (wie beispielsweise Privilegien, vgl. II, 6,6 sowie Ladwig 2004, 129). Er liegt vielmehr in der Gleichheit der Verpflichtung: „chacun envers tous, et tous envers chacun“, II, 4,8 („l’universalité de la volonté“, II, 6,8). Immerhin muss der Einzelne damit rechnen, dass keine allseitige Übereinstimmung zustande kommt, wenn er von Anderen etwas fordert, was er gegenüber sich selbst nicht fordern würde.

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„seiner Form wegen“ so genannt, „als verbunden durch das gemeinsame Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein“ (Satz 3). Kraft des Willensbildungsverfahrens können die Adressaten des Postulats nun genau dieses gemeinsame Interesse artikulieren, auf dieser Basis den souveränen Willen selbst bilden und dadurch gemeinschaftlich darauf hinarbeiten, dass durch die souveräne Gewalt der vom Postulat geforderte Endzustand verwirklicht wird, in dem „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“ (§ 41,1). Nimmt man die Perspektive der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts ein, so wird schließlich auch klar, warum in der Genese von metaphysischen Anfangsgründen des Staatsrechts auf die Fiktion einer unfehlbaren volonté générale verzichtet werden kann. Der Gesichtspunkt des Allgemeinen ist nämlich durch das Postulat des öffentlichen Rechts und die in ihm enthaltenen elementaren Rechtsgesetze und -pflichten bereits gegenüber seinen Adressaten eingefordert (vgl. Vorstudie). Mit dem Postulat liegen somit bereits die normativen Richtlinien vor, welche das Volk in seiner Sorge um die Herrschafts- und Gesetzgebungsangelegenheiten zu berücksichtigen hat. Es gibt also keinen Grund, den Willen des Volkes selbst zu idealisieren – auf eine sowohl ideologische als auch philosophisch fragwürdige Weise.

3.1.3 Volkssouveränität und das Problem der Widerrechtlichkeit traditioneller Herrschaft bei Kant und Rousseau Mit Blick auf Rousseaus ›Contrat Social‹ lassen sich viele Zwecke anführen, welche das Verfahren der Volkssouveränität vermeintlich verbürgt: so die Gerechtigkeit, Wahrheit, und Vernünftigkeit des positiven Rechts – dazu später mit Blick auf die Sekundärliteratur (in Kap. 3.3). An der einschlägigen Textstelle des ‚Staatsrechts‘ (§ 46,1) wird für das Verfahren allerdings nur ein einziger Grund angeführt, und zwar von einem genuin freiheitsrechtlichen Standpunkt aus: Niemandem soll vonseiten der souverän-gesetzgebenden Gewalt unrecht geschehen. Allein auf folgenden Punkt muss es daher in der Interpretation des ‚Staatsrechts‘ vorrangig ankommen: inwiefern das Verfahren zweckmäßig ist, in dieser Verfügungsrelation Unrecht strukturell zu vermeiden. Doch: Um welche Art von Unrecht handelt es sich hier überhaupt?

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Auch und vor allem in Hinblick auf diese Frage ist es aufschlussreich, § 46 in einer Parallel-Lektüre zusammen mit Rousseaus ›Contrat Social‹ zu lesen, dabei aber zugleich den weiteren Kontext des ‚Staatsrechts‘ mit zu reflektieren – nicht zuletzt, weil auch in Rousseaus Text der Maßstab der Einwilligung in rechtlicher Hinsicht, das Prinzip volenti non fit iniuria, der maßgebliche ist247. Wie in Rousseaus Philosophie der Volkssouveränität wird in § 46 nämlich das Modell einer einseitigen Verfügung gegenüber Anderen als Modell für die Einrichtung der souveränen Gewalt disqualifiziert; qualifiziert wird nur die Verfügung innerer Selbstbestimmung. Ausschlaggebend hierfür ist in § 46 wie gesagt die bloße Möglichkeit von Unrecht durch die souveräne Verfügung. In allen möglichen Fällen müsse sie ausgeschlossen sein: die souveräne Gewalt soll „schlechterdings niemand unrecht thun können“ (Kursivdruck: M.W.). Und weil unrechte Verfügungen im Fall einseitig-intersubjektiver Verfügungen „immer möglich“ sind, wird dieses Modell im ‚Staatsrecht‘ disqualifiziert. Ob solche Verfügungen aber notwendigerweise immer unrecht sind, oder in bestimmten Fällen doch auch rechtmäßig sein können, auch wenn sie stets unrechtsanfällig bleiben, ist in der offensichtlichen Argumentation des § 46,1 nicht von Belang. Was allein zählt, ist die Möglichkeit von Unrecht: Lässt sich auch nur ein Fall denken, in dem der Verfügende dem Herrschaftsunterworfenen unrecht tut, so ist das Modell disqualifiziert. Diese strenge Vorgehensweise dient letztlich dazu, die Begründung der Volkssouveränität weitgehend unabhängig zu machen von Auffassungen, die man über die Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit zwischenmenschlicher Verfügungsund Herrschaftsverhältnisse haben mag. Ein Fall unrechter Herrschaft wird sich denken lassen. Formallogisch konsistent ist solch eine Argumentationsstrategie, aber in der Sache scheint sie überspitzt und allzu undifferenziert zu sein. Das Thema der notwendigerweise (und nicht nur möglicherweise) unrechten, da freiheitswidrigen Verfügung spielt im Kantischen ‚Staatsrecht‘ indes eine große Rolle – wie auch im Referenztext des ›Contrat Social‹. So wird die Problematik in beiden Texten auf sehr differenzierte, aber durchaus vergleichbare Weise behandelt. Darum lässt sie sich recht einfach in einer Parallel-Lektüre beider Texte aufdecken. Im Zuge solch einer Lektüre kann aber zugleich auch das Profil 247

Vgl. z. B. Contrat Social, II, 4,5-8 und II, 6,7.

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der Kantischen Philosophie der Volkssouveränität weiter Kontur gewinnen, die sich durch besagte Praxis der Subversion traditionell-neuzeitlicher Souveränität kennzeichnet. Subversion der Souveränität: Davon sprach ich oben, weil durch die Einrichtung der „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) nach dem Modell der inneren Selbstbestimmung die freiheitswidrige Logik traditioneller Souveränität zu einer Logik der Freiheit gekehrt wird – sozusagen „von unterst zu oberst“248. Doch was ist damit genau gemeint? Das kann erst hinreichend verstanden werden, wenn man einsieht, in welcher Hinsicht die traditionelle Souveränität überhaupt freiheitsrechtlich problematisch ist. 3.1.3 a Zur Widerrechtlichkeit traditioneller Souveränität: Die Rousseau’sche Engführung von Herrschaft und Sklaverei

Sowohl im Kantischen ‚Staatsrecht‘, als auch im ›Contrat Social‹ wird eine einseitig-intersubjetive Verfügungstruktur thematisiert, durch die der Verfügende (der imperans) dem Unterworfenen (dem subditus) nicht bloß unrecht tun kann, sondern die im höchsten Grade „widerrechtlich“ (Allg. Anm., D,3) ist. Dies ist die Verfügung im Modell der Sklaverei (in Allg. Anm., D,4), auch Herr-Knecht-Verhältnis genannt, das letztlich mit dem Modell traditioneller Herrschaft zu identifizieren ist. Hier ordnet der subditus seinen Willen (als letzte Instanz der Selbstbestimmung) dem imperans vollständig unter und wird dadurch „zum bloßen Werkzeuge der Willkühr eines [= dieses] Anderen“. Von einer „Abhängigkeit“ ist die Rede, „dadurch er aufhört eine Person zu sein“: „Ohne alle Würde“ sei der Mensch nunmehr, seine (moralische) „Persönlichkeit“ habe er eingebüßt, seine „Pflichten“ seien auf den Herrn über ihn übergegangen. Gegen Versuche, sich freiwillig in ein derartiges Verhältnis zu begeben – und somit „seine Freiheit weg[zu]werfen“ (Allg. Anm., D,3) – wendet sich wie gesagt bereits die erste elementare Rechtspflicht, das honeste vive (vgl. Vorstudie, 4.2). Denn diese Pflicht ist nicht nur als Versklavungsverbot zu deuten, sondern als Gebot, die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung zu behaupten. Letztlich ist es die antik-römische Freiheit des liber homo, um die es hier geht; sich in sei248

Georges, 2892.

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ner eigenen Gewalt zu befinden und nicht in der eines Anderen, darauf komme es an; wer hingegen unter der letztinstanzlichen Verfügungsgewalt eines Anderen stehe, sei aller Freiheit beraubt und überhaupt kein echter handlungsfähiger Akteur mehr. Im Paralleltext Rousseaus wird der Freiheitsverzicht durch Selbstversklavung auf ähnliche Weise bestimmt. Eine Pointe des ›Contrat Social‹ ist allerdings, dass die Abhandlung und Kritik des HerrKnecht-Verhältnisses, das dort mit dem Modell der Sklaverei identifiziert wird, mit einer Kritik der neuzeitlich-vordemokratischen Souveränitätslehre enggeführt wird.249 Denn diese fordert die freiwillige Unterwerfung des Volkes unter ein Oberhaupt, das als höchste Gewalt und letzte Instanz der Willensbestimmung über die Willen der Menschen verfügt, und notfalls gegen sie. Das freilich sei eine Forderung nach einer freiwilligen Selbstversklavung, die einer radikalen Selbstauflösung und -vernichtung gleichkomme: „Renoncer à sa liberté, c’est renoncer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité, même à ses devoirs. Il n’y a nul dédommagement possible pour quiconque renonce à tout. Une telle renonciation est incompatible avec la nature de l’homme; et c’est ôter toute moralité à ses actions que d’ôter toute liberté à sa volonté“.250

Für diese Praktik steht in Rousseaus Œuvre schließlich der Begriff Despotismus, auch und vor allem als Epochenbegriff.251 Und als ‚Heilmittel‘ hiergegen wird im ›Contrat Social‹ schließlich der contrat oder pacte social eingeführt:252 Die staatliche Souveränität wie auch der Freiheitsgebrauch der Menschen soll durch eine öffentliche Praxis 249

Rousseau, Contrat Social, I, 4 und I, 5. Rousseau, Contrat Social, I, 4,6, Kursivdruck, M.W. Allerdings ist solch eine freiheitsverneinende Praxis sowohl bei Rousseau als auch bei Kant gleichermaßen rechtlich sowie praktisch unmöglich. Vgl. den weiteren Verlauf der eben zitierten Stelle des ›Contrat Social‹ mit § 30,3 des Kantischen Privatrechts: „ein Vertrag aber, durch den ein Theil zum Vortheil des Anderen auf seine ganze Freiheit Verzicht thut, mithin aufhört, eine Person zu sein, folglich auch keine Pflicht hat, einen Vertrag zu halten, sondern nur Gewalt anerkennt, [ist] in sich selbst widersprechend, d. i. null und nichtig“, Kursivdruck: M.W. 251 Rousseau, DsI, 262 f. Die Rede ist hier von einem „nouvel état de Nature“. 252 Rousseau, Contrat Social, I, 6: „Du pacte social“. 250

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sich selbst bejahender Freiheit zurechtgebracht werden – durch die Volkssouveränität. In Kants ‚Staatsrecht‘ hingegen erfolgt zuerst einmal keine explizite Zusammenführung der traditionellen Souveränitätslehre mit der Problematik der Sklaverei. Systematisch hätte dies bereits in den §§ 43-45 geschehen müssen, also in der vordemokratischen Sektion des ‚Staatsrechts‘. Ab der Begründung der Volkssouveränität im vorliegenden § 46 handelt es sich schließlich nicht mehr um jene ‚alte‘ Souveränität, sondern um eine freiheitlich korrigierte, da bereits subvertierte. Allerdings gibt es ab § 46 eine Vielzahl von Stellen, in welchen die Relation zwischen Souverän und Untertan so betrachtet wird, als wäre der Untertan nicht zugleich Staatsbürger, also nicht auch Glied des Souveräns, sondern bloßer Untertan, – was wohlgemerkt auch im Kantischen Staatsdenken dem Status eines Sklaven gleichkommt. Engt man die Perspektive nämlich auf das Herrschaftsverhältnis ein, das für die Volkssouveränität grundlegend ist, wie auch für jede andere Form der Souveränität, so kann man selbst das subvertierte Herrschaftsverhältnis der Volkssouveränität noch als zutiefst freiheitswidriges Herr-Knecht-Verhältnis betrachten. 253 Und zutiefst freiheitswidrig ist dieses, weil es eine Relation realisiert, in der sich die Menschen als Untertanen nicht mehr in letzter Instanz selbst bestimmen können.

253

So heißt es beispielsweise zu Beginn der Allgemeinen Anmerkung, A,2: „der Herrscher im Staat hat gegen den Unterthan lauter Rechte und keine (Zwangs-)Pflichten“. Solch eine Aussage suggeriert eine völlige Ungebundenheit des Souveräns und zugleich einen maximalen Zugriff auf die Willen der Menschen. Zugleich wird das „Volk, als die Menge der Unterthanen“, B,1, in seiner Relation zum Souverän als bloße „Masse“ bezeichnet, D,3. Das Wort „Masse“ steht aber für das anorganische, formlose und beliebig zu formende Material (das griechische maza heißt ‚Brotteig‘, das lateinische massa ‚Klumpen‘). Entsprechend war in § 43 zu Beginn des ‚Staatsrechts‘ lediglich von einem die Menschen als solche vereinigenden Willen die Rede. Letztlich ist aber auch in der Rede von der „H e rrs che rge walt (Souveränität)“, § 45,2, von einem Herrn und Herrscher die Rede, dem als Gegenbegriff traditionell weniger der Untertan zuzuordnen ist, als vielmehr der Knecht.

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3.1.3 b Zur Unrechtsanfälligkeit einseitiger Verfügungen: Der Rousseau’sche Rekurs auf die Logik des Willens

Im ›Contrat Social‹ lässt sich allerdings auch eine Argumentation finden, laut der einseitig-intersubjektive Verfügungen gegen Andere nicht notwendig freiheitswidrig und „widerrechtlich“ sind, sondern lediglich unrechtsanfällig; – eine Argumentation die sich aber ebenfalls gegen solche Verfügungen im ‚Staatsrecht‘ wendet. Gemeint ist die Argumentation gegen die Stellvertretung und für die Unveräußerlichkeit des souveränen Volkswillens im zweiten Buch des ›Contrat Social‹: „Que la souveraineté est inaliénable“.254 Hierauf spielt Kant schließlich im letzten, eingerückten Absatz des ‚Staatsrechts‘ an. Auch für sie ist wieder das Prinzip der Einwilligung (volenti non fit iniuria) maßgeblich, insofern hier konsequent vom Willen aus argumentiert wird. Der Wille ist dabei als Vermögen der Wahl und Entscheidung zu verstehen. Schließlich legt auch Kant diesen Willensbegriff seiner ›Metaphysik der Sitten‹ zu Grunde, wenn er weniger die Willkür (die man allein als Vermögen der Wahl („choice“) verstehen könnte)255, sondern vielmehr den Willen als „Vermögen“ thematisiert, „nach Belieben zu thun oder zu lassen “ (EMdS, I,6, s. u.). Der Rekurs auf den ›Contrat Social‹ eröffnet damit die Option einer Lesart des dritten Satzes des § 46,1, derzufolge Unrecht kraft einseitig-intersubjektiver Verfügungen zwar „immer möglich“ ist, aber eben nicht notwendig eintreten muss (Kursivdruck: M.W.). Diese Lesart einzuräumen, ist im Rahmen einer Rechtslehre allerdings sehr wichtig. Sie erlaubt es, prinzipiell unrechtsanfällige Verfügungen im öffentlichen Recht dort auszuschließen, wo es um die letztinstanzliche Selbstbestimmung in toto geht, sie aber im Privatrecht zuzulassen, wo solche Verfügungen in Form von klar umrissenen und kontrollierbaren Autorisationen durchaus ihre Berechtigung haben können. In der Kantischen Terminologie formuliert lautet der Gedanke Rousseaus nun: Nach dem Prinzip volenti non fit iniuria beurteilt, geschieht infolge einer Verfügung über einen Anderen kein Unrecht, wenn dieser Andere in das einwilligt, was (materialiter) über ihn verfügt wird. Wenn das Modell einseitig-intersubjektiver Verfügung also dem Modell intrasubjektiver Verfügung entspricht, dann geschieht 254 255

Rousseau, Contrat Social, II,1. Vgl. die englische Übersetzung von Mary J. Gregor.

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durch die intersubjektive Verfügung niemandem Unrecht – weil sie dann nicht mehr einseitig ist. Genau diese Logik ist es schließlich, die es auch bei Kant möglich macht, das Modell intersubjektiver Verfügung zu bewahren, obwohl es als solches disqualifiziert ist – sowohl im Beschlussverfahren selbst wie auch in der Verfügung des souveränen Willens über seine Untertanen. Denn wie bei Rousseau garantiert das Verfahren bei Kant, dass nur solche Verfügungen möglich sind, in denen eine allseitige Einwilligung besteht, in denen also auch derjenige, über den verfügt wird, miteinwilligt. Im Wortlaut Rousseaus: Das Verfahren ist eine Institution der Einwilligung, die dafür Sorge trägt, dass „les sujets ne sont soumis qu’à de telles conventions, ils n’obéissent à personne, mais seulement à leur propre volonté“.256 Rousseau zufolge können allerdings auch die Verfügungen eines fremden Souveräns und dessen Einzelwille („volonté particulière“) bereits vor der Errichtung solch einer Institution mit den Willen der Untertanen übereinstimmen – ja sogar mit der „volonté générale“ des Volkes.257 Überdies wird eingeräumt, man könne und dürfe vom allseitigen Schweigen des Volkes auf dessen Zustimmung schließen („du silence universel on doit présumer le consentement du Peuple“):258 Im Fall des unterlassenen Widerspruchs vonseiten des Volkes können die Verfügungen der Oberhäupter als Gemeinwillen durchgehen („les ordres des chefs […] puissent passer pour des volontés générales“). Vom Prinzip volenti non fit iniuria aus beurteilt könnte man diesbezüglich also sagen, dass es sich nicht um unrechte Verfügungen handelt. Der Einwand in Rousseaus Argumentation259 lautet jedoch, es sei „unmöglich“, dass solch eine Übereinstimmung der Willen dauerhaft und konstant ist: „Il est impossible, au moins que cet accord [des volontées] soit durable et constant“. Ja, es sei sogar „noch unmöglicher“, dass es einen Garanten für diese Übereinstimmung geben kann, selbst wenn sie für immer bestehen sollte: „Il est plus impossible encore qu’on ait un garant de cet accord quand même il devroit toujours exister; ce ne seroit pas un effet de l’art, mais du hazard“. Als Grund führt Rousseau letztlich eine Reflexion über den 256

Rousseau, Contrat Social, II, 4,8, Kursivdruck: M.W. Rousseau, Contrat Social, II, 1,3. 258 Rousseau, Contrat Social, II, 1,5. 259 Rousseau, Contrat Social, II, 1,3. 257

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Willen an. Sie weist auf die Beliebigkeit hin, welche Wahl und Entscheidung der Wille fällt: Der Souverän könne zwar heute sagen, dass er im Augenblick das wolle, was ein bestimmter Mensch im selben Augenblick will oder zumindest angibt, zu wollen; aber er könne nicht sagen, dass dies morgen immer noch so sei: „Le Souverain peut bien dire: je veux actuellement ce que veut un tel homme, ou du moins ce que’il dit vouloir; mais il ne peut pas dire: ce que cet homme voudra demain, je le voudrai encore“. Darum sei es absurd, dass sich der Wille Ketten für die Zukunft anlegt: „puisqu’il est absurde que la volonté se donne des chaînes pour l’avenir“. Hiermit kommt Folgendes zum Ausdruck: Der Wille ist als „Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen “ ein unberechenbares Vermögen. Das charakterisiert den modernen Willensbegriff: 260 Zum einen ist die Erstursächlichkeit für ihn kennzeichnend, 261 zum anderen ist der Wille als genau solch ein derart ungebundenes Vermögen der Wahl aber auch nicht simpel und quasi naturkausal durch vernünftige Gründe determiniert. Denn auch die Selbstbestimmung anhand von für vernünftig gehaltenen Gründen ist eine spontane, die in Form einer Einwilligung erfolgt, die nicht von vornherein festgelegt ist durch ebendiese Gründe. Vor sich hat der Wille „eigentlich keinen Bestimmungsgrund“ (EMdS, I,6).262 260

Poppenberg 2012, 260, 264, 266-8, 272 f. Vgl. KrV, A 532-534/B 560-562. 262 Vom „Vermögen nac h Be lieb e n zu t hun ode r zu lass en “ spricht die Einleitung in die Metaphysik der Sitten in der Schlüsselstelle zum Verhältnis von Wille und Willkür (EMdS, I,6). Allerdings identifiziert die Kant-Literatur primär die Willkür als dieses Vermögen, nicht aber den Willen, vgl. z. B. wieder die englische Übersetzung von Willkür als „choice“. Bei genauerer Lektüre zeigt sich jedoch, dass dort allem voran der Wille als solch ein Vermögen bestimmt wird: Zuerst einmal ist in I,6 ganz allgemein vom „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ die Rede (in Satz 1). Es sei „ein Vermögen nac h Be lieb e n zu t hun ode r zu lasse n “, sofern nicht das begehrte Objekt oder dessen Vorstellung darüber bestimmt, ob das Objekt begehrt wird, sondern stattdessen der „Bestimmungsgrund“ des Vermögens „in ihm selbst“ liege. Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung, darum geht es hier. Wille, Willkür und ferner auch Wunsch werden im Anschluss daran jedoch (in den übrigen Sätzen 2-4) weniger als eigenständige Vermögen eingeführt, sondern vielmehr als Benennungen des einen (Wahl- und Willens-)Vermögens („heißt […] Willkühr “, „heißt […] ein Wuns ch “, „heißt der Wil 261

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Ist der Verfügende also ein Anderer, so ist es zwar nicht notwendig, doch „immer möglich“, dass seine Verfügung gegen das Prinzip der Einwilligung verstößt (Kursivdruck: M.W.). Wird die Verfügung indes an die Einwilligung der Subjekte gekoppelt, über die verfügt wird, so ist dies „nie“ möglich. Das leistet Rousseau zufolge das Willensbildungsverfahren, und zwar als Staatskunst („effet de l’art“).263 Schließlich kann der Wille des Volkes deshalb auch nicht durch den Willen einer einzelnen Person vertreten werden, so Rousseau; darum sei er unveräußerlich, inaliénable. Mit Kants Worten: Die souveräne Gewalt kann „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“. Rousseaus Argumentation lässt sich freilich als ideologisch kritisieren, zumindest partiell. Ein fremder Souverän muss nämlich wie gesagt um seiner Souveränität willen notwendig den Anspruch erheben, in letzter Instanz über die Willen seiner Untertanen zu verfügen. Darum ist das Prinzip der Einwilligung selbst dann verletzt, wenn es le “). Hierbei bezeichnen die Ausdrücke verschiedene Aktivitäten des Vermögens. So heiße das Vermögen „Willkühr “, „[s]ofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist“, also sofern das Wollen über sein Können Bescheid wisse (Satz 2, Kursivdruck: M.W.). Folglich steht das Wort „Will kühr“ gerade nicht für den Aspekt der Wahl („choice“). Entsprechend rückt das „Belieben“, welches für das (Willens-)Vermögen charakteristisch ist, erst wieder in den Blick, wenn in Abhebung zur Willkür der Aspekt reflektiert wird, welcher „der Wille “ heiße (Satz 3, Kursivdruck: M.W.): „Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird“, werde und sei so zu nennen („der Wille “). Dass hierbei der Aspekt spontaner letztinstanzlicher Selbstbestimmung gemeint ist, verdeutlicht die erläuternde Konklusion (in Satz 4): Wenn man vom Willen spreche, werde das Begehrungsvermögen zwar auch „(wie die Willkühr) in Beziehung auf die Handlung […] betrachtet“, aber „vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkühr zur Handlung“; in den Blick genommen wird die Instanz, welche höchst-überlegen (souverän) über der Willkür steht und diese zur Handlung bestimmt – und „selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund“ hat. Dann sei das Vermögen „die practische Vernunft selbst“, die praktische Vernunft überhaupt. Es ist also primär der Ausdruck „Wille“, der die Eigentümlichkeit jenes innerlich und äußerlich ungebundenen Begehrungsvermögens bezeichnet, „nach Be lieb e n zu t hun ode r zu lasse n “. 263 Rousseau, Contrat Social, II, I,3 sowie 3,2, Fn.

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eine scheinbare Übereinstimmung gibt zwischen den Willen der Untertanen und dem Willen des Souveräns. 264 Allerdings führt die Frage, warum Rousseau in der Argumentation gegen die Stellvertretung des Volkswillens die Perspektive auf diesen Gesichtspunkt einengt, direkt zum rechtsphilosophischen Kernpunkt seiner Argumentation. Denn im privatrechtlichen Bereich kann das Modell der Willensvertretung durchaus mit dem Prinzip der Einwilligung (volenti non fit inuiria) kompatibel sein. Hier kann nämlich sogar eine Stellvertretung durch Autorisation als freiheitsrechtlich unproblematisch gewertet werden, wenn sie als eine Delegation gewisser Aufgaben in Form eines klar umgrenzten Auftrages erfolgt, welcher der staatlich-souveränen Kontrolle und Sanktion unterliegt. Im öffentlich-rechtlichen Bereich verhält es sich jedoch ganz anders. Lässt sich das Volk in der Ausübung der Souveränität vertreten, so kann es den Willen des Stellvertreter-Souveräns zum einen nicht mit den im Privatrecht zur Verfügung stehenden Mitteln rechtlich sanktionieren. Denn die Instanz der Souveränität ist zugleich die Instanz, der allein die Ausübung von Rechtszwang anheimgestellt ist. Zum anderen handelt es sich aber auch um eine Stellvertretung der Willen in toto, soll die souveräne Gewalt doch die oberste Gewalt und letzte Instanz der Willensbestimmung im Staat sein. Darauf verweist Rousseau wie gesagt im einschlägigen Kapitel: Wenn es sich um den Willen als Vermögen letztinstanzlicher Selbstbestimmung handelt, so kann nicht im Voraus umrissen werden, wie er sich artikulieren mag. Und deshalb kann der tatsächliche Wille nicht durch einen fremden Willen auf Dauer vertreten werden.

3.1.4 Fazit Im Rückblick auf die nun vorliegende Parallel-Lektüre kann man folgende (Kern-)Punkte festhalten: Einerseits (so Kap. 3.1.2) führt Kant Rousseaus Projekt der Entidealisierung und Entfiktionalisierung der neuzeitlichen Doktrin der (Volks-)Souveränität fort, indem er auch noch die Rousseau’sche Philosophie der Volkssouveränität entideali264

Auf diese Problematik weist auch Quentin Skinner hin, 2006: „Aber schauen Sie sich die römischen Komödien an: Die Sklaven tollen wild auf der Bühne herum, führen den Haushalt, haben ihren Spaß, haben Geld zum Ausgeben - aber sind doch Sklaven!“

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siert und entfiktionalisiert. Dies erreicht er durch den konsequenten Verzicht auf den ideologisch wie philosophisch fragwürdigen Begriff eines idealen Volkswillens. Andererseits (so Kap. 3.1.3) zeigt sich in der Parallel-Lektüre aber auch, dass im Kantischen ‚Staatsrecht‘ wie in Rousseaus ›Contrat Social‹ zwischenmenschliche Verfügungen einseitiger Art auf eine sehr komplexe Art und Weise rechtlich beurteilt werden, nämlich zweistufig: Notwendigerweise widerrechtlich sind sie, wenn es sich um Herrschaftsverfügungen handelt, die als solche eine letztinstanzliche Willensbestimmung beabsichtigen. Denn das läuft auf Sklaverei hinaus. Lediglich unrechtsanfällig aber sind einseitig-intersubjektive Verfügungen, wenn sie nicht auf solch eine Willensbetätigung und -entäußerung abzielen. Deswegen können sie im privatrechtlichen Bereich unter Einschränkung erlaubt sein. Doch im öffentlich-rechtlichen Sektor sind sie zu unterlassen, eben weil die Souveränitätsausübung von Begriff her letztinstanzliche Willensbestimmung ist. Darüber Bescheid zu wissen ist schließlich für die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts von Belang, sollen sie doch die „Herrschergewalt (Souveränität)“ so einrichten und ausüben, dass niemandem Unrecht durch die souveräne Gewalt geschieht – und auch in dieser Hinsicht war die Parallel-Lektüre aufschlussreich. Allerdings ist der Erkenntnisgewinn der Parallel-Lektüre beschränkt. Denn die Argumentation für die (Roussesausche) Volkssouveränität in § 46,1 kann man auch ganz anders auslegen, und zwar genau entgegengesetzt: antirousseauistisch, mit Hobbes. Dafür muss man nur den freiheitsverneinenden Gesichtspunkt einnehmen und von ihm aus die Passage lesen. Eine ganz andere praktische Erkenntnis ist dann dort nachzuvollziehen. Darum ergänze ich die soeben vorgelegte Parallel-Lektüre im Folgenden (in Kap. 3.2.1) durch eine Hobbes’sche Gegenlektüre, welche die Rousseau’sche Argumentation des § 46,1 strategisch untergräbt. Aber auch diese Lektüre unterziehe ich wiederum (in 3.2.2) einer Kritik vom entgegengesetzten freiheitsbejahenden Gesichtspunkt aus. Erst so ergibt sich ein hinreichend differenziertes Bild über die staatsphilosophische Arbeit, die in § 46,1 stattfindet.

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3.2 Kant und Hobbes: Eine subversive Gegenlektüre 3.2.1 Die Hobbes’sche Gegenlektüre: Volkssouveränität und ‚politische‘ Autorisation Vom Prinzip volenti non fit iniuria machen nicht nur Kant und Rousseau Gebrauch, die beide in der römisch-republikanischen Tradition des Staatsdenkens stehen. Auch Hobbes bedient sich dieses Prinzips, allerdings um gegen die Reaktualisierung dieser Tradition durch seine Zeitgenossen zu opponieren (vgl. Einleitung). Hierbei nimmt die Technik der Autorisation die Schlüsselrolle ein: Wenn derjenige, über dessen Willen seitens eines Anderen als letzter Instanz verfügt wird, diese Verfügung autorisiert habe, dann sei es ebenfalls nicht möglich, dass der Verfügende „ihm dadurch unrecht thue“. Die Autorisation codiert schließlich die intersubjektiv-einseitige Verfügung „gegen einen Anderen“ in eine intrasubjektive „über sich selbst“ um: „every Subject is Author of every act the Soveraign doth“. 265 So geschehe dem Untertan selbst dann kein Unrecht, wenn der Souverän ihn töte: „And the same holdeth also in a Soveraign Prince, that putteth to death an Innocent Subject“; „yet it was not an Injurie to Uriah […] because the right to doe what he pleased, was given him by Uriah himself“.266 Unter der Voraussetzung einer Autorisation verschwimmen daher beide Fälle und Modelle des § 46,1 dahingehend, dass sie ununterscheidbar werden. Denn einerseits wird dann die Kompetenz der Selbstbestimmung auf einen anderen Menschen projiziert – Rousseau spricht von einer aliénation totale,267 Kant von Veräußerung (vgl. § 52,3, eA). Andererseits bleibt das projizierende Subjekt aber trotzdem Autor der Handlungen dieses Anderen. Doch noch mehr: Unter der Voraussetzung einer allseitigen Autorisation der souveränen Gewalt lässt sich deren Verfügung auch vom Prinzip der Einwilligung her so 265

Hobbes, Leviathan, Kap. 21, 170. Hobbes, Leviathan, Kap. 21, 170. 267 In der Rousseau-Literatur wird allerdings immer wieder verkannt: Rousseau verwendet den Begriff der aliénation totale in Contrat Social, I, 6,6 vor allem, um darauf hinzudeuten, dass seine neue Philosophie der Volkssouveränität hauptsächlich eine Umbildung der Hobbes’schen Variante und der für sie konstitutiven Autorisationsstruktur ist. 266

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denken, dass sie rechtmäßig ist – und zwar wieder genau deshalb, weil sie als nach dem Rousseau’schen Willensbildungsverfahren generiert gedacht werden kann, dem zufolge „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“. So heißt es bei Hobbes: „The Law is made by the Soveraign Power, and all that is done by such Power, is warranted, and owned by every one of the people; and that which every man have so, no man can say is unjust. It is in the Lawes of a Common-wealth, as in the Lawes of Gaming: whatsoever the Gamesters all agree on, is Injustice to none of them“.268

Liegt eine allseitige Autorisation vor, so wird die souveräne Gewalt darum „schlechterdings niemand unrecht thun können“. Folglich ist es nicht notwendig, dass aus der Perspektive des volenti non fit iniuria ausschließlich dem Volk die souveräne Gewalt zukommen kann: „Whether a Common-wealth be Monarchicall, or Popular, the Freedome is still the same“269. Akzeptiert man im Staatsrecht also das Prinzip der Autorisation des Willens (als Vermögen letztinstanzlicher Selbstbestimmung), so fällt die Argumentation des § 46 in sich zusammen. Aber noch mehr: Nach der Kantischen Freiheitsphilosophie ist eine Verfügung über eine Person grundsätzlich nur möglich, wenn eine Einwilligung dieser Person vorliegt, – was selbst für den Fall der Sklaverei in einem Herr-Knecht-Verhältnis gilt. Anders formuliert: Die einseitig-äußere Bestimmung des Willens eines freien Subjekts ist nur möglich, wenn das Subjekt sich zum Autor dieser Verfügung macht. Möglich ist sie also nur kraft Autorisation (s. o. (zu § 44)). So gesehen muss auch aus der Perspektive der Freiheit die Gegenüberstellung des Modells der einseitig-intersubjektiven Verfügung einerseits und der intrasubjektiven Verfügung andererseits in letzterem Modell zusammenfallen. Auch von den Prämissen der Kantischen Freiheitsphilosophie ausgehend lässt sich die Argumentation des § 46 also in Hobbes’scher Manier auflösen – zugunsten des Prinzips der Autorisation.

268 269

Hobbes, Leviathan, Kap. 30, 274. Hobbes, Leviathan, Kap. 21, 171.

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3.2.2 Kritik der Gegenlektüre und Relektüre des § 46,1: Das Prinzip der ‚politischen‘ Autorisation als Prinzip der Selbstverneinung des Willens Die Argumentation des § 46,1 wäre damit jedoch verkannt, und das aus der Hobbes’schen Perspektive heraus sogar wohl willentlich-strategisch. Das lässt sich einsehen, wenn man § 46,1 erneut als punktuell erreichten Schritt in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts reflektiert. Wie oben dargelegt handelt es sich in § 46,1 nämlich genau um den Punkt, an dem die Freiheit sich in ihrem Standpunkt selbst rehabilitiert und geltend macht, nachdem sie zuvor auf Basis der Hobbes’schen Intention – Rechtsfrieden über Freiheit – in ihrem Recht letztlich verneint wurde. Doch auch hier ist Vorsicht angebracht. Denn auch diese Verneinung musste als selbstverschuldet betrachtet werden, als selbstverschuldete Selbstverneinung. Sie wurde schließlich von der praktischen Vernunft als ‚Heilmittel‘ eingeführt, um die rechtlich-desaströsen Folgen jener Freiheitsbehauptung unschädlich zu machen: via Autorisation und Unterwerfung unter eine souveränen Gewalt (s. o. (zu § 44)). Es handelte sich daher um eine in eigener Verantwortung gewählte Strategie der praktischen Vernunft, dem Postulat des öffentlichen Rechts genüge zu tun. Auch von dieser Position kann man also sagen: Den Menschen kann auch in ihrer Rolle als Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts vonseiten der souveränen Gewalt kein Unrecht geschehen, wenn sie sich in der Befolgung des Postulats dieser Gewalt gemeinschaftlich unterwerfen. Allerdings ist aus der Perspektive der Freiheit erkennbar, dass die Menschen sich selbst „im höchsten Grade unrecht“ tun, in solch einem Zustand „sein und bleiben zu wollen“ (vgl. § 42,3). Einsehbar ist nämlich von der Freiheitsperspektive aus auch, dass die Menschen mit diesem Schachzug im Begriff sind, ihre Willen als letzte Instanz ihrer Selbstbestimmung zu verneinen – und damit ihre Freiheit, Autonomie, und Würde aufgeben. Aber noch mehr: Würden die Menschen aufhören, Personen zu sein, könnten sie auch nicht weiter sinnvollerweise von Pflichten adressiert bleiben, zu denen nicht zuletzt auch das Postulat des öffentlichen Rechts zählt. Allein schon als Schachzug in der Befolgung des Postulats ist die Aktion also bereits unsinnig. Worauf es aber letzten Endes ankommt, ist die elementare Rechtspflicht des honeste vive, seine Freiheit und Würde aktiv zu

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haupten. Die ist wie gesagt auch im Postulat des öffentlichen Rechts mitenthalten und muss in seiner Befolgung mitbefolgt werden (vgl. Vorstudie). Gegen diese Pflicht verstößt die Strategie des § 44 vorsätzlich, – eine Strategie, die wie gesagt darin besteht, sich von den Problemen der (individuell-anarchischen) Freiheitsbehauptung mit einem Schlag dadurch befreien zu wollen, dass das Postulat des öffentlichen Rechts schlicht als Unterwerfungsgebot reformuliert wird. Indes: Aus der rehabilitierten Freiheitsperspektive (der Einwilligung) ist nicht nur der Stand der Rechtslehre im Prozess der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts zu korrigieren, sondern auch der Korrekturvorschlag des § 46,1 zu interpretieren. Denn was hier korrigiert wird, ist eben der freiheitswidrige Stand der vordemokratischen und letztlich Hobbes’schen Staatslehren. Erhellend ist an diesem Punkt wieder ein Seitenblick auf den ›Contrat Social‹: Kant bringt die traditionell-neuzeitliche Staatslehre in der vordemokratischen Sektion des ‚Staatsrechts‘ nämlich lediglich zur Darstellung, um sie dann weiter und genauer zu bestimmen; Rousseau hingegen kritisiert sie expressis verbis, und durchaus heftig. Doch ebendiese Kritik und Korrektur wiederum vom vordemokratischen Standpunkt aus auflösen zu wollen, wäre buchstäblich reaktionär. Es wäre ein Versuch, die Rehabilitierung einer sich selbst bejahenden und behauptenden Freiheit aus der Perspektive der Feiheitsverneinung heraus rückgängig zu machen. In Anbetracht der freiheitswidrigen Lesart des § 46,1 ist daher bei der Lektüre dieses ersten Absatzes Folgendes zu beachten: Oberflächlich gelesen geht es wie gesagt darum, ausfindig zu machen, wie die souveräne Gewalt einzurichten ist, damit sie niemandem unrecht tun kann. Mit Rekurs auf den Prozess der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts ist aber auch klar, dass die Adressaten des Postulats vor allem sich selbst (aktiv) unrecht täten, würden sie eine Gewalt über sich einsetzen, durch die ihnen in der Position des Untertanen (passiv) unrecht geschähe. Das zu verhindern, darauf kommt es in § 46,1 an; so ist der zweite Satz des § 46,1 zu lesen. Von diesem Standpunkt aus handelt es sich im dritten Satz schließlich um eine perspektivische Verkürzung auf den Gesichtspunkt, wie vom Prinzip der Freiheit (der Einwilligung) aus beurteilt in einer Verfügung grundsätzlich kein Unrecht möglich ist. Doch auch diese Verkürzung ist bereits Ausdruck einer Selbstbestätigung der Freiheit (dem honeste vive zufolge). Wenn also im dritten Satz die Verfügung

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„gegen einen Anderen“ disqualifiziert und lediglich die Verfügung „über sich selbst“ qualifiziert wird, so ist nicht zu vergessen: Auch diese Vergewisserung steht im Dienst der übergeordneten Freiheitsperspektive, die darauf achtet, dass ihr selbst durch die Einrichtung einer äußeren Gewalt kein Unrecht geschieht. Vom Prinzip des volenti non fit iniuria aus und mit Blick auf den übergeordneten Gesichtspunkt ließe sich allerdings auch argumentieren, die Forderung sei ohnehin sinnlos, die souveräne Gewalt so einrichten zu wollen, dass sie niemand unrecht tun kann: Denn selbst wenn sie den Menschen im höchsten Grade unrecht täte, geschähe ihnen eben dadurch kein Unrecht, weil sie diese Gewalt ja eigenverantwortlich so eingerichtet hätten („denn volenti non fit iniuria“). Formallogisch ließe sich vielleicht derart fatalistisch argumentieren, aber eben nicht vom Standpunkt einer um sich selbst besorgten und sich selbst bejahenden Freiheit (reiner rechtlich-praktischer Vernunft). Von diesem Gesichtspunkt aus wird schließlich auch klar, warum das Prinzip volenti non fit iniuria nicht besagte Einwilligung rechtlich erlaubt, die im Fall einer ‚politischen‘ Autorisation erfolgt: die Ermächtigung einer Person, den Willen einer anderen als letzte (souveräne) Instanz der Selbstbestimmung stellvertretend zu betätigen. Denn autorisiert eine Person eine andere hierzu, so ist dies eine Einwilligung, durch die zugleich eine abstrakte Einwilligung hinsichtlich aller möglichen Verfügungen dieser Person erfolgt – es handelt sich eben um den Willen als letzte Instanz der Selbstbestimmung. So gesehen kann man mit Hobbes sagen: Durch den Autorisationsakt werden alle möglichen Verfügungen gewollt und darum geschieht dem Einwilligenden infolge all dieser Verfügungen auch kein Unrecht („denn volenti non fit iniuria“). So ist es ausgerechnet Hobbes, der auf das genuin rechtliche Problem aufmerksam macht: Mit solch einer Autorisation erfolgt auch eine Einwilligung zu Verfügungen, die man ganz klar als unrecht erkennt und in die man wohl nicht einwilligen würde – wie die Einwilligung, dass man trotz völliger Unschuld willkürlich hingerichtet wird (s. o.). Der Hinweis verdeutlicht aber auch wieder: Die Technik der Autorisation läuft auf die Abstellung jeder tatsächlichen Einwilligung hinaus – und kommt damit einer Verneinung des Willens als Vermögen spontaner Einwilligung und Nicht-Einwilligung gleich, was wiederum ein Verlust der Willenskompetenz als Ganzer bedeutet, nicht nur in rechtlicher, sondern in allgemein-moralischer Hinsicht

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wortlich und zurechenbar zu sein. Denn eine allumfassende Autorisation des Willens als Vermögen letztinstanzlicher (souveräner) Selbstbestimmung mag zwar durch eine Einwilligung erfolgen. Doch diese ist dann eine, die es zum Ziel hat, die Unterbindung jeder tatsächlichen Einwilligung oder Nicht-Einwilligung gegenüber den Verfügungen des Anderen abstrakt in einer allumfassenden Einwilligung aufzuheben – in rechtlichen, wie auch in allgemein-moralischen Angelegenheiten. Die intendierte Wirkung des Prinzips solch einer Autorisation ist folglich die Aufhebung der Willenskompetenz letztinstanzlicher Selbstbestimmung überhaupt. Damit handelt es sich um ein Prinzip der Verneinung des Willens durch sich selbst. Für ein Subjekt, das genau diesen Verlust will, steht im Kontext des vorliegenden Paragraphen schließlich der Begriff des civiliter Unmündigen (§ 46,2). Mit ihm artikuliert Kant die Problematik der „selbst verschuldeten Unmündigkeit “ auch im ‚Staatsrecht‘ von 1797. Und diese Problematik ist mit derjenigen der öffentlich-rechtlichen Selbstversklavung zu identifizieren, welche durch das ‚Heilmittel‘ Volkssouveränität ihr Ende finden soll (s. o.). Mit Blick auf das Kantische Programm einer Metaphysik der Freiheit kann man daher sagen: Die Volkssouveränität ist nicht nur eine a priorische Weiterbestimmung eines historisch gegebenen Begriffs der Souveränität, die wiederum durch eine praktische Subversion dieses Begriffs in einer öffentlichen Praxis der Freiheit realisiert werden soll. Vielmehr muss sie mit Rousseau auch als ‚Heilmittel‘ gegen eine historische Praxis der Selbstdegradierung der Freiheit durch sich selbst verstanden werden, insofern in ihr auch der öffentlich-rechtliche Freiheitsgebrauch „von unterst zu oberst [ge]kehr[t]“270 (subvertiert) wird: von einer öffentlich-rechtlichen Selbstverneinung der Freiheit zu einer entsprechenden Selbstbejahung. Darum ist die Kantische Volkssouveränität auch als Programm der Überwindung des auf Hobbes zurückgehenden modernen Prinzips der Repräsentation qua Autorisation zu deuten – welches in Wahrheit eben ein Prinzip der Willensverneinung ist.271 270 271

Georges, 2892. Das moderne Prinzip der Repräsentation darf deshalb auch nicht auf ein Prinzip der Stellvertretung verkürzt werden. Denn damit fiele die komplexe und eigentlich problematische Struktur der Aufhebung von Personalität und Subjektivität aus dem Blick: Einerseits wird die Kompetenz der Selbstbestimmung eigentlich weniger auf einen anderen

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3.3 Kersting und Maus: Die Prozeduralismus-Interpretation des § 46,1 Auch in der gegenwärtigen Diskussion über das Kantische ‚Staatsrecht‘ wird das Rousseau’sche Willensbildungsverfahren im vorliegendem § 46,1 als zentral angesehen. So nehmen die Studien von Ingeborg Maus und Wolfgang Kersting, auf welche die beiden derzeit widerstreitenden Lesarten zurückgehen, gleichermaßen § 46,1 zum Ausgangspunkt der Entwicklung ihrer Interpretationen.272 Prozeduralismus ist das Stichwort, das beide Deutungen vereint: Das Verfahren allseitiger Zusammenstimmung sei ein Kriterium des positiven Rechts, mit dem sich dessen Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernünftigkeit ermitteln lasse.273 Vertreten wird letztlich die Annahme eines „epistemologischen Prozeduralismus […], der praktische Wahrheitsfragen als Verfahrensfragen betrachtet und löst“; das allseitige Beschlussverfahren sei die negativ fungierende „Operationsregel des Universalismus des Rechts“.274 Diese Prozeduralismus-Deutung hatte Kersting in ›Wohlgeordnete Freiheit‹ vorgelegt, Maus verschärfte sie in ›Zur Aufklärung der Demokratietheorie‹ dahingehend:275 Das demokratische Verfahren habe für die Vernünftigkeit allen Rechts Menschen übertragen, als vielmehr auf einen Stellvertreter projiziert; andererseits bleibt das projizierende Subjekt aber trotzdem der Autor der Handlungen, wenn auch nur formaliter. Das aber geht mit dem Problem einher, dass auch der Stellvertreter nicht in eigener Autorität handeln kann. Letzten Endes liegt eine Struktur vor, in der niemand mehr zurechenbar ist; die Instanz der Zurechenbarkeit und Verantwortung ist diffundiert, die Subjektivität aufgelöst, vgl. Duso 2006, 85-88. 272 Maus 1992, 156 ff., Kersting 1984, 312-4; vgl. bezüglich Maus Marey 2018, 568: „Maus’s theses on Kant’s political philosophy is condensed in her reading of this passage“. 273 In den Worten Kerstings, 1984, 312: „Nicht die Übereinstimmung mit materialen Gerechtigkeitsnormen qualifiziert die Gesetze eines Gemeinwesens als gerechte, sondern die Art und Weise ihrer Entstehung. Die Gerechtigkeit eines Gesetzes wird durch das Verfahren seiner Entstehung erzeugt“. Vgl. zur Gerechtigkeit: Kersting 1984, 312, 349, Maus 1992, 276, 254, 284, zur Vernünftigkeit: Kersting 1984, 351, Maus 1992, 156 f. und zur Wahrheit: Kersting 2007, 31, Maus 1992, 158 f. 274 Vgl. Kersting 2007, 31. 275 Maus 1992, Kap. 8, insb. 156 f. sowie 2011, Teil III, Kap. 1; vgl. Fleuß 2017, 163-178 und siehe zur Kritik wiederum Kersting 2007, 33.

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Sorge zu tragen, es sei das „letzt[e] Kriterium“ oder schlicht „das Kriterium vernünftigen Recht[s]“. Der große Dissens zwischen den Positionen von Kersting und Maus besteht wie gesagt in der Frage, ob das Verfahren tatsächlich als (radikal-)demokratisches Gesetzgebungsverfahren verwirklicht werden muss, um die ihm zugeschriebene Leistung zu erbringen, 276 oder ob es dazu reicht, dass ein beliebiger Gesetzgeber „in seinem Kopf Demokratie simulier[t]“277. Demokratischer oder expertokratischer Prozeduralismus, das sind die Alternativen.278 Kontrovers ist diesbezüglich allerdings auch die Beantwortung der Frage, auf welche motivationalen Voraussetzungen der Prozeduralismus angewiesen ist. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Unterpunkt der Diskussion. Vielmehr charakterisiert eine weitgehende Voraussetzungslosigkeit in puncto Motivation den Prozeduralismus als solchen: Verfahren ersetzen staatsbürgerliche Motivation und garantieren quasi-moralische Ergebnisse. Den Blick abwenden zu können von den subjektiven Voraussetzungen der Staatsbürger, das gilt als die Stärke des Prozeduralismus als Ansatz der gegenwärtigen politischen Philosophie, – diese Voraussetzungen jedoch nicht hinlänglich berücksichtigt zu haben, ist meines Erachtens die größte Schwäche des Prozeduralismus als Kant-Deutung. Die Prozeduralismus-Interpretationen von Kersting und Maus kennzeichnen sich nämlich zum einen dadurch, die subjektiv-rechtlichen Voraussetzungen zu ignorieren, auf welchen die Volkssouveränität im ‚Staatsrecht‘ gründet (vgl. Vorstudie), zum anderen werden aber auch die praktisch-philosophischen Voraussetzungen der eigenen Interpretation nicht genügend reflektiert. Die beiden Deutungen des § 46,1 divergieren schließlich vor allem, weil sie die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung im ‚Staatsrecht‘ entweder voraussetzen oder nicht voraussetzen, – was bis jetzt eben noch nicht zum Gegenstand der Diskussion geworden ist. Liest man § 46,1 hingegen im Bewusstsein dieser Voraussetzungen, so zeigt sich überraschenderweise: Das Thema (philosophischer) Prozeduralismus spielt dort kaum eine Rolle. Setzt man sich aber mit den zwei entgegengesetzten Prozeduralismus-Lektüren des ‚Staats276

Maus 1992, 55. Kersting 2007, 31. 278 Vgl. Maus 2011, 187, 161. 277

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recht‘-Textes genauer auseinander, so erhellt dadurch weiter der Grund für die Differenz zwischen den zuvor in den Kapiteln 3.1 und 3.2 thematisierten Lektüren des § 46,1, also der freiheitsbejahenden Rousseau’schen Lektüre einerseits und der freiheitsverneinenden, anti-rousseau’schen und letztlich Hobbes’schen (Gegen-)Lektüre andererseits. Darum werde ich im Folgenden zuerst die Positionen von Maus und Kersting im Hinblick auf die Frage nach den motivationalen Voraussetzung des Gesetzgebungsverfahren des § 46,1 referieren (3.3.1), beide Positionen dann im Rückgang auf die rechtsphilosophischen Voraussetzungen dieses Verfahrens kritisieren (3.3.2), und von da aus ganz grundsätzlich Überlegungen anstellen zum Verhältnis der philosophischen Voraussetzungen des Gesetzgebungsverfahrens zur Form der Betätigung dieses Verfahrens (3.3.3).

3.3.1 Die Frage nach den motivationalen Voraussetzungen Ist der Prozeduralismus der Volkssouveränität im ‚Staatsrecht‘ auf die Tugend der Staatsbürger angewiesen – und müsste die Lehre von der Volkssouveränität dann nicht in die Tugendlehre gehören, wenn das der Fall wäre? Mit dieser Frage diskutieren Kersting und Maus die Thematik der motivationalen Voraussetzung des Prozeduralismus im Kantischen ‚Staatsrecht‘. Zwar nehmen beide Autoren zuerst einmal an, das Willensbildungsverfahren sei nicht auf Tugend angewiesen. Laut Kersting geht Kant bei seinem „Gedankenexperiment der hypothetischen Zustimmung“ von „rationalen Egoisten“ aus; vorausgesetzt sei nur die „instrumentell-strategische Rationalität“.279 Das sei der Vorteil der „vernunftrechtlichen Volkssouveränität“280 Kants gegenüber Rousseaus Konzeption der Volkssouveränität als staatsbürgerlicher Praxis, die ja auf Tugend angewiesen sei. 281 Doch die Simulation des Verfahrens wird mit der Demokratisierung des Staates zum Problem, so Kersting in ›Wohlgeordnete Freiheit‹:282 Mit der „Machtergreifung des Bürgers“ drohe nämlich die Gefahr der ideologischen Vereinnahmung der volonté générale durch die gesetz279

Kersting 2002, 118, 66, vgl. neuerdings Breitenband 2019, 67 ff. und Rost 2018, 108-111, 177: „Der Bürger als homo oeconomicus bei Kant“. 280 Kersting 2007, 32. 281 Kersting 2002, 54 f., 66-73. 282 Kersting 1984, 351-3.

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gebende Körperschaft. Diese könne allerdings gebannt werden, unterstellt man, die Parlamentarier seien „selbst vernünftig“: tugendhaft. Deshalb habe sich die Rechtslehre, wolle sie eine Lehre der Volkssouveränität im Sinn einer staatsbürgerlichen Praxis sein, um die „Bedingungen [zu] kümmern, die zur Herausbildung einer […] bürgerlich-politischen Tugendverfassung führen“ (Kursivdruck: M.W.). Rousseau habe dies getan, Kant hingegen nicht. Kersting deutet hier lediglich vage den Vorwurf an, Kant habe im ‚Staatsrecht‘ seiner Rechtslehre zu viel verlangt, wenn er die Demokratie (in § 52) als rechtlich notwendig erachte: Die Rechtslehre müsse sich zur Tugendlehre umbilden, wenn sie ein „Demokratiemodell der Herrschaft“ fordert. Das bleibt 1984 in ›Wohlgeordnete Freiheit‹ indes unausgesprochen. 2002 hingegen, in seiner Werkinterpretation des ›Contrat Social‹, korrigiert Kersting diesen vermeintlichen Fehler Kants, allerdings auch nur stillschweigend:283 Kant und Locke hätten lediglich ein „Rechtsmodell der Herrschaft“ verlangt, das mit dem rationalen Eigeninteresse als Motivation auskomme; lediglich Rousseau habe die Grenzen der liberalen Rechtslehre mit seinem „Demokratiemodell der Herrschaft“ überschritten, das notwendigerweise auf die Tugend der Staatsbürger angewiesen sei. Letztlich bezeichnet Kersting aber selbst (in der 2007-er Einleitung zu ›Wohlgeordnete Freiheit‹) das Gedankenexperiment ‚simulierter Demokratie‘ als „politikethischen »Probirstein« […] für positive Gesetze“.284 Damit verallgemeinert er das Problem: Offenbar kommt der Prozeduralismus nicht mit den motivationalen Voraussetzungen der Rechtslehre aus, identifiziert man diese mit dem rationalen Eigeninteresse. Das ‚Staatsrecht‘ ist auf Tugend und Ethik angewiesen, so scheint es. Das Verdienst von Ingeborg Maus ist demgegenüber, eine Interpretation Rousseau’scher Volkssouveränität vorgelegt zu haben, die rechtslehrenkompatibel ist, insofern sie nicht auf die Tugend der Staatsbürger angewiesen ist:285 „Rousseau wie Kant setzen […] die Tugend der Staatsbürger nirgend[s] vorau[s]“. Die Doktrin der Volkssouveränität muss darum nicht etwa aus der Rechtslehre entfernt werden, damit letztere mit sich übereinstimmt. Problematisch ist allerdings, dass Maus hierzu völlig auf die Leistungskraft der Ver283

Kersting 2002, 50, 54 f., 66. Kersting 2007, 33, Kursivdruck: M.W. 285 Maus 1992, Kap. 9, 2011, 275 f. 284

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fahrenstechnik rekurriert. So sieht sie das demokratische Beschlussverfahren (im Rückgang auf die „Volk von Teufeln“-Passage der Friedensschrift286) als eines an, das „mit automatischer Wirkung […] Ergebnisse erreicht, »als ob« seine Teilnehmer tugendhaft seien“.287 Mit dieser rein prozeduralistischen Lesart wird allerdings nicht nur erneut auf die Notwendigkeit von Tugend für das demokratische Projekt verwiesen – eine „als ob“-Tugend ist ja letztlich auch eine Form von Tugend. Vielmehr wendet Maus den Blick ganz von den subjektiven Voraussetzungen ab, die aufseiten der Staatsbürger zu erwarten sind. Das aber ist (wie vorweggenommen) in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für die Prozeduralismus-Interpretation des § 46,1 als solche: Sie ignoriert die Voraussetzungen, welche die Volkssouveränität im ‚Staatsrecht‘ der Rechtslehre mit sich bringt, reflektiert aber auch nicht hinreichend die praktisch-philosophischen Voraussetzungen der eigenen Interpretation. Darum nun eine kritische Diskussion der Prozeduralismus-Interpretationen von Kersting und Maus:

3.3.2 Kritik der Interpretation Fragt man nach den rechtsphilosophischen Voraussetzungen des Verfahrens der Volkssouveränität in § 46, so ist zuallererst ein Rückblick auf die Begründung dieses Verfahrens vonnöten. Denn begründet ist das Verfahren im Rahmen jenes Praxiszusammenhangs, den das Postulat des öffentlichen Rechts vorgibt, und zwar auch und insbesondere durch die in ihm enthaltenen Rechtsgesetze und -pflichten elementarer Natur (vgl. Vorstudie). So ist im Rekurs auf das Postulat und diese elementaren Rechtspflichten erkennbar, dass die Teilnahme am Verfahren um der Befolgung dieser Pflichten willen selbst als Pflicht geboten ist. Eine Pflicht ist jedoch eine starke Voraussetzung. Es handelt sich um eine praktische „Verbindlichkeit “, also um die „Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem categorischen Imperativ der Vernunft“ (EMdS, IV,4, Kursivdruck: M.W.).

286 287

ZeF, AA 08: 365.33-367.07. Maus 2011, 276, Kursivdruck: M.W., und zum „Automatismus der Demokratie“ 1992, Kap. 9.

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Vom Gesichtspunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus hat das Verfahren der Volkssouveränität seinen Sinn nun darin: Um zu verhindern, dass sich die Menschen durch eine widerrechtliche Einrichtung der souveränen Gewalt selbst strukturell Unrecht zufügen, müssen diese Menschen den souveränen Willen in der Betätigung des allseitigen Beschlussverfahrens selbst hervorbringen. Dabei handelt es sich wie oben dargelegt vorrangig um die Vermeidung des fundamentalen Unrechts, dass die Menschen darangehen, ihre eigene Freiheit und Würde aufzugeben, indem sie sich kollektiv einem fremden souveränen Willen unterwerfen, der ihre Willen dann in letzter Instanz (fremd-)bestimmt. Denn das würde damit gleichkommen, sich selbst widerrechtlich zu versklaven. Dagegen richtet sich schließlich auch die im Postulat des öffentlichen Rechts enthaltene Rechtspflicht des honeste vive: nicht nur als Versklavungsverbot, sondern primär als Gebot, die eigene „Freiheit überhaupt“ gegen Andere zu behaupten, letztlich aber auch gegen sich selbst (vgl. Vorstudie, 4.2). Genau in dieser Rechtspflicht gründet die Teilhabe am Verfahren der Willensbildung als Praxis einer öffentlichen Behauptung ebendieser Freiheit. In der Frage nach den rechtsphilosophischen Voraussetzungen des Verfahrens ist aber auch zu berücksichtigen: Das Gebot, „mit allen anderen“ am Verfahren der Bildung des gesetzgebenden Willens teilzunehmen kann ferner auch auf die zweite elementare Rechtspflicht zurückgeführt werden: „Thue niemanden Unrecht (neminem laede)“ (ERL, AB 43). Zudem fordert das Postulat des öffentlichen Rechts selbst, „mit allen anderen“ kooperativ einen rechtlichen Zustand hervorzubringen und zu kultivieren. Damit steht fest: (1.) Aufseiten der Verfahrensteilnehmer ist weit mehr vorausgesetzt als die „interessenverwaltende und nutzenmaximierende Klugheit“288. Ließe sich die Pflicht der Freiheitsbehauptung etwa noch als Erweiterung des aufgeklärten Eigeninteresses deuten,289 so ist dies im Falle der letztgenannten Pflichten (niemandem unrecht zu tun, mit allen anderen zu kooperieren) nicht mehr möglich (2.). Aufgrund all dieser Verpflichtungen kann das „Volk“ des ‚Staatsrechts‘ auch nicht gleichgesetzt werden mit dem „Volk von Teufeln“ der Friedensschrift290. Denn besagte ‚Teufel‘ sind primär 288

Kersting 2002, 66. Vgl. Eberl 2008, 186-192. 290 ZeF, AA 08: 365.33-367.07. 289

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durch „selbstsüchtige Neigungen“ bestimmt, die sich (angeblich) durch die Teilnahme an Verfahren quasi mechanisch mäßigen. Doch die Perspektive solch eines ‚Teufels‘ ist eben nicht diejenige eines Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts, der es sich zum Vorsatz genommen hat, dieses Postulat „mit allen anderen“ zu befolgen. Außerdem sind (3.) die maßgeblichen Rechtspflichten (anderen kein unrecht zu tun, mit ihnen zu kooperieren, aber auch die eigene Freiheit gegen sie zu behaupten) nicht pauschal mit dem Wort ‚Tugend‘ in Zusammenhang zu bringen. Es handelt sich um Rechtspflichten, die es unbestimmt lassen, aufgrund welcher Motivation („Triebfeder“) die Befolgung der Pflicht geschieht; Pflichten sind nicht per se Tugendpflichten (vgl. Vorstudie, Kap. 6). Nach der Klärung dieser Voraussetzungen, nun zu den zwei Prozeduralismus-Interpretationen: In Anbetracht der angeführten Voraussetzungen kann man tatsächlich mit Maus sagen, das ‚radikaldemokratische‘ Verfahren der Willensbildung setze „die Tugend der Staatsbürger nirgend[s] vorau[s]“. Doch es ist nicht erst das Verfahren, das eine vermeintliche „tugendtheoretische Leerstelle“ 291 auszufüllen hätte, indem es „mit automatischer Wirkung […] Ergebnisse erreicht, »als ob« seine Teilnehmer tugendhaft seien“. Denn anstelle einer „bürgerlich-politischen Tugendverfassung“ steht im ‚Staatsrecht‘ die durch Rechtspflichten gebotene innere Haltung einer Rechtsperson (vgl. wieder Vorstudie). Von ihr aus wird die Notwendigkeit des Verfahrens und der Teilnahme an ihm überhaupt erst begründet, aber zugleich auch der Modus der Teilnahme bestimmt. So ist der Perspektivenwechsel, an das Recht und den rechtlichen Standpunkt Anderer zu denken, nicht erst eine Wirkung des Verfahrens, wie Maus annimmt. Geboten ist er kraft eines Rechtsgesetzes (der lex iuridica), das sich gegenüber den Teilnehmern des Verfahrens als Rechtspflicht artikuliert (neminem laede), weswegen es sich um eine normativ anspruchsvolle Voraussetzung des Verfahrens handelt. Auf Basis solcher Voraussetzungen soll das Verfahren schließlich betätigt werden – damit dem Recht der Freiheit in einer öffentlichen Selbstbehauptung eben dieser Freiheit Geltung verschafft wird. An diesem Punkt zeigt sich auch, dass das Verfahren in § 46,1 nicht im Sinn eines philosophischen Prozeduralismus gelesen werden 291

Niesen 2001, 582.

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kann, demzufolge dem demokratischen Verfahren eine Begründungsfunktion von Rechtsprinzipien zukommt, – indem es etwa als das „letzt[e] Kriterium“ oder „das Kriterium vernünftigen Recht[s]“ schlechthin fungiert292. Vielmehr ruhen die ersten drei elementaren Rechtspflichten auf drei Rechtsgesetzen (der lex iusti, iuridica und iustitiae), die nicht erst durch das staatliche Gesetzgebungsverfahren begründet werden, sondern diesem als normative Basis vorausgehen – so wie dem Postulat des öffentlichen Rechts selbst. Denn auch das Postulat des öffentlichen Rechts begründet besagte drei Pflichten nicht, sondern setzt sie lediglich voraus. Dasselbe gilt für die Idee der öffentlichen Gerechtigkeit, deren drei Sphären ebenfalls auf jenen elementaren Rechtsgesetzen basieren. Die Idee der öffentlichen Gerechtigkeit ist nämlich, wie in der Vorstudie dargelegt, bereits im Naturzustand erkennbar und kann als praktische Idee dort bereits sogar von den Menschen verwirklicht werden – beides unabhängig von demokratischen Willensbildungsverfahren.293 In der Begründung der Volkssouveränität (§ 46), aber auch in der Bestimmung des ursprünglichen Kontrakts (§ 47) ist dagegen nicht mehr von öffentlicher Gerechtigkeit die Rede. Das deutet darauf hin: Die Rechtslehre legt keine genuin demokratische Philosophie der Gerechtigkeit vor, wie sie in Ausgang vom Rousseau’schen Willensbildungsverfahren294 freilich gedacht werden kann.295 Das wird jedoch in der Literatur immer noch weitgehend angenommen.

3.3.3 Zu den freiheitsphilosophischen Voraussetzungen Mit Blick auf die maßgeblichen Studien von Kersting und Maus ist wie gesagt entscheidend, ob der Begriff der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung in der jeweiligen Interpretation des § 46,1 vorausgesetzt ist oder nicht: Insofern Maus ihn voraussetzt, kommt sie zur Interpretation des radikaldemokratischen Prozeduralismus; insofern Kersting ihn nicht voraussetzt, gelangt er zu jenem Prozeduralismus 292

Maus 1992, 156 f. Vgl. das dritte Hauptstück des Privatrechts sowie Fulda 1997, 274. 294 Rousseau, Contrat Social, I, unbetitelter Vorspann, I, 6,8, II, 4,7, II, 6. 295 Dass aber die Praxis der Volkssouveränität ab § 46 die gebotene Artikulations-, Ausdrucks- und Darstellungsform der öffentlichen Gerechtigkeit ist, das ist wohlgemerkt ein anderer Gesichtspunkt. 293

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simulierter Demokratie; je nachdem, welcher Wert diesem Freiheitsbegriff im Rahmen der Interpretation zugemessen wird, entscheidet sich auch die Form der Betätigung des Verfahrens. Eine Wertschätzung der Freiheit setzt nun aber auch die Kantische Lehre vom öffentlichen Recht voraus und fordert sie sogar ein – und das nicht zuletzt als epistemologische Voraussetzung genuin praktischer Erkenntnis öffentlichen Rechts. Denn die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts sollen nicht nur auf Basis einer freiheitsbejahenden Einstellung und Haltung als Staatsbürger am demokratischen Verfahren teilnehmen. Vielmehr haben sie aus ebendieser Haltung heraus zuallererst Anfangsgründe der Volkssouveränität zu erkennen – in einer genuin praktischen Freiheitserkenntnis metaphysischer Anfangsgründe des Rechts. Darum verhält es sich im Kantischen ‚Staatsrecht‘ anders, als die Prozeduralismus-Interpretation annimmt: Das Verfahren der Volkssouveränität funktioniert nicht unabhängig von der inneren Haltung der an ihm teilnehmenden Staatsbürger, sondern das Verfahren selbst ist von ebendieser Haltung abhängig. Das wiederum bringen die beiden Prozeduralismus-Lektüren von Kersting und Maus durch ihren Widerstreit unwillkürlich, doch präzise zur Darstellung. Denn so entgegengesetzt die Einstellung der Freiheit ist, die als epistemologische Voraussetzung der Kantischen Rechtslehre jeweils unterstellt und in der Text-Lektüre angenommen wird, so unterschiedlich fällt bei beiden Autoren auch die Form der Betätigung des Verfahrens der Volkssouveränität aus. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam ich wohlgemerkt bereits in den vorigen Kapiteln (3.1 und 3.2): Ob das Verfahren in § 46,1 als eines gedeutet wird, das mit Rousseau tatsächlich in einer öffentlichen Praxis der Volkssouveränität betätigt werden soll, oder mit Hobbes in einer allseitigen ‚politischen‘ Autorisation aufgeht, hängt letztlich davon ab, ob man § 46,1 entweder vom freiheitsbejahenden Gesichtspunkt aus liest, oder vom freiheitsverneinenden.296 296

Die Möglichkeit einer grundsätzlich verneinenden Einstellung und Haltung auch zur eigenen Freiheit stellt meines Erachtens das größte immanente Problem des „Volk von Teufeln“-Prozeduralismus (oder mit Niesen 2001: -„Republikanismus“) dar, beurteilt man diesen weniger als Kant-Interpretation, sondern vielmehr als eigenständigen Ansatz der politischen Philosophie. Denn diese Spielart des Prozeduralismus geht davon aus: Destruktive Absichten gegen andere neutralisieren sich automatisch, weil die Verfahrensteilnehmer dazu gezwungen sind,

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2. Zu § 46,2

1. Überblickschaffende und erläuternde Interpretation Der zweite der beiden Absätze des § 46 besteht im Gegensatz zum ersten nur aus einem Satz. Dieser ist zweigliedrig, sofern er zwei grammatikalisch vollständige Teilsätze enthält. Dabei erfolgt im ersten wieder eine „Namenerklärung“ (§ 5,1) und zwar die „Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt“ (eA 1). Im Rahmen dieser Erklärung wird zugleich der Staatsbegriff weiter bestimmt: „Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft (societas civilis), d. i. eines Staats, heißen Staatsbürge r (cives)“ (Kursivdruck: M.W.).

Im zweiten Teilsatz werden dann von den Staatsbürgern die „rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben“ bestimmt: „gesetzliche Freiheit“, „bürgerliche Gleichheit“ und „drittens das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit“. Jedem Attribut ist dabei jeweils eine Ausführung angefügt, die besagt, worin es besteht: „gesetzliche Freihe it, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat – bürgerliche Gle ichhe it , keinen Oberen im Volk, in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, entwürfe auch über sich selbst zu beschließen, die auf Basis solcher destruktiven Absichten verfasst wurden. Somit soll dieses Abstimmungsverfahren garantieren, dass sich die Staatsbürger selbst bei größter Niederträchtigkeit öffentlich so verhalten „als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten“, ZeF, AA 08: 366.17-23, vgl. Maus 2011, 275 f. Nimmt man hingegen die Möglichkeit einer grundsätzlich freiheitsverneinenden subjektiven Einstellung an, so sind auch (selbst-)destruktive Beschlüsse über die eigene Person möglich und zu erwarten. Doch damit entfällt besagter Garant des „Volk von Teufeln“-Prozeduralismus, der eine menschenwürdige Praxis der Volkssouveränität verbürgen soll. Es sei daran erinnert: Die Kantische Philosophie auch des öffentlichen Rechts kennt das Problem, dass Menschen ihre Freiheit und Würde „wegwerfen“ wollen.

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den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann: drittens, das Attribut der bürgerlichen Se lbstständigke it , seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkühr eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden zu dürfen“.

(Zum ersten Teilsatz:) Mit der Rede von „einer solchen Gesellschaft (societas civilis), d. i. eines Staats“ wird direkt auf den vorigen § 46,1 verwiesen (Kursivdruck: M.W.). Der Bezugspunkt ist jedoch nicht auf Anhieb erkennbar, da im vorigen Absatz von keiner „Gesellschaft“ die Rede war. Allerdings fungierte dort das allseitige Willensbildungsverfahren als Verfahren der Vereinigung des Volkes „zur Gesetzgebung“; das Ziel dieses Verfahrens war es, aus dem Volk „zur Gesetzgebung vereinigt[e] Glieder“ eines souverän-gesetzgebenden Willens zu machen. Denn im Zuge der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts war das von ebenjener „Menge von Menschen“ gefordert, welche „Volk“ genannt wird (§ 43): Ausschließlich dem Willen dieser Menschen kann die souverän-gesetzgebende Gewalt „zukommen“, auch und vor allem als Rechtspflicht (s. o. (zu § 46,1, Satz 1)). Genau darum jedoch handelt es sich bei besagter „Menge von Menschen“ um eine ganz besondere Gesellschaft, die nun zu Beginn des § 46,2 angesprochen und zweifach bestimmt wird. Eine solche Gesellschaft sei eine societas civilis und diese wiederum ein Staat. Hiermit wird der Staatsbegriff der vordemokratischen Sektion des ‚Staatsrechts‘ (§§ 43-45) auf das Niveau der Volkssouveränität gebracht. Nun nämlich ist der Staat nicht mehr nur eine „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ und lediglich eine Vereinigung unter einem souveränen Willen, der die Menschen passiv als Menge von Untertanen vereinigt – so § 45 in der vordemokratischen Sektion. Fortan ist er auch eine „Gesellschaft“, und zwar eine, in der die Menschen verpflichtet sind, zugleich „zur Gesetzgebung vereinigt[e] Glieder“ desselben souverän-gesetzgebenden Willens zu sein, der sie als Untertanen nach Rechtsgesetzen vereinigen soll. Und schließlich „heißen“ die „Glieder einer solchen Gesellschaft“, sofern sie „zur Gesetzgebung“ vereinigt sind, „Staatsbürger (cives)“. Das ist die zentrale Aussage des ersten Teilsatzes: Der Staat ist als societas civilis eine Gesellschaft von Staatsbürgern. Damit ist der Staatsbegriff so

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weit bestimmt, dass er nun auch dem Wortsinn nach auf dem Niveau des Staatsbegriffes ist, wie er in § 43 exponiert wurde: Der Staat ist eine civitas, insofern er eine Gesellschaft von Menschen ist, die de facto souverän-gesetzgebend und darum öffentlich-rechtlich autonom sind. (Zum zweiten Teilsatz:) In diesem Teilsatz werden von den Staatsbürgern die „rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben“ bestimmt: „gesetzliche Freiheit“, „bürgerliche Gleichheit“ und „drittens das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit“. Diesbezüglich stellen sich zwei Fragen: (1.) Inwiefern handelt es sich um rechtliche Attribute? (2.) Was heißt es, diese seien „von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlich[e] Attribute“ (Kursivdruck: M.W.); welches Wesen ist hier gemeint und inwiefern sind die drei Attribute auch als rechtliche Attribute von diesem Wesen unabtrennlich? Beide Fragen klären sich bei einem genaueren, doch kontextsensitiven Blick auf die jeweilige Ausführung, die einem jeden der drei Attribute beigefügt ist und besagt, worin es besteht. Vorerst kann der Blick jedoch auf das erste Attribut eingeschränkt werden. Das erste Attribut lautet: „gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er [der Staatsbürger] seine Beistimmung gegeben hat“. Auffällig ist, dass das Attribut negativ formuliert ist, was auch für die beiden übrigen gilt; primär geht es darum, etwas nicht tun zu müssen. Um rechtliche Attribute handelt es sich also auch, insofern die Attribute eine äußerlich-negative „Schutzhülle“ bilden,297 die ganz im Sinn des honeste vive der Selbstbehauptung des Subjekts dient. Weiterhin ist auffällig, dass das Attribut der „Freiheit“ des Staatsbürgers ein Gehorchen zum Gegenstand hat, dieses aber an die Bedingung der eigenen, und zwar bereits erfolgten „Beistimmung“ knüpft: „zu welchem er [der Staatsbürger] seine Beistimmung gegeben hat“ (Kursivdruck: M.W). Doch genau das ist wiederum Ausdruck des Gebietens. Dass die Freiheit des Staatsbürgers allerdings aus der Perspektive des „Gehorsamenden (subditus)“ (§ 47) formuliert ist, ist beachtlich. Der Begriff des Staatsbürgers wurde schließlich unmittelbar zuvor als „zur Gesetzgebung vereinigte[s] Glied“ exponiert; wer Staatsbürger ist, der sei demnach auch Glied des Souve297

Vgl. Forst 1996, 350 f.

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räns. Zu erwarten wäre also gewesen, dass das Attribut der Freiheit des Staatsbürgers ausschließlich aus dessen Perspektive formuliert ist: aus der Perspektive des „Gebietenden (imperans)“, nicht aber der des „Gehorsamenden (subditus)“ (vgl. § 47). Doch stattdessen kommen beide Perspektiven zum Tragen. Auch das ist für alle drei Attribute charakteristisch. So drückt das zweite Attribut der „bürgerliche[n] Gleichheit“ aus, dass ein jeder „im Volk“ sowohl als Untertan, wie auch als stimmgebendes Glied des Souveräns „keinen Oberen [...] in Ansehung seiner zu erkennen [genötigt ist], als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann“. Und ebenso verhält es sich mit der „bürgerlichen Selbstständigkeit“, dem dritten Attribut. Die Eigenschaft, „die bürgerliche Persönlichkeit in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt“ zu bekommen nötig zu haben („zu dürfen“), kann nämlich sowohl auf „die Ausübung und Verteidigung eigener Rechte (vor Gericht oder anderswo)“ 298 als bloßer Untertan bezogen werden, als auch auf die Selbstbehauptung gegen Andere qua Stimmgebung im Verfahren der Bildung des souveränen Willens. Die Attribute des Staatsbürgers stehen somit für eine Zusammenführung der Perspektiven und ‚Rollen‘ des imperans und des subditus in der einen Rolle und Person des Staatsbürgers. Das aber ist als weiterer und zugleich wichtiger Schritt in der Erfüllung der Maßgabe des vorigen § 46,1 zu deuten, dass die souveräne Gewalt „schlechterdings niemand unrecht thun können“ darf – und damit als weiterer Schritt in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts. Denn dadurch, dass die Einzelnen nun durchgehend qua Persönlichkeitsverfassung Glieder des Souveräns sind, wird sichergestellt, dass sie über den punktuellen Akt der Stimmgebung hinaus selbstbestimmt sein können – auch wenn sie als subditus lediglich gehorchen. Letztlich realisiert sich erst durch die Zusammenlegung dieser beiden Rollen das Projekt der Subversion jener freiheits- und rechtswidrigen Logik traditioneller Souveränität zu einer Logik der Freiheit: Die einzelnen sollen niemals nur bloße Untertanen der überlegenen Herrschergewalt sein (und folglich Sklaven), sondern immer auch durch dieselbe Herrschergewalt über sich selbst verfügen – in letzter Instanz und sui iuris. 298

Wolff 2013, 61.

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Vergegenwärtigt man sich wieder das Unrecht, zu dessen Vermeidung die Volkssouveränität begründet wurde, so wird klar, warum mit Blick auf die Staatsbürger von den „rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute[n] derselben“ die Rede ist. Das Unrecht nämlich, das von der traditionellen Souveränität ausgeht, das sich die Menschen aber in der Unterwerfung unter dieselbe letztlich selbst antun würden, ist folgendes: die völlige Einbuße der Freiheit und damit auch der „moralische[n] Persönlichkeit“ (s. o., vgl. EMdS, IV, AB 22). Was also auf dem Spiel steht, ist die Existenz des Menschen als Freiheitswesen. Sofern nun aber die Attribute des Staatsbürgers als rechtliche ‚Schutzhülle‘ der Persönlichkeit genau diese Existenz rechtlich sichern, sind sie nicht nur als beliebige Attribute von Bürgern besonderer Staaten anzusehen. Sie sind die „rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben“, wobei unter dem „Wesen (als solchem)“ (Kursivdruck: M.W.) das Wesen des Menschen als Freiheitswesen zu verstehen ist. Und unabtrennlich sind die Attribute eben darum, weil sie für die Existenz von diesem Wesen als einem „solche[n]“ konstitutiv sind; wird hier etwas abgetrennt, so hört der Mensch auf, im vollen Sinn Mensch zu sein, so der Gedanke. Entsprechend bezeichnet das erste Attribut des Staatsbürgers – die „gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er [der Staatsbürger] seine Beistimmung gegeben hat“ – zufolge der Einleitung in die Metaphysik der Sitten die konstitutive Eigenschaft einer Person überhaupt, nämlich: „keinen andern Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen“ zu sein (EMdS, IV, AB 22). Außerdem sagte uns die Einleitung in die Rechtslehre im Rahmen der Ausführung über das angeborene Recht der Freiheit, dass dieses Recht, wie auch die „angebohrne Gleichheit“ und die „Qualität des Menschen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein“ (seine Selbständigkeit), als „Befugnisse“ alle „schon im Princip der angebohrnen Freiheit“ liegen (ERL, AB 45 f.) – der Freiheit überhaupt als Autonomie und letztinstanzlicher Selbstbestimmung299. Mit Blick auf das Projekt der Metaphysik der Freiheit konnte man das so verstehen: Der Begriff dieser Freiheit überhaupt wurde dort in allgemein-rechtlicher Hinsicht zur Grundverfassung einer ‚natürlichen‘ Rechtsperson a pri299

Vgl. TL, Einleitung, XIV,1.

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ori weiterbestimmt. Ganz ähnlich erfolgt nun in § 46,2 wiederum die problemorientierte Weiterbestimmung dieser Grundverfassung zu einer Persönlichkeitsverfassung des Menschen als Staatsbürger.

2. Präzisierende Interpretation 2.1 Zur Person des Staatsbürgers In der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts gilt es also nicht nur, metaphysische Anfangsgründe für die Institutionen des öffentlichen Rechts zu entwerfen. Denn nicht nur an den Begriffen der (auch empirisch-historisch bestehenden) Einrichtungen gilt es zu arbeiten, sondern die Adressaten des Postulats haben zugleich auch ihre eigene Person und damit sich selbst weiter zu bestimmen.300 Solch eine Arbeit war bereits in § 44 zu sehen: In der Umformulierung des Postulats des öffentlichen Rechts zum Staats- und Unterwerfungsgebot wurde der Freiheitsgesichtspunkt in seinem Recht verneint, indem die Person auf die Rolle eines bloßen Untertanen verkürzt wurde. Das war eine strategisch intendierte Komplexitätsreduktion. Mit der Rehabilitierung des Freiheitsgesichtspunktes im Zuge der Begründung der Volkssouveränität (in § 46,1) gilt es nun aber auch, wieder der Komplexität der ‚natürlichen‘ Rechtsperson gerecht zu werden. Als Versuch solch einer Fortschreibung ist in § 46,2 die Bestimmung des Staatsbürgers zu einer komplexen Doppelrolle zu sehen, die sowohl die Rollen des imperans, wie auch die des subditus in sich vereint. Kontur verleihen lässt sich diesem Versuch wiederum, wenn man ihn vonseiten textexterner Standpunkte aus betrachtet: zum einen ausgehend vom Vorgängertext zum Gemeinspruch (1793) sowie ferner von der Friedensschrift (1795), zum anderen wieder vom Referenztext des ›Contrat Social‹ (1762) aus. Liest man § 46,2 mit Blick auf die Schrift zum Gemeinspruch von 1793, so sieht man, dass Kant im ‚Staatsrecht‘ von 1797 seine alten Ausführungen zur Trias „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Selbstän 300

Vgl. hierzu grundlegend Cicero, De officiis, I, 107-15, wo ein Modell vorgelegt wird, demzufolge ein Subjekt mehrere – vier – Rollen (personae) in sich vereint, wobei die letzte vom Willen des Subjekts selbst abhängt: „ipsi autem gerere quam personam velimus, a nostra voluntate proficiscitur“.

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digkeit“ komplett überarbeitet hat.301 Denn: Im Gemeinspruch wurden die Glieder der Trias noch nicht als die „unabtrennlichen Attribute“ der Staatsbürger begriffen. Die Rede war von (1.) der „Freiheit jedes Gliedes der Societät, als Menschen “, (2.) der „Gleichheit desselben mit jedem Anderen, als Unterthan“ und (3.) der „Selbstständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürge[r]“.302 Jedes Attribut wurde somit deutlich einer anderen Rolle des Menschen (persona) zugeordnet, genau wie dann auch in der Friedensschrift von 1795303. Demgegenüber präsentiert das ‚Staatsrecht‘ alle drei Attribute als Attribute des Staatsbürgers, also nicht nur das dritte. Im Zuge dessen wird auch die klare Zuteilung der Attribute zu verschiedenen Personen aufgegeben: „gesetzliche Freiheit“ (1.), „bürgerliche Gleichheit“ (2.) und „bürgerlich[e] Selbstständigkeit “ (3.) heißt es nun, wobei die „gesetzliche Freiheit“ explizit nicht mehr auf eine besondere persona festgelegt wird. Damit steht allein die „bürgerliche Persönlichkeit“ im Mittelpunkt, die aber wiederum als Ausdrucksform der allgemein-menschlichen, moralischen Persönlichkeit im rechtlich-staatlichen Kontext verstanden werden muss. Wie oben dargelegt sind die Attribute schließlich alle als die „rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute“ der Staatsbürger als Menschen zu lesen. Damit entfällt die Möglichkeit, die Attribute ausschließlich der einen oder anderen persona zuzuschreiben, also das Attribut der Freiheit einerseits dem Menschen, das der Selbständigkeit hingegen andererseits nur dem Bürger beizulegen. So ist schließlich der Einleitung in die Rechtslehre zufolge auch die Qualität sein eigener Herr zu sein, also die Selbständigkeit, im Prinzip der angeborenen, allgemein-menschlichen Freiheit mitinbegriffen (ERL, AB 45 f.). Zugleich sind die Attribute aber auch alle so formuliert, dass sie gleichermaßen die Rolle des Subjekts einerseits als Untertan in den Blick nehmen, andererseits aber auch seine Rolle als Glied des Souveräns berücksichtigen. Damit entfällt wiederum die diskriminierende Zuteilung der Vorgängertexte, Attribute entweder nur der persona des Untertans oder nur derjenigen des (Staats-)Bürgers zuzuordnen. 301

Dagegen wird in der Forschungsliteratur eine Kontinuität der philosophischen Positionen beider Schriften in diesem Punkt angenommen; dazu unten mehr. 302 TP, AA 08: 290.16-24, 290 ff. 303 ZeF, AA 08: 349.09-350.04.

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Rekapituliert wird auf diese Weise letztlich der Rousseau’sche Begriff des Staatsbürgers als citoyen:304 „ces mots de Sujet et de Souverain sont des corrélations identiques dont l’idée se réunit sous le seul mot de Citoyen“; „l’essence du Corps politique est dans l’accord de l’obéissance et de la liberté“. Am Rekurs auf den ›Contrat Social‹ zeigt sich allerdings nicht nur, dass im Begriff des Staatsbürgers die Rollen von Untertan und Souverän integrativ vereint sind, sondern zudem, dass das Verhältnis beider auch ein höchst spannungsreiches ist. So ist die Rhetorik des ›Contrat Social‹ – aber auch des ‚Staatsrechts‘ ab § 46 – von einem ständigen Wechsel der Standpunkte und Perspektiven des Staatsbürgers als Untertan einerseits und als Glied des Souveräns andererseits gekennzeichnet, was aufseiten des Lesers notwendigerweise für Missverständnis und Irritation sorgt. Auf diese Weise wird in beiden Werken ein staatsrechtlicher Perspektivismus zur Darstellung gebracht: Imperans und subditus mögen zwar als Wechselbegriffe im Wort und in der Person des Staatsbürgers vereint sein; doch die Standpunkte und Perspektiven beider Positionen sind als solche unvereinbar. Der Untertan steht im Herrschaftsverhältnis unten, ist unterlegen und hat zu gehorchen, der Souverän ist von Begriff her höchst-überlegen. Er allein hat das Sagen. Würde man beide Standpunkte und Perspektiven vereinen, so wäre das Verhältnis aufgelöst – und damit auch der Begriff und die Person des Staatsbürgers. Das heißt nun nicht, es sei unmöglich von einem Standpunkt des Staatsbürgers zu sprechen; doch dessen Gesichtspunkt ist eben keine Metaperspektive, in der beide Perspektiven vereint sind. Denn damit wäre nicht nur die positionale Spannung aufgelöst, sondern zugleich der staatsbürgerliche und staatsrechtliche Perspektivismus als solcher. Demgegenüber ist der Begriff und die Person des Staatsbürgers wie folgt zu deuten: Er steht für eine geschlossene personale Einheit, in deren Rahmen sich ein Hin und Her zwischen den Rollen des imperans und subditus abspielen kann. Oszillation ist das Wort dafür. Letztlich muss dieses Hin und Her von den Menschen und Staatsbürgern selbst praktiziert werden, in einer Praxis der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung.305 304 305

Rousseau, Contrat Social, III, 13,5. Vgl. zu diesem „Oszillationsmodell“ des Perspektivismus Navratil 2017, 69-73.

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Es gilt aber auch zu beachten: In der ›Metaphysik der Sitten‹ ist die Trennung von imperans und subditus als Personen, aber auch deren Integration in einem Subjekt nicht allein für den Staatsbürger charakteristisch, sondern für den Menschen im Allgemeinen als Freiheitswesen. So verlangt laut Auskunft der Tugendlehre eine jede Verpflichtung, und damit auch jede rein innerliche Selbstverpflichtung die Differenzierung verschiedener Personen im Rahmen eines Subjekts: 306 Das „verpflichtende Ich“ muss als personal verschieden vom „verpflichteten“ vorgestellt werden: es ist nicht „eine und dieselbe Person“307. Aber es sei immer „derselbe Mensch (numero idem)“, in dem die grundverschiedenen Standpunkte und Personen vorzufinden sind: „ein und dasselbe Subject“ 308. Anderenfalls würde eine „zwiefache Persönlichkeit“ entstehen, ein „doppelte[s] Selbst“309. Die Herausforderung besteht also bereits hier: Man muss sich selbst vom Standpunkt des Verpflichteten immer wieder zurück oder besser hinauf reflektieren auf den Standpunkt des Verpflichtenden; aber umgekehrt hat man auch im Zuge der Verpflichtung an sich selbst zu denken, an sich selbst als verpflichtete Person. Denn nur so wird sich eine Spaltung der Persönlichkeit verhindern lassen, die infolge der Verabsolutierung einer der beiden Standpunkte und Perspektiven eintreten müsste. Diese Aufgabe wird nun mit der Begründung der Volkssouveränität sowie den Attributen des Staatsbürgers in das Öffentliche Recht hineingetragen.310 Um eine Spaltung und Auflösung der Person des Staatsbürgers zu verhindern, gilt nämlich auch hier: Eine Internalisierungsleistung muss von den Staatsbürgern selbst und in eigener Verantwortung erbracht werden. Zu bestehen hat sie in einer Konzentration auf und Erinnerung an den Akt der eigenen Gesetzgebung. Denn nur so kann der zu erbringende Gehorsam in einer Praxis der Volkssouveränität als ‚Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen Gesetz‘ (vgl. EMdS, IV, AB 22) gedeutet werden. 306

Vgl. TL, §§ 1-4 und § 13, insb. § 1 sowie § 13,3 einschl. Fn. TL, § 13,3. 308 TL, § 1, § 4,1. 309 TL, § 13,3, Fn. 310 Die Komplexität ist im ‚Staatsrecht‘ jedoch noch weiter dadurch gesteigert, dass der Souverän hier eine äußere Person ist, die in Gestalt der zweiten und dritten Gewalt den Staatsbürgern auch äußerlich entgegentreten muss – zum Beispiel als Richter auf einem Gerichtshof. 307

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Dies zu tun, dazu sind die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts als Staatsbürger verpflichtet; – das indes weniger, weil ihnen laut dem Postulat die souverän-gesetzgebende Gewalt im Staat zukommt (§ 46,1). Das Problem ist grundsätzlicher Natur: Nichts weniger als ein Versuch, sich selbst als Freiheitswesen zu vernichten wäre es, die Spannung zwischen den personalen Standpunkten von imperans und subditus zugunsten des einen oder des anderen Standpunkts auflösen zu wollen. Denn: Die Spannung einerseits zugunsten der Rolle des subditus zu lösen, würde auf jenen Versuch hinauslaufen, sich selbst versklaven zu wollen; andererseits würde eine einseitige Lösung zugunsten der Rolle des imperans bedeuten, einen Willen zu einer derart absoluten Freiheit geltend zu machen, die zu keiner Selbstbestimmung mehr fähig ist, weil sie die Struktur der Selbstbindung qua Selbstverpflichtung verneint: Die Seite des verpflichteten Ichs würde solch eine Freiheit leugnen. Angesichts dieser spannungsreichen Verfassung der „bürgerlichen Persönlichkeit“ erscheint nun auch das Staatsbürgerproblem der repräsentativen Demokratie in einem neuen Licht. Zwar wendet sich das ‚Staatsrecht‘ mit Rousseau gegen das Prinzip der politischen Autorisation und die durch sie bedingte Entäußerung des Willens: Kein vollständig fremder Wille soll als der eigene anerkannt werden. Wohl aber gilt es, den eigenen gesetzgebenden Willen über die Zeit hinweg als eben diesen an- und wiederzuerkennen, auch und insbesondere wenn er äußerlich in der Person eines Anderen auftritt – zum Beispiel als Richter vor einem Gerichtshof. Damit ist zwar die double bind-Paradoxie repräsentativer Demokratien behoben, doch an deren Stelle ist eine Anmaßung getreten: die Spannung zweier unvereinbarer Rollen weniger bloß auszuhalten, als vielmehr im Spannungsverhältnis dieser Rollen die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung in Angelegenheiten öffentlichen Rechts eigenverantwortlich auszuüben. Das kennzeichnet die Kantisch verstandene Staatsbürgerrolle.

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2.2 Zum Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit § 46,2, dem wiederum die zwei eingerückten Absätze unmittelbar angefügt und mit ihm thematisch verbunden sind, endet mit dem Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit. Genauer: Die eingerückten Absätze problematisieren den Fall, dass Menschen „keine bürgerliche Selbständigkeit besitzen“ und damit der „bürgerlichen Persönlichkeit“ entbehren – vor allem weil sie civiliter unmündig sein wollen. Damit wird das Problem explizit zur Sprache gebracht, das in der Begründung der Volkssouveränität implizit ausschlaggebend war. Entscheidend ist hierbei: Das in § 46,1 freiheitsrechtlich disqualifizierte Modell der einseitigen Verfügung gegenüber einem Anderen (Satz 3) wird nun in den Ausführungen zur bürgerlichen Selbstständigkeit völlig übereinstimmend mit dem Modell der Sklaverei beschrieben, das dann in der Allgemeinen Anmerkung diskutiert wird (Allg. Anm., D,3 und 4). Sofern Menschen sich in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis befinden, in welchem jemand Fremdes in letzter Instanz über ihre Willensbetätigungen verfügt, entbehren sie nicht nur der bürgerlichen Persönlichkeit; so die Ausführung der Allgemeinen Anmerkung (D,4), so aber bereits § 30. Es handele sich bei einem derartigen Abhängigkeitsverhältnis um eines, in dem der Mensch „auf seine ganze Freiheit Verzicht thut, mithin aufhört, eine Person zu sein“ (§ 30,3) und „wodurch er seine [ganze] Persönlichkeit einbüßen würde“ (D,4). Genau um diese Wirkung zu verhindern, wurde die Volkssouveränität letztlich begründet; deswegen muss die souveräne Gewalt nach dem Modell der inneren Selbstbestimmung eingerichtet werden, also nach dem Modell der Persönlichkeit überhaupt, der moralischen Persönlichkeit (EMdS, IV, AB 22)311. Am Ende von § 46,2 wird nun jedoch auch das Modell traditioneller Herrschaft, demzufolge jemand Fremdes die Tätigkeit der letztinstanzlichen Willensbestimmung ausübt (die Tätigkeit, welche die allgemein-moralische Persönlichkeit ausmacht), als Praktik beschrieben: die „bürgerliche Persönlichkeit“, durch einen Anderen „vorgestellt“ zu bekommen. Dabei ist auch hier die bürgerliche Persönlichkeit wieder mit der Persönlichkeit überhaupt zu identifizieren. Besagte ‚Vor311

Vgl. Sudakow 2013, 214 zur Identität von moralischer Persönlichkeit und Persönlichkeit überhaupt in EMdS, IV, AB 22.

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stellung‘ durch einen Anderen aber nicht nötig zu haben, kennzeichnet das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit: „die bürgerliche Persönlichkeit in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden zu dürfen“ (Kursivdruck: M.W.). Was das „Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit“ in seinem Kern ausmacht, ist also der Status der bürgerlichen Persönlichkeit, „in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden zu dürfen“ – wobei das nicht „werden zu dürfen“ als ‚nicht nötig zu haben‘ gelesen werden muss. Diese Qualität wird in der Ausführung zum dritten Attribut nun aus einer zweigliedrigen Bestimmung hergeleitet: „drittens, das Attribut der bürgerlichen Se lbständigke it , [1.1] seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkühr eines Anderen im Volke, sondern [1.2] seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich [2.] die bürgerliche Persönlichkeit in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden zu dürfen“.

Für das Verständnis dessen, was das Attribut in seinem Kern ausmacht, ist aufgrund vorliegender Folgerungsbeziehung ein genauerer Blick auf die vorangehende Bestimmung aufschlussreich. Ausschlaggebend ist der Bestimmung zufolge, wem man seine „Existenz und Erhaltung […] verdanken“ kann (1.2), und wem wiederum nicht (1.1). Damit wird erneut auf die existenzielle Dimension der Attribute rekurriert. Sie bestand darin, dass die Attribute vom „Wesen“ der Staatsbürger auch und insbesondere als Menschen „unabtrennlic[h]“ sein sollen. Auch damit wurde auf die Dimension hingewiesen, die der Begründung der Volkssouveränität zwar zugrunde lag, aber in § 46,1 nicht explizit ausgesprochen wurde: Durch die Volkssouveränität gilt es, die durch die traditionelle Souveränität bedrohte Existenz und Erhaltung des Menschen „als solchem“ zu bewahren – des Menschen als Freiheitswesen. Zugleich verweist die Rede vom Verdanken der Existenz und Erhaltung auf das traditionelle Herr-Knecht-Verhältnis. Beispielsweise kann man nach theologischer Vorstellung sagen, dass die Menschen als Knechte Gottes ihre Existenz und Erhaltung ihrem Schöpfer zu verdanken haben. Aber auch dem römischen Recht zufolge hatten Frau, Kinder und Sklaven in der Hausgesellschaft auf gewisse Weise

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ihre Existenz und Erhaltung dem pater familias zu verdanken. Der pater familias konnte alle Glieder des Hauses nach Belieben töten. So gesehen steht das ‚Verdanken‘ im Kontext des traditionellen HerrKnecht-Verhältnisses für eine passiv-servile Haltung gegenüber der Willkür eines Herrn in Anbetracht etwaiger Gnadenhandlungen. Um den Ausschluss gerade dieses Herr-Knecht-Verhältnisses der Sklaverei geht es schließlich auch in der vorliegenden Bestimmung des § 46,2, was mit Seitenblick auf die Bestimmung der Sklaverei in der Allgemeinen Anmerkung deutlich wird. Denn der Status, „seine Existenz und Erhaltung […] der Willkür eines Anderen im Volke“ verdanken zu können, trifft genau auf den Status des „servus in sensu stricto“ zu (Allg. Anm., D,4): der „zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkühr eines Anderen […] gemacht wird“. Wohlgemerkt geht es hierbei nicht um die „Existenz und Erhaltung“ als Freiheitswesen. Diese ist bereits ‚eingebüßt‘. Stattdessen ist das ‚nicht selbständig sein‘ dort im wörtlichen Sinne zu lesen: keinen eigenen Stand haben, sondern abhängig sein – von einem überlegen-souveränen Standpunkt „von oben gehalten werden“ („abhängen“)312, wie eine Marionette. Dem dritten Attribut zufolge soll man demgegenüber „seine Existenz und Erhaltung“ sich selbst verdanken können, genauer: „seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens“. Hierbei ist es sehr wichtig, den nachgesetzten Hinweis („als Glied des gemeinen Wesens“) nicht zu überlesen. Behauptet ist an vorliegender Stelle nämlich nicht, dass man „seine Existenz und Erhaltung“ sich allein zu verdanken hat – durch „irgend ein Eigentum […], welches ihn ernährt“313 – und dass darin die bürgerliche Selbständigkeit bestehe. Denn obwohl von „seinen eigenen Rechten und Kräften“ die Rede ist, wird die bürgerliche Selbständigkeit an vorliegender Stelle als die Selbständigkeit eines Gliedes der souveränen Körperschaft bestimmt. Mit den Worten des eingerückten Absatzes: Er hat seine Existenz und Erhaltung zwar „seinen eigenen Rechten und Kräften“ zu verdanken, doch nur insofern er ein „aus eigener Willkühr in Gemeinschaft mit anderen“ handelndes „Glied“ derselben ist. Der souveränen Gemeinschaft, zu der er selbst gehört, verdankt er seine eigenen Rechte und Kräfte: Darauf kommt es an dieser Stelle an. 312 313

KU, § 59,4. TP, AA 08: 295.15-18.

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Die Hauptbestimmung lautet nun, „die bürgerliche Persönlichkeit in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden zu dürfen“. Damit freilich ist kein beliebiger Akt der Stellvertretung gemeint, sondern wie gesagt einer, der die Freiheitspersönlichkeit als Ganze zum Gegenstand hat: Was hier „vorgestellt“ wird, ist der Wille des Subjekts als letzte Instanz seiner Selbstbestimmung. Nun mag es nicht auf Anhieb verständlich sein, was es heißt, seine Persönlichkeit durch einen Anderen vorgestellt zu bekommen. Diese Rede findet jedoch in der Staatsphilosophie der Neuzeit Entsprechungen, etwa bei Hobbes, aber auch bei Rousseau. 314 Am klarsten sind diesbezüglich Hobbes’ Ausführungen in Kap. 16 des ›Leviathan‹:315 Erhellend ist dort zuerst einmal der etymologisch informierte Hinweis, Person und Darsteller seien sowohl im Theater als auch im tatsächlichen Leben dasselbe, doch es gebe zwei Fälle, als Person aufzutreten: „to Personate, is to Act, or Represent himselfe, or an other; and he that acteth another, is said to beare his Person, or act in his name“ (Kursivdruck, M.W.). Im ersten Fall stellt man seine Persönlichkeit gleich einer Maske selbst vor, indem man die eigenen Worte und Handlungen äußerlich zum Ausdruck bringt; im zweiten Fall repräsentiert hingegen ein Anderer genau diese Persönlichkeit, ebenfalls maskenhaft. Letzteres ist bei Hobbes allerdings zum einen an einen Akt des Fingierens gebunden – die Rede ist von einer fingierten oder künstlichen Person („a Feigned or Artificiall person“) –, zum anderen kann dieses Fingieren im Zusammenhang mit einer Autorisation stehen: „Of Persons Artificiall, some have their words and actions Owned by those whom they represent. And then the Person is the Actor; and he that owneth his words and actions, is the AUTHOR: In which case the Actor acteth by Authority“. Somit bekommt jemand dadurch, dass ein anderer als sein Repräsentant auftritt, seine Persönlichkeit vorgestellt, die er als die eigene (die seinige) anzuerkennen hat, – auch wenn sie eine fingierte ist, also nur eine Fiktion. Genau solch eine Praktik nicht nötig zu haben, und auch nicht brauchen zu können, kennzeichnet das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit und zwar aus jenem zweifachen Grund: Zum einen bekommt man seine Persönlichkeit kraft dieses Attributs nicht (passiv) durch einen Anderen „im Volke“ vorgestellt, da man kraft dieser 314 315

Hobbes, Leviathan, Kap. 16, 128 f., Rousseau, Lettre à d’Alembert, 72-74. Vgl. hierzu auch Skinner 2018, 212 f.

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Selbständigkeit kein Leibeigener oder Sklave ist, aber auch keinen Vormund (nötig) hat; zum anderen setzt man sich diese Persönlichkeit aber auch (aktiv) als „Glied“ der souveränen Körperschaft selbst vor. Die Praxis der Bildung des souveränen Willens ist schließlich als Praxis zufolge dem honeste vive auch und vor allem eine Praxis der Freiheitsbehauptung – und damit zugleich eine Behauptung der eigenen (moralischen) Persönlichkeit. Diese (moralische) Persönlichkeit würde sich nach Kantischem Verständnis aber eben auflösen, wenn man sie als fingierte und bloß fiktionale persona ‚paternalistisch übergestülpt‘ bekäme. Insofern hat man sich selbst durch die Aktivität als Glied der souveränen Körperschaft nicht nur sein Leben zu verdanken, sondern auch die Existenz und Erhaltung seiner eigenen Freiheitspersönlichkeit. Und darum hat man es letztlich nicht nötig, diese Persönlichkeit von einem anderen vorgestellt zu bekommen – allem voran in den staatsbürgerlichen „Rechtsangelegenheiten“, die den Schutz dieser Persönlichkeit selbst zum Gegenstand haben. Mit § 49 gesprochen: Es wäre „unter der Würde“ von Staatsbürgern, sich „als Kinder“ behandeln zu lassen (vgl. § 49,1 und 3). Das hat ein Staatsbürger nicht nötig. Man beachte aber auch: Genau diese Praktik, die Persönlichkeit durch einen Anderen vorgestellt zu bekommen, ist zugleich kennzeichnend für das moderne Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation. So gesehen ist das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit auch als Ausdruck der Verneinung jener Kernstruktur der neuzeitlichen und vor-rousseau’schen Staatslehre zu deuten – gegen die sie sich die Volkssouveränität als Praxis einer sich selbst bejahenden und behauptenden Freiheit wendet (s. o. (zu § 46,1)).

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3. Zu den eingerückten Absätzen

Einleitung Gleich zu Beginn der Rechtslehre wurde angekündigt: Die „Metaphysik des Rechts […] in den Text“, die „Praxis“ der „Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle“ hingegen „in zum Theil weitläufige Anmerkungen zu bringen“ (Vorrede, Abs. 2, Kursivdruck: M.W.). Diese Handhabung ist im vorliegenden § 46 textlich umgesetzt. Denn hier ist die Begründung und Darlegung der Anfangsgründe der Volkssouveränität im Haupttext zu finden, der im knappem Stil einer Rechtslehre gehalten ist, welche „metaphysische Anfangsgründe“ betrifft (§ 46,1 und 2); die beiden eingerückten Absätze (§ 46, eA 1 und 3) hingegen diskutieren die empirische Anwendung dieser Anfangsgründe und das unter Einbeziehung von zeithistorischen Beispielen. So nehmen die eingerückten Absätze im Vergleich zum Haupttext auch weit mehr Textvolumen in Anspruch – es handelt sich hier deutlich um eine weitläufige Anmerkung. Die Forschungsliteratur hat die inhaltliche Codierung dieser Texteinteilung des § 46 bisher interpretatorisch kaum berücksichtigt. Vor allem nimmt die Architektonik-Interpretation des ‚Staatsrechts‘ nicht auf den systematischen Status der Anmerkungen Bezug.316 Das ist erstaunlich, wird die (vermeintliche) Zweiteilung des ‚Staatsrechts‘ doch auf dieselbe Weise codiert: Der erste Teil des ‚Staatsrechts‘ (§§ 43-49 bzw. 45-49) enthalte die Metaphysik (die Darstellung der respublica noumenon), der zweite (ab der Allgemeinen Anmerkung) die Lehre ihrer empirischen Anwendung (in einer respublica phaenomenon). Diese architektonische Zweiteilung untergräbt § 46 jedoch wie gesagt mit seiner zweigeteilten Architektonik – noch offensichtlicher als es § 45 tat. Denn: Die zwei Absätze des Haupttextes legen die metaphysischen Anfangsgründe der Volkssouveränität vor; die zwei eingerückten Absätze behandeln deren Verwirklichung in empirischer Realität. Das Programm also, welches die zweigeteilte Architektonik (angeb316

Vgl. z. B. Hirsch 2017, 328-334, insb. 332, der zwar darauf hinweist, dass in den eingerückten Absätzen eine Anwendung auf die respublica phaenomenon stattfindet, aber dies nicht wiederum mit Blick auf die Logik der (bloß scheinbaren) Gesamt-Architektonik reflektiert.

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lich) im Großen realisiert, ist mit der Architektonik des § 46 bereits im Kleinen durchgeführt, und stellt somit die übergreifende GesamtArchitektonik in Frage. Anlass zu einem genaueren Blick auf die eingerückten Absätze des § 46 gibt auch die Positionierung der Anmerkungen im ‚Staatsrecht‘. Es gibt nämlich insgesamt drei solcher Anmerkungen, die alle an auffälligen Stellen im Text plaziert sind: im Zentrum des ersten Paragraphenblocks die vorliegenden eingerückten Absätze; zwischen diesen beiden Blöcken die große Allgemeine Anmerkung; und ganz am Ende des ‚Staatsrechts‘ der letzte eingerückte Absatz. – Vom eingerückten Absatz des § 44 ist hier abzusehen, da er nur eine Erläuterung zur „Eintretung“ in den bürgerlichen Zustand (im Hinblick auf Voraussetzungen derselben) vorlegt, nicht aber Fälle der empirischen Anwendung thematisiert. Interessanterweise scheinen die eingerückten Absätze des § 46 nun aber für eine offensichtlich falsche Verwirklichung der Anfangsgründe der Volkssouveränität im „Text“ zu argumentieren. Darauf hat die Literatur immer wieder hingewiesen: Unselbständigen Menschen könne man kein Stimmrecht zugestehen, sie seien passive Staatsbürger, im Grunde bloße Untertanen. Dazu wären jedoch nicht nur Kinder oder geistig behinderte Menschen zu zählen, sondern auch Frauen und ökonomisch unselbständige Menschen. Allem Anschein nach werden also soziale Abhängigkeits- und letztlich Ausbeutungsverhältnisse als übereinstimmend mit den Prinzipien des Freiheitsrechts und der Volkssouveränität deklariert. So heißt es unverblümt: „Diese Abhängigkeit von dem Willen Anderer und Ungleichheit, ist gleichwohl keinesweges der Freiheit und Gleichheit derselben als Men sc he n , die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen“.

Doch der bloße Untertanenstatus dieser „passiven Staatsbürger“ scheint mit der Volkssouveränität, von der im Haupttext die Rede ist, in Einklang zu stehen. Das ist „aus heutiger Sicht tatsächlich skandalö[s]“ 317: Mit dem Ausschluss der Frauen vom Stimmrecht wäre in etwa die Hälfte der im Staat lebenden Menschen zur Passivität in „Rechtsangelegenhei317

Maus 2011, 278.

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ten“ (§ 46,2) verurteilt. Mit Blick auf das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit heißt das aber, alle Frauen seien darauf angewiesen, dass ihnen ein Anderer – ein Mann und die Gemeinschaft der Männer – die eigene Persönlichkeit gleich einer Maske überstülpt, so wie er sich diese vorstellt. Damit hätten Frauen keine eigene Freiheitspersönlichkeit, folglich aber auch keine Freiheits- und Menschenwürde. „Diese Abhängigkeit von dem Willen Anderer“ als in Konformität mit der „Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen“ stehend zu deklarieren, ist also tatsächlich skandalös, auch aus textimmanenter Perspektive. Dasselbe gilt für die ökonomische Dimension der Selbständigkeit, die Kant in der Schrift zum Gemeinspruch (1795) ausführlich darlegte. Nun wird in der Kant-Literatur die Position von 1797 mit der früheren von 1795 identifiziert,318 und somit dem damaligen mainstream zugeordnet: In den „Demokratietheorien der Aufklärung“ seien „ganz durchgängig ökonomische Qualifikationen […] als Voraussetzung »der Aktivstaatsbürgerschaft« angesehen“ worden und würden „also bei Kant keine Besonderheit darstellen“ 319. Darum ein kurzer Blick auf den Vorgängertext. Ihm zufolge320 sei die zur Staatsbürgerschaft „erforderliche Qualität“ des Menschen, „sein eigener Herr (sui iuris)“ zu sein, eben keine freiheitsrechtliche Qualität, sondern eine ökonomische: „daß er s ein eige ne r H e rr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigenthum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissen schaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d. i. daß er in den Fällen, wo er von Andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräuße rung dessen, was s ein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen giebt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts die ne “.

318

Vgl. z. B. Breitenband 2019, 68 f., Rost 2018, 177, Hirsch 2017, 332-34, einschl. Fn. 325, Hanisch 2016, 85 f., Fn. 53, Horn 2014, 85-92, Maliks 2014, 93-95, 104 ff., von Beyme 2013, 28, 90, Grawert 2012, 512 f., Täschner 2012, 140, Irrlitz 2010, 465, Nitschke 2009, 78, 81, Niebling 2005, 12729. 319 Maus 2011, 322. 320 TP, AA 08: 296.12-22, einschl. Fn.

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Entscheidend ist hier, dass der „Gewerbtreibende“, der „sein Eigenthum mit dem Anderen (opus)“ verkehrt, von demjenigen unterschieden wird, der „den Gebrauch seiner Kräfte […] einem Anderen bewilligt (operam)“. Mit Blick auf die im 19. Jahrhundert zum Problem gewordenen kapitalistischen Arbeitsverhältnisse heißt das für uns heute: Fabrikarbeiter, die durch einen Arbeitsvertrag ihre Arbeitskraft an einen Privateigentümer verdingen, müssten deswegen allesamt ihr Stimmrecht verlieren. Damit wäre auch ein Großteil der männlichen Bevölkerung vom Stimmrecht ausgeschlossen. Für das ‚Staatsrecht‘ von 1797 bedeutet das wiederum: Die societas civilis würde sich in der empirischen Anwendung der Anfangsgründe der Volkssouveränität (des Haupttextes) auf jene exklusive Gemeinschaft der Staatsbürger verkürzen, wie sie ideengeschichtlich für die Aristotelische Polisphilosophie charakteristisch ist.321 Blickt man indes auf die Begründung der Volkssouveränität im Haupttext zurück, so ist solch eine Verwirklichung eindeutig rechtswidrig und unvereinbar mit den Voraussetzungen dieser Begründung. Durch die Volkssouveränität soll ja gerade verhindert werden, dass auch nur irgendjemanden unter irgendwelchen Umständen durch die souveräne Gewalt unrecht geschehen kann; sie soll „schlechterdings niemand unrecht thun können“ (§ 46,1, Satz 2); und darum habe „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe [zu] beschließen“ (§ 46,1, Satz 4). Doch derartiges Unrecht würde notwendigerweise eintreten, wenn die große Zahl vom „absoluten Willen“ einer kleinen Gruppe über ihnen abhängen und wie „Kinder“ bevormundet werden würde (vgl. § 49,1) – die Freiheitspersönlichkeit all jener Menschen wäre dadurch aufgehoben. Solch eine Verwirklichung der Volkssouveränität ist den Prinzipien des Postulats des öffentlichen Rechts zuwider, würde aber auch seine Befolgung unmöglich machen. Denn nur als eigenverantwortliche Person ist dies möglich. So verstanden ist die Verwirklichungslehre der eingerückten Absätze eindeutig fehlerhaft; im Zuge der Befolgung des Postulats müsste sie von dessen Adressaten verworfen werden. Eine genauere Lektüre der eingerückten Absätze zeigt jedoch, dass auch diese rechts- und freiheitswidrige Verwirklichungslehre nur eine scheinbare ist. Dabei stellt sich heraus: Der Schein deutet nicht nur auf das Problem einer falschen Verwirklichung der An321

Vgl. Bien 1976, 78 f., 80 f.

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fangsgründe hin. Vielmehr ist eine defizitär-rechtswidrige Verwirklichung der Anfangsgründe der Volkssouveränität, die dennoch Anspruch auf Rechtmäßigkeit erhebt, selbst der Anlass der eingerückten Absätze – aber zugleich auch der Grund, eine alternative Verwirklichungslehre vorzulegen. Diese alternative Lehre wird wiederum ausschlaggebend sein für die tatsächliche, nicht bloß scheinbare Architektonik des ‚Staatsrechts‘. Im Folgenden werde ich die beiden eingerückten Absätze textnah interpretieren. So wird im ersten eingerückten Absatz die Einteilung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt in den des Aktiv- und Passivbürgers hergeleitet und zugleich problematisiert; der zweite eingerückte Absatz präsentiert hingegen eine Verwirklichungslehre der Anfangsgründe der Volkssouveränität im Haupttext, welche tatsächlich die Schwierigkeiten behebt, die im ersten Absatz als Problem angeführt werden. Nach der Darlegung dieser überblickhaft gehaltenen, doch zugleich erläuternden Interpretation (in Kap. 1), gehe ich zu einer präzisierenden Interpretation über, indem ich zuerst auf die acht zeitgenössischen Beispiele eingehe, die der erste Absatz zur Frage anführt, wer nach staatsrechtlicher Auskunft unmündig sei (Kap. 2.1). Im Rückblick auf die dann vorliegende Interpretation widme ich mich schließlich zum einen wieder der architektonisch sehr bedeutsamen Verwirklichungslehre des zweiten eingerückten Absatzes (Kap. 2.2), zum anderen beantworte ich in einem Fazit die Frage, wie die beiden eingerückten Absätze schlussendlich zu lesen und zu werten sind (Kap. 2.3).

1. Überblickschaffende und erläuternde Interpretation 1.1 Zum ersten eingerückten Absatz Der erste Absatz knüpft im ersten seiner vier Sätze an das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit an, mit dem der Haupttext schloss: „Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualification zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbstständigkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloß Theil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d. i. aus eigener Willkühr in Gemeinschaft mit anderen handelnder Theil desselben sein will“ (Satz 1).

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Der Trennung von Haupttext und Anmerkung entsprechend ist der Ausgangspunkt im ersten der beiden durch das Semikolon abgetrennten Satzteile allerdings nicht das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit selbst. Es ist vielmehr der Gesichtspunkt der „Qualification zum Staatsbürger“ (Kursivdruck: M.W.), welche eine „Fähigkeit“ voraussetze, die (empirisch) vorliegen kann oder eben nicht. Gleich zu Beginn wird damit deutlich, dass es nun um die Anwendung und letztlich die Verwirklichung der Rousseau’schen Volkssouveränität in einer societas civilis geht. Interessanterweise ist die in Rede stehende Fähigkeit dabei die „Fähigkeit der Stimmgebung“. Auch in der Verwirklichung der Anfangsgründe der Volkssouveränität kommt es also auf jenen Akt der „Stimmgebung“ an, der dem Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegt und der für das erste Attribut des Staatsbürgers – die „gesetzliche Freiheit“ – entscheidend ist: Laut dem Verfahren soll „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“ (§ 46,1); die „gesetzliche Freiheit“ besteht darin, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er [der Staatsbürger] seine Beistimmung gegeben hat“ (§ 46,2), und zwar in besagtem Verfahren (Kursivdruck: M.W.). Mit der Einforderung der „Fähigkeit der Stimmgebung“ wird zu Beginn des eingerückten Absatzes also klar, dass das Verfahren nun (im Einklang mit dem Haupttext) offenbar auch verwirklicht werden soll. Denn wäre es nur zu simulieren (in einem Gedankenexperiment), müsste nicht die Fähigkeit der aktiven Stimmgebung aufseiten der Menschen eingefordert werden: auch und insbesondere als empirische Qualität – soll doch die Simulation des Verfahrens letztlich der Entlastung von den tatsächlichen Willensbekundungen der Menschen dienen322. Dem zweiten Satzglied zufolge setzt die „Fähigkeit der Stimmgebung“ allgemein die „Selbstständigkeit“ des Menschen „im Volk“ voraus. Rekapituliert und zugleich expliziert wird damit der zweigliedrige Grund, von dem aus im Haupttext auf die Kernbestimmung der bürgerlichen Selbständigkeit geschlossen wurde (s. o. (zu § 46,2)): Seine Persönlichkeit dürfe man von „keinem anderen“ im Volk „vorgestellt bekommen“; dann wäre es nämlich nicht mehr möglich, als Staatsbürger (zusammen mit anderen) seine Freiheit selbst zu behaupten, die wiederum die Freiheit genau dieser Persönlichkeit ist; folglich könnte man schlussendlich auch nicht mehr sagen, man hätte 322

Vgl. Kersting 2007, 30 sowie 1984, 312-14, 273 ff.

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seine Existenz und Erhaltung als Freiheitswesen auch und vor allem sich selbst zu verdanken. Daraus würde aber auch resultieren: Fortan wäre es nicht mehr möglich, dass „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“. Das Verfahren der Volkssouveränität müsste auch und insbesondere als Modus der Freiheitssicherung und -artikulation als unterlaufen angesehen werden. Denn die Persönlichkeit, die in diesem Verfahren als die eigene geltend gemacht werden soll, wäre in Wahrheit diejenige eines andern, und die eigene unter dieser zumindest verdeckt, wenn nicht gar zerstört. Kurz: Nach außen würde es so scheinen, als wäre das Verfahren den Anfangsgründen der Volkssouveränität (des Haupttextes) zufolge vollständig verwirklicht. Doch diese Verwirklichung wäre eine falsche und trügerische: die respublica phaenomenon wäre keine „wahre Republik“ (vgl. § 52,3). Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich der Relativsatz, in dem das Subjekt der Stimmgebung bestimmt wird, das um der Stimmgebung willen selbständig zu sein habe. Die Rede ist hier nämlich von der „Selbstständigkeit dessen im Volk […], der nicht bloß Theil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d. i. aus eigener Willkühr in Gemeinschaft mit anderen handelnder Theil desselben sein will“. Entscheidend ist hierbei das sein wollen. Hiermit wird die Willenslogik bestimmt, die für den Staatsbürger charakteristisch ist: Er will von der souveränen Gemeinschaft nicht nur passiv und fremdbestimmt als Untertan behandelt werden, also „nicht bloß“ als „Theil des gemeinen Wesens“; stattdessen möchte er ein „Glied desselben“ sein, er will sich „aus eigener Willkühr in Gemeinschaft mit anderen“ aktiv selbst bestimmen. Will man letzteres, so ist es nur konsequent, sich nicht in ein zwischenmenschliches Verhältnis zu begeben, in dem man derart fremdbestimmt wird, dass man überhaupt nicht mehr „aus eigener Willkühr“ handeln kann. Nach den Voraussetzungen der Kantischen Freiheitsphilosophie kann man allerdings als naturaliter mündige Person in solch einem Verhältnis der Fremdbestimmung nur darum und solange sein, insofern man es will 323 (s. o. (zu § 44)); ein Wille zur Fremdbestimmung, Unselbständigkeit und letztlich zur Auflösung der Persönlichkeits-Strukturen der Freiheit, Verantwortung und Zu-

323

Vgl. RGV, AA 06: 82.01-06 sowie § 30.

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rechnung324 ist hierzu nötig; „selbst verschuldet [e] Unmündigkeit“ (civiliter) ist wieder das Stichwort. Darum ist letztlich auch der naheliegende Einwand zurückzuweisen, das Problem der falschen Verwirklichung betreffe nur die öffentliche Wahl, nicht aber die geheime. Man könnte schließlich meinen, die Knechte seien lediglich im Fall der öffentlich-sichtbaren Wahl (beispielsweise auf dem Marktplatz) genötigt, die Willen ihres Herrn in der Stimmgebung (etwa aus Furcht) zu reproduzieren, was aber im Fall der geheimen Wahl nicht der Fall sein dürfte. Doch nach Kantischem Verständnis wollen die Knechte sich der „Leitung eines anderen […] bedienen“325; sie wollen sich die eigene Persönlichkeit nicht selbstverantwortlich selbst vorstellen, sondern dies einem anderen überlassen. Allerdings ist von Menschen, die das wollen, zu Beginn des eingerückten Absatzes vorerst nicht die Rede. In Rede steht ausschließlich derjenige im „Volk“, der seine Freiheit aktiv „aus eigener Willkühr“ behaupten „will“. Das ist der Ausgangspunkt des eingerückten Absatzes. Und der wiederum entspricht präzise dem Stand- und Gesichtspunkt des Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts, der es sich zum Vorsatz gemacht hat, dieses Postulat kraft einer entsprechenden inneren Haltung zu befolgen – und mit ihm auch jene elementaren Rechtspflichten, allem voran das honeste vive als Pflicht der inneren und äußeren Freiheitsbehauptung (vgl. Vorstudie). Dem zweiten Satz zufolge macht die zur Stimmgebung vorausgesetzte Qualität der Selbständigkeit nun besagte „Unterscheidung des activen vom passiven Staatsbürger nothwendig“ – und das „obgleich der Begriff des letzteren mit der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt im Widerspruch zu stehen scheint“. Diese „Schwierigkeit zu heben“ ist das Projekt der beiden folgenden Sätze, dann aber auch des zweiten eingerückten Absatzes. So wird nach der Zäsur durch einen Gedankenstrich im dritten Satz behauptet, die zeitgeschichtlichen „Beispiele“ im vierten und letzten Satz könnten dazu dienen, besagte „Schwierigkeit zu heben“. Doch beide Sätze legen nur dar, dass die exemplarisch aufgeführten Menschen „der bürgerlichen Persönlichkeit“ entbehren (Satz 3) und „keine bür324

Vgl. zu Kants Beschäftigung mit diesem Problem Allison 2001, 96 und ausführlich von mir 2019, 50 f., 66 f. 325 WA, AA 08: 35.01.13.

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gerliche Selbständigkeit besitzen“ (Satz 4). Damit wird die Aufgabe auf den nächsten Absatz geschoben, den Widerspruch als scheinbaren zu identifizieren. Die „Unterscheidung des activen vom passiven Staatsbürger“ im zweiten Satz wirft allerdings Fragen auf. Frage 1: Warum scheint der Begriff des passiven Staatsbürgers mit „der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt“ im Widerspruch zu stehen? Frage 2: Weshalb ist die Unterscheidung überhaupt notwendig? (Zu Frage 1:) Die erste Frage ist leicht zu beantworten: Der „Erklärung“ im Haupttext zufolge „heißen“ die „zur Gesetzgebung vereinigten Glieder“ einer societas civilis nämlich „Staatsbürger (cives)“ (§ 46,2). Was die Staatsbürger demzufolge primär kennzeichnet, ist ihr Status als Glied des Souveräns. Erst in der Darlegung der drei Attribute der Staatsbürger wird dann deutlich, dass dieser Status (als imperans) mit der Rolle als Untertan (subditus) einhergeht. Der passive Staatsbürger ist aber eben nicht solch ein „zur Gesetzgebung vereinigte[s] Glied“, da er in Ermangelung seiner Fähigkeit zur Stimmgebung (aufgrund seiner Unselbständigkeit) sich nicht mit anderen kraft Beistimmung und Beschluss zur Gesetzgebung vereinigen kann. Folglich ist er bloßer Untertan. Denn für ihn gilt nicht, dass er „obzwar passiv (mit sich machen läßt), doch auch selbstthätig ist, und den Souverän selbst vorstellt“ (§ 55,5); er ist nur passiv, weder selbständig noch selbsttätig. Darum steht der „Begriff des letzteren mit der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt im Widerspruch“. So gesehen ist der Widerspruch kein scheinbarer, sondern ein tatsächlicher. Vielmehr ist zu fragen, warum im Text lediglich von einem scheinbaren Widerspruch die Rede ist. (Zu Frage 2:) Mit Blick auf die „Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt“ stellt sich allerdings auch die Frage, weshalb der passive Staatsbürger überhaupt „Staatsbürger “ genannt wird, warum also die Unterscheidung überhaupt notwendig ist. Im Grunde ist ja der passive Staatsbürger überhaupt kein Staatsbürger, sondern bloßer Untertan. So wird er in den folgenden Sätzen konsequenterweise auch nicht „Staatsbürger“ genannt, sondern in Abgrenzung dazu: „bloß Staatsgenosse“ (Kursivdruck: M.W.), – bloß derjenige „der mit dem andern etwas in Gemeinschaft genießet“ 326. Und 326

Adelung 1796, 568.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

schließlich erfolgt in § 51, Satz 8, eine entschiedene Weigerung, Untertanen, die bloße Untertanen sind und bleiben sollen, Staatsbürger zu nennen.

1.2 Zum zweiten eingerückten Absatz Tatsächlich behebt der zweite Absatz die Schwierigkeit dieses offensichtlichen Widerspruches. Denn dort wird eine konsequent zielgerichtete (wenn man so will teleologische) Deutung des Begriffs vom passiven Staatsbürger entfaltet: Auch den passiven Staatsbürgern soll es rechtlich möglich sein, aktive Staatsbürger zu werden und damit „überhaupt“ Staatsbürger zu sein – und mit Blick auf dieses Ziel rechtfertigt sich die fragwürdige Bezeichnung der Unselbständigen als Staatsbürger. Aber trotzdem wird das Wort „Staatsgenosse“ präferiert (Kursivdruck: M.W.). Entscheidend ist, dass der Staatsbürger-Begriff in den eingerückten Absätzen auf jenes staatsrechtliche Fundamentalproblem bezogen wird, welches eben nicht das Problem der natürlichen, sondern das der „selbst verschuldeten Unmündigkeit “ ist: Gewisse Menschen wollen, dass jemand Fremdes ihnen ihre eigene Persönlichkeit vorstellt; darum qualifizieren sie sich nicht zur Stimmgebung in Angelegenheiten der Freiheitsbehauptung. Sie am Verfahren der Willensbildung beteiligen zu lassen, würde deshalb eine falsche Verwirklichung der Anfangsgründe der Volkssouveränität (im Sinn des Haupttextes) bedingen. Mehr noch: Die freiheitsverneinende Willensdisposition solcher Menschen stellt auch ein Fundamentalproblem für das Projekt öffentlichen Rechts dar, insofern die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts unter der Voraussetzung einer derartigen Disposition nicht möglich ist (vgl. Vorstudie). Genau von dieser problematischen Perspektive aus wird nun aber im vorliegenden zweiten eingerückten Absatz ein Lösungsansatz präsentiert: Alle diejenigen, die naturaliter mündig sind oder werden können, aber civiliter unmündig sein wollen, müssen passive Staatsbürger bleiben; doch jeder, der „aus eigener Willkühr in Gemeinschaft mit anderen handelnde[s]“ Glied der souveränen Gemeinschaft „sein will“, muss es auch rechtlich werden und sein können, und zwar jederzeit (Kursivdruck: M.W.). Damit wird im zweiten Absatz eine problemorientierte Verwirklichungslehre der Anfangsgründe der Volkssouveränität (des

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Haupttextes) skizziert, die mit dem Postulat des öffentlichen Rechts und den normativen Voraussetzungen desselben im Einklang steht. Sie will ich nun auf Grundlage einer sorgfältigen Lektüre der drei Sätze des letzten eingerückten Absatzes erschließen. (Zu Satz 1:) Der zweite eingerückte Absatz setzt mit der provokanten und bereits angeführten Behauptung ein, die „Abhängigkeit von dem Willen Anderer und Ungleichheit“ der zuvor exemplarisch angeführten Unmündigen sei „gleichwohl keinesweges der Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen“. Provokant ist das, weil die Unmündigen in dieser Abhängigkeit wie gesagt aufhören würden, Personen zu sein – und damit in gewisser Weise auch Menschen im vollen Wortsinn. Dieser Behauptung wird jedoch nach einem Kolon ein grammatisch vollständiger zweiter Teilsatz angefügt: „vielmehr kann bloß den Bedingungen derselben [der derzeit abhängigen Menschen327] gemäß, dieses Volk ein Staat werden, und in eine bürgerliche Verfassung eintreten“.

Den vorliegenden Teilsatz gilt es streng auf die Anfangsgründe der Volkssouveränität im Haupttext zurückzubeziehen, will man den zweiten Absatz stimmig interpretieren; – wobei wieder auf das Postulat des öffentlichen Rechts zurückzugehen ist. Das ergibt folgende Lektüre, die ich mit einer Deutung der Rede von der Staatswerdung des Volkes einerseits sowie vom Eintritt in eine bürgerliche Verfassung andererseits beginnen möchte. Ab § 46 ist beides nämlich im Sinn einer Selbstformierung des Volkes zur civitas auszulegen. Und die civitas wiederum muss als souveräne Gemeinschaft von aktiven Staatsbürgern verstanden werden – der Kantische Staat ist mit der wiederholten Rede vom Staat als civitas („Staat (civitas)“) eben mit einer civitas (Bürgerschaft) gleichzusetzen. Nach der Begründung der Volkssouveränität können die Staatsbürger als Glieder einer societas civilis allerdings nur durch den allseitigen Akt der Stimmgebung solche „zur Gesetzgebung vereinigte Glieder einer […] societas civilis […], d. i. eines Staats“ werden. Damit ist die Staatswer327

Dieser Bezug ist im Hinblick auf die Interpretation, welche ich nun entfalte, der präziseste. Zuerst einmal naheliegender ist allerdings, das Wort „derselben“ auf die ‚Freiheit und Gleichheit (der vom Willen Anderer Abhängigen als Menschen)‘ zu beziehen.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

dung des Volkes dynamisiert, weshalb der Eintritt in eine bürgerliche Verfassung hier auch nicht als Akt einer Sieyes’schen pouvoir constituant verstanden werden darf. Vielmehr muss die Staatswerdung des Volks immer wieder vollzogen werden, wenn die Aufgabe ansteht, sich zur Gesetzgebung zu vereinigen und sich auf diese Weise zugleich als „Verfassung“ selbst zu formieren (im Sinn einer Form des horizontalen Beisammenseins der „Menschen unter sich“ (§ 41,3, s. o. (zu § 43 und zu § 45)). Genau dafür steht schließlich der an vorliegender Stelle verwendete Begriff „bürgerliche Verfassung“. Nach dem Postulat des öffentlichen Rechts ist jedoch ein jeder im Volk dazu verpflichtet, diese Vereinigung zur Gesetzgebung kraft Stimmgebung und Beistimmung „mit allen anderen“ auf verantwortliche Weise zu bewirken. Und darum kann nur „gemäß“ den „Bedingungen“ Aller im Volk „dieses Volk ein Staat werden, und in eine bürgerliche Verfassung eintreten“; – auch wenn gewisse Menschen sich gerade nicht als Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts adressiert sehen wollen, weil sie im Modus „selbst verschulde te[r] Unmündigkeit “ überhaupt jede Verantwortung von sich weisen. Unter Rückbezug auf das Postulat des öffentlichen Rechts wird somit das eigentliche Problem erkennbar: Der Wille Aller soll kraft der Volkssouveränität in einer öffentlichen Praxis der Freiheitsbehauptung geachtet werden, damit „schlechterdings niemand unrecht“ geschieht; doch genau deshalb muss selbst den Willen derjenigen Menschen Achtung entgegen gebracht werden, die ihre Willen selbst nicht (hinreichend) achten – denn „bloß den Bedingungen derselben [der derzeit abhängigen Menschen] gemäß [kann das …] Volk ein Staat werden, und in eine bürgerliche Verfassung eintreten“. Deswegen ist eine Lösung zu finden, derzufolge die „Abhängigkeit von dem Willen Anderer und Ungleichheit“ – besagter Unmündigen – „gleichwohl keinesweges der Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen“ ist. (Zu Satz 2:) Diese Lösung gefunden zu haben, ist die implizite Behauptung des ersten Satzes; präsentiert wird sie im zweiten Satz mit dem (fragwürdigen) Qualifikationsmodell: „In dieser Verfassung aber das Recht der Stimmgebung zu haben, d. i. Staatsbürger, nicht bloß Staatsgenosse zu sein, dazu qualificiren sich nicht alle mit gleichem Recht“.

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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Hiermit wird jedoch nur der zuvor bereits angemerkte Widerspruch fortgetragen, der zwischen dem (Unter-)Begriff ‚Passivbürger‘ und dem (Ober-)Begriff ‚Staatsbürger‘ zu stehen scheint: Die Bildung der souveränen Körperschaft ist auf die Bedingung der Beistimmung Aller angewiesen und zwar kraft gleichem „Recht der Stimmgebung“; doch dazu, dieses Recht zu haben, „qualificiren sich nicht alle mit gleichem Recht“. Der vorliegende Satz und die in ihm enthaltene Lösung wird jedoch im nächsten und letzten Satz begründet – und die Schwierigkeit damit tatsächlich behoben. (Zu Satz 3:) Der Ausgangspunkt der Begründung im dritten Satz ist nun eine Kompetenz, die den Unselbständigen zugestanden wird: „fordern [zu] können, von allen Anderen nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als passive Theile des Staats behandelt zu werden“. Im Gegensatz zum ersten Satz des vorigen Absatzes geht die Begründung also aus vom rechtlichen Standpunkt und der Perspektive des Unselbständigen und Unmündigen. Interessanterweise können auch von diesem Standpunkt aus aktiv Forderungen gestellt werden, aller Passivität zum Trotz. Damit wird an den Gesichtspunkt des ersten Satzes angeknüpft, dass die societas civilis in der Bildung des souveränen Willens letztlich auch auf die Unselbständigen im Staat angewiesen ist, – insofern auch diese einerseits zum „Volk“ gehören und andererseits auch Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts sind, mit denen es gemeinsam dieses Postulat zu vollziehen gilt. Die „Freiheit und Gleichheit derselben als Men schen“ gilt es zu achten, das ist der im vorliegenden Satz gewählte Ausgangspunkt: Als Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts können auch die Unselbständigen durch das Postulat Forderungen aufstellen (postulieren) und zwar „nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit“. Von diesen Gesetzen ist im selben Satz weiter unten auch die Rede, genauer: von „natürlichen [Gesetzen] der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk“; nur gemäß den Bedingungen der „Freiheit und Gleichheit“ Aller „als Menschen“ können sich die Staatsbürger zur Gesetzgebung vereinen. Mit Rückblick auf das Postulat des öffentlichen Rechts ist aber auch klar, welche natürlichen Gesetze hier gemeint sind. In der Befolgung des Postulats werden nämlich zum Zweck der Errichtung eines öffentlich-rechtlichen Zustandes zuallererst natürliche Gesetze als „Freiheitsgesetz[e]“ (§ 47, Satz 2) begründet: als metaphysische

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

fangsgründe des öffentlichen Rechts, des Staatsrechts und der Volkssouveränität (ab § 46). Und genau nach diesen Anfangsgründen der Volkssouveränität im Haupttext können alle Menschen im Volk als solche von allen anderen fordern, dass nur nach ihren „Bedingungen“ ein souveräner Wille gebildet werden kann und dass sie als Untertanen nur passiv diesem Willen zufolge behandelt werden dürfen. Wichtig ist an diesem Punkt indes, dass auch diejenigen Menschen, die bereits selbständig sind und civiliter mündig bleiben wollen ebendasselbe aufgrund des Postulats des öffentlichen Rechts fordern können: nicht bloß passives „Theil des gemeinen Wesens“ (Untertan), sondern „auch Glied desselben“ zu sein, ein „aus eigener Willkühr in Gemeinschaft mit anderen handelnder Theil“ (aktives Glied des Souveräns). Genau das heißt es an vorliegender Stelle, „fordern [zu] können, von allen Anderen nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als passive Theile des Staats behandelt zu werden“: zwar auch Untertan zu sein, aber einer, der zufolge der ‚natürlichen‘ „gesetzliche[n] Freiheit“ keinem anderen Gesetz gehorcht, „als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“, und zwar als aktives Glied des Souveräns. Das aber impliziert eben ganz grundsätzlich die Forderung, aktiver Staatsbürger zu sein. Angesichts dieser Forderung, die auch die Unselbständigen dem Postulat des öffentlichen Rechts zufolge „als Menschen“ vorbringen können, wird nun im dritten Satz einerseits eine unangemessene Schlussfolgerung eines rechtlichen Anspruches zurückgewiesen („Denn daraus […] folgt nicht das Recht“) und andererseits abschließend die angemessene Folgerung angegeben („[...] sondern nur […].“). Interessant ist dabei vor allem die letzte, nicht-zurückgewiesene Folgerung. Denn die zurückgewiesene ist wie zu erwarten jenes „Recht“, „auch als active Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisiren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken“. Die nicht-zurückgewiesene Folge hingegen sei „nur“ diejenige: „daß, welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie [die aktiven Staatsbürger] stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem activen empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen“.

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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Aus der Kompetenz, die den Unselbständigen auf Basis der Anfangsgründe der Volkssouveränität zugestanden wird, folgt also nicht das Recht der direkten Teilnahme an der Verabschiedung von Gesetzen in der Rolle des aktiven Staatsbürgers. Was folgt ist lediglich, den Anspruch gegen die aktiven Staatsbürger geltend machen zu können, dass die von diesen qua Souveränitätsakt erlassenen positiven Gesetze den Anfangsgründen der Volkssouveränität „nicht zuwider sein“ dürfen. Denn die hier in § 46 in Rede stehenden „natürlichen [Gesetze] der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk“ sind wie dargelegt genau die Anfangsgründe der Volkssouveränität des Haupttextes. Entscheidend ist an vorliegender Stelle aber die Explikation, was diese natürlichen Gesetze, und damit auch die Anfangsgründe der Volkssouveränität für die unselbständigen und passiven Staatsbürger besagen. Dies ist: „sich […] aus diesem passiven Zustande zu dem activen empor arbeiten zu können“ (Kursivdruck: M.W.). Demnach muss es den Unselbständigen zum einen rechtlich möglich sein, im Volk ihre eigenen Herren zu werden, also zuerst einmal sich aus jener Abhängigkeit zu lösen, in der ein Anderer ihnen ihren Willen und ihre Persönlichkeit vorstellt. Zum anderen müssen sie danach – nach getaner Arbeit328 – eben auch aktive Staatsbürger sein können. Beides hat allein von ihnen abzuhängen. Dagegen dürfen sich die positiv-rechtlichen Gesetze nicht richten, welche von den aktiven Staatsbürgern erlassen werden. Und genau das dürfen die Unselbständigen von den bereits civiliter selbständigen aktiven Staatsbürgern fordern – zufolge dem Postulat des öffentlichen Rechts und den dadurch begründeten Anfangsgründen der Volkssouveränität.

328

Das „empor arbeiten“ ist hier freilich nicht buchstäblich-ökonomisch zu deuten, wie es in der Literatur immer wieder geschieht; vgl. vielmehr WA, AA 08: 36.04 f.: „Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten“, Kursivdruck: M.W. Die Arbeit ist primär eine Willensarbeit mit einer nicht zu unterschätzenden anthropologischen Komponente, doch dazu gleich mehr.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

2. Präzisierende Interpretation 2.1 Zu den Beispielen Ihrem Anspruch nach gesteht die vorliegende Verwirklichungslehre der Anfangsgründe der Volkssouveränität allen Menschen im Volk das Recht zu, aktive Staatsbürger werden zu können. Eine andere Frage ist indes: Genügen diesem Anspruch, wenn darüber geurteilt wird, wer selbständig ist und wer nicht, auch jene Applikationen, die anhand zeitgeschichtlicher Beispiele vorgenommen werden? Im Hinblick hierauf ist letztlich auch zu klären, ob die Selbständigkeit nicht doch primär eine ökonomische Kategorie ist, wie zuvor im Gemeinspruch. Die Beispiele sind acht an der Zahl und jeweils in einem Viererblock aufgestellt: Block 1 „Folgende Beispiele können dazu dienen, diese Schwierigkeit zu heben: [(1)] Der Geselle bei einem Kaufmann, oder bei einem Handwerker; [(2)] der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staats steht); [(3)] der Unmündige (naturaliter vel civiliter); [(4)] alles Frauenzimmer“ (eA 1, Satz 3)

Block 2 [(5)] „Der Holzhacker, den ich auf meinem Hofe anstelle, [(6)] der Schmied in Indien, der mit seinem Hammer, Ambos und Blasbalg in die Häuser geht, um da in Eisen zu arbeiten, in Vergleichung mit dem europäischen Tischler oder Schmied, der die Producte aus dieser Arbeit als Waare öffentlich feil stellen kann; [(7)] der Hauslehrer, in Vergleichung mit dem Schulmanne, [(8)] der Zinsbauer, in Vergleichung mit dem Pächter“ (eA 1, Satz 4, Kursivdruck: M.W.).

(Zu den Beispielen 3 und 4:) Das schwierigste Anwendungsproblem ist wohl, zu erkennen, ob ein Erwachsener natürlicherweise oder selbstverschuldet unmündig ist: „naturaliter vel civiliter“ – auch aus genuin Kantischer Sicht. So lässt es vorliegende Stelle zwar offen, aus welchem Grund „alles Frauenzimmer“ unselbständig sei, doch die Vorgängerschrift zum Gemeinspruch hatte den Grund in einer

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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„natürlichen“ Qualität gesehen329. Frauen wurden dort wie Kinder als naturaliter unmündig erklärt. Das aber würde heißen, dass sie von Geburt an und wohl auch für das gesamte Leben darauf angewiesen wären, dass ihnen Andere – Männer – ihre Persönlichkeit nach Gutdünken vorstellen. Sie hätten folglich keine eigene Freiheitspersönlichkeit und wären auch keine echten handlungsfähigen Personen. Mehr noch: Mit dem Entbehren ihrer Freiheitspersönlichkeit müssten sie auch auf ihre Menschenwürde verzichten und wären nach Kantischen Begriffen streng genommen überhaupt keine Menschen. So ist nach den „Vorbegriffe[n] zur Metaphysik der Sitten“ derjenige, der in Ermangelung seiner Freiheitspersönlichkeit noch nicht einmal der Möglichkeit nach „Person“ ist, schlicht eine „Sache“ (EMdS, IV, AB 22 f.). Das wiederum ist nicht nur „aus heutiger Sicht tatsächlich skandalö[s]“,330 denn auch als bloß zeitbedingtes Urteil lässt sich diese Position nicht entschuldigen. So hatte Sieyes 1789 in seiner Schrift ›Préliminaire de la Constitution françoise‹ Frauen den Status des aktiven Staatsbürgers lediglich ‚wenigstens‘ aufgrund der damaligen historischen Umstände verweigert, nicht aber aufgrund ihrer Natur („Les femmes, du moins dans l’état actuel“).331 Allerdings ist zu beachten: Nicht das ‚Staatsrecht‘ vertritt solch eine Position, sondern nur der Vorgängertext von 1795. Naturaliter vel civiliter, diese Frage bleibt 1797 offen. Kürzlich hat Reinhard Brandt darauf hingewiesen, 332 die Unterscheidung von selbstverschuldeter und naturgegebener Unmündigkeit sei nach Kantischem Verständnis eine flüssige; zudem könne die naturgegebene Unmündigkeit durch eigene Freiheitsanstrengung überwunden werden, zumindest in gewissen Fällen. So sei es möglich, dass sich die Annahme der natürlichen Unmündigkeit von „Frauen“, aber auch diejenige der Angehörigen anderer „Rassen“, als „empirische[r] Irrtum“ erweise.333 Mit Blick auf diese Fluidität ist meines Erachtens aber auch die (Rousseau’sche) Perspektive zu rekapitulieren, anhand der Kant 1793 den Hang zum Bösen als selbstverschuldeten, und darum eben nur als quasi-natürlichen Hang zur Unfreiheit gedacht hatte: Demnach bestimmt die Freiheit weitreichend 329

TP, AA 08: 295.14 f. Maus 2011, 278. 331 Sieyes 1789a, 36 f. 332 Brandt 2018, 165-168. 333 Brandt 2018, 167. 330

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

die leibliche Natur (kraft dem Freiheitsvermögen anthropologischer Selbstbestimmung)334 und dementsprechend konstituiert der Wille zur Unmündigkeit dieselbe auf eigentümliche Weise. Auch die natürliche Unmündigkeit (naturaliter) kann diesem Gedanken zufolge selbstverschuldet sein (civiliter). Die Differenz naturaliter vel civiliter hebt sich an diesem Punkt auf. In allen übrigen Beispielen (nämlich 1 + 2, 5-8) ist die Unselbständigkeit hingegen eindeutig keine natürliche, sondern eine ‚bürgerliche‘ (civiliter), also selbstverschuldet. ‚Bürgerlich‘ heißt hier ‚künstlich‘. So handelt es sich bei allen Beispielen außer dem letzten um Berufsgruppen. Auffällig ist zudem, dass alle Beispiele außer dem ersten auf das Haus bezogen sind, also auf das traditionelle System „ständischer Herrschaftseinheit“.335 Augenscheinlich ist das besonders im zweiten Block, wenn dort die ersten drei Beispiele explizit auf Haus und Hof Bezug nehmen, aber auch die Rede vom Dienstboten und Zinsbauer ist in diese Richtung zu lesen. Das traditionelle System des Hauses steht zudem aber auch für das freiheitsrechtlich unmögliche Herr-Knecht-Verhältnis, in welchem die Menschen nach Kantischem Verständnis in einer derartigen Abhängigkeit gehalten sind, dass sie aufhören (müssten), „Person zu sein“ (Allg. Anm., D,4) und in welchem sie ihre „Existenz und Erhaltung der Willkür eines Anderen im Volke […] verdanken“ (§ 46,2). Worauf es ankommt, ist nun das: Wer in irgendeiner (Abhängigkeits-)Relation zum traditionellen System „Haus“ steht, der ist als unselbständig zu erkennen, auch wenn er es vielleicht nicht ist, wie der angeführte Holzhacker: Das ist das einfache (wenn wohl auch grobschlächtige) Kriterium, nach dem in all diesen Fällen geurteilt wird. Auf das traditionelle Herr-Knecht-Verhältnis ist zuletzt aber auch das Urteil über den Gesellen zu beziehen und entsprechend zu werten. Denn der Geselle ist der „dem meister untergeordnet[e] gehülfe“ 336 und steht somit in einem analogen Verhältnis.337 334

Vgl. hierzu meinem Aufsatz „Anthropologische Selbstbestimmung bei Kant, Rousseau und Nietzsche“, 2021. 335 Vgl. Kersting 1984, 301, Horn 2014, 88 ff. sowie Koselleck 2010, 465-485. 336 Grimm, Bd. 5, 4032. 337 So hatte Rousseau in seinen Confessions das Verhältnis zwischen Vater und Sohn als natürlich beurteilt, das zwischen Meister und Gesellen hingegen als widernatürlich, weil es ein Verhältnis der Sklaverei sei: „Rien ne m’a mieux appris la différence qu’il y a de la dépendance

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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Am letzten Beispiel – dem „Zinsbauer, in Vergleichung mit dem Pächter“, – wird schließlich ersichtlich: Kant hat ‚seine‘ Position im ‚Staatsrecht‘ gegenüber der Vorgängerschrift zum Gemeinspruch fundamental geändert. Das wird besonders deutlich mit Blick auf die von mir bereits mehrfach zitierte Passage zur Sklaverei in der Allgemeinen Anmerkung (D,4): Denn laut dieser Stelle befindet sich ausschließlich der Zinsbauer in einem solchen Abhängigkeitsverhältnis, „wodurch er seine Persönlichkeit einbüßen würde“, weil er sich „zum Gutsunterthan (glebae adscriptus)“ mache. Beim Pächter sei das hingegen nicht der Fall. Er verdinge sich „nur zu, der Qualität und dem Grade nach bestimmten, Arbeiten“. Dadurch ist er zwar „ansässiger Unterthan“: weil er „theils, für den Gebrauch des Bodens seines Herrn, […] Dienste auf demselben Boden, theils für die eigene Benutzung desselben bestimmte Abgaben (einen Zins) nach einem Pachtvertrage leistet“. Aber „zum Gutsunterthan (glebae adscriptus)“ mache er sich dadurch nicht – „wodurch er seine Persönlichkeit einbüßen würde“. In Abgrenzung zur Vorgängerschrift geht Kant mit dem letzten Beispiel also bis zur äußersten Grenze, wenn er dem Pächter die Selbständigkeit zugesteht und ihn zur Stimmgebung qualifiziert, wohlwissend, dass er ein „ansässiger Unterthan“ ist. Dass hiermit eine radikale Abkehr gegenüber der Position von 1795 erfolgt, wird auch daran ersichtlich, dass in der referierten Stelle der Allgemeinen Anmerkung der Pächter zusammen mit dem Tagelöhner angeführt wird: „Er kann sich also nur zu, der Qualität und dem Grade nach bestimmten, Arbeiten verdingen: entweder als Tagelöhner, oder ansässiger Unterthan“. Im Gemeinspruch wurde der Tagelöhner hingegen als unselbständig erklärt, weil er „den Gebrauch seiner Kräfte […] einem anderen bewilligt“.338 Im ‚Staatsrecht‘ aber ist er präzise darum selbständig: weil er dies nur in „der Qualität und dem Grade nach bestimmten […] Arbeiten“ tue. Unselbständig ist dagegen derjenige, bei dem die Verdingung (quantitativ) unbestimmt ist. Dieser ist „Leibeigener (servus in sensu stricto)“.339 le à l’esclavage servile“ (I, 31). TP, AA 08: 295.14-22, einschl. Fn. 339 Die Differenz zwischen dem ‚Staatsrecht‘ (von 1797) und dem Gemeinspruch (von 1793) kann man sich am besten mit einem Blick in die Confessions Rousseaus vor Augen halten. Dieser berichtet dort (Buch VIII), die Pension des Königs zurückgewiesen zu haben, um mit dem Notenabschreiben sein Geld zu verdienen – um selbständig zu bleiben. Nach 338

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

Es ist also falsch, das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit im ‚Staatsrecht‘ auf dem Niveau von 1795 zu lesen. Verkannt wird damit die ideengeschichtliche Position, die der Text von 1797 mit seiner Version der Lehre vom Passivbürger einnimmt. Denn nach ihr ist nur noch derjenige civiliter unselbständig und unmündig, der sich in ein (ökonomisches) Abhängigkeitsverhältnis versetzt, das vertraglich unmöglich ist (D,4, § 30). Vertraglich „verdingen“ kann man sich der Rechtslehre zufolge schließlich nur noch zu „der Qualität und dem Grade nach bestimmten […] Arbeiten“, nicht aber zu „unbestimmten Diensten“, so die einschlägige Stelle der Allgemeinen Anmerkung. Der Grund hierfür ist offenkundig der besagte, dass man in letzterem Fall „seine Persönlichkeit einbüßen“ und damit aufhören würde, „eine Person zu sein“, aber „nur als Person […] einen Vertrag machen“ und „halten“ kann (D,4, § 30). Einen Vertrag also zu schließen, durch den man unselbständig wird, ist rechtlich unmöglich; möglich hingegen sind (Arbeits-)Verträge nur auf Basis der allgemeinen Selbständigkeit. Und sich um die rechtliche Möglichkeit solcher Verträge, aber eben auch der allgemeinen Selbständigkeit zu kümmern, muss schließlich ebenfalls in besagter Forderung impliziert sein, die das Postulat des öffentlichen Rechts an die aktiven Staatsbürger stellt: „daß, welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit Aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem activen empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen“. Von diesem Punkt aus lässt sich schließlich die Eigentümlichkeit der Kantischen Lehre vom Passivbürger erkennen: Den Prinzipien des Freiheitsrechts und den Anfangsgründen der Volkssouveränität zufolge darf niemand aktiver Staatsbürger sein, der Knecht in einem freiheitsrechtlich unmöglichem System der Sklaverei sein will. Und gegen das freiheitswidrige und letztlich unmögliche Prinzip dieses Systems wurde letztlich auch die Volkssouveränität begründet: als öffentlich-rechtliche Praxis der Selbstbehauptung der Freiheit.

dem Gemeinspruch wäre Rousseau dadurch unselbständig geworden und hätte sein Stimmrecht verlieren müssen, zufolge dem ‚Staatsrecht‘ hingegen nicht.

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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2.2 Zur Verwirklichungslehre der Volkssouveränität Der zentrale § 46 legt einerseits die metaphysischen Anfangsgründe der Volkssouveränität vor, andererseits aber auch eine Lehre ihrer Anwendung und Verwirklichung; ersteres im Haupttext, letzteres in den eingerückten Absätzen. Diese Absätze sehen schließlich eine Anwendung der Anfangsgründe der Volkssouveränität vor, in der besagte Anfangsgründe vollständig und verlustlos verwirklicht werden sollen. Eine verlustlose Verwirklichung des Willensbildungsverfahrens der Volkssouveränität wird indes bereits im Zuge seiner Begründung gefordert. Laut ihr soll die souveräne Gewalt „schlechterdings niemand unrecht thun können“ (Hervorhebung: M.W.). Dabei bedeutet das ‚schlechterdings‘ „unter allen umständen“340: Unter allen günstigen, aber auch unter allen idealwidrigen Umständen soll das unrecht tun-Können der souveränen Gewalt nicht der Fall sein. Und das dem ›Contrat Social‹ entnommene allseitige Beschlussverfahren habe genau das zu leisten – schlechterdings und unter allen Umständen. Entsprechend soll den eingerückten Absätzen zufolge dieses Verfahren auch als solches verwirklicht werden; und es ist darum nicht etwa auf ein Gedankenexperiment (‚simulierter Demokratie‘) zu verkürzen.341 In diesen Absätzen geht es schließlich primär um die Qualifikation zu jener „Stimmgebung“, derzufolge die Staatsbürger „ebendasselbe beschließen“ und damit ihre „Beistimmung“ zu Gesetzen geben (vgl. § 46,1 und 2); als aktive Staatsbürger sollen die Menschen „den Staat selbst […] behandeln, […] organisiren“ und zur „Einführung gewisser Gesetze“ mitwirken, wobei es offen und den Menschen selbst überlassen bleibt, „welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen, auch sein möchten“ (Kursivdruck: M.W.). Damit wird freilich nicht „offengelassen“, ob die Stimmgebung sich „auf die Gesetze oder auf eine Institution, welche die Gesetze gibt, zielt“, wie Ludwig annimmt342. Einerseits geht es am Ende des § 46 nämlich um die Freiheit der aktiven Staatsbürger, positiv-rechtliche Gesetze nach Belieben zu erlassen – sofern sie nur nicht „den natürlichen der Freiheit und […] Gleichheit“ zuwider sind. Aber ebenso 340

Grimm, Bd. 15, 541. Die Rede ist auch nicht davon, die aktiven Staatsbürger hätte die passiven zu repräsentieren, so aber Guy Lafrance, 2000, 66 f. 342 Ludwig 1988, 161. 341

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

eindeutig gibt es auch keinen einzigen Hinweis im ganzen § 46, dass die in Rede stehende „Stimmgebung“ nur auf „eine Institution, welche die Gesetze gibt“, zielen könnte. Von „Stimmgebung“ im Sinne der Abordnung von Repräsentanten kraft Autorisation ist im Text des § 46 nirgendwo eine Spur zu finden. Der § 46 richtet sich in seinen Grundentscheidungen sogar gegen die Logik genau solch einer ‚politischen‘ Autorisation (s. o. (zu § 46,1). Das Besondere an der Anwendungslehre der eingerückten Absätze ist nun, dass darin ein zweistufiges Modell der Verwirklichung der Rousseau’schen Volkssouveränität des Haupttextes vorgeschlagen wird. Die dort anstehende Gefahr ist nämlich eine falsche und trügerische Verwirklichung der Anfangsgründe dieser Volkssouveränität. Genau solch eine Verwirklichung wäre zu erwarten, wenn man besagte Anfangsgründe unvermittelt und einfach in die Tat umsetzen würde, ohne dabei das empirisch-historische Problem der Unselbständigkeit und Unmündigkeit der Menschen praktisch zu berücksichtigen – allem voran das (Epochen-)Problem der „selbst verschuldeten Unmündigkeit “. Denn sofern Menschen von Anderen ihre Persönlichkeit gleich einer Maske übergestülpt („vorgestellt“) bekommen und dadurch nicht Herren über sich sind (und sein wollen), können (und wollen) sie wie gesagt auch nicht in eigener Person ihre „Beistimmung“ zu Gesetzen geben. Dass „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“, ist in diesem Fall also nicht möglich. Darum ist ein Zwischenschritt in der Verwirklichung der Volkssouveränität einzufügen: demzufolge ausschließlich diejenigen Menschen, die dies auch aus eigenem Recht (sui iuris) tun können und wollen, auch rechtlich dürfen, wenn sie es tun können und wollen – das jedoch in Verbindung mit einer Forderung nach einer rechtlich-institutionellen Infrastruktur, die bedingt, dass auch Alle im Volk es künftig tun dürfen. Damit wird zwar die Verwirklichung des Beschlussverfahrens im Haupttext zeitlich ein Stück weit in die Ferne geschoben, doch dies geschieht lediglich um der verlustlosen Verwirklichung des Verfahrens willen. Um eine ‚unendliche Annäherung‘ an eine letztlich nie zu verwirklichende Idee der Volkssouveränität handelt es sich dabei aber nicht. Denn vollständig verwirklicht ist das Verfahren dann bereits zum einen, weil auch das Modell temporär-exklusiver aktiver Staatsbürgerschaft ein Verfahren direkter Demokratie vorsieht. Die

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Erster Paragraphenblock, Zentrum (§ 46)

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hauptung muss zurückgewiesen werden, „jede Spekulation über eine – womöglich versteckte – Forderung nach der direkten Demokratie [sei] gänzlich verfehlt“343. Zum anderen ist im Modell dieser respublica phaenomenon aber auch zugleich schon das (Freiheits-)Prinzip der Einwilligung vollständig verwirklicht, von dem aus die Volkssouveränität im Haupttext begründet wurde. Denn die Unselbständigen – vor allem aber die selbstverschuldet Unmündigen, die in mindestens sechs der acht Beispiele des ersten eingerückten Absatzes angeführt sind –, werden diesem Modell zufolge ebenfalls nur nach ihrem Willen behandelt. Sofern sie sozial passiv und unfrei sein wollen und dafür in Kauf nehmen, unter der Leitung Anderer zu stehen, werden sie auch von der souveränen Gemeinschaft genauso behandelt: als passive Staatsbürger, – die indes jederzeit aktive Staatsbürger werden dürfen, wenn sie es können und wollen.

2.3 Fazit Wie sind nun die eingerückten Absätze des § 46 zu lesen und zu bewerten? Zuerst einmal ist in der Beantwortung dieser Frage die Standard-Lektüre wieder in ihrem Recht zu stärken. Denn die eingerückten Absätze suggerieren tatsächlich, die Anfangsgründe der Volkssouveränität im Haupttext seien auf eine freiheitswidrige und höchst skandalöse Art und Weise zu verwirklichen – so stark, dass eine Autoren-Absicht zu erwägen ist. Die gängige Lesart besagt: Unselbständigen Menschen könne man kein Stimmrecht zugestehen, sie seien passive Staatsbürger (was so viel wie ‚bloße Untertanen‘ heißt); und hierzu zählen auch alle Frauen und ökonomisch unselbständigen Menschen. Allem ersten Anschein nach deklariert Kant soziale Abhängigkeits- und letztlich Ausbeutungsverhältnisse als übereinstimmend mit den Anfangsgründen der Volkssouveränität. Doch in einer Gegenlektüre erweist sich diese Standard-Lektüre als falsch, da die Textebene, auf die sie sich bezieht, ein weiteres Mal eine bloß scheinbare ist. De facto nämlich legen die beiden eingerückten Absätze eine Verwirklichungslehre der Anfangsgründe der Volkssouveränität (im Haupttext) vor, die mit dem normativen Anspruch des Kantischen Freiheitsrechts völlig in Einklang steht. Noch 343

Vgl. Ludwig 1999, 186 f.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

einmal: Alle Menschen, die naturaliter mündig sind (oder werden können), aber civiliter unmündig sein wollen, müssen passive Staatsbürger bleiben; doch jeder, der mündig sein will, muss es rechtlich gesehen jederzeit werden können. Ihrem Anspruch nach gesteht diese Verwirklichungslehre folglich allen Menschen (eines Volkes) das Recht zu, aktive Staatsbürger werden zu können. Für die Stimmigkeit dieser Lehre hat Kant schließlich auch in der Frage nach dem Passivbürger ‚seine‘ Position gegenüber der Vorgängerschrift von 1795 fundamental geändert: Die ökonomische Unselbstständigkeit ist nicht länger ein ausschließendes Kriterium der Qualifikation zur Staatsbürgerschaft; und auch die Frage, ob die Frau des 18. Jahrhunderts naturaliter vel civiliter unmündig ist, lässt der Text offen. Folglich wendet sich das ‚Staatsrecht‘ von 1797 mit der Neuformulierung der Lehre vom Passivbürger gegen den mainstream der „Demokratietheorien der Aufklärung“.344 Darum besteht kein Grund mehr, die Koppelung der Qualifikation zum Staatsbürger an die Selbständigkeit als „Fremdkörper“ im Kantischen Staatsdenken zu betrachten.345 Ebenso muss auch die „Unterscheidung zwischen gesellschaftlich selbständigen Aktivbürgern und unselbständigen Passivbürger[n]“ nicht mehr grundsätzlich als „aus heutiger Sicht […] skandalö[s]“ beurteilt werden.346 Nicht zuletzt: Der Begriff des passiven Staatsbürgers ist keine „schlichte contradictio in adjecto“, kein „logisches Symptom einer systematischen Verlegenheit“.347

344

Vgl. Maus 2011, 322. Vgl. Ludwig 1988, 163, Niebling 2005, 129. 346 Vgl. Maus 2011, 278. 347 Vgl. Kersting 1984, 299. 345

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III. Die zweite Sektion des ersten Paragraphenblocks: §§ 47-49

Einleitung Drei Paragraphen führen zum Zentrum des ersten Paragraphenblocks hin (§§ 43-45), drei von ihm weg (§§ 47-49). Wie oben dargelegt war die erste Trias als vordemokratische Sektion des ‚Staatsrechts‘ auszulegen, insofern dort Aspekte der vor-rousseau’schen und letztlich Hobbes’schen Staatslehre zur Darstellung kamen. Im zentralen § 46 jedoch wurde die traditionelle Lehre mit der Begründung und Bestimmung der Volkssouveränität auf das Niveau des Rousseau’schen Staatsdenkens gebracht und somit korrigiert. Aber was geschieht nun in der darauffolgenden und abschließenden Trias der §§ 47-49? Leitet sie etwa eine nach- oder postdemokratische Sektion des ‚Staatsrechts‘ ein, in der die Rousseau’sche Staatsphilosophie wieder in der Hobbes’schen aufgelöst wird – wie in Sieyes’ Staatsdenken? Sieyes hatte schließlich Rousseaus Entidealisierung und Entfiktionalisierung der vordemokratischen Philosophie der (Volks-)Souveränität wieder im Hobbes’schen Sinn reidealisiert und refiktionalisiert, indem er das Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation mit der Rousseau’schen Volkssouveränität vereinte. Wäre die dreigliedrige Architektonik des ersten Paragraphenblocks dergestalt besetzt und codiert – vordemokratische Sektion, demokratisches Zentrum, nach- oder postdemokratische Sektion –, würde sie zugleich die Stufen der Ideengeschichte der repräsentativen Demokratie zur Darstellung bringen (vgl. Einleitung) – und damit zugleich die übergreifende ‚Staatsrecht‘-Architektonik affirmieren. Tatsächlich scheint das auf den ersten Blick der Fall zu sein. Nimmt man den offensichtlichen Gedankengang des § 47 in Betracht, der unmittelbar auf den zentralen § 46 folgt, so fällt eine Dreiteilung ins Auge: Im ersten Teil des Paragraphen (Sätze 1 und 2) bewegen sich die Ausführungen zuerst auf dem vordemokratischen Niveau des § 45, indem sie an die dort exponierten Themen der heteronomen Staatskonstitution durch die drei Gewalten einerseits sowie an den Staat in der Idee andererseits anknüpfen und beide zu einem vor- oder ademokratischen Lehrstück von den Staatswürden weiterbestimmen. Zu Beginn des zweiten Teils des Paragraphen (Satz 3) ist dann aber ganz offensichtlich der Übergang vom Modell der Fremdkonstitution des

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Volkes aus der vordemokratischen Sektion zu einem der demokratischen Selbstkonstitution vollzogen: der Übergang zur Volkssouveränität des zentralen § 46. Doch in einer abrupten Wendung wird daraufhin der Akt der demokratischen Konstitution (durch die drei Gewalten) abschließend auf den Status einer ‚bloßen Idee‘ reduziert. Dem ersten Anschein nach wird das ‚Staatsrecht‘ mit dieser Wendung wieder auf das Niveau der vordemokratischen Sektion zurückgeführt. So gesehen wäre mit § 47 die nach- oder postdemokratische Sektion eingeleitet. Und demokratisch könnte man diese trotzdem noch nennen, da der demokratische Gedanke nicht ganz aufgegeben, sondern als ‚bloße Idee‘ aufgehoben ist. Doch nach-demokratisch im Sinn von nicht mehr-demokratisch scheint die letzte Sektion des ersten Paragraphenblocks ebenfalls zu sein. Davon zeugt auch, dass die abschließenden §§ 48 und 49 den Souverän nicht mehr expressis verbis als demokratischen Souverän kenntlich machen, diesem jedoch (als „Beherrscher des Volks“, § 49,2) deutlich das Volk als Menge der Untertanen entgegenstellen und unterordnen. Was sich dieser Lektüre des § 47 zufolge in der entscheidenden Wendung vom demokratischen zum nachdemokratischen Standpunkt ereignet, bringt die Interpretation Kerstings präzise auf den Punkt, welche in ihren Grundzügen die Standard-Auslegung des § 47 repräsentiert. Kersting zufolge ist die Kantische Philosophie der Volkssouveränität eben eine „Rekonstruktion des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags“ mit „anti-rousseauistischen Implikationen“; eine Rückkehr zu Hobbes über den Weg einer „Devoluntarisierung“ und „Idealisierung“ der Rousseau’schen Volkssouveränität, das sei das Kantische Programm.348 Denn der faktische Vollzug des Gesellschaftsvertrags in einer staatsbürgerlichen Praxis sei bei Kant – anders als bei Rousseau – nicht mehr notwendig; der Vertrag sei eine bloße Idee der Rechtmäßigkeit positiv-rechtlicher Gesetze, könne als Gedankenexperiment simuliert werden und so beliebigen (nichtoder nachdemokratischen) Souveränen als Regulativ ihrer Gesetzgebung dienen.349 In dieser Deutung Kerstings ist wiederum präzise der Dreischritt der Ideengeschichte des modernen Staatsdenkens ablesbar: Auf die dezidiert antidemokratische Idealisierung und Fiktionalisierung der Volkssouveränität durch Hobbes (Stufe 1) folgt Rous348 349

Vgl. Kersting 2011, 71 f. sowie 2007, 33, 35. Kersting 1984, 273 ff.

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seaus demokratisch motivierte Entidealisierug und Entfiktionalisierung der Volkssouveränität (Stufe 2), doch dann wird diese Volkssouveränität schließlich durch Sieyes reidealisiert und refiktionalisiert – das indes auf dem Weg der Neueinführung des Hobbes’schen Prinzips der ‚politischen‘ Autorisation (Stufe 3). Mittels einer Gegenlektüre lässt sich die soeben referierte Standard-Interpretation des § 47 allerdings als Auslegung einer bloß scheinbaren Textebene erkennen; – mittels einer Gegenlektüre nämlich, welche in besonderer Weise die Kantische Rhetorik berücksichtigt und dabei zugleich dem demokratischen Standpunkt Rechnung trägt, der in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts mit § 46 erreicht ist. Diese Lektüre werde ich im einschlägigen Kapitel zu § 47 vorlegen. Dabei wird sich zeigen: Die philosophische Arbeit in § 47 ist einer einheitlich-demokratischen Lehre von den Staatswürden gewidmet – einer Lehre, die in der Kant-Literatur bisher noch nicht zur Kenntnis genommenen wurde.350 In ihrer polemischen Stoßrichtung ist sie zum einen gegen das vordemokratisch-Hobbes’sche Lehrstück von der Souveränität gerichtet, zum anderen aber auch gegen die nach- oder postdemokratische Version dieser Lehre, wie sie von Sieyes ausgearbeitet wurde und für das modern-demokratische Verfassungsdenken charakteristisch ist. Besagte Lehre von den Staatswürden (§ 47) kennzeichnet sich dadurch: Am Punkt der Identität von Volk und Souverän fällt die öffentlich-rechtliche Staats- und Statuswürde des Souveräns mit der allgemeinen Freiheits- und Menschenwürde zusammen. War die traditionelle Souveränität eine Form und Manifestation des totalen Verlusts der Freiheit und Würde des Menschen im Staat (jener aliénation totale), so wird sie nun zu einer öffentlich-rechtlichen Ausdrucksform ebendieser Freiheit und Würde. Man entsinne sich: Dem vordemokratischen Lehrstück neuzeitlicher Souveränität zufolge, laut welchem Souverän und Volk nicht notwendigerweise dasselbe Subjekt sind, müssen die Menschen ihre Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung, und damit letztlich auch die Instanz ihrer Freiheits- und Menschenwürde, kraft einer ‚politischen‘ Autorisation vollständig auf einen (Stellvertreter-)Souverän übertragen, damit dieser die sou350

So beschränkt Michael Wolff, 2013, 62-66, seine Interpretation der Kantischen „Lehre von den Staatswürden (dignitates civiles)“ auf die §§ 48 und 49, deutet diese aber nicht als genuin demokratische Lehre.

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veräne Gewalt (letztinstanzlicher Willensbestimmung) ausüben und darstellen kann. Das ist sowohl für die vordemokratische Stufe des modernen Staatsdenkens kennzeichnend, als auch für die nach- oder postdemokratische Stufe, die sich durch die Wiedereinführung des Hobbes’schen Prinzips ‚politischer‘ Autorisation auszeichnet. Besteht die Betätigung der Souveränität demgegenüber jedoch in einer Praxis letztinstanzlicher Selbstbestimmung sich selbst behauptender Staatsbürger, so absorbiert der Souverän nicht länger deren Freiheits- und Menschenwürde, sondern die Souveränität wird vielmehr zu einer Form der Darstellung und Behauptung dieser Freiheit und Würde. Volkssouveränität als Subversion traditioneller Souveränität (s. o. (zu § 46,1, Kap. 2)), das ist darum auch das Programm des § 47: Die traditionelle Souveränität wird von einer Form intendierter Auflösung der Freiheits- und Menschenwürde zu einer Form dieser Würde selbst – indem sie „von unterst zu oberst [ge]kehr[t]“351 oder eben subvertiert wird. Darin ist auch der Sinn der thematischen Homogenität sowie der konzentrischen Plazierung der §§ 45 und 47 zu sehen: Das vordemokratische Lehrstück des § 45, das die traditionell-freiheitswidrige Fremdkonstitution durch den souveränen Willen („in dreifacher Person“) vorsieht, wird in § 47 unmittelbar nach der Begründung der Volkssouveränität in § 46 so weiterbestimmt, dass das demokratische Niveau gehalten werden kann. Anderenfalls würde der demokratische Standpunkt selbst wieder untergraben oder subvertiert werden – die abschließende Sektion des ersten Paragraphenblocks wäre dann tatsächlich eine nach- oder postdemokratische, wie es bei oberflächlicher Lektüre erstmal auch der Fall zu sein scheint. Ermöglicht wird die tatsächlich stattfindende Weiterbestimmung durch die Gliederung des souveränen Willens in drei Gewalten nach der Struktur eines praktischen Syllogismus, wie sie in § 45,2 exponiert wurde. Denn insofern die Form des praktischen Syllogismus zugleich die Form vernünftiger Willensbestimmung überhaupt ist, kann der souveräne Wille in seiner Dreigliedrigkeit zugleich als Form individueller letztinstanzlicher Willensbestimmung fungieren.352 Diese Strukturgleichheit ist es, welche die Harmonisierung der Staatsund Statuswürde des Souveräns mit der allgemeinen Freiheits- und Menschenwürde möglich macht. Darum ist es nicht zufällig, dass die 351 352

Georges, 2892. Fulda 2001, 12.

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auf § 47 folgenden §§ 48 und 49, die den ersten Paragraphenblock abschließen, beide primär die Gewaltengliederung zum Gegenstand haben. Entsprechend sind die §§ 48 und 49 als Fortführung besagter Lehre von den Staatswürden so auszulegen, wie ich es im einschlägigen Kapitel tun werde: Was mit den §§ 48 und 49 vorgelegt wird, ist eine Anleitung, wie Staatsbürger in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts die Volkssouveränität als Praxis letztinstanzlicher Willensbestimmung so ausüben können, dass diese ‚vernünftig‘ vonstatten geht – vor allem, indem sie nach der Struktur eines praktischen Syllogismus organisiert ist und bleibt 353. Wie Staatsbürger in einer öffentlich-rechtlichen Praxis der Volkssouveränität hierfür Verantwortung übernehmen und Sorge tragen können, das ist die Frage der abschließenden §§ 48 und 49. Der Lehre von den Staatswürden zufolge kommt das aber mit folgender Aufgabenstellung gleich: darüber aufzuklären, wie sich die Menschen in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gemeinschaftlich um ihre „Freiheit überhaupt“ (§ 47) kümmern können – und damit um die Freiheit und Würde, die ihnen als Menschen zukommt. So gelesen erfolgt in den §§ 48 und 49 nicht lediglich eine abstrakte Bestimmung des Staats in der Idee, die für die Staatsbürger tatsächlicher Demokratien nicht von Belang ist. Diese Belanglosigkeit bekundet allerdings die Architektonik-Interpretation:354 Sowohl die Bürgerbeteiligung als auch die Gewaltenteilung sei am Punkt der Verwirklichung der respublica noumenon „kein Thema mehr“. Der Staat in der Idee sei nur ein Ideal für Götter oder Engel; der erste Paragraphenblock beschränke sich auf die Darstellung dieses Staats; und darum enthalte er auch keine Anleitung für die Praxis sich selbst bestimmender Staatsbürger. Das aber würde bedeuten: Insofern die staatsbürgerliche Selbstbestimmung im ‚kritischen‘ Staatsrecht Kants eine Angelegenheit ist, die nur Engel und Götter gewährt sei, Menschen hingegen nicht, müsste es letzteren auch verwehrt bleiben, sich in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten letztlich selbst zu bestimmen – und folglich in öffentlich-rechtlicher Würde zu leben. Doch von der Behauptung dieser Würde hängt nach Kantischem Verständ-

353 354

Vgl. wieder Fulda 2001, 12. Ludwig 1999, 177-180, insb. 178, 183 f., Hirsch 2017, 311 f., 317-319, 320 ff.

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nis eben auch und insbesondere die allgemeine Freiheits- und Menschenwürde in toto ab (s. o. (zu § 46)). Die praktische Nicht-Beachtung der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung und deren Würde ist demnach das letzte Wort der großen, doch bloß scheinbaren ‚Staatsrecht‘-Architektonik, – aber ebenso dasjenige der suggerierten Architektonik des ersten Paragraphenblocks einerseits sowie des § 47 andererseits. Denn auch die beiden letztgenannten Architektoniken deuten auf den finalen (Problem-)Punkt der dreistufigen Ideengeschichte repräsentativer Demokratien hin. Demgegenüber wird sich die tatsächliche philosophische Arbeit in der letzten Sektion des ersten Paragraphenblocks als lediglich zweistufig erweisen: Der erste Paragraphenblock nimmt zwar in der ersten Sektion der §§ 43-45 Ausgang von der vordemokratischen, vor-rousseau’schen und letztlich Hobbes’schen Staatslehre und bestimmt diese im zentralen § 46 auch zu einer Lehre Rousseau’scher Volkssouveränität weiter, – doch dabei bleibt es dann auch in den §§ 47-49. Auf der Ebene der praktisch-philosophischen Arbeit entfällt also die nach- oder postdemokratische Entwicklungsstufe, in der die Volkssouveränität im Hobbes’schen Sinn reidealisiert und refiktionalisiert wird. Den genauen Sinn dieser Textebene erstmals zu erschließen, darauf kommt es mir in folgender Interpretation der §§ 47-49 an.

1. Zu § 47

§ 47 umfasst drei Sätze, wobei die ersten beiden vom letzten durch einen Gedankenstrich getrennt sind. Das ergibt eine Zweiteilung, die sich bereits bei oberflächlicher Lektüre als motiviert erweist. Denn auch die Sperrungen deuten darauf hin, dass in beiden Teilen heterogene Themen behandelt werden: Der erste Teil bestimmt zuerst die „drei Gewalten im Staate“ als „Staatswürden“ (Satz 1). Dann wird darauf hingewiesen, dass alle drei Gewalten als Staatswürden trotz ihrer Verschiedenheit jeweils das eine Verhältnis des „Oberhaupts“ zum Volk als „Unterthan“ enthalten (Satz 2). Der zweite Teil hingegen führt mit der Rede vom „ursprüngliche[n] Contract“ das allseits bekannte Staatsgründungs- und -begründungstheorem der

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zeitlichen Staatsphilosophie in das ‚Staatsrecht‘ ein (Satz 3); zu den Einzelheiten später. Verbunden werden die Themen zuerst einmal durch ihren offensichtlich erkennbaren Bezug auf die Aufgabe der Staatsgründung (oder eben (Staats-)„Constitution“): Zum einen seien die drei Gewalten darum „Staatswürden“, weil sie für die Staatsgründung konstitutiv sind (Satz 1); zum anderen steht der „ursprüngliche Contract“ in § 47 für den (demokratischen) Akt der Selbstkonstitution des Volkes zum Staat (Satz 3). Die Staatsgründung wird hierbei wiederum auf die Thematik der Idee bezogen: Die drei Gewalten sind „Staatswürden“, weil sie „als wesentliche aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend“ sind (Satz 1). Schließlich steht aber auch der „ursprüngliche Contract“ nicht nur für den Akt, sondern auch und vor allem für die Idee der Selbstkonstitution des Volkes zum Staat (Satz 3, Kursivdruck: M.W.). Mit dem Nexus von Staatskonstitution und Staat in der Idee knüpft § 47 thematisch an den vorletzten § 45 an, nicht aber an den unmittelbar vorangehenden § 46. Das ist irritierend. So hat Bernd Ludwig vom „Defekt des in der Luft hängenden Anschlusses von § 47“ gesprochen, den er in seiner Edition „repariert“ habe. 355 § 47 hatte Ludwig hinter § 49 gestellt. Zwar kann man mit Michael Wolff 356 die Plazierung des § 47 mit dem Hinweis rechtfertigen, es heiße dort: „Alle jene drei Gewalten im Staate sind […] Staatswürden“ (Kursivdruck: M.W.); das Wort jene pflegt „auf ein vorletztes Vorkommen eines Ausdrucks zu verweisen“. Damit wird auf einen entfernteren Kontext zurückgewiesen, der mit § 45 zu identifizieren ist. 357 Doch nach wie vor bleibt es fragwürdig, warum zuerst von allen drei Gewalten die Rede ist (§ 45), dann ausschließlich von der ersten Gewalt (§ 46), anschließend aber wieder von allen dreien (§ 47). Meines Erachtens lässt sich der Sinn davon erst erschließen, wenn man zum einen den architektonischen Gesichtspunkt der konzentrischen Plazierung der §§ 45 und 47 in Bezug auf § 46 interpretiert, also in Bezug auf das Zentrum des ersten Paragraphenblocks, und dabei zum anderen die Abfolge der Paragraphen zugleich als Schritt355

Ludwig, 1988, 77. Wolff 2013, 61, Fn. 357 Wolff 2013, 61, Fn. 356

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folge in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts deutet. Dann zeigt sich nämlich: Die thematische Homogenität der §§ 45 und 47 gründet darin, dass nach der Begründung der Volkssouveränität im zentralen § 46 die Anfangsgründe der vordemokratischen Sektion der §§ 43-45 zu Anfangsgründen der Volkssouveränität weiter bestimmt werden müssen. Unterließe man dies, so bestände die Gefahr, dass die Anfangsgründe der vordemokratischen Sektion den freiheitsrechtlichen Voraussetzungen dieser Begründung zuwiderlaufen – allem voran der lex iusti. Dadurch würde das Projekt der Volkssouveränität untergraben und das Postulat des öffentlichen Rechts wieder in seinem Bestand gefährdet werden. Besagte Aufgabe stellt sich in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts unmittelbar nach Begründung der Volkssouveränität, – und darum knüpft § 47 auch unmittelbar an § 46 an. Doch die Aufgabe hat ihren Bezugspunkt eben im Gegenstand der weiter zurückliegenden §§ 43-45. Hierbei sind allerdings nicht primär die drei Gewalten selbst in ihrer Verschiedenheit der Bezugspunkt, wie später in den §§ 48 und 49; der Referenzpunkt ist die in § 45 bestimmte Funktion der Gewalten, zur Verwirklichung des „Staat[s] in der Idee“ notwendig zu sein: Die drei Gewalten sind konstitutiv für die Konstitution jener minimalen und selbst wiederum konstitutiven Form ohne die ein Staat kein Staat wäre – überhaupt kein Staat. Das ist wie gesagt „die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee“ (Kursivdruck: M.W.). Doch unter dem Vorzeichen der Volkssouveränität kann diese Konstitution eben nur eine Selbstkonstitution des Volkes sein – womit die Volkssouveränität und ihre Idee „nach Freiheitsgesetzen betrachtet“ dann selbst wiederum beide konstitutiv werden für die Hervorbringung der konstitutiven „Form eines Staats überhaupt“ (§ 45,2). Interpretiert man § 47 also im Zusammenhang der §§ 45-47, so wird ersichtlich, dass in § 47 die in § 46 thematisierte Volkssouveränität zu einer konstitutiven praktischen Idee weiterbestimmt wird. Als solche ist auch sie wiederum nicht nach dem Muster der regulativen Ideen der theoretischen Philosophie misszuverstehen – nach wie vor nicht. Diese Weiterbestimmung ist indes eine zu einer Lehre von den Staatswürden, derzufolge die öffentlich-rechtliche Staatswürde (einerseits) mit der allgemeinen Menschenwürde (andererseits) zusammenfällt. Diese Lehre wird sich als der Einheitsgesichtspunkt

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sen, der die beiden heterogenen Teile des § 47 in einem Ganzen integriert. Das Programm meiner Interpretation des § 47 ist daher nun folgendes: An erster Stelle lege ich (in Kap. 1) eine Lektüre des ersten Teils des § 47 vor (Sätze 1 und 2), welche in gewohnter Manier die Rhetorik des Textes im Blick hat und vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus entfaltet wird. Den zweiten Teil (Satz 3) interpretiere ich hingegen in zwei Anläufen: Zuerst erfolgt eine Lektüre der exoterischen Darstellungsebene (in 2.1), die allerdings weitgehend im Einklang mit der Interpretation Wolfgang Kerstings steht, welche die gegenwärtig herrschende Deutung repräsentiert. Diese diskutiere und kritisiere ich in einem Zwischenschritt (in 2.2), von dem aus ich eine zweite Lektüre ansetze (in 2.3). Diese (Gegen-)Lektüre wird wie die Lektüre des ersten Teils wieder in besonderer Weise die Rhetorik des § 47 berücksichtigen, sowie erneut den bisher erreichten Status in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts reflektieren. Auf diese Weise präsentiere ich erstmals eine Interpretation, welche die beiden heterogenen Teile des § 47 als Glieder eines einheitlichen Lehrstücks deutet: eines genuin demokratischen Lehrstücks von den Staatswürden.

1. Interpretation des § 47, Teil 1 (Sätze 1 und 2) (Zu Satz 1:) Der erste Teil des § 47 besteht wie gesagt aus zwei Sätzen, wobei der erste Satz mit der Rede von „jene[n] drei Gewalten im Staate“ gleich zu Beginn auf den weiter voraus liegenden Kontext des § 45 zurückweist. Aber noch mehr: Im Rückblick auf die bereits vorgelegte Lektüre des § 45 zeigt sich, dass der erste Satz den architektonisch-systematischen Zusammenhang der beiden Absätze des § 45 präzise rekapituliert. Der blieb dort freilich unausgesprochen, konnte aber interpretativ erschlossen werden. Die Rekapitulation erfolgt zu Beginn des § 47 mit dem erläuternden Einschub, der den Grund angibt, weshalb „jene drei Gewalten im Staate“ nicht nur „Würden“ sind, sondern auch „Staatswürden“: „Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden, und als wesentliche aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend, Staatswürde n “ (Satz 1, Kursivdruck: M.W.).

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Man entsinne sich: Explizit stellte § 45 keinen Zusammenhang her zwischen dem „Staat in der Idee“ (als „Form eines Staats überhaupt“ (§ 45,1)) und den „drei Gewalten“ (als „Will[e] in dreifacher Person“ (§ 45,2)). Nun heißt es aber, „jene drei Gewalten“ (des § 45,2) seien aus genau jener Idee (des § 45,1) „nothwendig hervorgehend“ – und zwar als notwendige Bedingung der Verwirklichung des Staats in der Idee („zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend“). So interpretierte ich oben auch § 45: Die im Staat enthaltenen drei Gewalten ermöglichen durch ihre Gliederung und Koordination nach der (Vernunft-)Form eines praktischen Syllogismus, dass die Menschen durch, zufolge und nach Rechtsgesetzen in eine horizontale Verfassung ihres Zusammenseins gebracht werden. Und für diese Verfassung stand in den §§ 43-45 der Begriff „Staat“. Somit sind die drei Gewalten die innerlich-notwendige („wesentliche“) Bedingung „jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen“ (§ 45,1, Kursivdruck: M.W.). Damit sind sie aber zugleich auch die Bedingung für die Verwirklichung jener präzise bestimmten Rechtsgesetze, die zusammen die Form eines Staats überhaupt bildet, verstanden als konstitutive Minimalform, die ein jeder Staat aufweisen muss, damit er überhaupt ein Staat ist. Und nur dafür stand in § 45 das große Wort: „der Staat in der Idee“ . Darum sind die Gewalten letztlich konstitutiv für die Verwirklichung des so verstandenen Staats in der Idee: für diejenige Form, die konstitutiv für den Bestand eines jeden Staates ist, der ‚in Wahrheit‘ so zu heißen verdient. Entsprechend ist an vorliegender Stelle des § 47 nun von der „Idee eines Staats überhaupt“ die Rede – zu dessen „Gründung […] (Constitution)“ die drei Gewalten „nothwendig hervorgehend“ sind – und zwar als wesentliche Würden: als „Staatswürden“. (Zu Satz 2:) Was es heißt, die drei Gewalten seien alle gleichermaßen „Würden“ und weiterhin „Staatswürden“, erläutert § 47 allerdings nicht. Es bleibt bei der Behauptung. Doch der zweite Satz bündelt in seinen Bestimmungen verschiedene Bedeutungsfacetten, die Grundzüge einer genuin Kantischen Lehre von den Staatswürden erkennbar machen, wenn man sie im Kontext der vorigen Paragraphen deutet. Der Satz lautet: „Sie [jene drei Gewalten und Staatswürden] enthalten das Verhältniß eines allgemeinen Obe rhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten

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ge ebendesselben als Unt e rt hans , d. i. des Gebiete nde n (imperans) gegen den Gehorsamenden (subditus)“.

Demzufolge ist allen drei Gewalten gleichermaßen das personale Verhältnis von Souverän und Untertan eingeschrieben – von den grammatisch und semantisch irritierenden Bezügen sei vorerst abgesehen. Genauer, alle drei Gewalten stellen gleichermaßen den Souverän gegenüber den Untertanen vor: „Der Untertan begegnet in jeder dieser Gewalten dem einen Staat [im Sinne der einen Staatsgewalt]. Jede Gewalt verkörpert in gleicher Weise die Hoheit und Würde des Staates“;358 Gesetzgeber, Regierer und Richter repräsentieren trotz ihrer personalen Verschiedenheit den einen Souverän, der wiederum personal mit der ersten Gewalt identisch ist. So war schon in § 45,2 von dem einen „Willen in dreifacher Person“ die Rede (Kursivdruck: M.W.). Dessen Standpunkt und Stellenwert aber ist als öffentlich-rechtliche Würde zu deuten: als eine „Status-Auszeichnung durch Höhe über anderem, darunter Stehendem“359. Die Rede ist von Oberhaupt und Untertan. In diesem relationalen Sinn kommt nur dem Oberhaupt als solchem Würde zu, nicht aber dem Untertan – letzterer wäre ansonsten kein Untertan, sondern Oberhaupt. Das aber ist ein Charakteristikum der vor-rousseau’schen Staatslehre, auf dessen Niveau sich das ‚Staatsrecht‘ in seiner vordemokratischen Sektion (vor § 46) bewegte. Dieser Lehre zufolge soll der Souverän wie gesagt um seiner Souveränität willen die Ansprüche der Einzelwillen auf letztinstanzliche Selbstbestimmung in seinem Willen absorbieren (kraft ‚politischer‘ Autorisation), damit sein Wille als souveräner Wille die einzige und letzte Instanz der Willensbestimmung im Staat ist – doch damit wird nach Kantischem Verständnis nichts anderes als die (Freiheits-)Würde der Menschen absorbiert. Folglich kommt nur noch dem Souverän Würde zu, so die freiheitswidrige Logik des neuzeitlichen Lehrstücks. Doch: Nach der Begründung der Volkssouveränität im zentralen § 46 soll die souverän-gesetzgebende Gewalt ausschließlich dem Willen des Volkes selbst zukommen können. Darauf verweist in § 47 nun die in Klammern gesetzte Parenthese: Jene drei Gewalten „enthalten das Verhältniß eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheits358 359

Kersting 1984, 307. Fulda 2021, 96, Kursivdruck: M.W.

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gesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Unterthans“ (Satz 2, Kursivdruck: M.W.). Was das heißt, kann man sich an folgender Formel (Reinhard Brandts) anschaulich machen: 1, 2, 3 / 4.360 Ihr zufolge bilden die drei Gewalten in ihrer Verschiedenheit die „simple Form einer in sich abgeschlossenen Dreiheit von Elementen“: 1, 2, 3. Zur Integration der drei Gewalten in eine Einheit der Dreiheit bedarf es allerdings einer vierten Größe, welche im vorliegenden § 47 das Volk ist: 4. So bilden alle drei Gewalten dadurch eine Einheit, dass sie in ihrer, aber auch trotz ihrer personalen Differenz dem Volk das „allgemein[e] Oberhaup[t]“ vorstellen. Und dieses Oberhaupt ist wiederum pars pro toto die erste, souverän-gesetzgebende Gewalt, womit sich die Formel 1, 2, 3 / 4 zur Formel 1, 1, 1 / 2 transformiert. Kann nun jedoch das Oberhaupt „kein Anderer als das […] Volk selbst sein“, so ergibt das schlussendlich die Formel 1, 1, 1 / 1. Das Herrschaftsverhältnis ist ein Verhältnis des Volkes zu sich selbst; Volkssouveränität ist subvertierte traditionelle Souveränität (s. o. (zu § 46,1, Kap. 2)). Die Rhetorik der ersten beiden Sätze ist allerdings wieder eine Rhetorik der Täuschung – die sich interessanterweise erneut selbst untergräbt. In der Darstellung der Sätze ist nämlich auffällig, dass sich der Haupttext scheinbar ganz auf dem Niveau des vordemokratischen § 45 bewegt und lediglich die Klammer im zweiten Satz in vorgetäuschter Beiläufigkeit und Nebensächlichkeit auf das ausschlaggebende Element hinweist: die Volkssouveränität des § 46. Bei genauerem Blick zeigt sich indes: Eine Reihe von Defekten hebt den Niveauunterschied von eingeklammertem und nicht-eingeklammertem Text auf. Normalerweise ist die Integrität des (Haupt-)Textes außerhalb der Klammer nicht vom eingeklammerten Text abhängig und soll durch sich selbst gewährleistet sein. Das ist die Regel. Ihr zufolge hat der Haupttext auch ohne den eingeklammerten Text verständlich zu sein. Das aber ist in vorliegendem Satz nur eingeschränkt der Fall. Ohne die Klammer ist er nämlich nur wie folgt zu verstehen: „Sie enthalten das Verhältniß eines allgemeinen Ob e rhaupts ([…]) zu der vereinzelten Menge ebendesselben [Oberhaupts] als U nte rthans , d. i. des 360

Vgl. Brandt 1998, 15 f. sowie Brandt 2016.

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Gebiet e nde n (imperans) gegen den Ge horsame nde n (subditus)“ (Kursivdruck: M.W.).

So gelesen löst sich das in Rede stehende Verhältnis von Oberhaupt und Untertan auf, da sich das Oberhaupt nicht als solches zu sich selbst als Untertan verhalten kann. Beide Begriffe (Oberhaupt und Untertan) schließen sich aus. Andererseits bedeutet Volkssouveränität aber in gewisser Weise genau das: Das Volk verhält sich als Souverän nicht lediglich zu einer Menge fremder Untertanen, sondern zu sich selbst als Menge der Glieder des Souveräns, also als Menge der Glieder jener Körperschaft der „zur Gesetzgebung vereinigten“ Staatsbürger (vgl. § 46,2). Das aber ist es, worauf im Text explizit nur in der Klammer hingewiesen wird. Darum behebt sich diese Irritation, sobald man den eingeklammerten Text (regelwidrig) als konstitutiv für den Haupttext annimmt: Sie enthalten das Verhältniß eines allgemeinen Obe rhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben [Volkes] als U nte rt hans , d. i. des Gebiet e nde n (imperans) gegen den Ge horsame nde n (subditus).

Das Volk verhält sich als Souverän zu sich selbst als Untertan – wenn es sich „selbst zu einem Staat constituirt“ (Satz 3).361 Bei der eingeklammerten Parenthese handelt es sich also nur scheinbar um eine beiläufige und in Relation zum nicht eingeklammerten Text weniger wichtige Bemerkung. Vielmehr ist sie für die Bestimmung der drei Gewalten als Würden und Staatswürden zentral. 361

Im zweiten Satz liegt zudem ein grammatischer Defekt vor, wenn es heißt, die drei Gewalten enthielten „das Verhältniß eines allgemeinen Oberhaupts […] der […] kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann“. Der bestimmte Artikel im Maskulinum passt hier nicht zum grammatischen Geschlecht des Bezugswortes. Dabei weist der grammatisch falsche Artikel indes unausgesprochen auf den besseren, da abstrakteren Wortgebrauch hin: darauf, „daß statt des Wortes »Oberhaupt« […] das Wort »Souverän« hätte gebraucht werden müssen“, Fulda 2021, 96, Fn. 109; so ist in § 51, Satz 2 vom Staatsoberhaupt als diesem „Oberhaupt (der Souverän)“ die Rede. Auch das kann man als kaschiertes Plädoyer für die französische, insbesondere aber für die Rousseau’sche Volkssouveränität deuten.

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Denn: Sind Souverän und Untertan „ein und dasselbe Subject“ („numero idem“)362, so ist das charakteristische Defizit der vor-rousseau’schen Staatslehre und deren Lehre von den Staatswürden behoben. Wenn das Volk nämlich sowohl Oberhaupt, wie auch Untertan ist, so verliert es mit der Etablierung des Herrschaftsverhältnisses nicht seine (Freiheits-)Würde: Es muss diese nicht (in einer ‚politischen‘ Autorisation) auf den Souverän übertragen, einerseits um dessen Untertan sein zu können, andererseits um dessen Souveränität als öffentlich-rechtliche Würde zu konstituieren und zu affirmieren – Souveränität heißt schließlich wörtlich Überlegenheit; und diese Überlegenheit ist wiederum als besagte „Status-Auszeichnung durch Höhe über anderem, darunter Stehendem“ zu begreifen, die für das Verhältnis von Oberhaupt und Untertan konstitutiv ist, also als Würde. Mit der Volkssouveränität hingegen wird die traditionelle staatliche Herrschaft zu einer Form der öffentlich-rechtlichen Behauptung, Ausübung und Darstellung der Freiheit genau der Instanz, die sich selbst praktisch den Stellenwert der Würde zuschreibt. Die Subversion traditioneller Souveränität besteht also nicht nur darin, die tradierte Logik der Fremdbestimmung und Freiheitsverneinung zu einer der Selbstbestimmung und Freiheitsbejahung sozusagen von ‚unterst zu oberst‘ zu kehren (zu subvertieren). Vielmehr wird eine Form des totalen Würdeverlusts zu einer öffentlich-rechtlichen Ausdrucksform der Freiheits- und Menschenwürde selbst. Mit diesem democratic turn ändert sich aber auch der Modus der Staatskonstitution, um dessen willen die drei Gewalten dem ersten Satz zufolge überhaupt „Staatswürden“ genannt werden. Denn die Vereinigung des Volkes zum Staat (als horizontale Verfassung der Menschen untereinander) ist nunmehr nicht mehr nur als einseitige und äußerliche Vereinigung durch einen souveränen Willen („in dreifacher Person“) zu deuten, der über dem Volk steht. Ab dem democratic turn ist der souveräne Wille in seiner personalen und funktionalen Gliederung eine Form der Selbstkonstitution des Staates selbst: Er fungiert als Form, „wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“ (§ 49,4). Darum sind die drei Gewalten schließlich „wesentliche“ Würden des Staates oder eben „Staatswürden“. Genauer: Sie sind Formen und Funktionen der Autonomie und Selbstbestimmung der Menschen im 362

Vgl. TL, §§ 1, 4,1, 13,3 einschl. Fn.

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Staat und zum Staat, der Autonomie und Selbstbestimmung also, die zugleich ihre Würde als Menschen ausmacht, – die es in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts schließlich auch öffentlich-rechtlich zu behaupten gilt. Genau das ist der rechtsphilosophische Kern der Kantischen Lehre von den Staatswürden. Damit kann das Lehrstück des § 45 als weiterbestimmt gelten, dem zufolge die drei Gewalten konstitutiv sind für die Hervorbringung der „Form eines Staats überhaupt“, die wiederum selbst für einen jeden Staat konstitutiv ist, der seinen Namen auch tatsächlich verdient. Denn was zur Hervorbringung eines Staats nun unabdingbar ist, das ist die Volkssouveränität – als Form der autonomen Selbstformierung des Staats.

2. Interpretation des § 47, Teil 2 (Satz 3) 2.1 Lektüre der exoterischen Darstellungsebene Der letzte Satz und Teil des § 47 (Satz 3) nimmt an Textvolumen den Großteil des Paragraphen ein, da er in etwa doppelt so lang ist wie die ersten beiden Sätze zusammen. In ihm erfolgt zuerst eine zweigliedrige philosophische Darlegung und darauf dann eine Festlegung, wie man das letzte Glied nicht zu verstehen habe, aber auch wie man es stattdessen und weswegen man es so zu verstehen habe. Im Mittelpunkt steht dabei der „ursprüngliche Contract “ – ein, wenn nicht gar der Schlüsselbegriff des neuzeitlichen Staatsdenkens. Der Ausgangspunkt ist allerdings ein anderer. Der dritte Satz knüpft direkt an den unmittelbar vorangehenden Zusammenhang der Staatskonstitution durch die drei Gewalten an; präziser: an die Staatskonstitution, verstanden als Vereinigung des Volks zu jener Verfassung des horizontalen Beisammenseins der Menschen, die auch den Namen „Staat“ trägt (vgl. § 43 und 45,1). Ganz offensichtlich ist dabei, dass nun endlich der Übergang von der heteronomen Fremdkonstitution des Volkes zur autonomen Selbstkonstitution vollzogen ist. Die Rede ist schließlich vom „Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt“. Und dieser Akt der demokratischen Selbstkonstitution sei „der ursprüngliche Contract“. Doch in einer Parenthese heißt es sogleich: „eigentlich […] nur die Idee desselben“. Im Wortlaut:

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„Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Contract “.

Eigentlich, das heißt „der Sache völlig gemäß“, 363 sei „der ursprüngliche Contract “ also nicht der Akt der demokratischen Selbstkonstitution selbst, sondern „nur die Idee desselben“. Damit scheint die Volkssouveränität in § 47 gleich nach ihrer Affirmation auf eine ‚bloße Idee‘ verkürzt zu werden. Handelt es sich nämlich nur um die Idee des Aktes, so ist das offenbar weniger als der Akt selbst. So gelesen ereignet sich mit vorliegender (Schlüssel-)Stelle erneut eine Kehrtwende im ‚Staatsrecht‘: Nach der Begründung der Rousseau’schen Volkssouveränität im zentralen § 46 würde § 47 das ‚Staatsrecht‘ wieder auf das Niveau der vordemokratischen Sektion (der §§ 43-45) zurückführen – weil hier die Volkssouveränität auf eine ‚bloße Idee‘ reduziert wird. Das beträfe auch die Lehre von den Staatswürden: So war die Staatswürde auf dem demokratischen Niveau eine staatsrechtliche Form der öffentlich-rechtlichen Behauptung und Betätigung der Freiheit und Freiheitswürde durch eben diese Freiheit und Freiheitswürde. Nun aber hätte sie erneut als Form zu fungieren, welche die Absorption der Einzelwillen und deren (Menschen-)Würde in der übergeordneten (Staats-)Würde eines fremden Souveräns bewerkstelligt. Wohlgemerkt ist das im vordemokratischen Kontext staatstechnisch notwendig: Hier ist der Souverän auf solch eine Übertragungstechnik angewiesen, damit er die Aufgabe der letztinstanzlichen Willensbestimmung kraft souverän-überlegenen Willens überhaupt erfüllen kann. Eine weitere Reduktion scheint zudem im zweiten Glied der Darlegung zu erfolgen, dann aber auch Bestätigung zu finden in der abschließenden Ausführung zum rechten Verständnis dieses Gliedes. Das zweite Glied besagt, dass nach dem ursprünglichem Kontrakt „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen“.

363

Adelung 1793, 1676.

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Die Rede ist also offenbar nicht mehr vom „Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt“, wie dieser ausgehend von den ersten beiden Sätzen (sowie von den §§ 43 und 45 aus) verstanden werden musste: als Akt der (Selbst-)Konstitution des Volkes durch die drei souveränen Gewalten oder Staatswürden. Denn: Nun ist anscheinend die Rede vom fundamentaleren Akt des Übergangs vom Zustand der Nicht-Staatlichkeit in den der Staatlichkeit. In der neuzeitlichen Staatslehre wurde er als Geschichte vom Verlassen des Naturzustandes erzählt – und auf dieses Narrativ wird an vorliegender Stelle angespielt. Im ursprünglichen Kontrakt Kants wäre damit aber nicht nur die Volkssouveränität zu einer ‚bloßen Idee‘ fiktionalisiert, sondern der Akt der demokratischen Selbstkonstitution zugleich auf einen abstrakten Akt der Affirmation von Staatlichkeit reduziert. Was ist davon zu halten? Zum einen findet diese Reduktion in der abschließenden Ausführung offenbar Bestätigung, da dort lediglich die Frage nach dem Freiheitsverlust thematisiert wird, die im Zuge des Übergangs drohe: „und man kann nicht sagen: der Staat, der Mensch im Staate, habe einen The il seiner angebohrnen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande unvermindert wieder zu finden“.

Zum anderen scheint hier aber auch der Übergang in die Staatlichkeit traditionellen, vor-rousseau’schen Zuschnitts eine Rechtfertigung zu erfahren, auf dessen Niveau das ‚Staatsrecht‘ mit der Idealisierung des demokratischen Konstitutionsaktes zuvor zurückgeführt wurde – allem Anschein nach. Als Grund nämlich, weshalb der Mensch mit dem Übergang in den Staat keinen „Theil seiner angebohrnen äußeren Freiheit“ aufopfere, sondern seine „Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit“ unvermindert wieder finde, wird angeführt: „weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.

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Mit Blick auf das traditionell neuzeitliche Staatsdenken ist das jedoch das (Hobbes’sche) Standardargument: Die Abhängigkeit vom Willen des Souveräns ist kein Freiheitsverlust, wenn diese Abhängigkeit auf einen Akt der Freiheit selbst zurückgeführt werden kann: „denn volenti non fit iniuria“ (§ 46,1).

2.2 Problematisierung der ersten Lektüre Die soeben vorgelegte Lektüre lässt sich weitgehend auf die Interpretation von Wolfgang Kersting zurückführen, welche nach wie vor repräsentativ ist für die gängige Art und Weise, § 47 zu lesen. Im Folgenden werde ich sie wieder kurz referieren, nun jedoch, um problematische Punkte der Standard-Lektüre aufzudecken, von denen ausgehend ich dann eine zweite (Gegen-)Lektüre ansetze. In diesem kritischen Bericht werde ich allerdings auch auf die Replik von Ingeborg Maus eingehen, auch insofern ihre (Gegen-)Deutung trotz aller angeführten Kritik schlussendlich ebenfalls auf die Standard-Interpretation Kerstings hinausläuft. Eine „Rekonstruktion des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags“ mit „anti-rousseauistischen Implikationen“; eine Rückkehr zu Hobbes über den Weg einer „Devoluntarisierung“ und „Idealisierung“ der Rousseau’schen Volkssouveränität – das ist Kersting zufolge das Programm des § 47.364 Entsprechend deutet Kersting, Rousseaus ›Contrat Social‹ im Auge habend, den „Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt“ in § 47 auch nicht als punktuellen Staatskonstitutionsakt, sondern identifiziert ihn mit dem Akt der demokratischen Willensbildung des vorigen § 46.365 Schließlich ist der Akt des § 46, wonach „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“, wortwörtlich identisch mit dem contrat social Rousseaus (s. o. (zu § 46,1, Kap. 3.1.1)). Doch als bloße Idee der „Rechtmäßigkeit“ sei der faktische Vollzug dieses Aktes in einer staatsbürgerlichen Praxis bei Kant nun eben nicht mehr notwendig; der Akt könne als Gedankenexperiment simuliert werden und so beliebigen Souveränen als Regulativ ihrer Gesetzgebung dienen. 366 364

Kersting 1984, 269-283; 2011, 71 f. sowie 2007, 33, 35. Kersting 1984, 281, 312 f. und ebenso Maus 1992, 156, 286. 366 Kersting 1984, 273 ff. 365

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Davon zeuge letztlich die Rede vom „ursprüngliche[n] Contract“ im vorliegenden § 46. Denn: „Uranfänglich und ursprünglich stehen zueinander wie empirisch und rational; das Uranfängliche verweist auf Zeitliches, steht in der Zeit als unvordenklicher Beginn einer Zeitreihe. Ursprüngliches verweist auf Grund und Begründetes. Es beginnt keine Geschichte, sondern es trägt ein Argument“.367

Folglich könne der „ursprüngliche Contract “ als solcher überhaupt kein Faktum staatsbürgerlicher Praxis sein, sondern lediglich eine argumentative Funktion in der Rechtfertigung von Staatsgesetzen einnehmen. Das ist der Beleg, den Kersting für seine (exemplarische) Interpretation anführt. Dem steht zwar die Interpretation von Ingeborg Maus entgegen, die in Replik auf Kersting den Voluntarismus Kants hervorhebt. 368 Ihr zufolge ist der ursprüngliche Kontrakt nicht nur eine bloß regulative Idee, denn die Idee des Kontrakts dränge selbst auf ihre eigene „Realisierung“; der „Gesellschaftsvertrag“ müsse zur „Organisationsnorm jeder legitimen Herrschaft“ werden. 369 So gesehen ist die Idee konstitutiv.370 Allerdings ist die Interpretation von Maus in dieser Hinsicht ambivalent: Zum einen deutet Maus die Idee des Kontrakts doch als regulative Idee, wenn sie die Figur der „asymptotischen Annäherung an das regulative Prinzip“ in den staatsrechtlichen Kontext überträgt, um die Frage nach der Verwirklichung dieser Idee zu beantworten;371 zum anderen ist für Maus aber auch bereits ein ‚demokratisches‘ System, das nach dem (Hobbes’schen) Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation konstituiert ist, eine adäquate Verwirklichung der Idee des ursprünglichen Kontrakts 372 – die Rousseau’sche Lektüre von Maus läuft darum (unwillkürlich) auf den Antirousseauismus der Standard-Interpretation hinaus.

367

Kersting 1984, 273 f. Maus 1992, 283-87. 369 Maus 1992, 63, 286 sowie 2011, 179. 370 Vgl. Maus 2011, 281 f. und Brunkhorst 1994, 142. 371 Maus 1992, 245 f., 198. 372 Maus 1992, 196-8, vgl. Mehring 2013, 437 f., aber auch Breitenband 2019, 84. 368

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Vor allem mit letzterem Punkt wird jedoch das ideengeschichtliche Profil der Kantischen Lehre von den Staatswürden verwischt. Entsprechend setzt Maus in Übereinstimmung mit der übrigen Sekundärliteratur den ursprünglichen Kontrakt des § 47 auch nicht in Verbindung zur dortigen Thematisierung der Staatswürden. Einräumen muss man zwar, dass die Staatswürden nur im ersten, nicht aber mehr im zweiten Teil des § 47 explizit Erwähnung finden. Aber trotzdem ist deren interpretative Nicht-Berücksichtigung bemerkenswert. Immerhin wird gegen Ende des Paragraphen explizit die Perspektive der Rechtslehre, die nur die „äußere Freiheit“ in den Blick nimmt, wieder auf diejenige der „Freiheit überhaupt“ ausgeweitet, welche der Rechts- und Tugendlehre gleichermaßen zugrunde liegt,373 – doch das ist die Perspektive genau der Freiheit, die sich selbst Würde zuschreibt, präziser: Menschenwürde. Unbeachtet geblieben ist aber auch: Gegen Ende des § 47 wird die Autonomie dieser Freiheit zugleich auf augenfällige Weise mit der Ursprungsthematik in Verbindung gesetzt, die im Ausdruck „der ursprüngliche Contract “ zur Sprache kommt. Das abschließende Wort des § 47 lautet schließlich entspringen („weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“, Kursivdruck: M. W.), und der Ursprung ist hier eindeutig ein Freiheitsursprung. Ein solcher lässt sich jedoch im Rahmen der Kantischen Freiheitsphilosophie nicht einfach auf den Status einer Funktion in einer argumentativen Begründungsrelation verkürzen, – was Kersting indes annimmt, wenn er sagt, der ursprüngliche Kontrakt könne kein Faktum sein, weil das Wort „ursprünglich“ lediglich auf eine logische Begründungsrelation verweist374. Denn: Zu Kants Zeit verstand man unter dem Wort „Ursprung“ das „erst[e] Entstehen eines jeden Dinges“: „Der erste Anfang, das Entstehen, Entspringen eines Dinges, und die Art und Weise, wie es entstehet“375. Entsprechend hatte Kant auch 1793 in der Religionsschrift den Freiheitsursprung als Ursprung einer Handlung bestimmt, die ihre Ursache nicht in der Zeit habe, sondern stattdessen als erste Ursache eine Wirkung (qua „Vernunftvorstellung“) in die Zeit hinein

373

Vgl. TL, Einleitung, XIV,1. Kersting 1984, 273 f. 375 Adelung 1801, 968. 374

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setze.376 Für diesen „ursprüngliche[n] Gebrauch“ der „Willkür“377 verwendete Kant zwar das Wort „Vernunftursprung“, nämlich in Abgrenzung zu einem „Zeitursprung“. Allerdings war die Vernünftigkeit dieses Ursprunges dort explizit nicht als eine festgelegt, die in rational-argumentativen Begründungsrelationen zu erfassen sei. Vielmehr wurde der Vernunftursprung als schlechthin irrational und unergründbar charakterisiert, weil aus ihm als Freiheitsursprung sowohl die Entscheidung zum Bösen (gegen die Freiheit), als auch zum Guten (für die Freiheit) entspringe. 378 Eine Pointe war zudem, dass jede menschliche Handlung als freie Handlung (ein jeder „Act“) „immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür [= der Willkür eines Menschen] beurteilt werden“ könne und müsse. 379 Folglich kann und muss eine jede freie Handlung solch einen Vernunftursprung haben, – ja, „[v]on den freien Handlungen als solchen den Zeitursprung (gleich als von Naturwirkungen) zu suchen“, sei sogar „ein Widerspruch“380. Darum schließlich ist es falsch, mit Kersting zu sagen, ein Akt könne kein Faktum sein, weil er einen Vernunftursprung habe. Es muss umgekehrt heißen: Allein aufgrund seines Vernunftursprungs kann ein Freiheitsakt überhaupt erst ein Faktum sein. In Hinblick auf diesen Freiheitsursprung gilt es nun auch, den Akt und die Idee des ursprünglichen Kontrakts in § 47 zu befragen, aber ihn zugleich auch in Verbindung zu setzen zum Nexus von Staatswürde einerseits und Menschenwürde andererseits. Denn auch dieser Nexus steht in Relation zu besagtem Freiheitsursprung. Tut man dies, so lässt sich erstmals eine Interpretation des § 47 vorlegen, welche die beiden heterogenen Teile dieses Paragraphen zur Einheit einer Lehre von den Staatswürden verbindet – einer Lehre, die zudem ideengeschichtlich klar positionierbar ist. Zugleich bedarf es aber auch wieder einer genaueren Lektüre, welche die Rhetorik des dritten Satzes endlich berücksichtigt sowie den Bezug zum Postulat des öffentlichen Rechts herstellt. Infolge solch einer Lektüre zeigt sich: Sowohl die Verkürzung des demokratischen Konstitutionsaktes auf 376

RGV, Erstes Stück, IV, insb. IV,1, vgl. Dörflinger 2008, 99. RGV, Erstes Stück, IV,2, vgl. KrV, A 543 f./B 571 f. 378 RGV, Erstes Stück, IV, insb. 4 und 5. Damit wird wohlgemerkt nur eine Charakteristik des modernen (und letztlich christlichen) Willens- und Freiheitsbegriffs rekapituliert, vgl. Poppenberg 2012, 264, 266-8, 272 f. 379 RGV, Erstes Stück, IV,3. 380 RGV, Erstes Stück, IV,1. 377

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eine bloße Idee, als auch dessen Reduktion auf einen bloß formalen Akt der Affirmation staatlicher Abhängigkeit, entpuppen sich beide als strategische Täuschungen.

2.3 Gegenlektüre Im Mittelpunkt des zweiten Teils von § 47 (Satz 3) steht „der ursprüngliche Contract “. Zur Erinnerung: Im ersten Glied der philosophischen Darlegung dieses Teils wird gesagt, für was genau der Ausdruck „der ursprüngliche Contract “ steht; das darauffolgende zweite Glied gibt in unmittelbarem Anschluss an, was dem „Contract“ zufolge geschehe; der abschließende Teil des Textes bestimmt hingegen, wie letzteres Glied zu verstehen ist. Nun soll meine zweite Lektüre vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus erfolgen. Das jedoch macht eine Vorbemerkung notwendig. Denn der mit § 47 erreichte Standpunkt ist angesichts der bisher begründeten Anfangsgründe der (Volks-)Souveränität bereits sehr voraussetzungsreich, – und diese Voraussetzungen heben die Staatsphilosophie des ‚Staatsrechts‘ bereits sehr deutlich von der (sehr reichen) Tradition der neuzeitlichen Vertragslehre ab, auf welche der Ausdruck „der ursprüngliche Contract “ offen anspielt. Klar ist am jetzigen Punkt des ‚Staatsrechts‘ nämlich: Der „ursprüngliche Contract “ des § 47, ferner aber auch die in § 52 in Rede stehende „Idee des ursprünglichen Vertrags“, darf nicht im Sinn eines privatrechtlichen Vertrags missverstanden werden. Dem Kantischen Privatrecht zufolge (§§ 18-21) kennzeichnet sich ein Vertrag – genauer: die „Erwerbungsart […] durch bloßen Vertrag (pacto)“ (§ 22) – schließlich dadurch, dass die Vertragsschließenden vor dem Vertragsakt in dem Sinn „noch frei“ sind (§ 19,2), insofern es ihnen rechtsgesetzlich erlaubt ist, besagten Akt sowohl zu begehen, als auch zu unterlassen. Entsprechend ist das Beispiel (in § 21) der Erwerb eines Pferdes. Nun ist ein Staatsvertrag in diesem Sinn etwa bei Achenwall und Pütter zu finden in ›Elementa Iuris Naturae‹, §§ 654656: Dem Volk stehe es völlig frei, über sich qua Vertrag eine Herrschaft einzusetzen und so einen Staat zu gründen – oder auch nicht. Rechtlich erlaubt ist es dem Volk damit, die Staatsgründung auch zu unterlassen; die Staatsgründung ist so beliebig wie der Erwerb eines Pferdes. Demgegenüber hat das ‚Staatsrecht‘ von 1797 vor § 47

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seits bereits ein kategorisches Rechtsgebot begründet, sich einer „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) in einer Kollektivaktion zu unterwerfen (§ 44,1); andererseits soll sich das Volk durch die Beteiligung am Prozess der Bildung des souveränen Willens aber auch zur Souveränität erheben und der Souverän selbst sein (§ 46,1). Darum ist es keine Sache des bloßen Beliebens und des Zufalls, ob ein Volk einen Souverän über sich einsetzt, oder nicht. Zudem ist zu erwägen, ob § 47 genau deshalb ausdrücklich nicht von einem Vertrag, sondern von „Contract“ spricht, um den so bezeichneten „Act“ deutlich vom Vertrags-Modell des Privatrechts (§§ 18-21) abzugrenzen.381 Was genau indes die Rede vom ursprünglichem Kontrakt in § 47 besagen will, dazu nun eine genaue Text-Lektüre. Zum ersten Glied der Darlegung Nicht der demokratische Akt der Selbstkonstitution selber, sondern eigentlich „nur die Idee desselben“ sei „der ursprüngliche Contract“. Das besagt das erste Glied der Darlegung. Damit wird wie gesagt suggeriert, im ‚Staatsrecht‘ werde diesem Akt nur der Status einer bloßen Idee zugeschrieben, weshalb er kein Faktum sein könne. Ein genauerer Blick auf die beiden Verwendungen des Stellvertreterpronomen („desselben“) erzwingt jedoch eine abweichende Deutung. Der Text sagt: „Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Cont ract “.

Der gemeinsame Bezugspunkt beider Verwendungen des Stellvertreterpronomens ist der Akt der Selbstkonstitution des Volkes; im Fall der ersten Verwendung ist dies der einzig mögliche Bezug, im Fall der zweiten der plausibelste. Deren interpretative Berücksichtigung bedingt nun folgende Lektüre: Der Ausdruck „der ursprüngliche Contract“ steht „eigentlich […] nur“ für die Idee des Aktes der Selbstkonstitution des Volkes, nach der die Rechtmäßigkeit genau 381

Vgl. auch Fulda 2013, 105, dagegen aber Chotaŝ 2018, 2295: In Kants ursprünglichem Kontrakt gehe es als „Vertrag um eine Vereinbarung, die – ebenso wie bei kaufmännischen Verträgen – freiwillig und jederzeit kündbar“ sei, Kursivdruck: M.W.

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desselben Aktes der Selbstkonstitution des Volkes allein gedacht werden kann. Damit vollzieht sich mit dem „eigentlich […] nur“ zwar immer noch eine Verkürzung dessen, wofür der Name „der ursprüngliche Contract“ steht, auf den Status einer Idee. Doch von dieser Verkürzung ist keineswegs der Akt der demokratischen Selbstkonstitution selbst betroffen: Der wird nicht auf eine bloße Idee reduziert, er bleibt ein Faktum. Denn die Idee erstreckt sich in ihrer Funktion lediglich darauf, notwendige Bedingung dafür zu sein, die Rechtmäßigkeit eines Aktes (und Faktums) der demokratischen Selbstkonstitution zu denken. Besonders auffällig ist dabei an vorliegender Stelle, dass der Akt der demokratischen Selbstkonstitution sowohl der Gegenstand der Idee ist, als auch der Gegenstand, der anhand dieser Idee als rechtmäßig gedacht werden muss, da ja „die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann“ in Rede steht. Idee und Akt (oder Faktum) sind an diesem Punkt ihrem Gegenstand nach identisch – und damit ist nicht nur die Idee des Aktes, sondern auch der Akt selbst „der ursprüngliche Contract“. Am Punkt der Identität von Idee und Akt (oder Faktum) ist der Akt der demokratischen Selbstkonstitution nun darum als rechtmäßig zu denken, weil er eben solch ein Akt der demokratischen Selbstkonstitution ist. Die kritische Funktion der Idee, die sonst dem Gebrauch eines praktischen Vernunftbegriffs zukommt, entfällt an diesem Punkt. Allerdings lässt sich das zweite Stellvertreterpronomen („desselben“) grammatisch nicht nur (1.) auf den „Act“ beziehen, sondern (2. und 3.) auch auf die Worte „Staat“ und „Volk“. Damit hat die Idee präzise drei Bezugspunkte: Die Idee des Aktes der demokratischen Selbstkonstitution ist es, anhand der die Rechtmäßigkeit nicht nur dieses Aktes selbst allein gedacht werden kann (1.); weiterhin kann der Ausdruck „Idee“ hier auch bezogen werden auf die Rechtmäßigkeit des Staats sowie des Volks (2. und 3.). Als stimmig erweist sich der dreifache Bezug (Akt – Staat – Volk) vor allem, wenn man erneut den Standpunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts einnimmt. Denn am vorliegenden Punkt der Befolgung dieses Postulats soll sich das Volk – ausgehend vom allseitigem Beschlussverfahren der Volkssouveränität (§ 46,1) – selbst zu einem Staat konstituieren. Dazu ist es kraft des Postulats sogar verpflichtet, um nämlich nicht jene zutiefst rechts- und freiheitswidrige Fremdkonstitution zu einem Staat erleiden zu müssen, welche die

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traditionelle Staatslehre einfach in Kauf nahm. Zugleich konnte und musste diese Fremdkonstitution der traditionellen Lehre zufolge aber auch als Selbstkonstitution angesehen werden, sofern sie notwendig auf das Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation angewiesen war. Deshalb handelte es sich auch im Rahmen der neuzeitlichen Lehre um einen „Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt“ – aber eben um einen, der vom Standpunkt der Autonomie aus nicht als rechtmäßig gedacht werden kann (s. o. (zu § 46,1, Kap. 3.2)). Denn freiheits- und rechtswidrig ist in diesem Fall (1.) der Akt der Konstitution, (2.) das Volk als Subjekt dieses Aktes, und zwar durch sein rechtswidriges Handeln, und schließlich (3.) der Staat als Produkt ebendieses rechtswidrigen Handelns. Im Gegensatz dazu ist nun der in § 46 begründete „Act“ der Volkssouveränität (der Rousseau’sche contrat social) einer, im Zuge dessen sich das Volk selbst rechtmäßig zu einem Staat constituirt – und sich dabei in Reflexion auf die Idee dieses Aktes auch entsprechend denken kann. Zum zweiten Glied der Darlegung Im zweiten Glied scheint der demokratische Konstitutionsakt wie gesagt auf einen Akt der bloßen Affirmation von Staatlichkeit reduziert zu werden, wenn es heißt, dass nach dem ursprünglichem Kontrakt „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen“.

Bei genauerer Lektüre erweist sich aber auch diese Deutung als falsch, so naheliegend sie auch ist. Wenn dort nämlich vom ursprünglichem Kontrakt die Rede ist, „nach welchem“ etwas getan wird, dann heißt das nicht, dies sei die alleinige Folge des Kontrakts und der Kontrakt müsse darum mit dieser Folge gleichgesetzt werden. Vielmehr träte sie dann ja mit der zuvor erfolgten Angabe in Konkurrenz und Widerspruch. Allerdings kann die dargelegte Folge auch als Entfaltung einer notwendigen Implikation des zuvor als Akt der demokratischen Selbstkonstitution bestimmten Aktes gelesen werden, – die zwar notwendig ist, aber eben nicht die einzige Folge dieses Aktes.

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Das ist wie folgt möglich: Jeder Akt der demokratischen Selbstkonstitution kraft allseitigem Beschlussverfahrens impliziert einen Akt, demzufolge die Beschließenden („alle (omnes et singuli) im Volk“) ihren Status als „Glieder“ des souverän-gesetzgebenden Willens („universi“) anerkennen. Solch ein Akt lässt sich wiederum als Übergangshandlung interpretieren, derzufolge alle im Volk ihre Freiheit aufgeben und „sofort wieder“ aufnehmen, – wenn sie beim Akt der Bildung des souveränen Willens von der Rolle und Perspektive des bloßen Untertanen (subditus) zu derjenigen des Souveräns übergehen. Diese Rollen sind nach § 46,2 auf Rousseau’sche Weise in der einen persona des Staatsbürgers integriert, wohlgemerkt aber nicht vereinigt. Denn aufgrund der Unvereinbarkeit beider Rollen ist wie gesagt nur ein jeweils einseitiges Changieren in die eine oder andere Richtung möglich (s. o. (zu § 46,2)). Mit diesem Übergang wird nun (in Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts) das exeundum-Gebot der Tradition vollzogen; zwar als Faktum der Staatsbürger, aber eben nicht als punktueller oder gar historischer Staatsgründungsakt – und wohlgemerkt nicht in Form eines Vertrags im privatrechtlichen Sinn, demzufolge der Übergang eine Sache des bloßen Beliebens der Einzelnen wäre (s. o.). Denn das Gebot simultaner Unterwerfung und Erhebung ist an vorliegender Stelle als Korrektur jener problematischen Reformulierung des Postulats des öffentlichen Rechts in § 44 zu deuten. Dort wurde das Postulat lediglich zu einem Unterwerfungsgebot weiterbestimmt, forderte allerdings (noch) nicht die Selbsterhebung des Volks. Beides jedoch zu tun, ist am jetzigen Punkt der Postulats-Befolgung qua reiner praktischer Vernunft geboten – und damit nicht der Willkür etwaiger Vertragspartner überlassen. Auf die soeben formulierte Lesart deutet schließlich auch die Codierung des Begriffspaares omnes et singuli – universi hin (1.), sowie die Rhetorik der irritierenden Rede zu Beginn der Erläuterung, „der Staat, der Mensch im Staate, habe einen Theil seiner angebohrnen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert“ (2.). (Zu 1.:) Die Formel omnes et singuli verweist zuerst einmal textimmanent auf das Willensbildungsverfahren des zentralen § 46, demzufolge „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“. Ins Deutsche übersetzt heißt omnes et singuli nämlich Alle und die Einzelnen, oder eben: Alle und ein jeder, was aber in § 46 bereits eine rhetorisch bedeutsame Übersetzung des französischen tous envers chacun war. Das Verfahren wurde dort wie gesagt als eine

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che, doch unausgesprochene Übersetzung einer Phrase aus Rousseaus ›Contrat Social‹ vorgestellt: „s’engager avec eux-mêmes, chacun envers tous et tous envers chacun d’eux“382. Mit Blick auf die vorliegende Stelle des § 47 ist die textexterne Parallelstelle nun besonders markant. Denn in ihr ist wie in § 46,1 vom Verfahren der einfachen Gesetzgebung die Rede, nicht aber von einer metastufigen Verfassungsgesetzgebung im Sinn einer Sieyes’schen pouvoir constituant. Bestätigung findet damit zugleich die oben angeführte Deutung Kerstings, der Akt der Staatsgründung entspreche Rousseaus contrat social. Das Doppelpaar omnes et singuli – universi geht aber einerseits auch auf das römische Recht zurück, andererseits wurde die Begrifflichkeit von Achenwall zu einer „doctrine of the universi and singuli“ ausgearbeitet. Das haben B. Sharon Byrd und Joachim Hruschka dargelegt:383 Im römischen Recht stand eine universitas für eine Körperschaft, die von den singuli abgegrenzt ist. Die singuli waren die individuellen Personen, welche die universitas konstituieren. Achenwall384 übernahm zwar diese Begriffsverwendung, differenzierte jedoch die zur universitas gehörenden natürlichen Personen hinsichtlich zweier Aspekte: „If one sees the individual persons as a whole, then Achenwall speaks in the plural, and only in the plural, of universi. If one sees the individual person as an individual, leading an individual life unrelated to the body, Achenwall speaks of a singulus“. Das Stichwort heißt hier wieder Perspektivismus:385 Zwar gibt es die souveräne Körperschaft, insofern sie durch ein Faktum konstituiert ist, doch das Verhältnis der Einzelnen zu ihr ist ein perspektivisches. So heißt es an vorliegender Stelle des § 47 auch, dass nach dem ursprünglichen Kontrakt „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen“ (Kursivdruck: M.W.). Worauf es also letztlich und vor allem in praktischer Hinsicht ankommt, das ist die Art und Weise der Betrachtung (s. o. (zu § 46,2)) – die wohlgemerkt eine ihr entsprechende Freiheits-Ein-

382

Rousseau, Contrat Social, II, 4,8. Byrd/Hruschka 2010, 171-73. 384 Achenwall 1781, vgl. §§ 91, 123 und 8. 385 Vgl. auch Rousseau, Contrat Social, I, 6,10. 383

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stellung aufseiten der Staatsbürger voraussetzt (vgl. Vorstudie, insb. 4.2 und 6)). Mit dem Rekurs auf die „doctrine of the universi and singuli“ wird aber auch verdeutlicht, dass der Staatsbegriff der vordemokratischen Sektion nun auf das Niveau der Volkssouveränität gebracht worden ist. Die Doktrin artikuliert schließlich den Gedanken der Selbstkonstitution des Volkes. Diese Weiterbestimmung des Staatsbegriffes besagt aber freilich nichts anderes als: Der Staat kann nicht weiter nach dem Modell der mechanischen Kunst konzipiert sein, demzufolge das Volk durch das Werk eines fremden Willens zum Staat verfasst wird – wobei das Wort „Staat“ wieder als „Verfassung“ seines horizontalen „Beisammenseins“ zu verstehen ist. Denn nunmehr ist der Staat als organisiertes Wesen zu denken, das „sich selbst […] bildet und erhält“ (§ 49,4).386 Die organische Logik der Selbstkonstitution solch eines (gemeinen) Wesens impliziert jedoch, dass seine Konstitution nicht ex nihilio erfolgt. Stattdessen wird das, was als Objekt der Konstitution gebildet werden soll, als Subjekt der Konstitution notwendigerweise vorausgesetzt.387 Der „Staat (civitas)“ bildet und erhält „sich selbst“ (§ 49,4) und muss deswegen schon konstituiert sein, um sich selbst (des weiteren) konstituieren zu können. Auch das wäre durch die Deutung des ursprünglichen Kontraktes als Akt der punktuellen Selbstkonstitution des Volkes (im Sinn eines singulären Staatsvertrags) ausgeschlossen. (Zu 2.:) Auf die organische Struktur verweist zuallerletzt die irritierende Rede zu Beginn der Erläuterung, man könne „nicht sagen: der Staat, der Mensch im Staate, habe einen Theil seiner angebohrnen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert“ (Kursivdruck: M.W.). Irritierend ist hier, dass Kant den Staat zuerst als Subjekt des Satzes setzt, dann aber „der Mensch im Staate“ nachsetzt, so als würde er schnell einen Versprecher in der mündlichen Rede korrigieren. Denn der Staat soll doch – nach der herkömmlichen und scheinbaren Logik – durch den Kontrakt erst begründet werden. 388 Allerdings mutet es nahezu ironisch an, wenn vor diesem Ausrutscher gesagt wird, man könne das so nicht sagen – vor allem wenn man berücksichtigt, dass 386

Vgl. KU, § 65 sowie § 64,6. Vgl. KU, § 65,4. 388 So hat Ludwig in seiner Neuedition die erste Angabe des Satz-Subjekts („der Staat,“) gestrichen. 387

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solch ein Versprechen eigentlich nur in der mündlichen Rede möglich ist, nicht aber in einem geschriebenen Text, der im Fall des ‚Staatsrechts‘ zudem ganz offensichtlich nicht für den mündlichen Vortrag verfasst ist. Mit Blick auf die soeben vorgelegte Lesart ist die Formulierung indes bedeutungsvoll: Der Staat ist das Subjekt, das sich selbst zum Staat konstituiert – und sich so eigenverantwortlich aus Freiheit zu sich und seiner eigenen Freiheit verhält. Das ist der Sinn des (explikativen) Diskurses, mit dem § 47 schließt. Die soeben in Vorausschau zitierte Stelle des § 49,4, derzufolge der Staat „sich selbst […] bildet und erhält“, ist an diesem Punkt auch sehr hilfreich, um die Integration der beiden heterogenen Teile des § 47 zu einer Lehre von den Staatswürden augenscheinlich zu machen – und so zugleich die Rede vom ursprünglichen Kontrakt stimmig zu interpretieren. Vollständig lautet sie: „Also sind es drei verschiedene Gewalten […], wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“.

Damit wird nicht nur der Gedanke der Selbstkonstitution des Volkes im zweiten Teil des § 47 zusammengeführt mit dem der Staatskonstitution durch die drei Gewalten im ersten Teil, die dort aufgrund ihrer besonderen Konstitutionsleistung Würden und Staatswürden genannt wurden. Denn die Rede ist hier explizit von der Autonomie des Staates, die als Praxis der selbsttätigen Bildung und Erhaltung nach Gesetzen besagter Autonomie expliziert wird. Mit genau diesem Aspekt endet aber nun wie gesagt § 47: Mit der Eingliederung in die souverän-gesetzgebende Willensgemeinschaft opfern die Einzelnen keinen „Theil“ ihrer „angebohrnen äußeren Freiheit“ auf, wie man ausgehend von der Rechtslehren-Perspektive annehmen könnte, welche den Blick auf die äußere Handlungsfreiheit einschränkt. Denn die Freiheit, die „Unterthanen als Staatsbürger[n]“ (§ 51) durch diese Eingliederung gewahrt bleibt, ist die „Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit“ (Kursivdruck: M.W.). Es ist also die eine ‚große‘ Freiheit (der Autonomie) letztinstanzlicher Selbstbestimmung, welche der Rechts- und Tugendlehre gleichermaßen zugrunde liegt (TL, Einleitung, XIV,1, vgl. Vorstudie). Sofern die Menschen ihre Willen nämlich dadurch zum souveränen Willen im Staat vereinigen und erheben, ist das Abhängigkeitsverhältnis von Oberhaupt und

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Untertan (Satz 2) identisch mit dem Verhältnis ihrer inneren Selbstbestimmung, also ihrer „Freiheit überhaupt“ und deren Auto-nomie. Auch hier besteht die Freiheit im ‚Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen Gesetz‘, also „in einer gesetzlichen Abhängigkeit“ des Menschen, die wiederum „aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“. Genau dies aber ist letztlich auch die Struktur, durch die sich der Mensch als Freiheitswesen Würde und Menschenwürde zuschreibt und zuschreiben muss.389 Durch die Übereinstimmung mit dieser Struktur stellen die drei Gewalten letztlich die Form bereit, wodurch zum einen der Staat, zum anderen der Mensch im Staate „sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“ – worauf der vorliegende § 47 mit dem irritierenden Doppelsubjekt präzise hinweist: „der Staat, der Mensch im Staate“. Die Abhängigkeit von sich selbst – also sowohl des Staats von sich selbst, wie auch des Menschen im Staat von sich selbst – „entspringt“ nun der Autonomie jener „Freiheit überhaupt“ und bekräftigt sowie affirmiert sie dadurch zugleich. Genau darum ist der allseitige Freiheits- und Vereinigungsakt der Bildung des souverän-gesetzgebenden Willens nicht nur nicht irgendein beliebiger Kontrakt, sondern auch kein beliebiger ursprünglicher Kontrakt: Er ist „der ursprüngliche Contract“ (Kursivdruck: M.W.). Ursprünglich ist nämlich wie gesagt jede menschliche Handlung, sofern man den Menschen als Willens- und Freiheitswesen betrachtet – und darum sind folglich auch alle staatsrechtlichen Kontrakte zu einem Kollektiv ursprüngliche Kontrakte. Doch „der ursprüngliche Contract “ – der wohlgemerkt in jedem einzelnen ursprünglichem Kontrakt vollzogen wird (s. o.) – ist begrifflich immer nur ein einziger: eben weil in ihm der Freiheitsursprung (die Autonomie) öffentlich-rechtlich affirmiert, behauptet und betätigt wird. So ist das Wort „Contract“ in § 47 wörtlich zu nehmen. Es handelt sich um ein Kontrahieren oder Zusammenziehen Aller zu einem gemeinsamen Willen, zu einem gemeinen Wesen und schließlich zu einer öffentlich-rechtlichen Freiheits- und Menschenwürde, – wodurch diese Freiheit und Würde wiederum und wie gesagt öffentlich-rechtlich betätigt, affirmiert und behauptet wird. Dabei kann und muss man das Kontrahieren – durchaus in Analogie zum Kontrahieren eines Muskels – im Gegensatz zu einem Vertragsschluss im 389

Vgl. GMS, AA 04: 346.01-07.

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privatrechtlichem Sinn deuten. Das In-Übereinstimmung-Kommen ist hier nämlich durch das Postulat des öffentlichen Rechts selbst als Rechtspflicht eingefordert, mithin durch einen kategorischen Imperativ. Darum handelt es sich nicht lediglich um eine freie Übereinkunft, die ausschließlich dem Belieben der Kontrahenten überlassen ist – und deswegen mit gutem Grund (demjenigen einer rechtlichen Erlaubnis) auch unterlassen werden kann. Vielmehr ist die Einigung Aller für die gemeinsame Sache einer öffentlich-rechtlich behaupteten Freiheit notwendig – ähnlich notwendig, wie die Aktivität der Fasern eines Muskels zur Bewegung desselben erforderlich ist.390 Genau das also ist um der allgemeinen Freiheits- und Menschenwürde willen in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts geboten – allem voran durch die in ihm enthaltene Rechtspflicht des honeste vive, die als Pflicht der Behauptung jener „Freiheit überhaupt“ einschließlich ihres Wertes und ihrer Würde zu verstehen ist (vgl. Vorstudie, 4.2). Letztlich ist der ursprüngliche Kontrakt darum auch die Idee, unter der die Selbstkonstitution des Volkes allein rechtmäßig gedacht werden kann: von Staatsbürgern, die im Vollzug besagten Kontrakts ihre eigene Praxis reflektieren, die wiederum gegen eine rechtswidrige Praxis öffentlich-rechtlichen Freiheitsgebrauchs gerichtet ist, welche die Aufopferung der Freiheit und Würde zur Folge haben würde. Diese rechtswidrige Praxis ist aber wie gesagt diejenige der ‚politischen‘ Autorisation einer souveränen Instanz letztinstanzlicher Fremdbestimmung und Fremdkonstitution.

390

Damit ist im Postulat des öffentlichen Rechts schließlich auch die Lösung zu sehen für „an essentially modern problem faced by all political theories that ground sovereignty in a contract: the problem of the unity of the political community“ – eine Lösung freilich, für die das ‚Staatsrecht‘ keinen antivoluntaristischen Weg einschlagen muss, auf dem „the subjective […] perspective“ irrelevant wird, wie Marey behauptet, vgl. 2018, 578-570, 557.

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Überleitung zu den §§ 48 und 49 Warum endet der erste Paragraphenblock mit den §§ 48 und 49, welche die Gliederung der drei Gewalten darlegen und deren praktisch-institutionelle Realisierung besprechen? Das ist vom Gesichtspunkt der Architektonik-Interpretation fraglich. Denn ihr zufolge spielt die Gewaltengliederung in der respublica phaenomenon überhaupt keine Rolle mehr; der „Staat in der Idee“ enthalte „keine institutionellen oder organisatorischen Vorgaben für den Staat in der Erscheinung“.391 Darum muss es ungereimt bleiben, weshalb ausgerechnet das (vermeintliche) Ende der Darstellung und Bestimmung des Staats in der Idee im ersten Paragraphenblock mit derart ins Detail gehenden Fragen der Institutionalisierung schließt, wie sie vor allem in § 49 zu finden sind.392 Vom Standpunkt der kritischen (Gegen-)Lektüre hingegen, die ich zu entfalten im Begriff bin, macht eine derartige Beschäftigung mit dem Thema ‚Gewaltengliederung‘ durchaus Sinn. Darauf habe ich oben bereits hingedeutet: Für die Lehre von den Staatswürden, die der vorige § 47 darlegt, ist die Gliederung des souveränen Willens nach der Struktur eines praktischen Syllogismus (§ 45,2) aufgrund ihrer Schanierfunktion das ausschlaggebende Moment. Wird der souveräne Wille in der allgemeinen Form vernünftiger Willensbestimmung betätigt, so kann er mit den Einzelwillen und ihrer letztinstanzlichen Willensbestimmung schlussendlich harmonieren; die Staats- und Statuswürde des Souveräns kann mit der allgemeinen Freiheits- und Menschenwürde zusammenfallen – indes nur, wenn die Menschen den souveränen Willen in Ausübung der Volkssouveränität tatsächlich auch selbst gebildet haben, und zwar in einer öffentlich-rechtlichen Praxis letztinstanzlicher Selbstbestimmung und 391

Vgl. wieder Ludwig 1999, 177-180, insb. 178, 183 f. sowie Hirsch 2017, 311 f., 317-319, 320 ff., 330. 392 So beurteilt Hirsch, 2017, 327, die detaillierte institutionelle Bestimmung der dritten Gewalt in § 49 (die Einrichtung des Justizwesens als „re prä se ntatives Syste m des Volks“) vom Gesichtspunkt der (angeblichen) Architektonik aus konsequenterweise als „systematisch schief“. Meines Erachtens müsste man noch weiter gehen: Wenn jegliche institutionellen wie organisatorischen Ordnungsbestimmungen konkreterer Art tatsächlich irrelevant sind, müsste auch der Großteil des § 49 fehl plaziert sein, weil dort genau solche Bestimmungen vorgelegt werden.

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Freiheitsbehauptung zufolge dem Postulat des öffentlichen Rechts (s. o.). Doch zu dieser Praxis gehört eben auch, gemeinschaftlich Sorge zu tragen für den nunmehr gebildeten souveränen Willen, sofern er ein nach ebenjener Struktur eines praktischen Syllogismus gegliederter Wille ist: ein „Will[e] in dreifacher Person“ (§ 45,2). Wie und nach welchen Grundsätzen dies zu geschehen hat, ist darum die Frage, die sich nach § 47 in der weiteren Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts stellt. Entsprechend legt § 48 die Ordnungsbestimmungen vor, wie der in § 47 bereits exponierte Gedanke der Beiordnung der drei Gewalten zu einem souveränen Willen und einer Staatswürde primär durch diesen souveränen Willen selbst realisiert werden kann. Und auf Basis welcher praktischen Grundsätze sowie in welcher institutionellen Ausgestaltung dies rechtmäßig geschehen soll, gibt der finale § 49 auf eine sehr differenzierte Art an – in weiteren Anfangsgründen der Lehre von den drei Gewalten. Äußerlich tragen die §§ 48 und 49 diese Anfangsgründe allerdings nicht als Teil einer Philosophie der Volkssouveränität vor, die sich als Anleitung zu erkennen gibt, wie Staatsbürger Verantwortung für ihre öffentlich-rechtlichen Herrschaftsangelegenheiten übernehmen können und müssen. So wird das Volk in beiden Paragraphen nicht als Souverän identifiziert, hingegen aber dem Souverän deutlich als Menge der Untertanen entgegenstellt (vgl. § 49,2, Satz 1). Das wiederum motiviert zu einer vor- und nicht-demokratischen Lektüre auch der §§ 48 und 49.393 In flüchtigem Rückblick auf § 46 und die dort begründete Volkssouveränität scheint es mithin tatsächlich so, als würde der erste Paragraphenblock mit den §§ 48 und 49 in einer nach-demokratischen Sektion enden (s. o. (zu §§ 47-49, Einleitung)) Bei genauerem Blick zeigt sich jedoch, dass § 48 auf die Notwendigkeit einer perspektivischen und zudem konsequent demokratischen Lektüre hindeutet. Denn die nicht-perspektivische Standard-Lektüre394 führt das ‚Staatsrecht‘ an einen toten Punkt; doch das erweist sich infolge einer perspektivischen Alternativ-Lektüre nicht als zwingend. Zuerst einmal nämlich läuft die nicht-perspektivische Interpre393

Davon geben die Interpretationen des § 49,3 Zeugnis, die das dort entfaltete Justizsystem vordemokratisch deuten: Kant gehe es hier „allein darum, obrigkeitlicher Willkürjustiz den Weg zu verlegen“, Kersting 1984, 317, vgl. Byrd/Hruschka 2010, 164. 394 Wolff 2013, 62-66, Byrd/Hruschka 2010, 161-63.

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tation der dortigen Ausführung zur Staatswürde der ersten Gewalt auf die Hobbes’sche Lehre von der Unkritisierbarkeit des souveränen Willens hinaus. Ihr zufolge können weder die Untertanen den souverän-gesetzgebenden Willen kritisieren, noch der Souverän selbst: „der Wille des Gesetzgebers […] ist untadelich“. Doch im Anschluss an den zweiten Absatz des zentralen § 46 kann man die Stelle auch so lesen, dass die Staatsbürger den souveränen Willen zwar als Untertanen nicht kritisieren und tadeln dürfen (als solche haben sie ihm zu gehorchen), wohl aber als Glieder ebendieses souveränen Willens, die sie nach den zuvor begründeten Anfangsgründen der Volkssouveränität eben auch sind. Eine derartig perspektivische Lektüre erfordert freilich die ab § 46 ins Werk gesetzte Rhetorik eines staatsbürgerlichen Perspektivismus. Charakteristisch für sie ist, dass der Text entweder die Rolle des Untertanen in den Blick nimmt, oder die Perspektive des Souveräns einnimmt, beide Rollen aber nicht vereint – was auch den Begriff „Staatsbürger (cives)“ kennzeichnet. Laut § 46,2 werden in diesem Begriff nämlich die Rollen von Untertan und Souverän in einer Person zusammengeführt, aber eben nicht vereint. Denn das würde auf die Auflösung der Staatsbürgerrolle selbst hinauslaufen; stattdessen ist ein stetiges Changieren zwischen den zwei Standpunkten und Perspektiven vonnöten, die an sich unvereinbar sind, sofern sie nicht dahin gebracht werden können, in einen Standpunkt und eine einzige Perspektive überzugehen (s. o. (zu § 46,2)). Genau solch ein Changieren fordert nun aber auch der ‚Staatsrecht‘-Text von seiner Leserschaft. Auch die Leser müssen die jeweils im Textabschnitt ausgeblendete Rolle durch eigene Reflexion hinzudenken. Darum ist das, was als vor- oder nachdemokratisches Lehrstück erscheint, tatsächlich Teil einer sozusagen demokratiepädagogischen Rhetorik. Die Volkssouveränität sich selbst bestimmender Staatsbürger wird in § 49 schlussendlich auf eine noch viel fundamentalere Art und Weise thematisiert. In einer genaueren Lektüre ist dort nämlich erkennbar, dass die Gefahr der Auflösung der Gewaltengliederung durch eine despotische Regierung nicht primär von der zweiten Gewalt ausgeht, wie es auf den ersten Blick scheint (in § 49,1). Vielmehr sind es die Staatsbürger selbst, von deren Einstellung und Prioritätensetzung es in letzter Instanz abhängt, ob der demokratische Staat (die civitas) durch die drei Gewalten seine Autonomie hat (worin das „Heil des Staats“ bestehe), oder ob sich diese Autonomie unter einer

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despotischen oder väterlichen Regierung auflöst (§ 49,4). Wie die Staatsbürger ganz grundsätzlich von ihrer Freiheit Gebrauch machen wollen – entweder freiheitsbejahend oder freiheitsverneinend –, darauf kommt es im ‚Staatsrecht‘ also letztlich an. Das aber ist Volkssouveränität im fundamentalsten Sinn. Deswegen ist es angebracht, die §§ 48 und 49 nicht vorrangig unter der Prämisse obrigkeitsstaatlicher oder gar nach-demokratischer Verhältnisse zu lesen. Stattdessen sind sie konsequent auf dem Niveau der Volkssouveränität (des § 46,1) auszulegen. Diese konsequent-demokratische Interpretation werde ich im Folgenden in einer textnahen Lektüre der §§ 48 und 49 vorlegen, wobei ich nach inzwischen vertraut gemachter Gangart verfahre.

2. Zu § 48

1. Überblickschaffende und erläuternde Interpretation § 48 besteht aus zwei Absätzen, die beide jeweils nur einen Satz enthalten. Der Hauptbezugspunkt beider Sätze ist identisch, es sind die „drei Gewalten im Staate“. Im ersten Absatz werden sie unmittelbar am Satzanfang als Subjekt eines Aussagesatzes festgelegt und auch gleich zu Beginn des zweiten Absatzes erfolgt ein direkter Bezug auf sie. Besonders auffällig ist die Kontinuität zum vorigen § 47. Zum einen begann dieser Paragraph wortwörtlich mit demselben Subjekt: „Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden“ hieß es dort zu Beginn; „Die drei Gewalten im Staate“ lautet es nun. Zum anderen ist am Anfang des zweiten Absatzes von den drei Gewalten die Rede, sofern man sie „in ihrer Würde betrachtet“. Somit knüpfen die zwei Absätze des § 48 beide in augenfälliger Weise an § 47 an. Ins Auge fällt auch die Dreigliedrigkeit beider Absätze, die jeweils durch Sperrungen markiert ist, im ersten sind es drei (plus eine außerordentliche), im zweiten sechs. So erfolgt im ersten Absatz eine dreigliedrige Bestimmung der drei Gewalten, die mit gesperrt hervorgehobener Nummerierung kenntlich gemacht und dargelegt wird:

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„Die drei Gewalten im Staate sind also e rstlich einander, als so viel moralische Personen, beigeordnet (potestates coordinatae) […], aber, zweit e ns , auch einander unte rgeordne t (subordinatae) […], dritte ns , durch Vereinigung beider [der unter „zweit e ns “ in Rede stehenden Gewalten] jedem Unterthanen sein Recht ertheilend“.

Mit Blick auf die Sperrungen ist besonders auffällig, dass die Hervorhebung im Rahmen des zweiten und mittleren Gliederungspunktes („sind […] untergeordnet “) die einzige (außerordentliche) ist, die zu den Hervorhebungen der drei Gliederungsnummern hinzutritt. Auch hebt sie sich optisch dadurch ab, dass mit ihr die Parallelität aufgebrochen wird, die zwischen ihr und dem ersten Gliederungspunkt besteht: Beide Punkte geben je eine Ordnungsbestimmung der drei Gewalten an, die dann in einer nachgesetzten Klammer lateinisch reformuliert wird – zufolge der ersten sind die drei Gewalten „beigeordnet (potestates coordinatae)“, zufolge der zweiten einander „untergeordnet (subordinatae)“ –, doch eben nur die zweite Bestimmung ist gesperrt hervorgehoben. Der Gesichtspunkt der Unterordnung (Subordination) scheint darum in § 48 von besonderer Wichtigkeit zu sein. Auffällig ist aber auch, dass der dritte Gliederungspunkt ebenfalls aus der Reihe fällt, insofern er keine weitere Ordnungsbestimmung vorlegt, dieser Punkt im Gegensatz zu den beiden ersten aber auch nicht erläutert oder weiter ausgeführt wird. Stattdessen bestimmt er, dabei organisch an den zweiten anknüpfend, die drei Gewalten dahingehend, dass sie den Staatszweck distributiver Gerechtigkeit erfüllen, nämlich „jedem Unterthanen sein Recht ertheilend“ zu sein. Darauf kommt es in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts schließlich primär an: Die Adressaten des Postulats sollen „in einen rechtlichen Zustand […] übergehen“ (§ 42,1), in welchem „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“ (§ 41,1); allein darum sollen sie Untertanen sein (§ 44 ff.). Während im ersten Absatz wie in den ersten beiden Sätzen des § 47 von allen drei Gewalten gleichermaßen die Rede ist, werden im zweiten Absatz die drei Gewalten einzeln in den Blick genommen und in Form von drei Aussagen bestimmt. Das geschieht jedoch wie gesagt in direkter Anknüpfung an die Bestimmung der drei Gewalten als (Staats-)Würden, mit der § 47 einsetzte. Entsprechend wird § 48,2 in der Sekundärliteratur so gelesen, dass in ihm „die Staatswürden der Reihe nach vorgestellt“ werden und dabei gesagt wird, worin die

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Würde jeder einzelnen Gewalt „besteht“.395 Zu verstehen seien die Staatswürden an dieser Stelle zudem als „the essence of each of the three powers in the state in the idea“396. Solche Lesarten erweisen sich jedoch bereits bei oberflächlicher Lektüre als problematisch. Der Absatz lautet nämlich vollständig: „Von diesen Gewalten in ihrer Würde betrachtet, wird es heißen: der Wille des Ges etzgeb e rs (legislatoris) in Ansehung dessen, was das äußere Mein und Dein betrifft, ist untade lich (irreprehensibel), das Ausführungs-Vermögen des Ob e rb e f ehls hab e rs (summi rectoris) unwide rste hlich (irresistibel) und der Rechtsspruch des obersten Richte rs (supremi iudicis) unabände rlich (inappellabel)“.

Gesagt wird lediglich, dass es von drei Gewalten etwas „heißen“ wird, wenn man sie „in ihrer Würde betrachtet“: dass bestimmten Charakteristika des Inhabers der jeweiligen Gewalt (dem Willen des Gesetzgebers, dem Ausführungs-Vermögen des Oberbefehlshabers und dem Rechtsspruch des obersten Richters) jeweils bestimmte Prädikate zugesprochen werden (untadelig, unwiderstehlich oder unabänderlich zu sein). Dabei ist es wohlgemerkt etwas anderes, eine Person in einer Eigenschaft zu betrachten und genau diese Eigenschaft auf den Begriff zu bringen, oder aber von einer Person nur etwas zu sagen, wenn man sie in dieser bestimmten Eigenschaft betrachtet. Lediglich letzteres ist in § 48,2 der Fall. Es wird zwar etwas gesagt, das die jeweilige Staatswürde betrifft, insofern das, was gesagt wird, durch die Perspektive bedingt ist, dass die Gewalten „in ihrer Würde betrachtet“ werden. Keineswegs wird damit jedoch die Staatswürde der jeweiligen Gewalt selbst auf den Begriff gebracht, geschweige denn quasi definitorisch die Essenz der jeweiligen Staatsgewalt festgelegt. Zwingend ist es allerdings auch nicht, die Festlegung auf die Perspektive („in ihrer Würde betrachtet“) so zu lesen, dass die drei Gewalten sich nun im Gegensatz zu § 47 in ihrer Würde unterscheiden und dass es genau dieser Unterschied ist, der in den drei Aussagen des § 48,1 zur Sprache kommen soll – und darin die Eigentümlichkeit der Kantischen Lehre von den Staatswürden zu sehen ist 397. Dazu

395

Wolff 2013, 62 ff. Byrd/Hruschka 2010, 163. 397 Wolff 2013, 62 ff. 396

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gibt es im Text bisher keinen Anlass.398 Naheliegender ist, die Festlegung noch ganz im Einklang mit § 47 zu lesen: Dort wurden die drei Gewalten nämlich alle gleichermaßen „Staatswürden“ genannt aufgrund der Funktion des souveränen Willens („in dreifacher Person“ (§ 45,2)), als Oberhaupt das Volk als Untertan in eine Verfassung seines horizontalen Beisammenseins zu bringen, also zu einem Staat zu formieren (§ 47, Satz 1). Zum einen waren die drei Gewalten dem gemäß alle gleichermaßen Staatswürden, und zwar aufgrund von dem einen, in all ihnen gleichermaßen enthaltenen „Verhältniß“ des „Oberhaupts“ zum „Unterthan“ (§ 47, Satz 2); zum anderen war diesbezüglich die in Rede stehende „Würde“ der drei Gewalten im Sinne einer „Status-Auszeichnung durch Höhe über anderem, darunter Stehendem“399 zu deuten, als Würde des Oberhaupts gegenüber dem Untertan. Der erste Absatz des § 48 endete aber wie gesagt mit der Hin- und Rückführung jener zwei Ordnungsbestimmungen der drei Gewalten (Bei- und Unterordnung) auf genau den Zweck, aufgrund dessen die drei Gewalten im ersten Satz des § 47 „Staatswürden“ genannt wurden. In den Worten des § 43: Die Menschen bedürfen „des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) […], um dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“; und um dieser Zuteilung willen müssen sie Untertanen eines souverän-überlegenen Willens (in dreifacher Person) sein – dem (und dessen Gewalten) in diesem Verhältnis allein (öffentlich-rechtliche) Würde zukommt. So aufgeschlüsselt ist der Übergang zwischen den beiden Absätzen (vgl. „also […]“) fließend. Mit Blick auf die drei Prädikationen des zweiten Absatzes ist nämlich klar, dass es der Standpunkt des „Unterthanen“ ist, von dem am Ende des ersten Absatzes die Rede war. Und dieser Untertan ist es, der (nun) die drei Gewalten „in ihrer Würde betrachtet“ und (künftig) auf eine bestimmte Weise urteilen „wird“ („Von diesen Gewalten in ihrer Würde betrachtet, wird es heißen“). Schließlich ist es praktisch wie staatsrechtlich unsinnig, dass es der Gesetzgeber (als solcher) ist, der seinen eigenen „Wille[n]“ von 398

Erst § 49,3 wird diesen Gesichtspunkt ins Spiel bringen, wenn es dort heißt, es sei „unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen“. 399 Fulda 2021, 96, Kursivdruck: M.W.

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vornherein als „untadelich“ ansieht, oder dass der Oberbefehlshaber sein „Ausführungs-Vermögen“ für und gegenüber sich als „unwiderstehlich“ betrachtet. Hingegen sind die Prädikationen vom Standpunkt des Untertanen aus gut nachvollziehbar. Mit anderen Worten also: Die Perspektive dessen, der die drei Gewalten „in ihrer Würde betrachtet“, ist nicht die Innenperspektive desjenigen, dem diese Würde als „Status-Auszeichnung durch Höhe über anderem, darunter Stehendem“ zukommt (die Perspektive des Souveräns). Es ist die Außenperspektive des darunter Stehenden (des Untertanen). Die Festlegung auf diese Perspektive knüpft an § 47 allerdings nicht allein mit dem Aspekt der Würde an, sondern auch mit dem Perspektivismus als solchem. Denn in § 47 war die Rede vom „Vol[k] als Staat betrachtet“; hier nun wird gesprochen von den drei „Gewalten in ihrer Würde betrachtet“ (Kursivdruck: M.W.). Es handelt sich also um eine Parallelstelle – und zwar um eine, die jenes notwendige Changieren zwischen den zwei unvereinbaren Rollen, Standpunkten und Perspektiven im Verhältnis von Oberhaupt und Untertan rhetorisch zur Darstellung bringt (s. o. (zu § 46,2)). Im Gegensatz zur vorliegenden Stelle stand in § 47 nämlich die Rede vom „Vol[k] als Staat betrachtet“ für das Volk in seiner Rolle als Glied des Souveräns (s. o. (zu § 47, Satz 3)). Dort aber wurde der Übergang vom Standpunkt und der Perspektive des Volkes als Untertan zu demjenigen des Gliedes als Souverän nicht nur als praktischer Übergang bestimmt, sondern zugleich auch als perspektivischer. Im Anschluss an diese Perspektive (des Souveräns) ist nun auch in § 48,1 von den Gewalten in ihrer Ordnung zueinander die Rede – um die sich die Staatsbürger selbstverständlich als Glieder der souveränen Gewalt zu kümmern haben. Doch die Gewalten haben laut dem Ende von § 48,1 ihren Zweck eben darin, „jedem Unterthanen sein Recht ertheilend [zu] sein“ – was von den Staatsbürgern notwendigerweise einen Wechsel des Standpunktes und der Perspektive von der Rolle des Souveräns zu demjenigen des Untertans erfordert. Dieser Wechsel kommt schließlich mit der Parallelstelle, vermittelt über die Sukzession der Paragraphen 47 und 48, text-rhetorisch zur Darstellung, liegt aber auch der Gliederung des § 48 in zwei Absätze zugrunde. Auch besagter Wechsel ist wieder auf den Praxiszusammenhang der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts zu beziehen: Die Adressaten des Postulats haben einerseits in der Befolgung desselben als Glieder des souveränen Willens („in dreifacher Person“) aktiv

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antwortung für das geordnete Zusammenspiel der drei Gewalten zu übernehmen (§ 48,1); andererseits müssen sie aber auch um der distributiven Gerechtigkeit willen als Empfänger von Recht passiv als Untertanen unter diesen Gewalten stehen (§ 48,2). Doch beides zusammen ist wiederum nur durch eine eigenverantwortliche Praxis des Changierens zwischen diesen zwei unvereinbaren Rollen möglich – und für dieses Changieren steht der Begriff, die Person und das Selbstverständnis des Staatsbürgers (s. o. (zu § 46,2)).

2. Präzisierende Interpretation Im Folgenden sollen die beiden Absätze des § 48 genauer interpretiert werden. Vor allem im Rahmen der Interpretation des zweiten Absatzes gilt es dabei, die perspektivische Lektüre kritisch zur nichtperspektivischen in Verhältnis zu setzen, die der Text indes selbst provoziert.

2.1 Zu Absatz 1: Die Ordnung der drei Gewalten Der Anfang des ersten Satzes und Absatzes des § 48 wirft wie derjenige des § 47 in besonderer Weise die Frage auf nach dem Anschluss an den vorhergehenden Text und nach dem Verhältnis zu ihm. Es handelt sich nämlich um einen sogenannten „»also«-Satz“, insofern gleich nach dem Subjekt und Prädikat und vor den drei durch Sperrung hervorgehobenen Gliederungsnummern ein „also“ steht: „Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich […] zweitens […] drittens […]“ (Kursivdruck: M.W.). Dieses „also“ deutet hier an, dass der vorausgegangene Text eine Begründung für das in § 48,1 Gesagte liefert.400 Das ist unumstritten; strittig ist dagegen, ob sich das Wort auf alle drei Aussagen des Absatzes bezieht401 oder nur auf die erste402. Denn da das Wort „also“ vor allen drei Aussagen positioniert ist, kann man es mit gutem Grund so lesen, dass es sich gleichermaßen auf alle erstreckt. Allerdings ist nach dem Semikolon-Satzzei400

Vgl. Wolff 2013, 57. Wolff 2013, 57, Ludwig 1988, 76 f. 402 Fulda 2001, 13. 401

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chen, das die erste Aussage von der zweiten trennt, ein „aber“ eingeschoben. Dieses weist auf eine Abgrenzung des nun unter „zwei tens“ Gesagten vom vorigen Punkt hin: „Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich […], aber, zweitens, auch […]“ (Kursivdruck: M.W.). Die Abgrenzung könnte freilich darin bestehen, dass nur der erste Gliederungspunkt aus dem vorangegangenen Text folgt, nicht aber die letzten beiden. Im Einklang damit ließe sich letztlich auch die Privilegierung des Aspektes der Unterordnung durch alleinige Sperrung lesen. Vor allem dieser Aspekt wäre das Neue, das nicht oder zumindest nicht direkt aus dem vorangegangenen Text folgt, sondern nun wert ist, im Zentrum des Absatzes hervorgehoben zu werden. Mit folgender Interpretation vertrete ich die letztgenannte Deutung: Zwar lässt sich der Gedanke der Unterordnung aus § 45,2 herleiten. Dort wurden die drei Gewalten nach den „drei Sätzen in einem practischen Vernunftschluß“ begrifflich gegliedert, demzufolge der Untersatz dem Obersatz untergeordnet wird. Doch dieser Bezug auf den weiter zurückliegenden § 45 spricht zuerst einmal für erstgenannte Deutung. Allerdings war im unmittelbar vorhergehenden § 47 und der dort teils vorgelegten, teils nur angedeuteten Lehre von den Staatswürden lediglich einer der drei Aspekte im Mittelpunkt und von Belang. Dies war der erste: die Beiordnung aller drei Gewalten als Würden und Staatswürden zur Einheit einer „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) oder Staatswürde. Doch demgegenüber wird in § 48,1 nun der Gesichtspunkt der Unterordnung geltend gemacht und im Bezug auf diese Unterordnung schließlich die Vereinigung der drei Gewalten – beides allerdings als systematische Realisationsbedingung jener Beiordnung. So gelesen lässt sich der Gang der Paragraphen des ‚Staatsrechts‘ ein weiteres Mal als Schrittfolge der Begründung von Prinzipien deuten, welche die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts als genuin praktisches Postulat gewährleisten. Vom Stand- und Gesichtspunkt seiner Adressaten aus stellt sich nach § 47 nämlich die Frage: Wie kann im Projekt der demokratischen Staatskonstitution die Beiordnung der drei Gewalten zu einer Herrschergewalt und Staatswürde praktisch realisiert werden? Aufgrund dieser Frage schließlich ist in der Interpretation des Also-Satzes der unmittelbar vorausgehende Punkt (§ 47) gegenüber dem weiter entfernten (§ 45) zu privilegieren (wie Fulda vorschlägt).

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2.1.1 Zum ersten Gliederungspunkt: Die Beiordnung der drei Gewalten Der Gedanke der Beiordnung lässt sich dank § 47 darin finden, dass dort die drei Gewalten in ihrer Dreiheit auf die Einheit einer „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) und Staatswürde bezogen werden: Einerseits sind die drei Gewalten laut § 47 zum Zweck der Staatsgründung alle unabdingbar und darum alle gleichermaßen Staatswürden (Satz 1); andererseits enthalten sie alle drei „das [eine] Verhältniß eines allgemeinen Ob e rhaupts […] zu der vereinzelten Menge ebendesselben als U nte rt hans , d. i. des [einen] Gebiete n den (imperans) gegen den Gehorsamenden (subditus)“ (§ 47, Satz 2, Kursivdruck: M.W.).

Einander beigeordnet sind die drei Gewalten demnach, da sie ungeachtet ihrer Verschiedenheit dem Untertan alle die eine „Herrschergewalt (Souveränität)“ vorstellen. Anders formuliert, sie alle stellen dem Untertan als je verschiedene Staatswürden die eine Staatswürde vor.403 Die „Herrschergewalt (Souveränität)“ ist dabei einerseits die erste Gewalt – nach § 45,2 liegt sie „in der [Person] des Gesetzgebers“ –, andererseits aber auch die „vierte Größe“, welche „die grundlegende Einheit der Konstellation bildet“404. Denn sofern in der Person des Gesetzgebers die „Herrschergewalt (Souveränität)“ liegt, ist der Wille dieser Person pars pro toto der eine übergeordnet-souveräne „Will[e] in dreifacher Person“ (§ 45,2). Und diesen Willen haben wiederum auch die übrigen beiden Gewalten zu repräsentieren, insofern sie ihn „zu Folge“ und „nach“ dem „Gesetz jenes Willens“ (vgl. ebd.) gegenüber dem Untertan geltend machen. Auf diese Weise stellen auch sie das eine „allgemein[e] Oberhaup[t]“ dar und somit die „Herrschergewalt (Souveränität)“ vor. Diese Repräsentation ist allerdings nicht lediglich als abstraktes Geltendmachen der Überlegenheit (Souveränität) der Herrschergewalt und Staatswürde misszuverstehen. Insofern die drei Gewalten nämlich in ihrer Ausübung der Souveränität „so ineinander greifen, daß sich […] ein praktischer Syllogismus ergibt“405, koordinieren sie 403

Kersting 1984, 307. Vgl. Brand 1998, 15. 405 Fulda 2001, 12. 404

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sich zugleich selbst zur Praxis eines souveränen „Willen[s] in dreifacher Person“. Zusammengefasst: Alle drei Gewalten repräsentieren getrennt voneinander die eine souveräne Gewalt; das allerdings, indem sie diese Gewalt kooperativ-koordiniert ausüben und so zur Einheit einer souveränen Gewalt zusammenführen406. Aus § 47 folgt daher die Hauptbestimmung des ersten Gliederungspunktes in § 48,1: dass die „drei Gewalten im Staate […] einander, als so viel moralische Personen, beigeordnet (potestates coordinatae)“ sind. Dabei kann man die Parenthese („als so viel moralische Personen“) als Verweis auf die Rede vom „Willen in dreifacher Person“ lesen (§ 45,2), der sich nach der Struktur der „drei Sätz[e] in einem practischen Vernunftschluß“ sowohl personal spezifiziert als auch wieder vereinigt, und zwar zur Autonomie und Autokratie eines souveränen Willens. Der Hauptbestimmung ist allerdings auch noch eine Erläuterung angefügt. Sie lautet wie folgt: „d. i. die eine [Gewalt] ist das Ergänzungsstück der [jeweils] Anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“. Auch diese Erläuterung scheint zuerst einmal nur zu besagen, dass sich alle drei Gewalten wechselseitig zur Vollständigkeit einer Staatsgewalt ergänzen, wobei dann die Begriffe Staatsgewalt und Staatsverfassung gleichzusetzen wären407. Mit der Gleichsetzung von Staatsgewalt und Staatsverfassung würde man dem ‚Staatsrecht‘ allerdings ein enorm verkürztes Begriffsverständnis zugrunde legen, das ihm (vorerst)408 nicht nur fremd ist, sondern auch die komplexe Arbeit an seinen Schlüsselbegriffen (Staat, Verfassung und Vereinigung) ignoriert und verdeckt. Präziser, man würde Sieyes’ polemische Verkürzung des Verfassungsbegriffs auf das ‚Staatsrecht‘ projizieren, welche die Verfassung von einer komplexen Ordnung der Staatsbürger auf eine Ordnung der drei Staatsgewalten reduziert.409 406

Vgl. Fulda 2001, 12. Vgl. Thiele 2014, 127 f. 408 Vgl. die spätere Thematisierung der englischen constitution als Fall einer „(fehlerhaften) Staatsverfassung“ (oder eben „Constitution“) in Allg. Anm. A, 3 und 5. 409 Vgl. Sieyes 1789a, 34 f.: „La Constitution embrasse à-la-fois: La formation & l’organisation intérieures des différens pouvoirs publics, Leur correspondance nécessaire, & leur indépendance réciproque, Enfin, les précautions 407

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Dass der Begriff „Staatsverfassung“ an vorliegender Stelle des § 48 allerdings von großer Wichtigkeit ist, zeigt auch seine text-rhetorische Hervorhebung. Der Lektürefluss wird nämlich durch die Plazierung der in Klammern gesetzten lateinischen Reformulierung („complementum ad sufficientiam“) in die Mitte der Genitivkonstruktion („Vollständigkeit […] der Staatsverfassung“) so unterbrochen, dass ihr Bezugspunkt (die „Staatsverfassung“) besonders hervorgehoben wird: „zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“. Vergleichbar ist dieses rhetorische Mittel in etwa mit dem Unterbrechungs- und Überraschungseffekt der Versform. Darum ein genauerer Blick auf den Begriff „Staatsverfassung“: Das Kompositum „Staatsverfassung“ wird an vorliegender Stelle neu eingeführt. Allerdings ist es eine Zusammensetzung und -führung von zwei Begriffen (Staat und Verfassung), die seit Beginn des ‚Staatsrechts‘ von besonderer Wichtigkeit sind und in denen sich die Arbeit an den Anfangsgründen des Staatsrechts sukzessiv artikuliert. So ist mit Rekurs auf den Anfang des ‚Staatsrechts‘ (§ 43) zuerst einmal augenfällig, dass im Wort „Staatsverfassung“ zwei Begriffe (Staat und Verfassung) zusammengeführt werden, die jeweils für denselben Gegenstand stehen. Dies ist der „Zustand“ einer „Menge von Menschen […] unter einem sie vereinigenden Willen“ (§ 43), also die „Verfassung“ als horizontale Form des Beisammenseins der Menschen (§ 41,3) als Produkt des souveränen Willens.410 Freilich war das Wort „Verfassung“ (wie das der „Vereinigung“) innerhalb des ‚Staatsrechts‘ von Anfang an in zweifacher Bedeutung zu lesen, nämlich einerseits als Produkt und Ergebnis der Verfassungstätigkeit des souveränen Willens, andererseits aber auch für diese Tätigkeit selbst, als Praxis und Prozess. Mit dem democratic turn in § 46 fiel jedoch das bearbeitende und bearbeitete Subjekt zusammen, wodurch der Akt der hetepolitiques […]. Tel est le vrai sens du mot Constitution; il est relatif à l’ensemble & à la séperation des pouvoirs publics. Ce n’est point la Nation que l’on constitue, c’est son établissement politique“, vgl. Sieyes 1789c, 113-116. Demgegenüber hält das Kantische ‚Staatsrecht‘ an einem Verfassungsbegriff fest, demzufolge der Begriff „Verfassung (constitutio)“, § 43, auch für die „Form“ des „Beisammenseins“ der „Menschen unter sich“ steht, § 41,3. 410 Das wiederum ist das Verfassungsverständnis, gegen das Sieyes mit dem Lehrstück der Unverfassbarkeit des Volkes philosophierte und polemisierte.

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ronom-äußerlichen Staatskonstitution zum Akt der autonomen Selbstkonstitution des Volkes werden musste. Letzteres brachte der zweite Teil des § 47 explizit zur Sprache und findet seinen klarsten Ausdruck wohl im letzten Absatz des ersten Paragraphenblocks: in der Rede davon, dass „der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“ (§ 49,4, Satz 1). Als Ausdruck dieser autonomen Selbstkonstitution des Volkes muss nun jedoch an vorliegender Stelle auch der Begriff „Staatsverfassung“ gedeutet werden: Der Staat verfasst sich selbst als Subjekt zum Staat als Objekt; dafür steht die Staatsverfassung als Praxis und Prozess, die allerdings die Staatsverfassung als Produkt und Ergebnis zum Ziel hat, wohlgemerkt aber auch voraussetzt, soll sich doch „der Staat […] selbst“ bilden und erhalten (§ 49,4). Kurz, der Begriff „Staatsverfassung“ steht für die Ordnung sich selbst bestimmender Menschen, für die societas civilis. Der Zweistufigkeit des Begriffs entsprechend ist nun auch das Verhältnis der drei Gewalten als jeweiliges „Ergänzungsstück der [jeweils] Anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“ zu lesen: einerseits als Ergänzungsstück zur Vollständigkeit der Staatsverfassung als Produkt und Ergebnis, andererseits als Praxis und Prozess eines demokratischen Projekts der Selbstkonstitution des Volkes. Dabei ist die Frage vor allem, worin die jeweilige Vollständigkeit besteht. Auch hier ist wieder ein Blick auf den letzten Absatz des ersten Paragraphenblocks (§ 49,4) hilfreich: Dort wird das „Heil des Staats“ in der „Vereinigung“ der drei Gewalten gesehen und wiederum als „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien“ identifiziert. Die Vollständigkeit ist demnach eine rechtliche und gründet auf den Anfangsgründen des (Staats-)Rechts. Worin die Vollständigkeit der Staatsverfassung als Produkt und Ergebnis besteht, kann man sich in einem ersten Schritt erschließen, wenn man auf das Postulat des öffentlichen Rechts zurückgeht. Dieses fordert nämlich den Übergang „in einen rechtlichen Zustand“ (§ 42,1), verstanden als Zustand, aber auch „Verfassung“ (§ 41,3), in der „jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“ (§ 41,1, Kursivdruck: M.W.). Und auf diesen (Staats-)Zweck werden im vorliegenden § 48,1 wie gesagt die Ordnungsbestimmungen der drei Gewalten explizit festgelegt: Sie sollen „jedem Unterthanen sein Recht ertheilend sein“

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(Kursivdruck: M.W.). Demzufolge kann man sagen, dass sich alle drei Gewalten durch die Struktur des praktischen Syllogismus wechselseitig dazu ergänzen, als eine rechtserteilende Gewalt (Wolff) diese Vollständigkeit zu gewährleisten. Allerdings wurden die drei Gewalten zu Beginn des vorigen § 47 in einer rückblickenden Zusammenfassung des § 45 explizit als „aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend“ bestimmt und allein darum schließlich „Staatswürden“ genannt (Satz 1). Dabei ist einerseits dieser Staat überhaupt eine Staatsverfassung, insofern der Staat überhaupt nach § 45,1 für eine rechtsgesetzlich bestimmte Form einer horizontalen Verfassung des Beisammenseins der Menschen steht (s. o. (zu § 45,1)) – diejenige nämlich, die verwirklicht sein muss, damit überhaupt ein Staat bestehen kann. Andererseits ist die „Idee eines Staats überhaupt“ aber als Idee auch die Vorstellung einer Totalität oder eben Vollständigkeit. Da nun die drei Gewalten laut den §§ 45 und 47 notwendig sind zur Konstitution dieser für jeden Staat (überhaupt) konstitutiven Minimalverfassung, sind sie jeweils Ergänzungsstücke zur „Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“ als Produkt und Ergebnis. § 47 rekurrierte allerdings nicht nur (in seinem ersten Teil) auf die Idee eines Staats überhaupt und die Notwendigkeit der drei Gewalten für dessen Verwirklichung (als Produkt und Ergebnis). Er bestimmte (im zweiten Teil) diesen Akt der Staatskonstitution auch explizit durch die drei Gewalten – die Staatsverfassung als Praxis und Prozess – als Akt der Selbstkonstitution des Volkes, also als Staatsverfassung im obigen demokratischen Sinn. Dabei wurde der Akt selbst wiederum als „Idee“ genau dieses Aktes festgelegt, „nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann“ – vonseiten der Staatsbürger im Vollzug genau dieses Aktes (s. o. (zu § 47)). Da der demokratische Akt (im zweiten Teil des § 47) auch dort auf die zuvor (im ersten Teil) thematisierte Staatskonstitution durch die drei Gewalten bezogen werden musste, liegt mit besagter Idee schließlich auch die Norm vor, nach der die drei Gewalten sich wechselseitig zur „Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“ ergänzen: zur Vollständigkeit der Staatsverfassung als Praxis und Prozess. Doch wie ist das zu verstehen? Der Schlüssel liegt wieder in der Kantischen Lehre von den Staatswürden, welche den übergreifenden Zusammenhang des § 47 bildet. Der Akt der Selbstkonstitution des Volkes qualifiziert sich

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nämlich zugleich als Idee der (vollständigen) Rechtmäßigkeit genau dieser Staatskonstitution (als Praxis und Prozess), weil in ihm die Autonomie (und Autokratie) des Staates mit der Autonomie (und Autokratie) des Menschen im Staate zusammenfallen (vgl. § 47, Satz 3), damit zugleich aber auch die Staats- und Statuswürde der souveränen Gewalt mit der Freiheitswürde der einzelnen Menschen. Vollständig rechtmäßig ist diese Selbstkonstitution aber erst, wenn gewährleistet ist, dass sie nicht nur im Zuge der Ausübung der ersten Gewalt erfolgt, sondern auch im Prozess der Behandlung durch die beiden ausübenden Gewalten. Genau das leistet nun die oben explizierte Beiordnung der drei Gewalten zu einer souveränen Gewalt durch die Separation und Koordination der drei Gewalten nach der Struktur des praktischen Syllogismus. Durch sie ist der Wille des Volkes nämlich selbst dann, wenn ihm nur die erste Gewalt zukommt, zugleich (als „Will[e] in dreifacher Person“) der Wille der übrigen zwei Gewalten, – und die Würden dieser Gewalten zugleich rückführbar auf und zu identifizieren mit der Würde des souveränen (Volks-)Willens. So ergänzen sich die drei Gewalten durch ihre Anordnung und Koordination zufolge der Struktur des praktischen Syllogismus wechselseitig zur „Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“ als Praxis und Prozess der Volkssouveränität. Vom Standpunkt der Staatsbürger als Glieder des souveränen Willens stellt sich an diesem Punkt freilich die Frage, wie genau sich die zweckgerichtete Koordination aller drei Gewalten prozedural realisieren lässt. Darauf geben der zweite und dritte Gliederungspunkt eine erste systematische Antwort: Alle drei Gewalten sollen einander untergeordnet sein, allerdings so, dass die zweite Gewalt der ersten untergeordnet bleibt (zweiter Gliederungspunkt). Dazu sind diese beiden Gewalten durch die dritte zu vereinigen, damit alle drei Gewalten „jedem Unterthanen sein Recht ertheilend sein“ können (dritter Gliederungspunkt). Das ergibt eine unilineare Unterordnung der drei Gewalten in folgender Rangfolge: gesetzgebende, rechtsprechende und vollziehende Gewalt (1, 3, 2).

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2.1.2 Zum zweiten Gliederungspunkt: Die Unterordnung der drei Gewalten Der zweite Gliederungspunkt lautet vollständig: „Die drei Gewalten im Staate sind […], zwe ite ns , auch einander unte rgeordnet (subordinatae), so, daß eine nicht zugleich die Function der anderen, der sie zur Hand geht, usurpiren kann, sondern ihr eigenes Princip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet“.

Demnach sollen alle drei Gewalten einander auf eine bestimmte Art und Weise („so, daß […]“) untergeordnet sein, die zuerst dargelegt, abschließend reformuliert und durch diese Reformulierung auch erläutert wird („d. i. […]“). Nun ist in der Darlegung dieses Modus und Telos der Unterordnung wie im vorigen Gliederungspunkt der Beiordnung wortwörtlich wieder nur von einer Gewalt und der oder den anderen Gewalt(en) die Rede. Darum besteht Anlass, beim Lesen die Bestimmung zuerst einmal (wieder) auf alle drei Gewalten wechselseitig zu beziehen, wie folgt: „Jede Gewalt ist für die anderen Mittel, jede dient den anderen, ohne sie ersetzen zu können, d. h. jede Gewalt kann nur tätig werden, wenn die anderen ihre besonderen Aufgaben erfüllen“411. Die Unterordnung wäre keine unilinear-hierarchische, sondern eine wechselseitige. Gegen diese Deutung spricht zuallererst der eingeschobene Relativsatz. Ihm zufolge wird von einer unbestimmten Gewalt in ihrer Relation auf die Funktion einer bestimmten „anderen“ gesprochen: „der anderen, der sie zur Hand geht“. Das könnte man im obigen Sinn zwar auch für alle drei Gewalten sagen, doch die Stelle verweist auf eine andere Auslegung, berücksichtigt man ihren begrifflichen Kontext. Einerseits heißt es nämlich, dass die Unterordnung derart ist, „daß eine nicht zugleich die Function der anderen, der sie zur Hand geht, usurpiren kann“ (Kursivdruck: M.W.). Obwohl sich das Verb ‚usurpieren‘ nur auf die Funktion der anderen Gewalt bezieht, deutet es dennoch im weiteren Sinn auf die eigentliche Problematik der Stelle hin. Denn ‚usurpieren‘ heißt eben nicht nur, sich etwas „wider-

411

Thiele 2014, 128.

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rechtlich […] aneignen, sich anmaßen“ oder „an sich bringen“412. Das Verb steht zugleich für die widerrechtliche staatsrechtliche Praxis einer anmaßlichen Aneignung der Souveränität (in toto) durch die Verdrängung des rechtmäßigen Herrschers; der Usurpator ist der Thronräuber. Demnach bestände die Problematik darin, dass eine der beiden ausführenden Gewalten widerrechtlich die Funktion der ersten Gewalt an sich reißt und damit pars pro toto alle Gewalt: die „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2). Andererseits spricht dafür, dass die erste Gewalt diejenige Gewalt ist, der die andere „zur Hand geht“, aber auch Folgendes: Im Gefüge der drei Gewalten gibt es nur eine Gewalt, die eo ipso eine Zur-HandGehende ist, und das ist „die vollziehende Gewalt “ (vgl. § 45,2). Denn vollziehen bedeutet das „zur Wirklichkeit bringen, von Handlungen und Geschäften“,413 und was die vollziehende Gewalt zur Wirklichkeit bringen soll, ist das Gesetz. Ihr Vollzug ist Gesetzesvollzug, das ist ihre Funktion. Damit ist jedoch auch wiederum klar, welcher Gewalt sie zur Hand geht: der „Herrschergewalt (Souveränität)“ in der Person „des Gesetzgebers“ (§ 45,2). Usurpiert nun die vollziehende Gewalt die Funktion der gesetzgebenden, so reißt sie nicht nur eine Funktion von vielen an sich, sondern eben die ganze „Herrschergewalt (Souveränität)“. Somit liegt eine „Usurpation“ im oben vorgestellten staatsrechtlichen Sinn vor, da die ganze öffentliche Gewalt pars pro toto ihren Träger wechselt; die vollziehende Gewalt wird zum Thronräuber. Das aber ist als Problem ersten Ranges zu werten, nimmt man wieder den Standpunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts ein, die als Staatsbürger die Glieder der souveränen Gewalt sein sollen. Um dieses Problem zu vermeiden, ist schließlich eine einseitige Unterordnung der vollziehenden Gewalt unter die gesetzgebende notwendig.414 Letztlich stellt aber auch die abschließende Erläuterung klar, dass nicht alle Gewalten wechselseitig einander untergeordnet sein sollen, wenn es heißt, dass die zur Hand gehende Gewalt „zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet“. Denn laut der Bestimmung der drei 412

Georges, 3323 f. Adelung, 1801, 1237. 414 Freilich muss die zweite Gewalt zudem noch der dritten einseitig untergeordnet werden, dazu jedoch später. 413

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Gewalten als „Will[e] in dreifacher Person“ (in § 45,2) gibt es wie gesagt nur einen souverän-gesetzgebenden Willen im Staat. Und allein diesem Willen zufolge haben die zweite und dritte Gewalt das „Gesetz jenes Willens“ auszuführen: „unter der Bedingung des Willens einer oberen“. In dieser Hinsicht sind sie der ersten Gewalt untergeordnet. Schließlich ist die maßgebliche Form dieser Unterordnung (nach § 45,2) aber auch die Struktur des praktischen Syllogismus, – derzufolge wiederum zugleich die (Re-)Koordination der drei separierten Gewalten zu einem souveränen Willen erfolgen soll. An diesem Punkt wird klar: Die Ordnungsgesichtspunkte der Beiordnung und Unterordnung sind aufeinander verwiesen – und zwar so, dass sich die Beiordnung durch die Unterordnung realisiert.

2.1.3 Zum dritten Gliederungspunkt: Die Vereinigung der drei Gewalten Dem dritten Gliederungsgesichtspunkt zufolge sollen die drei Gewalten „durch Vereinigung beider jedem Unterthanen sein Recht ertheilend sein“415. Alle drei Gewalten erfüllen demnach den Staatszweck distributiver Gerechtigkeit, das aber durch die „Vereinigung beider“ zuvor in Rede stehenden Gewalten, also der ersten und zweiten416. Neu ist hierbei, dass diese beiden Gewalten nicht nur einander untergeordnet, sondern eben auch vereinigt werden sollen. Durch wen dies zu geschehen hat, wird dabei freilich nicht explizit gesagt. Allerdings legt die Zweckbestimmung dieser „Vereinigung“ – „jedem Unterthanen sein Recht ertheilend [zu] sein“ – es nahe, dass es vor allem, wenn wohl auch nicht ausschließlich (s. u. (zu § 49,2)), die dritte Gewalt ist, welche die ersten beiden vereinigt. Nach § 45,2 ist sie es immerhin, die ausspricht, „was im vorkommenden Falle Rechtens ist“; sie ist es, die dem Untertanen in persona sein Recht erteilt. Ausführlicher: Die „rechtsprechende Gewalt“ subsumiert das „Gebot“ der vollziehenden (den „Untersatz“) unter das „Gesetz“ der 415

Die Formulierung „ertheilend sein“ wurde in der Akademie-Ausgabe in einer Konjektur gestrichen, Ludwigs Neuedition hat sie bewahrt, vgl. zur Diskussion hierüber Wolff 2013, 61, Fn. 7. Sinn ergibt die Formulierung, insofern die Infinitivform „sein“ das ‚sich in einem Zustand befinden‘ der drei Gewalten hervorhebt. 416 Abweichend: Thiele 2014, 128, Wolff 2013, 63, Fn. 10.

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souveränen Gewalt (den „Obersatz“) und spricht so im „Rechtsspruch“ (dem „Schlußsatz“) das aus, „was im vorkommenden Falle Rechtens ist“. Einerseits vereinigt sie so in ihrer besonderen Person die beiden ersten Gewalten zu einer Herrschergewalt, indem sie die zweite Gewalt der ersten unterordnet. Wie die einseitig-hierarchische Unterordnung der drei Gewalten strukturiert ist, wird also endlich klar: Die zweite Gewalt ist sowohl der ersten als auch der dritten untergeordnet, da beide die zweite von jeweils ihrer Seite in Schach halten; zugleich ist aber auch die dritte der ersten untergeordnet, weil sie ähnlich wie die zweite in ihrem Dienste steht, obgleich nur mittelbar. Die Unterordnung bildet also, mindestens vorrangig, die unilineare Rangfolge: gesetzgebende, rechtsprechende, und vollziehende Gewalt (1, 3, 2). Andererseits koordiniert die dritte Gewalt aber auch in ihrer Person durch ihre Vereinigungstätigkeit alle drei Gewalten zu einer „rechtserteilenden“ Herrschergewalt 417. So realisiert sich die Beiordnung der drei Gewalten zu einem souveränen „Willen in dreifacher Person“ (§ 45,2) – qua Unterordnung.

2.2 Zu Absatz 2: Die drei Gewalten als Staatswürden 2.2.1 Die perspektivische Lektüre In der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts haben die Staatsbürger wie gesagt als Glieder des souveränen Willens Verantwortung zu übernehmen für das geordnete Zusammenspiel der drei Gewalten – und das nach Auskunft des § 48,1 nun dadurch, dass sie über die Bei- und Unterordnung der Gewalten wachen. Zugleich müssen sie um der distributiven Gerechtigkeit willen aber auch Untertanen dieser Gewalten sein (§ 48,2). Aus genau dieser Sicht des Untertanen auf die Gewalten als (Status-)Würden („in ihrer Würde betrachtet“) wird es dann von den einzelnen Gewalten Verschiedenes „heißen“ – je nach dem, welcher Aspekt der Gewalt betrachtet wird, aber auch je nach dem, welche (gewalthabende) Person in den Blick genommen wird, so der zweite Absatz:

417

Vgl. Wolff 2013, 57.

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Erste Gewalt („Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2)) Betrachteter Aspekt der Gewalt: „der Wille […] in Ansehung dessen, was das äußere Mein und Dein betrifft“ Person, welcher der Aspekt zugehört: „[Aspekt] des Gese tzge b e rs (legislatoris)“ Prädikation über das Betrachtete: „ist untade lich (irreprehensibel)“

Zweite Gewalt („vollziehende Gewalt“ (§ 45,2)) Betrachteter Aspekt der Gewalt: „das Ausführungs-Vermögen“ Person, welcher der Aspekt zugehört: „[Aspekt] des Ob e rb e f ehls hab e rs (summi rectoris)“ Prädikation über das Betrachtete: „ist […] unw ide rst e hlic h (irresistibel)“

Dritte Gewalt („rechtsprechende Gewalt“ (§ 45,2)) Betrachteter Aspekt der Gewalt: „der Rechtsspruch“ Person, welcher der Aspekt zugehört: „[Aspekt] des obersten Richte rs (supremi iudicis)“ Prädikation über das Betrachtete: „ist […] unab ände rlich (inappellabel)“

Auffallend ist zuerst einmal, dass nur die erste Gewalt mit der Person identifiziert wird, in der sie laut der Exposition der drei Gewalten (in § 45,2) liegen (oder verkörpert sein) soll, sprich der Person des Gesetzgebers. Anders verhält es sich mit der zweiten und dritten Gewalt: Nicht mehr von der Person „des Regierers“ ist die Rede und auch nicht mehr von der „des Richters“ (tout court). Stattdessen wird von einem in den Blick fallenden Aspekt „des Oberbefehlshabers (summi rectoris)“ einerseits gesprochen, sowie andererseits von einem Aspekt „des obersten Richters (supremi iudicis)“. Wenn man also die zweite und dritte Gewalt „in ihrer Würde betrachtet“, schränkt man seine Sicht ein auf den jeweils obersten Regierer oder Richter. Das unterstreichen auch die nachgesetzten lateinischen Übersetzungen („summi“ – „supremi“). Warum das so ist, folgt unmittelbar aus der festgelegten Perspektive: Die zwei Gewalten sollen jeweils in ihrer

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(Status-)Würde betrachtet werden und das heißt in ihrer spezifischen Eigenschaft als Obere im Herrschaftsverhältnis. Alle zu der jeweiligen Gewalt gehörigen, aber an Ranghöhe unterhalb positionierten Träger staatlicher Gewalt fallen damit aus dem Blick. Eine weitere Differenz gegenüber § 45,2 ist daran zu erkennen, dass sich der jeweils betrachtete Aspekt nur im Fall der dritten Gewalt mit den oben angegebenen Sprechakten („Sätzen“) bezüglich der drei Gewalten deckt: Nicht das „Gesetz“ ist untadelig, sondern „der Wille des Gesetzgebers“, nicht das „Gebot“ ist unwiderstehlich, sondern „das Ausführungs-Vermögen des Oberbefehlshabers“ – doch „der Rechtsspruch des obersten Richters“ ist unabänderlich. Wenn man die Gewalten also „in ihrer Würde betrachtet“, fallen in zwei Fällen andere Aspekte in den Blick als diejenigen, die sich unmittelbar aus der Struktur des praktischen Syllogismus ergeben: „Wille“ und „Ausführungs-Vermögen“. In Abgrenzung zu „Gesetz“ und „Gebot“ sind „Wille“ und „Ausführungs-Vermögen“ nun aber grundlegende Vermögen einer Person. Damit sind sie Gewalten im Sinn von potestates (vgl. 48,1). In der Entgegensetzung von „Wille“ und „Ausführungs-Vermögen“ artikuliert sich die Differenz zweier Perspektiven: Betrachtet der Untertan die vollziehende Gewalt als bloßes Ausführungs-Vermögen, so beurteilt er sie in einem ganz physischen Sinn als „unwidersteh lich (irresistibel)“ – allein den Willen der souveränen Gewalt aber als moralisch, nämlich als „untadelich (irreprehensibel)“. Der Untertan wird also trotz der Koordination der drei Gewalten zu einer souveränen Herrschergewalt in seiner Relation zu ihnen jeweils grundverschiedene Perspektiven einnehmen und entsprechend jeweils verschieden urteilen, so die vorliegende Stelle. Anders sieht es wiederum aus, wenn derselbe Mensch als Staatsbürger von der Perspektive des Untertans zu der des Mitgliedes der souveränen Körperschaft übergegangen ist. Vom überlegenen Standpunkt der souveränen Gewalt und Staatswürde selbst aus wird das „Ausführungs-Vermögen“ des Oberbefehlshabers dann das dienende Vermögen eines zur Hand-Gehenden sein, der allein unter dem übergeordneten Willen der souveränen Körperschaft tätig sein darf. So kommt es aus dieser Perspektive (des vorigen Absatzes) nun nicht in Frage, das Vermögen des Oberbefehlshabers für sich selbst als „unwiderstehlich (irresistibel)“ zu beurteilen, sondern wohl eher als zweckmäßig oder -widrig.

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Entscheidend ist vielmehr, dass die zweite Gewalt im vorigen Absatz darauf festgelegt wurde, dass sie „unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet“ (Kursivdruck: M.W.). Denn das ist mehr als lediglich an „das Gesetz jenes Willens“ gebunden zu sein (vgl. § 45,2). Besagte Willens-Bedingung kann nämlich auch koordinierende Einzelhandlungen des Souveräns einschließen, die in der Beschränkung auf die Form des allgemeinen Gesetzes nicht denkbar sind. Solche Kompetenzen wird § 49,2 schließlich explizit dem souveränen Willen (und Volk) zuschreiben – die auszuüben das Volk als Souverän verpflichtet ist (s. u. (zu § 49,2)). Aber auch mit Blick auf die dritte Gewalt gilt, dass das Urteil über den Rechtsspruch, „unabänderlich“ im Sinn von inappellabel zu sein, vor allem vom Standpunkt des Untertanen aus von Belang ist. Schließlich steht dem Volk als Souverän ein Begnadigungsrecht (qua Machtspruch) zu, was die Ungebundenheit und Überlegenheit seines souveränen Willens auch in Bezug auf die dritte Gewalt demonstriert – so fraglich dieses Recht auch sein mag (vgl. Allg. Anm., E, II).

2.2.2 Probleme der nicht-perspektivischen Lektüre Unabdingbar ist es also, § 48 perspektivisch zu lesen. Welche genuin praktischen Schwierigkeiten eine nicht-perspektivische Lektüre für die Philosophie der Volkssouveränität mit sich bringt, wird vor allem mit Blick auf die (neueren) Auslegungen der Untadeligkeit deutlich, der Untadeligkeit als „Staatswürde“ des Souveräns und Gesetzgebers: 418 Solch eine quasi essentialistische Lesart führt bei den Interpreten zuerst einmal zur Feststellung, dass nicht von jedem Souverän eo ipso sinnvollerweise behauptet werden könne, er sei untadelig. Doch der (eine ideale) Souverän der Kantischen Philosophie der Volkssouveränität sei solch ein untadeliger Gesetzgeber. Das Rousseau’sche Gesetzgebungsverfahren, nach dem „ein jeder über Alle und Alle über einen 418

Wolff 2013, 62-66, Byrd/Hruschka 2010, 161-63. Untadelig zu sein hieß nach dem damaligen common sense-Verständnis, Adelung 1801, 894, „mit keinem Tadel behaftet“, aber auch unfähig zu sein, „mit Grunde getadelt zu werden“, wobei das Wort „Tadel“, Adelung 1801, 513, einerseits für eine „Unvollkommenheit“ oder einen „Fehler“ stand, andererseits für die „Entdeckung einer solchen Unvollkommenheit durch Worte“, welche die tadelnswerte Unvollkommenheit beantworten.

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jeden ebendasselbe beschließen“ (§ 46,1), verleihe dem Gesetzgeber nämlich die „Unfähigkeit, Unrecht zu tun“ – und deshalb sei der souveräne Wille „mit keinem Tadel behaftet“, also mit keiner „Unvollkommenheit“ und keinem „Fehler“ versehen, folglich untadelig. Vom Prinzip des volenti non fit iniuria, welches dem Verfahren zugrunde liegt, rühre es schließlich aber auch her, dass derjenige, der den souveränen Willen in seiner Würde betrachtet, ihn nicht mit Grund tadeln könne. Die „Entdeckung einer solchen Unvollkommenheit durch Worte“ sei ihm versperrt: „Accordingly [to „the principle volenti non fit iniuria“] for this lawgiver, any possibility of criticism is excluded. If every one of a people agrees to a law, then there is no one left (inside the state) to criticize this law“. Das aber ist höchst problematisch: Die Staatsbürger scheinen nun doch in Hobbes’ Autorisierungsfalle zu stecken – allen Vorkehrungen zum Trotz: „the will of the lawgiver cannot be criticized“419. Verleihe nämlich das demokratische Gesetzgebungsverfahren der Souveränität schlechthin die „Unfähigkeit, Unrecht zu tun“ 420, so müsse der Wille des Souveräns auch für diesen Souverän selbst notwendigerweise untadelig sein. Den Staatsbürgern wäre es zwar möglich, einmalig Gesetze zu geben, doch diese Gesetze könnten nicht mehr nachträglich korrigiert, durch bessere ersetzt oder einfach zurückgezogen werden. Denn wie sollte das ohne Kritik an den Gesetzen sowie (Selbst-)Kritik am (eigenen) gesetzgebenden Willen möglich sein? Kurz: Eine nicht-perspektivische Lektüre des § 48 führt die Kantische Philosophie der Volkssouveränität als Philosophie staatsbürgerlicher Praxis an einen toten Punkt,421 – was sich durch die von meiner Seite vorgeschlagene perspektivische Auslegung indes vermeiden lässt. Denn solange der Wille des Souveräns nur vom Standpunkt und aus der Perspektive der Staatsbürger als Untertanen als untadelig beurteilt wird, bleibt die staatsbürgerliche Praxis der Souveränitätsausübung rechtlich unbeschadet. Allerdings wird die nicht-perspektivische Lektüre vom Text stark suggeriert – und nur wenn man dieser Suggestion widersteht, ist die perspektivische Lektüre allererst möglich. 419

Byrd/Hruschka 2010, 162. Wolff 2013, 62. 421 Man könnte auch mit Dieter Henrich sagen, Kant habe „seine Rechtstheorie bis zur Konsequenz völliger Immobilität entwickelt“, 1976, 361. 420

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Bemerkt sei aber noch: Auch im Rahmen der perspektivischen Lektüre kann man sehr wohl so weit gehen und das Hobbes’sche Kritik- und Politikverbot422 ohne größere Bedenken als adäquate Auslegung der Untadeligkeit des souveränen Willens akzeptieren. Denn vom Gesichtspunkt der Gesetzesbefolgung (als Untertan) aus ist der gesetzgeberische Wille aufgrund der Logik der Untertanenrolle nicht zu kritisieren, in keinerlei Form. Entsprechend verweist Michael Wolff in seiner Interpretation der Untadeligkeit 423 zurecht auf die Stelle der Allgemeinen Anmerkung, in der es heißt, das Gesetz dieses Willens sei „so heilig (unverletzlich)“, „als ob es nicht von Menschen, aber doch von irgend einem höchsten tadelfreien Gesetzgeber herkommen müsse“, also dürfe (Allg. Anm., A,1). Das steht im Einklang mit vorliegender Stelle des § 48,2, derzufolge der souveräne Wille wie gesagt „untadelich (irreprehensibel)“ sein soll, womit auf eine absolute Distanz hingewiesen ist: Der herrschende Wille soll als Wille eines Anderen unfassbar und unangreifbar sein.424 Unter Voraussetzung der positional und relational bedingten Perspektive des Untertans muss die Untadeligkeit des souveränen Willens allerdings auch nicht zwingend auf das (Rousseau’sche) Verfahren der Willensbildung zurück geführt werden (wie vor allem Byrd und Hruschka annehmen). Damit würde dieses Verfahren nur weiter normativ aufgeladen und belastet werden, was den Intentionen des Kantischen ‚Staatsrechts‘ zuwiderläuft (s. o. (zu § 46,1, Kap. 3.1.2 b)). Um zu besagter Untadeligkeits-Aussage zu kommen, reicht es völlig, auf die Rolle und Perspektive des bloßen Untertanen zu rekurrieren, wie sie durch die vordemokratisch-neuzeitliche Souveränitätslehre gedacht wird – denn von dieser Perspektive aus betrachtet ist der Wille des Souveräns tatsächlich „untadelich (irreprehensibel)“. Doch die alleinige Perspektive ist das nach der Begründung der Volkssouveränität (in § 46) eben nicht mehr. Nun nämlich sollen die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts auch als Staatsbürger Glieder der souveränen Vereinigung sein und – selbst als Untertanen – den Stand- und Gesichtspunkt eines solchen Mitglieds immer wieder berücksichtigen.

422

Vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 29. Wolff 2013, 63, Fn. 9. 424 Vgl. auch TL, § 13,4. 423

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3. Zu § 49

1. Überblickschaffende Interpretation: Erster Zugang zur Lektüre § 49 ist der umfangsreichste Paragraph nicht nur des ersten Paragraphenblocks, sondern des ganzen ‚Staatsrecht‘-Textes. Doch nicht nur das. Was über die Rechtslehre im Großen gesagt wurde, lässt sich auch über § 49 im Kleinen behaupten: 425 dass dieser Paragraph „spröde“, „sperri[g]“, „kompositorisch unausgewogen und bisweilen fahrig in der Gedankenführung“ ist sowie „dem Leser die Hilfe einer deutlich heraustretenden Argumentationsarchitektonik verwehrt“. So steht am Anfang des letzten seiner vier Absätze zwar eine Konklusion, die zur Erwartung berechtigt, dass in den vorigen drei Absätzen vorrangig jeweils eine der drei Gewalten behandelt wird, zuerst die erste, dann die zweite und schließlich die dritte. Damit wäre § 49 nach der (Brandt’schen) Formel der Gewaltengliederung selbst organisiert (1, 2, 3 / 4) und brächte diese Ordnung zugleich selbst zur Darstellung. Schließlich wird in besagter Konklusion die vertraute und in § 45,2 exponierte Rangfolge der drei Gewalten wieder namentlich aufgeführt: „Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat“. Doch die Erwartung wird nicht erfüllt. Der erste Absatz des § 49 beginnt nicht mit der ersten Gewalt und der zweite auch nicht mit der zweiten, auch wenn der dritte Absatz vorrangig die dritte Gewalt zum Gegenstand hat. Stattdessen setzt der erste Absatz mit der zweiten Gewalt ein. Damit die an sich ganz vernünftige Erwartung doch nicht ins Leere läuft, hat Bernd Ludwig in seiner Neuedition § 49 bekanntlich in zwei Paragraphen aufgeteilt und hinter § 46 gesetzt, sodass dem Wortlaut der Konklusion entsprechend schlussendlich doch jeder Gewalt nach der erwarteten Rangfolge (1, 2, 3) ein eigenständiger Paragraph zukommt.426 Bei einer genaueren Lektüre zeigt sich jedoch, dass § 49 in gewisser Weise tatsächlich nach der Formel 1, 2, 3 / 4 organisiert und codiert ist, obgleich auf eine komplexere Art und Weise – einer Lektüre 425 426

Kersting 1984, 71. Vgl. Ludwig 1988, 77.

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freilich, die nicht mehr möglich ist, wenn man den Text nach ebendieser Formel zuvor so umorganisiert hat, wie es in der Edition Ludwigs geschehen ist. Zu besagter Lektüre gehört zuallererst, dass man § 49 in Anschluss an § 48 lesen muss, will man ihn verstehen, – was eben nicht möglich ist, wenn man zwischen die §§ 48 und 49 den (dann nicht mehr zentralen) § 46 schiebt. Geht man hingegen von § 48 aus, dann ist klar, dass man in § 48 keine einfache Darstellung der drei Gewalten nach der Rangfolge 1, 2, 3 erwarten kann. Vielmehr ist in der Lektüre des § 48,1 eine ganz andere Rangfolge erkennbar, die dort aus den hochkomplexen Ordnungsbestimmungen resultiert: Die Beiordnung der drei Gewalten zu einem souveränen „Willen in dreifacher Person“ (§ 45,2) realisiert sich durch die Unterordnung aller drei Gewalten; doch die ist vorrangig eine unilineare nach der Rangfolge 1, 3, 2, insofern die zweite Gewalt unter die erste untergeordnet werden soll, und zwar letztlich durch die Tätigkeit der dritten, welche die beiden ersten Gewalten zu vereinigen hat. Von der praktisch-institutionellen Realisation dieser komplexen Ordnung der drei Gewalten werden schließlich die ersten drei Absätze des vorliegenden § 49 handeln. Dabei sind die umfangreichen Ausführungen dieser drei Absätze durchaus numerisch codiert: Die ersten beiden Absätze handeln von der Realisation jener in § 48,1 zentralen Unterordnung der zweiten Gewalt unter die erste; der dritte Absatz vorrangig von der dritten Gewalt, welche die ersten beiden Gewalten vereinigen soll. Doch die Ordnung allein ist nicht das Thema des § 49, sondern vielmehr die drohende Auflösung derselben, der zu entgegnen schließlich besagte Grundsätze der praktisch-institutionellen Realisation der Willens-Ordnung (in den ersten drei Absätzen) aufgestellt werden. Und genau darum kommt (im vierten Absatz) die „vierte Größe“ ins Spiel: der vorausliegende Faktor, der für die Einheit der Dreiheit verantwortlich ist,427 – aber eben auch für die Desintegration der Dreiheit und die Auflösung der Ordnung. Diese vierte Größe ist keine andere als die Volkssouveränität selbst, nun jedoch in ihrer fundamentalsten Form: als Vermögen des Volkes, darüber zu verfügen, ob es als Bürgerschaft („civitas“) durch die ‚ordnungsgemäße‘ Trennung und Vereinigung der drei Gewalten seine Autonomie hat, oder diese eben nicht (rechtmäßig) betätigt. 427

Vgl. Brandt 1998, 15 f.

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Lesbar wird dieser Zusammenhang in § 49 durch die charakteristische Architektonik des Paragraphen – buchstäblich unlesbar aber durch die Aufspaltung des § 49 in zwei separate Paragraphen mit jeweils zwei Absätzen. So ist das Charakteristikum der Architektonik des § 49, dass die Formel 1, 2, 3 / 4 nicht nur tatsächlich die Form der Darstellung ist, insofern die ersten drei Absätze offensichtlich vom vierten Absatz abgegrenzt sind, sondern dass eben diese Form der Darstellung auch diejenige der vier Sätze des ersten Absatzes ist. Auch hier bilden die ersten drei Sätze einen homogenen Zusammenhang, von dem sich der vierte Satz sowohl stilistisch als auch thematisch ganz offensichtlich abhebt. Damit verweist der erste Absatz im Kleinen auf die Struktur des Paragraphen im Großen – und in der Interpretation dieses Verweisungszusammenhangs lässt sich § 49 auf eine sinnvolle Art und Weise auslegen. Genauer: Der erste Absatz bestimmt in seinen ersten drei Sätzen die zweite Gewalt dahingehend, dass sie der ersten zur Hand geht und somit den in § 48,1 zentralen Punkt der Unterordnung realisiert. In Abgrenzung dazu problematisiert der vierte Satz hingegen eine Regierung, die auf verkehrte Weise organisiert ist, nämlich so, dass sie der ersten Gewalt nicht zur Hand geht, sondern deren Souveränität usurpiert und folglich die Gewaltengliederung auflöst, – und damit letztlich die Volkssouveränität. Folgt man aber dem numerisch codierten Verweisungszusammenhang, indem man vom vierten Satz des ersten Absatzes zum vierten Absatz übergeht, so sieht man, dass für das im ersten Absatz identifizierte Problem (der despotischen Regierung) das Volk selbst als Ursache angeführt wird: Von den Staatsbürgern und deren Einstellung zu ihrer Freiheit und Autonomie hängt es ab, ob die civitas ihre Autonomie hat, oder ob sie diese Autonomie unter einer despotischen Regierung verlieren will. Der Verweisungszusammenhang deutet damit auf die Notwendigkeit einer rückwirkenden Gegenlektüre des letzten Satzes im ersten Absatz hin, der von der despotischen, die (Volks-)Souveränität usurpierenden Regierung spricht, deren Prinzip es sei, „Bürger als Kinder zu behandeln“. Denn für sich genommen suggeriert der erste Absatz, dass der ersten Gewalt durch die zweite einseitig Unrecht geschieht: Die zweite Gewalt ist als Usurpator der Thronräuber, und als Räuber eben auch Täter; die erste hingegen als beraubte das Opfer. Ist das Dasein der Bürger unter einer solchen Regierung dem vierten Absatz zufolge nun auch auf den staatsbürgerlichen

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brauch zurückzuführen (namentlich auf: Vorrang für „das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit“), so muss das im ersten Absatz suggerierte Täter-Opfer-Narrativ einer Kritik unterzogen werden. An diese Problematik knüpft auch der zweite Absatz direkt an. Hier werden der ersten Gewalt Kompetenzen zugesprochen, kraft deren sie eigenverantwortlich darüber wachen kann, dass ihr die zweite Gewalt untergeordnet bleibt und diese somit nicht zum Thronräuber wird. Allerdings spricht der zweite Absatz der ersten Gewalt auch eine Kompetenz gegenüber der zweiten ab, kraft deren sie ebendiese an sich reißen und somit selbst die Gewaltengliederung auflösen würde. Diese Kompetenz ist das Strafen. So berechtigt es auch sein mag – vor allem im Fall eines versuchten Thronraubes –, das souveräne Volk würde sich mit dieser Tätigkeit (des Strafens) doch in Begriff setzen, seine eigene Freiheit und Autonomie auflösen zu wollen. In der Lektüre der ersten beiden Absätze ist folglich eine Überkreuzung der Konfliktlinien zu verzeichnen: In Anbetracht des Problems einer despotischen Regierung ist das Volk nicht nur einseitig als Opfer zu betrachten, sondern vielmehr hat es sich selbst als Souverän in Verantwortung zu ziehen. Zufällig ist es darum nicht, dass der dritte und komplexeste Absatz zwar auf eine Praxis unvermittelter Volksjustiz anspielt, der Sache nach jedoch eine Institutionalisierung der dritten Gewalt begründet, die solch eine Praxis entschieden verhindert. Denn auch in der Praktizierung einer derart fragwürdigen Form der Justiz würde das Volk selbst es wieder sein, das die Gewaltengliederung auflöst und auf diese Weise die Form seiner öffentlich-rechtlichen Autonomie verneint. Interessanterweise ist das, was dabei dann an die Stelle der unvermittelten Volkssouveränität gesetzt wird, ein Justiz-System, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die Abordnung und Delegation von Stellvertretern durch das Volk selbst erfolgt. In Vorgriff auf § 52,3 lässt sich von einem „repräsentative[n] System des Volks“ sprechen428 – ein System jedoch, das seinen Sinn ironischerweise darin 428

§ 49 steht damit tatsächlich, wie Hirsch kritisch anmerkt, 2017, 327, einschl. Fn. 298, in Widerspruch zur (vermeintlichen) Gesamt-Architektonik des ‚Staatsrechts‘, soll ihr zufolge doch der erste Paragraphenblock nur den nicht-repräsentativen Staat in der Idee zur Darstellung bringen und erst darauf, in einem zweiten Teil, dessen Verwirklichung in einem repräsentativen Staat thematisieren.

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hat, das Volk davon gerade abzuhalten, seinen Willen in Rechtsangelegenheiten auf (potentiell) unrechtmäßige Weise geltend zu machen, und so letztlich die Autonomie seines Willens zu verneinen. Architektonisch bedeutsam ist aber auch die numerische Codierung der praktisch-philosophischen Arbeit im dritten Absatz. Denn zuallererst steht die Zahl Drei nach der trivialen Rangfolge der drei Gewalten für die dritte Gewalt (vgl. § 45,2 und § 49,4). Doch im weiteren Verlauf des ‚Staatsrechts‘ fungiert die Zahl Drei auch als Wiedererkennungszeichen für das Thema der Repräsentation des Volkes durch Stellvertreter kraft Abordnung und Ernennung. Schließlich ist § 49,3 die einzige Stelle des ‚Staatsrechts‘, welche diese Repräsentation explizit begründet und staatsrechtlich affirmiert, doch wohlgemerkt nur für die dritte Gewalt. Fortan wird es präzise drei Stellen geben in denen das Thema der Repräsentation des Volkes im jeweils dritten Teil eines Textabschnittes explizit behandelt wird (Allg. Anm., A,3 und B,3 sowie § 52,3). Das aber ergibt wiederum, § 49,3 miteinkalkuliert, die Zahl Vier, weshalb sich von § 49 aus erneut die Frage nach der Formel 1, 2, 3 / 4 stellt. – Doch nun zuerst eine genauere Lektüre des Paragraphen.

2. Interpretation der einzelnen Absätze in textnaher Lektüre 2.1.Zu Absatz 1 Der erste Absatz des § 49 besteht aus vier Sätzen, wobei die ersten drei sich vom vierten allein schon durch das Textvolumen abgrenzen, das letzterer einnimmt. Der vierte Satz nimmt beinahe so viel Raum ein wie die ersten drei zusammen. Allerdings bilden die ersten drei Sätze auch dadurch einen Zusammenhang, dass in ihnen namentlich dasselbe Subjekt staatsrechtlich bestimmt wird. Das ist der am Anfang des Absatzes positionierte und neu eingeführte „Regent des Staats (rex, princeps)“. Von diesem Zusammenhang grenzt sich der vierte und letzte Satz dadurch ab, dass dessen Subjekt augenscheinlich ein anderes ist. Aber auch der Stil der staatsrechtlichen Bestimmung ist dort nicht mehr durch die Selbstgewissheit einer Rechtslehre gekennzeichnet: „Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein, unter welcher aber nicht eine väterliche (regimen paternale) […], sondern vaterländische (

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men civitatis et patriae) verstanden wird“ (Kursivdruck: M.W.). Der rhetorische Modus ist hier derjenige einer im Irrealis vorgetragenen Erwägung („wäre, würde“), die zudem scheinbar nur das Verständnis Anderer referiert („unter welcher […] verstanden wird“). Diesen Stil indes als Zeichen staatsphilosophischer Unsicherheit auszulegen, wäre unangebracht. Dem ersten Glied des ersten Satzes zufolge ist der „Regent des Staats (rex, princeps)“ zuerst einmal „diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt“.

Zum einen wird mit dieser anfänglichen Bestimmung eine neue Figur ins ‚Staatsrecht‘ eingeführt: der „Regent des Staats (rex, princeps)“; zum anderem soll dieser Figur eine Gewalt zukommen, von der bisher ebenfalls noch nicht die Rede war: „die ausübende Gewalt (potestas executoria)“. Im Hinblick auf die zweite Gewalt kannte das ‚Staatsrecht‘ bisher nur einerseits die Person „des Regierers“, in dessen Händen „die vollziehende Gewalt“ liege, die „potestas […] rectoria“ (§ 45,2), sowie andererseits die Person des „Oberbefehlshabers (summi rectoris)“ (§ 48,2). Wodurch sich der Regent nun von einem Regierer abgrenzt, verdeutlichen die nachgesetzten lateinischen Bezeichnungen rex und princeps: Ein Regierer ist nur ein Lenker und Leiter, der Regent hingegen als rex der König und als princeps der Erste (Mann) im Staat.429 Zugleich sind die Ausdrücke „ausübende Gewalt (potestas executoria)“ und „vollziehende Gewalt“ („potestas […] rectoria“) nicht gleichbedeutend und werden auch nicht als gleichbedeutend verwendet: „Der heute allgemein eingeschliffene Wortgebrauch, nach dem »Regierungsgewalt« und »Exekutive« gleichbedeutende Wörter sind, ist jedenfalls nicht Kants Wortgebrauch“.430 Den staatsrechtlichen Komplex, der mit diesem Wortgebrauch artikuliert und in den ersten drei Sätzen des vorliegenden § 49,1 angedeutet wird, kann man mit Michael Wolff wie folgt verstehen: 431 Zum einen ist der Regent (§ 49,1) vom Regierer (§§ 45,2 und 48,2) zu unterscheiden, wie auch die „ausübende Gewalt (potestas executoria)“ (§ 429

Vgl. das englische first, Adelung 1796, 369. Wolff 2013, 64. 431 Wolff 2013, 64. 430

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49,1) von der „vollziehende[n]“ („potestas […] rectoria“) (§ 45,1); zum anderen ist jedoch die ausübende Gewalt unter die vollziehende Gewalt zu subsumieren sowie der Regent mit dem höchsten Regierer zu identifizieren. Denn zum einen ist die Funktion der Gesetzesausführung durch die ausübende Gewalt getrennt von der Funktion der Steuerung und Lenkung durch die „Staatsverwaltung (gubernatio)“ (Satz 3); aber auch der rector et gubernator civitatis als „Steuermann“ und „Richtungsgeber“ ist vom „ex(s)ecutor“ als demjenigen zu unterscheiden, der dafür sorgt, dass höheres Gesetzeswerk ausgeführt wird. Zum anderen sind jedoch beide Gewalten trotz ihrer Differenz „Funktionen der »vollziehenden Gewalt«“; und auch die personale Trennung von executor und rector kann als in der Person des summus rector zusammenfallend gedacht werden. Regent (§ 49,1) und Oberbefehlshaber (§ 48,2) sind zu identifizieren. Ähnlich wie der Anfang des § 48 mittels identischen Wortlauts an die einleitenden Worte des vorigen § 47 anknüpfte, so verweist die vorliegende Eingangsstelle auf die zu Beginn des § 46 plazierte These der Volkssouveränität zurück, und zwar mit dem Verb zukommen: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“ hieß es dort; und das heißt, die (souveräne) erste Gewalt kann ausschließlich dem Willen einer Gruppe natürlicher Personen zukommen. Nun lautet es aber umgekehrt, dass der „Regent des Staats (rex, princeps) […] diejenige (moralische oder physische) Person [ist], welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt“. Gesagt wird damit lediglich, dass dem Regenten als Person überhaupt eine bestimmte Gewalt zukommt und das heißt unbestimmt welcherlei Art Person er sein mag: Er kann eine „moralische oder physische“ sein. Das kann man vorläufig so verstehen, dass er eine natürliche Person sein kann (ein rex), oder auch eine juristische (eine Körperschaft, ein Direktorium). Auf diese Weise wird in § 49 gleich zu Beginn ein erster Anfangsgrund der Regierung vorgelegt: Es ist normativ-unbestimmt, welche Person das Amt des Regenten ausüben und welcher folglich die ausübende Gewalt zukommen soll. Mit diesem Anfangsgrund wird das ‚Staatsrecht‘ auf eine personal unbestimmte Regierungslehre Rousseau’scher Provenienz (Contrat Social, Buch III) festgelegt. Deren polemische Pointe ist, dass der König (rex) oder Fürst (princeps), ganz gegen die common-sense-Bedeutung der Worte, kein einzelner Mensch sein muss. Man kann festhalten: Der strukturgleiche Beginn des

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leren und letzten Paragraphen des ersten Paragraphenblockes deutet auf eine fundamentale und letztlich auf die Rousseau’sche Differenz hin, die zwischen den Anfangsgründen der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt besteht. Nach einem Kolon setzt das zweite Satzglied des ersten Satzes die Bestimmung des Regenten in einer Ausführung des zuvor Gesagten fort. Ihr zufolge ist der „Regent des Staats“ zugleich der „Agent des Staats“, der wiederum auf zwei Tätigkeiten (a und b) festgelegt wird: „Der Regent des Staats (rex, princeps) ist […]: der Age nt des Staats, der [a] die Magisträte einsetzt, [b] dem Volk die Regeln vorschreibt, nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben), etwas erwerben, oder das Seine erhalten kann“.

Wenn es heißt, der „Regent des Staats“ sei zugleich der „Agent des Staats“, so ist zuerst einmal die Genitivkonstruktion in ihrer Doppeldeutigkeit zu beachten: Einerseits ist der Regent der „Regent des Staats“, weil er das (auch Staat genannte) Volk regiert (genitivus subjectivus). Entsprechend ist er dessen „Agent“ in dem Sinn, dass er das Volk quasi als Objekt aktiv in Bewegung setzt; im Wort „Agent“ steckt das lateinische agere und agens. Der Regent ist aber auch der „Regent des Staats“, insofern er eine Person und Institution ist, die vom Volk als Subjekt (als Staat) eingesetzt wurde und in dessen Dienst steht (genitivus objectvus). So heißt „Agent“ schließlich auch Mittelsmann oder (Ver-)Mittler: „ein jeder, der eines andern, besonders eines Höhern Privat-Geschäfte an einem Orte besorgt“. 432 In diesem Sinn ist der Regent andererseits – im Anschluss an die zentrale Bestimmung des vorigen § 48,1 – der „Agent des Staats“ insofern er dem Volk und Staat als souveräner Körperschaft „zur Hand geht“ und dadurch untergeordnet ist. Der genetivus objectivus in der Rede vom Regenten und Agenten „des Staats“ stellt an dieser Stelle den Bezug zum Praxiszusammenhang der Volkssouveränität her, der zugleich in den übergreifenden Zusammenhang der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts eingebettet ist. Im Hinblick auf letzteren ist zuerst einmal unmittelbar einleuchtend, warum nach § 48 nun der Regent als Spitze der zweiten Gewalt staatsrechtlich bestimmt wird. Die zweite Gewalt stand 432

Adelung 1793, 182.

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nämlich in ihrer Festlegung als zur Hand gehende Gewalt im explizit hervorgehobenem Zentrum des § 48,1 und den dortigen Bestimmungen der Gewaltentrias. Von dieser Festlegung aus sind an vorliegender Stelle nun einerseits die zwei Tätigkeiten des Regenten als Agenten des Staates zu deuten, andererseits aber auch der eben besprochene erste Anfangsgrund der Regierung. Denn dadurch, dass dieser Anfangsgrund es offen lässt, wem die Spitze der zweiten Gewalt zukommt, räumt er zugleich dem souveränen Volk ein, nach Belieben zu entscheiden, wer ihm als Regent und Agent zur Hand geht – das indes im rechtlich-normativen Rahmen der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts. Die erstgenannte Bestimmung des Regenten und Agenten, derjenige zu sein, „der die Magisträte einsetzt“, ist vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts als Anleitung zu verstehen, wie die zur Hand gehende Gewalt institutionell eingerichtet werden muss. Die in § 48,1 in ihrer Ordnung festgelegte Gewaltentrias soll in der Befolgung des Postulats schließlich auch wirklich werden, was das Wissen über genuin staatstechnische Organisationsfragen voraussetzt. Hierzu ist nun zu zählen, dass der Regent „die Magisträte einsetzt“, aber auch (als Oberbefehlshaber) „Befehle an […] die Magisträte […] und ihre Obere (Minister)“ richtet, „welchen die Staatsverwaltung (gubernatio) obliegt“ (Satz 3). Dem Regenten untersteht demnach als höchstem und übergeordnetem Regierer die gesamte Staatsverwaltung, in welcher wiederum die Minister den Magistraten übergeordnet sind. Diese Magistrate sind die eigentlichen Regierer des Staates, die das Volk unmittelbar lenken, leiten und steuern – gubernatio ist im Lateinischen gleichbedeutend mit rectio und heißt Steuerung, Lenkung, Leitung, aber auch Regierung. In diesem institutionellen Kontext ist der Regent schließlich auch insofern der „Agent des Staats“, als er der Mittelsmann zwischen dem Volk (als souveräner Körperschaft) und dessen eigentlichen Lenkern, Leitern und Regierern ist. Dass der Regent dem souveränen Volk und Staat als sein Regent und Agent „zur Hand geht“, muss allerdings auch in Rückbezug auf den Gedanken verstanden werden, dass sich das Volk durch die drei Gewalten „selbst zu einem Staat constituirt“ (§ 47) und dass durch diese drei Gewalten der „Staat seine Autonomie hat, d. h. sich selbst […] bildet und erhält“ (§ 49,4). Darum kann das ‚in Bewegung setzen‘ des Volkes durch den Regenten als Agenten nicht als lediglich

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passiv-mechanische Behandlung gedacht werden. Entsprechend lautet die zweite Bestimmung des Regenten als Agenten des Staats, dass er „dem Volk die Regeln vorschreibt, nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben), etwas erwerben, oder das Seine erhalten kann“ (Kursivdruck: M.W.). Zwar handelt es sich beim Vorschreiben dieser Regeln um „Befehle an das Volk“ (Satz 3), also immer noch um Herrschaftsakte. Aber diese Befehle sind solche, die allein der Autonomie und Autokratie des Volkes dienen, – wobei wohlgemerkt nicht das zum Souverän vereinigte Volk gemeint ist, sondern die „vereinzelt[e] Menge ebendesselben“ als Untertanen (vgl. § 47). Der Regent schreibt dem vereinzelten Volk nämlich nur solche Regeln vor, nach denen jeder Staatsbürger selbst und eigenverantwortlich seine Rechtsangelegenheiten betätigen kann – in praktischen Syllogismen, kraft Subsumptionen unter selbstgegebene Gesetze –,433 ganz im Einklang mit dem Grundsatz der „Undelegierbarkeit der eigenen Urteilsfreiheit“ 434. Insofern der Regent dem souveränen Volk auf diese Weise „zur Hand geht“, trägt er schließlich dazu bei, dass sich der Grundgedanke der Kantischen Lehre von den Staatswürden realisieren kann. Denn durch die Trennung, Koordination und Vereinigung der drei Gewalten nach der Struktur des praktischen Syllogismus soll wie gesagt die Autonomie und Autokratie des Staates mit der des Menschen im Staat zusammenfallen können – und damit auch die Staats- und Statuswürde des Souveräns mit der Freiheits- und Menschenwürde eines jeden Einzelnen im Staat (s. o. (zu den §§ 47 und 48)). Mit dem herkömmlichen Bild und Verständnis der Herrschaft eines rex oder princeps hat diese Art zu regieren freilich nur noch wenig zu tun – man bedenke, dass nach traditioneller Vorstellung und Staatspraxis der Souverän und oberste Regierer personal identisch waren.435 Deshalb hat man es an vorliegendem Punkt mit einer weiteren Neubestimmung eines historisch gegebenen Begriffs der Staatslehre und Staatspraxis zu tun, wie sie für das Kantische Projekt einer Metaphysik der Freiheit charakteristisch ist. Diese Neubestimmung ist mit dem ersten Satz allerdings bei weitem noch nicht beendet, sondern 433

Byrd/Hruschka 2010, 149-157, insb. 152 f. einschließlich Fn. 49. Vgl. Brandt 2003, 95. 435 Das Problem wird auch heute noch als virulent angesehen, vgl. Agamben 2004, 9 ff. 434

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lediglich in nuce darin angelegt. Explizit erfolgt sie erst im weiteren Verlauf des Absatzes; und letztlich ist in ihr die primäre Arbeit des § 49,1 zu sehen: Der historisch gegebene Begriff des Regenten wird hier so neu bestimmt, dass der Regent – die zentrale Bestimmung des § 48,1 realisierend – der souveränen Gewalt „zur Hand geht“, anstatt sie zu „usurpiren“ (vgl. § 48,1). Aus der herkömmlichen Form der Lenkung, Leitung und Regierung, dem regimen paternale, soll eine unkonventionell-bürgerschaftliche werden, ein regimen civitatis et patriae (Satz 4). (Zu Satz 2:) Ein wichtiger Schritt in der Neubestimmung des Begriffs des Regenten als rex und princeps erfolgt im zweiten Satz: „Als moralische Person betrachtet, heißt er [der „Re ge nt des Staats (rex, princeps)“] das Dire ctorium, die Regierung“.

Dass Kant mit der Rede vom „Directorium“ auf die französische Revolutionsverfassung von 1795 anspielt, wurde in der Literatur bereits öfter bemerkt.436 Gedanken über die rhetorisch-polemische Pointe der Anspielung blieben bisher indes aus. Das liegt letztlich wieder einmal daran, dass der Perspektivismus nicht beachtet wurde, der mit dem vorliegenden Satz ins Werk gesetzt ist. Er besagt schließlich nicht, dass der Regent, sofern er eine moralische Person ist, Direktorium und Regierung heißt; sondern der Regent heißt so, wenn er als solch eine moralische Person betrachtet wird, so lautet es. Diesen Perspektivismus zu deuten, ist allerdings schwierig. Denn er ist unverträglich mit der Standard-Auslegung, derzufolge der Regent dann Direktorium oder Regierung heißt, wenn er eine moralische Person im Sinn einer juristischen Person oder Körperschaft ist.437 Verkürzt ist diese Deutung auch, da der Bezugspunkt vorliegenden Satzes immer noch der Regent (des vorigen Satzes) ist, welcher als rex und princeps ebenso eine „moralische oder physische“ Person sein kann (Kursivdruck: M.W.). Sofern man diesen nun – der eben sowohl eine „moralische oder physische“ Person sein kann – „[a]ls moralische Person betrachtet“ (Kursivdruck: M.W.), heiße er Direktorium und Regierung. Auch wenn der Regent also keine Körperschaft ist (keine moralische oder juristische Person), sondern ein herkömmli436 437

Vgl. Thiele 2003, 53, Wolff 2013, 64. Wolff 2013, 58, 62 f., Thiele 2014, 125 f.

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cher König (rex), also eine physische Person (ein einzelner Mensch), heißt er „[a]ls moralische Person betrachtet“ Direktorium und Regierung. Wie ist das zu verstehen? Der Kantische Begriff von einer moralischen Person ist denkbar weit gefasst und umfasst eben nicht nur den Begriff einer juristischen Person, verstanden als Körperschaft. So ist nach Auskunft der Einleitung in die Metaphysik der Sitten (IV, AB 22 f.) der Begriff der moralischen Person mit dem der Person überhaupt identisch.438 Denn ohne die moralische Persönlichkeit (die Eigenschaft, die eine Person zur Person macht) kann keine Person als solche bestehen; mangelt es an ihr, so hat man es nicht mit einer „Person“ zu tun, sondern mit einer „Sache“ (EMdS, IV, AB 22 f.). Wenn man nun den Regenten des Staats, also den rex und princeps, „[a]ls moralische Person betrachtet“, so kann das nach dem Personenbegriff der Einleitung auch bedeuten, dass man ihn als Person überhaupt betrachtet – und damit unabhängig davon, ob er eine physische Person ist, also ein einzelner Mensch, oder nicht. Was damit tatsächlich in den Blick genommen wird, ist das Substrat der Person. Und genau dann, wenn man den „Regent[en] des Staats (rex, princeps)“ nur im Hinblick darauf betrachtet, heißt er „das Directorium, die Regierung“. Mit der Einnahme dieser Perspektive läutert sich darum der Begriff des Regenten als rex und princeps. Denn traditionell gesehen muss man sich beiden Worten zufolge selbstverständlich eine einzelne physische Person vorstellen. Nach den Anfangsgründen des Rechts ist das jedoch letztlich eine unerhebliche Perspektive: Der Regent muss eine Person überhaupt sein, aber nicht notwendig eine physische (Satz 1). Und wenn man ihn nur als solch eine Person überhaupt betrachtet, und das heißt als rein-moralische Person, so ist er ganz abstrakt „das Directorium, die Regierung“ zu nennen. Mit dieser Deutung liegt schließlich auch die rhetorisch-polemische Pointe der Anspielung auf die französische Revolutionsverfassung offen zutage: Der Regent des Staats ist nach den Anfangsgründen des ‚Staatsrechts‘ nur eine Regierung oder ein Direktorium im Sinn besagter Revolutionsverfassung – auch wenn er de facto ein rex oder princeps nach alt-ehrwürdiger Vorstellung ist. Umgekehrt ist jedoch auch jedes Direktorium im Sinn der Verfassung von 1795, also jede körperschaftlich organisierte Regierung ein rex und princeps in der 438

Vgl. Sudakow 2013, 214.

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aufgeklärten Bedeutung der Anfangsgründe des ‚Staatsrechts‘. Letztlich steht § 49,1 damit im Dienst des Rousseau’schen Projekts der Umdeutung der traditionellen Begriffe der Regierungslehre. So nannte Rousseau selbst die einfachen Magistrate „Könige“ („Rois“) oder „Regierer“ („Gouverneurs“), aber noch wichtiger: die Regierung als Körperschaft „Fürst“ („Prince“).439 (Zu Satz 3:) Der dritte Satz bestimmt die Herrschaftstätigkeit des Regenten schließlich normlogisch und zwar dahingehend, dass dieser nicht „zugleich gesetzgebend“ ist. Entgegen der traditionellem Staatspraxis darf der Regent nicht Regent und Gesetzgeber in einer Person sein, sondern muss dem Gesetzgeber untergeordnet bleiben – wie es § 48,1 vorsieht. Diese Bestimmung kann man als zweiten Anfangsgrund der Regierung deuten: „Seine Bef ehle […] sind Verordnungen, De crete (nicht Gesetze); denn sie gehen auf Entscheidung in einem besonderen Fall, und werden als abänderlich gegeben“.

Entscheidend ist hier die normlogische Differenz, die wieder – scheinbar beiläufig – in einer Klammer präsentiert wird: Weil die „Befehle“ des Regenten „nicht Gesetze“ sind, sei er nicht „zugleich gesetzgebend“. Letzteres ist jene in § 48,1 in Rede stehende „Function“ der ersten Gewalt, welche die zweite Gewalt nicht „usurpiren“ darf. Denn damit würde sie nicht nur die Gesetzgebungskompetenz an sich reißen, sondern die ganze „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2, vgl. § 48,1). Würde der Regent Gesetze geben, wäre er der Souverän. Stattdessen hat der Regent nach vorliegender Stelle – wieder zufolge § 48,1 – sein „eigenes Princip“, kraft dessen er „in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet“. Denn dieses Prinzip ist darin zu sehen, dass der Regent zum einen in einzelnen Fällen und für einzelne Fälle Entscheidungen trifft – ein Dekret ist nach der lateinischen Herkunft des Wortes „ein Ausspruch, eine Entscheidung oder ein kurzer Entschluß“440 –, die zum anderen, insofern sie unter (allgemeinen) Gesetzen stehen, an (allgemeine) Gesetze gebunden und folglich nicht selbst (allgemeine) Gesetze sind – das wiederum impliziert der Begriff einer Verordnung. Unter dieser Bedingung „kann“ er nicht zu439 440

Rousseau, Contrat Social, III, 1,6, vgl. Meier 2013, 195, 200, 202. Adelung 1793, 1432.

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gleich die „Function“ der souveränen Gewalt „usurpiren“; stattdessen geht er ihr „zur Hand“ und ist ihr dadurch untergeordnet, zufolge § 48,1. Nach vorliegendem Satz richten sich die Befehle des Regenten aber nicht nur „an das Volk“, sondern an sämtliche Amtsträger der zweiten Gewalt: „an […] die Magisträte, und ihre Obere (Minister), welchen die Staatsverwaltung (gubernatio) obliegt“. Dadurch ist er als Oberbefehlshaber für die ganze zweite Gewalt verantwortlich, die ihm untergeordnet ist – und letztlich dafür, dass diese in toto dem Souverän „zur Hand geht“ und ihm dadurch untergeordnet bleibt. Kurz, er ist gänzlich mit Blick darauf konzipiert, die zentrale Bestimmung des § 48,1 zu realisieren: die Unterordnung. (Zu Satz 4:) Im vierten und letzten Satz wird die Arbeit am Begriff des Regenten und der Regierung zu einem Ende geführt – nur zu einem vorläufigen, wie sich versteht. Auch dies geschieht in Auseinandersetzung mit sowie als Weiterbestimmung von historisch gegebenen Begriffen des Staatsdenkens. Ausgangspunkt und (Satz-)Subjekt ist dabei allerdings nicht wie in den drei vorigen Sätzen einfach nur der Regent oder die Regierung. Es ist „[e]ine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre“. Mit anderen Worten: Der Ausgangspunkt ist ein Regent oder eine Regierung, die dem unmittelbar zuvor dargelegten (zweiten) Anfangsgrund der Regierung sowie der zentralen Bestimmung des § 48,1 nicht entspricht, dagegen aber dem historischen starting point. Wie und „im Gegensatz“ zu welcher Regierung eine solche nun „zu nennen“ sei, besagt die im Irrealis präsentierte Hauptaussage des Satzes: „Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein, im Gegensatz mit der patriotischen“. Im anknüpfendem Relativsatz wird dann allerdings darauf hingewiesen, dass man die letztgenannte patriotische Regierung nicht als „väterliche [Regierung] (regimen paternale)“ zu verstehen habe, sondern als „vaterländische (regimen civitatis et patriae)“. Denn die „väterliche“ sei „die am meisten despotische unter allen“. Dieser Hinweis macht zum einen deutlich, dass die zwei Benennungen, die für die patriotische Regierung in Frage kommen, selbst wiederum alternative Bezeichnungen für das eingangs exponierte Gegensatzpaar sind: despotisch-väterlich versus patriotisch-vaterländisch. Zum anderen deutet die Formulierung („die am meisten despotische unter allen“, Kursivdruck: M.W.) aber auch auf ein Maximum hin, das mit dieser Alternativbezeichnung ausgedrückt wird: Die väterliche ist nicht nur

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eine despotische Regierung, sondern die despotische Regierung schlechthin. Zudem wird auch nur dem letzten Paar eingeklammert und in lateinischen Worten jeweils eine Bezeichnung nachgesetzt: „väterliche [Regierung] (regimen paternale)“ versus „vaterländische (regimen civitatis et patriae)“. Auffallend ist, dass erstere Formulierung (regimen paternale) eine bloße Reformulierung und Übersetzung ist, letztere hingegen (regimen civitatis et patriae) eine Neuformulierung und Weiterbestimmung des Begriffs. So nimmt dann auch die Explikation und Bestimmung dieser vaterländischen Regierung den abschließenden Part des weitläufigen Satzes ein, der in etwa dessen Hälfte umfasst. Mit ihr kommt die Bestimmung des Begriffs des Regenten und der Regierung zu einem (vorläufigen) Abschluss: Die Regierung des ‚Staatsrechts‘ ist ein regimen civitatis et patriae. Mit erstgenanntem Paar despotisch versus patriotisch wird ein traditioneller Gegensatz der Regierungslehre aufgegriffen. Das zeigt sich im Rückgang auf das damalige common sense-Verständnis der Worte ‚Despot‘ und ‚Patriot‘. So wurde zu Kants Zeit unter einem Despoten derjenige verstanden, „welcher seinen Willen oder Eigensinn andern als das höchste Gesetz aufdringet, besonders ein solcher Regent“; daher sei der Despotismus die „Art der Gewalt, wo der Wille eines Einzigen das höchste Gesetz für alle ist“ 441. Wie in Platons Darstellung des persischen Despotismus steht der Despotismus demnach immer noch für eine Regierungsform, in der ein einzelner Mensch unabhängig von Gesetzen willkürlich herrscht442. Und genau das ist dem ‚Staatsrecht‘ zufolge der Fall, wenn eine „Regierung […] zugleich gesetzgebend“ ist: Die Differenz von (situativem) Befehl und (allgemeinem) Gesetz fällt zusammen; jeder Befehl ist als solcher schon Gesetz; Gesetze im präzisen Sinn gibt es keine mehr; der Regent drängt dem Volk seinen Willen von Einzelfall zu Einzelfall als Gesetz auf. 443 Damit ist die Gliederung der drei Gewalten mit der Struktur des praktischen Syllogismus aufgelöst und folglich auch die Form „wodurch der Staat seine Autonomie hat“. Demgegenüber stand das Wort ‚Patriot‘ in seiner „engsten“ Bedeutung für „eine Person, welche das allgemeine Beste auch zum Nachtheile ihres eigenen Besten befördert, welche die allgemeine 441

Adelung 1793, 146. Platon, Nomoi, III, 2.3.4, 693 d ff. 443 Vgl. Fulda 2001, 8 und Byrd/Hruschka 2010, 163. 442

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Wohlfahrt ihrer eigenen vorziehet“444. Das führt zu folgendem Gegensatz der Regierungslehre: Der despotische Regent drängt „seinen Willen oder Eigensinn andern als das höchste Gesetz auf“; der patriotische will hingegen auch dann noch das „allgemeine Beste“, wenn er sein Eigeninteresse zurücknimmt, bis zur Selbstaufopferung 445. Erstens lässt sich dieser Gegensatz auf den Gliederungsgedanken des Aristotelischen Verfassungsschemas zurückführen. Ihm zufolge waren Verfassungen naturgemäß zu nennen, wenn der Herrscher dem Wohl der Menschen höchste Priorität einräumte; wenn er aber nur nach seinem eigenen Wohl trachtete, waren sie als entartet anzusehen.446 Zweitens rekurrierte auch die Staatsphilosophie des aufgeklärten Absolutismus hierauf, wenn sie in der Tradition der Aristotelischen ›Politik‹ die „gemeine Wohlfahrt“, „Sicherheit“ und Glückseligkeit zum Staatszweck erhob447 – und damit einen „Wohlfahrtsdespotismus“ konstituierte, demzufolge das Volk „nicht im entferntesten auch nur Richter in eigener Sache [ist …], wenn es um seine »Wohlfahrt« und »Glückseligkeit« geht“448. Dem entspricht schließlich drittens die Tradition, die Familie als Urbild der politischen Gesellschaft anzusehen, und zwar so, dass das Oberhaupt das Abbild des Vaters ist und das Volk das der Kinder – wogegen schon Rousseau polemisierte449. Vor diesem staatsphilosophischen Hintergrund muss der Hinweis gelesen werden, dass unter der „patriotischen“ Regierung „nicht eine väterliche (regimen paternale), als die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu behandeln)“ verstanden werden darf, sondern eine „vaterländische (regimen civitatis et patriae)“. Missverstanden wäre der wortimmanente Bezug auf den Vater (pater) nämlich, wenn man ihn im Sinn des aufgeklärten Absolutismus lesen würde. Denn der Despotismus wäre als Herrenherrschaft ohne Gesetz maximal gesteigert, wenn die so verstandene patriotische Regierung „auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre […], wo also die Unterthanen als unmündige 444

Adelung 1798, 672. Vgl. TL, § 6,8. 446 Aristoteles, Politik, III, 6, f. 447 Vgl. exemplarisch Wolff 1721, §§ 3, 213 und 215. 448 Maus 1992, 57 f. 449 Rousseau, Contrat Social, I, 2. 445

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Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genöthigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urtheile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten“. 450

So heißt es ausführlich im Vorgängertext zum Gemeinspruch (von 1793) – und nichts anderes wird an vorliegender Stelle mit dem Ausdruck „Bürger als Kinder zu behandeln“ gesagt. Die Charakterisierung „Bürger als Kinder zu behandeln“ bringt allerdings auch das zentrale Problem des ganzen ersten Paragraphenblocks zur Sprache: dasjenige nämlich, welches für die Begründung der Volkssouveränität in § 46 ausschlaggebend war. Dieses Problem ist das der Unmündigkeit naturaliter mündiger Menschen, also die Unmündigkeit civiliter (vgl. § 46,2): die „selbst verschuldet [e] Unmündigkeit “. Sie diagnostizierte Rousseau wie gesagt unter dem Namen Despotismus als Epochenproblem der bürgerlichen Gesellschaft (s. o. (zu § 46,1, Kap. 3.1.3 a)). Obwohl an vorliegender Stelle nun das Moment der Selbstverschuldung nicht in den Blick genommen wird, erfolgt doch eine Ermessung des Schadens solch einer staatsrechtlichen Struktur. Sofern die vaterländische Regierung nämlich im Gegensatz zur väterlichen steht, erfolgt mit der abschließenden Explikation der vaterländischen Regierung zugleich eine indirekte Bestimmung der Mängel der väterlichen – also der Mängel, die wiederum durch die vaterländische Regierung abgestellt werden. Dass also zum einen „jeder sich selbst besitzt“ und zum anderen „nicht vom absoluten Willen eines Anderen neben oder über ihm abhängt“, das ist unter der väterlich-despotischen nicht der Fall. Besitzt nun aber der Mensch nicht sich selbst, so ist er zufolge der Allgemeinen Anmerkung (D,4) ein „Leibeigener (servus in sensu stricto)“, der „zum Eigenthum (dominium) eines Anderen [gehört], der daher nicht bloß sein Herr (herus), sondern auch sein Eigenthümer (dominus) ist“. Genau dann hängt er aber vom „absoluten Willen eines Anderen“ ab. Und das heißt zufolge derselben Stelle, dass er sich in „einer solchen Abhängigkeit [befindet …], dadurch er aufhört, eine Person zu sein“. Weiter wird der Zusammenhang aber nicht behandelt. Allerdings kommt der vierte und letzte Absatz wieder explizit auf ihn zu sprechen, was wiederum in puncto Rhetorik auffällig ist und auch an vor450

TP, AA 08: 290.33-291.05, Kursivdruck: M.W.

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liegender Stelle beachtet werden muss. Denn die Thematik wird im vorliegenden ersten Absatz ausschließlich im vierten und letzten Satz behandelt, der sich von den vorigen drei Sätzen thematisch ähnlich abgrenzt wie der vierte Absatz des § 49 von den drei ersten. Der vierte und letzte Satz des ersten Absatzes sowie der vierte und letzte Absatz stehen also nicht nur in einem thematischen Zusammenhang, sondern auch in einem, der formal hervorgehoben ist. Worauf dieser vierte und letzte Absatz dann später verweist, ist der Gesichtspunkt, dass „das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit […] unter einer despotischen Regierung […] viel behaglicher und erwünschter ausfallen“ mag. Demnach wird mit dem an der vorliegenden Stelle beschriebenen Schaden explizit auf eine Willenseinstellung eben dieser Menschen hin reflektiert – diejenige der „selbst verschulde ten Unmündigkeit“. Mit Blick auf vorliegende Stelle heißt das aber auch: Der Schaden der Ursurpation der souveränen Gewalt durch die Regierung – die Zerstörung der Ordnung und Gliederung der drei Gewalten, „wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat“ – lässt sich als von den Staatsbürgern selbst gewollter und zu verantwortender Schaden denken. Sich dessen bewusst zu sein, ist wiederum in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts für die Adressaten desselben von entscheidender Bedeutung – und letztlich auch wichtig, um das Verhältnis der ersten beiden Absätze des § 49 zueinander zu verstehen, dazu aber später. Der (vorläufige) Abschluss der Arbeit am Begriff des Regenten und der Regierung erfolgt nun wie gesagt mit der Festlegung der Regierung des ‚Staatsrechts‘, eine „vaterländische “ zu sein: ein regimen civitatis et patriae. Während deren Gegensatzbegriff, die väterliche Regierung, wortwörtlich und damit konservativ als regimen paternale übersetzt wurde, erfolgt mit der Bezeichnung regimen civitatis et patriae eine dezidierte Weiterbestimmung des Begriffs. Übersetzt heißt regimen civitatis et patriae nämlich Regierung des Staates und des Vaterlandes. Damit wird folglich nicht mehr nur das vorliegende Adjektiv übersetzt, sondern stattdessen das Subjekt wie das Objekt der in Rede stehenden Regierung erneut durch eine doppeldeutige Genitivkonstruktion festgeschrieben: Es handelt sich um eine Regierung, deren regierendes Subjekt der Staat und das Vaterland ist (genetivus subjectivus), die sich aber zugleich auf den Staat und das Vaterland als das regierte und zu regierende Objekte beziehen (genetivus objectivus).

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Im Einklang damit wird die vaterländische Regierung abschließend als diejenige charakterisiert, „wo der Staat selbst (civitas) seine Unterthanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit behandelt“. Überraschenderweise ist das Subjekt dieser Behandlung nicht mehr der „Regent des Staats (rex, princeps)“ und auch nicht mehr „das Direktorium, die Regierung“, sondern „der Staat selbst (civitas)“. Somit wird am Ende des § 49,1 eine dreischrittige Bewegung sichtbar, durch die der Begriff des Regenten in diesem Absatz sozusagen geläutert wird: Zuerst ist (a) vom „Regent des Staats“ (rex, princeps)“ nach traditioneller Vorstellung die Rede, nämlich als rex und princeps, also von einem einzelnem Menschen (Satz 1 und 3). Dann wird (b) diese Vorstellung in ihrem Abstraktum aufgelöst und somit korrigiert: Der Regent ist selbst dann, wenn er eine physische Person ist, bloß „das Direktorium, die Regierung“ (Beginn von Satz 4, vermittelt über Satz 2). Schlussendlich ist aber (c) das Volk – als Adressat der Befehle der Regierung und damit auch der durch die Befehlsund Gehorsams-Struktur zu errichtende Staat – zugleich selbst das Subjekt der Regierung: In der vaterländischen Regierung, und das heißt in einer Regierung überhaupt, behandelt der Staat sich selbst als civitas. Offensichtlich ist also: Die herkömmliche Form der Leitung, Lenkung und Regierung durch einen rex oder princeps wird in einer unkonventionell-bürgerschaftlichen aufgehoben. Streng genommen ist diese Weiterbestimmung des Begriffs allerdings keine Neubestimmung, sondern vielmehr wieder eine ideengeschichtliche Positionierung. Das wird deutlich, wenn man den expliziten Rekurs auf das Bild der Familie in den Blick nimmt, wenn es heißt, dass „der Staat selbst (civitas) seine Unterthanen […] gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger […] behandelt“. Zwar könnte man diese Stelle so lesen, dass auch die vaterländische Regierung immer noch Züge der Herrschaft des Vaters über seine Kinder trägt. Doch das würde ein verkürztes Bild von einer Familie ergeben. Denn die rechtmäßige Herrschaft des Vaters über seine Kinder endet (§ 30 zufolge) zwar mit dem Erwachsen- und Mündigwerden der Kinder, keineswegs aber die Familie. Sie kann als Gemeinschaft weiterbestehen und auch eine Leitung und Lenkung einschließen, welche ihre Glieder koordiniert und zusammenhält. So gehört nicht nur das Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern zur Familie, sondern auch das Verhältnis der Brüder als Verhältnis freier und

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gleichgestellter Erwachsener. Letzteres stand bereits bei Aristoteles in der ›Eudemischen Ethik‹ für ein politisches Verhältnis („Politie ist das Verhältnis zwischen Brüdern“451). Aber nach der ›Politik‹ war eine politische, mithin naturgemäße und nicht entartete Gemeinschaft eine von freien und gleichgestellten Staatsbürgern, die sich im allgemeinen Interesse regieren lassen.452 Darauf legt das ‚Staatsrecht‘ die väterliche Regierung fest.453

2.2 Zu Absatz 2 Der zweite Absatz besteht aus zwei Sätzen, in denen jeweils in grammatisch vollständigen Teilsätzen zuerst eine Behauptung aufgestellt und dann begründet wird, worauf die zweimalige Verwendung des Signalwortes „denn“ direkt hindeutet. Allerdings ist die strikte Symmetrie durch die Weitläufigkeit des zweiten Satzes gebrochen, die auch daher rührt, dass der Behauptung im zweiten Satz eine in Klammern gesetzte Bemerkung angefügt ist, ebenfalls in einem grammatisch vollständigem Teilsatz. Wie in den ersten drei Sätzen des vorigen Absatzes ist das am Satzanfang stehende (Satz-)Subjekt der Behauptungen beider Sätze identisch; aber es ist nun nicht mehr der Regent, sondern der „Beherrscher des Volks, (der Gesetzgeber)“, also der Souverän (in § 45,2 hieß es schließlich, die „Herrschergewalt (Souveränität)“ liege „in der [Person] des Gesetzgebers“). Allerdings wird in beiden Sätzen das Verhältnis des Souveräns zum Regenten bestimmt, jetzt aber eben vom Souverän ausgehend. Wie im ersten Absatz ist damit immer noch lediglich von den ersten beiden Gewalten die Rede – wie in der zentralen Bestimmung des § 48,1. Genauer: Der vorige Absatz bestimmte den Regenten als Spitze der zweiten Gewalt, und zwar so, dass diese zweite Gewalt – zufolge § 48,1 – nicht die Funktion der ersten usurpiert und damit die Souveränität in toto; nun hingegen wird (im ersten Satz) umgekehrt die erste und souveräne Gewalt so bestimmt, dass sie nicht wiederum die 451

Aristoteles, Eudemische Ethik, VII, 9. Aristoteles, Politik, I, 7,1, III, 6; Bien 1985, Kap. V. 453 So gesehen vertritt das ‚Staatsrecht‘ gegenüber dem aristotelischen common-sense der Staats- und Regierungslehre seiner Zeit eine im Grunde aristotelischere Regierungslehre; – das aber nicht trotz, sondern wegen der Freiheit als Staatszweck. 452

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Funktion der zweiten an sich reißt. Denn auch dadurch würde die Ordnung der Gewalten nach der Struktur des praktischen Syllogismus aufgelöst werden und damit letztlich die Form „wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat“ (§ 49,4). Auf diese Weise artikulieren die ersten beiden Absätze des § 49 zwei gegenläufige Konfliktlinien: Zufolge § 49,1 ist es die zweite Gewalt, welche im Fall einer Usurpation der ersten Gewalt als despotische Regierung die Gewaltengliederung auflösen würde; nach § 49,2 ist es hingegen umgekehrt die erste, von der diese Gefahr ausgeht. Damit repräsentieren die beiden ersten Absätze des § 49 zugleich zwei entgegengesetzte Positionen in der damaligen Diskussion um die Gewalteingliederung: die französische und die US-amerikanische. Nach ersterer geht die Bedrohung der Freiheit im Staat primär von der Exekutive aus, wogegen die demokratische Legislative in dieser Hinsicht als ungefährlich angesehen wird; zufolge letzterer verhält es sich genau umgekehrt.454 Eine Stellungnahme scheint das ‚Staatsrecht‘ von 1797 mit dieser paritätischen Repräsentation der jeweils entgegengesetzten Positionen in je einem Absatz jedoch nicht vorzunehmen. Allerdings bezieht das ‚Staatsrecht‘ in gewisser Weise doch Stellung, wenn im zweiten Satz des § 49,2 auch drei positive Kompetenzen des Souveräns bestimmt werden, durch die er den Regenten sich unterordnen kann – ganz im Sinn von § 48,1: „Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformiren“. Denn solche Kompetenzen werden wiederum dem Regenten nicht zugesprochen, was die erste Gewalt privilegiert. Das aber widerspricht der Logik des US-amerikanischen Verfassungsdenkens (Stichwort: balance of power) und kann als Plädoyer für die französische Alternative gesehen werden. Doch wie bereits vorweggenommen, führt § 49 das Problem der despotischen Regierung im vierten und letzten Absatz auf die Willenseinstellung der Staatsbürger selbst zurück, – die wiederum die Glieder der souveränen ersten Gewalt sind. Die Staatsbürger selbst werden folglich in ihrer fundamentalen Souveränität als die größte Gefahrenquelle identifiziert, die das Projekt der Autonomie des Staates bedroht. Das ergibt ein komplexeres Bild: § 49 artikuliert in seinen ersten beiden Absätzen zwei gegenläufige Konfliktlinien, mit denen die ebenfalls gegenläufigen Positionen der Ideengeschichte zur Darstel454

Zu den historischen Konfliktlinien: Möllers 2008, 23, 30.

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lung gebracht werden. Vom Standpunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts sind diese Positionen aber zugleich als zwei staatsrechtliche Probleme zu deuten – Probleme, welche die Adressaten wiederum als Staatsbürger in der Befolgung des Postulats aktiv zu vermeiden haben, und zwar als Glieder der souveränen ersten Gewalt. Doch genau in dieser Souveränität der Menschen, die vorrangig-verantwortliche Instanz im Staat zu sein, fallen die beiden gegenläufigen Positionen in sich zusammen: Die größte Gefahr für die Freiheit des Volkes ist das Volk selbst als demokratischer Souverän – wie es die US-amerikanische Tradition sieht. Das allerdings heißt im ‚Staatsrecht‘ nicht, dass diese Freiheit auf US-amerikanische Weise extern-konstitutionell durch Gegen-Gewalt eingehegt werden müsste. Hier bleibt das Kantische Lehrstück französisch: Die Freiheit des Volkes soll durch diese Freiheit und zugleich gegen diese Freiheit behauptet und verteidigt werden. Das fordert wie gesagt die elementare Rechtspflicht des honeste vive und ist ab der Begründung der Volkssouveränität in 46,1 für die Staatsbürger Rechtspflicht. Nun eine genauere Lektüre des zweiten Absatzes, beginnend mit dem ersten Satz: „Der Beherrscher des Volks, (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem Ande re n , dem Souverän, verpflichtet“.

(Zu Satz 1:) Die Figur der Umkehrung artikuliert sich hiermit gleich zu Beginn des zweiten Absatzes, indem die am Anfang stehende Behauptung in Form eines Umkehrschlusses vorgelegt wird: „Der Beherrscher des Volks, (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein“. Das Signalwort „also“ deutet nämlich darauf hin, dass die Aussage aus dem vorhergehenden Text folgt; doch ihm zufolge darf der Regent umgekehrt nicht „zugleich gesetzgebend“, also nicht zugleich der Gesetzgeber sein. Deshalb ist der Schluss als Umkehrschluss anzusehen. Aber trotz der Schlussfolgerung wird die Behauptung direkt im Anschluss begründet: „denn dieser [der Regent] steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem Anderen, dem Souverän, verpflichtet“. Diese Begründung ist als Erläuterung der Folgebeziehung zu verstehen, insofern sie eine Implikation des zweiten Anfangsgrundes der Regierung entfaltet, den der vorige Absatz (in Satz 3) darlegte. Dieser Anfangsgrund besagt, dass

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die Befehle des Regenten „Verordnungen, Dekrete“ und „nicht Gesetze“ zu sein haben. Doch als Verordnungen stehen die Befehle unter Gesetzen und sind an diese gebunden. Das impliziert der Begriff einer Verordnung, was allerdings in § 49,1, Satz 3, nicht eigens erläutert wurde. Trotzdem, der zweite Anfangsgrund der Regierung erfordert die Gesetzesbindung des Regenten. Genau das wird an vorliegender Stelle nun explizit zur Sprache gebracht: Der Regent „steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe […] verpflichtet“. Zusätzlich zu dem in § 48 Gesagtem wird hierbei allerdings dieses Verhältnis durch die Entfaltung einer weiteren Folgebeziehung näher bestimmt: Der Regent „steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem Anderen, dem Souverän, verpflichtet“. Damit wird wieder auf die Bestimmung rekurriert, dass die Souveränität „in der [Person] des Gesetzgebers“ liegt und es folglich der Souverän ist, der durch seinen souverän-gesetzgebenden Willen den Regenten verpflichtet, und zwar als diejenige „Person, welcher die [Gesetze] ausübende Gewalt […] zukommt“ (§ 49,1, Satz 1). Denn streng genommen verpflichtet nicht das Gesetz, sondern der gesetzgebende Wille. Artikuliert wird auf diese Weise die personale Unvereinbarkeit von Souverän und Regent, die dadurch begründet ist, dass der Verpflichtende und der Verpflichtete personal verschieden sein müssen; der Verpflichtete muss ein Anderer sein455. Daraus folgt schließlich, dass der Gesetze ausübende Regent als solcher „nicht zugleich“ der gesetzgebende Souverän sein kann (§ 49,1); aber eben auch umgekehrt: dass der Souverän „nicht zugleich der Regent“ sein kann. Damit ist die Behauptung des Satzes begründet. Der zweite Satz nun lautet vollständig: „Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformiren, aber ihn nicht straf e n ; (und das bedeutet allein der in England gebräuchliche Ausdruck: der König, d. i. die oberste ausübende Gewalt, kann nicht unrecht thun) denn das wäre wiederum ein Act der ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen dem Gesetze gemäß zu zwinge n zusteht, die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre; welches sich widerspricht“.

455

Vgl. TL, §§ 1-4, § 13.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

(Zu Satz 2:) Im Mittelpunkt steht hier eine Kompetenz, die dem Souverän und Gesetzgeber abgesprochen wird, nämlich den Regenten zu „strafen“ und „dem Gesetze gemäß zu zwingen“: „Jener kann […] ihn nicht strafen“. Dabei ist das Strafen dem Begriff des Strafrechts zufolge zu lesen und zwar im Sinn des „Recht[s] des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“ (Allg. Anm., E,1, Kursivdruck: M.W.). Es geht um physischen Zwang. Die Begründung dieses Ausschlusses von Strafkompetenz beim Gesetzgeber rekapituliert allerdings nicht einfach das Problem, dass der Gesetzgeber die Funktion seiner gesetzgebenden Gewalt obsolet machen würde, wenn er als (despotischer) Regent in und für Einzelfälle befehlen und so das Gesetz im Befehl auflösen würde (s. o. (zu § 49,1)). Das Argument ist ein anderes: 456 Wenn der Souverän den Regenten strafen (physisch zwingen) würde, dann müsste sich die ausübende Gewalt auflösen, der „zu oberst das Vermögen dem Gesetze gemäß zu zwingen“ zustehen soll. Denn um den Regenten zu strafen, müsste der Souverän zugleich über ihm stehen und damit über der Gewalt, der „zu oberst das Vermögen […] zu zwingen“ zusteht (Kursivdruck: M.W.). Diese Gewalt wäre dann „selbst einem Zwange unterworfen“: „welches sich widerspricht“. Mit der Beanspruchung dieser Kompetenz würde der Souverän also die ausübende Gewalt in ihrer (widerspruchsfreien) Eigenlogik auflösen. Interessanter als die Logik dieser Begründung ist der Problemkontext. Auf diesen sind letztlich auch die drei Kompetenzen zu beziehen, welche dem Souverän zu Beginn des Satzes zugesprochen werden und ihm in seinem Verhältnis zum Regenten zustehen: „Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformiren“. Dem Problemkontext zufolge würde der Fauxpas des Souveräns nämlich eben nicht darin bestehen, die Gewalt des Regenten in einem widerrechtlichen und strafwürdigen Akt an sich zu reißen. Ihn rechtmäßig, also „dem Gesetze gemäß zu zwingen“, oder gar zu „strafen“: das ist der Fauxpas. Wie die Kantische Lehre vom Strafrecht aber besagt, heißt „strafen“ jemanden „wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“ (s. o., Kursivdruck: M.W.). Der Kontext ist daher eine Situation, in welcher der Regent eine rechtswidrige und eigentlich strafbare Handlung begangen hat, 456

Näher hierzu: Thiele 2003, 53 f., Wolff 2013, 65.

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weswegen er auf dem Rechtsweg angeklagt, verurteilt und eben bestraft werden müsste. Eine im höchsten Maße unrechte Handlung des Regenten gegen den Souverän bestimmte jedoch der vorausliegende § 49,1 – im Anschluss an das Zentrum des § 48,1: eine Handlung mit welcher der Regent „zugleich gesetzgebend“ ist und dadurch mit der „Function“ der ersten Gewalt zugleich die Souveränität in toto usurpiert. In einem Wort: Sein ‚Verbrechen‘ ist, Usurpator, also Thronräuber zu sein. Das ist das eigentliche Problem. Doch wie kann nun das Volk als Souverän gegen einen solchen, seine Souveränität an sich reißenden Regenten rechtmäßig verfahren, ohne dabei die Form seiner öffentlich-rechtlichen Autonomie aufzulösen? Das ist die Frage, die sich für die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts hier stellt, und zwar in ihrer Rolle als Staatsbürger. Die Antwort ist: „Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformiren, aber ihn nicht strafen“. Freier formuliert: Ein juridisches Verfahren der Amtsanklage zufolge bestehender Gesetze (im Sinne des US-amerikanischen impeachment) ist rechtswidrig; rechtmäßig hingegen ein sozusagen ‚politisches‘ Verfahren, in dem das souveräne Volk den Regenten eigenverantwortlich, aber letztlich doch nach Belieben des Amtes entheben kann (nach Gangart des klassischen Parlamentarismus).457 Vor dem Hintergrund dieser Grundsatzentscheidung ist dann auch die in Klammern nachgesetzte Bemerkung zu lesen: „Jener kann […] ihn nicht strafe n ; (und das bedeutet allein der in England gebräuchliche Ausdruck: der König, d. i. die oberste ausübende Gewalt, kann nicht unrecht thun)“.

Obwohl der Regent (nach § 49,1 auch rex oder König genannt) im höchsten Maß unrechte und strafbare Handlungen begehen kann, ist er also aus staatsrechtlichen Gründen strafrechtlich nicht zu belangen. Vom rechtsstaatlichen Gesichtspunkt aus beurteilt kann er folglich „nicht unrecht thun“, – was indes „allein“ für genau diese Perspektive gilt. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass es sich mit den drei positiven Kompetenzen des Souveräns („Gewalt nehmen“, „absetzen“, „Verwaltung reformiren“) nicht um solche handeln kann, von 457

Vgl. hierzu Maus 1992, Kap. 12.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

denen dieser lediglich in Form allgemeiner Gesetze Gebrauch machen darf.458 Dann nämlich wäre der Souverän an die rechtsstaatliche Verfahrensordnung gebunden und damit vom Regenten selbst dann abhängig, wenn er diesem „seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformiren“ will. Doch um diese Logik außer Kraft zu setzen, soll der gesetzgebende Souverän laut vorliegendem Satz eben schlicht „nicht strafen“ können, sondern sich auf die Betätigung der eben genannten drei Kompetenzen beschränken müssen. Deshalb sind die Kompetenzen im Sinn von „Zusatzfunktionen“ des Souveräns zu deuten, die normlogisch nicht auf die Gesetzesform festgelegt sind.459

2.3 Zu Absatz 3 Der dritte Absatz ist der umfangreichste und zugleich komplexeste Absatz des § 49: Er umfasst sechs Sätze, in deren ersten beiden jeweils eine Behauptung so aufgestellt wird, dass sie miteinander einen staatsphilosophischen Zusammenhang ergeben (Sätze 1 und 2). Begründet wird allerdings nur die Aussage des zweiten Satzes, doch dies sehr ausführlich und weitläufig und zwar in den drei folgenden Sätzen (Sätze 3-5). Diese nehmen den Großteil des Absatzes ein. Abschließend wird (in Satz 6) nach der Zäsur eines Gedankenstriches die nun begründete Strukturentscheidung in Form einer Bemerkung reflektiert. Der Ausgangspunkt im ersten Satz ist, dass die zwei ersten Gewalten, von denen in den vorigen beiden Absätzen ausschließlich die

458

So aber Wolff 2013, 65, Kursivdruck: M.W.: Weil an vorliegender Stelle vom „Gesetzgeber“ die Rede sei, könne der gesetzgebende Souverän einerseits nur „durch Gesetze […] regeln, wer die Exekutivgewalt […] besitzen soll“, andererseits aber auch nur eine „gesetzliche Verwaltungsreform“ vornehmen, um die Verwaltung des Regenten zu „reformiren“. 459 Hans Friedrich Fulda hat auf sie hingewiesen, 2001, 9-11, 17: Kant habe auf diese Weise einen Versuch vorgelegt, ein Problem zu lösen, „das Rousseau unbewältigt hinterlassen hatte“; Akte wie diejenigen der Einund Absetzung der Regierung schrieb Rousseau der höchsten Gewalt zu, die er jedoch nur als ursprünglich gesetzgebende bestimmt habe, so Fulda.

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Rede war, nicht selbst „richten“ können, sondern beide nur Richter einzusetzen vermögen: „Endlich kann, weder der Staatsherrscher noch der Regierer, richte n , sondern nur Richter, als Magisträte, einsetzen“ (Satz 1).

Wie die ersten zwei Gewalten 460 wechselseitig die Tätigkeit der anderen „nicht zugleich“ zu betätigen haben, so sollen sie also ebenfalls nicht die der dritten Gewalt ausüben – von der nun „[e]ndlich“ die Rede ist. Damit wird zunächst nur eine weitere Unverträglichkeitsbehauptung461 vorgelegt. Auch sie soll verhindern, dass sich die Ordnung der Gewalten nach der Struktur des praktischen Syllogismus auflöst – und damit die Form, wodurch „der Staat (civitas) seine Autonomie hat“ (§ 49,4). Ähnlich wie im vorigen Absatz liegt das eigentliche Problem jedoch woanders. Denn mit der Behauptung des zweiten Satzes wird die bisherige Konstellation des § 49 nicht lediglich dadurch ergänzt, dass neben den ersten beiden Gewalten nun auch die dritte Berücksichtigung findet. „Das Volk richtet sich selbst“, heißt es zu Beginn des zweiten Satzes. Damit wird erstmals wieder seit § 47 das Volk als Akteur angeführt – allerdings nicht das vereinigte Volk als Souverän, sondern die vereinzelte Menge desselben, das „Volk, als die Menge der Unterthanen“ (Allg. Anm., B,1, § 47, Kursivdruck: M.W.).462 Vom Volk als Souverän wird in den §§ 48 und 49 nämlich durchgehend abgesehen, was die Rhetorik dieser Paragraphen geradezu kennzeichnet (s. o. (Überleitung zu den §§ 48 und 49)). So wurde zu Beginn des vorigen Absatzes der Souverän nicht mit dem Volk identifiziert, son460

Der „Staatsherrscher“ ist an dieser Stelle mit dem „Beherrscher des Volks, (de[m] Gesetzgeber)“ zu identifizieren, der im vorigen Absatz das Subjekt war; die „He rrsc he r gewalt (Souveränität)“ liegt nach § 45,2 schließlich „in der [Person] des Gesetzgebers“. Hingegen ist der in Abgrenzung zu ihm stehende „Regierer“ der Regent, worauf die Verwendung des bestimmten Artikels hindeutet: Er ist der höchste Regierer, Oberbefehlshaber oder schlicht „der Regierer“, Kursivdruck: M.W. Diesem unterstehen § 49,1 zufolge die „Magisträte“ sowie die ganze Staatsverwaltung – und „Richter“ sind laut vorliegendem Absatz auch nur das: „Staatsverwalter“ (Satz 3). 461 Fulda 2001, 15. 462 Vgl. Fulda 2001, 15 f.

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dern neutralisierend-distanzierend als „Beherrscher des Volks“ bezeichnet, woran der erste Satz des vorliegenden Absatzes mit der Rede vom „Staatsherrscher“ offensichtlich anknüpft. Genau dieses Volk als „Menge der Untertanen“ soll sich nun aber selbst richten. Das evoziert den Gedanken der Volksjustiz. Doch es heißt nicht nur: „Das Volk richtet sich selbst“; vollständig lautet der zweite Satz: „Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar für jeden Act besonders, dazu ernannt werden.“

In persona soll sich das Volk also gerade nicht selbst richten. Lediglich indirekt, in Vermittlung über Repräsentanten habe dies zu geschehen, welche das Volk aus den eigenen Reihen abordnen müsse – womit auf Montesquieus (vordemokratischen) Gedanken angespielt wird, das Volk könne nur durch Seinesgleichen gerichtet werden463. Der evozierte Gedanke der Volksjustiz bleibt aber dennoch auf der Ebene der Andeutungen präsent. Die folgenden drei Sätze (3-5) spielen nämlich recht deutlich auf die Begründung der Volkssouveränität in § 46,1 an, die ebenfalls in drei Sätzen dargelegt wurde. Ihr zufolge sollte sich das Volk jedoch (wie oben ausführlich dargelegt) aktiv und in persona zum gesetzgebenden Souverän vereinigen, damit dieser durch sein Gesetz niemandem „unrecht thun“ kann; maßgebend hierfür war das Prinzip volenti non fit iniuria. Einerseits werden nun wie in § 46,1 am Anfang jedes Satzes dieselben Signalwörter verwendet, die auch dort darauf hingewiesen hatten, dass eine Begründung im Gang ist: „Denn […]“ (Satz 3), „Da nun […]“ (Satz 4), „Also kann nur […]“ (Satz 5, Kursivdruck: M.W.). Andererseits ist aber auch das Problem wortwörtlich dasselbe: Keine „jener beiden Gewalten“ – gemeint sind nun die zweite und dritte Gewalt in ihrer Kooperation (vgl. Satz 4) – soll dem Volk „unrecht thun können“. Liegt jedoch wortwörtlich dasselbe Problem vor, so ist es naheliegend, auch wortwörtlich dieselbe Strategie zu wählen, wie mit ihm umzugehen ist. Darauf deutet der Text hin: „Da nun ein jeder im Volk diesem Verhältnisse nach (zur Obrigkeit) bloß passiv ist, so würde eine jede jener beiden Gewalten in dem, was sie über 463

Vgl. Montesquieu 1992, 218 sowie Eberl 2009, 195 f.

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den Unterthan, im streitigen Falle des Seinen eines jeden, beschließen, ihm unrecht thun können; weil es nicht das Volk selbst thäte, und, ob sc huldig oder nichtschuldig , über seine Mitbürger ausspräche“ (Satz 4, Kursivdruck: M.W.).

Was also wäre naheliegender als ein Verfahren, demzufolge „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“ (§ 46,1)? Das aber würde auf die direkte und unvermittelte Volksjustiz hinauslaufen.464 Auf den Gedanken der Volksjustiz wird zwar angespielt, doch er wird nicht geäußert: Einerseits richtet sich das Volk wie gesagt nur durch Stellvertreter und darum gerade nicht sich selbst, also nicht in eigener Person – weder als souveräne Vereinigung, noch als Menge der Untertanen. Als Souverän soll das Volk nämlich nur „Richter, als Magisträte“ einsetzen und als Menge der Untertanen nur „Stellvertreter“ für die „Jury“ abordnen. Andererseits macht der Text jedoch auch deutlich, dass die Logik des volenti non fit iniuria und folglich auch die Logik des Rousseau’schen Willensbildungsverfahrens nicht greift465 – dann nämlich, wenn es darum geht, dasjenige Unrecht strukturell auszuschließen, welches vom Gerichtshof und der ausführenden Gewalt ausgeht, wenn beide in Kooperation „einem jeden das Seine zu Theil werden […] lassen“. Denn das besagt die am Ende des Absatzes stehende und aus der Distanz gesprochene Reflexion im letzten Satz (d. h. Satz 6). In ihm wird der zuvor dargelegte Komplex abschließend in Verhältnis zur Perspektive der ersten und souveränen Gewalt (des Staatsoberhaupts) gesetzt, die im jetzigen Zusammenhang eben keine Rolle spielt. Es heißt dort: „Es wäre auch unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen, d. i. sich in die Möglichkeit zu versetzen, Unrecht zu thun, und so in den Fall der Appellation (a rege male informato ad regem melius informandum) zu gerathen“. 464

Die wurde jedoch bereits in der Friedensschrift (1795) als Form der Despotie kritisiert – weil dort „alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen“, was ein „Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit“ sei, ZeF, AA 08: 351.21-358.18, insb. 352.1823; siehe hierzu Thiele 2003, insb. Kap. 3. 465 Vgl. dagegen aber Byrd/Hruschka 2010, 164-67.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

Trotz der differenzierten prozeduralen Bestimmung der Institution des Gerichtshofes, die beinahe den ganzen Absatz einnimmt, besteht hier also nach wie vor die „Möglichkeit“ von Unrecht. Doch daraus geht klar hervor, dass die Logik der ‚demokratischen‘ Willensbildung, das volenti non fit iniuria, offensichtlich nicht auf die Institution des Gerichtshofes angewandt werden kann. Das wird jedoch durch die Anspielungen auf § 46,1 überblendet – diese suggerieren Identität, sind jedoch als Zeichen der Differenz zu deuten. Die Differenz zwischen § 49,3 am Ende des ‚Staatsrechts‘ und § 46,1 im Zentrum desselben ist aber genau diese: § 46,1 begründet ein ‚demokratisches‘ Willensbildungsverfahren nach dem Prinzip volenti non fit iniuria, um strukturell Unrecht auszuschließen; § 49,3 begründet hingegen ein Verfahren der Repräsentation des Volkes, und zwar der Repräsentation als Stellvertretung qua Abordnung oder Ernennung – in dem das Prinzip volenti non fit iniuria gerade nicht greifen kann und deshalb Unrecht „immer möglich“ ist. Diese Differenz erweist sich als umso wichtiger, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der vorliegende Absatz § 49,3 der einzige Ort im ‚Staatsrecht‘ ist, an dem die Repräsentation des Volkes als Stellvertretung qua Abordnung oder Ernennung explizit argumentativ begründet wird.466 Die Zahl Drei ist im vorliegenden Absatz indes auch codiert: Die ersten beiden Absätze behandeln ausschließlich die ersten beiden Gewalten, der dritte primär die dritte – womit er auf das Problem der Volksjustiz hindeutet, dem bereits in der Friedensschrift das repräsentativ-gewaltenteilige System entgegengesetzt wurde 467. Der vorliegende Absatz ist also architektonisch äußerst wichtig – nicht zuletzt, da durch ihn bereits im ersten Paragraphenblock Repräsentation begründet wird und sich die Differenz der herkömmlichen Architektonik-Interpretation von nicht-repräsentativer respublica noumenon und repräsentativer respublica phaenomenon als undifferenziert erweist.468 Das in § 49,3 dargelegte und begründete repräsentative System ist allerdings auch eines, durch das unrechte Rechtssprüche vermieden werden sollen – auch wenn es deren Unmöglichkeit nicht grundsätz466

Auf diesen Ort wird im weiteren Verlauf des ‚Staatsrechts‘ noch mehrfach verwiesen, wobei die Rückverweise durch die Zahl Drei markiert sind, s. u., Schluss, Fn. 607. 467 Vgl. Thiele 2003, Kap. 3 und 4 sowie Maus 1992, Kap. 10. 468 Vgl. Hirsch 2017, 327, einschl. Fn. 298.

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lich garantieren kann. Ersteres ist für die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts wiederum von besonderer Wichtigkeit. Denn die Rechtmäßigkeit gerichtlicher Verfahren allein von nachgeschalteten Appellationsverfahren abhängig zu machen, wäre allzu gewagt – hängt doch von der Zuteilung von Recht durch die dritte Gewalt die distributive Gerechtigkeit ab, und damit in gewisser Weise alles (vgl. § 42,1). Grundlegend für die Systemstruktur des repräsentativen Systems von § 49,3 ist die institutionelle Differenzierung des Gerichtshofes nach dem angelsächsischen Justizmodell.469 Hier wird die Arbeit der Jury von derjenigen des Richters abgesondert. Dabei entscheidet nicht der Richter selbst darüber, ob der Angeklagte „schuldig oder nichtschuldig“ ist, sondern die Jury; die „Ausmittelung der That in der Klagsache“ ist ihre Aufgabe. Der Richter hat demgegenüber lediglich in einem hinzutretenden Schritt das Gesetz auf den vorliegenden Tatbestand anzuwenden: „auf welche Ausmittelung der That in der Klagsache nun der Gerichtshof das Gesetz anzuwenden, und, vermittelst der ausführenden Gewalt, einem jeden das Seine zu Theil werden zu lassen die richterliche Gewalt hat“.

Durch die institutionelle Absonderung der Entscheidung über die Schuldfrage wird erreicht, den Richter (und Gerichtshof) davon zu entlasten, die Verantwortung für den eigentlich problematischen Arbeitsschritt im Prozess zu übernehmen, der zum Rechtsspruch führt.470 Denn streng genommen ist es nur die „Ausmittelung der That“, die den Angeklagten zu Unrecht beschuldigen kann: Nur der Untersatz, nicht aber der Obersatz, und genauso wenig die Konklusion, vermögen den Rechtsspruch zu einem Urteil werden zu lassen, das den Angeklagten für ein Verbrechen verurteilt, das er nicht begangen hat. Wenn die „richterliche Gewalt“ nun solch ein mangelhaftes Urteil ausspricht und dieses „vermittelst der ausführenden Gewalt“ in Kraft gesetzt wird, dann ist es aufgrund der institutionellen Absonderung keine der beiden gewalthabenden Instanzen, dem die Verantwortung hierfür (direkt) zuzuordnen ist. Damit ist allem Anschein nach das in Rede stehende Problem (Satz 3 und 4) behoben: dass dem Untertanen, als einem, „der zum Volk gehört, mithin mit 469 470

Vgl. Kersting 1984, 316 f., Thiele 2003, 48 f., Byrd/Hruschka 2010, 166. Vgl. Byrd/Hruscka 2010, 166 f.

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keiner Gewalt bekleidet ist“, im Vollzug des Rechtsspruches besagtes Unrecht vonseiten der beiden gewalthabenden, zum Souverän gehörenden Personen geschieht. Hiermit wird aber mehr geleistet, als in der Kant-Literatur üblicherweise angenommen wird, wo man § 49,3 vordemokratisch liest: Kant gehe es in § 49,3 „allein darum, obrigkeitlicher Willkürjustiz den Weg zu verlegen“471. Das Volk ist es nämlich selbst, das den gesetzgebend-souveränen Willen so gebildet hat, dass er ihm nicht unrecht tun kann (§ 46,1). Und genau dieser Wille des Volkes soll zugleich der Wille aller drei Gewalten sein: der eine „allgemein vereinigt[e] Will[e] in dreifacher Person“ (§ 45,2). Darum muss das Volk als Souverän (und erste Gewalt) in Hinblick auf die beiden, ihm untergeordneten Gewalten zuerst einmal nur dafür sorgen, dass sein Wille in dieser Qualität auch hier erhalten bleibt. Das aber leistet die Entkopplung und Übertragung der Schuldfrage vom Gerichtshof (in sensu stricto) auf die Jury, die „mit keiner Gewalt bekleidet ist“. Darin schließlich kann man einen (ersten) Anfangsgrund der Justiz sehen, dessen Genese sich wiederum auf die Erfordernis zurückführen lässt, dass sich das Volk in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts auch in seiner Rolle als Souverän nicht unrecht tun können soll. Vom Standpunkt der Befolgung des Postulats aus – und ab § 46 heißt das: vom Standpunkt der Volkssouveränität aus – ist es indes bezeichnend, dass § 49,3 zwei separate Abordnungsverfahren vorsieht, zufolge deren dasselbe Volk einmal als Souverän Richter einsetzt, und einmal als Untertan Stellvertreter für die Jury abordnet. Das deutet zum einen darauf hin, dass es nicht nur auf der Seite des Souveräns ein Verfahren gibt, durch das Unrecht ausgeschlossen werden soll. Ein solches muss es ebenso aufseiten der Jury geben. Immerhin kann sich das Volk auch in der Rolle des Souveräns in dreifacher Person indirekt unrecht tun, wenn dem Rechtsspruch ein falscher Schuldspruch zugrunde liegt. Zum anderen müssen sich beide Verfahren wohl auch in ihrer Logik fundamental unterscheiden. Denn sonst würde es ausreichen, wenn das Volk lediglich in seiner Rolle als Souverän nicht nur Richter, sondern auch die Mitglieder der Jury einsetzt. Worin also besteht die Eigentümlichkeit des Verfahrens der Abordnung dieser Jury-Mitglieder vonseiten des Volkes als Untertan, 471

Kersting 1984, 317, vgl. Byrd/Hruschka 2010, 164.

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und zwar im Hinblick auf die Aufgabe, falsche Schuldzuweisungen und damit Unrecht vonseiten der Jury zu vermeiden? Dass nun das Volk nicht als Souverän, sondern als Untertan Repräsentanten für die Jury ernennen soll, steht in offensichtlichem, doch nicht weiter ausgeführtem Zusammenhang mit dem Punkt, dass „ein jeder im Volk diesem Verhältnisse nach (zur Obrigkeit) bloß passiv ist“, worunter sowohl das Verhältnis des Angeklagten einerseits sowie des Anklägers andererseits zum rechtsprechenden Richter oder Gerichtshof gemeint ist. Das heißt: Selbst dann, wenn die Untertanen zugleich Staatsbürger sind, können sie in diesen beiden Rollen (des Angeklagten oder Anklägers) vor dem Richter nicht als Staatsbürger (als aktive Glieder des Souveräns) agieren. Hier sind sie notwendig passiv. Warum dem so ist, lässt sich wiederum mit Blick auf das Kantische Strafrecht klären: Ihm zufolge ist ein einfaches Verbrechen („Verbrechen schlechthin (crimen)“) bereits eines, das den, der es „begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein“ (Allg. Anm., E, I,1). Wenn der Angeklagte und der Ankläger vor Gericht stehen, muss dort folglich deren Rolle als Staatsbürger – das heißt deren Rolle als aktive Glieder des Souveräns – als potentiell verspielt angenommen werden. Denn nach dem „Wiedervergeltungsrecht (ius talionis)“ kann das Seine des Anklägers genauso weit lädiert werden, wie das des Angeklagten, weil es sich erweisen kann, dass der Ankläger den Angeklagten zu unrecht beschuldigt hat, um ihm zu schaden. Darum müssen beide in Erwartung des Rechts- und Schuldspruches (als potentielle Verbrecher) notwendigerweise passiv sein. Weil der Verlust der Staatsbürger-Würde nach Kantischem Verständnis aber auch die Einbuße der Menschenwürde nach sich zieht, da der Verbrecher dann rechtmäßig zum Sklaven werde (Allg. Anm., D,3 und 4), bedürfen beide Parteien an genau dieser Stelle eines besonderen Schutzes. Offenbar soll dieser Schutz nun durch das Verfahren der Abordnung von Repräsentanten durch das Volk der Untertanen erfolgen, das sich als solches mit seiner Relation zum Souverän ebenfalls in einer passiven Rolle befindet. Nach welcher Logik diese positional-gebundene Repräsentation vonstatten gehen soll, wird im Text freilich nicht gesagt, zumindest nicht ausdrücklich. Trotzdem ist eine stimmige Interpretation möglich. Um sich dem Zusammenhang zu nähern, ist ein Blick auf die

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Auslegung von Byrd und Hruschka hilfreich, 472 die im Bewusstsein des oben dargelegten Problems entwickelt wurde, und zwar ausgehend von einer Beschreibung des angelsächsischen Modells der Justiz, welche Achenwall 1768 vorlegte473. Kant sollte diese Beschreibung vertraut gewesen sein. In aller Kürze:474 „Decisive is that the jury decides unanimously, which Kant does not expressly state but clearly presumes“. Diese Forderung nach Einstimmigkeit, von der im Text indes nicht die Rede ist, sehen Byrd und Hruschka als Indiz dafür, dass die volenti non fit iniuria-Logik des § 46,1 auch in der Jury am Werk zu sein habe: „Again the idea behind the volenti non fit iniuria argument is applicable. The plaintiff [Kläger] and the defendant suffer no wrong at the hands of the jury, because they are represented by the jury and the jury reaches its verdict unanimously“. Wegen der Kombination aus Repräsentation und Einstimmigkeit könne die Jury – „in contrast to the sovereign, the executive, and the civil servant judge“ – den Parteien kein Unrecht tun. Die Probleme dieser Interpretation liegen auf der Hand, weisen bei kritischer Betrachtung jedoch in die Richtung einer alternativen Deutung: Erstens spricht der letzte Satz des § 49,3 offen aus, dass die volenti non fit iniuria-Logik sowohl in der Jury als auch auf dem Gerichtshof (in sensu stricto) nicht greift, da es immer möglich sei, dass der Richter den Parteien durch sein Urteil unrecht tue. Zweitens ist es aber auch denkbar, dass der Richter genau wie die Jury ein Kollektiv ist, das die beiden Parteien repräsentiert und auch einstimmig beschließt. Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, dass nur der Richter den Parteien unrecht tun kann, nicht aber die Jury. Doch drittens ist der unrechtsanfällige Part des Rechtsspruches eben der Jury überantwortet, weswegen sie es ist, von der primär die Gefahr ausgeht, dass einer der beiden Parteien Unrecht geschieht. Diese drei Punkte verdeutlichen: Auf die volenti non fit iniuria-Logik des § 46,1 kann nicht zurückgegriffen werden, um die Eigenlogik der Kantischen Jury nachzuvollziehen; stattdessen ist die Aufgabe der Jury selbst stärker in Betracht zu ziehen. Sie besteht in jener „Ausmittelung der That in der Klagsache“, oder, anders formuliert, in der Aufgabe, ausfindig zu

472

Byrd/Hruschka 2010, 166. Achenwall 1768, 310. 474 Byrd/Hruschka 2010, 164-167, insb. 166. 473

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machen, was und welche der Parteien in der Faktenfrage ‚die Wahrheit‘ spricht. Diesbezüglich ist zu bedenken: Eine der Parteien kann im hier relevanten Fall nicht ‚die Wahrheit‘ sprechen, da die Antworten beider Parteien sonst in der Faktenfrage nicht divergieren würden. Darum wird der Zweck der Abordnung von Repräsentanten zum einen wohl nicht darin liegen, die Positionen der Parteien in der Jury (etwa im Sinn eines imperativen Mandats) lediglich abzubilden, zum anderen aber auch nicht darin, auf Basis dieser Repräsentation einstimmig zu entscheiden. Denn sonst könnten sich die Parteien auch selbst vertreten, doch das soll offenbar nicht so sein. Zudem kann es beim Verfahren der Jury auch nicht darum gehen, allein kraft allseitiger Einwilligung Unrecht auszuschließen, da die Frage, wer welche Tat begangen hat oder nicht begangen hat, prima facie keine genuine Willensfrage ist – obgleich es sehr wohl vom Willen abhängig ist, ob wahrhaftig gesprochen wird oder nicht. Alternativ lässt sich das Kantische Modell der Jury aber auch wie folgt deuten: Weil beide Parteien in Verdacht stehen, nicht ‚die Wahrheit‘ zu sagen – oder zumindest nicht wahrhaftig zu sprechen 475 – dürfen die Repräsentanten den faktischen Willen beider Parteien in der Jury gerade nicht repräsentieren – wie es die Logik des volenti non fit iniuria vorsehen würde. Vielmehr muss genau darin der Sinn der Repräsentation gesehen werden: Das Volk soll als aktiv-wollendes Subjekt nicht repräsentiert werden. Das aber heißt wiederum soviel: Repräsentiert werden soll das Volk als (passiv-gehorchender) Untertan, nicht aber als (aktiv-gebietender) Souverän. Und ausschließlich in der Rolle des Untertanen soll das Volk zufolge des vorliegenden Absatzes Repräsentanten für die Jury bestellen – streng abgesondert von seiner Rolle als Souverän, in der es ihm zukommt, die Richter einzusetzen. Man kann also festhalten: Einerseits setzt das Volk als Souverän Richter ein, die lediglich das Gesetz des souveränen Willens anwenden. Dabei kommt es darauf an, dass der souveräne Wille als bereits gebildeter „Wille in dreifacher Person“ (§ 45,2) tätig wird und bleibt. Ein volenti non fit iniuria-Verfahren ist darum gerade nicht nötig. Andererseits hat das Volk als Menge vereinzelter Untertanen aber auch dafür zu sorgen, dass sein gegenwärtiger Wille gerade nicht repräsen475

Vgl. TL, § 9,1.

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tiert werden soll, wenn darüber geurteilt wird, wer wem geschadet hat und wer deshalb verurteilt und bestraft wird. Hier steht der tatsächliche Wille des Volkes nur im Weg und ist daher auch nicht in seiner Funktion gefragt, Unrecht qua allseitigem Beschluss zu vermeiden. Darum ist auch hier kein volenti non fit-iniuria-Verfahren angebracht. Ganz grundsätzlich ist der Versuch aber auch höchst problematisch, unrechte Verfügungen vonseiten der beiden untergeordneten Gewalten vermeiden zu wollen, indem man diese nach dem Willensbildungsverfahren der Volkssouveränität organisiert – vor allem wenn man auf diese Weise beabsichtigt, das Postulat des öffentlichen Rechts zu befolgen. Denn der souveräne Wille ist bereits gebildet und muss nur noch rechtmäßig als „Wille in dreifacher Person“ (§ 45,2) wirksam werden – durch die Realisation der Beiordnung aller drei Gewalten zu einer rechtserteilenden Gewalt kraft ihrer Unterordnung und Vereinigung, wovon die vorliegenden §§ 48 und 49 schließlich primär handeln. Würde man indes im Rahmen der zweiten und dritten Gewalt jeweils einen neuen Willen bilden, anstatt den bestehenden lediglich ‚ordnungsgemäß‘ zu repräsentieren, ständen am Ende womöglich drei separate Willen in Konkurrenz zueinander und die Beiordnung, Unterordnung und Vereinigung aller drei Gewalten zu einem „Wille[n] in dreifacher Person“ wäre unmöglich – und damit auch der Zustand distributiver Gerechtigkeit, wie ihn das Postulats des öffentlichen Rechts fordert.476

2.4 Zu Absatz 4 Der vierte und letzte Absatz des § 49 schließt den ersten Paragraphenblock. Er besteht aus zwei Sätzen, deren jeweilige (Haupt-)Aussage alle drei Gewalten betreffen: einerseits die drei Gewalten in ihrer Verschiedenheit (Satz 1), andererseits in ihrer Vereinigung (Satz 2). Damit grenzt sich der letzte Absatz offensichtlich von den drei vorigen ab. Dort ging es vor allem um die Verschiedenheit, genauer, um die Realisation jener Beiordnung der drei Gewalten als verschiedene, einan476

Ulrich Thiele hat diese Problematik ausführlich in seinem Buch zur Friedensschrift von dargelegt, 2003, insb. 32 ff., wobei er an Maus, 1992, Kap. 10, anknüpft.

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der untergeordnete Glieder eines souveränen „Willen[s] in dreifacher Person“ (§ 45,2). So wird der erste Satz auch als Konklusion präsentiert: „Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“.

Was mit dieser Schlussfolgerung rekapituliert wird, ist allerdings nicht nur das Moment der Verschiedenheit der drei Gewalten als potestates coordinatae, die zum einen § 48,1 aussprach, zum anderen Gegenstand der vorigen Absätze des § 49 war. Es ist vor allem die Notwendigkeit genau dieser drei Gewalten in ihrer Verschiedenheit für die Autonomie des Staats als sich selbst bildender und erhaltender Bürgerschaft (civitas). Das aber war der übergreifende Gedanke des § 47, demzufolge die drei Gewalten für die Selbstkonstitution des Volkes zum Staat notwendig sind – wobei die Selbstkonstitution auch dort schon zu verstehen war als Autonomie der Staates als sich selbst bildender und erhaltender civitas, im Vorausgriff auf vorliegende Stelle des § 49 (s. o. (zu § 47, Kap. 2.3)). Im Nexus der §§ 48 und 49 ist dieser (ab)schließende Rückverweis letztlich darum von besonderer Wichtigkeit, weil in ihm erstmals wieder nach § 47 das Volk als Souverän in den Blick genommen wird, wenn auch nicht ausdrücklich: Der letzte Absatz des 49 und zugleich des ersten Paragraphenblocks handelt von der Volkssouveränität – und zwar im fundamentalsten Sinn. Nach der Zäsur durch einen Gedankenstrich macht der zweite Satz geltend, dass in der „Vereinigung“ der „drei verschiedene[n] Gewalten“ das „Heil des Staats“ besteht. Das ist zuerst einmal so zu lesen: Mit Blick auf den vorigen Satz wird grundsätzlich die Vereinigung zu einem souveränen und autonomen Willen gemeint sein, durch den der Staat eben seine Autonomie hat, also sich (in dreifacher Person) bildet und erhält. Genauer: Hierunter muss jene Vereinigung der ersten beiden Gewalten durch die dritte verstanden werden, welche wiederum die Vereinigung aller drei Gewalten „zu einer rechtserteilenden Gewalt“477 bezweckt, damit alle drei „jedem Unterthanen sein Recht erteilend sein“ können, so § 48,1. Darin liegt

477

Wolff 2013, 57.

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schließlich der eigentliche Staatszweck, nimmt man den Standpunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts ein. Was aber genau unter dem „Heil des Staats“ zu verstehen ist, wird im restlichen Verlauf des Textes ausführlich dargelegt, der in etwa zwei Drittel des gesamten Absatzes einnimmt: Zuerst wird gesagt, was man unter dem „Heil des Staats“ nicht verstehen darf – ‚müssen‘ gebraucht Kant hier wie gewohnt als ‚dürfen‘; daraufhin wird die Zurückweisung dieses (Miss-)Verständnisses begründet; abschließend erfolgt die Angabe des richtigen Verständnisses. Auf diese Weise wird die damalige common sense-Bedeutung des Wortes „Heil“ einseitig eingeengt und damit zugleich Stellung genommen gegenüber der mainstream-Position der neuzeitlichen Staatslehre: dass die Glückseligkeit der oberste Staatszweck sei. Denn einerseits hieß „Heil“ Ganzheit, Unversehrtheit sowie Gesundheit, andererseits aber auch Wohl und Glückseligkeit. 478 Doch nach Auskunft vorliegender Stelle dürfe man unter dem „Heil des Staats“ eben nicht „das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit“ verstehen; die Rede vom „Heil des Staats“ bezeichne „den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien“, genauer, die Integrität der (Staats-)Verfassung aufgrund maximaler Übereinstimmung mit den zuvor begründeten Anfangsgründen des Staatsrechts. Der erste Paragraphenblock schließt indes nicht allein mit einer oberflächlichen Zurückweisung der mainstream-Position. Worum es in den zwei entgegengesetzten Auffassungen vom Heil des Staates nämlich geht, sind zwei grundverschiedene Einstellungen, welche die nun auch expressis verbis genannten „Staatsbürger“ zu ihrem Staat und dessen Autonomie haben können – und damit zu sich selbst, als sich selbst qua souveränem Willen bildender und erhaltender civitas. Einerseits geht das aus der Begründung der zurückgewiesenen Auffassung hervor. Ihr zufolge mag die Glückseligkeit der Staatsbürger „vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen“. Damit wird auf einen Stand- und Gesichtspunkt hingewiesen, von dem aus beurteilt es zufällig ist, ob das Volk als civitas durch die Beiordnung, Unterordnung und Vereinigung der drei Gewalten seine Autonomie hat, oder sich diese Autonomie statt478

Adelung 1796, 1067-69

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dessen unter einer despotisch-usurpatorischen Regierung auflöst. Für diese Zufälligkeit steht das „vielleicht“: Vom Gesichtspunkt der Glückseligkeit aus betrachtet ist ein Zustand äußerster Unfreiheit „vielleicht […] viel behaglicher und erwünschter“ als im Staat des ‚Staatsrechts‘, vielleicht aber auch nicht. Damit wird an dieser Stelle auf jene fundamental freiheits- und rechtswidrige innere Einstellung und Haltung hingewiesen, seine Freiheit und Würde einem anderen Gesichtspunkt unterzuordnen (dem Gesichtspunkt der eigenen Glückseligkeit) und von ihm abhängig zu machen (vgl. Vorstudie). Doch diese fundamental freiheitswidrige Einstellung abzulegen, das fordert auch das Postulat des öffentlichen Rechts. Gegen diese Einstellung richtet sich nämlich wie gesagt bereits die erste elementare Rechtspflicht des honeste vive, deren Befolgung das Postulat des öffentlichen Rechts mit einfordert (vgl. Vorstudie, 4.2). Darum wird zum Abschluss des Paragraphen nicht lediglich eine andere Auffassung vom „Heil des Staats“ geltend gemacht. Denn am Ende erfolgt auch der Hinweis, dass nach dem zuvor bestimmten „Heil des Staats […] zu streben uns die Vernunft durch einen categorischen Imperativ verbindlich macht“. Damit wird zum einen wieder der Standpunkt der Freiheit selbst geltend gemacht, genauer: der Standpunkt der Freiheit reiner praktischer Vernunft, die einerseits kraft kategorischer Imperative die „Nothwendigkeit einer [oder mehrerer] freier Handlungen“ ausspricht, also „Verbindlichkeit “ generiert (vgl. EMdS, IV,4), andererseits aber auch in Opposition zum Standpunkt der Glückseligkeit steht, die nur zu hypothetischen Imperativen fähig ist, also nur empirische und deshalb nur zufällige Grundsätze abgeben kann479. Lediglich vom Standpunkt dieser Freiheit reiner praktischer Vernunft aus geurteilt hängt es folglich nicht vom Zufall ab, ob der „Staat“ und mit ihm „der Mensch im Staate“ (vgl. § 47, Satz 3) seine Autonomie hat, oder nicht. Zum anderen erfolgt mit diesem Ende des Paragraphen erstmals wieder seit der Formulierung des Postulats des öffentlichen Rechts eine persönliche Anrede – „nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen categorischen Imperativ verbindlich macht“ (Kursivdruck: M.W.) –, womit die abschließenden Worte des ersten Paragraphenblocks auf das dem ‚Staatsrecht‘ vorausliegende Postulat des öffentlichen Rechts zurückverweisen. Das heißt: Wir Menschen sollen 479

Vgl. KpV, §§ 2, 3 und 8.

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als Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts in der Befolgung desselben gemeinsam als Staatsbürger nach jenem „Heil“ unserer civitas und ihrer Autonomie streben – verstanden als „Zustand“ ihrer „größten Übereinstimmung“ mit den Anfangsgründen des Freiheitsrechts. Und das soll wie gesagt nicht auf Basis einer Einstellung erfolgen, welche die gebotene Praxis in Abhängigkeit von externen Gesichtspunkten (wie dem der eigenen Glückseligkeit) setzt. Kraft einer Rechtspflicht soll diese Praxis notwendigerweise, unbedingt und um der Freiheit der Autonomie willen erfolgen. Artikuliert wird damit erneut die Forderung nach einer praktischen Einstellung, in der die Freiheit alternativen Gesichtspunkten konsequent übergeordnet wird, die Forderung nach jener Einstellung also, die bereits das honeste vive erhob. Die zwei grundverschiedenen Einstellungen der Staatsbürger werden im vorliegenden Absatz zudem durch zwei ideengeschichtliche Referenzen in ein schärferes Licht gerückt – und mit ihnen auch die Kantische Philosophie des Volkssouveränität. Die erste Referenz ist der Satz salus reipublicae suprema lex est, die zweite der explizite Verweis auf Rousseau („wie auch Rousseau behauptet“). (Zur ersten Referenz:) Salus reipublicae suprema lex est, dieser Satz ist der Kernaussage des zweiten Satzes eingeklammert angefügt. Doch damit wird die Aussage nicht reformuliert, sondern ergänzt. Denn ihr zufolge ist das „Heil des Staats“ nun auch das oberste Gesetz („suprema lex“), und das zu wissen ist für die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts wiederum von höchster Wichtigkeit. Demnach haben sie sich nämlich in der Befolgung des Postulats als Staatsbürger an oberster Stelle um jenes „Heil des Staats“ zu kümmern. Man beachte aber: Der Satz richtet zugleich eine polemisch-kritische Spitze gegen die Adressaten des Postulats selbst als Volk. Der Satz ist schließlich eine bewusste Umformulierung von Ciceros Diktum aus ›De legibus‹, demzufolge das Heil des Volkes das oberste Gesetz sei: „Ollis salus populi suprema lex esto“480. Dieses Diktum haben in der frühen Neuzeit dann auch Hobbes, Spinoza und Locke in ihren Werken der Staatsphilosophie übernommen. 481 Zugleich war 480 481

Cicero, De legibus, Buch III, Kap. III,8; 154 f. Hobbes, Leviathan, Kap. 30; Spinoza, Tractatus theologico-politicus, Kap. 19; Locke, Second Treatise, Epigraph.

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der Satz ein häufig verwendeter Leitspruch der amerikanischen und englischen Verfassungspraxis. Er war also höchst bekannt. Doch Kant geht es an vorliegender Stelle eben nicht um das Heil des Volkes, sondern um das der Republik. Dass diese Umformulierung nun aber keine beliebige ist, verdeutlicht nicht zuletzt die Parallelstelle in ›Der Streit der Fakultäten‹ (1798):482 „Das Volk aber setzt sein Heil zu oberst nicht in der Freiheit“. Zwar soll das „Heil des Staats“ (der res publica) für die Staatsbürger das oberste Gesetz sein, nicht aber deren eigenes Heil als Volk – doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass im ‚Staatsrecht‘ die Begriffe „Staat (civitas)“ und „gemeine[s] Wesen (res publica latius sic dicta)“ lediglich alternative Bezeichnungen für das „Volk“ sind (vgl. § 43). Und darum ist die Umformulierung von Ciceros Satz zuerst einmal auch unscheinbar und folglich kaschiert. Allerdings bezeichnen die Begriffe „Staat“ und „gemeine[s] Wesen“ das „Volk“ in einem bestimmten Zustand, der freilich aus einer je verschiedenen Perspektive reflektiert wird: Der Begriff „Staat“ steht für „das Ganze derselben [einzelnen Menschen], in Beziehung auf seine eigene[n] Glieder“; das „gemeine Wesen“ deutet hingegen auf die „Form“ dieses Ganzen hin, „verbunden durch das gemeinsame Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein“, und eben darum zu besagtem Ganzen „verbunden“ zu sein. Mit Rekurs auf diese Begrifflichkeiten erhält die Rede vom „Heil des Staats“ oder „salus reipublicae“ einen präzisen Sinn. Denn einerseits setzt sie aufseiten des Volks jenes „gemeinsame Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein“ voraus (Kursivdruck: M.W.). Dieses Interesse zu haben fordert das Postulat des öffentlichen Rechts; es ist aber zugleich auch für das Postulat grundlegend. Doch: In besagtem Postulat ist eben auch das elementare honeste vive mit einbegriffen und dieses ist ab dem zentralen § 46 unabdingbar auch für die Bildung eines gemeinen Wesens als Bürgerschaft. Darum muss das Interesse Aller am Ende des ersten Paragraphenblocks auch als gemeinsames Interesse Aller verstanden werden: als gemeinsames Interesse, an der Freiheit, ihrer Würde und deren öffentlicher Behauptung Anteil zu nehmen. Andererseits ist die gemeinsame Sache dieses Interesses aber auch für den Staat als „das Ganze derselben [einzelnen Menschen], in Beziehung auf seine eigene[n] Glieder“ formgebend, wes482

SF, AA 07: 30.05-09.

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halb man ihn dann auch schlicht res publica nennen kann. Das Heil, also die Ganzheit und Unversehrtheit, wohl aber auch die Rettung und Sicherheit dieses Ganzen ist nun das „Heil des Staats“ (der „res publica“), welches für die Staatsbürger das oberste Gesetz sein soll. Das aber heißt nichts anderes als: Das Volk soll durchgehend und „zu oberst“ sein Heil in seine Freiheit setzen. Das Volk kann sein Heil aber ebenso auch nicht in seine Freiheit setzen: wenn die Menschen ihre Freiheit grundsätzlich anderen Gesichtspunkten unterordnen, wie demjenigen ihrer partikularen Glückseligkeit. Darum ist das Heil des Volkes (salus populi) nicht notwendig die gemeinsame Sache des ‚Staatsrechts‘ (salus reipublicae). So gesehen bringt die Verschiebung gegenüber der gängigen Formulierung des Satzes (von Cicero) einen Punkt fundamentaler Kritik zum Ausdruck, und zwar an der praktischen Grundeinstellung des Volkes. Allerdings wird diese Kritik vom Volk (von „uns“) als Selbstkritik zu verstehen sein; und die muss in diesem Sinne auch praktiziert werden. Die praktische Frage ist also, welche Einstellung wir als Staatsbürger einnehmen – wenn das gemeinsame Interesse an unserer Freiheit und Würde in Frage steht, aber auch das Projekt, uns um dieses Interesses willen zu einem Staat zu formieren, der wiederum Ausdruck dieses Interesses zu sein hat. (Zur zweiten Referenz:) Mit dem Hinweis auf Rousseau wird dieser Kritikpunkt ultimativ zugespitzt. Die in Klammern gesetzte Referenz „wie auch Rousseau behauptet“ ist nämlich nicht so zu verstehen, dass Rousseau lediglich „auch“ behaupte, vom Gesichtspunkt der partikularen Glückseligkeit aus könne diese „vielleicht […] im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen“ (Kursivdruck: M.W.). Rousseau zufolge steht der Despotismus nämlich wie gesagt (als „nouvel état de Nature“) für die epochale historische Praxis der bürgerlichen Gesellschaft, sich um einer vermeintlichen Glückseligkeit willen von der Würde und Bürde der Freiheit befreien, oder vielmehr, sich deren entledigen zu wollen (s. o. (zu § 46,1, Kap. 3.1.3 a)). Das aber ist eine Praxis, in der die Freiheit willentlich und vorsätzlich aufgrund ihrer Eigenlogik verneint wird, – was eben nicht bloß eine zufällige Angelenheit im Modus des ‚vielleicht‘ ist. Insofern sich Kant bezüglich dieses Punktes Rousseau anschließt, geht er „wie auch Rousseau“ davon aus, dass Menschen ihr Heil nicht zu oberst in die Freiheit setzen, sondern diese „wegwerfen“ wollen, indem sie sich unter die

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tung Anderer stellen. Dafür steht der Ausdruck „selbst verschul det[e] Unmündigkeit“, dem im ‚Staatsrecht‘ schließlich die „väterliche“ und „despotisch[e]“ Regierung korrespondiert, deren Prinzip es ist, „Bürger als Kinder zu behandeln“, – weil sie es so wollen (s. o. (zu § 49,1)). Vom Standpunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts ist das nun explizit angesprochene Problem dieser fundamental freiheitswidrigen Einstellung jedoch streng genommen nicht als weitere Krise zu deuten, die sich im Rahmen der Befolgung des Postulats befolgungsimmanent einstellt. Denn was das Projekt des öffentlichen Rechts an diesem Punkt gefährdet, ist nicht wieder nur eine defizitäre staatsrechtliche Struktur, die im Zuge der Befolgung des Postulats um seiner Befolgung willen generiert wurde. Vielmehr handelt es sich um eine Einstellung der Adressaten dieses Postulats, welche die Postulats-Befolgung von beliebig-zufälligen Gesichtspunkten abhängig macht, zudem aber auch explizit verneint – eben weil diese Einstellung als jene fundamental freiheitsverneinende Einstellung „selbst verschuldete [r] Unmündigkeit “ identifiziert werden kann. Seine Freiheit und Würde ‚politisch‘ wegwerfen zu wollen, heißt schließlich, sich in die totale Abhängigkeit vom Willen eines Anderen zu begeben, was nach Kantischer Auskunft wiederum bedeutet, aufhören zu wollen, eine Person zu sein (vgl. wieder Allg. Anm., D,3 und 4) – und damit auch Adressat des Postulats des öffentlichen Rechts wie Adressat von Pflichten überhaupt. Weil dieses Problem nun dem Postulat sowie dem Projekt öffentlichen Rechts vorausliegt, kann in der Befolgung des Postulats nicht selbst wiederum ein Anfangsgrund öffentlichen Rechts hervorgebracht werden, der hier als ‚Heilmittel‘ fungiert. Ob die Menschen nämlich von ihrer Freiheit in einer Einstellung Gebrauch machen, die diese Freiheit grundsätzlich bejaht, oder aber verneint, ist eine Freiheitskrise par excellence – die nur durch die Freiheit selbst den einen oder anderen Ausgang nehmen kann. Einzig möglich ist an diesem Punkt, den Standpunkt sich selbst bejahender Freiheit (reiner praktischer Vernunft) zur Sprache zu bringen – mit einer Forderung, die sich an „uns“ richtet. Das geschieht an vorliegender Stelle, und auf diese Weise schließt der erste Paragraphenblock.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

Abschließend ist noch zu klären, was genau vom Standpunkt dieser Freiheit aus von „uns“ gefordert ist. Der Hauptaussage des zweiten Satzes zufolge besteht das „Heil des Staats“ nämlich in der „Vereinigung“ der drei verschiedenen Gewalten „wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“. Doch – so die Erläuterung – zu verstehen sei darunter der „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien“. Wie hängen diese beiden Aussagen nun zusammen? Hilfreich ist auch hier wieder ein Rückblick auf § 48,1. Denn dort hieß es von den drei Gewalten, sie seien als potestates coordinatae jeweils wechselseitig „das Ergänzungsstück der [jeweils] Anderen zur Vollständigkeit […] der Staatsverfassung“. Zum einen kann man demnach die Hauptbestimmung des vorliegenden Satzes so lesen, dass in der Vereinigung der drei Gewalten als Ergänzung (zu einem Ganzen) das „Heil des Staats“ besteht, welches wieder für die Unversehrtheit und Vollständigkeit eines Ganzen steht. Zum anderen war diese Ergänzung nach § 48,1 jedoch nicht eine zur Vollständigkeit eines beliebigen Ganzen, sondern eine „zur Vollständigkeit […] der Staatsverfassung“ – und so ist nun vom „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien“ die Rede (Kursivdruck: M.W.). Dass die drei Gewalten wechselseitig Ergänzungsstücke „zur Vollständigkeit […] der Staatsverfassung“ sind, hatte in § 48,1 jedoch einen präzisen Sinn. Zuallererst brachte der dort neu eingeführte Begriff der Staatsverfassung, der Doppeldeutigkeit des Verfassungsbegriffes entsprechend, bereits den zu Beginn des vorliegenden Absatzes formulierten Gedanken zum Ausdruck, dass der Staat sich kraft der drei Gewalten „selbst […] bildet und erhält“: Der Staat verfasst sich auf diese Weise selbst als autonomes Subjekt zum Staat als Objekt; und das in einer Praxis und einem Prozess der Staatsverfassung, welche (bzw. welcher) wiederum die Staatsverfassung als Produkt und Ergebnis zum Ziel hat. Schließlich erwies sich im Rückblick auf die §§ 45 und 47 aber auch die Vollständigkeit dieser Staatsverfassung doppelt bestimmt, und zwar durch praktische Ideen als (Totalitäts-)Vorstellungen rechtlicher Vollständigkeit. Das ist zuerst einmal die „Idee eines Staats überhaupt“ (§ 47, Satz 1) – der „Staat in der Idee“ – als rechtsgesetzlich bestimmte Minimalform einer horizontalen Verfassung des Beisammenseins der Menschen, die verwirklicht sein muss, damit überhaupt ein Staat besteht. Insofern die

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drei Gewalten für die Konstitution dieser minimalen, aber auch jeder darüber hinausgehenden Form konstitutiv sind, müssen sie jeweils als Ergänzungsstücke zur „Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“ angesehen werden – der Staatsverfassung als Produkt und Ergebnis. Schließlich sind sie aber auch zur Praxis und zum Prozess des demokratischen Projekts der Selbstkonstitution eines Volkes unabdingbar. Denn eben nur als verschiedene, nach der Struktur des praktischen Syllogismus koordinierte, subordinierte und schließlich vereinigte Gewalten, ermöglichen sie die Selbstkonstitution des Volkes, und zwar durch seinen eigenen, doch allein in Entsprechung mit der Idee des ursprünglichen Kontrakts vollständig rechtmäßig erzeugten Willen – dem Volkswillen in dreifacher Person. Dass unter dem „Heil des Staats“ der „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien“ zu verstehen sei, heißt vor diesem Hintergrund nun Folgendes: Einerseits muss die (Staats-)Verfassung als Produkt und Ergebnis sich im „Zustand der größten Übereinstimmung“ mit jenen Rechtsgesetzen befinden, welche die minimale „Form eines Staats überhaupt“ festlegen (§ 45,1). Dabei kann die größte Übereinstimmung in dieser Hinsicht keine andere als eine vollständige sein, weil ansonsten überhaupt kein Staat verfasst wäre und folglich bestehen würde. Die „Idee eines Staats überhaupt“ (§ 47) ist eine praktisch-konstitutive. Andererseits muss aber auch die (Staats-)Verfassung als demokratische Praxis und demokratisches Projekt der Freiheitsbehauptung in der „größten Übereinstimmung […] mit Rechtsprincipien“ vonstatten gehen. Ansonsten wäre der gesetzgebend-souveräne Wille des Volkes entweder nicht autonom gebildet, oder er würde sich im Vollzug dieses Willens als solch ein autonomer Wille auflösen – womit der Staat keine civitas mehr wäre im Sinne einer Bürgerschaft, die ihre „Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“. Und genau dafür wurden schließlich in den ersten drei Absätzen des vorliegenden § 49 „Rechtsprincipien“ bestimmt. Darum muss gesagt werden: Das „H e i l des Staats“ besteht im „Zustand der größten Übereinstimmung“ eines Staats mit den „Rechtsprincipien“, die das ‚Staatsrecht‘ im ersten Paragraphenblock als Anfangsgründe begründet hat – und zwar als Anfangsgründe der Volkssouveränität. Doch dieser Zustand der größten Übereinstimmung ist zugleich derjenige der vollständigen Übereinstimmung, weil ein Staat sonst rechtmäßig weder als Subjekt, noch als Objekt

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hen könnte. Das Maximum des Zustands „der größten Übereinstimmung“ ist deshalb zugleich das Minimum, welches erfüllt sein muss, um von einem Staat als civitas überhaupt sprechen zu können. Genau danach „zu streben“, mache „uns“ nun „die Vernunft durch einen categorischen Imperativ verbindlich“: In der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts sollen wir um unserer Freiheit und Würde willen die Anfangsgründe der Volkssouveränität vollständig verwirklichen und zwar in der gemeinsamen staatsbürgerlichen Praxis einer civitas. Deshalb kann man das „Heil des Staats“ auch als das praktische Ideal einer vollständigen Verwirklichung des Staats des ‚Staatsrechts‘ auslegen. Damit steht fest: Der erste Paragraphenblock des ‚Staatsrechts‘ schließt mit einer in sich geschlossenen Verwirklichungslehre dessen, was man in der Literatur üblicherweise den ‚Staat in der Idee‘ nennt. Somit legt bereits dieser Textabschnitt eine in sich geschlossene Staatslehre vor, die nicht nur den „Staat in der Idee“ als res publica noumenon zum Gegenstand hat, sondern zugleich dessen vollständige Verwirklichung in einer res publica phaenomenon – nicht primär durch „Götter oder Engel“, sondern durch „uns“.

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Rückblick auf den ersten Paragraphenblock (§§ 43-49) Im Rückblick lässt sich festhalten: Der Textabschnitt ist dreigliedrig, insofern eine erste Triade von Paragraphen (§§ 43-45) in einer vordemokratischen Sektion zum zentralen § 46 hinführt, in dem die Volkssouveränität begründet wird, und eine zweite Triade von Paragraphen (§§ 47-49) dann von diesem Zentrum wegführt. Entgegen dem Schein handelt es sich bei der zweiten Triade jedoch nicht um eine nach- oder postdemokratische Sektion, sondern um eine durch und durch demokratische. Hier werden die Anfangsgründe der Souveränität, die in der ersten und vordemokratischen Sektion aufgestellt wurden, weiterbestimmt zu Anfangsgründen der Volkssouveränität. Notwendig ist dies letztlich, damit das in § 46 erreichte demokratische Niveau nicht in der Staatspraxis unterschritten wird. Entscheidend hierfür ist die in § 47 geleistete Arbeit. Die thematische Homogenität der §§ 45 und 47 sowie die konzentrische Plazierung beider Paragraphen um das Zentrum des § 46 herum hat schließlich genau darin seinen Sinn: In § 47 werden die in § 45 exponierten und miteinander verschränkten Lehrstücke vom „Staat in der Idee“ einerseits sowie von den „drei Gewalten “ andererseits zu einer charakteristischen Lehre von der Volkssouveränität weiterbestimmt. Allerdings ist bereits § 45 abweichend von der Architektonik-Interpretation zu deuten, die in ihrer konsequentesten Zuspitzung besagt, die Bürgerbeteiligung sowie die Gewaltengliederung seien nur im Rahmen des Staats in der Idee von Belang, hätten jedoch in wirklichen Staaten keine Bedeutung mehr, oder zumindest nur noch eine eingeschränkte483. Demgegenüber konnte ich durch sorgfältige Interpretation darlegen: In § 45 werden sowohl der Staat in der Idee, wie auch die drei Staatsgewalten als konstitutive praktische Ideen eingeführt. Und beide Ideen gilt es unbedingt und vollständig zu verwirklichen; – nämlich in der Verschränkung, dass die drei Gewalten als konstitutive Verwirklichungsbedingung des Staats in der Idee fungieren, dessen Form wiederum als „Form eines Staats überhaupt“ (§ 47) diejenige ist, die für einen jeden Staat konstitutiv ist, soll er überhaupt ein Staat sein. Genau dieses Lehrstück wird in § 47 dann jedoch zum Lehrstück der demokratischen Staatskonstitution 483

Vgl. wieder Ludwig 1999, 177-180, insb. 178, 183 f. sowie Hirsch 2017, 311 f., 317-319, 320 ff., 330.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

weiterbestimmt, wobei die Volkssouveränität selbst zu einer konstitutiven praktischen Idee wird. Aber auch die Ausführungen zur Gewaltengliederung in den abschließenden §§ 48 und 49 sind als Arbeit am Projekt der Volkssouveränität zu deuten – und das „Heil des Staats“ ganz am Ende des ersten Paragraphenblocks (in § 49,4) ist als das praktische Ideal der vollständigen Verwirklichung des Staats des ‚Staatsrechts‘ zu verstehen, und das heißt: der sich durch die drei Gewalten autonom bildenden und erhaltenden civitas. Im Rückblick auf den ersten Paragraphenblock bestätigt sich damit, was in der Lektüre der Paragraphen immer wieder punktuell zu verzeichnen war: In einer genauen Lektüre des ersten Paragraphenblocks erweist sich die große Architektonik des ‚Staatsrechts‘ auf der exoterischen Darstellungsebene – so suggestiv sie sein und bleiben mag – als falsch und bloß scheinbar. So weisen die §§ 45 und 46 jeweils dieselbe zweigeteilte Architektonik als Bauform auf, welche auch die suggerierte Gesamt-Architektonik des ‚Staatsrechts‘ kennzeichnet: Der erste Teil bestimmt den Staat in der Idee und begründet die Volkssouveränität (§ 45,1 sowie § 46,1 und 2), der zweite Teil legt hingegen ein Lehrstück der Verwirklichung dieses Staats in einer respublica phaenomenon vor (§ 45,2 sowie § 46, eA 1 und 2). Doch damit wird die große Zweiteilung des ‚Staatsrechts‘ im Kleinen formaliter untergraben, verneint und widerlegt, da sich die strikte Trennung von einem Teil der Darstellung des Staats in der Idee einerseits und einem Teil der Verwirklichung desselben andererseits nicht aufrechterhalten lässt, wenn im ersten Teil bereits die Arbeit erfolgt, die das Alleinstellungsmerkmal des zweiten sein soll. Widerlegt und verneint wird die Architektonik aber auch materialiter durch § 46. Denn dieser Paragraph begründet die Rousseau’sche Republik weniger als Idealstaat, sondern vielmehr in Kombination mit einem Lehrstück der verlustlosen Verwirklichung derselben in einer respublica phaenomenon – wonach dieser Staat eben nicht antirousseauistisch zu verwirklichen ist als repräsentatives System im Sinn von Sieyes. Das aber sieht der zweite Teil der großen ‚Staatsrecht‘-Architektonik allem Anschein nach vor – dazu jedoch später in meiner Interpretation des zweiten Paragraphenblocks.

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B. Die Allgemeine Anmerkung: „Von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins“

Im Text der Originalausgabe ist zwischen den beiden Paragraphenblöcken (§§ 43-49 und §§ 50-52) eine „Allgemeine Anmerkung“ plaziert, die den Großteil des ‚Staatsrecht‘-Textes einnimmt. Ihr Titel lautet vollständig: „Allgemeine Anmerkung. Von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins“. Dieser Titel übergreift fünf Abschnitte, in welche die Anmerkung unterteilt ist, wobei die Abschnitte jeweils lateinische Großbuchstaben als Eigentitel tragen (A-E) – bis auf den letzten Abschnitt (E), der sich zudem durch eine ausformulierte Überschrift kennzeichnet: „Vom Straf- und Begnadigungsrecht“. Doch was heißt der komplexe Titelausdruck: „Von den rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins“? Und inwiefern handeln alle fünf Abschnitte genau davon? Indem ich diese beiden Fragen beantworte, möchte ich (in Kap. 1.) knapp darlegen, wie sich die Allgemeine Anmerkung in das Projekt metaphysischer Anfangsgründe der Volkssouveränität eingliedert. Auf eine detaillierte Interpretation des ganzen Textabschnitts verzichte ich allerdings. Solch eine Interpretation müsste in einer separaten Studie durchgeführt werden, wie bereits dann leicht zu sehen ist, wenn man sich die philosophische und text-rhetorische Komplexität auch der Allgemeinen Anmerkung vergegenwärtigt. Statt hierüber Näheres mitzuteilen, diskutiere ich (in Kap. 2) anhand ausgewählter Stellen, wie der Anmerkungs-Text zu folgenden drei Themenkomplexen Stellung nimmt: ‚Schrittweise Reform‘ (2.1), ‚Volkssouveränität als Gedankenexperiment‘ (2.2), ‚Frage nach der (parlamentarisch-repräsentativen oder radikaldemokratischen) Demokratie‘ (2.3); – Komplexe, die wiederum zum übergeordneten Thema ‚Verwirklichung der Volkssouveränität‘ gehören. Für das Gesamtverständnis des ‚Staatsrechts‘ sind die Kantischen Stellungnahmen zu diesen Themenkomplexen letztlich von erheblicher Bedeutung, weshalb ihnen in den bisherigen ‚Staatsrecht‘-Lektüren immer wieder Beachtung geschenkt wurde. Darum werde ich auch auf diese Lektüren eingehen.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

1. Zur Überschrift und dem Projekt der Allgemeinen Anmerkung Wie ist die Überschrift der Allgemeinen Anmerkung zu deuten? Diese Frage lässt sich kurz und bündig wie folgt beantworten: Der Ausdruck „der bürgerliche Verein (unio civilis)“ steht bereits seit der Begriffsexposition in § 41 für die souveräne Vereinigung der Staatsbürger, welche „nicht sowohl“ eine „Gesellschaft“ sei, als „vielmehr“ eine mache (§ 41,4). Entsprechend hieß es in § 49, der Staat, also die civitas oder Bürgerschaft, bilde und erhalte „sich selbst“ (§ 49,4). Das bedeutet, dass die Gemeinschaft der Staatsbürger in der Rolle des Souveräns sich selbst qua Volkssouveränität verursacht oder bewirkt, auch und vor allem als Rechtsgemeinschaft, infolge von rechtlichen Wirkungen. Und dass hierbei durch die Souveränitätsausübung und Rechterteilung niemandem im Volk unrecht geschehen können soll, daraufhin wurden die Anfangsgründe der Volkssouveränität (des bürgerlichen Vereins) bereits im ersten Paragraphenblock bestimmt. Besagte Anfangsgründe lassen sich darum auch als (normativ verstandene) „Natur des bürgerlichen Vereins“ bezeichnen und die rechtlichen Wirkungen, die notwendigerweise aus genau dieser Natur zu folgen haben, eben als die „rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins“ (Kursivdruck: M.W.). Der Überschrift zufolge wäre also zu erwarten, dass die fünf Abschnitte demokratische Staatspraxis unter dem Gesichtspunkt ihrer Rechtmäßigkeit diskutieren, was wiederum vom Gesichtspunkt besagter Anfangsgründe der Volkssouveränität aus beurteilt werden müsste. Dabei würde es sich allein schon aufgrund des Textvolumens der Allgemeinen Anmerkung um eine der drei „weitläufige[n] Anmerkungen“ im ‚Staatsrecht‘ handeln, von der die Vorrede sprach (Abs. 2). Doch die wäre als „Allgemeine Anmerkung“ nicht darauf beschränkt, lediglich die „Anwendung“ der Anfangsgründe der Volkssouveränität „auf in der Erfahrung vorkommende Fälle“ zu besprechen (vgl. ebd., Kursivdruck: M.W.). Vielmehr könnte man davon ausgehen, dass in ihr immer noch auch allgemeine Prinzipien demokratischer Staatspraxis thematisiert werden, die nicht nur für einen bestimmten Staat und für besondere Fälle Geltung beanspruchen – so zum Beispiel allgemeine Prinzipien des Strafrechts. Diese allgemeinen Prinzipien wären zugleich wieder als Wissen zu deuten, wie das Postulat des öffentlichen Rechts weiter befolgt werden kann, – nun

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indes von zur Gesetzgebung vereinigten Staatsbürgern, die sich auf die Anfangsgründe ihrer Volkssouveränität besinnen. So schließlich lässt sich die Allgemeine Anmerkung ihrem vollen Titel entsprechend lesen und unter ihm eine stattliche Reihe gewichtiger Punkte abhandeln: Die Widerstandsthematik, insbesondere wenn man sie verfassungsrechtlich diskutiert, die Besitz- und Eigentumspolitik, das Steuerrecht, das Recht der Staatswirtschaft, des Finanzwesens sowie der Polizei, der sogenannte Wohlfahrtsstaat, die Kirchenpolitik, die Politik der Ämter und Würden, aber auch das Strafund Begnadigungsrecht – all diese heterogenen Themen können im Rahmen des skizzierten Projekts als „rechtlich[e] Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins“ gedeutet werden. Aber im Kontext und Umfang der vorliegenden Arbeit kann hierauf freilich nicht Bezug genommen werden.

2. Zur Thematisierung der Volkssouveränität in der Allgemeinen Anmerkung Auf den ersten Blick hin ist es allerdings einigermaßen unklar, wie die Frage nach der Volkssouveränität im Textstück der Allgemeinen Anmerkung zu bearbeiten ist. Ist doch die Volkssouveränität nach der soeben von mir angerissenen Deutung vorausgesetzt – die Volkssouveränität als öffentliche Praxis der Staatsbürger (s. o. (zu § 46,1)). Der Staat des ‚Staatsrechts‘ wäre damit den Anfangsgründen der Volkssouveränität gemäß, die der erste Paragraphenblock zuvor aufgestellt hat, bereits verwirklicht. Dieser Lektüre steht jedoch in der Allgemeinen Anmerkung Einiges entgegen: Es lassen sich (a) viele Stellen und Passagen finden, deren Kontext offensichtlich ein vordemokratischer ist. Hier ist das Volk (noch) nicht der Souverän; ein nicht-demokratischer Herrscher (ein Monarch) ist es. Auf diesen Stellen gründet die gängige Lesart, die Allgemeine Anmerkung gebe (lediglich) Prinzipien der schrittweisen Reform eines nicht-demokratischen Staates zu jenem bürgerlichen Verein an – eine Reform, die von einem nicht-demokratischen Herrscher ausgeführt werden könne. 484 Die Allgemeine 484

Vgl. Ludwig 1988, 169 ff., der darum die Allgemeine Anmerkung in seiner Edition an das Ende des ‚Staatsrechts‘ verschoben hat: Dem Gedanken jener durchsichtigen Architektonik des ‚Staatsrechts‘ zufolge werde hier die Verwirklichung des Staats in der Idee thematisiert.

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Anmerkung führt aber zudem (b) das „Princip“ ein, demzufolge die Volkssouveränität offenbar auch als Gedankenexperiment (‚simulierter Demokratie‘) vollzogen werden kann, und zwar (vorerst) wieder vonseiten eines nicht-demokratischen Herrschers: 485 „was das gesammte Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht über das Volk beschließen“ (C,4, D,1 und D,3). Dagegen sprechen allerdings (c) Stellen, in denen die respublica noumenon des ersten Paragraphenblocks doch bereits verwirklicht ist, offenbar indes als parlamentarisch-repräsentative Demokratie (vgl. B,3). Demgegenüber sind aber wiederum (d) Passagen zu finden, in denen die parlamentarische Demokratie allem Anschein nach mit Nachdruck abgelehnt wird (vor allem A,3). Nicht zuletzt wird in einem Beispiel allerdings auch (e) recht deutlich der Fall einer persönlichen und letztlich direktdemokratischen Abfassung eines Strafgesetzes qua „Sozialcontrakt“ angenommen (E, I,7). Das würde eine vollständige Verwirklichung des Rousseau’schen Bürgerbundes (der respublica noumenon) in einer direktdemokratischen Praxis bedeuten. 486 Wie also nimmt die Allgemeine Anmerkung Stellung zu den drei Themenkomplexen ‚schrittweise Reform‘ (1.)‚ Volkssouveränität als Gedankenexperiment‘ (2.), sowie ‚Frage nach der parlamentarisch-repräsentativen (oder radikaldemokratischen) Demokratie‘ (3.)?

2.1 Schrittweise Reform Dass der Übergang zur Volkssouveränität auch „allmählich und kontinuierlich“ (§ 52,2, Satz 2) in einer „Reform nach Prinzipien“ 487 erfolgen kann, das möchte ich an dieser Stelle nicht bestreiten. Es soll lediglich nachgewiesen werden, wie verkürzt es ist, die ganze Allgemei485

Vgl. Kersting 1984, 274-277. In der Literatur wird das jedoch immer wieder mit Nachdruck verneint, vgl. z. B. Chotaŝ 2018, 2293, Maliks 2014, 103, Tuschling 2013, 118, Wolff 2013, 68, von Beyme 2013, 90 f., Hidalgo 2013, 12-14, Gebhardt 2012, 24, Grawert 2012, 515 f., Urbinati 2012, 659, Pinzani 2008, 234, Niebling 2005, 159, Kersting 1984, 312-4, 348-53. Dagegen wendet sich freilich Ingeborg Maus, 1992, 196-202, und im Anschluss an sie z. B. Breitenband 2019, 83-86, Marey 2018, 576 f., Eberl 2008, 195 sowie Thiele 2003, Kap. 12 und 13, vgl. aber auch Brandt 2000, 294. 487 Vgl. Langer 1986, 103 f. 486

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ne Anmerkung – oder sogar das ‚Staatsrecht‘ insgesamt – auf solch ein Reformprojekt festzulegen und darauf zu beschränken. Später in § 52,2 heißt es nämlich, der Übergang zur Volkssouveränität könne auch „auf einmal geschehen“, und zwar durch das souveräne Volk selbst (wogegen in der Allgemeinen Anmerkung allerdings eine Reihe von Stellen zu sprechen scheinen, so A,5). Damit entfällt zum einen die Notwendigkeit einer langwährenden Reform seitens eines nichtdemokratischen Herrschers, zum anderen sind darum die diversen Sachdiskussionen der Anmerkung nicht notwendig auf solch ein Reformprojekt zu beziehen. Meines Erachtens ist für die Deutung dieses demokratisch-revolutionären Übergangs zur Volkssouveränität in der Kant-Literatur nach wie vor die hochdifferenzierte Arbeit von Ingeborg Maus 488 (auch und insbesondere angesichts der neuesten Literatur) state of the art. Ihr zufolge ist der Grundgedanke dieses Übergangsmodus indes recht simpel. Er besagt: Das Volk ist jederzeit der ursprüngliche Souverän und muss sich darum lediglich zur Gesetzgebung vereinigen, um auch de facto der Souverän im Staat zu sein; und das könne jederzeit geschehen sowie „auf einmal“. Obwohl Maus diese Interpretation an einer Vielzahl von Textstellen ausführlich belegt, sei darauf hingewiesen, dass der Gedanke bereits in der einleitenden Passage der Allgemeinen Anmerkung zum Ausdruck kommt – welche Maus jedoch im Einklang mit der Literatur ‚vordemokratisch‘ liest 489. So scheint die einleitende Passage zuerst einmal jeden Übergang zur Volkssouveränität, den das Volk selbst initiiert, strengstens zu untersagen (wie z. B. auch Abs. 5). Nun wird zwar (im ersten Satz) vorerst nur das Verbot aufgestellt, Nachforschungen über den Ursprung der obersten Gewalt zu betreiben, die das Ziel haben, dieser Gewalt den Gehorsam zu verweigern (Stichwort: „werkthätig vernünfteln“). In der Begründung dieses Verbots (im zweiten Satz) heißt es dann aber: „das Volk […] kann und darf […] nicht anders urtheilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summus imperans) es will“. Doch damit ist eben nicht nur die in Rede stehende Tätigkeit, „rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urtheilen“ gemeint (Kursivdruck: M.W.), sondern das Urteilen überhaupt. Hiermit scheint das ‚Staatsrecht‘ den krudesten Hobbesianis488 489

Maus 1992, Kap. 3-6, insb. 77 f., 84, 125. Maus 1992, 72 f.

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mus geltend zu machen. Selbst die undelegierbare Urteilsfreiheit 490 wäre im souveränen Willen absorbiert. Wenn das Oberhaupt den Übergang zur Volkssouveränität also nicht will, so „kann und darf“ das Volk auch in dieser Hinsicht „nicht anders urtheilen“. Aber die fragwürdige Stelle ist vielschichtiger. Denn der Satz, dass das Volk „nicht anders urtheilen [kann und darf], als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summus imperans) es will“, ist selbst wiederum begründet, als Nachsatz durch einen vorgeschalteten Vordersatz. Dieser besagt: „um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urtheilen“, muss das Volk „schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden“. Demnach kann das Volk also doch „über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) […] urtheilen“, und das sogar „rechtskräftig“, – wenn es „unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint“ ist und entsprechend auch in dieser Qualität (als gesetzgebender Souverän) betrachtet werden muss. Das aber heißt: Das Volk kann eben doch über den Souverän rechtskräftig urteilen, nämlich wenn und sobald es sich (qua Willensvereinigung) zum Souverän vereinigt (Vordersatz); woraus dann folgt (Nachsatz), dass das Volk nicht anders über den gegenwärtigen Souverän – der es nunmehr selbst ist – urteilen kann und darf, als es selbst es als Souverän will. Die einleitende Passage der Allgemeinen Anmerkung lässt sich folglich auch als Anleitung lesen, wie der Übergang zur Volkssouveränität „auf einmal geschehen kann“ (§ 52,2) – durch das Volk selbst, ganz so wie es im ersten Paragraphenblock angelegt ist (in § 46,1).

2.2 Volkssouveränität als Gedankenexperiment Der Grundgedanke der einleitenden Passage ist seiner Form nach fast tautologisch: Das Volk kann über sich als Souverän nicht anders urteilen, als das Volk es als Souverän will.491 Lediglich eine Variation dieser 490 491

Vgl. Brandt 2003, 95. Auf den Gebrauch von Tautologien hat auch Maus hingewiesen, 1992, 68, – im Verweis auf jene „nahezu tautologische Selbstverständlichkeit“, Widerstand gegen die höchste Gesetzgebung könne niemals anders als gesetzwidrig sein. Im ‚Staatsrecht‘ hat diese Rhetorik nicht zuletzt die Funktion, den Leser zu verleiten, Bedeutungsebenen aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit und vermeintlichen Bedeutungslosigkeit zu

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rhetorischen Figur ist die berühmte Formel: „was das gesammte Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht über das Volk beschließen“. In der Allgemeinen Anmerkung wird sie dreifach angeführt und appliziert; die gegenwärtige Kant-Literatur deutet sie als Grundsatz ‚simulierter Demokratie‘ (Demokratie als Gedankenexperiment).492 Zuerst einmal wird mit diesem Prinzip jedoch nur der Gedanke der Volkssouveränität reformuliert, der im ersten Paragraphenblock das Zentrum bildete. Zur Erinnerung: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“, und zwar „so fern ein jeder [im Volk] über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“. Wohlgemerkt ist dieser Gedanke des § 46 aber auch der Satz, der für die „Natur des bürgerlichen Vereins“ (Kursivdruck: M.W.) konstitutiv ist, von dem die Überschrift der Allgemeinen Anmerkung sprach und dessen rechtliche Wirkungen nun in Rede stehen. Doch dem Satz des § 46 zufolge ist besagte, in der Anmerkung dreifach aufgestellte Formel, eben tautologisch: „was das gesammte Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann auch der Gesetzgeber [= das Volk als Souverän] nicht über das Volk beschließen“. Freilich, in einem vordemokratischen Kontext mag das in Rede stehende Prinzip als Grundsatz ‚simulierter Demokratie‘ fungieren. So kann ein nicht-demokratischer Souverän (ein Monarch) beispielsweise hierdurch gut einsehen, dass er in seiner Rolle als Stellvertreter des Volkes in Religionsmaterien nicht über das Volk verfügen kann, wenn dieses diesbezüglich zerstritten ist (vgl. C,4). Wie dargelegt lässt sich der vordemokratische Kontext jedoch ad hoc in einen demokratischen umwandeln, wenn das Volk dies als Souverän will. Dass das Prinzip aber dann immer noch vonseiten des souveränen Volkes als Grundsatz ‚simulierter Demokratie‘ zu gebrauchen sei, dafür gibt es in den einschlägigen drei Stellen der Allgemeinen Anmerkung keinen Hinweis. Vielmehr läge es dann ja ganz klar auf der Hand, dass das Prinzip in seiner Diktion nur ein ‚tautologischer Weisheitsspruch‘ (= Nonsens) ist (vgl. § 51, letzter Satz). Doch dessen Wahrheit – die Affirmation der Volkssouveränität – ist so gesehen nur eine repetitiv lesen. Zufällig ist es darum wohl auch nicht, dass § 51 dann offen von „tautologischen Weisheitssprüchen“ spricht – in einem scheinbar ganz anderem Kontext. 492 Vgl. wieder exemplarisch Kersting 1984, 274-277.

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nichtssagende, nicht aber eine funktional gehaltvolle, wie es diejenige eines Wahrheitskriteriums positiver Gesetze wäre.493 Kurz: Eine Philosophie der Volkssouveränität als Praxis ‚simulierter Demokratie‘ (Demokratie als Gedankenexperiment) lässt sich von besagten Stellen der Anmerkung aus nicht rechtfertigen.

2.3 Parlamentarisch-repräsentative Demokratie Anders sieht es im Hinblick auf die parlamentarische Stellvertretung des Volkes als Souverän und Gesetzgeber aus. Hierfür scheint ganz eindeutig der dritte Absatz des zweiten Abschnittes (B) zu sprechen. Dort ist vom Besteuerungsrecht des Souveräns die Rede, also dem klassischen Parlamentsrecht; und der Gebrauch dieses Rechts könne nur „so“ stattfinden, „daß das Volk sich selbst beschatzt, weil dieses die einzige Art ist, hiebei nach Rechtsgesetzen zu verfahren, wenn es durch das Corps der Deputirten desselben geschieht“ (Kursivdruck: M.W). Die einzig rechtmäßige Art der Selbst-Beschatzung ist also offenbar eine durch parlamentarische Abgeordnete: Legislative Stellvertretung scheint in dieser Gesetzgebungsmaterie die einzig rechtmäßige Option zu sein. Aber auch der erste Abschnitt (A) sprach bereits vom „Volk, das durch seine Deputirte (im Parlament), repräsentirt wird“, und zwar ebenfalls im dritten Absatz. Zudem war im fünften Absatz von einer „Weigerung des Volks (im Parlament)“ die Rede sowie vom „Volk“ und „seine[n] Repräsentanten (im Parlament)“. Allerdings wurde die parlamentarische Repräsentation des Volkes im dritten Absatz fundamental abgelehnt und im fünften im Hinblick auf ein „sicheres Zeichen“ angeführt, an dem man erkennen könne, „daß das Volk verderbt“ und „seine Repräsentanten erkäuflich“ sind. Ältere Studien hatten nicht zuletzt aufgrund jener fundamentalen Ablehnung im dritten Absatz auf eine demokratiefeindliche Haltung Kants geschlossen.494 Doch diese Negativhaltung sei nicht als Ablehnung der parlamentarischen Demokratie sowie der legislatorischen Stellvertretung des 493 494

Vgl. dagegen Kersting 2007, 31 und Maus 1992, 158 f. Vgl. Maus 1992, Kap. 1, wo auch diese Positionen dokumentiert und diskutiert werden.

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Volkes zu verstehen, so Ingeborg Maus:495 Im dritten Absatz des ersten Abschnittes sei lediglich die historische Verfassung Englands in Rede, „die sogenannte gemäßigte Staatsverfassung“. Kants Kritik beschränke sich nur auf dieses Fallbeispiel und sei darum nicht (in einer „unhistorische[n] Lesart“) als Fundamentalkritik parlamentarischer Repräsentation misszuverstehen – ein „parlamentarisches System“ habe es 1797 historisch noch nicht gegeben. Zudem betreffe die Kritik nicht die parlamentarischen Stellvertreter des Volkes, sondern ausschließlich den despotischen König. Zugegeben: Der dritte Absatz ist äußerst komplex, sowohl was die in ihm dargestellte und diskutierte Verfassungskonstellation betrifft, als auch was die Rhetorik dieser Darstellung und Diskussion anbelangt. So ist schwer zu ermitteln, wer denn überhaupt in der Konstellation der (despotische) Souverän ist – denn man kann eben auch die Stellvertreter des Volkes als den eigentlichen „mächtigen Übertreter der Volksrechte“ identifizieren. Doch diese Schwierigkeiten sollten nicht davon ablenken, dass im Rahmen der Diskussion eine allgemein gehaltene Argumentation gegen jegliche Stellvertretung des Volkes als Souverän und Gesetzgeber präsentiert wird. Darum handelt es sich an einschlägiger Stelle nicht nur um die Kritik eines Fallbeispiels (die Verfassung Englands), sondern um die Formulierung eines allgemeinen staatsrechtlichen Satzes, – der für die Menschen in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts höchst relevant ist, und zwar in ihrer Rolle als Staatsbürger, die sich zur Gesetzgebung (zu einem bürgerlichen Verein) vereinigen wollen.496 Auf diese genuin praktische Perspektive ist der fünfte Satz des einschlägigen Absatzes ausgerichtet. Er klärt darüber auf, was das „Volk, das durch seine Deputirte (im Parlament), repräsentirt wird, […] an diesen Gewährsmännern seiner Freiheit und Rechte“ für „Leute“ hat. Und diese Aufklärung besteht eben darin, dass diese Deputierten grundsätzlich nicht „solche Gewährsmänne[r] seiner Freiheit und Rechte“ sein können. Damit wird zwar kein explizites Verbot 495 496

Maus 1992, Kap. 7, insb. 137, 139-145. Wohlgemerkt wurden die britischen Parlamentarier bereits in der Schrift zum Gemeinspruch (1793) als „Volksleiter (oder, wenn man will, Vormünder)“ bezeichnet, TP, AA 08: 303.01-19, Kursivdruck: M.W und somit auf die Eingangspassage der bekannten Schrift von 1783 ›Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung‹ angespielt, – die von der „selbst ve rsc hulde t e n Unmündigke it “ handelte.

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solch einer treuhänderischen Stellvertretung ausgesprochen, aber es wird auf deren Rechtswidrigkeit hingewiesen, – womit in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts indes alles weitere klar ist. Was das Volk nun mit „diesen Gewährsmännern“ für „Leute“ hat wird zweifach bestimmt. Dazu der fünfte Satz des dritten Absatzes von Abschnitt A im Wortlaut: „Das Volk, das durch seine Deputirte (im Parlament), repräsentirt wird, hat an diesen Gewährsmännern seiner Freiheit und Rechte Leute, die [(1.)] für sich und ihre Familien, und dieser ihre vom Minister abhängige Versorgung, in Armeen, Flotte und Civilämtern, lebhaft interessirt sind, und die [(2.)] (statt des Widerstandes gegen die Anmaßung der Regierung, dessen öffentliche Ankündigung ohnedem eine dazu schon vorbereitete Einhelligkeit im Volk bedarf, die aber im Frieden nicht erlaubt sein kann) vielmehr immer bereit sind, sich selbst der Regierung in die Hände zu spielen“.

Es sind also (1.) „Leute“ mit einem lebhaften (Eigen-)Interesse: Sie wollen „sich und ihre Familien“ versorgt wissen. Daran ist (aus Kantischer Sicht) zunächst einmal nichts Außergewöhnliches und auch nichts Verwerfliches; artikuliert wird nur der ganz menschliche Standpunkt der eigenen Glückseligkeit und Selbstliebe. Doch es wird eben darauf hingewiesen, dass professionalisierte und institutionalisierte „Gewährsmänne[r]“ der „Freiheit und Rechte“ des Volkes aufgrund ebendieses Standpunktes keine unvoreingenommene Haltung zur Regierung haben können: Ihre (ganz menschlichen) Glücksbestrebungen würden sich notwendigerweise auf die „vom Minister abhängige Versorgung, in Armeen, Flotte und Civilämtern“ richten. Darum aber seien sie (2.) „immer bereit […], sich selbst der Regierung in die Hände zu spielen“. Kurz: Sie sind „erkäuflich“ (Abs. 5). Vorausgesetzt wird hiermit freilich mehr als jenes ganz menschliche Interesse. Es ist die freiheitswidrige Einstellung, das Wohl und die Glückseligkeit über die Freiheits- und Staatsangelegenheiten zu stellen, welche zum Abschluss des ersten Paragraphenblockes explizit thematisiert wurde (s. o. (zu § 49,4 sowie Vorstudie)). Allem Anschein nach ist es nun aber angebracht, diese freiheits- und rechtswidrige Einstellung (kontrafaktisch) zu unterstellen, wenn die Frage nach der Stellvertretung des Volkes in Souveränitäts- und Gesetzgebungsangelegenheiten durch Abgeordnete ansteht: Die „

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männe[r]“ der „Freiheit und Rechte“ des Volkes weisen besagte Einstellung auf. Und vom Gesichtspunkt dieser Einstellung ist die Frage nach der Stellvertretung (vorliegender Passage zufolge) schließlich eindeutig zu beantworten. Mit den Worten des § 52,3: Die „Zügel der Regierung“ dürfen besagte Abgeordnete und Deputierte des Volkes nicht „im Namen desselben“ als Stellvertreter-Souveräne führen, weil sie „immer bereit“ seien, diese Zügel „aus den Händen zu lassen, und sie denen zu übergeben, die sie vorher geführt hatten, und die nun alle neue Anordnungen durch absolute Willkühr wieder vernichten könnten“. Noch mehr: Sie seien „immer bereit […], sich selbst der Regierung in die Hände zu spielen“ (Kursivdruck: M.W.) – womit dann aber auch klar ist, dass das Problem vorliegender Stelle weniger die (despotische) Regierung ist. Die Abgeordneten des Volkes sind die „mächtigen Übertreter der Volksrechte“. Der formale Rahmen der Allgemeinen Anmerkung sowie die historische Referenz sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass an vorliegender Stelle mit derselben Grundsätzlichkeit argumentiert wird, wie bei Begründung der Volkssouveränität im Zentrum des ersten Paragraphenblocks. Denn die Volkssouveränität wurde dort auf Basis des Satzes begründet, dass es dann, „wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich [ist], daß er ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt“ (Kursivdruck: M.W.). Doch ebenso wird nun behauptet, die Stellvertreter des Volkes seien „immer bereit […], sich selbst der Regierung in die Hände zu spielen“. Dabei signalisiert der Gebrauch des Wortes immer in beiden Fällen, dass eine ganz allgemeine Bestimmung getroffen wird. Darum weiß das Volk durch diesen Satz ganz grundsätzlich, was es einerseits zu erwarten hat, wenn es sich in Angelegenheiten der Souveränität und Gesetzgebung durch Abgeordnete vertreten lässt. Andererseits ist vom Gesichtspunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus aber auch klar, wie das Volk das Prinzip legislativer Stellvertretung ganz grundsätzlich rechtlich zu bewerten hat. Doch warum lässt der dritte Absatz des zweiten Abschnittes (B,3) dann allein dem „Corps der Deputirten“ das Besteuerungsrecht zukommen, und zwar als die einzig rechtmäßige Art, von diesem Recht Gebrauch zu machen497 – ganz im Einklang mit den Prinzipien des 497

Vgl. Merle 1999, 207.

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klassischen Parlamentarismus? Ein genauerer Blick auf den Absatz zeigt allerdings: Diese Lesart wird durch den Text zwar sehr stark suggeriert, macht ihn aber letztlich ‚unlesbar‘. Darum ein genauerer Blick auf den (Ab-)Satz: „Auf diesem ursprünglich erworbenen Grundeigenthum beruht das Recht des Oberbefehlshabers, als Obereigenthümers (des Landesherrn), die Privateigenthümer des Bodens zu besc hatze n , d. i. Abgaben durch die Landtaxe, Accise und Zölle, oder Dienstleistung (dergleichen die Stellung der Mannschaft zum Kriegsdienst ist) zu fordern: so doch, daß das Volk sich selber beschatzt, weil dieses die einzige Art ist, hiebei nach Rechtsgesetzen zu verfahren, wenn es durch das Corps der Deputirten desselben geschieht, auch als gezwungene (von dem bisher bestandenen Gesetz abweichende) Anleihe, nach dem Majestätsrechte, als in einem Falle, da der Staat in Gefahr seiner Auflösung kommt, erlaubt ist“.

Suggeriert wird hier zwar, dass der Wenn-Part des Satzes als Bedingung für das unmittelbar zuvor Gesagte zu lesen ist: Wenn die Besteuerung durch das Korps der Deputierten geschieht, ist dies die einzig rechtmäßige Art, die Selbstbeschatzung des Volkes rechtmäßig vonstatten gehen zu lassen. Doch so gelesen ergibt der übrige Text nicht mehr den mindesten Sinn. Anders verhält es sich, wenn man den zweiten Teil des Satzes wiederum strikt zweigeteilt liest: Zuerst wird behauptet, die einzig rechtmäßige Art der Besteuerung sei, „daß das Volk sich selber beschatzt“. Dann aber wird mit dem Wenn-Part ein Vordersatz vorgelegt, der den Fall setzt, dass die Besteuerung „durch das Corps der Deputirten desselben geschieht“; und dieser Fall wird dann nach dem Semikolon in einem Nachsatz (juridisch) beurteilt: Wenn dies geschieht, dann ist es „auch als gezwungene […] Anleihe […] erlaubt“ – doch nur im Notfall („als in einem Falle, da der Staat in Gefahr seiner Auflösung kommt“, zum Beispiel durch äußere oder innere Feinde) sowie in Form einer Gesetzesabweichung („von dem bisher bestandenen Gesetz“, dem Anfangsgrund der Volkssouveränität selbst). Nur im Notfall also kann ein Organ der Volksvertretung Abgaben oder Dienstleistungen vom Volk einnehmen. Doch die sind dann eben keine rechtmäßigen Steuereinnahmen, sondern jeweils nur eine „gezwungene […] Anleihe“. Das impliziert allerdings, dass die Deputierten diese „Anleihe“ dem Volk wieder zurückerstatten, wenn

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die Gefahr vorbei ist. Auch am Gedanken der „Anleihe“ sieht man schließlich, wie weit vorliegende Stelle vom Besteuerungsrecht des klassischen Parlamentarismus entfernt ist. Darum kann man festhalten: Die ersten beiden Stellen der Allgemeinen Anmerkung, in welchen von legislatorischer Repräsentation des Volkes durch Abgeordnete und Deputierte die Rede ist, verneinen dieses Prinzip grundsätzlich (A,3 und 5); die vorliegende (B,3) erlaubt dessen Anwendung zwar, jedoch nur im Notfall und als ausdrücklich gesetzeswidrige Praktik. Wohlgemerkt ist das aber noch nicht das letzte Wort des ‚Staatsrechts‘ zum Thema ‚Parlamentarische Stellvertretung des Volkes‘. Dazu äußert sich bekanntlich ja auch der letzte § 52.

2.4 Fazit Zurück zur Frage: Wie nimmt die Allgemeine Anmerkung zu den drei Themenkomplexen ‚schrittweise Reform‘ (1.)‚ ‚Volkssouveränität als Gedankenexperiment‘ (2.), sowie ‚Frage nach der (parlamentarisch-repräsentativen oder radikaldemokratischen) Demokratie‘ (3.) Stellung? Antwort: Stark verkürzt ist es, die Allgemeine Anmerkung auf das Projekt einer „Reform nach Prinzipien“ festzulegen. Der Übergang zur Volkssouveränität kann auch ad hoc erfolgen, und zwar durch das ursprünglich souveräne Volk selbst (Zu 1.). Zwar scheint die Formel: „was das gesammte Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht über das Volk beschließen“ das Prinzip einer Philosophie der Volkssouveränität als Praxis ‚simulierter Demokratie‘ (in einem Gedankenexperiment) zu sein. Doch eine solche Doktrin lässt sich mit Blick auf die einschlägigen Stellen nicht rechtfertigen (Zu 2.). Schließlich wird in der Allgemeinen Anmerkung aber auch die parlamentarische Stellvertretung ganz grundsätzlich und sehr entschieden abgelehnt, nicht aber direktdemokratische Praktiken der Volksgesetzgebung (Zu 3.).

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C. Der zweite Paragraphenblock: §§ 50-52 „Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“

Einleitung Der Standard-Lesart zufolge enthält der zweite Paragraphenblock die Lehre von der Verwirklichung des im ersten Blocks zur Darstellung gekommenen „Staat[s] in der Idee“. Aus ideengeschichtlicher Sicht handelt es sich dabei um die – systematisch fragwürdige – Verwirklichung der Rousseau’schen Republik in einer modernen repräsentativen Demokratie französischen Vorbilds, die sich bekanntlich durch den Rückgriff auf das Hobbes’sche Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation kennzeichnet und deren philosophische Grundlegung im Staatsdenken ihres Gründungsvaters Sieyes zu finden ist. Nun hatte ich in meiner Lektüre des ersten Paragraphenblocks ausführlich dargelegt, dass die architektonische Zweiteilung des ‚Staatsrechts‘ nur eine vermeintliche ist, da sie dort in verschiedenen Schritten untergraben, widerlegt und verneint wird. So legen die §§ 45-49 mit dem „Staat in der Idee“ nicht bloß einen Rousseau’schen Idealstaat für Götter und Engel vor, sondern eine bereits ausgearbeitete Lehre von dessen vollständiger Verwirklichung: Rousseaus Staat soll in einer öffentlich-rechtlichen Praxis der Freiheitsbehauptung vonseiten der Staatsbürger wirklich werden – letzten Endes darum, dass sich die freiheitswidrige Logik des Hobbes’schen Prinzips der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation nicht entfaltet, worauf auch die moderne repräsentative Demokratie angewiesen ist. Doch was geschieht dann im zweiten Paragraphenblock? Von meiner bisherigen Lektüre aus betrachtet kommen drei Lesarten als Hypothesen in Frage. Die erste ist die Standard-Lesart (pro Hobbes und Sieyes), die ich soeben umrissen habe. Am jetzigen Punkt meiner Interpretation würde sie einen Bruch mit dem Projekt bedeuten, das im ersten Paragraphenblock entfaltet wurde. Im Einklang mit diesem Projekt wären dagegen die abschließenden Paragraphen zu lesen, wenn sich zeigen ließe, dass die Rhetorik, welche im ersten Paragraphenblock vorzufinden war, auch im zweiten ins Werk gesetzt ist. Dann würde das ‚Staatsrecht‘ nicht mit einem Plädoyer für Sieyes’

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und letztlich Hobbes’ Staatsdenken enden, sondern stattdessen Rousseaus Volkssouveränität philosophisch behaupten und ideengeschichtlich verteidigen. Diese alternative Lesart (pro Rousseau) kommt als zweite Hypothese in Frage. Möglich ist aber auch, dass der zweite Paragraphenblock ein ganz anderes Projekt verfolgt, welches die ersten beiden Lesarten in ein völlig neues Licht stellt. Das ist als dritte Lesart zu erwägen. In der Interpretation der §§ 50-52, die ich nun vorlege, bestätigen sich alle drei Hypothesen. Wie im ersten Paragraphenblock wird sich herausstellen, dass sowohl die Standart-Lesart (pro Hobbes und Sieyes), als auch meine abweichende Lektüre (pro Rousseau) ihre Berechtigung haben, denn letztere setzt erstere wieder voraus. Dieses Lektüreverfahren ist erneut durch die Textsystematik des ‚Staatsrechts‘ bedingt: Die exoterische Textebene besteht offensichtlich, hat ihre Eigenlogik und ist in dieser Logik auch zu interpretieren; doch die kaschierte, nichtsdestotrotz aber vorhandene Textebene lässt sich sinnvollerweise erst in der Gegenlektüre der ersten Lektüre entfalten, auch wenn die erste Textebene und Lektüre im Zuge der zweiten untergraben, widerlegt und verneint wird. Meine Interpretation der abschließenden Paragraphen wird allerdings das Ergebnis verzeichnen, dass die Position, welche in der Gegenlektüre zum Vorschein kommt, am Ende des ‚Staatsrechts‘ selbst wieder in einer weiteren und durch den Text provozierten Gegenlektüre problematisiert werden muss, sozusagen in einer Gegenlektüre der Gegenlektüre. Diese führt zwar nicht zu einer finalen Bekräftigung des Staatsdenkens von Hobbes und Sieyes, doch die gesamte Struktur der Rousseau’schen Problemdiskussion in den abschließenden Paragraphen wird sich als weitgehend gegenstandslos erweisen – und mit ihr die Diskussion, die über das ‚Staatsrecht‘ bisher geführt wurde, auch in diesem Buch. Die eigentümliche Systematik des letzten Paragraphenblocks werde ich nun in folgender Interpretation der §§ 50-52 erschließen. Dazu entscheide ich mich für einen Weg, der zuerst einmal sehr einfach erscheint: Die drei letzten Paragraphen stehen unter einer gemeinsamen Überschrift – „Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“ – und den übergreifenden Textzusammenhang möchte ich dadurch begreifen, dass ich die Paragraphen in ihrem Bezug zu dieser Überschrift interpretiere. Methodisch gehe ich dabei wie gewohnt vor, ich reflektiere also auch wieder den bisher erreichten Erkenntnisstand auf das Postulat des öffentlichen

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Zweiter Paragraphenblock (§§ 50-52)

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Rechts und den Prozess seiner Befolgung hin. Was im Rahmen des zweiten Paragraphenblocks zum Projekt metaphysischer Anfangsgründe des Staatsrechts über den ersten Paragraphenblock Hinausgehendes erkannt wird, will ich so ermitteln. Allerdings scheint es zunächst so gut wie unmöglich zu sein, dass dieser vermeintlich einfache Weg zum Ziel führt. Auf Anhieb ist immerhin nicht erkennbar, wie sich die gemeinsame Überschrift gleichermaßen auf alle drei Paragraphen beziehen soll. In Bezug auf § 50 ist die Sache noch recht klar, dort ist ganz offensichtlich von „Vaterland“ und „Ausland“ die Rede. Doch in den darauffolgenden §§ 51 und 52 fallen die einschlägigen Worte (Vaterland und Ausland) gar nicht mehr; stattdessen ist in § 51 die Rede von einer Staatsformenlehre, in § 52 hingegen vom Übergang zur demokratischen Staatsform, also von gängigen Topoi der Staatslehre – nicht mehr aber „[v]on dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“. Entsprechend werden die §§ 51 und 52 in der Kant-Literatur nicht in Bezug auf ihre gemeinsame Überschrift ausgelegt. Vielmehr wird diese nur als Überschrift des § 50 gelesen; identifiziert man sie nicht als Textfehler, handhabt man sie doch stillschweigend so, und das nicht ohne Grund. Diese Irritation hat Bernd Ludwig in seiner NeuEdition dadurch zu beheben versucht, dass er den Text von § 50 der großen Allgemeinen Anmerkung als letzten Abschnitt (F) angefügt und die gesamte Anmerkung hinter den Text von § 52 plaziert hat. § 50 beendet somit das ‚Staatsrecht‘ und leitet zum Völkerrecht über, was eben die Funktion dieses Paragraphen zu sein scheint. In meiner Interpretation dagegen werde ich die Plazierung der Überschrift nicht als Textfehler deuten, sondern als Textstrategie, welche den Zugang zur kaschierten Textebene eröffnet – und damit zur genuin staatsrechtlichen Thematik und Problematik des zweiten Paragraphenblocks, aber damit auch des ‚Staatsrechts‘ insgesamt.

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2. Zu § 50

§ 50 ist in fünf Absätze unterteilt, wobei bereits auf den ersten Blick eine Zweiteilung ins Auge fällt. Im Gegensatz zum umfassenden ersten Absatz beginnen nämlich die folgenden vier kleineren Absätze jeweils mit einer Gliederungsnummer (1.-4.). Dem entspricht eine inhaltliche Zweiteilung: Im ersten Absatz erfolgt die eigentliche Begriffsarbeit, die vor allem darin besteht, die Begriffe „Vaterland“ und „Ausland“ zu exponieren und letzteren zu spezifizieren; hingegen wird in den übrigen vier Absätzen im Anschluss hieran einem Rechtsträger jeweils ein Recht zuerkannt. Im zweiten Absatz (unter 1.) ist dieser Rechtsträger der „Unterthan (auch als Bürger betrachtet)“ und das Recht dasjenige der „Auswanderung“; in den letzten dreien ist der „Landesherr“ der Rechtsträger, also der Souverän, und die Rechte sind diejenigen der „Begünstigung der Einwanderung und Ansiedelung Fremder (Colonisten)“ (unter 2.), „das Recht der „Verbannung“ (oder „Deportation“) (unter 3.) sowie der „Landesverweisung überhaupt“ (unter 4.). Wie im ersten Absatz die Begriffe „Vaterland“ und „Ausland“ exponiert und bestimmt werden, ist entscheidend für das Verständnis des § 50, aber auch der §§ 50-52 insgesamt, die schließlich alle gleichermaßen unter dem gemeinsamen Titel stehen: „Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“. Die Überschrift suggeriert jedoch irreführenderweise, in § 50 handele es sich bereits durchgehend um das Ausland im völkerrechtlich-geographischen Sinn. Aber auch die Thematik der Aus- und Einwanderung im zweiten und dritten Absatz des § 50 legt dies nahe, da hier tatsächlich das Ausland des Völkerrechts in Rede ist. Ein genauerer Blick auf die Begriffsarbeit im ersten Absatz zeigt hingegen, dass es sich in § 50 weniger um das völkerrechtliche Ausland handelt, sondern vorrangig um den staatsrechtlichen Begriff desselben – im Hinblick auf den schließlich auch die folgenden §§ 51 und 52 zu reflektieren sind, die eben nicht zum Völkerrecht überleiten, sondern das ‚Staatsrecht‘ beenden. Darum nun ein genauerer Blick auf den ersten Absatz: Auch dieser kennzeichnet sich durch eine Zweiteilung, welche die philosophische Arbeit so organisiert, dass der erste Teil dem Begriff des Vaterlandes gewidmet ist, der zweite hingegen dem des Auslandes.

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Zweiter Paragraphenblock (§§ 50-52)

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siert wird die Zweiteilung durch den Gebrauch eines Semikolons, das den Satz und Absatz in zwei Teilsätze trennt. Das ist sofort auffällig, da es sich um das einzige Semikolon im Satz handelt. Zur Übersicht, aber auch zur Plausibilisierung der schwierigsten Bezüge sei der Absatz an dieser Stelle vollständig zitiert und mit einigen (in „[…]“ gesetzten) Ausdrücken verdeutlicht: „Das Land (territorium), dessen Einsassen schon durch die Constitution, d. i. ohne einen besonderen rechtlichen Act ausüben zu dürfen [= zu müssen] (mithin durch die Geburt), Mitbürger eines und desselben gemeinen Wesens sind, heißt das Vate rland; das [„Land“], worin sie [die „Einsassen“] es [„Mitbürger eines und desselben gemeinen Wesens“] ohne diese Bedingung [„durch die Constitution“] nicht498 sind [also keine „Mitbürger eines und desselben gemeinen Wesens“ sind], das Ausland, und dieses, wenn es einen Theil der Landesherrschaft überhaupt ausmacht, heißt die Pro vinz (in der Bedeutung, wie die Römer dieses Wort brauchten), welche, weil sie doch keinen coalisirten Theil des Reichs (imperii) als Sitz von Mitbürgern, sondern nur eine Bes itzung desselben, als eines Unte rhauses ausmacht, den Boden des herrschenden Staats als Mutte rland (regio domina) verehren muß“.

Was demnach ein Land dazu qualifiziert, den Namen „das Vaterland“ zu tragen, ist das Vorliegen einer „Bedingung“; liegt sie nicht vor, so ist das Land „das Ausland“ zu nennen. Das macht sie zu einer conditio sine qua non. Wohlgemerkt ist die Bedingung eine rein staatsrechtliche, weshalb auch der Begriff des Auslandes an dieser Stelle ein genuin staatsrechtlicher ist. So wird der Begriff im ersten Absatz schließlich nur negativ bestimmt, und zwar als Entgegensetzung zu dem Land, welches „das Vaterland“ zu nennen sei, – worüber hinwegtäuschen mag, dass dem „Ausland“ der Großteil (etwa zwei Drittel) des Absatzes gewidmet ist. Doch dabei wird der so gewonnene Begriff nur weiter spezifiziert. Die Bedingung ist diejenige der verfassungsrechtlichen Garantie von Staatsbürgerschaft. Genauer und mit Blick auf den ersten Teilsatz: Der Ausgangspunkt ist hier das „Land (territorium)“, was gemäß der lateinischen Wortbedeutung von territorium als das zu einer Stadt oder einem Stadtstaat gehörige Herrschaftsgebiet zu verstehen 498

Das Wort „nicht“ ist in der Vorländer-Ausgabe von 1922 nicht abgedruckt, hingegen in den beiden ersten von Kant autorisierten Ausgaben sowie in den derzeit gängigen.

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ist.499 Und von „dessen Einsassen“ ist primär die Rede, wobei ‚Einsasse‘ im gängigen Wortgebrauch so viel wie Lehnsmann heißt, oder auch Schutz- und Passivbürger – im Sinn der métoikoi der Aristotelischen Polisphilosophie, die nicht zur Polisgemeinschaft der Staatsbürger zählten, sondern bloß auf dem Staatsgebiet wohnten und geduldet wurden500. Doch wenn ebendiese Einsassen „durch die Constitution […] Mitbürger eines und desselben gemeinen Wesens sind“ – und das heißt nach dem Kantischen Begriff des Staatsbürgers (cives), stimmberechtigte Glieder der souveränen Körperschaft zu sein, also dem Staat als Bürgerschaft (civitas) zuzugehören (§ 46,2) –, dann ist das „Land“ von ihnen „das Vaterland“ zu nennen. Was „durch die Constitution“ hierbei bedeutet, wird in einer Parenthese erläutert: „durch die Constitution, d. i. ohne einen besonderen rechtlichen Act ausüben zu dürfen [= zu müssen] (mithin durch die Geburt)“. Demnach muss in einem „Vaterland“ der Status, Staatsbürger zu sein, nicht erst durch einen „besonderen rechtlichen Act“ erworben werden, sondern er ist konstitutionell garantiert. Diese rechtliche Vorrangigkeit bringt die eingeklammert präsentierte Folgerung „mithin durch die Geburt“ zum Ausdruck. Deshalb ist das in der Klammer Gesagte auch nicht wörtlich zu lesen und biologistisch zu deuten: Es handelt sich vielmehr lediglich um die Vorrangigkeit des Verfassungsrechts, die einem den Staatsbürgerstatus garantiert. Aber auch das „Vaterland“ ist nicht buchstäblich misszuverstehen, etwa als das „dasjenige Land, in welchem jemand gebohren und erzogen worden“501 ist; dieses Land kann nach Auskunft vorliegender Stelle für eine Person schließlich auch „das Ausland“ sein. Mit Blick auf den damaligen common sense ist der Ausdruck „Vaterland“ vielmehr in der spezifischeren Bedeutung zu lesen: als dasjenige Land, „welchem man als Einwohner einverleibt ist, in welchem man den Schutz und die Wohltaten eines ordentlichen Bürgers genießet“502. Wenn nun den Einsassen eines Landes durch die Staatsverfassung nicht der Status eines ordentlichen Staatsbürgers zuerkannt wird, dann sind sie in diesem Land eben nur das: bloße Einsassen. Nach Auskunft vorliegender Stelle heißt das aber, auch im eigenen Land in 499

Vgl. Georges, 3081. Vgl. Aristoteles, Politik, III, 5. 501 Adelung 1801, 978. 502 Adelung 1801, 978, Kursivdruck: M.W. 500

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der Fremde zu sein, im „Ausland“, selbst wenn man dort geboren ist. Somit handelt es sich beim „Ausland“ des § 50 um einen rein staats- und verfassungsrechtlichen Begriff, der gerade nicht das Ausland außerhalb den Grenzen eines Landes bezeichnet, sondern dasjenige „innerhalb seinen Grenzen“ (vgl. § 50,5). Immerhin bezieht sich „das Ausland“ vorliegender Stelle auf die „Einsassen“ eines Landes, also auf deren „Land“. Und je nach Verfassung ist das Land für diesen Einsassen eben „das Vaterland“, oder aber „das Ausland“. So widersinnig es auch sein mag: Ermangelt es an besagter konstitutiven Bedingung, so heißt das Wort ‚Inland‘ für den Einsassen in ihm selbst dann „das Ausland“, wenn er dort geboren ist. Dieses „rechtlich[e] Verhältni[s] des Bürgers“ thematisiert schließlich § 50, von ihm handeln aber auch die §§ 50-52 insgesamt: Von seinem Verhältnis zu dem Land und Herrschaftsgebiet, in dem er lebt (sich also nicht nur zeitweilig aufhält), und zwar dahingehend, ob er mit anderen dort der Souverän und „Landesherr“ selbst ist, indem er qua Verfassung Glied der souveränen Körperschaft ist – oder ob er lediglich einem fremden Herrschaftswillen unterworfen ist. Damit wird ein zentraler Punkt des ersten Paragraphenblocks rekapituliert, demzufolge das einzig rechtlich erlaubte Modell der Herrschaft dasjenige ist, in dem Untertanen immer zugleich auch Staatsbürger sein müssen: Sofern sie dies sind, können sie ihre Freiheit und Freiheitswürde durch und kraft der Staatswürde öffentlich-rechtlich behaupten; sind sie hingegen nicht „Unterthanen als Staatsbürger “ (§ 51), so wird ihre persönliche Würde, bedingt durch die Logik der traditionellen Souveränität, in der dreieinigen Staatswürde absorbiert (s. o. (zu § 46,1 und 47)). Dann aber ist der Mensch im Staat nicht „bloß Unterthan (subiectus)“, sondern vielmehr Sklave „(servus)“, er ist in eine „Abhängigkeit“ versetzt, „dadurch er aufhört, eine Person zu sein“ (vgl. Allg. Anm., D,4). Auch für diese Fremde, dort nicht mehr in letzter Instanz Herr über die eigene Person zu sein, steht das Wort „Ausland“ im vorliegenden § 50. Zwar mag man zeitweilig unter fremder Herrschaft stehen, wenn man sein „Vaterland“ (der Souveränität des eigenen Volks) verlassen hat und vorübergehend ein fremdes Land besucht oder bereist; ist man jedoch auch in seinem Land, dessen Einsasse man ist, kein Staatsbürger, so befindet man sich in genau dem „Ausland“, von dem § 50 vorrangig spricht und von dem schließlich auch die folgenden beiden §§ 51 und 52 handeln

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– dem „Ausland überhaupt (in der altdeutschen Sprache Elend genannt)“ (§ 50,5). Auf die Problematik dieses staatsrechtlichen Auslandes deutet schließlich auch der weitere Verlauf des § 50 hin, aber bereits auch die Spezifikation dieses Begriffes im vorliegenden ersten Absatz. Ihr zufolge heißt das zuvor bestimmte Ausland verwehrter Staatsbürgerschaft, „wenn es einen Theil der Landesherrschaft überhaupt ausmacht, […] die Provinz (in der Bedeutung, wie die Römer dieses Wort brauchten)“. Nun war es für die römische Provinz kennzeichnend, dass der Herrscher von außen kam und als fremde Person ein Volk beherrschte und meist ausbeutete. Das aber kann in gewisser Weise auch über die traditionelle nicht-demokratische Souveränität gesagt werden. Entsprechend muss man die Rede vom „Theil der Landesherrschaft überhaupt“ (Kursivdruck: M.W.) auch nicht notwendig so verstehen, dass ein Teil der Landesbevölkerung qua Staatsbürgerschaft herrschend ist, der andere Teil hingegen aus bloßen Insassen besteht, die der Herrschaft jener Bürger unterworfen sind. Vielmehr ist der traditionellen Souveränitätslehre zufolge jede „Landesherrschaft überhaupt“ in gewisser Weise eine „Provinz“, insofern Souverän und Untertan hier immer als fremde Personen einander gegenüberstehen und darum keine „Mitbürger eines und desselben gemeinen Wesens“ sind, also keine „zur Gesetzgebung vereinigten Glieder“ ein und derselben „societas civilis“ (vgl. § 46,2, Kursivdruck: M.W.). Deshalb wird das „Ausland“ im Zuge der Spezifikation des Begriffes vor allem auf den Fall eingeengt, dass die Insassen nicht nur zeitweilig unter fremder Herrschaft stehen, etwa weil sie in einem anderen Land zu Besuch sind, sondern weil sie stattdessen dauerhaft in einem „Ausland“ verwehrter Staatsbürgerschaft beheimatet sind. Im Relativsatz heißt es abschließend, dass „die Provinz […] den Boden des herrschenden Staats als Mutterland (regio domina) verehren muß“, wofür folgender Grund angegeben wird: „weil sie [die Provinz] doch keinen coalisirten Theil des Reichs (imperii) als Sitz von Mitbürgern, sondern nur eine Besitzung desselben, als eines Unterhauses ausmacht“. Zuerst zum angeführten Grund: Dem zuvor exponierten Begriff des Auslandes zufolge muss den Insassen eines Landes in einer „Provinz“ die Mitgliedschaft an der souveränen Willensgemeinschaft verwehrt bleiben. Insofern macht die Provinz „keinen coalisirten Theil des Reichs (imperii) als Sitz von

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gern“ aus: Ihren Wohnsitz haben hier keine Bürger, die mit einer anderen Gruppe von Menschen zu einer Bürgerschaft (civitas) dahingehend vereinigt oder „coalisier[t]“ sind, dass sie mit ihnen eine gemeinsame „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) stellen und somit ein Reich (imperium) gründen im Sinn einer gemeinsamen Ober- und Landesherrschaft. Stattdessen sei die Provinz lediglich „eine Besitzung desselben [Reichs], als eines Unterhauses“. Wie man die Rede vom „Unterhau[s]“ hier zu verstehen hat, ist schwer; daher auch die Erwägung der Akademie-Ausgabe, das Wort „Unterthans“ an die Stelle des „Unterhauses“ zu setzen. Auch wenn der genaue Sinn des Bildes ungeklärt bleiben mag, so ist es doch recht deutlich, worauf es an vorliegender Stelle ankommt, vor allem wenn man auf den zweiten Abschnitt (B) der Allgemeinen Anmerkung zurückblickt. Im vorliegenden Fall ist der Souverän und Landesherr schließlich ein weiteres Mal nicht nur der rechtmäßige Oberherr, der über das Obereigentum verfügt, indem er es allgemein verteilt; er ist zugleich (dem römischen Begriff der Provinz entsprechend) rechtswidrig der Eigentümer und Ausbeuter der Menschen, insofern auch in einer Provinz „alles Eigenthum des Bodens in den Händen der Regierung zu sehen [ist] und alle Unterthanen als grundunterthänig (glebae adscripti) und Besitzer von dem, was immer nur Eigenthum eines Anderen ist, folglich aller Freiheit beraubt (servi) anzusehen“ sind (vgl. Allg. Anm., B,1, aber wieder auch D,4, Kursivdruck: M.W.). Kurz, der in solch einem Ausland lebende Mensch ist nicht nur „Untertan (subiectus)“, wie man meinen könnte, sondern als solcher vielmehr auch „Sklave (servus)“ (vgl. Allg. Anm., D,4). In diesem Sinn ist die Hauptaussage des Relativsatzes zu verstehen, dass „die Provinz […] den Boden des herrschenden Staats als Mutterland (regio domina) verehren muß“: Die Verehrung des Bodens eines fremden Herrn oder einer fremden Herrin („regio domina“) vonseiten der „Einsassen“ ist hier eine servile – das Wort „Mutterland“ bezeichnet ein (koloniales) Abhängigkeitsverhältnis503; und dem entgegengesetzt ist die Obereigentümerschaft der „Unterthanen als Staatsbürger “ (§ 51) in einem „Vaterland“ der Volkssouveränität. Ebensowenig wie das „Vaterland“ zu Beginn des Absatzes also wörtlich zu lesen war, gilt das auch für das am Ende des Absatzes 503

Vgl. Adelung 1798, 346.

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vorgelegte Antonym „Mutterland“. Das Wort könnte so nämlich auf dieselbe Weise missverstanden werden wie das „Vaterland“, und zwar als das Land, in dem man geboren ist (s. o.). „Vaterland“ und „Mutterland“ wären dann Synonyme. Aber sie sollen ein Gegensatzpaar bilden und somit darauf hindeuten, worauf es in der Frage nach „dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“ hauptsächlich ankommt: ob man kraft konstitutionell verbürgter Staatsbürgerschaft zusammen mit anderen seine eigene Freiheit und Würde als Mensch behaupten kann, indem man sich mit ihnen in letzter Instanz selbst bestimmt (in einem „Va terland“ der Volkssouveränität), oder ob man sich dem Willen fremder Herrschaft soweit beugen muss, dass man „aller Freiheit beraubt“ und zum Sklaven wird – und folglich auch im eigenem Land in der Fremde ist (im „Ausland“ einer aliénation totale). Abschließend verdeutlichen aber auch die beiden letzten Absätze mit der Darlegung der beiden Souveränitätsrechte der „Verbannung“ und „Landesverweisung überhaupt“ (3. und 4.), was es bedeutet, wenn die für das Vaterland konstitutive Bedingung nicht vorliegt, also wenn Menschen auch in ihrem Heimatland nicht qua Staatsverfassung Staatsbürger sind. Denn die beiden Rechte der „Verbannung“ und „Landesverweisung überhaupt“ beziehen sich auf den „Fal[l] eines Verbrechens des Unterthans“. Und dem Strafrecht zufolge mache ein „Verbrechen schlechthin (crimen)“ bereits denjenigen, der es begeht, „unfähig […], Staatsbürger zu sein“ (Allg. Anm., E, I,1). Doch dieser Verlust der „Würde […] des Staatsbürgers“ (Allg. Anm., D,4) ist den letzten beiden Abschnitten der Allgemeinen Anmerkung (D und E) zufolge kein partieller Würdeverlust, sondern ein totaler. Durch ein Verbrechen werde der Mensch in eine Abhängigkeit versetzt, „dadurch er aufhört, eine Person zu sein“, er wird zum Sklaven „(servus in sensu stricto)“ (D,4).504 Das aber heißt, „seine ganze Freiheit“ zu verlieren (§ 30,3), und damit auch die Würde, die in dieser Freiheit gründet. Das Besondere am Würdeverlust durch ein Verbrechen ist allerdings, dass sie dem ‚Staatsrecht‘ zufolge die einzig rechtmäßige Form des Entzugs der Staatsbürger- und Freiheitswürde ist (D,3 und 4) – und folglich die einzig rechtmäßige 504

Vgl. dagegen exemplarisch Brandt 1999, 274: „Jeder Verbrecher bleibt Person, und der Säugling ist so gut wie der kriminelle Duellant, der von seinem Gegner nicht nur erschossen, sondern ermordet wird, Person“.

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Form des Entzugs jener Bedingung, die das „Land“ eines Menschen für ihn zu seinem „Vaterland“ macht. Damit deuten die beiden Souveränitätsrechte der „Verbannung“ und „Landesverweisung überhaupt“ in den letzten beiden Absätzen aber zugleich auch im Allgemeinen darauf hin, was geschieht, wenn man den Einsassen eines Landes ihre Staatsbürgerwürde entzieht, sei es rechtmäßig oder doch rechtswidrig: Man raubt ihnen dadurch zugleich ihre Freiheitswürde, man versklavt sie. Die letzten beiden Absätze weisen allerdings wieder eine besondere Rhetorik auf. Denn mit ihnen wird zwar im Anschluss an die Lehre von den Staatswürden die Logik des Zusammenhangs von Staatsbürgerwürde einerseits und Freiheitswürde andererseits artikuliert (s. o. (zu § 47)) – das jedoch mitsamt dem falschen Schein, der Entzug der Würde des Staatsbürgers ziehe nicht den öffentlich-rechtlichen Verlust der Freiheitswürde nach sich. Denn zuerst einmal scheint es sich bei der Verbannung oder Deportation (3.) sowie bei der Landesverweisung (4.) um zwei Stufen der Entrechtung zu handeln, deren zweite eindeutig die schwerwiegendere ist: Die Verbannung oder Deportation besteht im Grunde nur im Entzug der Staatsbürgerschaft, die Landesverweisung dahingegen in der völligen Entrechtung. Das suggeriert, der Entzug der Staatsbürgerschaft sei nicht mit der völligen Entrechtung gleichzusetzen. So wird (in 3.) das Recht „zur Deportation“ als „Recht der Verbannung [des Verbrechers] in eine Provinz im Auslande“ bestimmt, „wo er keiner Rechte eines Bürgers theilhaftig wird“ (Kursivdruck: M.W.). Im Gegensatz dazu lautet es aber (in 4.) mit Bezug auf das Recht der „Landesverweisung “, dass „der Landesherr ihn [eben jenen Verbrecher aus 3.] nun allen Schutz entzieht, [was] so viel bedeutet, als ihn innerhalb seine[r] Grenzen vogelfrei zu machen“ (Kursivdruck: M.W.). Das aber dürfte gegenüber dem bloßen Entzug der Rechte des Staatsbürgers eine schwerwiegendere, da vollständige Entrechtung, bedeuten. Diese Stufenlogik wird auch durch das Zeitwort „nun“ sowie durch die Sukzession der Absätze und ihre fortlaufende Nummerierung hervorgehoben. Tatsächlich verhält sich die Logik der Begriffe jedoch gegenläufig zur Logik der Darstellung. Denn entgegen der sukzessiven und linearen Stufung wird die scheinbar schwerwiegendere Landesverweisung (4.) als „Landesverweisung überhaupt“ bestimmt. Und die besteht darin, „ihn“ – den Verbrecher des vorigen Absatzes – „ins

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land überhaupt (in der altdeutschen Sprache Elend genannt) zu schicken“. Die zweifache Verwendung des Adverbs ‚überhaupt‘ deutet hierbei darauf hin, dass es sich bei der Landesverweisung eben nicht um eine besondere Steigerungsform handelt, sondern um die allgemeinste Form, unter die alle besonderen subsumiert werden können. So fällt dann auch das Recht, den Verbrecher „in eine Provinz im Auslande“ zu verbannen (3.), unter dasjenige, ihn „ins Ausland überhaupt zu schicken“ (4.), die Provinz ist schließlich auch dem ersten Absatz zufolge ein Unterbegriff des allgemeinen Begriffs des Auslands (Kursivdruck: M.W.). Auf Nummer Drei folgt also nicht Nummer Vier als separate Stufe und Steigerung (Logik der Darstellung), sondern Nummer Drei impliziert bereits Nummer Vier und setzt das numerisch spätere somit voraus (Logik der Begriffe). Das aber bedeutet: Mit der Entrechtung als Staatsbürger geht bereits die Entrechtung als Mensch einher. Blickt man abschließend voraus auf die zwei folgenden §§ 51 und 52, insbesondere aber auf den abschließenden § 52, so sieht man: Dort steht die Thematik des Übergangs von einer nicht-demokratischen zur demokratischen Staatsverfassung im Mittelpunkt, also von einer Staatsverfassung, in der die „Bedingung“ konstitutionell verbürgter Staatsbürgerschaft nicht realisiert ist, zu einer, wo dies der Fall ist. Kurz, es geht hier um die Transformation besagten Auslands hin zu einem Vaterland der Volkssouveränität. Warum dieser Übergang im Folgenden behandelt wird, kann man sich von § 50 aus erschließen. Wirft man von hier aus einen Blick auf die gemeinsame Überschrift und fragt dabei zugleich wieder, wie es an diesem Punkt um die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts steht, so wird deutlich: Das „rechtlich[e] Verhältni[s] des Bürgers zum Vaterlande und Auslande“ ist ein rechtmäßiges, sofern das Heimatland des Bürgers ein „Vaterland“ der Volkssouveränität ist, ein rechtswidriges hingegen, wenn es ein „Ausland“ verwehrter Staatsbürgerschaft ist – es sei denn, der Bürger ist ein Verbrecher. Darum ist es in der weiteren Befolgung des Postulats und um dieser Befolgung willen wohl notwendig, den „besonderen rechtlichen Akt“ einer verfassungskonstituierenden Übergangshandlung zu vollziehen, damit die Menschen im Staat fortan auch „ohne einen besonderen rechtlichen Akt ausüben zu dürfen [= zu müssen …] Mitbürger eines und desselben gemeinen Wesens“ sind.

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3. Zu § 51

Einleitung Nach Auskunft der Architektonik-Interpretation (im strengen Sinn von Bernd Ludwig) beginnt mit § 51 eigentlich erst das „Lehrstück“ von der Verwirklichung des Staats in der Idee.505 Diesem Lehrstück zufolge ist der Staat Rousseaus wie gesagt in einem „repräsentative [n] System des Volks“ (§ 52,3) zu verwirklichen; dieses sei „verfassungstypologisch gesehen eine parlamentarische Demokratie“; die „Übereinstimmung der tragenden Prinzipien des französischen Konstitutionalismus von 1791 mit dem Republikbegriff des Kantischen Vernunftrechts“ sei eindeutig.506 Darin sind sich die Interpreten des ‚Staatsrechts‘ weitgehend einig. Das Prinzip der Repräsentation kann allerdings bereits in § 51 als zentral angesehen werden – auch wenn dort noch nicht von besagtem „repräsentative [n] System des Volks“ des § 52 die Rede ist, sondern vor allem eine Lehre von den Staatsformen vorgelegt wird, derzufolge die Staatsform autokratisch, aristokratisch oder demokratisch sein könne. Mit Ludwig, der § 51 in Hinblick auf die von ihm geprägte Architektonik-Interpretation auslegt, lässt sich der Paragraph wie folgt lesen: Bevor die (letzten) Sätze 3-9 auf die Frage nach der Staatsform zu sprechen kommen, wird in den ersten beiden Sätzen das staatliche Herrschaftsverhältnis bestimmt, und zwar als Verhältnis der „Repräsentation (bei Hobbes: […] Autorisierung)“: „Das Oberhaupt stellt als Repräsentant des Volkswillens den allgemeinen Willen gegenüber dem Volkswillen vor“ – Kant habe von Hobbes die Lektion der Konstitution des Volkes durch Repräsentation gelernt. 507 Damit ordne das ‚Staatsrecht‘ die „Repräsentation […] dezidiert systematisch vor die Unterscheidung der Staatsformen“.508 Folglich sei es gleichgültig, welche Staatsform dem Buchstaben nach bestehe, denn alle drei Staatsformen seien „ihrem Wesen nach repräsentativ“.509 Kant sei in der Rechtslehre (von 1797) von einer 505

Vgl. Ludwig 1999, 176. Vgl. Kersting 1984, 337, 344, f. 507 Ludwig 1999, 191, 178, 186. 508 Ludwig 1999, 185. 509 Ludwig 1999, 178. 506

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„grundsätzlichen juridischen Gleichwertigkeit der Staatsformen“ überzeugt.510 Und das mache wiederum die kritische Wende des ‚Staatsrechts‘ gegenüber der Friedensschrift (von 1795) aus:511 Es gebe nur eine rousseauistisch nicht-repräsentative respublica noumenon, das sei der Staat in der Idee, das „Ding an sich selbst“, dargestellt im ersten Teil des ‚Staatsrechts‘. Dieser Staat könne dem zweiten Teil zufolge jedoch qua Repräsentation in drei (Staats-)Formen als respublica phaenomenon in Erscheinung treten.512 Ludwigs Interpretation des § 51 knüpft an Kerstings ›Wohlgeordnete Freiheit‹ an, derzufolge das Kantische Staatsdenken eine „Rekonstruktion des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags“ mit „anti-rousseauistischen Implikationen“ und letztlich Hobbes’scher Intention ist:513 Kant „koppelt die volonté de tous als legitimationstheoretisch unerheblich von der volonté générale ab und vermag so den Allgemeinwillen mit jeder Herrschaftsform zu kombinieren“; und letztlich habe auch die (repräsentative) Demokratie den allgemeinen Willen des Volkes (die ideale volonté générale) gegenüber dem tatsächlichen Volk und dessen Willen (der volonté de tous) zu repräsentieren. Erstaunlicherweise liest Kersting § 51 jedoch nicht wie Ludwig, sondern umgekehrt:514 Hier gehe es primär um die harte Faktenfrage, wer im Staat herrschen soll, doch die werde zugunsten der demokratischen Staatsform beantwortet und zuungunsten der autokratischen und aristokratischen. Denn § 51 zufolge könnten Menschen nur in der Staatsform der Demokratie Staatsbürger sein, in allen anderen müssten sie bloße Untertanen bleiben. Darum sei die Staatsform der Demokratie – entgegen Ludwig – dem Buchstaben nach zu verwirkli510

Ludwig 1999, 184. Ludwig 1999, 174 f., 178 ff., 185 ff. 512 Vgl. auch Herb/Ludwig 1994: „Kants kritisches Staatsrecht“. Ein ähnliches Verständnis von kritischer (oder post-kritischer) Metaphysik vertritt auch Marey 2018, 579: „another good thing about Kant’s political philosophy is that it is metaphysical in a post-critical way; that is to say, Kant could never have agreed that some concrete political state of affairs was the actual, complete and perfect instantiation of his republican state in the idea“. Worin ich hingegen den kritischen Charakter des Kantischen Projekts einer kritischen Metaphysik des Staatsrechts sehe, entfalte ich im Schluss dieses Buches. 513 Kersting 2011, 71 f., Kersting 1984, 313 f., 348-353. 514 Kersting 1984, 336 ff., 342 ff. 511

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chen, ein simulativer Rekurs auf den Geist derselben reiche nicht aus. Das aber heißt, die vom Repräsentationsprinzip aus begründete Doktrin der juridischen Gleichwertigkeit der Staatsformen wird zurückgewiesen – vorerst zugunsten der buchstäblichen Verwirklichung der Volkssouveränität des ersten Paragraphenblocks. Darauf deuten die Ausführungen zur demokratischen Staatsform in § 51 schließlich auch wortwörtlich hin: In der demokratischen Staatsform gebieten „Alle zusammen über einen jeden, mithin auch über sich selbst“ (so § 51, Satz 3); der Volkssouveränität des § 46,1 zufolge soll „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“ (Kursivdruck: M.W.). Kersting liest § 51 zwar so, doch das heißt freilich nicht, dass nach seiner Interpretation besagte Demokratie auch verwirklicht werden müsse:515 Ihm zufolge ist das repräsentative System des Volkes im folgenden § 52 schließlich als repräsentative Demokratie „keine demokratische Herrschaftsform“ mehr, „sondern das, was an die Stelle von Autokratie, Aristokratie oder Demokratie tritt“. Die Demokratie des § 51 und das repräsentative System des 52 sind nicht zu identifizieren – weil die Demokratie des § 51 im Gegensatz zum System des § 52 nicht-repräsentativ sei. Und Repräsentation versteht Kersting in § 52 wie Ludwig letztlich mit Hobbes: als heteronome Fremdkonstitution des Volkes durch einen Souverän, der dem Volk einen fiktiv-fingierten (Volks-)Willen quasi von oben ‚überstülpt‘.516 Das jedoch ist der Punkt, an dem alle Deutungen des ‚Staatsrechts‘ bisher übereingekommen sind: Die repräsentative Demokratie des § 52 ist im Sinn des modernen Prinzips der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation zu deuten. Trotzdem ist Kerstings Auslegung des § 51 von Bedeutung. In ihrem Gegensatz zu Ludwigs Interpretation weist sie darauf hin, dass sich § 51 auf zwei grundverschiedene Weisen lesen lässt – die genau den zwei unvereinbaren Staatslehren entsprechen, welche in den beiden Teilen des ‚Staatsrechts‘ zur Darstellung kommen. Das ist Rousseaus Lehre von der nicht-repräsentativen Demokratie im ersten Paragraphenblock (einerseits) und Hobbes’ Lehre von der Repräsentation des Volkes qua ‚politischer‘ Autorisation (andererseits), die 515 516

Kersting 1984, 337 f. Vgl. Duso 2006, 100-107, der sich der Kant-Deutung Kerstings anschließt und sie präzisiert.

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auch der repräsentativen Demokratie zugrunde liegt, mit dem der zweite Paragraphenblock offenbar schließt. Doch: Wie ist das zu deuten? Zur Beantwortung der Frage ist erneut der Standpunkt der Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts einzunehmen, der nun nach § 50 der Standpunkt der Staatsbürger in ihrem „rechtlichen Verhältnisse […] zum Vaterlande und zum Auslande“ ist. Von diesem Standpunkt aus ist klar: Nur die demokratische Staatsform macht ein Land zum „Vaterland“ im Sinn von § 50, also zu einem Land gemeinsamer Staatsbürgerschaft. Denn „Untertanen als Staatsbürger “ gibt es laut § 51 nur in dieser demokratischen Staatsform. Unter allen anderen hingegen ist der Mensch – in Ermangelung der „Bedingung“ konstitutionell verbürgter Staatsbürgerschaft und Teilhabe am souveränen Willen – in besagtem innerstaatlichem „Ausland“ und „Elend“ öffentlich-rechtlicher Entrechtung und Entwürdigung (s. o. (zu § 50)). Aber noch mehr: Die konstituierende Form dieser Entrechtung und Entwürdigung ist nach der traditionell-neuzeitlichen Staatslehre wie gesagt diejenige der Repräsentation des souveränen Volkswillens qua ‚politischer‘ Autorisation. Durch sie werden die Ansprüche der Einzelwillen auf letztinstanzliche Selbstbestimmung in einem souveränen Willen absorbiert, der auf dieser Basis dem tatsächlichen Volkswillen einen fingierten Willen kraft souveräner Gewalt sozusagen ‚paternalistisch überstülpt‘. Kurz, die Freiheits- und Menschenwürde der Einzelnen wird in der Staatswürde des Souveräns absorbiert und zugleich aufgelöst; darum ist das Prinzip der modernen Repräsentation ein Prinzip der Entwürdigung; und um dieses „Elend“ zu verhindern, wurde in § 46,1 schließlich die Volkssouveränität begründet – vom Postulat des öffentlichen Rechts und dem in ihm enthaltenen honeste vive aus, als Pflicht der Behauptung der Freiheit und ihrer Würde (s. o. (zu § 46,1, Kap. 2)). Weil nun das Prinzip der modernen Repräsentation ein „Vaterland“ für den in ihm beheimateten Bürger zu jenem „Ausland“ (und „Elend“) umwandeln kann, ergibt es einerseits Sinn, weshalb nach dem allgemein gehaltenen § 50 der vorliegende § 51 mit dieser Thematik und Problematik (in den ersten beiden Sätzen) einsetzt. Darauf weist Ludwig deshalb zurecht hin. Andererseits erschließt sich vom Standpunkt des Staatsbürgers in seinem „rechtlichen Verhältnisse […] zum Vaterlande und zum Auslande“ aus aber auch, weshalb § 51 dennoch die demokratische Staatsform als nicht-repräsentative

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Demokratie im Sinn Rousseaus und des ersten Paragraphenblocks identifiziert, nicht aber als parlamentarisch-repräsentative Demokratie im Sinn von Sieyes (und Hobbes) bestimmt. Der Hinweis hierauf ist Kersting zu verdanken. In § 51 wird also offenbar wieder Metaphysik in dem Sinn betrieben und geschrieben, dass ein historisch gegebener, doch problematischer Begriff des neuzeitlichen Staatsdenkens a priori so weiter bestimmt wird, dass er mit der menschlichen Freiheit und Würde in Einklang kommt. Dieser Begriff ist nun – endlich – derjenige der Repräsentation in Souveränitäts- und Gesetzgebungsangelegenheiten. Mit welchem konkreten Ausgang dies geschieht, ist vom Blickpunkt der heterogenen Rhetorik des § 51 allerdings eine offene Frage. Um sie zu beantworten, werde ich im Folgenden nach einer überblickschaffenden Lektüre des § 51 (Kap. 1) zuerst die offensichtliche (exoterische) Darstellungsebene kritisch darstellen und diskutieren (Kap. 2). Sie suggeriert, dass alle Staatsformen auf Basis des modernen Prinzips der Repräsentation jenes „Ausland“ der heteronom-repräsentativen Fremdbestimmung des Volkes konstituieren. Dann will ich jedoch in einer Gegenlektüre (Kap. 3) in zwei Schritten (3.1 und 3.2) dagelegen, zu welcher positiven Bestimmung § 51 tatsächlich in puncto Repräsentation gelangt. Das Ergebnis vorweggenommen: Erstens wird in § 51 bereits – und nicht erst in § 52,3 – die demokratische Staatsform als „repräsentatives System des Volks“ einerseits, wie als „wahre Republik“ andererseits bestimmt, obwohl die einschlägigen Schlüsselworte („repräsentatives System des Volks“, „wahre Republik“) nicht wörtlich fallen. Die demokratische Staatsform des § 51 kann also mit dem repräsentativen System des § 52,3 identifiziert werden (entgegen Kersting). Zweitens sind die drei Stufen der Zusammensetzung dieser Staatsform als Stufen der Selbstorganisation des Volkes zu deuten. Hier wird die Selbst- und Fremdrepräsentation des Volkes auf eigentümliche Weise koordiniert und damit das moderne Lehrstück von der Fremdkonstitution des Volkes qua Repräsentation auf freiheitskonforme Weise neu geschrieben – indes so, dass das repräsentative System des ‚Staatsrechts‘ von 1797 nicht mit den „tragenden Prinzipien des französischen Konstitutionalismus von 1791“ übereinstimmt. Dadurch gibt § 51 drittens an, in welchen genuin praktischen Schritten Staatsbürger aktiv dafür Sorge tragen können, dass ihr „Vaterland“ nicht – durch ein falsches Verständnis staatsrechtlicher

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präsentation – zu einem „Ausland“ öffentlich-rechtlichen Freiheitsund Würdeverlusts wird, aber auch durch welche Schritte der Staatsformierung die Staatsbürger ein „Ausland“ zu einem „Vaterland“ umwandeln können. Darum liegt mit § 51 viertens auch das Wissen vor, wie Staatsbürger mit dem gegenwärtigen Strukturproblem repräsentativer Demokratien (vgl. Einleitung) grundsätzlich praktisch umgehen können. Man sieht also jetzt schon: § 51 setzt die Bearbeitung des in der gemeinsamen Überschrift der §§ 50-51 angesprochenen Themas fort – das in § 50 auf einen staatsrechtlichen, nicht aber völkerrechtlichen Gesichtspunkt festgelegt wurde –, und zwar so, dass die Überschrift das genuin staatsrechtliche Projekt der letzten beiden §§ 51 und 52 mitorganisiert. So leitet die Überschrift letztlich auch zur überraschenden Einsicht hin, dass die letzten Paragraphen nicht nur von einem „repräsentative[n] System des Volks“ handeln, sondern von zweien. Das ist einmal dasjenige einer „wahre[n] Republik“, in der die „Bedingung“ verfassungsrechtlich garantierter Staatsbürgerschaft im Sinn des ersten Paragraphenblocks in einem „Vaterland“ der Volkssouveränität konstitutionell realisiert ist (in Nachfolge Rousseaus); und einmal dasjenige einer falschen und freiheitswidrigen Republik, in der dies nicht der Fall ist und stattdessen sogar das in § 50 thematisierte „Ausland“ und „Elend“ aktiv und systematisch realisiert wird – kraft dem modernen Prinzip der Repräsentation (in der Tradition von Hobbes, Locke und Sieyes).

1. Überblickschaffende Interpretation § 51 ist nicht in Absätze unterteilt, sondern reiht en bloc neun Sätze aneinander. Thematisch lässt sich jedoch eine Zweiteilung erkennen, denn die beiden ersten und dann die übrigen Sätze bilden jeweils einen gedanklichen Zusammenhang. So wird in den ersten beiden Sätzen darauf hingewiesen, das „Oberhaupt (der Souverän)“ sei „eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objective practische Realität hat“ (Satz 1) und insofern ein bloßes „Gedankending, als es noch an einer physischen Person mangelt, welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft“ (Satz 2, Kursivdruck: M.W.). Thematisiert wird hier also eine praktische Vernunftidee, die als solche in einer entsprechend

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vernünftigen Praxis verwirklicht werden soll, und dazu bedürfe es eben einer Person, die bereits wirklich ist („einer physischen Person“). Besagte Idee ist allerdings keine andere als diejenige der Volkssouveränität. Denn die „Idee von einem Staatsoberhaupt“ wird als Gedanke eingeführt, der die „drei Gewalten im Staat“ als „so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden, Volkswillens“ umfasst, wobei der in Rede stehende Volkswille letztlich mit dem „vereinigten Willen des Volkes“ in „dreifacher Person“ zu identifizieren ist, von dem der erste Paragraphenblock handelte (vgl. § 46,1 und § 45,2). In Anschluss hieran wird in den übrigen Sätzen (3-9) erörtert, wer die zur Verwirklichung der Volkssouveränität benötigte Person zu sein habe, und folglich auch, wer de facto der Souverän im Staat sein müsse – in einer Diskussion, welche Staatsform die beste sei. Ein genauerer Überblick: Wer die erforderte physische Person überhaupt sein kann, legt der dritte Satz dar, indem er angibt, auf welcherlei „verschiedene Art“ das „Verhältniß“ dieser physischen Person zum tatsächlichen Volkswillen „denkbar“ ist. Dabei wird die besagte Person als der faktische Souverän identifiziert, das Volk hingegen als dessen Untertan. Denkbar sei es demnach, „entweder daß Einer im Staate über alle, oder daß Einige, die einander gleich sind, vereinigt, über alle andere, oder daß Alle zusammen über einen jeden, mithin über sich selbst gebieten“. Die physische Person kann also ein einzelner Souverän sein, eine Gruppe von Herrschern oder das Volk selbst. Allerdings bedeute die eben zitierte Auskunft auch: „die Staatsform ist entweder autocratisch, oder aristocratisch, oder democratisch“. Freilich gehe es in der Frage um die erforderte physische Person nicht nur darum, wer den Souverän bloß „repräsentirt“, sondern wer dieser Souverän tatsächlich auch „ist“, so der Schlussteil des vollständig eingeklammerten vierten Satzes. Nach einem Gedankenstrich (dem einzigen im Paragraphen) erfolgt dann die Diskussion, welche Staatsform die beste sei. Hierzu wird im fünften und sechsten Satz dargelegt, dass die Stufung der Staatsformen anhand der Zahl der Herrscher („Einer“, „Einige“ und „Alle“) im dritten Satz mit der Stufung nach dem Gesichtspunkt der Komplexität zusammenfällt: Die „autocratische Staatsform“ sei „die einfachste“, da sie nur aus einem einfachen Herrschaftsverhältnis besteht (Satz 5); die „aristocratische“ eine „zusammengesezt [e]“, weil sie aus zwei Verhältnissen zusammengesetzt ist; und die „

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cratische“ die „allerzusammengesezteste“, da aus dreien (Satz 6). Im siebten Satz werden die Staatsformen dann anhand von zwei verschiedenen Maßstäben beurteilt, was zwei entgegengesetzte Wertungen zum Ergebnis hat: Frage man nach der „Handhabung des Rechts im Staat“, so sei die autokratische Staatsform „die beste“; „was das Recht selbst anlangt“ hingegen „die gefährlichste fürs Volk“. Der achte Satz erläutert dieses Urteil schließlich und führt dabei den rechtlich entscheidenden Punkt an: Wenn „alle im Volk passiv sind, und Einem, der über sie ist, gehorchen“, dann gibt es „keine Unterthanen als Staatsbürger “. Ähnlich verhält es sich natürlich, wenn sie alle nur einigen Wenigen über ihnen gehorchen. Damit ist also nicht nur die autokratische, sondern auch die aristokratische Staatsform vernunftrechtlich diskreditiert, und folglich allein die demokratische qualifiziert. Der letzte Satz widmet sich dann abschließend einer zeitgenössischen „Vertröstung, womit sich das Volk befriedigen soll“, wenn es in nicht-demokratischen Verhältnissen zu leben hat. Diese „Vertröstung“ wird jedoch auf eigenwillige Weise zu einem Plädoyer für die demokratische Staatsform umgedeutet. § 51 kommt somit zum Ergebnis, dass nur das Volk die physische Person sein kann, die (als Souverän) über das Volk (als Menge der Untertanen) herrscht und auf diese Weise die praktische Idee der Volkssouveränität verwirklicht – in einer demokratischen Staatsform. Denn allein dort gibt es „Unterthanen als Staatsbürger “, so die entscheidende Auskunft. Was ergibt sich damit aber bezüglich des mit der Überschrift der §§ 50-52 bezeichneten Themas? Diesbezüglich erinnere man sich: Dass die Untertanen eines Staates qua „Konstitution“ Staatsbürger zu sein haben, war bereits § 50 zufolge die „Bedingung“ ohne die ein „Land“ für die in ihm beheimateten Menschen kein „Vaterland“ der Volkssouveränität ist, sondern ein „Ausland“ der Fremdbestimmung. Die „Constitution“, die dort in Rede stand, ist nun allerdings mit der demokratischen Staatsform des vorliegenden § 51 zu identifizieren. Vom Standpunkt des § 50 aus – dem Standpunkt des Bürgers in seinem „rechtlichen Verhältnisse […] zum Vaterlande und zum Auslande“ – ist das ‚Staatsrecht‘ damit jedoch keinen Schritt weiter gekommen und darum auch nicht die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts. Ein „Land“ soll für die dort lebenden Menschen kein „Ausland“ (totaler Entwürdigung) sein (auch „Elend“ genannt), sondern ein „Vaterland“ (staatsbürgerlicher Freiheit). Nichts weiter besagt das Plädoyer für die

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kratische Staatsform in § 51; das aber steht schon seit der Begründung der Volkssouveränität in § 46 fest. Doch interessanterweise heißt es im letzten Satz von § 51: „Was die Vertröstung, womit sich das Volk befriedigen soll, betrifft: daß nämlich die Monarchie […] die beste Staatsverfassung sei, wenn der Monarch gut ist […]; gehört zu den tautologischen Weisheitssprüchen“ (Satz 9). Genau das nämlich kann auch über den Gedankengang des § 51 gesagt werden, wenn man ihn in den Kontext der tatsächlichen, nicht-augenscheinlichen Architektonik des ‚Staatsrechts‘ stellt: Es handelt sich um eine Tautologie im strengen Wortsinn, also um eine Wiederholung von etwas bereits Gesagtem. Solch eine Wiederholung findet sich außerdem auf der Ebene der wortwörtlichen Diktion. In der demokratischen Staatsform des § 51 gebieten „Alle zusammen über einen jeden, mithin auch über sich selbst“; der Volkssouveränität in § 46,1 zufolge soll „ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen“, sodass jeder „über sich selbst beschließt“ (Kursivdruck: M.W.). Was gesagt wird, ist jedoch nicht unabhängig von dem, wie es gesagt wird – und mit Blick auf dieses Wie ist § 51 eben nicht (repetitiv-)tautologisch. Denn im Verlauf des § 51 wird nicht nur der soeben vorgestellte Gedankengang dargelegt, sondern auch das Verhältnis der Volkssouveränität zum Prinzip der Repräsentation genau bestimmt, und das letztlich auch in Hinblick auf die Volkssouveränität als Idee. Diese Bestimmung wiederum ist als weiterer Schritt in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts anzusehen. Zu besagtem Wie gehört zuallererst jedoch die Konstitution jener Scheinebene, die in der Literatur primär gedeutet wird und Ludwig in seiner Interpretation exemplarisch ausgelegt hat. Nach ebendieser Interpretation legt sich das ‚Staatsrecht‘ in den ersten beiden Sätzen auf Hobbes’ autoritäre Repräsentationslogik fest, welche die normative Gleichwertigkeit der drei Staatsformen bedinge, die in den übrigen Sätzen behauptet werde. Auch das suggeriert der Text, und zwar sogar auf der exoterischen Darstellungsebene. Diese Textebene möchte ich im Folgenden weniger in einer weitgehend neutralen Lektüre entfalten, als vielmehr mit Blick auf den ganzen Paragraphen ausführlich diskutieren und kritisieren. Zugleich entwickele ich dabei, ausgehend von der zentralen Ausführung zur Repräsentation im vierten Satz, eine Interpretation, die Auskunft darüber gibt, wie die ersten beiden Sätze alternativ gedeutet werden können – und müssen.

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2. Lektüre und Diskussion der exoterischen Darstellungsebene Für die Konstitution der augenscheinlichen Textebene ist hauptsächlich das ausschlaggebend, was in den ersten beiden Sätzen zum Thema Repräsentation gesagt wird. Allerdings gibt es für die Annahme der Gleichwertigkeit der Staatsformen auch in den einschlägigen Ausführungen der übrigen Sätze Anlass, wenn auch nur geringen. Daher werde ich mich diesen Stellen zuerst widmen, bevor ich die auf die eigentlichen Ausführungen zur Repräsentation in den ersten beiden Sätzen zu sprechen komme. Anlass zur Gleichwertigkeits-Annahme gibt es in den folgenden Sätzen vor allem darum, weil im siebten Satz von der autokratischen Staatsform auch gesagt wird, sie sei lediglich „die gefährlichste fürs Volk, in Betracht des Despotismus, zu dem sie so sehr einladet“. Das suggeriert, die Gefahr drohe nur, könne auch abgewendet werden und bestehe in gewisser Weise auch in den beiden übrigen Staatsformen, was von einer gewissen juridischen Gleichwertigkeit zeugt. 517 Tatsächlich aber sind alle nicht-demokratischen Staatsformen notwendigerweise despotisch, weil es hier „keine Unterthanen als Staatsbürger “ geben kann (Satz 8) und Erwachsene folglich wie Kinder behandelt werden (vgl. § 49,1). Ihre Willen letztinstanzlich selbst bestimmen, das dürfen die Menschen hier nicht; weil sie keine Staatsbürger sind, ist ihnen die aktive Teilhabe am souveränen Willen verwehrt; doch das allein würde ihnen ermöglichen, ihre Willen im Staat letztinstanzlich selbst zu bestimmen. Die Ermangelung dieser „Bedingung“ kennzeichnet schließlich den „Despotismus“, die Herrenherrschaft und das innerstaatliche „Ausland“ (s. o. (zu § 49,1 sowie zu § 50)). Doch: In der Frage nach den Staatsformen kommt es allein auf den Gesichtspunkt an, dass es „Unterthanen als Staatsbürger “ gibt 517

Vgl. auch Hirsch 2017, 319, einschl. Fn. 267: „In der Rechtslehre […] scheint Kant sich dafür auszusprechen, dass die Demokratie – wohlgemerkt aus pragmatischen, nicht moralischen Gründen – dem Republikanismus am zuträglichsten sei“; „[d]ie Demokratie als Staatsform wird der sittlichen Autonomie des Einzelnen nicht notwendig gerechter als etwa eine Aristokratie. Gleichwohl lässt sich bei Kant eine Entwicklung dahingehend feststellen, dass er die Demokratie als Staatsform – aus rein probabilistischen Gründen – einer republikanischen Regierungsart am zuträglichsten erachtet“.

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(und damit auf den Gesichtspunkt dessen, „was das Recht selbst anlangt“ im Gegensatz zu dem, was lediglich die „Handhabung des Rechts“ betrifft). Das geht recht unmissverständlich aus dem vorletzten Satz hervor, und darum ist auch das Plädoyer für die demokratische Staatsform recht deutlich. Anzumerken ist freilich noch, dass dieses Plädoyer negativ erfolgt, und zwar so: Explizit wird im vorletzten Satz nur die autokratische Staatsform vernunftrechtlich diskreditiert, damit aber stillschweigend auch die aristokratische Staatsform ausgeschlossen. Denn die aristokratische Staatsform ist wie die autokratische eben eine autokratische – da die Untertanen hier nicht zugleich Staatsbürger sind, zumindest nicht alle.518 Und darauf kommt es in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts immerhin an (s. o. (zu § 46)). So betrifft auch das Problem der „Verfälschung“ der Staatsform, auf welches die (qua Asterisk) angefügte Fußnote am Ende des sechsten Satzes hinweist, ausschließlich die demokratische Staatsform. Nur diese „Form“ kann „durch sich eindringende unbefugte Machthaber“ ‚entarten‘. Denn die anderen sind es bereits, weil die Machthaber dort (vernunftrechtlich beurteilt) von vornherein unbefugt sind. Deswegen gibt es in allen nicht-demokratischen Staatsformen „keine Unterthanen als Staatsbürger “. Erheblich komplexer fällt in § 51 die Thematisierung der Repräsentation aus. Hierzu ist allererst anzumerken, dass das Verb ‚repräsentieren‘ wortwörtlich weder in den ersten beiden Sätzen fällt, noch im engerem Rahmen der Darlegung der demokratischen Staatsform. Allerdings wird das Verb ‚vorstellen‘, das an beiden Stellen in Rede steht, von Kant üblicherweise synonym mit dem Wort ‚repräsentieren‘ gebraucht.519 Zu beachten ist aber, dass im vierten Satz auch wörtlich von ‚repräsentieren‘ die Rede ist („dieser ist der Souverän, jener repräsentirt ihn bloß“).520 Allerdings wird der Leser von der 518

So ist die Einteilung der drei Staatsformen in der Erstauflage sogar eine binäre: „die Staatsform ist entweder autoc rat isch oder de moc ra tisch “ (Satz 3). Zwar wurde die aristokratische Staatsform in der noch von Kant autorisierten zweiten Auflage hier ergänzt, aber das bedeutet nicht, dass die frühere Version keinen Sinn ergibt – vielmehr bringt sie den eigentlichen Gedanken der Staatsformenlehre in § 51 allzu klar zum Ausdruck. 519 Vgl. KrV, A 320/B 376 f., wo der Begriff der „Vorstellung überhaupt“ mit dem der Repräsentation („repraesentatio“) gleichgesetzt wird. 520 Es ist also nicht so, dass das „Stichwort“ Repräsentation „in der

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entscheidenden Bedeutung der Stelle abgelenkt, da der vierte Satz der einzige ist, der vollständig eingeklammert präsentiert wird. Das suggeriert die Nebensächlichkeit des dort Gesagten – doch die Einklammerung ist auch hier (umgekehrt) als (ironisch-kaschiertes) Indiz für die Wichtigkeit des Gesagten zu deuten. So greift schließlich auch der nächste § 52 am entscheidendem Punkt (§ 52,3, Satz 1) auf die hier im vierten Satz dargelegte Grundentscheidung terminologischer und philosophischer Art zurück. Die ersten beiden Sätze scheinen nun aus folgenden Gründen für das Hobbes’sche Modell der Repräsentation und Fremdkonstitution des Volkes zu sprechen: Zuerst wird der souveräne Volkswille dort als „Gedankending“ bezeichnet (Satz 2), als „reine Idee von einem Staatsoberhaupt“, aber auch als „a priori aus der Vernunft abstammen[d]“ (Satz 1). Klar scheint deshalb, dass es sich jetzt nicht mehr um den tatsächlichen Volkswillen handelt, also nicht mehr um die volonté unifiée généralement de tous (s. o. (zu § 46,1, Kap. 3.1.2 b)). Dem ersten Paragraphenblock zufolge sollte schließlich allein dieser tatsächliche Volkswille die souveräne Instanz im Staat sein, den es in einer Praxis staatsbürgerlicher Willensbildung zu generieren galt. Mit der ‚Idealisierung‘, die an vorliegender Stelle erfolgt, scheint die Volkssouveränität des ersten Paragraphenblocks nun tatsächlich nur noch eine „reine Idee“ zu sein, nur noch ein „Gedankending“. Indes: Der zweite Satz besagt, der zuvor als „reine Idee“ festgelegte souveräne Volkswille sei nur „so fern […] ein (das gesammte Volk vorstellendes) Gedankending , als es noch an einer physischen Person mangelt, welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft“.

Offenbar kann die „reine Idee“ der Volkssouveränität also doch wirklich werden und scheinbar wie folgt: Es bedarf einer wirklichen („physischen“) Person, welche die ideal-imaginierte Vorstellung der Volkssouveränität („ein (das gesammte Volk vorstellendes) Gedankending“) als Darsteller derselben verkörpert, personifiziert oder eben repräsentiert („vorstellt“), und diese Volkssouveränität zugleich dem tatsächlichen Volk qua Staatsgewalt von oben ‚überstülpt‘. So verlehre an dieser Stelle [§ 51] erstaunlicherweise nicht fällt“, wovon Ludwig ausgeht, 1999, 178.

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schaffe der Stellvertreter-Souverän „dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen“. Indem das Volk also souveräne Gewalt erleidet, wird es zum Souverän, – was freilich nur unter Voraussetzung jener ‚politischen‘ Autorisation einigermaßen stimmig gedacht werden kann. Kurz, die im zweiten Satz vorgelegte Struktur entspricht dem Hobbes’schen Modell der Fremdkonstitution des Volkes qua Repräsentation: „erst durch die Repräsentation (bei Hobbes: durch die Autorisation), also durch sein Oberhaupt wird die Volksmenge zum Volk, zum Träger eines politischen Willens“521. Dieser Deutung steht allerdings ganz klar der vierte Satz entgegen: Die Staatsform legt fest, welche physische Person als Souverän über das Volk gebietet (Satz 3). Doch dabei komme es nicht darauf an, wer den Souverän „repräsentirt“, sondern wer der Souverän „ist“ (Satz 4, vgl. § 52,3). Und von hier aus werden die beiden nicht-demokratischen Staatsformen schließlich nicht deshalb verworfen, da die jeweiligen Herrscher nicht das Volk in Stellvertretung repräsentieren, sondern weil das Volk hier nicht der Souverän ist.522 Ausführlicher: Gebietet einer über das Volk, so ist ein „Autocrator“ der (autokratische) Souverän; gebieten viele, so sind diese es; und wenn das Volk schließlich über sich selbst herrscht, so ist eben genau dieses Volk der (demokratische) Souverän. Der Souverän wird dann auch nicht mehr bloß „repräsentirt“, sondern der jeweilige Souverän „ist“ dann eben der Souverän. Dabei ist das ‚nicht bloß repräsentieren‘ dem vierten Satz zufolge aber gerade (noch) nicht so zu verstehen, dass die Herrscher der jeweiligen Staatsformen alle gleichermaßen das Volk als ursprünglichen Souverän und damit die Volkssouveränität des ersten Paragraphenblocks repräsentieren – wie man (mit Ludwig) von den ersten beiden Sätzen aus denken könnte. Das Gegensatzpaar den Souverän ‚bloß repräsentieren‘ versus der Souverän ‚sein‘ (und ihn zugleich ‚repräsentieren‘, vgl. § 52,3) wird im vierten Satz nämlich als neutrale staatstechnische Terminologie eingeführt. Vollständig lautet der vierte Satz: 521 522

Ludwig 1999, 191. Ausschlaggebend ist freilich auch nicht der (Locke’sche) Gesichtspunkt, dass das Volk seine ursprüngliche Gewalt einer oder mehreren physischen Personen überträgt, die dann die ‚die höchste Staatsgewalt vorstellen‘, so aber Byrd/Hruschka 2010, 180 f. und hieran anknüpfend Hanisch 2016, 69 f.

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„Der Ausdruck monarchisc h , statt autocratisch, ist nicht dem Begriffe, den man hier will, angemessen; denn Monarch ist der, welcher die höchste , Autocrator aber, oder Se lbsthe rrsc her, der, welcher alle Gewalt hat; dieser ist der Souverän, jener repräsentirt ihn bloß“.

Demzufolge ist der Monarch nicht der Souverän, da er den Souverän nur repräsentiert – einerseits. Doch ihn nur zu repräsentieren heißt hier nicht, der Monarch repräsentiere lediglich das ursprünglich souveräne Volk, das er als natürliche Person (als einzelner Mensch) eben nicht ist; stattdessen repräsentiert er den Souverän bloß, weil er statt allen drei Gewalten nur die erste (und höchste) in seiner Zuständigkeit „hat“. Mit der Idee der Volkssouveränität und deren Repräsentation durch eine physische Person (Sätze 1-2) hat das also (vorerst) nichts zu tun.523 Andererseits hingegen ist der Autocrator derjenige, der den Souverän nicht bloß repräsentiert, sondern eben auch der Souverän ist – darum, weil er „alle Gewalt hat“. Das gilt auch für die beiden übrigen Staatsformen: Die jeweiligen Gebieter repräsentieren dort nicht bloß den Souverän, sondern sind es dann, wenn ihnen alle Gewalt zukommt, ganz unabhängig von der Idee der Volkssouveränität und der Repräsentation dieser Idee. Die Gewaltengliederung ist es letztlich, worum es hier geht: Der wahre Souverän „hat“ auch die ihm untergeordneten Gewalten (kraft entsprechender Zusatzkompetenzen) unter seiner Kontrolle (s. o. (zu § 49,2)); derjenige, der ihn bloß repräsentiert nach vorliegender Stelle aber offenbar nicht, – was freilich nicht heißt, dass ein Souverän, der „alle Gewalt hat“, diese auch in persona ausübt524 (s. o. (zu § 48,1)).525 523

Das behauptet jedoch beispielsweise Hanisch, 2016, 70. So aber Ludwig 1999, 184 f., 178. 525 Was in diesem Kontext das Paar bloß repräsentieren – sein genau bedeutet, wird im vierten Satz von § 51 nicht weiter erläutert, aber auch nicht im folgenden Paragraphen, wo diese Terminologie wieder aufgegriffen wird. In der ›Metaphysik der Sitten‹ gibt es allerdings eine weitere (Parallel-)Stelle, in der die Terminologie gebraucht wird: TL, § 9. Diese Stelle ist an vorliegendem Punkt des ‚Staatsrechts‘ sehr aufschlussreich, auch wenn sie sich in der Tugendlehre befindet. Dort heißt es im ersten Absatz, die Lüge bewirke, dass man kraft ihr nur noch eine „bloß täuschende Erscheinung vom Menschen“ vor sich habe, „nicht aber de[n] Menschen selbst“. Die Lüge kappe die praktische Vermittlung zwischen dem Bereich der noumenalen Freiheit und der Erscheinungswelt. So lässt sich die Terminologie auch an vorliegender Stelle deuten: Wenn jemand bloß 524

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§ 51 kommt wie gesagt zu dem Ende, dass die autokratische und aristokratische Staatsform vernunftrechtlich disqualifiziert werden müssen und die demokratische als die einzig vernunftrechtlich erlaubte Form übrig bleibt. Das aber heißt: Rechtlich möglich ist lediglich eine Staatsform, in der das Volk nicht bloß (aber eben auch) den Souverän „repräsentirt“, sondern de facto der Souverän „ist“ – und das in besagtem Sinn, dass das Volk als Herrscher alle Gewalt unter seiner Kontrolle hat und nicht nur die höchste ausübt. Mit Blick auf die ersten beiden Sätze heißt das aber: Die „ganze Volkszahl“ (und zugleich das „vereinigte Volk“) „repräsentirt […] nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“, wie es der nächste Paragraph an entscheidender Stelle formuliert (§ 52,3, Satz 1). Von diesem Punkt aus muss die Thematisierung der Repräsentation im zweiten Satz des vorliegenden § 51 so gelesen werden: Allein das tatsächliche Volk kann die physische Person sein, „welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft“. Doch das ist nicht so zu verstehen, dass das Volk die Idee der Volkssouveränität als physische (oder tatsächliche) Person dadurch zur Darstellung bringt, dass es ein ideal-imaginiertes Volk (ein „Gedankending“) repräsentiert; sondern so, dass es die Volkssouveränität (des ersten Paragraphenblocks) einfach ausübt und dadurch einfach selbst der Souverän ist – und somit die Volkssouveränität als praktische Idee verwirklicht. 526 Diese Interpretation werde ich nun im Zuge einer genaueren Lektüre der ersten beiden Sätze weiter fundieren und dabei zugleich den dort ins Werk gesetzten Hobbesianismus als bloß scheinbaren aufdecken. So werden die Grundzüge einer ganz anderen Lehre von der Repräsentation erden Souverän repräsentiert, aber eben nicht der Souverän ist, so ist er darum zwar noch kein Lügner, aber wohl doch ein bloßer Darsteller, ein Schauspieler. Es kommt ihm lediglich eine Rolle zu, doch wenn er sie spielt, ist er nicht das, was er spielt. So wird der Begriff des Monarchen schließlich in § 51 bestimmt: lediglich als Schauspieler, der eben nicht das ist, was er spielt; der Monarch ist nicht der Souverän. Vgl. auch Rousseau, Lettre à d’Alembert, 72-74. 526 Widerlegt ist damit die Interpretation von Bernd Ludwig, derzufolge die Volkssouveränität des ersten Paragraphenblocks als „Ding an sich“ und „bloße Idee“ nicht verwirklicht werden könne, und es in puncto respublica phaenomenon nur auf das bloße Repräsentieren ankomme, nicht aber mehr um die Frage, wer tatsächlich der Souverän im Staat ist, s. o.

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kennbar (Kap. 3.1). Sie wiederum ist für die demokratische Staatsform im sechsten Satz grundlegend – für die demokratische Staatsform als „repräsentatives System des Volks“ (§ 52,3). Ihr werde ich mich abschließend widmen (in 3.2).

3. Gegenlektüre und präzisierende Interpretation 3.1 Zu den Sätzen 1 und 2: Volkssouveränität und Repräsentation (Zu Satz 1:) Vollständig lautet der erste Satz des § 51: „Die drei Gewalten im Staat, die aus dem Begriff eines ge me ine n We s ens überhaupt (res publica latius dicta) hervorgehen, sind nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden, Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objective practische Realität hat“.

Augenfällig ist, dass der Paragraph wörtlich genau wie § 48 beginnt, indem er die drei Gewalten als Satzsubjekt setzt („Die drei Gewalten im Staat sind […]“). Dort wurden die Staatsgewalten in ihrer Beiund Unterordnung zu einem souveränen „Willen in dreifacher Person“ (§ 45,2) bestimmt. Darauf rekurriert nun auch der vorliegende Satz. Denn die „drei Gewalten im Staat“ seien, so heißt es, „nur so viel [nämlich drei] Verhältnisse“ des einen souveränen (Volks-)Willens und folglich so viele Verhältnisse gemäß der „Idee von einem Staatsoberhaupt“ – in dreifacher Person (Kursivdruck: M.W.). Durch die Setzung der drei Gewalten als Satzsubjekt handelt der erste Satz des § 51 nun aber primär von diesen drei Gewalten. Doch warum? Auf diese Frage gibt es in der Forschungsliteratur noch keine (befriedigende) Antwort.527

527

Und höchst problematisch ist (wieder) die Interpretation von Ludwig, wonach der Satz besagt, die Gewaltenteilung des ersten Paragraphenblocks gelte nur für den Staat in der Idee, sei aber in einem wirklichen Staat nicht mehr von Belang (die Staatsverfassungen seien nicht gewaltenteilig; die drei Gewalten „eine reine Idee“, ein bloßes „Gedanke n ding“), s. o.

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Im Rahmen der von mir bereits erarbeiteten Interpretation lässt sich indes ein (anderer) Sinn erkennen. Zu deuten ist schließlich auch der Relativsatz, der auf den begrifflichen Ursprung der drei Gewalten verweist: „Die drei Gewalten im Staat, die aus dem Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt (res publica latius dicta) hervorgehen, […]“ (Kursivdruck: M.W.). Die Bestimmung, dass die drei Gewalten nun „aus dem Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt […] hervorgehen“, scheint mit Blick auf die (zweigliedrige) Aussage des Satzes zuerst einmal überflüssig zu sein. Dem ist aber nicht so. Denn man bedenke, dass der „Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt“ für denselben Gegenstand steht wie jener „Staa[t] überhaupt“ (§ 45,1), den der erste Paragraphenblock zugleich als „Idee eines Staats überhaupt“ bestimmte (§ 47), oder eben als „Staat in der Idee“ (§ 45,1, Kursivdruck: M.W.). Zudem verwies bereits § 47 (auch zu Beginn) in ganz ähnlicher Weise wie der vorliegende Satz auf diesen Ursprung der drei Gewalten: „Alle jene drei Gewalten im Staate sind […] aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend“. Mit dieser Aufklärung über den Ursprung der drei Gewalten wurde in § 47 indes nur der Gedankenkomplex resümiert, den § 45 zuvor entfaltete (s. o. (zu den §§ 45 und 47)). Er sei an dieser Stelle rekapituliert: Die rechtsgesetzlich präzise bestimmte (Minimal-)Form, welche konstitutiv dafür ist, dass ein Staat überhaupt bestehen kann, ist der Staat in der Idee („die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee“ (§ 45,1) oder eben die „Idee eines Staats überhaupt“ (§ 47)); zum anderen ist die Verwirklichung dieses Staats überhaupt (wie auch die Verwirklichung jedes besonderen Staats) notwendig auf die drei Gewalten im Staat (den „Willen in dreifacher Person“) angewiesen, und zwar als Form der Willensbestimmung des Volkes. Kurz, die drei Gewalten sind konstitutiv für die Hervorbringung (oder Konstitution) der wiederum für jeden Staat konstitutiven Minimalform eines Staats überhaupt – und damit für die Verwirklichung des Staats in der Idee als konstitutiver praktischer Idee. In diesem Sinn muss auch der vorliegende erste Satz des § 51 gelesen werden. Denn hier wird nicht gesagt, dass die drei Gewalten eine „reine Idee“ im Sinn einer ‚bloßen Idee‘ sind – und darum im Zug der Verwirklichung des ‚Staats in der Idee‘ keine Rolle mehr spielen (wie Ludwig behauptet). Der Aussage des Satzes zufolge sind die drei Gewalten nämlich, als drei Verhältnisse eines souveränen

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lens (in dreifacher Person), eine „reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objective practische Realität hat“ (Kursivdruck: M.W.). Das aber heißt: Sie sind eine praktische Idee, deren Verwirklichung praktisch geboten ist, und zwar vollständig. Denn es handelt sich um eine konstitutive praktische Idee, so der in § 47 resümierte Gedanke des § 45, auf den der Relativsatz vorliegender Stelle zurückverweist. Doch nicht nur der Relativsatz bezieht sich auf § 47, sondern vielmehr auch die vollständige Aussage des ersten Satzes. Auf den zweiten Satz des § 47 geht schließlich auch die Bestimmung zurück, die drei Gewalten seien notwendigerweise „so viel [drei] Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden, Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt“. In § 47 hieß es nämlich zum einen, alle drei Gewalten würden jeweils für sich das eine „Verhältniß eines allgemeinen Oberhaupts“ in Relation zu seinen Untertanen enthalten. Die drei Gewalten sind also demnach „so viel [drei] Verhältnisse“ eines „Staatsoberhaupt[s]“, wie es nun an vorliegender Stelle heißt. Zum anderen kann nach § 47 das Verhältnis des Souveräns zur Menge der Untertanen aber auch nur ein Selbstverhältnis des Volkes sein. Denn das Oberhaupt könne, „nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein“ (§ 47, Satz 2). Darum sind die drei Gewalten, so vorliegende Stelle, notwendigerweise „so viel [drei] Verhältnisse des vereinigten […] Volkswillens“, der zugleich „a priori aus der Vernunft abstamm[t]“. Kann nämlich „nach Freiheitsgesetzen […] kein Anderer als das vereinigte Volk selbst“ der Souverän sein, so ist die Volkssouveränität (inklusive der Vorstellung eines souveränen Volkswillens) eine a priori in der Vernunft gründende praktische Idee. Genauer: Auch die Volkssouveränität ist eine konstitutive praktische Idee. Wenn das Volk nämlich nicht der Souverän ist, dann ist es „nach Freiheitsgesetzen betrachtet“ niemand – eben weil, „nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst“ der Souverän im Staat „sein kann“ (so § 47, Satz 2). (Zu Satz 2:) Vom Punkt der objektiven praktischen Realität dieser Idee aus betrachtet ist das Ende des § 51 bereits am Anfang desselben absehbar: Die „physisch[e] Person“, ohne die der (Volks-)Souverän (zufolge Satz 2) nur ein „Gedankending“ ist, kann keine andere als das Volk selbst sein; das Volk selbst muss die Person sein, „welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf

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den Volkswillen verschafft“ – wobei dieses Wirksamkeit verschaffen (zirkulär) so zu verstehen ist, dass das Volk sich gegenüber sich selbst „die höchste Staatsgewalt vorstellt“ und so wirksam geltend macht. In den Worten des § 55,5: Das Volk ist zwar als Untertan „passiv“; aber als souveränes Volk ist es „doch auch selbstthätig“ während es „den Souverän selbst vorstellt“. Doch: Dass dies so sein soll, ist mit Blick auf den ersten Paragraphenblock (wie bereits vorweggenommen) eine Wiederholung von bereits Gesagtem, also wortwörtlich tautologisch. Angesichts des zweiten Satzes stellt sich allerdings die Frage, was es denn heiße, der Souverän sei „nur ein (das gesammte Volk vorstellendes) Gedankending“ solange er nicht durch eine physische Person vorgestellt wird (Kursivdruck: M.W.). Ganz grundlegend: Was heißt hier überhaupt ‚vorstellen‘ – aber eben auch ‚repräsentieren‘? Dieser Frage von den Irritationen vorliegender Stelle aus nachzugehen, lohnt sich. Denn auf diese Weise gelangt man zu einem Verständnis von Repräsentation, das sich gegenüber der traditionell-neuzeitlichen, sozusagen modernen Auffassung staatsrechtlicher Repräsentation abgrenzt und für das Staatsrecht der Volkssouveränität kennzeichnend ist. Wenn es heißt, der Souverän sei seiner Idee nach (der Idee der Volkssouveränität) „ein (das gesammte Volk vorstellendes) Gedankending“, so evoziert das zuerst einmal wieder jenes moderne Repräsentationsverständnis der neuzeitlichen Souveränitätslehre. Dass hier nämlich das Volk durch ein „Gedankending“ vorgestellt werde, scheint zu heißen: Das Volk ist eine bloß gedanklich-imaginierte Vorstellung, welche wiederum in der Idee der Volkssouveränität als „Gedankending“ repräsentiert ist und durch sie repräsentiert wird – und diese Vorstellung habe eine beliebige physische Person kausal auf das Volk zu applizieren. Der Satz besagt allerdings, die Volkssouveränität sei nur unter der Bedingung eines Mangels ein bloßes „Gedankending“ („so fern […], als es noch […] mangelt“). Und dieser Mangel soll dadurch behoben werden, dass das Volk selbst zum Souverän wird – nicht zuletzt weil die Idee der Volkssouveränität eine praktische Idee ist, die das Gebot ihrer Verwirklichung enthält. Nun lässt sich aber auch und insbesondere in Hinblick auf diesen Gesichtspunkt die Einklammerung lesen, derzufolge der Souverän das gesammte Volk vorstellend ist, – und auf diese Weise wiederum ein komplexes Verständnis von

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präsentation entfalten. Denn: Der Souverän (oder genauer: das Volk als Souverän) kann auch noch dann das gesammte Volk vorstellend sein, wenn das Volk selbst de facto der Souverän ist – und die Volkssouveränität folglich kein bloßes Gedankending mehr. Durch tatsächliche Volkssouveränität soll die Volkssouveränität ihrer Idee gemäß verwirklicht werden; dann aber ist das Volk als Souverän das gesammte Volk dadurch vorstellend, dass es, indem es als „physisch[e] Person […] die höchste Staatsgewalt vorstellt“, die Idee der Volkssouveränität eben durch tatsächlich praktizierte Volkssouveränität physisch-sinnlich zur Darstellung bringt (Kursivdruck: M.W.). Kurz, es ist als Souverän das gesammte Volk vorstellend, weil es sich selbst als Souverän vorstellt oder repräsentiert. Vorstellen (oder repräsentieren) heißt demnach (1.) sinnlich darstellen, und damit auch versinnlichen und verwirklichen.528 Außerdem ist die Repräsentation an diesem Punkt zugleich als öffentliche Selbstdarstellung des Volkes zu begreifen. Dass der Souverän das gesammte Volk vorstellt, ist mit Blick auf die demokratische Staatsform im sechsten Satz aber auch (2.) so zu verstehen, dass das Vorstellen ein Vorsetzen ist. Das Volk setzt sich oder stellt sich als Staat oder gemeines Wesen den Souverän vor. Im Kontext der demokratischen Staatsform heißt das: Das gesamte Volk, das sich bereits im Zustand des horizontalen Beisammenseins befindet, also bereits ein Staat oder gemeines Wesen ist (vgl. Stufe 2 der demokratischen Staatsform, dazu gleich mehr), setzt vertikal über sich einen souveränen Willen als Herrschaftsinstanz ein, der wiederum dessen eigener Wille ist (vgl. Stufe 3). Doch weil dieser Wille sein eigener ist, bekommt das Volk auch vonseiten des Souveräns eben nur seinen eigenen Willen vorgestellt oder vorgesetzt. Auch in diesem Sinn stellt der Souverän also das gesammte Volk vor. Das Vorstellen ist hier im Sinn eines Akts personaler Positionierung (sprachlich-kommunikativer Natur) zu verstehen: Das Volk stellt und setzt sich seinen eigenen Willen in personaler Differenz (als Wille „in dreifacher Person“) vor, der ihm ebendiesen Willen wieder vorsetzt und vorstellt, also repräsentiert – sprachlich-kommunikativ in Sprecherrolle (persona) und Sprechakten (mit Gewalt). Auf diese Weise wird die Volkssouveränität als komplexes und repräsentativ differenziertes Selbstverhältnis des Volkes etabliert. 528

Vgl. KU, § 59,2, RGV, AA 06: 192.24-28 sowie KU, Einleitung, IX,1.

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Indem sich das Volk seinen eigenen Willen als Souverän gegenüber sich selbst als Untertan vorstellt und vorsetzt, stellt es sich aber noch in einem weiteren Sinn vor, nämlich (3.) in (sozialem) Rang, Wert und Würde. Denn das Volk behauptet durch die öffentlich-rechtliche Praxis der Volkssouveränität wie gesagt zugleich seine eigene Freiheit und Würde – vor allem dahingehend, dass es keinem fremden Wille über ihm erlaubt ist, diese Freiheits- und Menschenwürde in einer bloß fingierten Staats- und Statuswürde zu absorbieren, um den tatsächlichen Volkswillen letztinstanzlich bestimmen zu können. Denn dann wäre das Volk sowohl öffentlich-rechtlich wie auch moralisch „[o]hne alle Würde“; es wäre nur noch Untertan und folglich Sklave (s. o., vgl. Allg. Anm. D,4). Weil das Volk nun aber sich selbst als Souverän einsetzt, stellt es sich zugleich im sozialen Raum in Rang, Wert und Würde vor – indem es sich von unten (als Untertan) nach oben (als Oberhaupt) stellt –529 und dadurch letztlich von der Position des Entrechtet-Entwürdigten (im „Ausland“ oder „Elend“) zu der Position des sich in seiner Würde zusammen mit anderen selbst behauptenden Staatsbürgers (in einem „Vaterland“). Diese drei Deutungen, denen zufolge sich das Volk auf je drei verschiedene Weisen als Souverän vorstellt, sind freilich zu vereinigen: Kraft der Volkssouveränität behauptet sich das Volk öffentlich-rechtlich in seiner Freiheit und Würde – und zwar in einer öffentlichen Selbstdarstellung eben dieser Freiheit und Würde. Dadurch wird weniger ein vermeintlich übersinnlicher Staat in der Idee sinnlich zur Darstellung gebracht. Vielmehr kommt die nach Kantischem Verständnis tatsächlich übersinnliche und sinnlich nicht darstellbare Freiheit und Würde hiermit eben doch sinnlich zur Darstellung. Ideengeschichtlich entspricht dies Rousseaus Konzept der authentischen Repräsentation des Volkes. So ist die textexterne Referenzstelle wieder der ›Contrat Social‹: „le Souverain […] ne peut être représenté que par lui même“530 – die an dieser Stelle indes im Licht des ›Lettre 529

In der Bildlichkeit kann die vertikale Herrschafts- und Statusdimension (oben – unten) mit der horizontalen Dimension (vorne – hinten) codiert werden. Vgl. Keller, Kleider machen Leute, 19: „Am Tisch erhielt er den Ehrenplatz neben der Tochter des Hauses; denn die Mutter war gestorben. Er […] sagte sich […]: Ach, einmal wirst du doch in deinem Leben etwas vorgestellt und neben einem solchen höhern Wesen gesessen haben“, Kursivdruck: M.W. 530 Rousseau, Contrat Social, II, 1,2.

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à d’Alembert‹ zu lesen ist: „vous en formerez un [spectacle] vous mêmes, le plus digne qu’il [le soleil] puisse éclairer“531. Mit den Worten des § 52,3: Das Volk „repräsentirt “ dann nicht bloß den Souverän, es „ist“ dieser selbst. Dieses Verständnis authentischer Repräsentation ist bei Kant wie bei Rousseau jedoch nicht nur Ausdruck einer Staatslehre, die gegenüber dem modernen Verständnis von Repräsentation eine Alternative geltend macht. Vielmehr ist die Repräsentation hier als Heil- und Gegenmittel gegen die freiheitswidrige Logik der modernen Version konzipiert. Man entsinne sich aber: Vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Recht aus ist weniger eine neue Lehre von der Repräsentation vonnöten, sondern vor allem eine neue Praxis der Repräsentation. Daran liegt es meines Erachtens, dass das alternative Verständnis von Repräsentation im Zug der Darlegung einer Staatsform vorgelegt wird, welche die Volkssouveränität des § 46 institutionalisiert – in einem „repräsentative [n] System des Volks“.

3.2 Zu den Sätzen 5 und 6: Die demokratische Staatsform als repräsentatives System des Volks Die Bestimmung der demokratischen Staatsform als „repräsentatives System des Volks“, von dem dann der nächste Paragraph explizit sprechen wird (§ 52,3), erfolgt in den Sätzen 5 und 6. Dort werden die drei Staatsformen in der Stufenfolge der Komplexität ihrer Zusammensetzung aufgeführt und beschrieben. Hierbei ergibt sich, dass die Stufung der Staatsformen nach der Zahl der Herrscher („Einer“, „Einige“ und „Alle“, Satz 3) mit der Stufung nach dem Gesichtspunkt der Komplexität zusammenfällt: Die „autocratische Staatsform“ ist die „einfachste“, da sie nur aus einem einfachen Herrschaftsverhältnis besteht (Satz 5); die „aristocratische“ aber eine „zusammengesetzt [e]“, weil sie aus zwei Verhältnissen zusammengesetzt ist; und die „democratische“ die „allerzusammengesetzteste“, da aus dreien (Satz 6). Hierauf ein genauerer Blick: Dass man „leicht gewahr“ werde, „daß die autocratische Staatsform die einfachste sei“ (Satz 5, Kursiv531

Rousseau, Lettre à d’Alembert, 114 f.

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druck: M.W.), liegt daran, dass die Staatsform hier mit dem Über-Unterordungs-Verhältnis traditioneller Souveränität zu identifizieren ist. Denn hier (beim Verhältnis „nämlich von Einem (dem Könige) […] zum Volke“) gibt es lediglich eine natürliche Person (einen Menschen), die (oder der) als Herr und Souverän gegenüber dem Volk in Verhältnis tritt (ebd.). Zwar ist die aristocratische Staatsform (Satz 6) demgegenüber nicht derart einfach im wörtlichen Sinn. Aber der einzige Unterschied besteht darin, dass die souveräne Person hier erst als Körperschaft oder juristische Person gebildet werden muss. Dazu („den Souverän zu machen“) müssen die Aristokraten (die „Vornehmen“) erst in Verhältnis „zu einander“ treten und ihre Einzelwillen zu einem allgemeinen Willen vereinigen (s. o.). Denn in dieser Staatsform gebieten „Einige, die einander gleich sind, vereinigt, über alle andere[n]“ (Satz 4). Die Bildung einer volonté générale ist nötig, die in Bezug auf das Volk jedoch nur eine volonté particulière ist; es handelt sich um eine „associatio[n] partiell[e]“, „générale par rapport à ses membres“532. Aufgrund der Erfordernis solch einer Willensvereinigung ist die aristokratische Staatsform „aus zwei Verhältnissen zusammengesetzt“: dem horizontalen der „Vornehmen (als Gesetzgeber) zu einander“ und dem vertikalen „dieses Souveräns zum Volk“. Von der aristokratischen Staatsform ausgehend und unter dem Gesichtspunkt der Komplexität betrachtet, ist die democratische Staatsform lediglich eine Steigerungsform der aristokratischen. Statt einem horizontalen und einem vertikalen Verhältnis gibt es hier neben dem vertikalen der Über-Unterordnungsrelation zwei horizontale. Das Eigentümliche ist jedoch: Jedes der drei Verhältnisse ist eines des Volkes zu sich selbst. Die drei Verhältnisse sind Selbstverhältnisse, das vertikale Herrschaftsverhältnis nicht ausgenommen. Diese Selbstbezüglichkeit ist für die Volkssouveränität charakteristisch, wie sie in § 46,1 bestimmt wurde. Denn durch die Identifizierung von Souverän und Untertan qua demokratisch-horizontalem Willensbildungsverfahren sollte die Logik des traditionell-vertikalen Herr-Knecht-Verhältnisses von einer Form der Knechtschaft zu einer der Freiheit „von unterst zu oberst“ gekehrt werden. Subversion war das Stichwort (s. o. (zu § 46,1, Kap. 2)).533 Diese Strukturbeschaffenheit ist nun in der demokratischen Staatsform institutionalisiert. Darum kann man hier 532 533

Vgl. Rousseau, Contrat Social, II, 3,3. Vgl. Georges, 2892.

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von Volkssouveränität sprechen – mit Blick auf die zwei übrigen Staatsformen aber auch nur hier.534 Mit den drei Verhältnissen der demokratischen Staatsform werden allerdings zugleich die drei ersten und elementaren Schritte angegeben, welche das Postulat des öffentlichen Rechts (ab § 42) bis jetzt zu gehen forderte. Nimmt man nämlich unter Rückbesinnung auf § 42,1 den Gesichtspunkt eines Adressaten dieses Postulats ein, so werden die Etappen der Zusammensetzung der demokratischen Staatsform zugleich als Handlungsschritte erkennbar, die man (nach § 42,1: „du“) „mit allen anderen“ in der angegebenen Stufenfolge („zuerst“, „dann“, „und dann“) begehen soll – wovon indes der unpersönliche Darlegungsstil des § 51 ablenkt: Schritt 1

„den Willen Aller zuerst zu vereinigen, um daraus ein Volk […] zu bilden“

Schritt 2

„dann den [Willen ]der Staatsbürger [zu vereinigen,] um ein gemeines Wesen zu bilden“

Schritt 3

„und dann diesem gemeinen Wesen den Souverän, der dieser vereinigte Wille selbst ist, vorzusetzen“ (Kursivdruck: M.W.).

In der demokratischen Staatsform hat man es demnach zuerst einmal mit zwei Schritten der Willensvereinigung zu tun, die in Anschluss an § 46,1 Schritte der Vereinigung des „Willen[s] Aller“ sind. Dieser Wille soll zum Zweck der Bildung jeweils einer Entität erfolgen, im ersten Schritt ist diese ein Volk, im zweiten ein gemeines Wesen. Dabei ist der letzte Schritt des Vorsetzens oder Vorstellens des Souveräns eigentümlicherweise nur einer, der darin besteht, dem gemeinen Wesen dasselbe gemeine Wesen, das zuvor kraft Willensvereinigung gebildet 534

So ist die aristocratische Staatsform letztlich nur als Variation der autocratischen anzusehen – nicht zuletzt vom Gesichtspunkt des Volks aus, auf den es in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts maßgeblich ankommt. In beiden ist das Volk nämlich – im Gegensatz zur demokratischen Staatsform – nur eine Menge bloßer Untertanen und nicht in die Souveränitätsangelegenheiten eingebunden. Beide Staatsformen ergeben „keine Unterthanen als Staatsbürge r “. Darum schließlich ist, nun wieder die Worte der Erstausgabe, die „Staatsform […] entweder autoc rat isch oder de moc ratisch “ (Satz 3).

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wurde, „vorzusetzen“. Es handelt sich damit um Repräsentation als wiederholte Präsentation, also um Repräsentation im wörtlichsten Sinn. Doch mit der Logik einer Spiegelung herrscht auch die einer Spiegelverkehrung: Der horizontalen, herrschaftsfreien Vereinigung der Menschen zu einer Willensgemeinschaft wird der Wille eben dieser Gemeinschaft in Form der „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) vorgesetzt. Durch die Identität des Vorgesetzten, also durch die Iteration der Repräsentation, ist diese Verkehrung jedoch eine bloß formale. Anders gesagt: Das traditionelle Herrschaftsverhältnis ist in der iterativen Form der demokratischen Verfassung selbst wiederum verkehrt, also subvertiert. Deswegen ist die Umwandlung einer herrschaftsfreien Form (Stufen 1 und 2) in eine Form der Herrschaft (Stufe 3) nicht behaftet mit den herkömmlichen Problemen einer solchen Transformation: totale Unfreiheit und Entwürdigung, oder eben „Elend“ und „Ausland“ (s. o. (zu § 50)). Doch was heißt es, ein Volk, und was, ein gemeines Wesen zu bilden? Anders gefragt: Wie unterscheiden sich die ersten beiden Stufen voneinander? Um diese Frage zu beantworten, muss man meines Erachtens wieder vor das ‚Staatsrecht‘ zurückgehen, zum Postulat des öffentlichen Rechts in seiner ersten Formulierung am Ende des Privatrechts. Der staatsrechtliche Volksbegriff des § 43 ist immerhin bereits ganz auf das gemeine Wesen und die Herrschergewalt ausgerichtet (s. o. (zu § 43)). Hingegen fordert das Postulat des öffentlichen Rechts in seiner ersten Formulierung lediglich eine Kollektivaktion („mit allen anderen“), und zwar „in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit über[zu]gehen“. In dieser Kollektivaktion kann man jene Vereinigung der „Willen Aller“ sehen, die für die erste Stufe der demokratischen Staatsform charakteristisch ist: die Bildung eines Volks. Zugleich zielt die Aktion aber noch nicht auf die Unterwerfung unter einen „vereinigenden Willen“, wie es dem staatsrechtlichen Volksbegriff bereits in § 43 eingeschrieben war. Denn im Privatrecht fordert das Postulat des öffentlichen Rechts zuerst nur die Etablierung eines Gerichtshofes, noch nicht aber die Einrichtung einer Herrschergewalt einschließlich des für diese Gewalt konstitutiven ÜberUnterordnungs-Verhältnisses der Souveränität (vgl. Vorstudie, 4.1). Demnach war die erste Forderung des Postulats sozusagen eine anarchische, und deshalb nahm das Kantische ‚Staatsrecht‘ seinen Ausgang in einem bloßen Vereinigungspostulat der Menschen, ähnlich

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wie in Achenwalls Staatsrecht.535 Bei Achenwall lassen sich allerdings auch die Grundzüge des Modells finden, das Kant der demokratischen Staatsform in vorliegendem § 51 zugrundelegt: 536 Achenwall zufolge heißt das Produkt der bloßen Vereinigung der Menschen „Volk“ („populi nomine“). Ihm stehe es frei, eine Herrschaft über sich einzusetzen oder nicht, also in einer „Anarchie“ zu leben („anarchiam, societatem plurium familiarum aequalem“), oder in einen „Staat oder [ein] Gemeinwesen (Republik)“ einzutreten („Civitas seu respublica“). Und letzteres erfordere wiederum eine separate Willensvereinigung. Genau dieses zweistufige Modell übernimmt Kant nun als Modell der Zusammensetzung seiner demokratischen Staatsform – nur dass er die Ein- oder Vorsetzung der Herrschaft in einer dritten Stufe institutionalisiert und nicht mit einem Unterwerfungsvertrag identifiziert. Doch warum müssen im Rahmen einer demokratischen Staatsund Herrschaftsform die zwei Schritte der Bildung eines Volks (Stufe 1) und eines gemeinen Wesens (Stufe 2) als Stufen der Zusammensetzung aufgenommen werden? Ist nicht doch, wie der staatsrechtliche Volksbegriff des § 43 verdeutlicht, die zweite bereits in der ersten angelegt? Und ist nicht ferner auch der dritte Schritt des Vorsetzens, also der Herrschaftsetablierung, den ersten beiden eingeschrieben? Offensichtlich ist dies so, offensichtlich hat Kant aber auch drei Stufen der Zusammensetzung unterschieden. Wie ist das zu verstehen? Das innere aufeinander verwiesen-Sein der Stufen macht sie erst zu drei Stufen der Zusammensetzung einer Staatsform; die Frage muss also lauten, was ihre Unterscheidung rechtfertigt. Auch das lässt sich am besten verstehen, wenn man die drei Stufen in Rückgang auf das Postulat des öffentlichen Rechts reflektiert. Denn dann erscheinen sie als notwendig aufeinander bezogene, doch separat zu vollziehende Schritte Staatsrecht-bildender Praxis: Zuerst bedarf es eines gemeinschaftlichen Willens Aller, das Postulat des öffentlichen Rechts überhaupt zusammen vollziehen zu wollen (Schritt 1). Wenn die Menschen dies vereinigt wollen, dann haben sie sich selbst zu einem Volk gebildet, dann haben sie einen dem Postulat gemäßen Willen, dass sie einen rechtlichen Zustand gemeinsam etablieren wollen. Was sie dazu tun müssen, führt sie dann zweitens (nach § 44,1) zur 535 536

Achenwall/Pütter, §§ 653-656. Achenwall/Pütter, § 656 f.

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Notwendigkeit, einen souveränen Willen zu etablieren. Dem muss jedoch (nach § 46,1) wiederum notwendig eine horizontale Willensvereinigung als Staatsbürger vorhergehen. Bevor sie sich also einen Souverän oder einen sie vereinigenden Willen vorsetzen (Schritt 3), müssen sie sich notwendigerweise selbst zu einem gemeinen Wesen vereinigt haben (Schritt 2). Das jedoch heißt nichts anderes, als sich selbst zu diesem vereinigenden Willen zu vereinen. Doch was spricht nun dafür, die demokratische Staatsform auch als repräsentatives System des Volks zu deuten? Richtungsweisend ist zuerst einmal die Rückbesinnung auf eine Parallelstelle in der Religionsschrift. Dort wurde der Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt (auch Republik überhaupt genannt) darauf festgelegt, ein System von Menschen zu sein – und schließlich ging es in § 51 vom ersten Satz an um den „Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt“.537 Der Begriff des Systems, als Begriff von einem Ganzen, musste in der Religionsschrift jedoch im Einklang mit dem Systembegriff der Zeit gedeutet werden, und zwar als Organisation: „Der Ausdruck ‚System‘ stand […] nicht – wie in den meisten seiner heutigen Verwendungen – für etwas fertig Gegebenes und Starres, von außen Aufgezwungenes. Er stand für ein organisches Ganzes“ 538. In diesem Sinn lässt sich aber auch die demokratische Staatsform vorliegender Stelle als komplexes System bezeichnen und interpretieren – und zwar als ein „repräsentatives System des Volks“ (§ 52,3). Vom Begriff der Organisation ausgehend wird erkennbar: Die Stufenfolge der Zusammensetzung der demokratischen Staatsform weist die Grundzüge jenes organisierten und sich dazu zugleich selbst organisierenden Wesens auf, das Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft an zentraler Stelle bestimmte (in § 65). Für dieses war der Begriff der organischen Bildung in seinem Gegensatz zur bloß mechanischen Bewegung kennzeichnend. Entsprechend kann allein von der demokratischen Staatsform gesagt werden, dass „der Staat“ als „civi537

Ausführlicher: Der Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt wird in der Religionsschrift, Viertes Stück, I-III, als Oberbegriff verwendet, der das juridische und ethische Gemeinwesen umfasst. Das gemeine Wesen überhaupt ist dort als Vereinigung zu einem „Ganze[n]“ zu verstehen, welches im Fall des ethischen gemeinen Wesens indes ein „System wohlgesinnter Menschen“ ist, Kursivdruck: M.W. 538 Fulda 2003, 55.

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tas“ – also als die Gesamtheit (das Ganze) der Bürger (vgl. § 43, Satz 3) – „seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält“ (§ 49,4, Kursivdruck: M.W.). Der Ein- oder Vorsetzung des Souveräns gehen nämlich allein hier (zwei) konstitutive Selbstbildungsprozesse voraus. Zu ihnen gehört wie gesagt auch die Bildung des gemeinen Wesens selbst, also die Staatsbildung. Darum kann man sogar so weit gehen und sagen, eigentlich sei nur die Erhaltung des Staats eine Frage der souveränen Gewalt. Die demokratische Staatsform weist nun wie jenes organisierte und sich zugleich selbst organisierende Wesen folgende Grundzüge auf:539 Einerseits verbinden sich die Menschen selbst zu jeweils einer „Einheit eines Ganzen“; andererseits ist genau das aber die Voraussetzung, unter der es „allein möglich“ ist, „daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile [aller Menschen] bestimme“. Im Gegensatz zur Naturreflexion ist die Bestimmung durch die souveräne Gewalt indes eine praktischkausale, also nicht lediglich eine Fiktion der Reflexion. Zugleich ist die Bestimmung wohlgemerkt auch keine, die nach dem Modell eines äußeren Künstlers strukturiert ist. 540 Darauf kommt es hier an: „Künstler-Gewaltsamkeit“, gewaltsames „Formen-schaffen, Formenaufdrücken“541 ist nicht nötig, da der Formierung der Teile durch das Ganze bereits die Selbstformation eben jenes Ganzen durch die Teile vorausgeht. Organische Bildung im Gegensatz zur bloß mechanischen Bewegung, das ist der Schlüssel. Im Gegensatz zum „sich selbst or ganisierende[n] Wesen“542 steht nämlich die Maschine, als Werk eines Künstlers.543 So wird im übernächsten Satz auch vom „Maschinenwerk der Vereinigung des Volks durch Zwangsgesetze“ die Rede sein und in § 52,2 dann vom „Maschinenwesen der Staatsverfassung“. Bloßes Maschinenwerk sind die beiden ersten Staatsformen, eine sich selbst organisierende Körperschaft hingegen nur die demokratische. Nach diesen Vorüberlegungen nun zu den Gründen, weshalb die demokratische Staatsform als „repräsentatives System des Volks“ zu deuten ist: Zuerst einmal ist die demokratische Staatsform 539

KU, § 65,4. Vgl. KU, §§ 63 und 64. 541 Vgl. Nietzsche, ZGdM, II, 17. 542 KU, § 65,6. 543 Vgl. auch Maus 1992, Kap. 9. 540

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ein komplexes System, weil ihre Stufen selbst wieder Systeme sind. So sind die beiden ersten Stufen solche der Selbstformierung der Menschen, und zwar vom Zustand einer bloßen Menge zum Ganzen eines vereinigten Volkes oder gemeinen Wesens. Systeme von Menschen sind diese Stufen gemäß der Genitivkonstruktion auf eine doppelte Weise: Zum einen werden die Menschen hier vom Zustand des Aggregats in den des Systems überführt – der Begriff ‚Aggregat‘ ist der Gegenbegriff zu dem des Systems;544 zum anderen sind die Menschen es aber auch selbst, die sich in diesen Zustand begeben. Da nun das erste System im zweiten einbegriffen ist, bilden bereits die ersten beiden zusammen ein komplexes Gesamtsystem. Und da das zweite schon ein gemeines Wesen ist (ein Staat), weist es durchaus eine gewisse Vollständigkeit auf. Entsprechend besteht der letzte Schritt und die letzte Stufe der demokratischen Staatsform nur noch im Vorsetzen, Vorstellen oder eben der Repräsentation dieses Systems durch sich selbst. In ihm vervollständigt sich das bisher noch zweistufige System der Menschen schließlich zu einem repräsentativen System. Doch auch in dieser dritten Stufe ist der Systembegriff doppelt zu verstehen: als ein System der Fremddarstellung des Volkes (Stufe 3), das jedoch auf einem der Selbstdarstellung desselben basiert (Stufe 2). Was man also mit der demokratischen Staatsform vor sich hat, ist „ein repräsentatives System des Volks“ (§ 52,3). Damit liegt ein textuell und kontextuell fundierter Interpretationsvorschlag für das „repräsentativ[e] System “ in § 52,3 vor. Letztlich geht auch aus dem dreistufigen Bau der demokratischen Staatsform wieder eindeutig hervor, dass § 51 nicht davon zeugt, Kant habe „von Hobbes die Lektion über die Konstitution eines Volkes gelernt“545. Das Modell fingierender Repräsentation ‚von oben‘ würde nämlich jenem ‚Künstlermodell‘ entsprechen,546 nicht aber dem Modell der Selbstorganisation des Volkes, demzufolge die Bestimmung von oben durch die Organisation von unten bedingt ist. Letzteres Modell wird nun aber unverkennbar mit dem Stufenbau der demokratischen Staatsform vorgelegt; ideengeschichtlich basiert es auf Rousseaus und Achenwalls Modell der Bildung einer Körperschaft

544

Vgl. TL, Vorrede, Abs. 1 sowie Fulda 2003, 56. Ludwig 1999, 186. 546 Vgl. KU, §§ 63 und 64. 545

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(universi) durch die sich vereinigenden Einzelnen (omnes et singuli)547 (s. o. (zu § 47, Satz 3)). Doch mehr: Der Stufenbau der demokratischen Staatsform ermöglicht zum einen die Einrichtung von Herrschaft, ohne dass dafür auf Hobbes’ Technik der legislativen Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation zurückgegriffen werden müsste, – was in den übrigen beiden Staatsformen (traditionellerweise) der Fall ist. Zum anderen liegt in ihrer Konstruktion aber auch der Schlüssel, wie das Prinzip der Repräsentation in einer Demokratie grundsätzlich der Volkssouveränität untergeordnet werden kann: Dem Akt der Darstellung des Volkswillens als objektiviertem und letztlich fremdem Herrschaftswillen (Repräsentation als Fremddarstellung) muss der Akt der freiheitlichen Selbstdarstellung dieses Willens seitens der Staatsbürger vorangehen (Repräsentation als Selbstdarstellung). Allein so kann Repräsentation grundsätzlich der Volkssouveränität untergeordnet werden. Könnte hingegen erstere Form der Repräsentation nicht unter letztere subsumiert werden, so würde die herrschaftliche Repräsentation die Selbstorganisationsstrukturen der ersten beiden Stufen auflösen – und mit ihnen das „repräsentativ[e] System des Volks“. Das aber liefe auf jene „Verfälschung“ der demokratischen Staatsform hinaus, von welcher in der Anmerkung zur einschlägigen Stelle die Rede ist. In den Worten des § 52,2: Das „Gesetz“ würde dann wieder an einer „besonderen Person“ hängen, und diese Person wäre als einer von jenen „sich eindringende[n] unbefugte[n] Machthaber[n]“ anzusehen, von denen die Fußnote zum vorliegenden § 51 spricht. Genau dann und darum wäre die „wahre“ und „reine Republik“, die nichts anderes sei und sein könne als „ein repräsentatives System des Volks“, eine falsche, verfälschte und in gewisser Weise auch ‚verunreinigte‘ Republik – womit die Fußnote des § 51 zugleich den Schlüssel zur Deutung der Rede von der reinen und wahren Republik in § 52 vorlegt. Kurz: Mit dem ‚Bauplan‘ der demokratischen Staatsform liegt das Wissen vor, wie eine alternative Praxis staatsbürgerlicher Repräsentation des Volkes in einer Staatsform institutionalisiert werden kann – in drei koordinierten Ebenen der Praxis einer Selbst- und Fremddarstellung (oder -repräsentation) des Volkes. Die wiederum ist die Praxis, in wel547

Vgl. Byrd/Hruschka 2010, 171 f.

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cher die menschliche Freiheitswürde nicht absorbiert und nihiliert wird – in einem innerstaatlichem „Ausland“ –, sondern öffentlich-rechtlich behauptet und affirmiert werden kann – in einem „Vaterland“ gemeinsamer Staatsbürgerschaft. Von diesem Punkt aus kann abschließend auch gesagt werden, warum und inwiefern § 51 ebenfalls unter den Titel der gemeinsamen Überschrift der §§ 50-52 gehört, da nun klar ist, wie in diesem Paragraphen das in der Überschrift genannte Thema bearbeitet wird. § 51 handelt nämlich von der öffentlich-rechtlichen Realisation, zugleich aber auch von der Nicht-Realisation jener verfassungsrechtlichen „Bedingung“, deren Vorliegen oder Nicht-Vorliegen § 50 zufolge entscheidet, ob ein „Land“ für den in ihm einsässigen Bürger entweder ein „Vaterland“ der Volkssouveränität ist oder ein „Ausland“ totaler Entrechtung und Entwürdigung. So ist die demokratische Staatsform die einzig vernunftrechtlich erlaubte und gebotene Form, weil es nur hier „Unterthanen als Staatsbürger “ gibt, womit die „Bedingung“ konstitutionell verbürgter Staatsbürgerschaft realisiert ist und der Staat folglich vonseiten der Bürger rechtlich als „Vaterland“ erkannt wird und anerkannt werden darf; was aber in den übrigen Staatsformen nicht der Fall ist, weil es dort eben keine „Unterthanen als Staatsbürger “ gibt. Das macht die Verfassungen dieser Staaten zu Formen jenes Auslandes. Für die Textsystematik der §§ 50-52 ist schließlich Folgendes sehr wichtig: Einerseits suggeriert § 51 auf der exoterischen Textebene, die Staatskonstitution müsse durch das moderne Prinzip der Repräsentation erfolgen, das den Staat aber notwendigerweise zu jenem „Aus land“ transformiert. Andererseits wird die demokratische Staatsform dann aber so bestimmt, dass sie das Prinzip der Repräsentation derart weiterbestimmt, dass es von einem Konstitutionsprinzip jenes Auslands zu einem Prinzip wird, welches das „Vaterland“ der Volkssouveränität realisiert – in einem „repräsentative[n] System des Volks“. Damit nimmt § 51 die bisher unbeachtet gebliebene Textcharakteristik des § 52 vorweg, derzufolge das offensichtliche (aber bloß scheinbare) „repräsentativ[e] System des Volks“ eben nicht dasjenige einer „wahre[n] Republik“ ist, sondern das einer falschen, wohingegen das wahre System mit der demokratischen Staatsform des vorliegenden § 51 zu identifizieren ist.

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3. Zu § 52

Überblick Der finale § 52 ist in drei Absätze gegliedert, wobei dem dritten ein eingerückter Absatz angefügt ist, der das ‚Staatsrecht‘ beendet. Die exoterische Darstellungsebene des Paragraphen thematisiert nun den Übergang von einer nicht-demokratischen Staatsform zur demokratischen, – wobei eben trügerisch suggeriert wird, der Zielpunkt des Übergangs sei eine moderne repräsentative Demokratie, nicht aber die demokratische Staatsform des vorigen § 51. Der Gedankengang dieser Textebene sei hier zur Übersicht vorweggenommen: Im ersten der drei Absätze wird die Möglichkeit eingefordert, dass sich der Übergang zur demokratischen Staatsverfassung durch den Souverän selbst vollziehen lässt; wie dies geschehen kann, formuliert der zweite Absatz; abschließend verweist der dritte jedoch auf die Möglichkeit eines ganz anders gearteten Übergangs. Die Errichtung einer Republik könne auch automatisch erfolgen, wenn der Herrscher sich in der Ausübung seiner Souveränität repräsentieren lasse; dann falle die Souveränität augenblicklich auf das Volk zurück, das dann der Souverän sei. Abschließend illustriert dies der eingerückte Absatz am historischen Fall der Einberufung der Generalstände durch Louis XVI und die darauf erfolgte Französische Revolution. Nun ist aber der Gedankengang dieser Darstellungsebene erneut nicht der einzige des Paragraphen, weil es auch hier weitere Textebenen gibt, die wieder Teil einer komplexen Text-Rhetorik sind. Um sie zu erschließen, bedarf es einer sehr genauen Interpretation, welche die verschiedenen Ebenen des Textes getrennt auslegt, aber auch aufeinander bezieht.

1. Zu Absatz 1 Der erste Absatz ist durch einen Gedankenstrich in zwei Teile gegliedert, die beide jeweils drei Sätze enthalten. Der Aufbau des Absatzes ist somit symmetrisch. Was die Teile vereint, ist die übergreifende Thematik: die Änderung einer „bestehende[n] Staatsverfassung“ sofern „sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl

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bar ist“ (Satz 4). Getrennt sind die Teile hingegen durch den Blick auf je verschiedene Akteure, die als Agenten dieser Veränderung in Frage kommen, oder auch nicht: Im ersten Teil ist das Volk als Untertan dieser Akteur, im zweiten ist es der Souverän. Letzterer kann wiederum das Volk selbst sein, aber auch ein fremder nicht-demokratischer Herrscher. Genauer: Die übergreifende Thematik ist die Veränderung einer der beiden nicht-demokratischen (autokratischen) Staatsformen zur demokratischen, also der Übergang von der Autokratie (oder Aristokratie) zur Demokratie. Der Absatz rekurriert nämlich, wie zu zeigen ist, auf die Verhältnisse der Staatsformen, die der vorige § 51 bestimmte, und macht deutlich: Bei der Veränderung der Staatsverfassung handelt es sich primär um die Etablierung jener (zwei ersten) Verhältnisse der demokratischen Staatsform, kraft denen Untertanen Staatsbürger sein können, also um die beiden Stufen der Selbstorganisation, die zur elementaren Herrschaftsform (der autokratischen Staatsform) hinzutreten. Folglich ist der Gegenstand des Absatzes wieder das Thema der Realisation der „Bedingung“, die ein „Land“ zum „Vaterland“ macht: die konstitutionell verbürgte Staatsbürgerschaft. Der in Rede stehende „Übergang in die bessere“ Verfassung (Satz 3) ist der vom (innerstaatlichem) „Ausland“ zum „Vaterland“ (der Volkssouveränität). Nun zu den ersten drei Sätzen (Teil 1), denen folgender Gedanke zugrunde liegt: Als Menge von Untertanen kann das Volk besagten Übergang von einer nicht-demokratischen in eine demokratische Staatsform nicht rechtmäßig vollziehen. Denn wenn es aus dieser Rolle heraus gegen einen fremden Souverän agiert, hebt es das Verhältnis von Souverän und Untertan prinzipiell auf – und mit der Über-Unterordnungs-Relation der Souveränität zugleich die elementare (Herrschafts-)Form, die für jede Staatsform konstitutiv ist, folglich auch für die demokratische. Sich rottiren und Meuterei (Satz 3) sind die Stichworte: ‚Sich rottiren‘ hieß, „sich in schädlicher Absicht versammeln oder verbinden“; ‚Meuterei‘ dagegen, „eine unerlaubte Verbindung mehrerer, besonders wider ihre Obern“548. Der Gedanke ist bereits aus dem ersten Abschnitt (A) der Allgemeinen Anmerkung bekannt (A,4 einschl. Fn.): Agiert das Volk in seiner Rolle als Untertan „mit Gewalt“ gegen den Souverän, so macht es 548

Adelung 1798, 1182 sowie 197, Kursivdruck: M.W.

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sich „zum Souverän über den […], dem es unterthänig ist“ und hebt dadurch die Relation Souverän-Untertan auf. Das käme einem „vom Staate an ihm verübte[n] Selbstmord“ gleich. Versuche dieser Art wurden schließlich als „Hochverrath“ gewertet und die Täter als solche identifiziert, die ihr „Vaterland umzubringen “ versuchen, „parricida“ war das Wort. Damit aber ist klar: Derart vorgehende Versuche, das innerstaatliche „Ausland“ zu einem „Vaterland“ zu transformieren, können grundsätzlich nicht das erreichen, was sie wollen. Darum geht es in den ersten drei Sätzen (§ 52,1, Teil 1). Bevor ich mich diesen Sätzen je für sich zuwende, noch eine klärende Vorbemerkung: Der vorliegende § 52 weist mit seinem ersten Satz gleich zu Beginn darauf hin, dass es sich hier um die elementare Form des Über-Unterordnungs-Verhältnisses der Souveränität handelt, wodurch § 52 die Thematik der Staatsformen wieder aufgreift, denen sich der vorige § 51 widmete. Denn die Rede ist von der „Geschichtsurkunde dieses Mechanismus“ (Kursivdruck: M.W.), wobei das Demonstrativpronomen direkt auf den Schlüsselsatz des vorigen § 51 zurückverweist (Satz 8). Dort wurde das „Maschinenwerk der Vereinigung des Volks durch Zwangsgesetze“ (Kursivdruck: M.W.) mit der elementaren (Herrschafts-)Form aller drei Staatsformen enggeführt, welche wiederum die Form der „einfachste[n]“ der drei Staatsformen ist, nämlich der autokratischen (Satz 5). Die (wie auch die aristokratische) ist jedoch als Staatsform oder Staatsverfassung „mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar“ (§ 52,1, Satz 4, Kursivdruck: M.W.) – „Unterthanen als Staatsbürger “ gibt es nur in der demokratischen Staatsform, so der Schlüsselsatz (des § 51). Der „ursprüngliche Contract “ impliziert nach § 47 nämlich den Akt der Etablierung eines doppelten Verhältnisses (der Volkssouveränität). Das ist zum einen die Errichtung des Herrschaftsverhältnisses und die Positionierung des Volkes an die untere Stelle desselben (als Untertan); zum anderen die Erhebung des Volkes an die Stelle des Souveräns, also die Transformation des Herrschaftsverhältnisses in ein Selbstverhältnis (des Volkes zu sich selbst). Wenn nun aber das erste Verhältnis ‚abgeschafft‘ wird, dann handelt es sich deshalb um den „Umsturz aller bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse“ (Satz 3), weil „diejenige Form“ nicht „bestehen“ bleibt, „die dazu, daß das Volk einen Staat ausmache, wesentlich gehöret“ (Satz 4, Kursivdruck: M.W.). Das zweite Verhältnis (der Volkssouveränität) setzt

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das erste voraus – so auch die Logik der Zusammensetzung der demokratischen Staatsform (s. o. (Zu § 51, Sätze 5 und 6)). Jetzt zu den ersten drei Sätzen im Einzelnen, die allerdings in ihrer Reihenfolge einen Dreischritt vollziehen, der wohlgemerkt zirkulär ist. (Zu Satz 1:) Der „Geschichtsurkunde dieses Mechanismus nachzuspüren“ – die erste Ursache des staatlichen Herrschaftsverhältnisses aufdecken zu wollen – sei „vergeblich“. Das ist doppeldeutig. Denn „vergeblich“ heißt einerseits juristisch zu vergeben oder zu verzeihen, also nicht sträflich, andererseits aber auch zwecklos und müßig.549 (Zu Satz 2:) Eine derartige theoretische „Nachforschung“ jedoch in praktischer Absicht anzustellen, in der Absicht nämlich, „die jetzt bestehende Verfassung mit Gewalt abzuändern“, das eben sei „sträflich“. Als vergeblich im Sinn von juristisch zu vergeben, also als nicht sträflich, kann dies folglich nicht mehr gedeutet werden. Schließlich war solch ein Akt als Vater(lands)mord („parricida“) zu werten und mit dem Tod zu bestrafen (Allg. Anm., A,4). Hierdurch bewirke das Volk nämlich einen „Umsturz aller bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse, mithin alle[n] Rechts“, so nun der dritte Satz vorliegender Stelle. Das aber ist vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts die Katastrophe, die es von Anfang an abzuwenden und entsprechend auch juristisch zu werten gilt (vgl. § 42,3). Doch dabei bleibt es nicht. (Zu Satz 3:) Abschließend heißt es zwar, besagte Aktion sei „nicht Veränderung der bürgerlichen Verfassung, sondern Auflösung derselben“. Doch das bedeutet nicht, dass von hier aus der intendierte Übergang in die demokratische Staatsform unmöglich sei. Er ist nur aufwendiger: „d. i. nicht Veränderung der bürgerlichen Verfassung, sondern Auflösung derselben, und dann der Übergang in die bessere, nicht Metamorphose, sondern Palingenesie, welche einen neuen gesellschaftlichen Vertrag erfordert, auf den der vorige (nun aufgehobene) keinen Einfluß hat“ (Kursivdruck: M.W.).

Demnach stehen zwei Übergangsmodi nebeneinander: Metamorphose und Palingenesie. Zufolge ersterem Modus (Metamorphose) – als quasinatürlicher, organischer Entwicklung und Formveränderung – transformiert man das bestehende Verhältnis der Souveränität, indem 549

Vgl. Adelung 1801, 104.

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man der nicht-demokratischen Verfassung zwei Stufen der Selbstorganisation des Volkes hinzusetzt, wie es der ‚Bauplan‘ der Zusammensetzung der demokratischen Staatsform in § 51 vorsieht. Doch letzterem Übergangsmodus (Palingenesie) zufolge müsse man ex nihilo alles neu zusammenzusetzen; so heißt Palingenesie sowohl Wiedergeburt als auch Auferstehung des Toten. Ist aber solch ein Übergang in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts zumindest möglich, so ist die kritisierte Aktionsform letztlich doch in dem Sinn „vergeblich“, dass sie juristisch zu vergeben ist (was indes noch lange nicht heißt, sie sei a priori rechtmäßig). Vom Standpunkt der neu errichteten Volkssouveränität ist sie nicht sträflich; sträflich hingegen nur vom Standpunkt des alten, aber nun eben aufgelösten Systems (auch diese Figur ist aus Abschnitt A der Allgemeinen Anmerkung bekannt, A,6). Doch das alte System hat „keinen Einfluß“ mehr. So gesehen ist die dreischrittige Bewegung der ersten drei Sätze zirkulär.550 (Zu den Sätzen 4-6:) Der Gedankenstrich, der die ersten drei Sätze (§ 52,1, Teil 1) von den letzten dreien (Teil 2) trennt, signalisiert eine Wendung: Während die ersten Sätze eine Verfassungsänderung vonseiten der Untertanen thematisierten, die „nicht durch die Gesetzgebung“ geschehe, machen die letzten drei Sätze nun solch eine Transformation vonseiten des Souveräns (und Gesetzgebers) zum Gegenstand. Zuerst einmal wird jedoch (in Satz 4) nur die Möglichkeit einer 550

Hinzuweisen ist allerdings noch darauf, dass der Übergangsmodus der Palingenesie als solcher bestimmt wird, der „einen neuen gesellschaftlichen Vertrag erfordert“, da „der vorige“ nun aufgehoben sei. Damit ist in § 52,1 nicht nur von der „Idee des ursprünglichen Vertrags“ die Rede, sondern auch von der Notwendigkeit, in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts faktisch einen Vertragsakt zu vollziehen, um das grundlegende Herrschaftsverhältnis zu etablieren. Zwar könne und solle man sich das sparen, weil man den einfacheren Weg der „Metamorphose“ gehen kann. Trotzdem ist aber zu beachten: Am vorliegenden Punkt ist zum einen nicht mehr nur (wie in § 47) von einem „Con tract “ oder (wie in Allg. Anm., E, I,7) von einem „Socialcontract“ die Rede, sondern erstmals im ‚Staatsrecht‘ von einem „Vertrag“. Zum anderen ist eine faktische Vertragspraxis eingefordert, – die man sich je doch ersparen könne. Wie beides indes zu verstehen ist, bleibt offen, muss an vorliegender Stelle aber auch nicht weiter diskutiert werden.

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derartigen Verfassungsänderung eingefordert, infolge derer die grundlegende Herrschaftsform bestehen bleibe: „Es muß aber dem Souverän doch möglich sein, die bestehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist, und hiebei doch diejenige Form bestehen zu lassen, die dazu, daß das Volk einen Staat ausmache, wesentlich gehöret“. (Satz 4)

Zudem legen die beiden abschließenden Sätze (5 und 6) nur negativ dar, wie solch eine Verfassungsänderung rechtlich nicht vonstatten gehen dürfe – weil der Souverän durch die in Rede stehende Praktik dem Volk wieder „unrecht thun können“ würde. Wie sie hingegen positiv erfolgen kann, beginnt erst der folgende Absatz (§ 52,2) auszuführen. Im vierten Satz ist vom Souverän zuerst einmal nur unbestimmt die Rede: „Es muß aber dem Souverän doch möglich sein, die bestehende Staatsverfassung zu ändern“ (Kursivdruck: M.W.). Dadurch wird offen gelassen, ob das Volk selbst dieser Souverän ist, oder ein Autokrator oder aber eine Gruppe (Aristokraten) – mit § 52,3: In Rede steht „ein Staatsoberhaupt […] (es mag sein König, Adelsstand, oder die ganze Volkszahl, der democratische Verein)“. Doch weil die ersten drei Sätze vom Volk als Agent der Verfassungsänderung sprachen, scheint zuerst einmal (a) vom Volk als ursprünglichem Souverän („dem Souverän“, Kursivdruck: M.W.) die Rede zu sein. Erinnert wird damit an das (rhetorisch kaschiert präsentierte) ‚Lehrstück‘ der Allgemeinen Anmerkung (A,1), demzufolge das Volk es nicht nötig habe, als Untertan gegen einen fremden Souverän Widerstand zu leisten, da es sich als ursprünglicher Souverän jederzeit selbst zum faktischen Herrscher erheben könne (s. o. (zur Allg. Anm., Kap. 2.1), – und im Zuge dessen hat es dann auch die Chance, seine Souveränität in einer demokratischen Staatsform zu institutionalisieren. Doch gegenläufig dazu problematisieren die beiden folgenden Sätze den Fall eines Übergangs, der (b) von einem nicht-demokratischen Souverän ausgeht. Beide Agenda zusammen (a und b) ergeben zwei separate Übergangsmodi: einmal denjenigen vonseiten des Volks als ursprünglichem Souverän (a) und einmal jenen vonseiten eines nicht-demokratischen Herrschers (b). Allerdings scheint es so, als würde der fünfte Satz grundsätzlich

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die Unmöglichkeit der zuvor geforderten Verfassungsänderung statuieren: „Diese Veränderung kann nun nicht darin bestehen, daß der Staat sich von einer dieser drei Formen zu einer der beiden anderen selbst constituirt, z. B. daß die Aristocraten einig werden, sich einer Autocratie zu unterwerfen, oder in eine Democratie verschmelzen zu wollen, und so umgekehrt; gleich als ob es auf der freien Wahl und dem Belieben des Souveräns beruhe, welcher Verfassung er das Volk unterwerfen wolle“ (Satz 5, Kursivdruck: M.W.).

Scheinbar kann der Souverän die Staatsform also nicht qua Souveränitätsakt ändern. Die im vierten Satz etablierte Offenheit, aber auch die Ausführungen im letzten Satz, verlangen indes eine zweistufige Lektüre. Denn dass es nicht der freien Wahl und dem Belieben des Souveräns freistehe, „welcher Verfassung er das Volk unterwerfen wolle“, wird im letzten Satz dadurch begründet: Der Souverän könne (auch) durch eine Verfassungsänderung „dem Volk unrecht thun“, weil es die von ihm gewählte Verfassung nicht wolle, ja verabscheue, und eine andere präferiere. Auf diese Weise wird auch in puncto Staatsformwechsel das Prinzip der Volkssouveränität (des § 46,1) geltend gemacht, welches die kategorische Achtung des tatsächlichen Willens des Volkes fordert (wie bereits in § 46,2, eA). Während im letzten (sechsten) Satz jedoch eindeutig von einem fremden Souverän die Rede ist (dazu später), lassen es die beiden vorletzten Sätze (der vierte und fünfte Satz) wie gesagt offen, ob das Volk selbst der Souverän ist oder ein fremder Herrscher. Ist nun aber das Volk der Souverän – der ursprüngliche, aber noch nicht qua Staatsform institutionalisierte –, kann der Souverän eben doch einen Staatsformwechsel in freier Wahl und nach Belieben vollziehen, ganz grundsätzlich. Denn vom letzten (sechsten) Satz aus gesehen, fällt in diesem Fall das Belieben und die Wahl des Souveräns mit demjenigen des Volkes zusammen: volenti non fit iniuria. Ebenso sieht es aber auch aus, wenn man die Perspektive eines fremden Herrschers einnimmt und dabei annimmt, das Volk sei nicht der Souverän. Dann gilt es zwar, dass es nicht auf dem Belieben des (fremden) Souveräns beruht, „welcher Verfassung er das Volk unterwerfen wolle“. Aber weil er den Willen des Volkes in dieser Frage

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tegorisch zu achten habe, ist er auch hier nicht der tatsächliche Souverän, genauso wenig wie im vorigen Fall. Folglich ist das Volk in beiden Fällen der Souverän. Genauer gesagt, es ist der ursprüngliche Souverän, nach dessen freier Wahl und Belieben der durch die Staatsform institutionalisierte (Stellvertreter-)Souverän sich unbedingt zu richten hat. Davon zeugt schließlich der letzte Satz, wenn dort der äußerste Fall herangezogen wird, der autokratische oder aristokratische Souverän habe sich für einen Staatsformwechsel hin zur Demokratie entschlossen, müsse dies aber unterlassen, weil das Volk de facto anders wolle: „Denn selbst dann, wenn er sich zu einer Democratie umzuändern beschlösse, würde er doch dem Volk unrecht thun können, weil es selbst diese Verfassung verabscheuen könnte, und eine der zwei übrigen für sich zuträglicher fände“ (Kursivdruck: M.W.).

Selbst wenn also ein fremder Souverän de facto der Herrscher ist, hat er sich – ganz nach Sieyes – an den verfassungsgebenden Willen des Volkes zu halten, welcher der eigentlich souveräne Wille im Staat ist. Dem eben zitierten letzten Satz zufolge kann sich das Volk als ursprünglicher Souverän aber auch durchaus „von einer dieser drei Formen zu einer der beiden anderen selbst constituier[en]“. Doch das heißt wiederum nicht, die in Rede stehende Veränderung der Staatsverfassung sei allein der freien Wahl und dem Belieben des Volkes überlassen. Vom Standpunkt der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts aus ist nämlich lediglich ein Staatsformwechsel geboten, und zwar derjenige von der nicht-demokratischen zur demokratischen Staatsform. Das besagt die Parenthese des vierten Satzes: „Es muß aber dem Souverän doch möglich sein, die bestehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist“; lediglich wenn ein Land aufgrund seiner freiheitswidrigen Staatsform kein „Vaterland“ ist, sondern ein (innerstaatliches) „Ausland“, gilt es, die Staatsform dahingehend zu ändern, dass das „Ausland“ zum „Vaterland“ wird (Kursivdruck: M.W.). Mit Blick auf das „rechtlich[e] Verhältni[s] des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“ (vgl. die gemeinsame Überschrift der §§ 50-52) ist aber auch klar: Wenn das Volk die „Democratie“ als die einzige Staatsform verabscheut, in welcher Menschen nicht nur

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nen, sondern auch Staatsbürger sein können, verabscheut es eben das „Vaterland“ der Volkssouveränität; und wenn es „eine der zwei übrigen [Verfassungen] für sich zuträglicher“ findet, so präferiert es das innerstaatliche „Ausland“. Kurz, es will das „Ausland“ und „Elend“ völliger Entrechtung und Entwürdigung (s. o. (zu den § 50 und 51)).551 Auf den ersten Blick scheint die Wahl des Extremfalls allerdings nur rhetorisch-argumentativ motiviert zu sein. Kraft ihm soll die staatsrechtliche Position begründet werden, der Souverän dürfe dem Volk nicht nach Belieben eine Verfassung ‚überstülpen‘. Auf diese Weise kräftigt das ‚Staatsrecht‘ in einem weiteren Schritt das Recht des Volkes gegen die Gewalt fremder Souveräne. Systematisch gesehen ist die Wahl des Falls aber auch noch in einer anderen Hinsicht motiviert. Denn indem der Absatz mit diesem Extremfall schließt, kommt in seinen beiden Teilen eine Steigerung zur Darstellung: Der erste Teil (Sätze 1-3) rekapituliert jene Problematik des ersten Abschnittes (A) der Allgemeinen Anmerkung, dass das Volk das „Vaterland“ umzubringen beabsichtigt, nun freilich um es neu zu errichten; der zweite Teil hingegen (Sätze 4-6) endet mit dem fundamentaleren Willen gegen das „Vaterland“, nämlich jenem extrem freiheitswidrigen Willen zum „Ausland“ und „Elend“. Auch und vor allem vom Postulat des öffentlichen Rechts aus betrachtet ist der Unterschied einer ums Ganze: Erstere Aktionsform lässt sich unter Voraussetzung eines Willens denken, das Postulat des öffentlichen Rechts und die in ihm enthaltenen elementaren Rechtspflichten zu befolgen, allem voran das honeste vive als Pflicht der Behauptung der Freiheit und Würde; letzteres Begehren und Verabscheuen hingegen nicht mehr. Es richtet sich sogar offensiv gegen das Postulat und die in ihm enthaltenen Pflichten. 551

Mit dem Verabscheuen der Demokratie ist allerdings mehr gesagt als ein bloßes Nicht-Wollen dieser Staatsform. Denn: Begehren und Verabscheuen sind zwar als Akte des menschlichen „Begehrungsvermögen[s] nach Begriffen“ als Willens-Vermögen („nac h Be lieb e n zu t hun ode r zu lasse n “) sicher auch Willensakte, vgl. EMdS, I,6. Doch das Wort „Abscheu“ bezeichnet nach dem damaligen common-sense auch den „höchste[n] Grad der Abneigung der Empfindungen von einem Gegenstande“, Adelung 1793, 90. Das aber ist mehr als ein bloßes NichtWollen. Vielmehr ist an Ekel zu denken, – Ekel vor der Staatsform der Freiheit und Menschenwürde.

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Der erste Absatz insgesamt greift mit diesem Extremfall wieder die Problemperspektive auf, mit welcher der erste Paragraphenblock mit § 49,4 schloss. Dies war die fundamental freiheits- und rechtswidrige Einstellung, derzufolge die Staatsbürger ihre Freiheit und Würde einem anderen Gesichtspunkt (ihrem „Wohl“ und ihrer „Glückseligkeit“) unterordnen. Es war geradezu zu erwarten, dass von diesem Gesichtspunkt aus der Zustand unter einer despotischen Regierung, in welcher „Bürger als Kinder“ behandelt werden (vgl. § 49,1), womöglich „viel behaglicher und erwünschter“ gewertet wird als ein Staat eigenverantwortlich ausgeübter Volkssouveränität (Stichwort: Zuträglichkeit). Salus populi und salus reipublicae waren nicht a priori gleichzusetzten. Indem das Ende des ersten Absatzes diese Problemperspektive wieder einführt, bestimmt der Absatz zugleich die eigentliche Problematik, mit der das ‚Staatsrecht‘ in den folgenden Absätzen endet. In Abgrenzung zur Referenzstelle wird sie an vorliegender Stelle jedoch in einer neuen Konstellation kontextualisiert: Der Souverän der nichtdemokratischen Staatsform ist es hier, der die demokratische Staatsform verwirklichen will, also die einzige Verfassung, welche den Willen der Menschen qua institutionalisiertem Strukturprinzip achtet; doch der Souverän muss genau dies um des Prinzips der Achtung besagten Willens unterlassen, – weil das Volk seinen tatsächlichen Willen nicht geachtet wissen will. Dass diese Konstellation nun aber in einem argumentativen Kontext eingeführt wird, in dem das Recht des Volks gegen den nicht-demokratischen Souverän behauptet wird, ist für die wieder zweistufige Rhetorik vorliegender Stelle charakteristisch, ferner aber auch für die Rhetorik der folgenden letzten Absätze des ‚Staatsrechts‘. Denn von Begriff her ist der nicht-demokratische Herrscher (der Autokrator oder die Aristokraten) als Souverän der Staatsform des Auslands und Elends bestimmt. Dadurch fungiert er als Agent der Entrechtung und Entwürdigung des Volkes, wogegen das Volksrecht geltend zu machen ist. So wird schließlich auch im letzten Absatz sowie im daran angeknüpften eingerückten Absatz das Recht des revolutionären (französischen) Volkes gegen die „absolute Willkühr“ der alten Herrscher verteidigt. In dieser Relation ist das Volk in gewisser Weise auf der ‚guten‘ Seite positioniert und entsprechend steht die Volksherrschaft der demokratischen Staatsform von Begriff her für das „Vaterland“ öffentlich-rechtlich behaupteter Freiheit und Würde. Dies ist

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die oberflächlich sichtbare Textebene, die bereits durch die verwendete Begrifflichkeit ins Werk gesetzt ist. Allerdings wird diese Konfliktlinie mit der neu eingeführten Konstellation umgekehrt. Nun ist es der Souverän der freiheitsverneinenden Staatsform (des Auslandes), der die freiheitsbejahende Staatsform (eines Vaterlandes) verwirklichen will; doch das Volk wiederum will dies aufgrund seines freiheitsverneinenden Willens nicht; und danach habe sich der nun freiheitsbejahend eingestellte ‚alte‘ Souverän zu richten. Das ist die traurige Aufklärung vorliegender Stelle.552

2. Zu Absatz 2 Der zweite Absatz besteht aus drei Sätzen, wobei die ersten beiden vom letzten durch einen Gedankenstrich voneinander getrennt sind (Sätze 1 und 2 – Satz 3). Damit führt der vorliegende Absatz zum einen die Darstellung von Gedankengängen in Triaden fort, zum anderen wird aber auch im gesamten Absatz wieder nur ein Gedankenstrich verwendet um eine thematische Gliederung ersichtlich zu machen. So enthielt der vorige Absatz sechs Sätze, die durch einen Gedankenstrich in zwei thematische Teile gegliedert wurden. Und an den auf diese Weise organisierten Gedankengang knüpft der vorliegende zweite Absatz auch inhaltlich an: In den ersten beiden Sätzen (Sätze 1 und 2, = Teil 1) wird dargelegt, wie der im letzten Teil des vorigen Absatzes in seiner Möglichkeit geforderte Übergang zur demokratischen Staatsform vonseiten des Souveräns (§ 52,1, Satz 4) erfolgen kann – nun allerdings unter der Voraussetzung, dass dieser Übergang „nicht auf einmal geschehen kann“ (§ 52,2, Satz 2), weil das Volk die (Staatsform der) „Democratie“ jetzt auch tatsächlich verabscheut „und eine der zwei übrigen für sich zuträglicher“ findet (§ 52,1, Satz 6). Nach der Zäsur des Gedankenstriches wird dann im letzten Satz (Satz 3, = Teil 2) der zu erreichende Zielpunkt des Übergangs in drei durch zwei Semikola abgetrennten Schritten auf seinen normativen Status hin reflektiert. Das aber geschieht im zweiten Satz auch bereits mit der Rede von der „Verbindlichkeit“, die demokratische Verfassung (die „Verfassung 552

Vgl. mit der Übergangslehre der eingerückten Absätze des § 46 (Kap. 2.2).

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[…] einer reinen Republik“) auch „dem Buchstaben nach“ zu verwirklichen. Hierbei ist der Begriff „Verbindlichkeit“ nach den Vorbegriffen zu deuten, und zwar als „die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft“ (EMdS, IV, AB 20, Kursivdruck: M.W.). Durch einen kategorischen Imperativ ist die Verwirklichung der demokratischen Staatsform geboten. Entsprechend heißt es im letzten Satz dann, die nunmehr (kraft erfolgreichem Übergang) erreichte „Verfassung“ sei zum einen „die einzige bleibende Staatsverfassung“ (1.), zum anderen „der letzte Zweck alles öffentlichen Rechts, der Zustand, in welchem allein jedem das Seine peremtorisch zugetheilt werden kann“ (2.). Doch „so lange“ das Ziel dieses Übergangs nicht erreicht sei und das Volk darum nicht über sich selbst dem Buchstaben nach herrsche, sondern lediglich fremde Personen dies tun, könne (3.) der bürgerlichen Gesellschaft „nur ein provisorisches inneres Recht, und kein absolut-rechtlicher Zustand, […] zugestanden werden“ – die in Rede stehende „Verfassung […] einer reinen Republik“ wurde schließlich im vorigen ersten Satz bereits als „einzig rechtmäßig[e]“ bestimmt. Auf diese Weise wird die gebotene Übergangshandlung auf den vom Postulat des öffentlichen Rechts gebotenen Übergang bezogen, in einen rechtlichen Zustand überzutreten, in dem „allein jeder seines Rechts theilhaftig werden“ kann (vgl. § 42,1 und § 41,1) und der von Begriff her ein „absolut-rechtlicher Zustand“ ist (Kursivdruck: M.W.). Die Beziehung beider Übergänge – zur demokratischen Staatsform einerseits, sowie in einen rechtlichen Zustand andererseits – ist wie folgt zu verstehen: Nur im Rahmen der demokratischen Staatsform kann der durch das Postulat des öffentliche Rechts gebotene Übergang in einen rechtlichen Zustand vollzogen werden und deshalb hat der Übergang zu dieser Staatsform oberste Priorität. Darum ist diese Verfassung aus der genuin praktischen Perspektive der Adressaten des Postulats (1.) (geschichtsphilosophisch) als „die einzige bleibende Staatsverfassung“ zu betrachten – sie ist die „einzig rechtmäßig[e]“. Zum anderen handelt es sich im Projekt öffentlichen Rechts aufgrund der dargelegten Zweckbeziehung aber nicht nur um einen beliebigen Zweck, sondern (2.) um den „lezte[n] Zweck alles öffentlichen Rechts“. Das ganze Gebäude des öffentlichen Rechts, also letztlich auch das Völker- und Weltbürgerrecht, muss auf den Zweck des gebotenen Übergangs ausgerichtet werden: den Übergang zur demokratischen Staatsform. Denn nur in einer „

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tie“ könne der durch das Postulat des öffentlichen Rechts gebotene Rechtszweck erreicht werden. Das gegen Ende des ersten Paragraphenblocks vorgetragene salus reipublicae suprema lex est behält also auch mit Blick auf das Gesamtsystem des öffentlichen Rechts seine Gültigkeit.

2.1 Lektüre der exoterischen Darstellungsebene Der zweite Absatz motiviert jedoch offenkundig auch dazu, ihn weiter im Einklang mit der ab dem § 51 ins Werk gesetzten Scheinebene zu lesen. Für die Deutung dieser Ebene sind wieder die Interpretationen Ludwigs und Kerstings als maßgebliche Referenzen heranzuziehen (s. o. (zu § 51, Einleitung)). So scheint der erste Satz die von Ludwig gedeutete Extremposition darzulegen: „Die Staatsformen sind nur der Buchstab e (littera) der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande, und sie mögen also bleiben, so lange sie, als zum Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend, durch alte und lange Gewohnheit (also nur subjectiv) für nothwendig gehalten werden“ (Satz 1).

Doch sobald die Staatsformen nicht mehr „für nothwendig gehalten werden“, könne man auf alle drei gleichermaßen verzichten – so scheint es, liest man den zweiten Satz isoliert für sich. Ludwig deutet das wie gesagt so:553 Auf die drei Staatsformen komme es (dem Buchstaben nach) bei der Verwirklichung der respublica noumenon nicht mehr an, da diese lediglich empirische Formen der Knechtschaft seien (da „zum Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend“); auf sie, samt allen übrigen Form- und Buchstabenaspekten (wie die Gewaltenteilung und faktische Bürgerbeteiligung) könne in der respublica phaenomenon verzichtet werden; lediglich der ‚von oben‘ zu repräsentierende Geist des idealen Volkswillens sei von Belang, nicht mehr aber der tatsächliche Volkswille. Nicht länger in Rede stehend sei darum der Übergang zur demokratischen Staatsform des § 51, aber auch zur unmittelbar zuvor erwähnten „Democratie“ als Form institutionalisierter Volkssouveränität (§ 52,1, Satz 6).

553

Ludwig 1999, 173-187, 191.

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Dass die als Zielpunkt des Übergangs gesetzte „Verfassung […] einer reinen Republik“ im zweiten Satz nun nicht mehr mit der demokratischen Staatsform des § 51 zu identifizieren ist, besagt auch die Interpretation von Kersting:554 Zwar sieht Kersting, dass auch die „Verfassung […] einer reinen Republik“ dem zweiten Satz zufolge „dem Buchstaben nach“ endlich wirklich zu werden habe. Doch er identifiziert diese Verfassung nicht mehr mit der noch unmittelbar zuvor erwähnten „Democratie“ (§ 52,1, Satz 6), also der demokratischen Staatsform des § 51;555 sie sei jenes „repräsentativ[e] System des Volks“, von dem der nächste Absatz (§ 52,3) spricht. Zum einen müsse man jedoch unter diesem System eine parlamentarisch-repräsentative Demokratie nach französischem Vorbild verstehen, zum anderen kennzeichne es sich durch die Repräsentation nicht des tatsächlichen, sondern des idealen Volkswillens, der idealen volonté générale. Auf den Buchstaben der „Democratie“ (des ersten Paragraphenblocks) kommt es also auch bei Kersting nicht an. An diesem Punkt treffen sich die Interpretationen Ludwigs und Kerstings. Trotz meiner abweichenden Interpretation ist diese Lektüre wiederum nicht als pure Fehllektüre zu werten, weil durch sie erneut eine Bedeutungsebene entfaltet wird, die der Text stark suggeriert. Im folgenden Absatz heißt es ja gleich zu Anfang tatsächlich: „Alle wahre Republik“ sei ein „repräsentatives System des Volks“ – und das lässt unweigerlich an die französische Republik denken, an das „système représentatif“ von Sieyes. Wie bereits dargelegt (zu § 51, Kap. 3.2) gibt es jedoch guten Grund, die im vorliegenden § 52 thematisierte Verfassung mit der demokratischen Staatsform des § 51 zu identifizieren – als wahre und reine Republik einerseits, sowie als „repräsentatives System des Volks“ andererseits. Allerdings spricht dafür auch der vorliegende zweite Absatz, was ich nun in einer alternativen und zugleich textnahen Lektüre darlegen werde.

2.2 Gegenlektüre (Zu Satz 1:) Der erste der drei Sätze des zweiten Absatzes von § 52 lässt sich alternativ deuten, wenn man die zwei Aussagen, die dort 554 555

Kersting 1984, 336 f., 343 f., 348-353. Vgl. für eine Identifikation beider auch Hanisch 2016, 70 ff.

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über die Staatsformen getroffen werden, in ihrer Anknüpfung an den letzten Teil des vorigen Absatzes liest (§ 52,1, Sätze 4-6). Dass dem ersten Satz zufolge die „Staatsformen […] nur der Buchstabe (littera) der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande“ sind (Aussage 1), muss nämlich nicht notwendig als Ausdruck der Entwertung des Buchstabens gegenüber dem „Geist jenes ursprünglichen Vertrages“ verstanden werden, von dem erst der zweite Satz spricht. Immerhin ist von „Buchstabe (littera) der ursprünglichen Gesetzgebung“ die Rede, worauf der zweite Satz dann lediglich rekurriert (Kursivdruck: M.W.). Denn als Ausdruck dieser ursprünglichen Gesetzgebung sind die Staatsformen (als Buchstaben) eindeutig mehr als bloß zufällige Formen der Knechtschaft. Man beachte zudem: Laut dem vorigen Absatz soll das Volk in puncto Staatsform immer der ursprüngliche Souverän sein; dessen verfassungsgebender Wille habe der durch die Staatsform institutionalisierte Souverän immer zu achten. Aber das heißt nichts mehr als: „Die Staatsformen sind nur der Buchstabe (littera) der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande“ (Kursivdruck: M.W.) – die Staatsformen sind nichts weiter als die jeweilige Ausdrucksform des ursprünglich souveränen Volkswillens. Einerseits können die Staatsformen darum jederzeit durch einen Akt der souveränen Volksgesetzgebung abgeändert werden, andererseits kann das Volk dies aufgrund ebendieser Souveränität aber auch auf unbestimmte Zeit unterlassen. Das ist der doppelte Sinn der ersten Aussage – und des die Staatsformen nur scheinbar entwertenden Wortes „nur“: die Staatsformen sind eben nichts weiter als (= „nur“) die jeweilige Ausdrucksform des ursprünglich souveränen Volkswillens. So lässt sich aus der ersten Aussage zudem die zweite und als Konklusion präsentierte Aussage folgern, obwohl sie ebenfalls auf den vorigen Absatz bezogen werden kann und muss. Sie besagt: „Die Staatsformen […] mögen also bleiben, so lange sie, als zum Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend, durch alte und lange Gewohnheit (also nur subjectiv) für nothwendig gehalten werden“ (Satz 1, zweite Hälfte).

Denn: Auch die Affirmation der bestehenden Staatsformen kann und muss als Ausdruck der ursprünglichen Gesetzgebung des Volkes in

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Verfassungsfragen angesehen werden (als Ausdruck seiner pouvoir constituant); wenn die Staatsformen „durch alte und lange Gewohnheit (also nur subjectiv) für nothwendig gehalten werden“, so ist auch dies ein Akt ursprünglicher Volkssouveränität. In Hinblick hierauf ist zudem klar, warum in vorliegendem Satz von den Staatsformen die Rede ist, und nicht nur wie im vorigen Absatz von den „zwei übrigen“ (nicht-demokratischen). Die Rede ist hier nämlich von den Staatsformen, wie sie historisch bestehen („jene alte empirische (statutarische) Formen“, Satz 2), – was indes dazu einlädt, auch die Staatsform der Demokratie nur als vergängliche Form anzusehen.556 Mit Blick auf den letzten Satz des vorigen Absatzes ist es aber recht deutlich, dass sich das subjektive Fürnotwendighalten „durch alte und lange Gewohnheit“ genau gegen diese „Democratie“ richtet. Denn die in Rede stehende Disposition ist die dort erwogene, das Volk verabscheue „diese Verfassung“ und finde „eine der beiden übrigen“ für sich zuträglicher (s. o. (zu § 52,1, Satz 6)). Dass die Staatsformen unter der Voraussetzung solch eines Volkswillens bleiben mögen, ist zuerst einmal nur als Rekapitulation der Mahnung des vorigen Absatzes zu lesen: Der ursprünglich souveräne Volkswille sei auch dann noch zu achten, wenn er sich selbst nicht achtet, indem er die Staatsform der Freiheit verabscheut und eine freiheitswidrige Staatsverfassung für sich zuträglicher findet. Allerdings weist die zweite Aussage auch in Form einer Parenthese darauf hin, dass die (nicht-demokratischen) Staatsformen bleiben mögen, sofern sie „als zum Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend“ sind. Mit Blick auf den Gedankengang des vorigen Absatzes ist diesbezüglich jedoch klar: Hiermit soll keineswegs gesagt werden, die Staatsverfassungen seien als solche allesamt Formen der Knechtschaft557. Denn genau gegen diese Ansicht argumentierte der vorige Absatz: Das grundlegende Über-Unterordnungsverhältnis der Souveränität und ihr Mechanismus der Willensbestimmung gelte es nicht zu vernichten, sondern „bestehen zu lassen“ – als die „Form […], die dazu, daß das Volk einen Staat ausmache, wesentlich gehöret“. Mag das Volk also die demokratische Staatsform verabscheuen und eine der „beiden übrigen“ vorziehen, so ist es doch zumindest grundsätzlich möglich, von diesem Punkt aus einen Übergang hin zur 556 557

Vgl. z. B. neuerdings Breitenband 2019, 60. Vgl. Kersting 1984, 337 f.

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demokratischen zu vollziehen. Denn der Elementarstufe des Herrschaftsverhältnisses können dem Bauplan der demokratischen Staatsform zufolge (s. o. (zu § 51, Kap. 3.2)) ohne weitere staatstechnische Umstände zwei Stufen der Selbstorganisation und -repräsentation des Volkes vorgeschaltet werden. Und die Möglichkeit dieses Übergangs forderte wohlgemerkt der zweite Teil des vorigen Absatzes ein. Doch wie dies möglich sein kann, auch wenn das Volk die Staatsform der „Democratie“ einerseits nicht will und dieses NichtWollen andererseits kategorisch zu achten ist, darauf kommt nun der (schwierige) zweite Satz zu sprechen. (Zu Satz 2:) Die Antwort auf die Frage nach dem Wie des Übergangs lautet in aller Kürze: Die (nicht näher bestimmte) „Regierungsart“ soll der Idee des ursprünglichen Vertrags angemessen gemacht werden. Auf diese Weise könne der Übergang zur einzig rechtmäßigen Staatsverfassung „auch dem Buchstaben nach“ erfolgen – „wenn es nicht auf einmal geschehen kann, [dann] allmählich und continuierlich“. Dabei wird das Ziel des Übergangs, der auf diese Weise zu erfolgen habe, weitläufig in drei aneinander gereihten Schritten bestimmt, die den Großteil des Satzes ausmachen. Es gelte, die „Regierungsart […] dahin zu verändern“, dass sie „[(1.)] mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihre r Wirkung nach zusammenstimme, und [(2.)] jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die U nte rthänigke it des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Princip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht, der zu einer rechtlichen Verfassung, im eigentlichen Sinne des Staats, erforderlich ist, und dahin auch [(3.)] dem Buchstaben nach endlich führen wird“ (Kursivdruck: M.W.)“.

Weil nun aber der Bestimmung des Ziels so viel Raum gegeben wird, scheint die Interpretation Kerstings zuerst einmal berechtigt, vorliegende Stelle handle nicht nur vom Wie des Übergangs, sondern lege eine Neubestimmung des Wohin vor, – obwohl vom Standpunkt des vorangehenden Textes eigentlich nur noch das Wie in Frage steht, aber eben nicht mehr das Wohin, also das Ziel. Kerstings Lesart zufolge sind die vorliegenden Schritte so zu deuten:558 Zuerst ist von der Regierungsart im Sinn eines Politikstils si558

Kersting 1984, 336 f.

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mulierter Demokratie („ihrer Wirkung nach “) die Rede (Schritt 1). Diese Regierungskunst sei von einem fremden Souverän der alten Staatsformen zu praktizieren (Kersting spricht vom aufgeklärten Monarchen). Auf diese Weise könnten sich die alten Staatsverfassungen (mitsamt ihrer Wirkungslogik der „Unterthänigkeit“) in die „ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Princip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht“ (Schritt 2). Am Endpunkt dieser Auflösung stehe die repräsentative Demokratie – als „Objektivation der republikanischen Regierungsart“ (Schritt 3). Der Gedanke, der dieser Interpretation zugrunde liegt, ist folgender: Weil es bei der Regierungsart lediglich auf die Repräsentation des idealen Volkswillens dem Geiste nach ankomme, sei die als Endziel gesetzte Verfassung dem Buchstaben nach eine repräsentative Demokratie – und damit eben nicht mehr jene „Democratie“ des § 51, von der ein Absatz zuvor noch die Rede war, also der „Democratie“ dem Buchstaben nach institutionalisierter Volkssouveränität. Die Interpretation von Kersting ist zu würdigen. Von ihr ausgehend wird verständlich, wie der gebotene Übergang im Fall der in Rede stehenden Problemkonstellation möglich sein kann; diese Konstellation ist wie gesagt jene, dass das Volk die „Democratie“ nicht will, hingegen aber der historisch institutionalisierte nicht-demokratische Souverän. Denn: Auch wenn das Volk die „einzig rechtmäßig[e] Verfassung […] einer reinen Republik“ (eine Staatsform institutionalisierter Volkssouveränität) nicht will, kann ein nicht-demokratischer Souverän das Volk doch immerhin vorübergehend zufolge solchen Gesetzen regieren, die das Volk sich hätte geben können, wenn es de facto (qua Staatsform) der Souverän gewesen wäre. Der Gedanke ist vermutlich, dass sich das Volk infolge dieser freiheitlichen Behandlung an den ‚Geschmack der Freiheit‘559 gewöhnen könne – „allmählich und kontinuierlich“ – und so „endlich“ selbst (als ursprünglicher Souverän) den Übergang zur gebotenen Staatsverfassung vollzieht – weil es diesen Übergang nun will. Dass die als Endpunkt anvisierte Volksherrschaft jedoch notwendigerweise die Logik jener ‚simulierten Demokratie‘ beibehalten muss, ist abwegig (s. o. (zur Allg. Anm., Kap. 2.2)). Die pseudo-demokratische Logik ist schließlich nur durch die besondere Problemkonstellation begründet, dass das Volk die vernunftrechtlich gebotene demokratische Staats559

Vgl. Rousseau, DsI, 228-233.

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form nicht will. Doch warum sollte die Logik des Provisoriums auf einmal stillschweigend zur Logik jener (Ziel-)Verfassung selbst werden und deren genuin demokratische Logik ersetzen?560 Vorliegende Stelle muss jedoch alternativ gedeutet werden, wenn man der Interpretation den Kantischen Begriff der „Freiheit überhaupt“ (§ 47) zugrunde legt, verstanden als Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung und Autonomie (vgl. Vorstudie, 4.2). Dann lässt sich im Übergang vom ersten Zielpunkt (simulierter Demokratie) zu den letzten beiden (der demokratischer Verfassung) eindeutig ein Bruch verzeichnen, – den man nicht sieht, wenn man etwa (wie Kersting) annimmt, Freiheit heiße für Kant in der Rechtslehre nur (äußere) Handlungsfreiheit561. Dem zweiten Schritt zufolge verändert sich die Regierungsart nämlich dahingehend, dass „jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die U nte rthä nigkeit des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Princip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht“.

Würde man hier nun Freiheit lediglich als äußere Handlungsfreiheit verstehen, so könnte tatsächlich jeder beliebige Herrscher die Bedingung erfüllen, die Freiheit zur Bedingung allen Zwangs zu machen. Es würde dann nur darum gehen, den Untertanen durch die staatliche Zwangsveranstaltung größtmögliche Freiheitsräume zu eröffnen. Dafür steht Kerstings „Rechtsmodell der Herrschaft“, das aber eben nicht notwendigerweise ein „Demokratiemodell der Herrschaft“ ist.562 Anders sieht es hingegen aus, wenn die Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung und Autonomie zur Bedingung (Ursache) des Zwangs (Wirkung) gemacht werden soll – und erst an diesem Punkt wird klar, warum an vorliegender Stelle überhaupt von der Veränderung der Regierungsart die Rede ist. Denn: Einerseits liegt letztinstanzliche Selbstbestimmung und Autonomie noch nicht vor, wenn ein fremder Souverän das Volk nur nach Gesetzen regiert, die er (als Gesetzgeber) so gegeben hat, als hätte sich das Volk diese Gesetze selbst geben können, was es aber eben nicht getan hat. Das hingegen ist erst der Fall, wenn sich das 560

Vgl. Maus 1992, 290 sowie neuerdings Breitendband 2019, 78-80. Kersting 2002, 50 sowie 1984, 281, 313. 562 Kersting 2002, 66. 561

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Volk seine Gesetze als gesetzgebend-souveräne Körperschaft selbst auferlegt, via aktive Staatsbürgerschaft. Doch möglich ist das nur in der demokratischen Staatsform des § 51, in welcher das Volk auch dem Buchstaben nach der Souverän ist – denn in allen übrigen gibt es „keine Unterthanen als Staatsbürger “ (§ 51, Satz 8). Andererseits ist der Übergang von einer nicht-demokratischen Staatsform (in Schritt 1) zur demokratischen (zufolge den Schritten 2 und 3) aber auch als Veränderung der Regierungsart zu explizieren. So dunkel wie die Rede von der Regierungsart an vorliegender Stelle scheint, ist sie nämlich nicht. Schließlich wurde die „Regierung“ im einschlägigen § 49,1 eingeteilt in eine „väterliche (regimen paternale)“ und eine „vater ländische (regimen civitatis et patriae)“. Und diese Einteilung kann auch im Sinn einer Spezifikation der Regierungsart gelesen werden. Nun ist aber eine auto- oder aristokratische Regierung bestenfalls nur eine „väterliche“ – auch und vor allem wenn der Autokrat das Volk nach Gesetzen regiert, die er als Gesetzgeber so gegeben hat, als hätte sich das Volk diese gegeben haben können, was es im vorliegenden Fall jedoch nicht getan hat, weil es dies nicht will. Diese Handhabung bedeutet allerdings nichts anderes, als „Bürger als Kinder zu behandeln“ (§ 49,1), und dafür steht die väterliche Regierung als besondere Regierung, aber auch als besondere Regierungart. Demgegenüber grenzt sich eine vaterländische Regierung dadurch ab, dass das Volk hier (zum einen) de facto (qua Staatsform) selbst der Souverän ist und die Regierung (zum anderen) derart verfährt, dass es das Volk nach seinen (selbstgegebenen) Gesetzen behandelt. Dafür steht die vaterländische Regierung: „wo der Staat selbst (civitas) seine Unterthanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit behandelt, jeder sich selbst besitzt, und nicht vom absoluten Willen eines Anderen neben oder über ihm abhängt“ (§ 49,1, Kursivdruck: M.W.).

Doch nur wenn solch eine vaterländische Regierung kultiviert ist, kann der Übergang von einer der beiden nicht-demokratischen Staatsverfassungen zur demokratischen als vollzogen gelten. Mit Blick auf die gemeinsame Überschrift der §§ 50-52: Der Übergang von jenem innerstaatlichem Ausland (nicht-demokratischer Herrschaft) zu einem Vaterland (der Volkssouveränität) kann erst dann als

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vollzogen angesehen werden, wenn die Regierungsart dahingehend verändert ist, dass sie nicht mehr väterlich-despotisch ist, sondern vaterländisch. Zwar ist es naheliegend und sinnvoll, den vorliegenden zweiten Satz auf die auch noch im vorigen Satz in Rede stehende Problemkonstellation zu beziehen, derzufolge ein (‚guter‘) nicht-demokratischer Herrscher die „Democratie“ gegen den antidemokratischen Willen des Volkes einführen will. Zwingend ist diese Deutung freilich nicht. Wie im letzten Teil des vorigen Absatzes (Satz 4) bleibt es nämlich völlig offen, wer der Agent des Übergangs ist. Es kann ein fremder nicht-demokratischer Souverän sein, aber auch das Volk selbst als ursprünglicher Souverän. Obwohl letztere Lesart angesichts der Problemkonstellation zuerst einmal nachrangig zu sein scheint, erweist sie sich bei genauerem Blick auf den Satzanfang als die primäre. Doch diesen Satzanfang gilt es zuerst einmal in einer abweichenden Lektüre neu zu interpretieren: einerseits in enger Anknüpfung an den vorigen Satz, andererseits unter Berücksichtigung der dortigen Anspielung auf Sieyes’ Lehrstück von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Nun diese Lektüre: Der vorige Satz begann mit der Behauptung, die „Staatsformen“ seien „nur der Buchstabe (littera) der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande“ (Kursivdruck: M.W.). In Anschluss an den vorigen Absatz war das wie folgt zu deuten: Das Volk kann als ursprünglicher Souverän kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt (pouvoir constituant) jederzeit bestimmen, welche der drei Staatsformen es will, also wer de facto (dem Buchstaben nach) der Souverän sein soll – und an diesen Willen hat sich der eingesetzte Herrscher (als pouvoir constitué) in der Ausübung seiner Souveränität zu halten. So gesehen sind die Staatsformen nichts weiter als der „Buchstabe (littera) der ursprünglichen Gesetzgebung“ des Volkes. Ideengeschichtlich ist diese „zweistufige Souveränitätskonstruktion“ das Locke’sche, das von Sieyes zum Lehrstück der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes ausgearbeitet wurde: Das Volk bestimmt als pouvoir constituant den pouvoir constitué.563 Allerdings heißt es zu Beginn des zweiten Satzes: „Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages (anima pacti originarii) enthält die Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt, die Regierungsart jener 563

Vgl. Sieyes 1789c, Kap. 5, 1789a, 35 sowie hierzu Thiele 2014, 34-43.

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Idee [des ursprünglichen Vertrags] angemessen zu machen“. Wie ist das vom ersten Satz aus zu verstehen? Als erstes ist wieder darauf hinzuweisen, dass dem „ursprüngliche[n] Contract “ des § 47 zufolge diese Idee (des ursprünglichen Vertrags) jedem Akt der Volkssouveränität zugrunde liegen muss, damit er überhaupt ein solcher ist (s. o. (zu § 47, Kap. 2.3)) – damit aber auch jenem Akt der Verfas sungsgesetzgebung, den das Volk als ursprünglicher Souverän vollzieht (als pouvouir constituant). Darum verweist die Rede von „jene[m] ursprünglichen Vertra[g]“ an vorliegender Stelle auf die „ursprünglich[e] Gesetzgebung“ im vorigen Satz, welche die Staatsform (dem Buchstaben nach) festlegt (Kursivdruck: M.W.). Von § 47 aus gelesen bezeichnet das an beiden Stellen Gesagte indes dasselbe. Doch wie verhält sich der Geist der ursprünglichen Gesetzgebung zu den Staatsformen als Buchstaben genau dieser Gesetzgebung? Meines Erachtens sollte man an diesem Punkt die Rede wörtlich nehmen, dass der „Geist“ jenes ursprünglichen Vertrags oder jener ursprünglichen Gesetzgebung die „Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt“ enthält (Kursivdruck: M.W.). Denn mit der Anspielung auf Sieyes’ pouvoir constituant wird das Begriffspaar Geist – Buchstabe offenbar mit dem Paar pouvoir constituant – pouvoir constitué gekoppelt. Die Ursprünglichkeit des „ursprüngliche[n] Contract[s] “ war jedoch bereits in § 47 als Hinweis auf den Freiheitsursprung eines jeden Aktes der Volkssouveränität zu lesen. Und als Akt ursprünglich-erstursächlicher Freiheit sind solche Akte – wie Sieyes’ pouvoir constituant – völlig frei und ungebunden, also durch keine äußere Form zu determinieren.564 Am Ende des vorigen Absatzes sowie im vorigen ersten Satz wurde jedoch das Problem exponiert, das Volk könne kraft seiner ursprünglichen Souveränität (als pouvoir constituant) auch darauf verzichten, diese Freiheit selbst in persona in einer Staatsform (als pouvoir constitué) auszuüben. Dadurch wird wiederum nichts anderes artikuliert als die letzte Konsequenz des zweistufigen Modells der (Volks-)Souveränität, das Sieyes zu Kants Zeit in Anschluss an Locke vertritt und für sein „système représentatif“ vorsieht. Sieyes reduziert den ursprünglichen Freiheitsgebrauch des Volkes bekanntlich darauf, dass es auf den Gebrauch dieser Freiheit im politischen Alltag

564

Sieyes 1789c, 113-16 und 1789a, 35.

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aktiv Verzicht tut – durch die Abordnung und Deputation von Stellvertretern. Gegen diese Praxis wendet sich allerdings der vorliegende zweite Satz mit folgendem Einspruch: „Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages (anima pacti originarii) enthält die Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee [des ursprünglichen Vertrags] angemessen zu machen“ – dahingehend, dass die Staatsform dem Buchstaben nach demokratisch ist (Kursivdruck: M.W.). Denn man erinnere sich: § 47 zufolge steht der „ursprüngliche Contract“ einerseits für den Akt der Selbstkonstitution des Volkes, die wohlgemerkt auch freiheitswidrig vonstatten gehen kann. Doch andererseits benennt der Ausdruck „der ursprüngliche Contract “ in § 47 zugleich auch die Idee dieses Aktes, insofern er ein affirmativer Akt der Freiheitsbehauptung ist, den es in einer öffentlich-rechtlichen Praxis der Volkssouveränität auszuüben gilt (s. o. (zu § 47, Kap. 2.3)). Folglich ist es der „Geist“ ursprünglich-erstursächlicher Freiheit, der einerseits die Freiheit in einem Akt ursprünglicher Verfassungsgesetzgebung verneint, wenn nicht die demokratische Staatsform, sondern eine der beiden übrigen gewählt wird. Doch andererseits ist es auch genau diese Freiheit, welche die „Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt“ ausspricht, dass dies nicht so zu sein habe, sondern umgekehrt. Dem Buchstaben nach soll die „einzig rechtmäßig[e]“ und die „einzige bleibende Staatsverfassung“ wirklich sein – die demokratische. Primär richtet sich darum die „Verbindlichkeit“ (der kategorische Imperativ), den Übergang zu dieser einen demokratischen Staatsform zu vollziehen, nicht an die Souveräne der ‚alten‘ Staatsformen, sondern an das Volk selbst – als „constituierend[e] Gewalt“. Denn was diesem Übergang im Weg steht, ist lediglich das Nicht-Wollen des Volkes in seiner Rolle eben als „constituierend[e] Gewalt“. Darum letztlich muss der Übergang auch nicht „allmählich und kontinuierlich“ erfolgen, sondern kann „auf einmal geschehen“. Denn vom Gesichtspunkt sich selbst affirmierender Freiheit (reiner praktischer Vernunft) steht dem nichts weiter im Weg. Zum einen handelt es sich bei den drei Schritten der Veränderung der Regierungsart also nicht notwendig um eine zeitliche Abfolge sukzessiv zu erreichender Etappen. Alle drei Schritte können auch gleichzeitig vollzogen werden. Zum anderen entfällt unter der Voraussetzung, dass das Volk direkt qua Staatsform der alleinige Souverän im Staat sein will, aber auch

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die Notwendigkeit, den ersten Schritt in einer Praxis ‚simulierter Demokratie‘ vollziehen zu müssen – das Volk muss dann nicht erst kontinuierlich an den ‚Geschmack der Freiheit‘ gewöhnt werden. Freilich, die „Regierungsart“ hat auch in diesem Fall immer noch „ihrer Wirkung nach “ mit der „einzig rechtmäßigen Verfassung“ zusammenstimmen. Doch das muss nicht auf dem Weg der Selbstdisziplinierung des ‚alten‘ Souveräns geschehen, sondern kann auch vom Volk selbst erreicht werden, kraft seiner ursprünglichen Volkssouveränität. Als Souverän steht ihm nämlich zum einen die Kompetenz zu, der Regierung oder dem Regenten „seine Gewalt [zu] nehmen, ihn ab[zu]setzen, oder seine Verwaltung [zu] reformiren“ (§ 49,2), zum anderen liegt es in seiner (souveränen) Hand, die demokratische Verfassung zu jener „beste[n]“ zu machen „durch welche der Staatsverwalter zum besten Regenten gemacht wird“ (§ 51, Satz 9). Denn auch durch institutionelle Vorkehrungen kann die Regierung dazu bestimmt werden, „ihrer Wirkung nach“ mit der „einzig rechtmäßigen Verfassung“ zusammenzustimmen – und letzten Endes eine vaterländische zu sein. Doch die in Rede stehende Verbindlichkeit richtet sich auch an die ‚alten‘ Souveräne – auch diese „Beherrscher“ des Volks sind Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts. Darauf kommt es letztlich an, wenn sich das Volk nicht von dieser „Verbindlichkeit“ adressiert sehen will, der alte Souverän hingegen schon. Dann nämlich ist es letzterem erlaubt, das Volk aufgrund seiner Ablehnung der demokratischen Freiheit nach solchen Gesetzen zu regieren, die sich das Volk aufgrund seines demokratischen Freiheitsgebrauchs selbst hätte geben können und eigentlich hätte geben müssen – in der Hoffnung, aus dem „Ausland“ nicht-demokratischer Herrschaft ein „Vaterland“ gemeinsamer Staatsbürgerschaft zu machen. Doch der Übergang zur vaterländischen Regierung lässt sich unter der Prämisse dieses Nicht-Wollens der demokratischen Freiheit nicht vollziehen. Leider aber gilt auch: Ohne den Willen seiner Mitbürger kann der ‚alte‘ nicht-demokratische Souverän immer nur „väterlic[h]“ regieren, niemals aber „vaterländisc[h]“, – so lehren es uns die Anfangsgründe der Volkssouveränität.

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3. Zu Absatz 3 sowie zum eingerückten Absatz Im letzten Absatz des Haupttextes sowie dem (auch thematisch) unmittelbar anknüpfenden eingerückten Absatz wird das ‚Staatsrecht‘ beendet. Auch hier lassen sich wieder zwei Ebenen der Darstellung voneinander unterscheiden: eine offensichtliche (exoterische) und eine kaschierte (esoterische). Sie ermöglichen erneut zwei kohärente, doch einander widersprechende Lektüren desselben Textes, wobei die Lektüre der zweiten Darstellungsebene die Lektüre der ersten zum einen voraussetzt, zum anderen untergräbt. Kennzeichnend für die Rhetorik ist zuallererst, dass die gegen Ende des ersten Absatzes offen ausgesprochene Konfliktlinie – nichtdemokratischer Herrscher versus antidemokratisches Volk – nicht mehr die offensichtliche Textebene dominiert. An ihre Stelle ist die gegenläufige und intuitive getreten, welche schon durch das Vokabular der Volkssouveränität impliziert und suggeriert ist: ‚gutes‘ souveränes Volk versus nicht-demokratischer Herrscher. So wird die Gefahr, die den Übergang bedrohe, nicht mehr darin gesehen, dass das Volk die gebotene Verfassung verabscheut, sondern vielmehr hierin: Die alten Souveräne könnten „alle neue Anordnungen“ des souveränen Volkes „durch absolute Willkühr wieder vernichten“. Zugleich wird die zuvor explizit ausgesprochene Konfliktlinie aber nicht einfach ad acta gelegt, sondern auf die kaschierte Ebene verlagert, die letztlich die entscheidende ist. Denn nach wie vor ist dort die Problematik des freiheitswidrigen Gebrauchs der ursprünglichen Souveränität des Volkes (der pouvoir constituant du peuple) das eigentliche Problem.565 Neu ist aber, dass die offensichtliche Konfliktlinie auf der exoterischen Darstellungsebene die Position präsentiert, für welche das Kantische ‚Staatsrecht‘ bekannt ist: pro Französische Revolution, pro französische Republik, pro Sieyes’ repräsentatives System; „repräsentatives System des Volks“, „großer Fehltritt der Urtheilskraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit“ (Louis XVI), „Nationalversammlung“, das sind die bekannten Wendungen der letzten beiden Absätze. Die genaue Konfliktlinie lautet: das ‚gute‘ französisches Volk versus die alten und vermeintlich aus ihrem Besitz vertrie565

Dieses rhetorische Verfahren kennzeichnet auch das Erste Stück der Religionsschrift, vgl. von mir 2019, insb. 53.

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benen Souveräne (vgl. Allg. Anm., A,6). Doch die Lektüre der kaschierten Darstellungsebene läuft auf die Untergrabung dieser Position hinaus – womit die letzten Absätze ganz im Einklang zu den vorherigen Äußerungen stehen, über das französische Volk einerseits, wie über die legislatorische Stellvertretung andererseits. Schließlich stigmatisierte die Allgemeine Anmerkung das französische (und englische) Volk als ein Volk von (Königs-)Mördern, das aufgrund seiner „Blutschuld“ den Tod verdiene (A,4, einschl. Fn., E, I,3 und 5). Zugleich wurde dort jegliche legislatorische Repräsentation des Volkes abgelehnt (A,3, s. o. (zur Allg. Anm., Kap. 2.3)). An diese Linie knüpfen die letzten Absätze nun an. So besteht das Resultat der Gegenlektüre in der grundsätzlichen Einsicht zum einen in die Unmöglichkeit jedes Systems legislativer Stellvertretung des Volkes – also jeder modernen repräsentativen Demokratie –, zum anderen in der Einsicht, dass die Selbstrepräsentation des Volkes in dieser Angelegenheit Notwendigkeit besitzt. Damit ist der Rhetorik des Textes eine Fundamentalkritik am Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation im Allgemeinen eingeschrieben, aber auch am Prinzip des französischen Systems (Sieyes’scher Handschrift) im Besonderen, was aufgrund der welthistorischen Bedeutung dieses Systems wiederum auf eine Kritik der modernen repräsentativen Demokratie im Allgemeinen hinausläuft. Auch diese Kritik lässt sich in der Gegenlektüre der ersten Darstellungsebene gleich einem Programm entfalten. Das lege ich im Folgenden dar, indem ich zuerst die erste (exoterische) Ebene des Textes lese (in Kap. 3.1), dann die zweite (esoterische) (in 3.2).

3.1 Lektüre der exoterischen Darstellungsebene 3.1.1 Zu Absatz 3 Der letzte Absatz des Haupttextes beginnt mit dem wohl bekanntesten Satz des ‚Staatsrechts‘ von 1797: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein re prä s ent ative s Syst em des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen“.

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Hier scheint die Anspielung auf die „tragenden Prinzipien des französischen Konstitutionalismus von 1791“ eindeutig zu sein, 566 – was wie gesagt dazu führte, dass der Kantische Text rezeptionsgeschichtlich zu demjenigen wurde, der Sieyes’ Lehre von der repräsentativen Demokratie und dem französischen Verfassungsdenken in Deutschland „die nachhaltigste Wirkung sicherte“567. Sieyes’ „système représentatif“568 ist schließlich die eindeutige Referenz, wenn es heißt, alle wahre Republik sei „ein repräsentatives System des Volks“. Und auch heute wird vorliegender Satz noch vorwiegend so gelesen, dass mit ihm ein Plädoyer für legislative Repräsentation erfolge, für die Stellvertretung des Volkes in Souveränitäts- und Gesetzgebungsangelegenheiten. In der Textinterpretation scheint darum alles klar zu sein: An vorliegender Stelle handelt es sich um Volkssouveränität, aber um diejenige „im Namen desselben“ (des Volks und der Staatsbürger), „vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten)“, und zwar „durch alle Staatsbürger vereinigt“. Warum sollte man all dies auch anders lesen, als dass die Staatsbürger periodisch in freier Wahl und kraft freien Mandats Abgeordnete delegieren, damit diese dann stellvertretend für sie „ihre Rechte […] besorgen“, was genau das auch immer heißt. Dementsprechend muss offenbar auch die Tatsache gedeutet werden, dass der vorliegende Satz einen Einspruch artikuliert. Darauf weist das Signalwort „aber“ hin: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“ (Kursivdruck: M.W.). Allem Anschein nach wird damit klargestellt, was im ‚Staatsrecht‘ bis zu diesem Punkt im letzten Absatz eben nicht klar war: Der „wahre“ Kantische Staat ist keine Rousseau’sche Republik, er ist eine moderne repräsentative Demokratie. Unmissverständlich scheint auch das zu sein: Im Anschluss an den ersten der beiden Sätze des Absatzes legt der zweite einen weiteren Modus dar, wie der in den vorigen beiden Absätzen thematisierte Übergang zur Volkssouveränität vonstatten gehen kann – nun allerdings nicht mehr „allmählich und continuierlich“ vonseiten des ‚alten‘ Souveräns, sondern quasi automatisch durch einen Fauxpas dieses Souveräns, also „auf einmal“ (Vgl. § 52,2, Satz 2). So kann auch das 566

Vgl. Kersting 1984, 344 und statt vielen exemplarisch Byrd/Hruschka 2010, 181, 167. 567 Hofmann 1974, 411. 568 Vgl. Sieyes 1793, Titel.

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weitere „aber“ zu Beginn des zweiten Satzes gedeutet werden („Sobald aber […]“): Die im vorigen Absatz vorgelegte Übergangslehre ist nicht die einzige und daher nicht obligatorisch. Dass es sich hierbei um den Übergang zum repräsentativen System Frankreichs handelt, bekräftigt der eingerückte Absatz – so scheint es zumindest. Denn dort wird das im vorliegenden zweiten Satz Gesagte auf den Fall der Einberufung der Generalstände durch Louis XVI angewandt und als Staatsformwechsel gedeutet. Damit scheint klar zu sein, dass die „nunmehr errichtete Republik“ (Satz 2) nur eine Republik französischer Art sein kann: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“. Nun ein genauerer Blick auf den vergleichsweise weitläufigen zweiten Satz: Durch ein Semikolon ist dieser zweigeteilt, enthält aber drei thematisch voneinander abzugrenzende Teilschritte. Zuerst wird der alternative und quasi mechanische Übergangsmodus angegeben (Teil 1); darauf erfolgt nach dem Semikolon eine Begründung für das zwangsläufige Eintreten dieses Übergangs (Teil 2); abschließend wird das Souveränitätsrecht der so und „nunmehr errichtete[n] Republik“ bestätigt (Teil 3). Vollständig lautet der Satz: „Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der democratische Verein) sich auch repräsentiren läßt, so repräs entirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst [Teil 1]; denn in ihm (dem Volk) befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt, von der alle Rechte der Einzelnen, als bloßer Unterthanen, (allenfalls als Staatsbeamten) abgeleitet werden müssen [Teil 2], und die nunmehr errichtete Republik hat nun nicht mehr nöthig, die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen, und sie denen wieder zu übergeben, die sie vorher geführt hatten, und die nun alle neue Anordnungen durch absolute Willkühr wieder vernichten könnten [Teil 3]“.

Weitgehend erforscht ist, dass es sich in den ersten beiden Teilen dieser (schwierigen) Passage um eine Weiterbestimmung eines basalen Lehrsatzes der Locke’schen Philosophie der Volkssouveränität handelt,569 und zwar zu einem Modus des Staatsformenwechsels.570 Dieser Lehrsatz lag bereits der Staatsformenlehre in den vorigen zwei 569 570

Locke, Second Treatise, §§ 134 und 141. Vgl. Thiele 2010, insb. 15-20.

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Absätzen zugrunde, welche auf Sieyes’ Philosophie der Volkssouveränität rekurrierte – und die wiederum ist eine Weiterentwicklung des Locke’schen Staatsdenkens571. Lockes Lehrsatz (Second Treatise, § 134) besagt, im Volk befinde sich ursprünglich die oberste gesetzgebende Gewalt (Souveränität), doch diese habe das Volk treuhänderisch in die Hände einer beliebigen Person zu legen, die dann dort geheiligt und unabänderlich („sacred and unalterable“) zu ruhen habe. So, infolge der Bestimmung der höchsten Gewalt, werde die Staatsform festgelegt – in einem ersten und grundlegenden positiven Gesetz. Im Original: „The People alone can appoint the Form of the Commonwealth, which is by Constituting the Legislative, and appointing in whose hands that shall be“. Dass die Legislative geheiligt und unabänderlich in die Hände einer Person (oder Personengruppe) gelegt werde, impliziert nach Locke aber auch diesen (Folge-)Satz (Second Treatise, § 141): Die (Stellvertreter-)Person kann die ihm anvertraute Gewalt nicht wiederum den Händen Anderer übertragen. Wieder im Original: „The Legislative cannot transfer the Power of making laws to any other hands, for it being but a delegated Power from the People, they who have it cannot pass it over to others“. Das nun ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Satzes (im Vordersatz des ersten Teilsatzes): Ein „Staatsoberhaupt“, das als solches die Souveränität repräsentieren soll, lässt sich „der Person nach […] auch repräsentiren“ (Kursivdruck: M.W.); ein Stellvertreter lässt die Stelle, die er als (physische) Person vertreten soll (vgl. § 51, Sätze 1-2), wiederum durch eine andere (physische) Person vertreten. Sobald das aber der Fall ist (so der Nachsatz des ersten Teilsatzes), „repräsentirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“. Mit anderen Worten: Sobald der im Vordersatz dargestellte Fall eintritt, fällt die Souveränität quasi automatisch auf das Volk zurück. Doch dann sei das Volk nicht nur der Repräsentant des Souveräns, sondern vielmehr der Souverän selbst in persona – eben weil das Volk in persona der ursprüngliche Souverän „ist“ (so die Begründung nach dem Semikolon). Mit Hinzunahme der Referenz auf die Locke’sche Philosophie der Volkssouveränität und ihrer aus dem Privatrecht übernommenen Lo-

571

Vgl. Thiele 2014, 38 ff.

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gik lässt sich der Gedankengang der ersten beiden Teilschritte (mit Ulrich Thiele) wie folgt auslegen und zusammenfassen: Im Volk „befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt“ (1.). Das Volk legt diese Gewalt treuhänderisch qua Mandat in die Hände eines beliebigen Stellvertreters, der diese Gewalt ausüben soll und als abgeleiteter Souverän zu begreifen ist; sein Souveränitätsrecht ist mit dem abgeleiteten Recht eines „Staatsbeamten“ vergleichbar (2.). Im Fall eines Mandatbruchs löst sich das Stellvertretungsverhältnis auf und die Gewalt fällt augenblicklich in die Hände des Volkes zurück, wo „sich ursprünglich die oberste Gewalt“ befindet (3.).572

Das quasi automatische Inkrafttreten dieses Mechanismus reicht (dem letzten Teilschritt zufolge) offenbar bereits aus, um augenblicklich eine Republik zu errichten, wie durch Zauberhand. Von einer „nunmehr errichtete[n] Republik“ ist die Rede. Diese Republik habe dann „nicht mehr nöthig“, seine so erlangte Souveränität wieder an den oder die alten Herrscher zurückzugeben. Im Wortlaut: Das Volk habe „nicht mehr nöthig, die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen, und sie denen wieder zu übergeben, die sie vorher geführt hatten, und die nun alle neue Anordnungen durch absolute Willkühr wieder vernichten könnten“.

3.1.2 Zum eingerückten Absatz Der abschließende eingerückte Absatz besteht aus fünf Sätzen, die in zwei Teile gegliedert werden können (Sätze 1-2 und 3-5), insofern sich die ersten beiden und die letzten drei Sätze zwar nicht thematisch unterscheiden, aber doch in ihrem Stil. So erfolgt in den ersten beiden Sätzen eine offen kenntlich gemachte Applikation des im letzten Satz des vorausgehenden Absatzes Gesagten auf den zeitgenössischen Fall („unserer Zeit“) der Einberufung der Generalstände durch Louis XVI und der darauf erfolgten Französischen Revolution (Stichwort: „Nationalversammlung“): Im ersten Satz wird der Übergangsmechanismus der beiden ersten Teilschritte des vorangehenden zweiten Satzes des § 52,3 appliziert, im zweiten Satz mit Blick auf das Fallbeispiel das im dritten Teilschritt bestätigte Bleiberecht der „nunmehr 572

Thiele 2010, 15-20.

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errichtete[n] Republik“ gegen eine alternative Rechtsposition verteidigt. Die letzten drei Sätze stellen hingegen in lapidarer Diktion und in Abstraktion vom Fallbeispiel drei allgemeine staatsrechtliche Sätze auf. Dabei fehlen jegliche Signalwörter, die auf einen Begründungszusammenhang hinweisen, aber dennoch können die Sätze als Argumentation für die im vorigen Satz vorgelegte Position gelesen werden. Das ist nicht zwingend, wird jedoch durch den offensichtlichen thematischen Zusammenhang der beiden Teile des Absatzes suggeriert. (Zu Satz 1:) Die Applikation auf den historischen Fall erfolgt im ersten Satz in drei durch Semikola abgetrennten Schritten. Deren letzter bestätigt abschließend und quasi in einem vierten Schritt den Souveränitätstransfer in Form einer Schlussfolgerung („mithin“). Dass es sich hierbei um die Einberufung der Generalstände seitens Louis XVI handelt, sagt der erste Satz wohlgemerkt nicht offen, doch einerseits ist die Anspielung leicht zu identifizieren, andererseits ist im zweiten Satz von der „Nationalversammlung“ die Rede. Zwar wird die Applikation in Form einer simplen Konklusion aus dem Vorhergehenden (§ 52,3, Satz 2) eingeleitet, aber eigentlich handelt es sich um mehr als um eine bloße Anwendung: Der welthistorisch bedeutsame Fall des Nachbarlands wird in seiner partikularen Eigenlogik behandelt. Der Gedankengang ist folgender: Der erste Schritt trägt die Behauptung vor, die Einberufung der Generalstände sei „ein großer Fehltritt der Urtheilskraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit“ gewesen, nämlich „sich aus der Verlegenheit wegen großer Staatsschulden dadurch helfen zu wollen, daß er es dem Volk übertrug, diese Last nach dessen eigenem Gutbefinden selbst zu übernehmen und zu vertheilen“.

Der zeitgenössische Fall ist also nicht nur der, dass sich der Souverän in der Ausübung einer zentralen Souveränitätsangelegenheit („der Besteuerung der Unterthanen“) „auch repräsentiren lässt“. Er habe sich zudem durch das Volk repräsentieren lassen. Doch die bloße Repräsentation durch einen Anderen hätte laut dem vorigen Absatz (§ 52,3) bereits ausgereicht, um den Souveränitätstransfer zu beschließen. Das ‚sich repräsentieren lassen‘ durch das Volk selbst (durch den ursprünglichen Souverän) ist also ein surplus.

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Im zweiten Schritt wird dann ein Grund angegeben, warum jene Notlösung „ein großer Fehltritt der Urtheilskraft“ gewesen sei („da […] denn […]“), der dann in einem dritten Schritt vor der abschließenden Konklusion erläutert wird („nämlich […]“). Die Passage lautet vollständig: „[Zweiter Schritt:] da es [das Volk] denn natürlicherweise nicht allein die gesetzgebende Gewalt in Ansehung der Besteuerung der Unterthanen, sondern auch in Ansehung der Regierung in die Hände bekam; [Dritter Schritt:] nämlich zu verhindern, daß diese [die Regierung] nicht durch Verschwendung oder Krieg neue Schulden machte, [Abschließende Konklusion:] mithin die Herrschergewalt des Monarchen gänzlich verschwand (nicht bloß suspendirt wurde), und aufs Volk übergieng, dessen gesetzgebenden Willen nun das Mein und Dein jedes Unterthans unterworfen wurde“.

Dieser Deutung der historischen Ereignisse zufolge bemisst sich die eigentliche Größe des „Fehltritt[s] der Urtheilskraft“ daran, dass der Souverän nicht abgesehen hatte, was alles die Übertragung der Kompetenz implizierte, das Problem der Staatsschulden zu beheben. Verkannt habe er nämlich, dass seine eigene Regierungsart die Ursache der Staatsschulden gewesen sei. Er habe fortwährend durch „Verschwendung oder Krieg“ neue Schulden gemacht. Doch mit der Beauftragung des Volks, sich um das Problem zu kümmern, sei seine „Herrschergewalt (Souveränität)“ (§ 45,2) darum „nicht bloß suspendirt“, also zeitweilig aufgehoben, sondern „gänzlich“ zum Verschwinden gebracht worden – und auf das Volk übergegangen. (Zu Satz 2:) Im zweiten Satz erfolgt schließlich die Zurückweisung einer alternativen Rechtsposition, derzufolge die Souveränität des Monarchen eben „bloß suspendirt“, nicht aber notwendigerweise „gänzlich“ auf das Volk zurückgefallen wäre. Sie besagt, es müsse „angenommen werden“, dass sich das Volk (kraft eines Akts ursprünglicher Souveränität) darauf verpflichtete, lediglich den Willen des alten Souveräns auszuführen, im Zuge dessen nur zeitweilig die Souveränität auszuüben, doch diese nach getaner Arbeit wieder zurückzugeben – sich aber eben nicht „zur Souveränität zu constituiren“, also nicht die Staatsform zu wechseln. Im Wortlaut: dass bei der Übertragung der Souveränität durch den alten Souverän

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„ein stillschweigendes, aber doch vertragsmäßiges Versprechen der Nationalversammlung, sich nicht eben zur Souveränität zu constituiren, sondern nur dieser [(alten) Souveränität] ihr Geschäfte zu administriren, nach verrichtetem Geschäfte aber die Zügel des Regiments dem Monarchen wiederum in seine Hände zu überliefern, angenommen werden müsse“.

Eine solche Position könne man jedoch nicht vertreten: „denn ein solcher Vertrag ist an sich selbst null und nichtig“ – und mit diesen lapidaren Worten endet der zweite Satz. Die letzten drei Sätze kann man nun als ebenso lapidar formulierte Begründung dafür lesen, warum „ein solcher Vertrag“, und folglich auch die Annahme eines „stillschweigende[n], aber doch vertragsmäßige[n] Versprechen[s] der Nationalversammlung“, eben das sei: „an sich selbst null und nichtig“. Im letzten Satz wird schließlich explizit dargelegt, dass eine vertragliche Selbstverpflichtung des Volkes, „seine Gewalt wiederum zurückzugeben“, in sich selbst widersprüchlich ist und folglich „null und nichtig“. Der Gedankengang der letzten drei Sätze lässt sich als Gang einer Begründung wie folgt auslegen: Laut dem dritten Satz ist das „Recht der obersten Gesetzgebung im gemeinen Wesen […] kein veräußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht“. Damit scheint zuerst einmal die Unveräußerlichkeit der Volkssouveränität gemeint zu sein, wie sie Rousseau begründete: „Que la souveraineté est inaliénable“573. Doch vom nächsten, vierten Satz aus gelesen ist das offenbar nicht der Fall, weil es dort offengelassen wird, „[w]er es [das Recht der obersten Gesezgebung] hat“. Damit scheint jene Implikation des elementaren Lehrsatzes der Locke’schen Philosophie der Volkssouveränität rekapituliert zu werden, welcher dem Transformationsmechanismus im letzten Satz des vorigen Absatzes implizit zugrunde lag: Das Volk kann seine ursprüngliche Souveränität durchaus entäußern, wenn es sie in die Hände einer (beliebigen) Person legt; doch dort habe sie dann „geheiligt und unverletzlich“ zu liegen – als ein unveräußerliches Recht. Deutet man die Implikation des Locke’schen Satzes so (wie im vorigen Absatz), dass die Unveräußerlichkeit dieses Rechts für das Vertrauensamt des Souveräns bedeutet, er dürfe sich nicht als solcher „der Person nach […] auch repräsentieren“ lassen, so gilt auch hier: „Das Recht der obersten Gesetzgebung […] ist kein veräußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht“ 573

Rousseau, Contrat Social, II, 1.

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(Kursivdruck: M.W.). Der Sinn der Rousseau’schen Formulierung löst sich in der Logik des Locke’schen Lehrsatzes auf. Der vierte Satz scheint nun aber darauf hinzuweisen, dass die Veräußerlichkeit des Souveränitätsrechts vonseiten des Volkes nicht heißt, der Repräsentant dieser Souveränität könne „über den Gesammtwillen selbst, der der Urgrund aller öffentlichen Verträge ist, disponiren“ – also über den Willen, auf dem seine Souveränität gründet, weil das Volk ihm diese Souveränität in seine Hände gelegt hat. In Sieyes’ Terminologie: Ein (Stellvertreter-)Souverän kann als pouvoir constitué nur durch den pouvoir constituant des Volkes über das Volk disponieren („durch den Gesammtwillen des Volks über das Volk“), nicht aber über den pouvoir constituant selbst („aber nicht über den Gesammtwillen selbst“). Kurz, ein vom Volk eingesetzter Souverän kann dem Volk in puncto Staatsform keine Vorschriften machen. Ebenso wie ein eingesetzter Souverän nicht über jenen „Gesammtwillen selbst“ disponieren kann, welcher der „Urgrund aller öffentlichen Verträge“ sei, könne auch das Volk dies im Hinblick auf jene Selbstverpflichtung nicht tun, „seine Gewalt wiederum zurückzugeben“ – so der letzte, fünfte Satz. Einerseits würde solch ein Vertrag „demselben nicht als gesetzgebender Macht zustehen“, es andererseits aber „doch […] verbinden“ – „welches nach dem Satze: Niemand kann zweien Herren dienen, ein Widerspruch ist“. Und darum sei solch ein Vertrag eben „null und nichtig“. Soweit zur exoterischen Darstellungsebene des Textes; nun ein kurzer Rückblick auf die soeben vorgelegte Lektüre dieser Textebene: Zuerst einmal ist eine philosophiehistorische Würdigung angebracht. Denn Kant bestimmt hier nicht nur das Locke’sche Modell der Volkssouveränität (als Modell realhistorischer Praxis) staatsrechtlich weiter zu einem Mechanismus eines instantan erfolgenden Übergangs zur Volkssouveränität, – der dann lediglich auf das Fallbeispiel Frankreich appliziert wird.574 Vielmehr wird dadurch zugleich angegeben, wie ein damals in vielen Ländern Europas sukzessiv („allmählich und kontinuierlich“) erfolgender Mechanismus aus genuin staatsrechtlicher 574

Es ist also nicht so, Kant habe sich mit dem abschließenden Part des ‚Staatsrechts‘ vor allem eine „elegante Lösung“ ausgedacht, die Französische Revolution trotz kategorischem Revolutionsverbot zu rechtfertigen, um so „seinen Kopf mit seinem Herz zu vereinigen“, vgl. Henrich 1976, 363 f.

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Sicht auch augenblicklich („auf einmal“) erfolgen kann, – was in der Literatur bisher übersehen wurde. Das Recht der Steuerbewilligung war schließlich „im Ursprung ein ständisches Recht, für das es vielerorts in Europa aber auch in England Parallelen gab“.575 So war die Entwicklung der englischen Verfassung bis zur Ära des klassischen englischen Parlamentarismus (1841-1867) eine, in der das Parlament (als Legislative) der Krone (als Exekutive) schrittweise die Herrschergewalt (Souveränität) abrang und zwar letztlich durch das ständische Steuerbewilligungsrecht:576 Einerseits musste die Krone ab Beginn des 17. Jahrhunderts auf Steuern zurückgreifen, „um sich von den unzureichenden Finanzquellen unabhängig zu machen, die ihr traditionell zustanden“, andererseits war das Recht der Steuerbewilligung aber ein Parlamentsrecht. Aufgrund dieser prekären Lage musste die Krone mit jeder neuen Steuerbewilligung dem Parlament neue Rechte zugestehen. Das Steuerbewilligungsrecht war also bereits vor dem ‚Staatsrecht‘ von 1797 gewissermaßen Teil eines Mechanismus des Souveränitätstransfers, – ein Transfer, der dem ‚Staatsrecht‘ zufolge nun aber eben auch instantan erfolgen kann und muss: Jeder Souverän, der sich zur Deckung seiner Finanzquellen an das Volk als quasisouveränen Akteur wendet, löst dadurch augenblicklich einen Mechanismus des Souveränitätstransfers aus, der die Volkssouveränität realisiert.577 Zudem ist die im letzten Teil des ‚Staatsrechts‘ offensichtlich artikulierte Konfliktlinie durchaus historisch berechtigt und freiheitsrechtlich relevant. Denn die im eingerückten Absatz thematisierte Praxis der Staatsverschuldung „durch Verschwendung oder Krieg“ ist zufolge des folgenden § 55 (im Völkerrecht) zugleich diejenige, in welcher der „Souverän […] seine Unterthanen, die dem größten Teil sein eigenes Produkt sind, in den Krieg, wie auf eine Jagd, und zu einer Feldschlacht, wie auf eine Lustpartie“ führt (§ 55,3). Mit Blick auf 575

Hartmann 2011, 47. Hartmann 2011, 46 f. 577 Dass Kant eine hohe Kompetenz in politökonomischen Zusammenhängen zugesprochen werden kann, hebt auch Daniela Falcioni hervor, 2018, 2347: „Mit unglaublicher Hellsichtigkeit hatte Kant bemerkt, dass sich in Europa gefährliche Finanzströme bildeten, weil die Staaten die Schulden aufblähen konnten, ohne auf die eigene Zahlungsbilanz zu achten, bei der es ein ungefähres Gleichgewicht zwischen Einkommen und Ausgaben geben muss“. 576

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solche Souveräne habe das Volk nach erfolgtem Übergang zur Republik „nicht mehr nöthig“, ihnen die Souveränität „wieder zu übergeben“ und „alle neue Anordnungen“ durch „absolute Willkühr“ wieder vernichten zu lassen. Diesen Standpunkt hatten Kant und Rousseau immer wieder eingenommen.578 Man mag vielleicht so weit gehen und erwägen, ob von diesem Gesichtspunkt aus die Frage nach der repräsentativen Demokratie letztlich unerheblich ist.579 Abgesehen davon scheint es aber auch unzweideutig zu sein, dass dem eingerückten Absatz zufolge die (qua ‚politischer‘ Autorisation agierende) „Nationalversammlung“ (als System der Stellvertretung) das ursprünglich-souveräne „Volk“ selbst ist. In Anbetracht dieses Punkts ist offenbar „jede Spekulation“ über einen „womöglich versteckten“ Rousseauismus im ‚Staatsrecht‘ „gänzlich verfehlt“; solche „Spekulationen […] erübrigen sich“.580 Nun freilich ist die soeben interpretierte Darstellungsebene nicht die einzige; es gibt eben auch eine weniger offensichtliche, trotzdem aber vorhandene Textebene. Und auch die gilt es in einer separaten Lektüre auszulegen – und schlussendlich auf das durch die gemeinsame Überschrift der §§ 50-52 bezeichnete Thema hin zu befragen.

3.2 Gegenlektüre 3.2.1 Zu Absatz 3 Die Anspielung auf das repräsentative System Frankreichs und Sieyes’ „système représentatif“ scheint zu Beginn des dritten Absatzes eindeutig zu sein – wäre da nicht ein kleiner Bruch zu verzeichnen. Denn was den kundigen Leser irritiert, ist eine doch recht bedeutsame Verkehrung, die der Kantische Text gegenüber Sieyes’ Bestimmung der Republik vornimmt: 581 Zwar bezeichnet Sieyes seine

578

Vgl. ZeF, AA 08: 351.01-20, SF, AA 07: 80.14-23, 89.08-15 sowie Rousseau, Contrat Social, I, 4. 579 Vgl. die Position von Hans Kelsen in ›Peace through Law‹, 1944, vii-ix, der wohlgemerkt ein hartnäckiger Verteidiger der Demokratie war, siehe Kelsen 1932. 580 Ludwig 1999, 186 f., 178 f. 581 Vgl. Sieyes 1789b, 13-16.

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repräsentative Republik immer wieder als „système représentatif“582. Doch für ihn ist dieses System keine „wahre Demokratie“ („véritable démocratie“). Vielmehr grenzt er sein System scharf und mit deutlichen Worten gegen solch eine „wahre Demokratie“ ab: In einer wahren Demokratie sei das Volk am Zustandekommen der Gesetze beteiligt, in seinem „système représentatif“ habe das hingegen nicht der Fall zu sein – und dabei gibt Sieyes eben offen zu, dass dieses neue System keine „wahre Demokratie“ sei. Doch das behauptet Kant an vorliegender Stelle ausdrücklich von seinem repräsentativen System: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“ (Kursivdruck: M.W.). Wie ich in meiner Interpretation des § 51 bereits dargelegt habe (Kap. 3.2), kann die im Text vor § 52,3 durchgehend in Rede stehende demokratische Staatsform, die in § 52,1 auch einfach „Democratie“ genannt wird, in ihrer komplexen dreistufigen Organisation ebenfalls als „repräsentatives System des Volks“ gedeutet werden, aber auch als ‚unverfälschte‘ und folglich „reine“ und „wahre“ Republik (§ 52,2 und 3, vgl. § 51, Anm.)583. Dabei stand die demokratische Staatsform in § 51 für nichts anderes als für die Institutionalisierung der Volkssouveränität des ersten Paragraphenblocks, und demnach ist das Volk sehr wohl am Zustandekommen der Gesetze beteiligt: nämlich in letzter Instanz. Bei der „Democratie“ der §§ 51 und 52 handelt es sich also um genau jenen Typus ‚wahrer Demokratie‘, von der Sieyes im Paralleltext spricht, den er aber verwirft.584 Die Abweichung, die der Kantische Text gegenüber Sieyes’ Position vornimmt, ist aus folgenden Gründen höchst bedeutsam: In den 582

Sieyes nennt sein System indes auch „systême de représentation“, spricht aber beispielsweise auch von „gouvernement représentatif“ und „état représentatif“, vgl. 1789a, 13-16. 583 Der Ausdruck „Republik“ ist im ‚Staatsrecht‘ lediglich eine alternative Bezeichnung für das „gemeine Wese n “, das Kant auch „res publica“ nennt. Hiermit setzte immerhin auch § 51 ein: Dort war eingangs vom „Begriff eines gemeine n Wese ns überhaupt (res publica latius sic dicta)“ die Rede. 584 Zu erwägen ist, ob Kant vielleicht sogar primär anlässlich der Sieyes’schen Position seine Staatsformenlehre in der Rechtslehre (von 1797) dahingehend umgeändert hat, dass die Demokratie nun im Gegensatz zur Friedensschrift (von 1795) positiv konnotiert ist. Das wurde von der Kant-Forschung bis jetzt noch nicht erwogen.

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Zweiter Paragraphenblock (§§ 50-52)

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abschließenden §§ 50-52 geht es wie gesagt um das durch die gemeinsame Überschrift bezeichnete „rechtlich[e] Verhältni[s] des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“, wobei sich das „Vater land“ vom „Ausland“ durch das Vorliegen der „Bedingung“ konstitutionell verbürgter und folglich in einer Staatsform institutionalisierter Staatsbürgerschaft unterscheidet und dadurch auszeichnet (s. o. (zu § 50,1 und § 51). Das aber ist genau die Kompetenz, am souverän-gesetzgebenden Willen aktiv zu partizipieren, welche Sieyes mit seinem „système représentatif“ verneint. In Sieyes’ System fehlt daher die „Bedingung“, die für das „Vaterland“ (der Volkssouveränität) konstitutiv ist; das französische System konstituiert nichts weiter als jenes innerstaatliche „Ausland“ oder „Elend“ völliger Entrechtung (s. o. (zu § 50)). Im Licht dieser bedeutsamen Abweichung kann die Referenz auf Sieyes und das repräsentative System Frankreichs nicht als Affirmation verstanden werden. Es handelt sich um eine scharfe Entgegensetzung. Im ‚Staatsrecht‘ nimmt diese jedoch auch eine konstruktive und instruktive Funktion ein: Der Staat des ‚Staatsrechts‘ ist eine wahre Demokratie insofern „Unterthanen als Staatsbürger “ am Zustandekommen der Gesetze beteiligt sind; aber die wahre Demokratie muss eben auch als ein „repräsentatives System des Volks“ konzipiert und institutionalisiert werden. Ansonsten wäre die Demokratie eine falsch-verfälschte und folglich nur eine jener „alten sogenannten Republiken“585. Und eine solche falsche Republik ist eben Sieyes’ „système représentatif“, was Sieyes selbst sagt; die wahre Demokratie ist kein repräsentatives System des Volks, wie er es verstanden wissen will. Das aber liegt letztlich daran, dass Sieyes sein repräsentatives System auf dem Prinzip der legislativen Repräsentation des Volkes qua ‚politischer‘ Autorisation gegründet wissen will – Kant seines hingegen nicht. Um eine falsche oder eben nur um eine sogenannte „Democratie“ würde es sich nämlich handeln, wenn das Volk in der demokratischen Staatsform auf dieselbe Weise repräsentiert werden würde wie in einer nicht-demokratischen (autokratischen oder aristokratischen) Verfassung.586 585 586

Vgl. ZeF, AA 08: 353.15, Kursivdruck: M.W. Dann müsste man mit Hobbes sagen, Leviathan, Kap. 21, 171: „Whether a Common-wealth be Monarchicall, or Popular, the Freedome is still the same“. Dass dem so ist, behauptet expressis verbis Ludwig, 1999, 186: „Kant macht immer wieder nachdrücklich deutlich, […] daß er von

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Im Folgenden werde ich nun zuerst – und erstmals – vorliegenden Schlüsselsatz des ‚Staatsrechts‘ so deuten, dass es sich hier lediglich um einen Ausspruch für die demokratische Staatsform des § 51 handelt. Einer der entscheidenden Vorteile dieser Lektüre ist, nicht in Verlegenheit darüber geraten zu müssen, weshalb Kant erst im letzten Absatz des Haupttextes den Staat des ‚Staatsrechts‘ als legislativrepräsentative Demokratie begriffen wissen will. Immerhin gibt es hierfür keine Begründung – und die Allgemeine Anmerkung hatte sich schließlich auch explizit und in heftiger Polemik gegen die legislative Stellvertretung des Volkes ausgesprochen (s. o. (zur Allg. Anm., Kap. 2.3)). Besagter (Schlüssel-)Satz ist zweigliedrig. Zuerst wird (in einem grammatisch vollständigen Teilsatz) jene Bestimmung getroffen (1.): „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“; und erst an- und abschließend erfolgt (in einem grammatisch unvollständigem Teilsatz) die Angabe des Zwecks dieses Systems (2.): „ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen“. Dieser Zweck ist der subjektive Rechts- und Staatszweck der Menschen, „dessen, was Rechtens ist, theilhaftig zu werden“ (§ 43). Doch obwohl in der Angabe des Systemzwecks von der Thematik der Repräsentation die Rede ist, heißt das freilich noch nicht, hiermit komme das System selbst vollständig zur Darstellung. Naheliegender ist, dass lediglich an Momente des Systems angeknüpft wird, um den Modus der Rechtebesorgung (in dreifacher Bestimmung) darzulegen: „[(a)] im Namen desselben, [(b)] durch alle Staatsbürger vereinigt, [(c)] vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten)“ – auf diese Weise soll die Rechtebesorgung erfolgen. Falsch wäre es also, die (Teil-)Stellen (pars pro toto) zum System selbst zu totalisieren. Vielmehr wird dieses mit dem komplexen („allerzusammengesetzteste[n]“) Gesamtsystem der dreistufigen Staatsform der „Democratie“ zu identifizieren sein.

Hobbes die Lektion über die Konstitution eines Volkes gelernt hat“; „[d]er ‚politische‘ Unterschied von Demokratie, Aristokratie und Autokratie zieht sich damit letztlich ganz auf den hinsichtlich der Elitenrekrutierung zusammen“.

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Zweiter Paragraphenblock (§§ 50-52)

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(Zu 1.:) Die anfängliche Behauptung im ersten Satzglied ist wie gesagt in Form eines Einspruches vorgetragen, der sich gegen den vorhergehenden Text richtet: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“ (Kursivdruck: M.W.). Dieser Einspruch wird erneut erklärungsbedürftig, wenn er nicht mehr fälschlicherweise dahingehend gedeutet werden soll, der Staat des ‚Staatsrechts‘ sei in scharfer Abgrenzung zum ganzen vorhergehenden Text als moderne legislativ-repräsentative Demokratie zu denken. Widmet man sich allerdings der Frage, woran vorliegende Stelle im unmittelbar vorausliegenden Text anknüpft, so lässt sich die Motivation der (nun) scheinbar unmotivierten Aussage im ersten Satzglied ausfindig machen. Denn der vorangehende letzte Satz des vorigen Absatzes (§ 52,2, Satz 3) bestimmte die demokratische Staatsform als „letzte[n] Zweck alles öffentlichen Rechts“ (s. o.), merkte jedoch an: Der bürgerlichen Gesellschaft könne „kein absolut-rechtlicher Zustand“ zugestanden werden „so lange jene Staatsformen dem Buchstaben nach eben so viel verschiedene, mit der obersten Gewalt bekleidete, moralische Personen vorstellen sollen“. Genau das aber ist lediglich in der demokratischen Staatsform nicht mehr der Fall – insofern sie ein „repräsentatives Sys tem des Volks“ im Sinn jener dreistufigen Organisation der demokratischen Staatsform ist, welche § 51 darlegte. Deren Stufenbau zufolge herrschen nämlich nicht mehr nur (je nach Staatsform) verschiedene besondere Personen über das Volk, sondern die Herrschaftsausübung ist hier durch zwei vorgeschaltete Stufen der Selbstorganisation des Volkes lediglich ein Verhältnis eben dieses Volkes zu sich selbst. Hier und allein hier ist der Staat ein „System des Volks“ (Kursivdruck: M.W.). Ausführlicher: Als „System des Volks“ war in § 51 der ganze dreistufige Bau der demokratischen Staatsform zu identifizieren, aber auch jede einzelne Stufe dieser Staatsform. Das Gesamtsystem wie auch die Teilsysteme der Stufen musste (bzw. mussten) dabei zufolge der Genitivkonstruktion („System des Volks“) im doppelten Sinn gedeutet werden: zum einen als System im Sinn eines objektiven Zustands, in welchem sich das Volk befindet (genitivus objectivus), zum anderen aber auch als eine Veranstaltung subjektiver Selbstsystematisierung eben dieses Volkes (genitivus subjectivus). Der Systembegriff der Zeit stand schließlich nicht „für etwas fertig Gegebenes und Starres, von außen Aufgezwungenes“, sondern „für ein

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sches Ganzes“587. So waren die ersten beiden Stufen explizit als Stufen der Bildung und Selbstorganisation zu einem Ganzen kenntlich gemacht: Stufe 1

„den Willen Aller zuerst zu vereinigen, um daraus ein Volk […] zu bilden“

Stufe 2

„dann den [Willen] der Staatsbürger [zu vereinigen,] um ein gemeines Wesen zu bilden“ (Kursivdruck: M.W.).

Durch genau diese beiden ersten Stufen der Selbstorganisation unterscheidet sich die demokratische Staatsform schließlich von allen übrigen Staatsformen. Denn in Ermangelung solcher Strukturen ist der souveräne Wille in den übrigen tatsächlich nur „etwas […] Starres, von außen Aufgezwungenes“ und der Staat damit eben kein „System des Volks“ im eigentlichen und vollständigen Wortsinn. Ausdruck dieser Eigentümlichkeit war aber nun dies: Der eigentliche Herrschaftsakt ist in der demokratischen Staatsform auf einer dritten Stufe verortet, die sich darauf reduziert, dass dem zuvor gebildeten gemeinen Wesen nur noch sein eigener Wille vorgesetzt wird, jetzt allerdings als souveräner Wille. Stufe 3

„und dann diesem gemeinen Wesen den Souverän, der dieser vereinigte Wille selbst ist, vorzusetzen“ (Kursivdruck: M.W.)

Diese dritte Stufe ist die eigentliche Stufe der Repräsentation. Der Wille, der zuvor zwischenmenschlich-horizontal gebildet wurde, wird nun in einem vertikalen Über-Unterordnungs-Verhältnis erneut präsentiert. Doch hierin allein ist noch nicht das „repräsentativ[e] System des Volk[s]“ zu sehen (Kursivdruck: M.W.). Denn auch in puncto Repräsentation handelt es sich um ein „System des Volks“ im doppelten Sinn: Dem Akt der Darstellung des eigenen Willens als objektiviertem und letztlich fremdem Herrschaftswillen (Repräsentation als Fremddarstellung) muss der Akt der freiheitlichen Selbstdarstellung dieses Willens seitens der Staatsbürger vorangehen (Repräsentation als Selbstdarstellung). Nur wenn erstere Form der Repräsentation unter letztere subsumiert werden kann, löst die herrschaftliche 587

Fulda 2003, 55.

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Zweiter Paragraphenblock (§§ 50-52)

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Repräsentation nicht die Selbstorganisationsstrukturen der ersten beiden Stufen auf, und mit ihnen das „System des Volks“. Wenn es nun heißt: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“ (Kursivdruck: M.W.), dann ist damit freilich nicht lediglich jener Punkt wiederholt: Die autokratische und aristokratische Staatsform, also die Herrschaft besonderer Personen, konstituiert kein derartiges repräsentatives System des Volks“, weil in diesen beiden Staatsformen ‚einfach‘ besondere Personen herrschen. Schließlich steht nun die demokratische Republik (oder res publica)588 in Rede. Doch: Eine jede Republik, die nicht nur eine ‚sogenannte‘ sein will, sondern aus vernunftrechtlicher Perspektive (in Wahrheit) so zu heißen verdient, muss nach vorliegender Stelle nun notwendigerweise solch ein „repräsentatives System des Volks“ sein: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein“ als das (Kursivdruck: M.W.). Doch warum erfolgt an diesem Punkt der Rekurs auf den Gesichtspunkt der Wahrheit? Antwort: Dies geschieht, weil nach Auskunft der Anmerkung zur demokratischen Staatsform in § 51 Satz 6 der Fall der „Verfälschung“ dieser Form „durch sich eindringende unbefugte Machthaber“ möglich ist. Eine solche Verfälschung hätte zur Folge, dass besondere Personen das „System des Volks“ strukturell auflösen, indem sie losgelöst von den beiden vorgeschalteten Stufen der Willensbildung nach eigener Maßgabe über das Volk herrschen. Dagegen wendet sich der Einspruch vorliegender Stelle. Genauer betrachtet: Im Fall einer solchen Verfälschung wäre die Republik keine „rein[e]“ mehr (§ 52,2, Satz 2), sondern durch besagte Einmischung eine ‚verunreinigte‘. So ist das metaphorische Feld zu deuten. Dann aber hätte man es nur noch mit einer täuschenden und bloß scheinbaren Republik zu tun, – die als falsche und verfälschte eben keine wahre mehr wäre. Aber: Alle wahre Republik kann nur ein „repräsentatives System des Volks“ sein (Kursivdruck: M.W.). Doch das heißt wiederum nicht, jene verfälschten Formen könnten nicht auch repräsentative Systeme sein. Durch besagte „Verfälschung“ geschieht schließlich nichts anderes als die Transformation des repräsentativen Systems der demokratischen Staatsform zur al588

Eine demokratische Republik ist die wahre Republik aufgrund der Begriffsbestimmung des ersten Paragraphenblocks, derzufolge sie ein alternativer Begriff für die civitas ist, also für die autonome Bürgerschaft.

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ten (modernen) Form der Repräsentation nach dem Muster der tradierten (neuzeitlichen) Staats- und Souveränitätslehre: An die Stelle des in Selbstrepräsentation gebildeten Volkswillens tritt ein fremder souveräner Wille. Und um dessen Souveränität willen muss dieser seinen Herrschaftswillen wie gesagt notwendigerweise als Volkswillen fingieren, zum einen; zum anderen hat er aus demselben Grund die Kompetenz letztinstanzlicher (souveräner) Willensbestimmung der Menschen in seinem Herrschaftswillen zu absorbieren, doch damit leider auch deren Freiheits- und Menschenwürde in seiner Staatswürde. Letzten Endes steht dafür jenes „Elend“ des innerstaatlichen „Ausland[es]“ nicht-demokratischer Herrschaft: die vollständige Entrechtung und Entwürdigung der Bürger – und Menschen. Anders betrachtet, es erfolgt nicht mehr jene Unterordnung der Fremdbestimmung und Fremdrepräsentation unter die Selbstbestimmung und Selbstrepräsentation, sondern es verhält sich kraft dem alten Prinzip wieder umgekehrt: Die Selbstbestimmung und Selbstrepräsentation wird der Fremdbestimmung und Fremdrepräsentation untergeordnet. Das aber ist wiederum für Sieyes’ „système représentatif“ kennzeichnend, dem das Prinzip ‚politischer‘ Repräsentation zugrunde liegt.589 Nach eigener Deklaration ist Sieyes’ System jedoch eben keine wahre und wahrhaftige Demokratie oder Republik – sondern eine falsche. (Zu 2.:) Missverstanden wäre das repräsentative System der Demokratie aber auch, wenn man es als System reiner unvermittelter Selbstdarstellung des Volkes begreifen würde – ohne jegliche Stellvertretung durch besondere Personen.590 Dem ist jedoch nicht so und darauf verweist das zweite Satzglied: Alle wahre Republik ist „ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) 589 590

Ausführlich hierzu: Duso 2006, 57 ff. So verstand Kant die Democratie noch in der Friedensschrift von 1795: als Herrschaftsform, in der sich das Volk in allen drei Gewalten „der Person nach“ selbst repräsentiert, AA 08: 351.21-353.18. Dass der Begriff „Democratie“ im ‚Staatsrecht‘ nun aber nicht mehr negativ, sondern positiv konnotiert ist, liegt an seiner Weiterbestimmung zu vorliegendem „repräs entative [n] System des Volks“. Damit trägt Kant – wenn wohl auch nicht primär, s. u. – dem Einwand Friedrich Schlegels (von 1796) Rechnung, einem der ersten Rezensenten der Friedensschrift, vgl. Schlegel 1966, insb. 17.

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ihre Rechte zu besorgen“ (Kursivdruck: M.W.). Rekurriert wird hiermit auf die traditionelle Terminologie der Repräsentation. Ihr zufolge ist die Fremdrepräsentation der Stellvertretung durch andere eine Repräsentation „im Namen desselben“; die Selbstrepräsentation hingegen eine Repräsentation „der Person nach“ (§ 52,3, Satz 2).591 Und um erstere geht es nun an vorliegender Stelle, – was indes die Notwendigkeit der Stellvertretung des Volkes als Souverän und Gesetzgeber suggeriert. Doch die legislative Repräsentation ist an diesem Punkt gerade nicht gemeint. Denn notwendigerweise passiv und „mit keiner Gewalt bekleidet“ muss das Volk im Rechtsvollzug sein, wenn ihm als bloßer Untertan das Seine zuerteilt wird, also wenn es darum geht, seine „Rechte zu besorgen“. Hier und allein hier kann das Volk nicht „selbstthätig“ sein, indem es „den Souverän selbst vorstellt“; allein hier muss es „passiv“ sein, „mit sich machen“ lassen (vgl. § 55,5). Das wurde im ersten Paragraphenblock explizit festgelegt und zwar in Form konstitutiver Anfangsgründe der Justiz (§ 49,3): „Das Volk richtet sich selbst“, allerdings nicht in persona, sondern „durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar für jeden Act besonders, dazu ernannt werden“; das Volk könne nur „durch seine von ihm selbst abgeordnete[n] Stellvertreter (die Jury), über jeden in demselben, obwohl nur mittelbar, richten“; „der Rechtsspruch (die Sentenz)“ sei „ein einzelner Act der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof) auf den Unterthan“, und zwar zu jenem Zweck, „ihm das Seine zuzuerkennen (zu ertheilen)“. Das (§ 49,3) ist die textimmanente Referenz vorliegender Stelle (§ 52,3), – welche zudem die einzige im ‚Staatsrecht‘ ist, in der von der Stellvertretung des Volkes qua Abordnung und Deputation in Souveränitätsund Gesetzgebungsangelegenheiten nicht abschätzig und polemisch gesprochen wird (s. o. (zur Allg. Anm., Kap. 2.3)). Von dieser Referenzstelle aus werde ich nun das zweite Satzglied lesen. Zum Überblick sei der Satz wieder vollständig zitiert:

591

Vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 16, 128: „to Personate, is to Act, or Represent himselfe, or an other; and he that acteth another, is said to beare his Person, or act in his name“, Kursivdruck: M.W.

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

„Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein re prä s ent ative s Syst em des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten) ihre Rechte zu besorgen“.

Meine Lektüre ist diese: Die Republik ist ein „repräsentatives Sys tem des Volks“, und als Staat hat dieses System den Zweck, „jedem Unterthanen sein Recht ertheilend [zu] sein“ (§ 48,2). Doch die Rechtebesorgung muss durch das Zusammenspiel der ausführenden und richterlichen Gewalt erfolgen (vgl. § 49,3, Satz 4), und zwar „im Namen“ des Volkes, „vermittelst“ seiner „Abgeordneten (Deputirten)“. Und das hat, so die Parenthese, unter einer Bedingung zu geschehen: „durch alle Staatsbürger vereinigt“. Freilich ist diese Bedingung nicht (allein) so zu verstehen, dass das Volk in seiner Rolle als Staatsbürger jene Abgeordneten deputiert. Denn als Staatsbürger sind die Menschen von Begriff her primär die „zur Gesetzgebung vereinigten Glieder […] eines Staats“ (§ 46,2, Kursivdruck: M.W.). Mit der Angabe „durch alle Staatsbürger vereinigt“ wird vielmehr die oberste Bedingung benannt, derzufolge die beiden ausführenden Gewalten den explizit genannten Staatsbürgern „ihre Rechte […] besorgen“. Denn das haben beide Gewalten „zu Folge“ und „nach dem Gesetz“ zu tun (§ 45,2). Genauer, sie haben es nach den Gesetzen zu tun, die darauf gründen, dass sich „alle Staatsbürger vereinigt“ haben, „zur Gesetzgebung“. Das aber kann nach allem, was im ‚Staatsrecht‘ bisher gesagt wurde, rechtmäßig nur von den einzelnen Staatsbürgern selbst („der Person nach“) erfolgen – „durch alle Staatsbürger vereinigt“ –, nicht aber in Stellvertretung („im Namen“ derselben). Schließlich wird mit dem in der Parenthese eingeschobenen Mittelglied – „durch alle Staatsbürger vereinigt“ – wieder auf den Stufenbau der demokratischen Staatsform rekurriert (Kursivdruck: M.W). Das Mittelglied ist dort nämlich mit der zentralen und ebenfalls mittleren Stufe des Systems dieser Staatsform zu identifizieren. Dieser zentralen Stufe zufolge sind die Willen der Staatsbürger „zu vereinigen, […] um ein gemeines Wesen zu bilden“ (Kursivdruck: M.W.). Der so gebildete Wille aber sei der souveräne Wille, der in der dritten Stufe „diesem gemeinen Wesen“ nur noch als „dieser vereinigte Wille“ vorgesetzt werden müsse. Nun soll das jedoch wie gesagt (unter Rückbesinnung auf § 49) nicht nur dadurch geschehen, dass das Volk „selbstthätig ist, und den Souverän selbst vorstellt“ (§ 55,5), also in

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Form der Repräsentation als Selbstdarstellung. Es habe eben auch „im Namen desselben […] vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputirten)“ stattzufinden, also in Form von Repräsentation als Stellvertretung. Mit anderen Worten, der vereinigte Wille des Volkes ist einer „in dreifacher Person“, wobei das Volk den souverän-gesetzgebenden Willen zum einen „der Person nach“ selbst betätigt, ihn aber zum anderen in seinem „Namen“ gegenüber sich selbst vollziehen lässt – „vermittelst“ seiner „Abgeordneten (Deputirten)“, die seine Rechte besorgen, indem sie ihm gegenüber den Souverän vorstellen, also das Volk gegenüber dem Volk repräsentieren. Man kann also festhalten: Auch dem zweiten Satzglied zufolge ist das „repräsentativ[e] System des Volks“ ein System der Unterordnung der Repräsentation als Fremddarstellung des Volkes („im Namen desselben“) unter die Repräsentation als Selbstdarstellung des Volkes („der Person nach“). Bisher haben das auch die zwei abweichenden Deutungsansätze des vorliegenden Schlüsselsatzes nicht berücksichtigt, die beide auf Ingeborg Maus zurückgehen: 592 Entweder wurde das repräsentative System (in Anschluss an die Friedensschrift) mit dem Stellvertretungskomplex der beiden ausführenden Gewalten (pars pro toto) identifiziert;593 oder das System wurde so gedeutet, dass die Glieder „durch alle Staatsbürger vereinigt“ und „vermittelst ihrer Abgeordneten“ zwei „gleichberechtigte Alternativen der Gesetzgebung“ angeben, und zwar in dem Sinn, dass diese entweder „nichtrepräsentati[v]“ („durch alle Staatsbürger vereinigt“) oder „repräsentati[v]“ („vermittelst ihrer Abgeordneten“) erfolgen könne 594. Übersehen wurde damit: Repräsentation kann nicht nur Stellvertretung und Fremddarstellung (Repräsentation „im Namen desselben“) heißen, sondern eben auch Selbstdarstellung (Repräsentation „der Person nach“). Doch letztere ist nicht nichtrepräsentativ. Vielmehr ist sie die oberste Bedingung des Systems koordinierter Repräsentation in jenem repräsentativen System des Volks, so der Schlüsselsatz. Das ist der entscheidende Punkt.

592

Maus erwägt diese Lesarten in der (zutreffenden) Annahme, der Schlüsselsatz sei „sehr viel weniger eindeutig, als die herrschende Interpretation annimmt“, 1992, 199. 593 Marey 2018, 574 f. im Anschluss an Maus 1992, 192-96. 594 Maus 1992, 199 f., vgl. auch Breitenband 2019, 85 f.

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Der restliche Text des ‚Staatsrechts‘ (der zweite Satz sowie der eingerückte Absatz) hat nun besagten (im zweiten Satz exponierten) Mechanismus zum Gegenstand, demzufolge der Übergang zur Volkssouveränität (in einer Republik) augenblicklich vollzogen ist, sobald „ein Staatsoberhaupt, der Person nach […] sich auch repräsentiren läßt“. Tritt letzterer Fall ein, „so repräsentirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“. Dass es sich hierbei jedoch um eine nichtrepräsentative Form der Volkssouveränität handelt und folglich auch um eine solche Form der Gesetzgebung, darauf hat wieder Ingeborg Maus hingewiesen: 595 Lese man den ersten Satz im Einklang mit der „herrschende[n] Interpretation“ als Ausspruch der Notwendigkeit der legislatorischen Stellvertretung des Volkes, so sei der zweite Satz zufolge dieser „ganz vernachlässigte[n] Aussage“ ein „gegenläufige[r] Folgesatz“. Klarer wird dieser Punkt noch, wenn man die Kantische Terminologie präziser interpretiert. Dass das Volk den Souverän nicht bloß repräsentiert, heißt nämlich nicht, dass es ihn nicht repräsentiert; es heißt, dass es den Souverän nicht nur repräsentiert, sondern ihn repräsentiert und zugleich der Souverän „ist“ – eben weil es der ursprüngliche Souverän ist, so die Begründung im zweiten Teilsatz. Genau diese Kombination von jemanden ‚repräsentieren‘ und diese repräsentierte Person zugleich selbst ‚sein‘ steht der Terminologie des neuzeitlichen Staatsdenkens zufolge jedoch für die Repräsentation authentischer Selbstdarstellung („der Person nach“), der die Repräsentation als Fremddarstellung („im Namen desselben“) entgegengesetzt ist. Genau das aber artikuliert die (in Anschluss an § 51 vorgetragene) Terminologie des vorliegenden § 52,3: Dem ‚bloß repräsentieren‘ und ‚nicht sein‘ korrespondiert die Fremd-Repräsentation („im Namen desselben); dem ‚nicht bloß repräsentieren‘, da zugleich ‚sein‘, hingegen die Selbst-Repräsentation („der Person nach“). Dieser Begrifflichkeit zufolge besagt der erste Teilsatz des zweiten Satzes eben dies: Eine unzulässige (da doppelte) Fremdrepräsentation beendet die Fremdrepräsentation des Volkes und führt instantan zur Selbstrepräsentation des Volkes als Souverän und Gesetzgeber. Der Gedanke, ein Fauxpas des alten Souveräns initiiere augenblicklich einen Übergang zu solch einer Form der Volkssouveränität ist bereits politisch radikal – so radikal, dass er selbst in einer erklär595

Maus 1992, 199 f.

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termaßen ‚radikaldemokratischen‘ Lektüre nicht ohne unmittelbar anschließende Abschwächung durch einen Rekurs auf die (vermeintliche) Ideenlehre Kants hingenommen werden kann 596. Der eigentliche (und eigentlich philosophische) Gedanke vorliegender Stelle ist jedoch ein anderer – und der ist (auch philosophisch) noch um einiges radikaler. Entfalten kann er sich jedoch erst, wenn man sich der Rhetorik des Textes zuwendet. Das rhetorische Mittel vorliegender Stelle sollte dem aufmerksamen Leser bereits bekannt sein, wenn er in seiner Lektüre bis zum letzten Absatz des Haupttextes gelangt ist. Es ist das für die Kantische Rhetorik charakteristische Mittel, gezielt Einklammerungen einzusetzen: Unter dem Schein und Deckmantel der Nachrangigkeit einer Einklammerung wird Wesentliches an einer Stelle gesagt, an der man es nicht vermuten würde. An vorliegendem Punkt wird das dadurch weiter verstärkt, dass die Einklammerung scheinbar nur Triviales enthält: die Darlegung, das in Rede stehende Staatsoberhaupt möge „König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der democratische Verein“ sein. Angesichts der Trias der Staatsformen in § 51 ist diese Ausführung überflüssig, im Sinnzusammenhang aber auch bedeutungslos – so scheint es. Nimmt man die Einklammerung jedoch beim Wort, so ist eine Prämisse der bisherigen Lektüre zu korrigieren, da sie sich dann als falsch erweist. Dafür die Stelle noch einmal im Wortlaut: „Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der democratische Verein) sich auch repräsentiren läßt, so repräs entirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“ (Kursivdruck: M.W.).

Worauf die bisherige Lektüre fußte, war die Annahme, dass es einer jener alten Souveräne ist, der (als Repräsentant des ursprünglich souveränen Volkes) den Fauxpas begehe, sich als Souverän auch repräsentieren zu lassen; und dies bewirke (zufolge dem Locke’schen Lehr- und Folgesatz) den Staatsformwechsel hin zur Republik oder Demokratie. Damit wurde angenommen, dass das Staatsoberhaupt der „König“ oder ferner der „Adelstand“ ist, nicht aber „die ganze Volkszahl, der democratische Verein“. Wenn der „democratische Verein“ (der Bürgerbund) nämlich bereits das „Staatsoberhaupt“ wäre, 596

Vgl. Maus 1992, 199 f.

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dann müsste folglich überhaupt kein Übergang mehr stattfinden. Die Republik wäre schon errichtet, der Übergang bereits vollzogen. Dass es sich nur um die alten Souveräne handelt, suggeriert nicht zuletzt auch das Anwendungsbeispiel im eingerückten Absatz: Louis XVI ist einer jener alten Souveräne, durch einen Fehltritt seiner Urteilskraft habe er den Übergang zur Demokratie initiiert. Es heißt aber trotzdem: Das Staatsoberhaupt „mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der democratische Verein“ (Kursivdruck: M.W.) – und das ist zuerst einmal verstörend. Doch welche Lektüre ergibt sich, wenn man den (Transformations-)Mechanismus auch auf „die ganze Volkszahl, de[n] democratische[n] Verein“ anwendet? Es ist eine recht simple. Dem Text zufolge greift in diesem Fall einfach derselbe Mechanismus wie im Fall der nicht-demokratischen Souveräne: Lässt sich das Volk als Staatsoberhaupt (als demokratischer Verein) „der Person nach“ repräsentieren, so fällt auch in diesem Fall die Souveränität augenblicklich auf das Volk selbst zurück; dann „repräsentirt das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“, und zwar „der Person nach“. Das Volk ist darum genötigt, sich in Souveränitätsangelegenheiten selbst zu repräsentieren und sich als Souverän und Gesetzgeber letztlich selbst darzustellen. Der Unterschied ist nur: Das Volk ist nicht nur „ein Staatsoberhaupt“ irgendeiner beliebigen Verfassung (Kursivdruck: M.W.), sondern das Staatsoberhaupt überhaupt („denn in ihm (dem Volk) befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt“, Teilsatz 2). Das ergibt zwei Lehrsätze, die zusammengenommen einen Anfangsgrund der Volkssouveränität bilden: den Satz von der Unmöglichkeit der Stellvertretung (Fremdrepräsentation) des Volkes als Souverän und Gesetzgeber einerseits sowie den Satz von der Notwendigkeit der Selbstdarstellung (Selbstrepräsentation) des Volkes als eben dieser Souverän und Gesetzgeber andererseits. Diese beiden Sätze sind wiederum zwei ‚Lehrsätze‘ des ›Contrat Social‹:597 „Que la souveraineté est inaliénable“; „le Souverain […] ne peut être représenté que par lui même“. Im ‚Staatsrecht‘ sind diese beiden Sätze schließlich lapidar im dritten Satz des eingerückten Absatzes zusammengefasst: „Das Recht der obersten Gesetzgebung im gemeinen Wesen ist kein veräußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht“. 597

Rousseau, Contrat Social, II, 1,Überschrift sowie 1,2.

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Einerseits kann das Souveränitätsrecht nicht delegiert werden, andererseits muss es „der Person nach“ ausgeübt werden; nur das Volk selbst und kein Anderer kann die Souveränität und Gesetzgebung ausüben.598 Appliziert man den vorliegenden Mechanismus also auf den „democratische[n] Verein“, so wird klar: Lockes Modell der (Volks-)Souveränität wird an vorliegender Stelle nur scheinbar zu einem Übergangsmechanismus zur Republik oder Demokratie weiterbestimmt. Vielmehr wird das Modell Locke gegen sich selbst gerichtet und auf diese Weise aufgelöst – in einer unumgänglichen Praxis (Kantisch-Rousseau’scher) Volkssouveränität. Das aus folgenden Gründen: Wenn das Staatsoberhaupt die ihm anvertraute Souveränität wiederum delegiert, so fällt sie Locke zufolge an das Volk zurück, das der ursprüngliche Souverän ist; doch nach der Kantischen Vorstellung ist es wiederum die reine praktische Vernunft, die dem Volk kraft seines Vermögens ursprünglich-erstursächlicher Freiheit und um dieses Vermögens willen die Souveränität „geheiligt und unabänderlich“ in seine Hände legt (s. o. (zu § 46,1, Kap. 2 sowie ferner zu § 47, 2.2 und 2.3)). Genau darum fällt die Souveränität schließlich immer dann auf das Volk zurück, wenn es sich als Staatsoberhaupt vertreten lassen will – also immer dann, wenn es die Souveränität in die Hände eines Anderen legt, wie „geheiligt und unabänderlich“ sie dort auch immer zu ruhen habe. Jeder Versuch, derart (qua ursprünglicher Gesetzgebung) die Staatsform festzulegen, muss darum augenblicklich scheitern. Deshalb erweist sich das Lockes Modell der (Volks-)Souveränität als staatsrechtlich und -technisch unmöglich. Mit der Auflösung dieses traditionell neuzeitlichen Modells ist auch die historische Praxis der Festlegung jener ‚alten‘ (nicht-demo598

Vgl. zur Terminologie („nach unserem Vernunftrecht“) auch RGV, AA 06: 72.11-22: „Diese ursprüngliche [...] Schuld, die auch dasjenige ist, was, und nichts mehr, wir unter dem radicale n Bösen verstanden […], kann aber auch, so viel wir nach unserem Vernunftrecht einsehen, nicht von einem andern getilgt werden; denn sie ist keine transmi ssible Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei ist, ob der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn bezahlt), auf einen andern übertragen werden kann, sondern die allerpersönlichste , nämlich eine Sündenschuld, die nur der Strafbare, nicht der Unschuldige, er mag auch noch so großmüthig sein, sie für jenen übernehmen zu wollen, tragen kann“, Kursivdruck: M.W.

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kratischen) Staatsformen als inkonsistent anzusehen. Schließlich wurde sie in den vorigen beiden Absätzen (§ 52,1 und 2) auf Basis des Locke’schen Modells gedacht. Darum muss nun auch rückblickend das dort thematisierte Übergangsproblem im buchstäblichen Sinn als gelöst angesehen werden: Das Volk kann seine Souveränität nicht in die Hände eines fremden Herrschers legen und muss darum jederzeit als der tatsächliche Souverän im Staat betrachtet werden – auch dem Buchstaben nach (was bereits im ersten Absatz durchklang). Darum hat es jener ‚alte‘ freiheitsliebende Souverän letztlich genauso wenig nötig, einen Übergang zur „Democratie“ oder „Republik“ einzuleiten, wie das Volk selbst es nicht nötig hat, diesen Übergang in gewalttätigen Widerstandshandlungen zu initiieren. Beides ist überflüssig, weil die Praxis der Volkssouveränität ‚alternativlos‘ ist: Kraft seiner ursprünglichen Freiheit „ist“ das Volk immer „dieser [Souverän] selbst“. Rückblickend macht es darum auch Sinn, dass die demokratische Verfassung als die „einzige bleibende“ bestimmt wurde (in § 52,2, Satz 3). Denn das ist sie nun ebenfalls ganz buchstäblich. Vom Standpunkt der Freiheit aus war sie schon immer in Kraft und wird es auch immer sein – so lange es menschliche Freiheit gibt. Aus der Thematisierung des Locke’schen Modells der (Volks-)Souveränität als Modell der Festlegung jener ‚alten‘ nicht-demokratischen Staatsformen im vorangehenden Text ging aber auch hervor: Das Interesse, welches das Kantische ‚Staatsrecht‘ an diesem Modell nimmt, ist nicht bloß ein ideengeschichtliches, sondern ein genuin freiheitsrechtliches. Denn allein im Rahmen dieses Modells lässt sich denken, wie aus Freiheit in einem Akt ursprünglicher Volksgesetzgebung eine Form der Herrschaft positivrechtlich errichtet wird, die genau diese Freiheit verneint, und zwar durch die Statuierung des Prinzips legislativer Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation. Vom Standpunkt der Freiheit aus lässt es sich nämlich nur auf Basis dieses Prinzips denken, dass eine fremde Person in letzter Instanz den Willen einer anderen bestimmt, wofür diese fremde Person deren Freiheitswürde in ihrem Willen zu absorbieren hat. Zum einen liegt genau dieses Prinzip (expressis verbis) dem Locke’schen Modell zugrunde,599 zum anderen wird aber auch das moderne Prinzip der Repräsentation einerseits sowie das Locke’sche Modell andererseits an vorliegender Stelle des Haupttextes in seiner Unmöglichkeit er599

Locke, Second Treatise, § 134, einschließlich Fn.

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kenntlich gemacht. Denn der hier einsehbare Anfangsgrund der Volkssouveränität besagt: Das Volk kann sich in Souveränitäts- und Gesetzgebungsangelegenheiten, also in Angelegenheiten letztinstanzlicher Selbstbestimmung, nicht durch eine andere Person repräsentieren lassen, sondern muss dies unumgänglich selbst tun, „der Person nach“ – es „ist“ der Souverän. Im Gesichtspunkt, das Volk sei jederzeit der tatsächliche Souverän im Staat, artikuliert sich nun aber wieder die Konfliktlinie der vorigen beiden Absätze, die in vorliegender Passage abgelöst zu sein schien von der gegenläufigen. Ist das Volk nämlich auch in (scheinbar) nicht-demokratischen Verhältnissen der eigentliche Souverän, so kann es nicht als Opfer der Willkür jener ‚alten‘ Herrscher angesehen werden; in letzter Instanz ist es selbst für die politischen Verhältnisse verantwortlich. Nichts anderes besagt das Locke’sche Modell, welches der gesamten Passage zugrunde liegt. Ihm zufolge ist das Volk schließlich die souveräne Instanz, welche die Staatsform festlegt. Und das allein ist wiederum die Grundlage, dass der staatsrechtliche Mechanismus überhaupt greifen kann, demzufolge die Gewalt des fremden Souveräns im Fall der Begehung jenes Fauxpas auf das Volk zurückfällt. Mit Ulrich Thiele: Kein Mandatsbruch ohne Mandat (s. o.). Entsprechend ist nun auch der dritte Teilsatz des zweiten Satzes neu zu lesen, der noch einmal zitiert sei: „die nunmehr errichtete Republik hat nun nicht mehr nöthig, die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen, und sie denen wieder zu übergeben, die sie vorher geführt hatten, und die nun alle neue Anordnungen durch absolute Willkühr wieder vernichten könnten“.

Zuerst einmal ist festzustellen, dass sich die dort artikulierte Zeitstruktur aufheben muss, deutet man die beiden ersten Teilsätze als Darlegung der ‚Lehrsätze‘ von der Unmöglichkeit der Stellvertretung in Angelegenheiten legislativer Volkssouveränität einerseits und der Notwendigkeit der Selbstdarstellung des Volkes in ebendieser Angelegenheit andererseits. Denn streng genommen ist die Rede von der „nunmehr errichtete[n] Republik“ falsch (Kursivdruck: M.W.). Der im ersten Teilsatz dargelegte Transformationsmechanismus greift schließlich zwangsläufig bei jedem Versuch, eine andere

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form als diejenige einer reinen Republik zu errichten. Neu zu lesen ist darum auch der Hinweis, diese „nunmehr errichtete Republik“ habe „nun nicht mehr nöthig“, die Kompetenz wieder zurückzugeben, die Regierung zu kontrollieren, womit die alten Herrscher „alle neue[n] Anordnungen durch absolute Willkühr wieder vernichten könnten“. Vom Standpunkt der Volkssouveränität aus kann das nicht nötig haben nämlich nur so verstanden werden, dass es unter der Würde des souveränen Volkes ist, diese Souveränität überhaupt delegieren zu wollen – an besondere Personen, die alle freiheitsrechtlichen „Anordnungen durch absolute Willkühr wieder vernichten könnten“. Damit ist nun freilich die historische Problematik nicht geleugnet, derzufolge der alte Souverän in absoluter Willkür „seine Unterthanen […] in den Krieg, wie auf eine Jagd, und zu einer Feldschlacht, wie auf eine Lustpartie“ führt (§ 55,3, Kursivdruck: M.W., s. o.). Doch die Problematik ist praktisch genommen im Gesichtspunkt der Freiheit aufzuheben: So etwas (jenes „Ausland“ und „Elend“) zu wollen, hat das Volk grundsätzlich nicht nötig und im Hier und Jetzt eben „nun nicht mehr nöthig“; jetzt hat es die Gelegenheit, sein Wollen zu korrigieren. Und auf diesen Standpunkt im Hier und Jetzt kommt es schließlich in der Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts primär an.

3.3.2 Zum eingerückten Absatz Doch was ist mit dem repräsentativen System Frankreichs? Diese Frage ist unumgänglich, ist man einmal so weit gekommen und hat den (Transformations-)Mechanismus im Haupttext auch auf den „democratische[n] Verein“ angewandt. Muss nicht auch dann die Souveränität automatisch auf das Volk zurückfallen, wenn es sich als Souverän und Gesetzgeber durch parlamentarische Abgeordnete und Deputierte repräsentieren lässt? Nun ist es unbestreitbar, dass der eingerückte Absatz in seinem ersten Teil (Sätze 1 und 2) den (Transformations-)Mechanismus auf den Fall der Einberufung der Generalstände durch Louis XVI anwendet und dabei allem Anschein nach auch die französische Republik mit jener „nunmehr errichtete[n]“ Republik des Haupttextes identifiziert. Zudem scheint der letzte Teil (Sätze 3-5) das ‚Bleiberecht‘ dieser Republik zu begründen. So gelesen wäre eine parlamentarisch-repräsentative Demokratie doch eine „wahre

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blik“. Dass dem jedoch nicht so ist und das repräsentative System Frankreichs stattdessen fundamental kritisiert werden muss, das ist die eigentliche Spitze der abschließenden Passage des ‚Staatsrechts‘. Die Lektüre der exoterischen Darstellungsebene gründete ihre Konsistenz auf der Annahme der thematischen Homogenität der beiden abschließenden Absätze. Diese Homogenität suggerierte der Text: Hier gehe es durchgehend um das repräsentative System Frankreichs, die Notwendigkeit dieses Systems, sowie um die Möglichkeit, es ad hoc zu konstituieren. Bei genauerem Blick auf den Verlauf der Absätze zeigt sich jedoch, dass die thematische Einheitlichkeit in gewisser Weise ‚durchschossen‘ ist. So suggeriert der erste Satz des dritten Absatzes (im Haupttext), das in Rede stehende repräsentative System sei das französische. Doch der zu Beginn des zweiten Satzes dargelegte (Transformations-)Mechanismus ist so allgemein gehalten, dass er im Zuge der Applikation auf den „democratische[n] Verein“ zu jenen zwei allgemeinen Lehrsätzen führt: dem Satz von der Unmöglichkeit der Stellvertretung des Volkes als Souverän und Gesetzgeber sowie demjenigen von der Notwendigkeit der Selbst-Repräsentation des Volkes in genau dieser Rolle. Dabei richtet sich die Stoßseite dieser Grundsätze zuerst einmal gegen die allgemeine staatsrechtliche Form, aus deren (liquidierender) Weiterbestimmung er hergeleitet wurde: das Locke’sche Modell der (Volks-)Souveränität. Doch anzuwenden ist dieser Satz auch auf die (verfassungsrechtlich bedeutsame) Weiterbestimmung des Modells durch Sieyes, auf die der Text offensichtlich hindeutet – und damit auch auf den besonderen, doch welthistorisch bedeutsamen Fall des französischen Systems. Nimmt man diese Anwendung vor, erweist sich auch die Unmöglichkeit dieses Systems: Sieyes’ „système représentatif“ ist eben keine wahre Republik, sondern eine falsche (s. o.). Dieselbe Struktur ist im letzten, abgesetzten Absatz ins Werk gesetzt. In den ersten beiden Sätzen ist dort tatsächlich vom besonderen Fall Frankreichs die Rede und diese Rede scheint auch wieder affirmativ zu sein. Darin könnte man das letzte Wort des ‚Staatsrechts‘ sehen. Doch der Absatz ist offensichtlich zweigeteilt, und zwar durch seinen Stil: Die ersten beiden Sätze präsentieren jene Applikation auf das Fallbeispiel, die letzten drei stellen in Abstraktion von genau diesem Fallbeispiel lediglich drei allgemeine staatsrechtlichen Sätze auf. Diese sind nur aneinandergereiht, ohne dass Signalwörter auf einen

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nen oder externen Begründungszusammenhang hinweisen. Dabei suggeriert der Textzusammenhang stark, diese drei Sätze als Begründung für die zuvor am Fallbeispiel dargelegte Rechtsposition zu lesen. Ihr zufolge habe es die repräsentative Republik Frankreichs nicht nötig, die einmal erlangte Souveränität zurückzugeben. Diese Lektüre ist immerhin möglich (vgl. Kap. 3.1). Dass sie möglich ist, heißt jedoch noch lange nicht, dass sie zwingend ist. Die abschließenden drei Sätze lassen sich nämlich auch als allgemein gehaltene Begründung dafür lesen, warum sich das Volk in Souveränitäts- und Gesetzgebungsangelegenheiten nicht repräsentieren lassen kann und folglich den Souverän selbst („der Person nach“) darstellen muss – man kann besagte Sätze eben auch als Ablehnung des französischen Modells repräsentativer Demokratie lesen. Ermöglicht wird diese Lektüre durch die lapidare Diktion sowie die abstrakt und allgemein gehaltene Formulierung. Ob man den Text allerdings so liest, wird freilich dem Leser überlassen, dem es letztlich obliegt, das dem Text eingeschriebene rhetorisch-philosophische Programm zu entfalten. Dass dieses Programm aber vorhanden ist und sich auf die soeben skizzierte Weise tatsächlich ‚aktivieren‘ lässt, werde ich in der folgenden Lektüre der letzten drei Sätze (3-5) darlegen. (Zu Satz 3:) Weil die letzten drei Sätze ohne den Hinweis auf eine etwaige Verbindung untereinander aufgestellt werden, ist es zuerst einmal angebracht, sie isoliert je für sich zu lesen. Darum ist im ersten dieser drei Sätze (Satz 3) die eindeutige Anspielung auf Rousseaus Behauptung von der Unveräußerlichkeit der (Volks-)Souveränität („Que la souveraineté est inaliénable“)600 vorerst beim Wort zu nehmen: „Das Recht der obersten Gesetzgebung im gemeinen Wesen ist kein veräußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht“.

Im Kontext des Kantischen ‚Staatsrechts‘ lässt sich die vorliegende (zweigliedrige) Behauptung wiederum als Rekurs auf den Begründungszusammenhang der Volkssouveränität deuten. Denn: Unveräußerlich ist das Souveränitätsrecht für das Volk – in welchem sich (dem vorigen Absatz zufolge) „ursprünglich“ die oberste Gewalt „befin600

Rousseau, Contrat Social, I, 1, Überschrift.

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det“ (§ 52,3, Satz 2), – weil es im Fall der Entäußerung dieses Rechts an eine fremde (äußere) Person seine Freiheit und Würde aufgeben müsste. Das wiederum wäre notwendig, damit diese Person seinen Willen als Souverän überhaupt in letzter Instanz bestimmen könnte. Und darum ist dieses Recht schließlich nicht nur „kein veräußerliches, sondern das allerpersönlichste Recht“ (Kursivdruck: M.W.). Denn im Zuge solch einer Delegation der „Freiheit überhaupt“ (§ 47), verstanden als Vermögen letztinstanzlicher Willensbestimmung, würde das Volk sich wie gesagt in eine Abhängigkeit begeben, wodurch es aufhören würde, Person zu sein; es wäre fortan nicht nur Untertan, sondern vielmehr auch Sklave („servus in sensu stricto“), die Menschen wären „ohne Persönlichkeit“ (vgl. Allg. Anm. D,4 sowie ERL, AB 50). Doch dieser Verlust der (Freiheits-)Persönlichkeit soll, so der Gedanke der Volkssouveränität, durch eine selbstverantwortlich-persönliche Ausübung der Souveränität („der Person nach“, § 52,3, Satz 2) vermieden werden, und zwar in einer öffentlichen Praxis der Behauptung und Betätigung der Freiheitswürde (s. o. (zu § 46,1)). Darum ist das Recht dazu „das allerpersönlichste Recht“. (Zu Satz 4:) Allerdings scheint der vierte Satz genau diese Rousseau’sche Position zu revidieren, indem er sie in der Locke’schen auflöst: „Wer es hat [das „Recht der obersten Gesetzgebung“], kann nur durch den Gesammtwillen des Volks über das Volk, aber nicht über den Gesammtwillen selbst, der der Urgrund aller öffentlichen Verträge ist, disponiren“.

Offenbar kann das Volk sein Souveränitätsrecht also doch an beliebige andere Personen delegieren (veräußern), obgleich es in deren Händen dann „geheiligt und unveräußerlich“ zu liegen habe – als unveräußerliches und allerpersönlichstes Recht. Darum scheint die Interpretation des dritten Satzes vom vierten aus rückwirkend korrigiert werden zu müssen – so die erste Lektüre. Das Verhältnis der beiden Sätze lässt sich aber auch anders lesen. Denn die Rede vom „Recht der obersten Gesetzgebung“ ist doppeldeutig: Zum einen kann sie jenes Recht des Volkes bezeichnen, die ursprüngliche Souveränität selbst auszuüben, zum anderen aber auch das von dieser Souveränität und Gesetzgebung abgeleitete Recht, von dem sowohl im vorigen Absatz im Haupttext (Satz 2, Teilsatz 2), als auch im vorliegenden eingerückten Absatz (Satz 2) bereits die Rede

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war. Denn: Vom Volk, in welchem sich „ursprünglich“ die oberste Gewalt „befindet“, müssten „alle Rechte der Einzelnen, als bloßer Unterthanen, (allenfalls als Staatsbeamten) abgeleitet werden“ (§ 52,3, Satz 2, Teilsatz 2); dem gesetzgebenden Willen des Volkes sei nach besagtem (tatsächlich aber nur scheinbarem) Souveränitätstransfer „das Mein und Dein jedes Unterthans unterworfen“; das Volk habe nun nicht mehr nötig, „die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen“ (§ 52,3, Satz 2, Teilsatz 3). In Anknüpfung hieran kann man den vorliegenden vierten Satz wie folgt lesen: Der Regent (die Regierung (s. o. (zu § 49,1))), dem genau dieses Recht zukommt – wer immer dieser Regent auch sein mag – vermag kraft diesen Rechts nicht über den gesetzgebenden Willen des Volkes selbst zu disponieren. Dann wäre er ein despotischer, da zugleich gesetzgebender Regent. Stattdessen kann er nur auf Basis dieses gesetzgebenden Willens („zu Folge“ und „nach dem Gesetz“ (§ 45,2)) über das Volk (als Menge der Untertanen) verfügen. So gelesen besteht zwar ein Sprung zwischen dem dritten und vierten Satz, doch die Konsistenz der Lektüre wird dadurch nicht gefährdet. Das hingegen geschieht, wenn man den Satz als Ausdruck der Locke’schen Philosophie der (Volks-)Souveränität liest – gegen die sich der vorige Absatz doch sehr deutlich wendete, obgleich kaschiert. Letztlich kommt diese Sprunghaftigkeit aber auch durch die lapidare und verbindungslose Diktion der letzten drei Sätze zur Darstellung. (Zu Satz 5:) Einen Sprung hatte auch die erste Lektüre der exoterischen Darstellungsebene des Textes zu verzeichnen: vom (Locke’schen) Stellvertreter-Souverän im vierten Satz zum Volk im fünften und letzten. Dieser Sprung wird in der Alternativlektüre nun einer vom Regenten zum Volk. Zur Übersicht sei der abschließende Satz noch einmal zitiert: „Ein Vertrag, der das Volk verpflichtete, seine Gewalt wiederum zurückzugeben, würde demselben nicht als gesetzgebender Macht zustehen, und doch das Volk verbinden, welches nach dem Satze: Niemand kann zweien Herren dienen, ein Widerspruch ist“.

Dem Satz zufolge ist also ein (Rück-)Übertragungsvertrag, durch welchen das Volk seine Souveränität delegieren würde, „ein Widerspruch“ und folglich „an sich selbst null und nichtig“ (Satz 2). Denn

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dadurch würde das Volk zwei widerstreitende Verbindlichkeiten konstituieren, die es praktisch unmöglich erfüllen könnte. Dafür wird die Bibelstelle „Niemand kann zweien Herren dienen“ angeführt (Matthäus 6,24). Notwendig ist die Alternativlektüre des Satzes schließlich, da die erste Lektüre nicht erklären kann, was grundsätzlich gegen solch eine (Rück-)Übertragung an die alten Souveräne spricht. Warum steht sie dem Volk „als gesetzgebender Macht“ nicht zu (erste (negative) Verbindlichkeit)? Wäre das Locke’sche Modell noch in Geltung, was der vorige Satz immerhin suggeriert, könnte das Volk diese Gewalt (als pouvoir constituant) eben problemlos in die Hände einer Person seiner Wahl legen – und darum auch „wiederum zurück[geben]“. Dagegen ist der Sinn dieser ersten, negativen Verbindlichkeit unmittelbar einleuchtend, versteht man sie als Rekapitulation des mit dem dritten Satz vorgelegten Rousseau’schen ‚Lehrsatzes‘ von der Unveräußerlickeit der (Volks-)Souveränität: „Das Recht der obersten Gesetzgebung im gemeinen Wesen ist kein veräußerliches […] Recht“. Denn da im Fall solch einer (Rück-)Übertragung das Volk mit der Delegation seiner ursprünglichen Souveränität eigentlich auch seine Freiheit und Würde aufgeben müsste, steht ihm solch ein (Vertrags-)Akt auch „als gesetzgebender Macht“ (als Souverän) nicht zu, auch wenn sein souverän-gesetzgebender Wille „der Urgrund aller öffentlichen Verträge ist“ (Satz 4). Unter diesem Gesichtspunkt muss die Rede vom „wiederum zurückgeben“ schlicht als entäußern, von sich geben, oder delegieren gelesen werden – die Zeitstruktur ist in der zweiten Lektüre wie gesagt vom Gesichtspunkt der Logik permanenter Volkssouveränität aus aufzuheben, die im vorigen Absatz entfaltet wurde. Allerdings erklärt der Rückgang auf den Begründungszusammenhang der Volkssouveränität auch, um welche Logik es sich hierbei genau handelt: Es ist diejenige der Freiheit selbst. Denn der Grund für Unmöglichkeit der Entäußerung des ursprünglich souveränen Willens ist die Unveräußerlichkeit der Freiheit selbst als Vermögen ursprünglich-erstursächlicher Kausalität und letztinstanzlicher Selbstbestimmung, die im Zuge solch einer Entäußerung stattzufinden hätte. So verweist der vorliegende Absatz schließlich wortwörtlich auf § 30,3 des Privatrechts zurück, wo es hieß: „ein Vertrag aber, durch den ein Theil zum Vortheil des Anderen auf seine ganze Freiheit Verzicht thut, mithin aufhört, eine Person zu sein, folglich auch keine Pflicht hat, einen Vertrag zu halten,

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sondern nur Gewalt anerkennt, [ist] in sich selbst widersprechend, d. i. null und nichtig“ (Kursivdruck: M.W.). Das ist der ausschlaggebende Grund, weshalb das Volk zum einen seine (ursprüngliche) Gewalt nicht zurückgeben und auch grundsätzlich nicht von sich geben kann, zum anderen aber sofort wieder der Souverän „ist“, sobald es dies versucht (§ 52,3). Denn der damit einhergehende Freiheitsverzicht ist als solcher praktisch unmöglich – die ursprüngliche Freiheit ist unveräußerlich – und darum „ist“ das Volk schließlich auch jederzeit „dieser [Souverän] selbst“ (§ 52,3). Streng genommen reicht diese „Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt“ (§ 52,2) allein aus, um den fraglichen (Rück-)Übertragungsvertrag als „null und nichtig“ zu erklären. Doch weshalb wird dann an vorliegender Stelle der (praktisch-performative) Widerspruch zweier Verbindlichkeiten angeführt? An diesem Punkt ist in der Textinterpretation ein letztes Mal auf den genuin praktischen Standpunkt eines Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts zurückzugehen. Was im letzten Satz nämlich artikuliert wird, ist nicht nur eine Begründung für die Unmöglichkeit eines (Rück-)Übertragungsvertrags. Vielmehr wird dargelegt, in welche praktische Situation sich das Volk versetzt, versucht es, die ihm zukommende Kompetenz der Souveränität und Gesetzgebung durch einen Akt ebendieser Souveränität und Gesetzgebung „der Person nach“ zu delegieren. Die Aufklärung über diese praktische Situation ist das eigentliche letzte Wort des ‚Staatsrechts‘: In welches „rechtlich[e] Verhältni[s]“ sich die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts als „Bürger“ kraft ihrer (Volks-)Souveränität begeben, wenn sie die Ausübung ebendieser (Volks-)Souveränität delegieren wollen (im Willen zum „Ausland“). Das wird abschließend dargelegt. Der praktische Widerspruch besteht darin: Einerseits schafft das Volk eine faktische Verbindlichkeit, die positivrechtliche Geltung hat, wenn es im Gebrauch seiner Souveränität und Gesetzgebung ebendiese an Stellvertreter delegiert, welche sie auszuüben haben. Deren souverän-überlegenem Willen ist nun Gehorsam zu leisten, und dafür muss dieser Wille vom Volk in letzter Instanz als der eigene anerkennt werden. Doch genau solch eine Verbindlichkeit ist andererseits vom Standpunkt der Freiheit (reiner praktischer Vernunft) aus eben als „null und nichtig“ anzusehen. Denn zum einen besteht besagte Verbindlichkeit in einem Akt, sich des Gebrauchs der „Freiheit überhaupt“ (als Vermögen letztinstanzlicher Selbstbestimmung)

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gen zu wollen. Darum ist der Delegationsversuch vom Gesichtspunkt dieser Freiheit selbst als „null und nichtig“ zu erklären. Zum anderen ist die faktische Verbindlichkeit aber auch als Pseudo-Verbindlichkeit zu entlarven, weil sie nicht Ausdruck eines kategorischen Imperativs ist, was nach dem Kantischen Begriff einer Verbindlichkeit unabdingbar ist (vgl. EMdS IV, AB 20). Der Einspruch hiergegen kann allerdings nur aus der Defensive erfolgen, als (Re-)Aktion: artikuliert als „Geist jenes ursprünglichen Vertrages“, der trotzdem die tatsächliche „Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt“ enthält (§ 52,2, Satz 2). Doch letztlich ändert dieser Einspruch der reinen praktischen Vernunft nichts daran, dass es faktisch gefordert ist, den Willen des Stellvertreter-Souveräns in letzter Instanz als souveränen Volkswillen anzuerkennen und zwar mit der Willenskraft ursprünglicher Volkssouveränität. Das ist die praktische Situation, in die sich die Staatsbürger selbst begeben haben: Schließlich wollen sie sich in jener Angelegenheit der Souveränität und Gesetzgebung „der Person nach“ vertreten lassen – obwohl ihnen selbst durch das Postulat des öffentlichen Rechts und die reine praktische Vernunft, mithin durch ihren eigenen Willen, die öffentlich-rechtliche Ausübung dieser Kompetenz als allerpersönlichste Pflicht zukommt. Das Stichwort lautet also double bind: Delegiert das Volk seine Kompetenz der Souveränität und Gesetzgebung, so etabliert es eine doppelte Verbindlichkeit, eine Doppelverpflichtung. Damit legt das ‚Staatsrecht‘ in seinem letzten Satz die Problemstruktur der öffentlich-rechtlichen Praxis offen, die für jede staatliche Herrschaft konstitutiv ist, welche auf dem Hobbes’schen Prinzip der legislativen Repräsentation des souveränen Volkes qua ‚politischer‘ Autorisation basiert. Doch diese Problemstruktur ist eben auch die Struktur des Verfassungsproblems des repräsentativen Systems Frankreichs, das in seiner welthistorischen Bedeutsamkeit zugleich allegorisch auf das Verfassungsproblem der repräsentativen Demokratie hindeutet – und somit auf das Zeitalter der modernen Demokratie. Weil die abschließende Passage des ‚Staatsrechts‘ den Blick nun eindeutig auf dieses repräsentative System gewendet wissen will, ist davon auszugehen, dass die abschließend in Rede stehende Doppelverpflichtung vor allem die Logik genau dieses – und eben auch unseres – repräsentativen Systems zur Darstellung bringen soll. Doch dessen Logik ist eine irrationale, da praktisch nicht zu erfüllende: „Niemand kann zweien Herren dienen“.

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Am Endpunkt des ‚Staatsrechts‘ steht aber auch fest, dass die zwei widerstreitenden Verbindlichkeiten beide im souveränen Willen des Volkes und seinem (ursprünglich-erstursächlichen) Freiheitsgebrauch entspringen. Allein in der doppelten Selbstverpflichtung dieses Willens gründet die doppelte Verbindlichkeit: Einerseits verneint das Volk seine Freiheit und Autonomie, wenn es den letztinstanzlichen Gebrauch dieser Freiheit und damit die Freiheit selbst von sich geben möchte – das ist jener Wille zum innerstaatlichen „Ausland“ und „Elend“ (s. o. (zu § 50 sowie zu § 52,1 und 2)). Andererseits bejaht es die Freiheit aber auch, wenn es dagegen den Gesichtspunkt letztinstanzlicher Selbstbestimmung geltend macht und den Versuch einer solchen Delegation als „null und nichtig“ erklärt – im Willen zum „Vaterland“ der Volkssouveränität. Damit ist aber auch die öffentlich-rechtliche Konfliktlinie klar: Das Volk trägt die Verantwortung für die öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und damit auch für die double bind-Problematik – nicht aber die faktischen (Stellvertreter-)Souveräne, sei es der Monarch, sei es die parlamentarische Körperschaft. Das letzte Wort des ‚Staatsrechts‘ zum repräsentativen System Frankreichs, und damit auch zu jeder modernen repräsentativen Demokratie, ist allerdings folgendes: Aufgrund der irrationalen Struktur dieses Systems ist es inkonsistent und instabil – und muss sich notwendigerweise auflösen, einseitig, hin zu einer öffentlichen Praxis ‚nichtrepräsentativer‘ Volkssouveränität. Denn vom Standpunkt der Freiheit aus kann das Volk aufgrund eben dieser ursprünglichen und undelegierbaren Freiheit keinem fremden souveränen Willen Gehorsam leisten, sondern immer nur sich selbst. Die Ausübung der Rousseau’schen Volkssouveränität in einem „Vaterland“ gemeinsamer Staatsbürgerschaft ist alternativlos; jenes innerstaatliche „Ausland“ und „Elend“ gibt es streng genommen gar nicht. Denn: Sobald sich das Volk als Souverän und Gesetzgeber vertreten lassen will, fällt diese Souveränität augenblicklich auf es selbst zurück. Es „repräsentirt“ dann „nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“ – allerorts und jederzeit.

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Rückblick auf den zweiten Paragraphenblock (§§ 50-52) Im Rückblick auf den zweiten Paragraphenblock widme ich mich vorrangig der Frage, wie die abschließenden §§ 50-52 die gemeinsame Überschrift realisieren, unter der alle drei Paragraphen gleichermaßen stehen. „Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“ handeln die §§ 50-52 schließlich auf sehr komplexe Art und Weise. Zuerst einmal leitet § 50 mit den Begriffen „Vaterland“ und „Ausland“ weniger das Völkerrecht ein; vielmehr exponiert er primär die Begrifflichkeit, in der die staatsrechtliche Problematik der folgenden §§ 51 und 52 zu denken ist, auch wenn die Worte „Vaterland“ und „Ausland“ dort nicht mehr fallen. Genauer: Was das „Land“ eines „Bürgers“ für ihn entweder zu einem „Vaterland“ oder „Ausland“ macht, ist § 50 zufolge das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer „Bedingung“, und diese „Bedingung“ ist die verfassungsrechtliche Garantie der Staatsbürgerschaft. Sie ermöglicht ihm, als „Staatsbürger (cives)“ Mitglied der souveränen Willensgemeinschaft („civitas“) zu sein und sich dadurch in letzter Instanz selbst zu bestimmen, auch und insbesondere als Untertan, der unter einer Herrschergewalt steht, die ihm überlegen ist (vgl. § 46,2). Das charakterisiert das „Vaterland“ der Volkssouveränität. Wenn einem Menschen diese „Bedingung“ jedoch nicht nur im buchstäblich-völkerrechtlichem Ausland verwehrt bleibt, sondern auch in seinem Heimatland, dann ist er selbst dort in der Fremde, er ist heimatlos – oder in jenem „Ausland“ (des § 50). Denn: In einem (dann nur vermeintlichem) Staat bloßer Untertan, nicht aber „Untertha[n] als Staatsbürger “ (§ 51) zu sein, heißt nach Kantischem, aber auch altrömischem Verständnis, überhaupt keine Person mehr oder eben Sklave zu sein. Man soll sich dann nämlich nicht mehr in letzter Instanz selbst bestimmen können. So weist § 50 auch nicht zufällig darauf hin, dass das „Ausland überhaupt […] in der altdeutschen Sprache Elend genannt“ wurde: Entzieht der Souverän dem Bürger seine Staatsbürgerwürde, kraft der er an der allgemeinen Staatswürde aktiv partizipieren kann, so raubt er ihm zugleich seine Freiheitswürde und versetzt ihn somit in die Fremde und ins Elend – oder in besagtes „Ausland“. Das rechtliche Verhältnis des Bürgers zu diesem „Ausland“ verzeichnet somit eine Rechtsverletzung. Vom Standpunkt der

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gung des Postulats des öffentlichen Rechts legt das wiederum die Frage nach einer verfassungskonstituierenden Übergangshandlung nahe, welche ein „Ausland“ nicht-demokratischer Herrschaft zu einem „Vaterland“ der Volkssouveränität transformiert, in dem die für das „Vaterland“ konstitutive „Bedingung“ konstitutionell verbürgter Staatsbürgerschaft realisiert ist. Davon handeln die auf § 50 folgenden §§ 51 und 52. Im letzten § 52 ist das ganz offensichtlich, doch auch § 51 lässt sich problemlos vom Gesichtspunkt der gemeinsamen Überschrift aus lesen. Vielmehr springt dann sogar der Hauptpunkt der dortigen Diskussion über die drei Staatsformen mit aller Deutlichkeit ins Auge: „Unterthanen als Staatsbürger “ gibt es nur in der demokratischen Staatsform, weshalb diese auch die einzige ist, die sich vernunftrechtlich qualifiziert, fragt man, „was das Recht selbst anlangt“ (§ 51, Satz 7). Denn allein die demokratische Staatsform institutionalisiert die „Bedingung“ konstitutionell verbürgter Staatsbürgerschaft, welche ein „Land“ zu einem „Vaterland“ macht; alle anderen Staatsformen müssen dagegen in Ermangelung dieser „Bedingung“ notwendigerweise Formen der Entrechtung und Entwürdigung sein, die das „Land“ für den in ihm beheimateten Bürger zu einem „Ausland“ machen, das durchaus „Elend“ genannt werden kann. Vom Gesichtspunkt der Überschrift aus betrachtet ergibt es zudem Sinn, weshalb § 51 auf der exoterischen Darstellungsebene suggeriert, alle drei Staatsformen seien gleichwertig, weil die Herrschaft in allen dreien auf dem Hobbes ’schen Prinzip der Repräsentation gründe. Nach Auskunft der neuzeitlichen Staatslehre vor Rousseau basiert die Souveränität (höchste Überlegenheit) der Herrschergewalt nämlich auf genau diesem Prinzip. Um über die Menschen in letzter Instanz herrschen zu können, muss der souveräne Wille die Ansprüche der Einzelwillen auf letztinstanzliche Selbstbestimmung (und damit ihre Freiheitswürde) in seinem souverän-überlegenen Willen (seiner Staatswürde) absorbieren, was ihm das Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation staatstechnisch ermöglicht. Der gewollte Effekt ist hier die Übertragung und zugleich Absorption der Freiheitswürde der Untertanen. Doch dieser Effekt kennzeichnet nach Kantischem Verständnis die Sklaverei, auf deren staatsrechtliche Entsprechung mit § 50 der Begriff „Ausland“ (im Sinn von „Elend“) hindeutet. Diese Problemperspektive eröffnet wiederum die Sicht auf das

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Zweiter Paragraphenblock (§§ 50-52)

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gentliche Projekt des § 51, dessen Ergebnis überraschenderweise die Bestimmung der demokratischen Staatsform als „repräsentatives System des Volks“ ist – und zwar als genau das „repräsentativ[e] System des Volks“, von dem im finalen § 52 die Rede ist. Denn was in § 51 tatsächlich geschieht, ist Folgendes: Der historisch gegebene Begriff der modernen staatsrechtlichen Repräsentation, der auf der exoterischen Textebene zur Darstellung kommt, wird hier derart weiterbestimmt, dass er nicht mehr zwangsläufig jenes „Ausland“ konstituiert, sondern stattdessen ein „Vaterland“ der Volkssouveränität. Dies geschieht jedoch nicht, indem § 51 eine neue Lehre von der Repräsentation vorlegt. Vielmehr erfolgt die Einführung der neuen Konzeption staatsrechtlicher Repräsentation in der Darlegung des komplexen dreistufigen Baus der demokratischen Staatsform – mitsamt der Funktion, in diesem „Gebäude“ dazu beizutragen, die für das „Vaterland“ konstitutive „Bedingung“ konstitutionell verbürgter Staatsbürgerschaft zu realisieren. Was die demokratische Staatsform hierbei von den beiden nicht-demokratischen Formen unterscheidet, ist dies: Der eigentlichen Stufe der Herrschaft und Fremdrepräsentation sind zwei Stufen unvermittelter Selbstorganisation und Selbstrepräsentation des Volkes vorgeschaltet, welche die herrschaftliche Fremdrepräsentation bedingen. Durch sie wird die freiheitswidrige Logik der traditionellen Fremdrepräsentation und -konstitution des Volks zu einer Logik der Freiheit selbst. Die freiheitswidrige Logik wird „von unterst zu oberst [ge]kehr[t]“601. Entsprechend ist das „repräsentativ[e] System des Volks“ in der Schlüsselstelle des § 52 – allem Anschein zum Trotz – dann auch nicht mit Sieyes’ „système représentatif“ zu identifizieren und nicht als moderne repräsentative Demokratie aufzufassen. Auch darauf deutet die gemeinsame Überschrift der §§ 50-52 hin. Sieyes wollte sein „système représentatif“ schließlich ausdrücklich nicht als „wahre Republik“ oder „wahre Democratie“ („véritable démocratie“) verstanden wissen und entsprechend legte er sich nachdrücklich darauf fest, auf die „Bedingung“ verzichten zu wollen, die ein „Land“ zu einem „Vaterland“ im Kantischen Sinn macht: das verfassungsrechtliche Zugeständnis der aktiven Teilhabe der Staatsbürger am souveränen Willen. Stattdessen setzte Sieyes in Angelegenheiten der Souveränität und Gesetzgebung auf Hobbes’ Prinzip der Repräsentation, also auf 601

Georges, 2892.

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genau das Prinzip, welches das „Ausland“ und „Elend“ nicht-demokratischer Herrschaft realisiert. In § 52,3 hingegen heißt es eben: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein re präsentatives System des Volks“ (Kursivdruck: M.W.); – und wie dieser Satz als Plädoyer für die demokratische Staatsform des § 51 (als die tatsächlich wahre und unverfälschte Form) gedeutet werden kann und muss, habe ich oben in der (mehrstufigen) Textlektüre ausführlich dargelegt. Hierbei musste das, was § 52 auf der exoterischen Textebene suggeriert, in einer kritischen Gegenlektüre einer Korrektur unterzogen werden: Das Thema des Paragraphen ist nicht der Übergang von einer der drei herkömmlichen Staatsformen zur Sonderform der modernen repräsentativen Demokratie, sondern der Übergang zu einer demokratischen Staatsform im Sinne Rousseaus – also zu einer wahren Republik im Gegensatz zur einer bloß scheinbaren; zu einem „Vaterland“ im Gegensatz zu jenem „Ausland“. Der Text verlangt allerdings noch eine weitere Gegenlektüre zu dieser Gegenlektüre (sozusagen eine dritte Lektüre). Doch in der erweist sich die ganze Thematik des Übergangs von einer nicht-demokratischen Staatsform (vom „Ausland“) zur demokratischen (ins „Vaterland“), wie sie bisher diskutiert wurde, als gegenstandslos. Der komplexe Zusammenhang der Lektüren sei an dieser Stelle resümiert; zuerst zur exoterischen Darstellungsebene des § 52: Von § 50 an ist die Thematik des Übergangs vom „Ausland“ nicht-demokratischer Herrschaft in ein „Vaterland“ der Volkssouveränität mit einer Konfliktlinie codiert, welche auch die exoterische Darstellungsebene der ersten beiden Absätze des § 52 dominiert. So war es in § 50 der Souverän, der den Bürger „ins Ausland überhaupt […] schicken“ konnte und somit als (durchaus auch rechtmäßiger) Agent der Entrechtung und Entwürdigung identifiziert wurde; zudem aber legte die Rede vom Landesherrn es nahe, dieser Souverän sei eine natürliche Person (ein Alleinherrscher). Der Text suggerierte auf diese Weise, die Übergangsthematik habe in der Überwindung eines vordemokratischen Zustandes zu bestehen, in dem die Bürger vonseiten des nicht-demokratischen Souveräns ihrer Freiheitswürde beraubt werden – was der neuzeitlichen Staatslehre zufolge allerdings auch staatstechnisch notwendig ist, um eine nicht-demokratische Souveränität überhaupt konstituieren zu können. Entsprechend handelt die abschließende Passage des § 52 – der

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Zweiter Paragraphenblock (§§ 50-52)

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letzte der drei Absätze des Haupttextes sowie der direkt daran anschließende eingerückte Absatz – auf der exoterischen Darstellungsebene von einem Fauxpas eines nicht-demokratischen Souveräns, der augenblicklich den Übergang zur (demokratischen) Republik bewirke. Genauer: Sobald sich der Stellvertreter-Souverän in der Ausübung der Souveränität auch repräsentieren lasse, falle die Herrschergewalt sofort auf das Volk zurück, welches der ursprüngliche Souverän sei; das Volk „repräsentirt “ dann „nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“. Unterstellt wird anschließend (noch im Haupttext), die Gefahr für die „nunmehr“ durch diesen Übergang „errichtete Republik“ gehe von den alten Herrschern und deren „absolute[r] Willkühr“ aus. Zudem thematisiert der eingerückte Absatz die Einberufung der Generalstände und die darauf erfolgte Französische Revolution nicht nur als Anwendungsbeispiel für den (im Haupttext besprochenen) Übergangsmechanismus, sondern wertet die Entscheidung des Louis XVI zum einen als „große[n] Fehltritt“, zum anderen kritisiert er dessen Regierung als mangelhaft. „Verschwendung“ und „Krieg“ sind hierbei die Stichworte – woran dann im Völkerrecht § 55,5 mit der Rede vom vermeintlichen Recht des Souveräns anknüpft, „seine Unterthanen […] in den Krieg, wie auf eine Jagd, und zu einer Feldschlacht, wie auf eine Lustpartie zu führen“. Von diesem Gesichtspunkt aus trägt primär der alte Souverän die Verantwortung für das „Elend“ der Menschen, das Volk hingegen ist in der Opferrolle: Das neue „Vaterland“ der Volkssouveränität ist durch ein Wiedererstarken der alten Souveräne gefährdet, welche dem Volk wohl wieder seine Freiheit und Würde rauben würden. Viel historische Wahrheit mag in dieser Sichtweise liegen, doch anstelle sie einfach nur zu bekräftigen, veranlasst § 52 den Leser vielmehr, sie einer fundamentalen Kritik zu unterziehen. Das tut er, indem er zu der besagten weiteren Gegenlektüre anregt. Die Stimmigkeit der eben rekapitulierten Lektüre der exoterischen Darstellungsebene des letzten Absatzes ist nämlich mit dem Preis zu erkaufen, dass das Übergangsproblem für sie verdrängt werden muss, das in den vorigen beiden Absätzen identifiziert wurde. Dieses bestand schließlich nicht im (Fehl-)Verhalten der alten Souveräne, sondern darin: Das Volk verabscheut das „Vaterland“ der Volkssouveränität, weil es das „Ausland“ und „Elend“ der völligen Entrechtung und Entwürdigung in einer nicht-demokratischen Staatsform diesem „Va -

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terland“ vorzieht. Zudem wurde umgekehrt der alte Souverän darauf hingewiesen, die Demokratie nicht gegen den Willen des Volkes einführen zu dürfen, sondern auch noch dessen Willen zum „Aus land“ und „Elend“ kategorisch achten zu müssen. Wie ist nun unter Voraussetzung dieses „rechtlichen Verhältnisse[s] des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“ der gebotene Übergang zu vollziehen? Das war im zweiten Absatz das eigentliche Übergangsproblem, – das eine Rekapitulation desjenigen Problems darstellt, mit dem bereits der erste Paragraphenblock schloss: Das Volk kann seine fundamentale Souveränität auch dazu nutzen, die Volkssouveränität aktiv zu verneinen. Erstaunlich ist es darum, dass der dritte Absatz bruchlos dazu übergeht, nur noch die „absolute Willkühr“ der alten Souveräne als Gefahr für die „Republik“ anzusprechen, die auf wundersame Weise augenblicklich, aber eben auch durch die Ungeschicklichkeit eines dieser alten Souveräne „nunmehr errichte[t]“ sei – ohne jedoch die Frage aufzuwerfen, ob das Volk denn nicht auch diese Republik „verabscheuen könnte“ und stattdessen eine der alten Staatsformen „für sich zuträglicher“ findet (vgl. § 52,1 und 2), die „absolute Willkühr“ der alten Herrscher miteingerechnet, Fehltritte hin oder her. Immerhin ist es für das automatische Eintreten des im dritten Absatz thematisierten Übergangs völlig unerheblich, ob das Volk ihn will oder nicht. Allerdings ist die Problematik der ersten beiden Absätze in der abschießenden Passage nach wie vor präsent und letztlich entscheidend – sie wurde nur auf die kaschierte Textebene verlagert. Zugänglich wird sie, wenn man den zweiten Satz des dritten Absatzes einfach beim Wort nimmt. Ihm zufolge greift der besagte Übergangsmechanismus nämlich nicht nur augenblicklich, wenn ein nicht-demokratischer Stellvertreter-Souverän sich in der Ausübung der Souveränität vertreten lässt, welche ihm vom Volk treuhänderisch verliehen wurde. Er tritt ebenfalls in Kraft, sobald das Volk selbst sich in Angelegenheiten der Souveränität und Gesetzgebung zu repräsentieren beabsichtigt, sei es durch einen Monarchen, eine Gruppe Aristokraten oder eben auch durch parlamentarische Abgeordnete. Auch dann fällt die Souveränität automatisch auf das Volk zurück. Beachtet man also den Texthinweis und appliziert den dargestellten Mechanismus auf „die ganze Volkszahl“, so wird ein Anfangsgrund der Volkssouveränität erkennbar. Dies ist der doppelte Satz von der Unmöglichkeit der

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Stellvertretung des Volkes in Angelegenheiten der Souveränität und Gesetzgebung einerseits sowie von der Notwendigkeit der Selbstrepräsentation des Volkes in diesen Angelegenheiten andererseits. Damit wird zwei ‚Lehrsätzen‘ des ›Contrat Social‹ der Rang eines metaphysischen Anfangsgrundes des Staatsrechts zuerkannt: „Que la souveraineté est inaliénable“; „le Souverain […] ne peut être représenté que par lui même“602. Es ist also nicht so, dass der zweite Satz des dritten Absatzes mit dem dort zur Darstellung kommenden Übergangsmechanismus fundamentale Lehrsätze der Locke’schen Philosophie der (Volks-)Souveränität bekräftigt, – was indes die exoterische Darstellungsebene nahelegt. Der Mechanismus rekurriert nämlich offensichtlich auf Lockes „zweistufige Souveränitätskonstruktion“603, derzufolge das Volk seine Herrschergewalt in einem Akt ursprünglicher Volkssouveränität in die Hände eines Stellvertreter-Souveräns seiner Wahl legt, diese jedoch auf das Volk zurückfällt, sobald der Stellvertreter sich in der Ausübung der Souveränität wiederum auch vertreten lässt. Tatsächlich aber löst das Kantische ‚Staatsrecht‘ dieses Modell auf: Will das Volk seine ursprüngliche Souveränität treuhänderisch in die Hände einer fremden Person legen, so muss dieser Versuch unumgänglich scheitern, denn die Souveränität fällt dann instantan wieder auf es zurück. Als ursprüngliche Souveränität ist sie undelegierbar – wie die Freiheit erstursächlicher Kausalität und letztinstanzlicher Selbstbestimmung, in der die Ursprünglichkeit der Volkssouveränität schlussendlich gründet. Folglich ist das Paradigma der neuzeitlichen Staatslehre aufgelöst, demzufolge Fremdherrschaft nur dann legitim sein kann, wenn sie durch das Prinzip der Autorisation in Selbstherrschaft umgewandelt wird. Doch damit ist auch das einzige Modell diskreditiert, das vom Standpunkt der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung aus überhaupt in Frage kommt, Fremdherrschaft in Einklang mit den Prämissen dieser Freiheit überhaupt zu denken. Die Frage ist nun, wie auch diese kaschierte Textebene beiträgt zur Bearbeitung des in der Überschrift bezeichneten Themas „[v]on dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“. Hierzu ist zuerst einmal wieder festzustellen, dass sich infolge der (letzten) Gegenlektüre die ganze Thematik und Proble602 603

Rousseau, Contrat Social, II, 1, Überschrift sowie II, 1,2. Thiele 2014, 38.

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matik des Übergangs von einer nicht-demokratischen zur demokratischen Staatsform, also vom „Vaterland“ zum „Ausland“, als gegenstandslos erweist, zumindest in der Form, in welcher der Text sie bisher suggerierte. Ist die Ausübung der Rousseau’schen Volkssouveränität nämlich alternativlos, weil das Volk gar keine andere Wahl hat, als sich in den Angelegenheiten seiner Souveränität und Gesetzgebung selbst zu vertreten, so erübrigt sich die Übergangsproblematik in der bisherigen Form. Stattdessen kann man sagen, dass das (rousseauistische) Reform- und Revolutionsprojekt der exoterischen Textebene infolge der (finalen) Gegenlektüre einer freiheitsphilosophischen Korrektur unterzogen wird. Denn der tiefste Grund für den Satz von der Unmöglichkeit der Stellvertretung des Volkes als Souverän und der Notwendigkeit der Selbstrepräsentation in dieser Rolle ist die Undelegierbarkeit und Unveräußerlichkeit der Freiheit erstursächlicher Kausalität und letztinstanzlicher Selbstbestimmung. Aus dem neuen Anfangsgrund der Volkssouveränität folgt indes auch: Jenes „Ausland“ der totalen Entrechtung und Entwürdigung gibt es gar nicht, da es weder möglich ist, dass das Volk vonseiten eines fremden Herrschers seiner Freiheit und Würde beraubt wird, noch dass es selbst diese ‚wegwirft‘ und ‚gleichsam vernichtet‘.604 Nun wäre fremde Herrschaft wenn überhaupt, dann nur durch eine Autorisation einer (souverän-überlegenen) Instanz letztinstanzlicher Selbstbestimmung möglich – doch der Versuch solch einer Autorisation muss nach besagtem Anfangsgrund zwangsläufig scheitern; der Gebrauch der Kompetenz letztinstanzlicher Selbstbestimmung bleibt ungebrochen beim Volk. Zugleich ist deshalb aber auch die institutionelle Infrastruktur der Volkssouveränität immer bereits existent und wirksam, und mit ihr die „Bedingung“, die ein „Land“ zum „Vaterland“ der Volkssouveränität macht, immer schon realisiert – dem Text zufolge sogar „dem Buchstaben nach“ in einer dreistufigen demokratische Staatsform. So ist diese Staatsform § 51 zufolge auch primär als Praxis-Form des Volkes selbst zu deuten, die man freilich auch im Sinn einer ungeschriebenen oder informellen Verfassung deuten kann. Das Ergebnis kurz zusammengefasst: Laut dem neuen Anfangsgrund der Volkssouveränität ist ein „Land“ immer notwendigerweise ein „Vaterland“ der Freiheit und Autonomie des Volkes, 604

Vgl. TL, § 9,1: „Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde“.

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unmöglich aber jenes „Ausland“ des Verlusts genau dieser Freiheit und ihrer Würde. Doch das heißt nicht, das Volk könne seine (Volks-)Souveränität nicht auch freiheits- und rechtswidrig ausüben, indem es sie in Akten ebendieser Souveränität aktiv verneint. Vielmehr ist dies das Hauptproblem der ersten beiden Absätze, das wiederum auch in der abschließenden Partie bestimmend ist, wenngleich weniger offensichtlich. Ja schlussendlich macht die Art und Weise, wie § 52,3 die Unumgänglichkeit tatsächlich ausgeübter Volkssouveränität thematisiert, überhaupt erst richtig Sinn, wenn man diesen Modus der Volkssouveränität berücksichtigt: Das Volk hat gar keine andere Wahl, als sich in Angelegenheiten seiner Souveränität und Gesetzgebung selbst zu vertreten; versucht es dagegen, diese Kompetenz von sich zu geben, so macht es auch in diesem Versuch unumgänglich von seiner Souveränität und Freiheit Gebrauch, allerdings rechts- und freiheitswidrig, in einem performativen Selbstwiderspruch. Aber worin liegt nun das ideengeschichtliche Alleinstellungsmerkmal des Kantischen ‚Staatsrechts‘? Meines Erachtens kann man es darin sehen, dass das ‚Staatsrecht‘ damit endet, die spezifisch rechtlich-praktische Situation zur Darstellung zu bringen, in welche Menschen sich begeben, wenn sie sich in derartigen Delegationsversuchen ihrer fundamentalen Freiheit, Würde und Autonomie entledigen wollen. Damit agieren sich Staatsbürger nämlich in die Situation einer Doppelverbindlichkeit: Einerseits legen sie sich darauf fest, die Kompetenz letztinstanzlicher Selbstbestimmung nicht selbst „der Person nach“ auszuüben, stattdessen aber die Fremdbestimmung, die vonseiten der Stellvertreter ausgeht, als Selbstbestimmung anzuerkennen. Doch andererseits besteht nach wie vor die Verbindlichkeit der reinen praktischen Vernunft, diese Praktik zu unterlassen, stattdessen aber die Volkssouveränität „der Person nach“ auszuüben – eine Art der Ausübung freilich, die unvermeidlich ist. Bezogen auf die Überschrift: Zwar gibt es (in genuin praktischer Rechtserkenntnis) jenes „Ausland“ überhaupt nicht, in dem die Menschen nicht mehr ihre eigenen Herren sind, sondern die Ausübung ihrer Willen in letzter Instanz Anderen überantwortet und sich damit selbst entwürdigt haben. Was es aber sehr wohl gibt, ist der Wille zum „Ausland“ und gegen das „Vaterland“, und den haben die ersten beiden Absätze des § 52 immerhin offen thematisiert. Doch dieser Wille existiert, so die abschließende Auskunft des ‚

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rechts‘, immer nur in Form eines widersprüchlichen Doppelwillens: Mit dem Willen zum „Ausland“ und gegen das „Vaterland“ geht immer auch ein Wille für das „Vaterland“ und gegen das „Ausland“ einher; der eine ist zutiefst freiheitsverneinend und rechtswidrig, der andere freiheitsbejahend und zugleich der Ursprung allen Freiheitsrechts. Bezeichnend dafür ist wieder die gemeinsame Überschrift des zweiten Paragraphenblocks, denn es handelt sich hier um ein spezifisch „rechtliche[s] Verhältni[s] des Bürgers zum Vaterlande [einerseits] und zum Auslande [andererseits]“ (Kursivdruck: M.W.). Somit ist an diesem Punkt die Übergangsproblematik der exoterischen Darstellungsebene internalisiert: Das äußere Verhältnis des Volkes zu einem fremden Herrscher, der ‚Schuld‘ an den Herrschaftsverhältnissen hat, ist zu einem Selbstverhältnis der Bürger zu ihren eigenen Willen geworden. Fortan muss der eigentliche Übergang hier stattfinden. Das ‚Staatsrecht‘ endet somit nicht nur mit der widersprüchlichen Doppelverpflichtung (double bind), die das Verfassungsproblem der modernen repräsentativen Demokratie kennzeichnet, sondern ermöglicht zudem die Identifikation der widersinnigen Verfassungsstruktur heutiger Demokratien als Freiheitsproblem par excellence – das vielleicht so alt ist wie das philosophische Denken über die Freiheit selbst605. Doch die problematische Willenskonstellation kennzeichnet weniger die moderne repräsentative Demokratie, sondern tritt immer auf, wenn freie Menschen unter fremder Herrschaft stehen – präziser: stehen wollen. In der modernen Demokratie wird diese widersprüchliche Konstellation lediglich äußerlich sichtbar und in gewisser Weise ‚lesbar‘, weil hier der (Gegen-)Wille zur Volkssouveränität selbst zu einem Verfassungsprinzip erhoben ist. Zufällig ist es darum nicht, dass das Kantische ‚Staatsrecht‘ in seiner abschließenden Passage die Ereignisse im Nachbarland Frankreich thematisiert, die wiederum allegorisch auf die demokratische Moderne verweisen, in der wir heute leben. Doch auch die Rolle des französischen Volks erscheint in einem neuen Licht, vergegenwärtigt man sich, wie inkonsistent die exoterische Darstellungsebene der abschließenden Passage ist und was der dort tatsächlich artikulierte Anfangsgrund der Volkssouveränität besagt. So ist jener „groß[e] Fehltritt der Urteilskraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit“ in 605

Vgl. Arendt 1978, II, 8 und 10 sowie II, 9, 83.

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Wahrheit nicht derjenige des Louis XIV, wie es buchstäblich im Text geschrieben steht, sondern der des französischen Volkes selbst. Denn auch im Nachbarland ist nach wie vor das Volk der einzig machthabende Souverän, doch nach wie vor macht dieses Volk von seiner Souveränität auf rechts- und freiheitswidrige Weise Gebrauch. Darin besteht der „Fehltritt“: In seiner praktischen Einstellung zu den Anfangsgründen der Volkssouveränität, insbesondere demjenigen der staatsrechtlichen Repräsentation, hat das französische Volk alles beim Alten gelassen, allen Deklarationen zum Trotz. Zum Abschluss sei noch einmal ein Blick auf die gemeinsame Überschrift der §§ 50-52 geworfen, und zwar wieder vom Stand- und Gesichtspunkt der Befolgung des Postulats des öffentliche Rechts aus. Im Rückblick auf die kritische Lektüre des zweiten Paragraphenblocks lässt sich von der Überschrift der abschließenden drei Paragraphen nämlich erkennen, dass diese dort in einer doppelten Weise realisiert ist. „Von dem rechtlichen Verhältnisse des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“, davon handeln die §§ 50-52 erstens, insofern die Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts dazu verpflichtet sind, mit dessen Befolgung als Staatsbürger in einem „Va terland“ der Volkssouveränität gemeinschaftlich ihre Freiheit und Würde zu behaupten. Hierzu gehört eben auch, für die öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten volle Verantwortung zu übernehmen, und so für das „Heil des Staats“ (§ 49,4) oder Vaterlands Sorge zu tragen. Geboten ist damit ein spezifisch rechtliches Verhältnis des Bürgers zu jenem „Vaterland“. Doch dieses muss als Verhältnis „zum Vaterlande und zum Auslande“ reflektiert werden. Denn wie ich bereits in der Vorstudie verdeutlicht habe, ist auch die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts auf die epistemologische wie auch genuin praktische Voraussetzung einer Einstellung seiner Adressaten angewiesen, wie diese ganz grundsätzlich von ihrer „Freiheit überhaupt“ Gebrauch machen wollen: entweder freiheitsbejahend oder freiheitsverneinend. Diesem Gegensatz korrespondiert auf staatsrechtlicher Ebene nun der Wille zu besagtem „Vaterland“ der Freiheitsbehauptung einerseits und zum „Ausland“ der Freiheitsverneinung andererseits. Hierzu Stellung einzunehmen, das ist durch das Postulat des öffentlichen Rechts geboten, wenn es ein „Vaterland“ der Volkssouveränität einfordert. Zweitens bezeichnet die gemeinsame Überschrift aber eben auch die praktische Situation, in welche Menschen sich begeben, wenn sie

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stattdessen gegen das Gebot der reinen praktischen Vernunft jenes „Ausland“ der Unfreiheit wollen: Mit dem Willen zum „Ausland“ und gegen das „Vaterland“ geht immer auch ein Wille zum „Vaterland“ und gegen das „Ausland“ einher. Darum ist das rechtliche Verhältnis der Einzelnen auch in diesem Fall ein „rechtliche[s] Verhältni[s] des Bürgers zum Vaterlande und zum Auslande“ (Kursivdruck: M.W.).

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Schluss „La différence entre ces deux systêmes politiques est énorme.“ (Sieyes 1789b, 14)

„Alle wahre Republik […] ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks“, aber nicht jedes repräsentative System des Volks ist eine wahre Republik. Allerdings kommen im Kantischen ‚Staatsrecht‘ beide Systeme zur Darstellung, einerseits das repräsentative System einer wahren Republik, andererseits dasjenige einer falschen und bloß scheinbaren. Doch gerade das Offensichtliche erweist sich als falsch: Das repräsentative System des Nachbarlands Frankreich ist keine wahre Republik, sondern eine falsche; Sieyes’ „système représentatif“ ist kein „Vaterland“ der Volkssouveränität, sondern ein „Ausland“ der verneinten Freiheit und Autonomie des Volkes – weil das moderne Prinzip staatsrechtlicher Repräsentation ein autoritäres Prinzip der verneinten und sich selbst verneinenden Freiheit ist. Die wahre Republik hingegen ist nicht nach diesem Prinzip organisiert, sondern strikt nach Anfangsgründen der Volkssouveränität, die eine öffentlich-rechtliche Behauptung und Betätigung der Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung ermöglichen und einfordern. Auch diese Anfangsgründe kommen im Kantischen ‚Staatsrecht‘ zur Darstellung. Doch die Systematik der Textebene, auf der dies geschieht, erwies sich als viel komplexer und weniger offensichtlich als jene klare und durchsichtige Architektonik, die das ‚Staatsrecht‘ vermeintlich auf das moderne Prinzip der Repräsentation festlegt, das tatsächlich aber nur das System einer falschen Republik konstituiert.606 606

Die Architektonik des ‚Staatsrechts‘ ist durch Dreier-Konstellationen gekennzeichnet, die zwar nicht auf Anhieb sichtbar, doch recht deutlich zu identifizieren sind: So ist das ‚Staatsrecht‘ in drei Triaden von Hauptparagraphen gegliedert, eine Triade von Paragraphen (§§ 43-45) führt zum Zentrum des § 46 hin, eine weitere Triade von ihm weg (§§ 47-49). Aber auch die Anmerkungen im Sinn der Vorrede (Abs. 2) sind drei an der Zahl, und dasselbe gilt für die klar erkennbaren Rousseau-Referenzen. Bei diesen Dreier-Konstellationen handelt es sich freilich nicht um „Zahlenmystik“, Anth, AA 07: 194.18-196.13, denn mit ihnen wird auf das repräsentative System der tatsächlich-wahren Republik hingearbeitet. Wohlgemerkt kommt auch dieses System in einer weiteren

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Aber was ist der Sinn dieser Doppel-Architektonik? Warum umfasst das Kantische ‚Staatsrecht‘ sowohl das „Gebäude“ einer wahren Republik als auch dasjenige einer falschen, und weshalb wird auf höchst verwegene Weise suggeriert, das „System“ der falschen sei das einzig wahre? So wenig intuitiv diese Text-Systematik ist und so sehr sie den Leser auch verwirren und verstören mag, im Rekurs auf die Kantische Epistemologie praktischer Erkenntnis ist ihr Sinn zu erschließen. Denn auf diese Weise lässt sich die Systematik als text-rhetorisch umgesetze Kritik der praktischen Vernunft identifizieren, die dazu beiträgt, das Projekt einer kritischen Metaphysik der Freiheit zu realisieren.607 Diesen Zusammenhang möchte ich abschließend beten Dreier-Konstellation zur Darstellung: Expressis verbis wird die Thematik der Repräsentation als Stellvertretung durch Abgeordnete im ‚Staatsrecht‘ an vier Stellen im jeweils dritten Absatz eines Textabschnitts behandelt: in § 49,3 (1), Allg. Anm., A,3 (2) und B,3 (3) sowie in § 52,3 (4). Doch die zwei Stellen in der Anmerkung (2 und 3) verzeichnen beide ein negatives Ergebnis; das Prinzip der parlamentarischen Stellvertretung wird als rechtswidrig erkannt. Positiv fällt hingegen nur die Bestimmung in § 49,3 (1) aus, der besagte Repräsentation als Anfangsgrund der dritten Gewalt festlegt. Dadurch wird nicht nur die Textstelle dritter Absatz mit der Thematik der Repräsentation als Stellvertretung markiert, sondern die Thematik auch mit der dritten Gewalt verknüpft. Diese Doppel-Codierung ist für das repräsentative System in § 52,3 (4) letztlich ausschlaggebend: An vierter und außerordentlicher Stelle in der Abfolge der genannten Stellen wird dort nach der (Brandt’schen) Formel der gewaltengliedrigen Volkssouveränität 1, 2, 3 / 4 das Gesamtsystem als Einheit der Dreiheit und Ausdruck der Vollständigkeit des Ganzen dargestellt – wie auch im ersten Paragraphenblock der zentrale und vierte § 46 eine außerordentliche Position in seiner Relation zu den §§ 43-45 und 47-49 einnimmt, vgl. zu dieser (bisher kaum erforschten) Art von „Systempraxis“ Brandt 2016. Doch nach Auskunft der vorigen drei Stellen ist die Rede von der Repräsentation in § 52,3 nicht als parlamentarisch-legislative Stellvertretung zu deuten, sondern muss auf die dritte Gewalt bezogen werden. Das allerdings heißt nicht, die VolksRepräsentation des tatsächlich-wahren Systems sei auf dieses Verständnis von Repräsentation zu verkürzen, s. o., zu § 51, Kap. 3.1 und 3.2 sowie zu § 52,3, Kap. 3.2.1. 607 Das heißt: Auch nach der Publikation der drei Kritiken darf das kritische Geschäft nicht als beendet angesehen werden; die Metaphysik des Staatsrechts ist nicht post-kritisch.

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leuchten, indem ich das Endresultat meiner Interpretation diesbezüglich in drei Schritten befrage und diskutiere.

1. Kritisch haben die metaphysischen Anfangsgründe des Staatsrechts vor allem in dem Sinn zu sein: Sie müssen berücksichtigen, dass das „Stehen und Fallen der Metaphysik“ – auch „Gebäude“ oder „System“ genannt – davon abhängt, „ob […] der Grund dazu gut gelegt sei“.608 Darum kommt im ‚Staatsrecht‘ nicht nur das eine „wahre“ Gebäude der Freiheit zur Darstellung. Stattdessen findet ein komplexer freiheitsphilosophischer Diskurs statt: zum einen mit der Frage, in welchem Verhältnis Menschen zum Freiheitsgrund ihrer eigenen Freiheit stehen und wie sie ganz grundsätzlich von ihr „Gebrauch“ machen, nämlich entweder freiheitsbejahend oder freiheitsverneinend; zum anderen mittels Aufklärung darüber, wie das jeweilige Verhältnis zum Freiheitsgrund wiederum ein je verschiedenes „Gebäude“ oder „System“ bedingt. Schließlich ist es nach Kantischem Verständnis eine Besonderheit der menschlichen Freiheit, dass sie sich nicht nur aus Freiheit degradieren und letztlich verneinen kann, sondern im Zuge solch einer Verneinung auch ein System zu konstituieren vermag.609 Und wohlgemerkt ist dieses System „nicht ein Reich der Natur“, sondern eins „der Freiheit“. 610 Von hier aus muss die Doppel-Systematik des ‚Staatsrechts‘ verstanden werden: Von einem affirmativen Verhältnis zum Freiheitsgrund lassen sich die Anfangsgründe einer „wahren Republik“ erkennen, welche einer bejahenden Ausübung der Freiheit und Autonomie verschrieben sind; hingegen können auf Basis einer ablehnenden Haltung aber auch Prinzipien begründet werden, die ein entsprechendes „Gebäude“ oder „System“ verneinter und sich verneinender Freiheit konstituieren – so problematisch das auch sein mag. 608

Vgl. zur Thematik, Begrifflichkeit und Metaphorik die Einleitung der ›Kritik der reinen Vernunft‹, insb. A 3-6/B 7-10, B 19 f., aber auch den ersten Paragraphen des ‚Staatsrechts‘, § 43. 609 Vgl. Dörflinger 2008, 94 sowie von mir 2019, 54, 58 f., wo ich die (kon troverse) These vertrete, es gebe ein Kantisches System verneinter Freiheit. 610 RGV, AA 06: 82.01-06.

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Von diesem ‚kritischen‘ Gesichtspunkt aus betrachtet, ist es dann auch viel weniger kurios, dass in der Schlüsselstelle des § 52,3 das scheinbar eindeutige Plädoyer für das „repräsentativ[e] System “ Frankreichs tatsächlich eine Ablehnung desselben ist und eine Fürsprache für ein Rousseau’sches Alternativsystem. Aber nicht nur das, vielmehr kommt mit dieser Text-Charakteristik auch ein weiteres Problem der ‚kritischen‘ Freiheitsphilosophie Kants zur Darstellung: dass zwei Systeme „dem Buchstaben nach“ identisch sein können, obwohl sie auf Basis zweier grundverschiedener Haltungen zum Freiheitsgrund ‚gebaut‘ wurden und zugleich ebenso verschiedene Formen der Ausübung desselben sind.611 Dass es aber in puncto Freiheitsgrund eine unüberbrückbare Differenz zwischen der Kantischen und der französischen Staats-Baukunst gibt („l’art politique“, „l’architecture sociale“)612, ist recht offensichtlich, wenn man das Schaffen von Emmanuel Joseph Sieyes – dem großen Verfassungsarchitekten des Nachbarlandes und dem Vater des französischen „système représentatif“ – hinsichtlich seinem Verhältnis zum Kantisch gedachten Freiheitsgrund befragt. 613 Mit Blick 611

Erhellend ist hier ein Seitenblick auf die Religionsschrift. Ihr zufolge ist es möglich, dass der freiheitsdegradierende („böse“) Charakter auf der empirischen Ebene vom freiheitsbejahenden („guten“) überhaupt nicht zu unterscheiden ist, RGV, AA 06: 36.34-37.07, 30-24-31.05. Der freiheitsdegradierende Charakter ist in diesem Fall erst durch Rückgang auf den intelligiblen, also auf den Freiheitsgrund des empirischen, als falscher und bloß scheinbarer erkennbar; hierzu ausführlich von mir: 2019, 6062, 71 f. 612 Sieyes 1789c, 103, der sich wohlgemerkt auch als Metaphysiker versteht und sein verfassungspolitisches Projekt als „métaphysique politique“ verteidigt, 1789a, 3-16, 15. 613 Allerdings wurde bereits vor der Veröffentlichung der ›Metaphysik der Sitten‹ im Jahr 1797 in der politisch-intellektuellen Öffentlichkeit eine Identität der (Ziel-)Vorstellungen von Kant und Sieyes angenommen, vgl. Oelsner 1796, XXIV, f., Fn., CXVI: „Worin besteht das eigentliche Verdienst Sieyes? Milton , Sidne y, Locke , Je an Jacques und andere hatten lange vor ihm die Kritik des Rechts ins Reine gebracht; aber seinem hellen und kühnen Geiste war die unsterbliche Ehre aufbehalten, das Gebäude selbst, die ganze Theorie des Staats aus reinen Begriffen auszuführen. Die große Reform des Menschengeschlechts, welche dadurch bewirkt wird, geht ins Unendliche und es ist erfreulich und für die Wahrheit merkwürdig, daß die ausgezeichnetsten zwei aller jezt

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auf die Schriften von Sieyes fällt nämlich auf: Zum einen wird hier das Prinzip der Glückseligkeit mit der Tradition als oberstes Prinzip der praktischen Philosophie und des Staatsdenkens anerkannt. 614 Und konsequenterweise ordnet Sieyes diesem Prinzip dann auch den (absoluten) Wert unter, die Freiheit und Autonomie (im Kantischen Sinn) in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten selbst auszuüben; – genau diese Degradierung aber macht das Prinzip der Glückseligkeit nach Kantischer Auskunft sogar zum Prinzip des Bösen 615. Zum anderen wird bei Sieyes die (Kantische) Freiheit und Autonomie zugunsten einer anderen Freiheit (der ‚wohlverstandenen‘ Freiheit im Hobbes’schen Sinn von Handlungsfreiheit) verdrängt und verleugnet.616 Gegen beides die Stimme zu erheben, war wohlgemerkt auch das Anliegen der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ von 1788.617 Sieyes’ „système représentativ“ ist dementsprechend auch pragmatisch begründet im Hinblick auf eine „Repräsentationslogik qua Arbeitsteilung“:618 Um die Handlungsfreiheit graduell zu maximieren, sollen die Menschen sich von der Verantwortung entlasten, die Kompetenz öffentlich-rechtlicher Selbstbestimmung selbst ausüben zu müssen. Deswegen sei die Verantwortung auf Stellvertreter zu übertragen, kraft dem (Hobbes’schen) Prinzip der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation. Diese Praktik ist aus Kantischer Sicht indes als eine der „selbst verschuldeten Unmündigkeit “ zu erkennen. Entsprechend ist innerhalb des ‚Staatsrechts‘ von Stellvertretung in Angelegenheiten der Souveränität und Gesetzgebung wenn tatsächlich, dann nur polemisch die Rede gewesen (s. o. (zur Allg. Anm., Kap. 2.3)).

benden Denker, Sieyes und Kant, von entgegengesetzten Punkten ausgehend, sich am nehmlichen Ziele begegnen“, Kursivdruck: M.W. 614 Vgl. den Beginn der ›Préliminaire de la Constitution françoise‹, 1789b, 20. 615 RGV, AA 06: 36.19-33, 45.11-15, vgl. KpV, § 3. 616 So ist der ganze Freiheitsdiskurs in 1789a und 1793 auf den Zweck der Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet, worüber jedoch die durchgängige Verwendung freiheitsphilosophischer Begriffe leicht hinwegtäuscht. 617 Vgl. Wolff 2018, 143-155, insb. 144-146, 152 f.; s. o., Fn. 201. 618 Vgl. wieder Sieyes 1793.

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2. Das Kantische ‚Staatsrecht‘ beschränkt sich allerdings nicht darauf, lediglich das Bedingungsverhältnis der jeweiligen Einstellung zum Freiheitsgrund und den darauf errichteten Staatsgebäuden offen zu legen sowie diese Beziehung in einer klaren und deutlichen Argumentation und Text-Systematik zur Sprache kommen zu lassen. Schließlich wird das freiheitswidrige und darum falsche System des Nachbarlandes ja auf der exoterischen Darstellungsebene so dargestellt, als sei es das wahre System der Freiheit, wodurch das tatsächlich wahre System in ein falsches Licht gestellt wird. Um diese TextRhetorik zu verstehen, werfe ich nun einen genaueren Blick auf die Logik des freiheitsphilosophischen Programms, die im ‚Staatsrecht‘ interessanterweise mit der Eigenlogik der modernen repräsentativen Demokratie enggeführt wird. Darum zunächst (wieder) zu den freiheitsphilosophischen Grundlagen: Vom Gesichtspunkt der Freiheit aus kann der Streit zwischen der freiheitsbejahenden Position einerseits und der freiheitsverneinenden andererseits unmöglich argumentativ entschieden werden. Zur Erinnerung: Erstens erfolgte der Existenzbeweis der transzendentalen Freiheit (erstursprünglicher Kausalität) in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ nicht ausschließlich argumentativ, sondern auch und vor allem durch eine praktische Selbstbetätigung und -behauptung dieser Freiheit.619 Ihr Herrschaftsanspruch wurde dort dadurch geltend gemacht, dass sie selbst zu Wort kommen gelassen wurde und sich auf diese Weise sowohl als reine praktische Vernunft zu erkennen geben wie auch als „ursprünglich gesetzgebend“ ankündigen konnte. So vermochte sie selbst ihre eigene Existenz praktisch-philosophisch zu behaupten und sich zugleich rhetorisch-polemisch gegen die Stimmen durchzusetzen, welche ihre Existenz verneinen und verleugnen.620 Entsprechend der Leitspruch: „sic volo, sic iubeo“,621 womit unmissverständlich auf das geflügelte Wort Juvenals (sechste Satire) verwiesen wurde: „Hoc volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas“, statt eines Beweisgrundes gelte mein Wille. Weder 619

Siehe Fn. 201, vgl. Wolff 2018, 148. Siehe Fn. 201, vgl. Wolff 2018, 152 f. und zur (historischen) Konfliktlinie Arendt 1978, Einleitung sowie I,4. 621 KpV, § 7. 620

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kausal erklärbar, noch durch die Anführung von Gründen endgültig festzulegen, ist entsprechend auch zweitens in der Religionsschrift der Freiheitsakt selbst, der über die oberste Maxime622 entscheidet, welche bestimmt, ob man von seiner „Freiheit überhaupt“ freiheitsbejahend Gebrauch macht (in einem System praktischer Grundsätze dieser Freiheit) oder freiheitsverneinend (in einem freiheitsbejahenden Alternativsystem).623 Auf diese Freiheitslogik und -problematik ist die Text-Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ von 1797 ausgerichtet: Der Leser soll durch die Entfaltung des Text-Programms nicht nur erkennen, sondern vielmehr auch erfahren, dass er selbst sowohl den freiheitsverneinenden, als auch den freiheitsbejahenden Standpunkt einnehmen kann und vom jeweiligen Standpunkt aus auch zum Bauen eines entsprechenden Gebäudes maßgeblich beizutragen vermag. Wozu er sich persönlich entscheidet, ist zwar seine Freiheitsangelegenheit, doch im Durchlaufen des Text-Programms kann er durchaus zu einem kritischen Bewusstsein über die Logik seiner Freiheit gelangen. Durch die eigentümliche Text-Rhetorik – Rhetorik hier nun auch im Sinn von Redekunst – leitet der ‚Staatsrecht‘-Text zu diesem Punkt insofern hin, als in der (ersten) Text-Lektüre zunächst ganz offensichtlich die Stimme der reinen praktischen Vernunft zu Wort kommt. Diese ist die Stimme der Freiheit, die ihren Herrschaftsanspruch geltend macht, indem sie von ihrem Standpunkt aus ihr „Gebäude“ und System“ errichtet, gewissermaßen als ‚oberster Baumeister‘. Sie kann und soll der Leser als Stimme seiner eigenen Vernunft erkennen und anerkennen. Doch diverse Texthinweise regen auch zu einer Gegenlektüre an, in der sich das Wort ebendieser Stimme als dasjenige eines freiheitsvereinend eingestellten Willens erkennen lässt, dessen angebliches „Gebäude“ der Freiheit in Wahrheit ein „Blendwerk“ ist, wodurch dem System verneinter Freiheit lediglich der „Anstrich der Wahrheit“ gegeben wird.624 Die Stimme der eigenen und zugleich obersten Ver-

622

Unter den Prämissen der Rechtslehre galt es diese Maxime notwendigerweise als Willenseinstellung zu modifizieren, die von der Motivation des Handelnden absieht, vgl. Vorstudie. 623 RGV, Erstes Stück, Kap. IV sowie RGV, AA 06: 25.01-17, 20.22-21.23. 624 Vgl. Allg. Anm., A,4, Fn. sowie KrV A 61/B85 f., ferner aber auch Allg. Anm., A,3.

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nunft erweist sich somit als trügerisch und falsch; bedingungslos ist ihr von nun an nicht mehr zu trauen.625 Kritisch ist die Gegenlektüre darum auch im spezifisch Kantischen Sinn einer Selbstkritik der praktischen Vernunft: Durch sie lässt sich die Möglichkeit einsehen, dass man auch aus einer angeblich freiheitsbejahenden Haltung zum Freiheitsgrund heraus diesem Grund dennoch verneinend gegenüber eingestellt sein kann und auf Basis dieser Haltung – als epistemologischer sowie praktischer Voraussetzung – zur Errichtung und Erhaltung eines falschen Gebäudes der Freiheit beizutragen vermag. Das wiederum macht es notwendig, das „Bauen“ auch des wahren Gebäudes der Freiheit nicht „von aller Besorgnis und Verdacht“ frei zu halten, etwa um das „Gebäude so früh, wie möglich, fertig zu machen, und hintennach allererst zu untersuchen, ob der Grund dazu gut gelegt sei“. 626 Stattdessen ist die Errichtung und Erhaltung des Gebäudes einer „wahre[n] Republik“ stets auf die Einstellung hin zu reflektieren, die man dabei zum BauGrund der eigenen Freiheit und Autonomie einnimmt. Das schließlich mag Kant als philosophischen Autor veranlasst haben, auch textrhetorisch „Besorgnis und Verdacht“ zu schüren. Mit Blick auf das derart rhetorisch umgesetzte Projekt einer kritischen Metaphysik der Freiheit kann man also sagen: Die Fehllektüre, die der Text provoziert, indem er das falsche System verneinter Freiheit trügerischerweise als das wahre Gebäude der Freiheit darstellt, ist nicht nur ein Teil des Textes, sondern auch ein Teil dessen, worum es in ihm geht.627 Genau dieser Rekurs verdeutlicht aber auch, dass ein unkritisches und angeblich „natürlich[es]“ Vorgehen, welches so625

Einen wichtigen Beitrag zur Thematik ‚Stimme der reinen praktischen Vernunft‘ hat Masataka Oki in seinem Buch ›Kants Stimme‹ (von 2017) geleistet. Dort identifiziert er „Kants Stimme“ jedoch ‚unkritisch‘ mit der in den Kantischen Texten artikulierten Vernunft-Stimme, vgl. z. B. 2017, 12 und 23 sowie 140 und 143. Meine Arbeit orientiert sich hingegen eher an dem Ansatz von Michèle Cohen-Halimi in ›Entendre raison‹ (von 2004), der es ermöglicht, die auf der offensichtlichen Darstel lungsebene vorgetragene Stimme nicht (vorschnell) als diejenige der reinen praktischen Vernunft ansehen zu müssen, sondern deren tatsächliche Stimme vielmehr (wie die Gewissens-Stimme) als schwer hörbare zu erkennen, vgl. 2004, 9 ff., 15-17, 357-359. 626 Vgl. KrV, A 5/B 8. 627 Vgl. de Man 1984, 247.

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fort „ein Gebäude errichten möchte“, ohne dabei wahrhaftig nach der Haltung zum Freiheitsgrund als epistemologischer und praktischer Voraussetzung zu fragen, aus Kantischer Sicht nicht als Irrtum oder geringfügige Unachtsamkeit zu entschuldigen ist.628 Insofern die Haltung zum Freiheitsgrund selbst auf einen Akt intelligibler Freiheit zurückgeführt werden muss, weil sie ebendiesem Grund entspringt, ist sie „immer selbstverschuldet“, darum zurechenbar und sogar als vorsätzliche Schuld zu werten. 629 Schließlich gilt dasselbe für das „Bauen“ eines vermeintlichen Gebäudes der Freiheit unter der Voraussetzung der besagten freiheitsverneinenden Einstellung: Hier handelt es sich um eine „Kunst, […] seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben“ 630. Und eine solche ausgeübt zu haben bezichtigt der Text 1797 letzten Endes auch das französische Volk (Allg. Anm., A,4, Fn.): Durch das Verfahren der förmlichen Hinrichtung des Louis XIV habe dieses ‚geistreiche Volk‘631 einer rechtswidrigen „That“ (einem einfachen Mord) „den Anstrich von Bestrafung, mithin eines rechtlichen Verfahrens (dergleichen der Mord nicht sein würde) zu geben [versucht], welche Bemäntelung aber verunglückt“ sei. Von daher gilt sogar: Zwar mag die Lüge in der Kantischen Rechtslehre in bestimmten Fällen sogar unter Rechtsschutz stehen und rechtlich erlaubt sein.632 Aber das heißt noch lange nicht, man dürfe und müsse im Projekt einer kritischen Metaphysik des Freiheitsrechts nicht nach ihr fragen. Vielmehr ist sie hier – als Selbstlüge über die tatsächliche Einstellung zum Freiheitsgrund – ein epistemologisches und praktisch-philosophisches Grundproblem par excellence. Deswegen hat man sich wohl auch und insbesondere als Adressat des Postulats des öffentlichen Rechts, von dem aus die Anfangsgründe des Staatsrechts schließlich begründet und praktiziert werden sollen, immer wieder folgende Fragen zu stellen: Ist das Gebäude öffentlichrechtlicher Selbstbestimmung, an dem und in dem gearbeitet wird, etwa ein bloßes Blendwerk vorsätzlicher und vorsätzlich kaschierter 628

Vgl. KrV, A 4 f./B 7 f. Vgl. RGV, AA 06: 20.35-21.18, 25.01-17, 32.29-33 sowie 37.18-38.12 und hierzu erläuternd von mir 2019, 63-67, insb. 66 f. Für die theoretische Erkenntnis gilt freilich Ähnliches, vgl. Simon 2004, 121 f. 630 Vgl. KrV, A 61/B 86 631 SF, AA 07: 85.19 f. 632 ERL, AB 45. 629

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Freiheitsverneinung? Und läuft darum vielleicht sogar das, „was wir [hier] Metaphysik nennen, auf einen bloßen Wahn von vermeinter Vernunfteinsicht“633 hinaus? Zum Punkt, sich diese Fragen stellen zu müssen, führt die charakteristische Text-Architektonik und -Rhetorik des ‚Staatsrechts‘ den Leser hin.

3. Nun kann und will die Kantische Freiheitsphilosophie niemandem die Entscheidung abnehmen, welche Haltung er gegenüber seiner „Freiheit überhaupt“ ganz grundsätzlich einnimmt und welchen Gebrauch er von ihr auf Basis dieser Haltung macht. Das habe jeder für sich selbst zu verantworten.634 Stattdessen klärt der Text darüber auf, inwiefern sowohl der affirmative wie auch der verneinende Gebrauch der Freiheit in Angelegenheiten öffentlich-rechtlicher Selbstbestimmung durch die Eigengesetzlichkeit der Freiheit bedingt ist und wie dieses Bedingungsverhältnis wiederum bestimmend ist für die Architektonik des Gebäudes der bejahten Freiheit einerseits und desjenigen der verneinten Freiheit andererseits. Für den freiheitsverneinenden Standpunkt besteht diese Aufklärung vor allem darin, erkennbar zu machen, in welche praktische Situation sich Menschen begeben, wenn sie ihre Freiheit letztinstanzlicher Selbstbestimmung nicht selbst ausüben möchten und diese Kompetenz darum anderen überantworten. Diese praktische Situation ist in der Text-Lektüre zum einen als spezifische Willenskonstellation erkennbar, zum anderen aber auch als Grund aller Gebäude öffentlichrechtlicher Freiheitsverneinung. Ein ‚lesbares‘ Zeichen genau dieser Konstellation ist dem Text zufolge allerdings interessanterweise das repräsentative System Frankreichs – aber eben auch jede moderne repräsentative Demokratie. Nun ist das Charakteristische der repräsentativen Demokratie weniger, dass sie besagte Freiheitsverneinung in einem Staatsgebäude von Grund auf realisiert, indem sie auf das Prinzip der ‚politischen‘ 633 634

KrV, B 20. Vielmehr gilt es dem Kantischen ‚Staatsrecht‘ zufolge sogar, den menschlichen Willen auch dann noch zu achten, wenn er seine öffentlich-rechtliche Autonomie verneint, s. o., zu § 52,1 und 2 sowie zu den eingerückten Absätzen des § 46.

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Autorisation zurückgreift. Hierauf ist auch jede andere Form zwischenmenschlicher Herrschaft angewiesen, soll sie überhaupt vom Freiheitsgesichtspunkt aus gedacht werden können (s. o. (zu § 44)). Das Besondere ist vielmehr, dass das System der modernen Demokratie die eigentümliche Problemstruktur auch jedes nicht-demokratischen Systems der Freiheitsverneinung äußerlich sichtbar und dadurch in gewisser Weise ‚lesbar‘ macht. So scheint das französische System zuerst einmal eine wahre Republik öffentlich-rechtlich behaupteter Freiheit zu sein, doch dieser Schein erweist sich bei ‚kritischer‘ Betrachtung wie gesagt als ein „Blendwerk“, das die wahre Systemstruktur kaschieren soll; erkennt man allerdings, dass diese „Bemäntelung […] verunglückt“ ist, so zeigt sich in der ambivalenten Schein-Verfassung dieser Republik die Wahrheit über alle falschen. Besagte Wahrheit ist keine andere als die double bind-Paradoxie der modernen repräsentativen Demokratie, auf welche ich in der Einleitung dieses Buches von der gegenwärtigen Verfassungswirklichkeit aus hingewiesen hatte. Denn: Einerseits soll das Volk in letzter Instanz herrschen, es soll der Souverän sein. Das französische System ist schließlich erklärtermaßen eines der demokratischen Freiheitsbehauptung, das der Herrschaft der ‚alten‘ nicht-demokratischen Souveräne ein Ende setzen will. Damit leitet es das „repräsentative Zeitalter“635 ein und verkündigt die demokratische Moderne. Andererseits soll das Volk aber auch nicht in letzter Instanz herrschen, da es seine Kompetenz dazu auf Stellvertreter zu übertragen hat und qua Autorisation deren souveräne Beschlüsse als die eigenen ansehen muss. Somit wird eine faktische Verbindlichkeit generiert, fremden Personen zu gehorchen und deren Herrschaft als die eigene anzuerkennen. Das aber ist keineswegs eine demokratische Logik, wie man vom heutigen Demokratieverständnis aus denken könnte. Es ist die Logik nicht-demokratischer Herrschaft schlechthin. Am Endpunkt der Lektüre des ‚Staatsrechts‘ wird diese Problemverfassung dann als praktische Situation und Willenskonstellation erkennbar: In der Anerkennung fremder Herrschaft artikuliert sich ein Wille gegen die Volkssouveränität, also gegen die öffentlich-rechtliche Behauptung der Freiheit und Autonomie des Volks, und damit ein Wille gegen den Freiheitsgrund. Doch der Kantischen Auskunft über die Eigengesetzlichkeit des Freiheitsgrundes zufolge steht dieser 635

Weiß 2009, 187.

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praktischen Verneinung immer auch ebenjene Freiheit und Autonomie selbst entgegen, und zwar in Gestalt eines Willens, welcher der freiheitsverneinenden Verbindlichkeit eine freiheitsbejahende entgegensetzt. Dieser (Gegen-)Wille besagt: Das Volk soll sich in letzter Instanz selber bestimmen und immer die volle Verantwortung für die öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten tragen.636 Genau diese widersprüchliche Willenskonstellation bildet die komplexe „Grundlegung“ jeder nicht-demokratischen Herrschaft, aber eben auch jeder repräsentativ-demokratischen. Beide Formen der Herrschaft sind schließlich durch das Prinzip ‚politischer‘ Autorisation konstituierte repräsentative Systeme des Volkes. Doch im Rückgang von der System-Ebene dieser Republiken auf die GrundEbene besagter Willenskonstellation, lässt sich nicht nur die Freiheitswidrigkeit der vermeintlich wahren „Gebäude“ der Freiheit erkennen und diese somit als bloß scheinbare identifizieren. Vielmehr wird klar, welchen Stand die traditionell errichteten Gebäude alle gleichermaßen haben müssen. Dass deren „Grund […] gut gelegt sei“637, kann man schließlich gerade nicht sagen. Vielmehr ist der Bau-Grund hier denkbar schlecht, besteht er doch in einer widersprüchlichen Willenskonstellation, die eine ebenso widersprüchliche Artikulation des einen und einzigen Freiheitsgrundes ist: Beide Willen entspringen dem einen Freiheitsgrund, doch sie nehmen auf unvereinbare Weise Stellung zu ihm ein. Dieser Bau-Grund, der durch das Changieren zwischen der bejahenden und verneinenden Position gekennzeichnet ist, bedingt darum letztlich auch den Stand des „Gebäude[s]“: Dieses muss sich zumindest in einem „schwankendem Zustande der Ungewißheit und Widersprüche“638 befinden. Doch ob der Grund des Gebäudes gut gelegt ist, davon hängt eben auch dessen „Stehen und Fallen“639 ab. So kollabiert § 43 zufolge das ganze Sys636

Rekapituliert wird mit dieser Willenskonstellation das Lehrstück vom inneren Willenskonflikt, welches für die moderne Freiheitsphilosophie kennzeichnend ist, vgl. Arendt 1978, II, 8 und 10 sowie Poppenberg 2012, insb. 271-273. Diesem Lehrstück zufolge ist der Willenskonflikt freilich, dem modernen Freiheitsverständnis entsprechend, nicht durch die rationale Auseinandersetzung von Argumenten beizulegen, sondern hauptsächlich eine Sache der freien Entscheidung selbst. 637 KrV, A 5/B 9. 638 KrV, B 19. 639 KrV, B 19.

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tem des öffentlichen Rechts in seiner Gesamtheit von Staats-, Völkerund Weltbürgerrecht, wenn bereits nur ein Teilgebäude nicht nach dem Prinzip des Freiheitsrechts konstituiert ist. Dann müsse auch „das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden, und endlich einstürzen“ (s. o. (zu § 43)). Genau das bewirkt letztlich auch die widersprüchliche Freiheitskonstellation, auf dem die falschen Gebäude der Freiheit gründen. Diese haben keinen festen Grund, dadurch keinen sicheren Stand, und müssen eben „endlich einstürzen“. Untergraben wird das falsche Gebäude jedoch weniger, weil es auf Basis eines falschen Prinzips gebaut ist, sondern weil es der freiheitsbejahende Wille selbst ist, der dieses Gebäude aktiv untergräbt. Denn erst durch dessen Einspruch entsteht die widersprüchliche Willenskonstellation und damit der unsichere „Grund“ des Gebäudes. Die reine praktische Vernunft will, dass das freiheitswidrige Gebäude einstürzt; wie im Freiheitsbeweis der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ ist das performative Moment entscheidend. Schließlich fordert die reine Rechtsvernunft nicht nur mit der „Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt“ (§ 52,1), das Volk müsse seine ursprüngliche Souveränität selbst ausüben sowie behaupten, und artikuliert somit jenen Gegenwillen. Vielmehr verkündet sie auch das zwangsläufige Scheitern aller falschen repräsentativen Systeme – mit dem letzten, aber in gewisser Weise auch ersten Anfangsgrund der Volkssouveränität im ‚Staatsrecht‘: dem doppelten Satz von der Unmöglichkeit der Stellvertretung des Volkes in Angelegenheiten der Souveränität und Gesetzgebung einerseits sowie von der Notwendigkeit der Selbstrepräsentation des Volkes hierin andererseits (s. o. (zu § 52, Kap. 3.2). Epistemologisch betrachtet ist die Besonderheit dieses Anfangsgrundes, dass er eine Eigengesetzlichkeit der Freiheit zum Ausdruck bringt, die der freien Willkür von Vornherein keine Option lässt. So handelt es sich nicht primär um ein Freiheitsgesetz in dem Sinn, dass eine Verpflichtung aufgestellt wird, die etwas gebietet, verbietet oder erlaubt. Die artikulierte Gesetzlichkeit ist nämlich durch die Unumgänglichkeit des Freiheitsgebrauchs immer bereits erfüllt – und nichts anderes als diese Unumgänglichkeit artikuliert der besagte Anfangsgrund der Volkssouveränität. Schließlich besagt er, dass jede traditionelle Form der Herrschaft, aber auch die moderne repräsentativ-demokratische Form unmöglich ist. Das Volk hat also gar keine andere Wahl, als die Volkssouveränität aktiv und unvermittelt selbst auszuüben.

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Entsprechend ist auch die Freiheitserkenntnis an diesem Punkt eine doppelte, denn erkannt ist nun: Das falsche Gebäude ist bereits eingestürzt, ja es konnte nie bestehen; hingegen ist das Alternativgebäude einer wahren Republik immer bereits „dem Buchstaben nach“ als demokratische Staatsform und repräsentatives System erbaut, und zwar derart unerschütterlich, dass es nicht einstürzen kann, solange es menschliche Freiheit gibt. Freilich, damit ist nicht gesagt, nicht-demokratische Staaten sowie moderne repräsentative Demokratien gäbe es nicht und hätte es nie gegeben. Dem ist offenbar nicht so. Doch all die historischen Formen der Herrschaft sind nichts weiter als bloße Schein-Gebäude, darüber will das ‚Staatsrecht‘ von 1797 aufklären. Seinem letzten Anfangsgrund der Volkssouveränität zufolge herrschen in Wahrheit nämlich – so die große Überraschung – in jedem Staat jederzeit die tatsächlichen Gemeinwillen der Völker. Auf Anhieb mag man das nicht sehen und auch die Völker selbst mögen sich dem vielleicht gar nicht bewusst sein – womöglich auch, weil sie sich darüber selbst täuschen. Aber dem letzten und wohl auch ersten Anfangsgrund der Volkssouveränität zufolge ist dem so.640 Diesen komplexen Zusammenhang bringt das Kantische ‚Staatsrecht‘ nun durch das Mehrebenensystem seiner Text-Architektonik zur Darstellung, indem es den Sachzusammenhang zugleich als Textzusammenhang artikuliert. So wird auf der exoterischen Textebene 640

Damit ist besagter Anfangsgrund auch einer im buchstäblichen Sinn. Obwohl er das Endes des modernen Prinzips der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation verkündet, eröffnet er zugleich einen neuen und bis jetzt nicht abgemessenen (Möglichkeits-)Raum der Selbst-Repräsentation des Volkes. Am Ende des ‚Staatsrechts‘ steht ein Anfang der Volkssouveränität. In diesem Sinn ist es auch zu deuten, dass das ‚Staatsrecht‘ nicht definitorisch bestimmt, was nun politische Repräsentation endgültig sei – ebenso wenig wie es weder mit einer Definition des Staats beginnt noch schließt, vgl. die Einleitung zu den §§ 43-45. Kantisch gedacht ist die Frage nach solch einer (finalen) Begriffs-Bestimmung wohl keine mehr, welche die Philosophie alleine für sich beantworten kann und soll, vielmehr wird sie dies in (unabschließbarem) Dialog mit anderen Disziplinen tun müssen, etwa der Rechts- und Politikwissenschaft, aber auch der Soziologie. Gegenstand dieser philosophischen Arbeit ist das freilich nicht mehr, hier ging es lediglich um die Anfangsgründe der Volkssouveränität.

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die traditionell-neuzeitliche Staatslehre zur Geltung gebracht, die wie die Ideengeschichte dieser Staatslehre am Punkt des Sieyes’schen Staatsdenkens das Ende ihrer Entwicklung findet. Bestätigung erfährt damit das Staatsdenken, das für die herkömmlichen nicht-demokratischen Staaten, aber eben auch für die demokratische Moderne konstitutiv ist. Doch der Text regt durch die weitere, aber weniger offensichtliche Darstellungsebene auch zu einer kritischen Gegenlektüre an, infolge der sich die offensichtliche Textebene sowohl in ihrer text-systematischen wie philosophischen Architektonik als falsch erweist. Sie wird „untergraben“ und muss „endlich einstürzen“. Dadurch hört zwar die Text-Architektonik mitsamt der mit ihr artikulierten philosophischen Systematik nicht auf zu bestehen. Aber sie erweist sich eben als falsch und bloß scheinbar – wie die Staaten, die auf Basis des Prinzipien-Systems errichtet sind, welches auf der exoterischen Textebene zur Darstellung kommt. Doch im Zuge der kritischen Lektüre wird auch die Gegen-Architektonik des tatsächlichen Gebäudes der Freiheit erkennbar: die Architektonik einer wahren Republik der Freiheit. Wie die ihr korrespondierende Wirklichkeit der (Rousseau’schen) Volkssouveränität ist diese Architektonik allerdings auf Anhieb nicht sichtbar, nichtsdestotrotz aber existent – und freiheitsrechtlich betrachtet die einzig wahre. Man kann also festhalten: Der letzte und zugleich erste Anfangsgrund der Volkssouveränität eröffnet eine völlig neue und überraschende Sicht auf die moderne Staatenwelt, insbesondere aber auf die demokratische Moderne nach 1789. Einerseits sind die realexistierenden Staaten ihm zufolge nur freiheitswidrige Schein-Gebäude, sie sind falsche Republiken. Andererseits muss das wahre Gebäude der Freiheit aber nicht erst historisch errichtet werden, wie jene falschen Republiken – etwa durch einen gesellschaftsvertraglichen Staatsgründungsakt (ein historisches Faktum).641 Denn seit und solange es die Freiheit erstursächlicher Kausalität und letztinstanzlicher Selbstbestimmung gibt, ist und wird die wahre Republik der Freiheit auch 641

Der letzte und zugleich erste Anfangsgrund der Volkssouveränität ist somit als der ultimative Grund dafür anzusehen, weshalb dem ‚Staatsrecht‘ zufolge kein historischer Staatsgründungsakt vonnöten ist, um die wahre Republik der Freiheit zu gründen – wohingegen jene falschen Republiken jederzeit auf eine wie auch immer vollzogene ‚politische‘ Autorisation angewiesen sind, will man sie überhaupt vom Freiheitsgesichtspunkt aus denken.

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„dem Buchstaben nach“ wirklich sein, als demokratische Staatsform und repräsentatives System des Volks. So gesehen legt das Kantische ‚Staatsrecht‘ eine Philosophie der Volkssouveränität vor, die für uns Menschen zeitlos ist. Diese Philosophie der Volkssouveränität könnte man mit dem überpointierten Titel Fatalismus der Freiheit versehen: Die Ausübung der Volkssouveränität ist alternativlos wie ein Fatum und eine Wahl besteht lediglich dahingehend, auf welche Weise die Volkssouveränität ausgeübt werden soll. Immerhin hat das ‚Staatsrecht‘ über die zwei grundverschiedenen und grundlegenden Alternativen Auskunft gegeben, vor die einen der Scheideweg der Freiheit nunmehr stellt. Denn die unumgängliche Ausübung der Volkssouveränität kann entweder freiheitsbejahend oder freiheitsverneinend geschehen, und weiterhin entweder im Einklang mit dem Postulat des öffentlichen Rechts und den davon ausgehend begründeten Anfangsgründen der Volkssouveränität, oder eben gegen das Postulat und diese Anfangsgründe. Das aber heißt: Die Ausübung der Volkssouveränität kann in einer selbstbewussten und selbstkritischen Praxis der Freiheitsbehauptung stattfinden, die eine eigenverantwortliche Sorge um die öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten anstrebt, oder sie kann weiterhin in jenem „schwankendem Zustande der [angeblichen] Ungewissheit und Widersprüche“ praktiziert werden, in dem die Völker „bisher geblieben“ sind.642 Aufgrund der neuen Sicht auf die demokratische Moderne, die besagter Anfangsgrund der Volkssouveränität eröffnet, ist jedoch auch ihre Ideengeschichte neu zu schreiben. Denn laut diesem Anfangsgrund steht die Volkssouveränität Rousseaus zwar tatsächlich in Opposition zur modernen Staatenwelt, freilich aber nicht in Gestalt einer „verweigerten Moderne“ (Herb), die den wirklichen Verhältnissen einen nur schwer oder gar unmöglich zu verwirklichenden Idealstaat der Freiheit entgegenstellt. Denn fernab davon, etwa nur ein Staat für Götter und Engel zu sein, ist dieses Modell der Volkssouveränität dem Kantischen Freiheitsrecht zufolge nicht nur die schlechthin notwendige, sondern zugleich die einzig mögliche und einzig wirkliche Form souveräner staatlicher Herrschaft. Dem korrespondiert schließlich, dass das ‚Staatsrecht‘ von 1797 das antivoluntaristische Programm der Idealisierung des Volkswillens als freiheits642

Vgl. KrV, B 19.

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rechtlich unmöglich erkennbar macht – für welches die Kantische Staatsphilosophie immerhin zu stehen scheint und letztlich sogar berühmt ist. Tatsächlich beschreibt dieses Programm aber eben nur eine Funktion all jener herkömmlichen Staatslehren, welche – indes vergeblich – die staatliche Herrschaft auf dem modernen Prinzip der Repräsentation gründen wollen. Wenn nun die Völker angeblich immer schon die alleinigen Souveräne waren und sich daran auch künftig nichts ändern soll, was heißt das dann für die demokratische Moderne als Verfassungsprojekt: Wozu bedarf es überhaupt demokratischer Verfassungen, wenn die demokratische Staatsform immer schon existent war? Sind demokratische Verfahren der Willensbildung nicht vielmehr bedeutungslos, wenn die Gemeinwillen der Völker offenbar auch ohne diese Verfahren herrschen können? – Die Antwort lautet schlicht: Nein. All dies würde nur wieder auf eine falsche Idealisierung und schlussendlich auf eine Verneinung der Volkssouveränität hinauslaufen. Es ist nicht zu vergessen, dass der entscheidende Anfangsgrund der Volkssouveränität in § 46 eine prozedurale Genese des souveränen Volkswillens vorschreibt. Der souveräne Wille soll aus einem tatsächlichen Verfahren der Willensbildung hervorgehen. Aber auch ein Großteil der darauf folgenden Anfangsgründe besteht aus Prinzipien für die Verfassung von Institutionen, welche die rechtmäßige Ausübung des so generierten Willens zum Ziel haben. Diese Infrastruktur soll es den Staatsbürgern überhaupt erst möglich machen, gemeinschaftlich Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ihr zuvor gebildeter Wille der einzig souveräne Wille im Staat ist und bleibt. Denn als Adressaten des Postulats des öffentlichen Rechts sind die Staatsbürger ganz grundsätzlich dazu aufgefordert, im Hier und Jetzt Institutionen des öffentlichen Rechts zu errichten, zu erhalten und zu kultivieren – um der öffentlich-rechtlichen Behauptung ihrer Freiheit willen. So ist es keineswegs zufällig, dass das repräsentative System Frankreichs in § 52 dem Buchstaben nach sowohl mit dem System jener falschen Republik identisch ist als auch mit dem einer wahren. Mit der Französischen Revolution wurde es nämlich zum Standard jeder Staatsverfassung, eine Infrastruktur öffentlich-rechtlicher Selbstbestimmung bereitzustellen. Und dem wollen die Verfassungen moderner repräsentativer Demokratien nach wie vor gerecht werden; aber immer noch warten sie auf eine Verfassungspraxis, die das

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ihnen eingeschriebene demokratische Potential ungehemmt zur Entfaltung bringt. Für uns heute heißt das vor allem: Wir dürfen nicht nachlässig darin werden, für unsere demokratischen Verfassungen Sorge zu tragen, die uns bis zum heutigen Tag ermöglichen wollen, als Staatsbürger gemeinsam handlungsfähig zu sein. Doch nach Auskunft des ‚Staatsrechts‘ ist der erste Schritt hierzu die Überwindung jenes überkommenen Prinzips der Repräsentation qua ‚politischer‘ Autorisation. Dieser Schritt bedeutet einen Neuanfang der Volkssouveränität – nach Anfangsgründen der Volkssouveränität.

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Literatur

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Anfangsgründe der Volkssouveränität

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Danksagung Acht Jahre hat es gedauert, dieses Buch zu schreiben, und von vielen Seiten wurde ich dabei unterstützt. Mein größter Dank gilt meinem Doktorvater Hans Friedrich Fulda. Er hat meine Typoskripte zum ‚Staatsrecht‘ über die Jahre hinweg immer wieder mit akribischer Genauigkeit durchgearbeitet und mich nicht wenige Male dazu bewegt, noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Die Kunst des philosophischen Kommentierens konnte ich nur so erlernen. Danken möchte ich zudem: Peter König, für die Inspiration und Kritik, aber auch für die Begutachtung der Arbeit in schwierigen Zeiten; Brigitta Sophie von Wolff-Metternich, die mir stets mit gutem Rat beigestanden hat und mit der ich in vielen gemeinsamen Lektüren die Geographie der Kantischen Texte erkunden konnte; Ulrich Thiele, meinem ersten philosophischen Lehrer, in dessen interdisziplinärem Arbeitskreis das Vorhaben seinen Ausgang nahm; und Hauke Brunkhorst, der mich immer wieder aufs Neue dafür begeistert, mit dem ‚Staatsrecht‘ über das ‚Staatsrecht‘ hinauszudenken. Besonderer Dank gilt der Studienstiftung des deutschen Volkes: für die großartige Förderung durch ein Promotionsstipendium und die besondere Anerkennung, welche die Jury des Johannes Zilkens-Promotionspreises meiner Arbeit zuteil werden ließ. Es handelt sich um die erste philosophische Arbeit, die in diesem Kontext Würdigung fand. Das weiß ich sehr zu schätzen. Von ganzem Herzen möchte ich meiner Familie und meinen Freunden danken. Alle lassen sich an dieser Stelle nicht aufführen. Nennen will ich meinen Cousin Kevin Höhn, mit dem mich vor allem eins eint: die Liebe zum Text.

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