Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft: Normativität, Rationalität und Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im Deutschen Idealismus 9789004327184, 9789004327191

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Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft: Normativität, Rationalität und Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im Deutschen Idealismus
 9789004327184, 9789004327191

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Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft

Critical Studies in German Idealism Series Editor Paul G. Cobben Advisory Board Simon Critchley – Paul Cruysberghs – Rózsa Erzsébet – Garth Green Vittorio Hösle – Francesca Menegoni – Martin Moors – Michael Quante Ludwig Siep – Timo Slootweg – Klaus Vieweg

VOLUME 18

The titles published in this series are listed at brill.com/csgi

Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft Normativität, Rationalität und Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im Deutschen Idealismus Herausgegeben von

Saša Josifović und Arthur Kok

LEIDEN | BOSTON

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Josifovic, Sasa, editor. Title: Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft : Normativitat, Rationalitat und  Gewissen in der Philosophie Immanuel Kants und im Deutschen Idealismus /  Herausgegeben von Sasa Josifovic und Arthur Kok. Description: Leiden : Boston : Brill, 2016. | Series: Critical studies in  German idealism, ISSN 1878-9986 ; VOLUME 18 | Includes index. Identifiers: LCCN 2016033201 (print) | LCCN 2016034379 (ebook) | ISBN  9789004327184 (hardback : alk. paper) | ISBN 9789004327191 (E-book) Subjects: LCSH: Kant, Immanuel, 1724–1804. | Conscience. | Idealism, German. Classification: LCC B2799.E8 I57 2016 (print) | LCC B2799.E8 (ebook) | DDC  170—dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2016033201

Typeface for the Latin, Greek, and Cyrillic scripts: “Brill”. See and download: brill.com/brill-typeface. ISSN 1878-9986 isbn 978-90-04-32718-4 (hardback) isbn 978-90-04-32719-1 (e-book) Copyright 2017 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill, Brill Hes & De Graaf, Brill Nijhoff, Brill Rodopi and Hotei Publishing. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill NV provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, MA 01923, USA. Fees are subject to change. This book is printed on acid-free paper and produced in a sustainable manner.

Inhaltverzeichnis Über die Autoren VII Einleitung 1 Saša Josifović und Arthur Kok Selbstbestimmung der Person und sittliche Gemeinschaft als Grundlagen der Ethik 8 Klaus Düsing „Verdammnis“ und „Lossprechung“ durch das Gewissen: Zum Verhältnis von Freiheit und moralischer Verantwortlichkeit in Kants praktischer Philosophie 24 Walid Faizzada Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft Kants Theorie des Gewissens als Ausdruck der unbedingten Selbstverpflichtung zur Freiheit 47 Saša Josifović Gewissen und Verbindlichkeit Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolff und Adam Smith 63 Heiner F. Klemme Gott als Richter? Zum Gewissen im § 13 von Kants Tugendlehre 84 Thomas Oehl Über einen (unentdeckten) Gottesbeweis in Kants Philosophie des Gewissens 115 Elke Elisabeth Schmidt und Dieter Schönecker Jenseits des Gewissens Der Mensch als Endzweck der Schöpfung 154 Arthur Kok

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Inhaltverzeichnis

Natur versus Freiheit? Zu Hegels logischer Überwindung eines wirkungsmächtigen Gegensatzes 170 Christian Krijnen Reason’s Search for the Unconditioned and the Standpoint of the Subject in Kant 189 Stefan Bird-Pollan Die Person als Selbstzweck 208 Paul Cobben Individuum est effabile Hegels Versuch einer Weiterführung Kants in der Sicht des Menschlichen 219 Kurt Appel Index 245

Über die Autoren Kurt Appel Dr. theol., Dr. phil., Professor für Theologische Grundlagen-forschung an der Universität Wien, Gastprofessor an der Facoltà Teologica dell’Italia Settentrionale, Leiter der Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ an der Universität Wien. Veröffentlichungen: u.a. „Preis der Sterblichkeit. Christentum und Neuer Humanismus“, Herder 2015; „Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling“, Schöningh 2008. Stefan Bird-Pollan ist Assistant Professor für Philosophie an der University of Kentucky. Wichtiges Veröffentlichungen sind, u.a. Hegel, Freud and Fanon; the Dialectic of Emancipation (Rowman and Littlefield, 2015), “Hegel’s Grounding of Intersubjectivity” sowie Veröffentlichungen zu Kant, McDowell, Walter Benjamin, Theodor Adorno und Rawls. Paul Cobben (geb. 1951) ist Professor für Philosophie an der Universität Tilburg (Niederlande). Seine Veröffentlichungen kombinieren einen systematischen Ansatz mit einem historischen, und konzentrieren sich auf praktische Philosophie. Neueste Veröffentlichungen: The Paradigm of Recognition: Overcoming the Fear of Death (2012) und Value in Capitalist Society: Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism (2015). Klaus Düsing (geb. 1940) ist Professor in Bochum (1976), Siegen (1980), Köln (seit 1983), Emeritus an der Universität Köln, Philosophisches Seminar. Schwerpunkte: Klassische deutsche Philosophie, Philosophie der griechischen Antike, Phänomenologie, Erkenntnistheorie, Ethik, Subjektivitätstheorie. Neuere Veröffentlichungen: Selbstbewußtseinsmodelle: Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität (1997) und Fundamente der Ethik: Unzeitgemäße typologische und subjektivitätstheoretische Untersuchungen (2005). Walid Faizzada (geb. 1984 in Kabul), studierte bis 2010 Philosophie in Köln und promoviert seit 2011 an der Universität in Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Antike Philosophie und Klassische Deutsche Philosophie.

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Über Die Autoren

Saša Josifović ist Privatdozent für Philosophie an der Universität zu Köln. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Klassischen Deutschen Philosophie, insbesondere Philosophie des Bewusstseins und Selbst­ bewusstseins sowie Philosophie der Freiheit. Darüber hinaus ist er in der Interkulturellen Philosophie mit einem besonderen Interesse an der Chinesischen Klassik aktiv. Neueste Veröffentlichungen: Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit (2014) und Das Kanon-Problem in der “Kritik der reinen Vernunft” (2015). Heiner F. Klemme ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Leiter des dortigen Immanuel-Kant-Forums. Professor für praktische Philosophie an der Universität Wuppertal (2006–2008) und für Philosophie der Neuzeit an der Universität Mainz (2008–2014). Gastprofessuren in Brasilien und China. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart, insbesondere Kant und praktische Philosophie. Letzte Veröffentlichung: The Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers, 2. Auflage (hrsg. zusammen mit M. Kuhen), London, New York 2016. Arthur Kok (geb. 1981) studierte Philosophie in Tilburg und Berlin. Seine Dissertation wurde in 2013 veröffentlicht als Monographie Kant, Hegel, und die Frage der Metaphysik (München: Wilhelm Fink). Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Religionsphilosophie und politische Philosophie. Neueste Veröffentlichungen: Contemporary Social Contract Theory and Hegel’s Master/Bondsman-Relation (2015) und Objektiver und absoluter Geist nach Hegel (vorgesehen 2017, mit Thomas Oehl). Christian Krijnen (geb. 1965) lehrt als Associate Professor Philosophie an der Vrije Universiteit Amsterdam. Promotion 2001, Habilitation 2006. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Kant, Hegel, Neukantianismus und der Transzendentalphilosophie der Gegenwart. Neueste Monographie: The Very Idea of Organization. Social Ontology Today: Kantian and Hegelian Reconsiderations, Brill (2015). Thomas Oehl (geb. 1989) studierte Philosophie in München und Oxford. Seit 2014 arbeitet und forscht er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie

Über Die Autoren

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II der LMU München, systematisch vorwiegend in den Bereichen Erkennt­ nistheorie, Metaphysik und Religionsphilosophie, historisch v.a. zu Kant und Hegel sowie der modernen analytischen Philosophie. Neueste Veröffentlichen: fünf Artikel (Aberglaube, Als ob, logische Identität, vornehmer Ton, Verstehen) für das Kant-Lexikon (2015) und Objektiver und absoluter Geist nach Hegel ­(vorgesehen 2017, mit Arthur Kok). Elke Elisabeth Schmidt (MA) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Siegen). Forschungsschwerpunkte: Kants Ethik, Philosophie der Liebe. Mitarbeit an der Neuedition der Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre (BBAW) sowie an einem Kommentar zur Tugendlehre. Veröffentlichungen (Auswahl): Vernunft, Herz und Gewissen. Kants Theorie der Urteilskraft zweiter Stufe als Modell für die Medizinische Ethik (2014) und (mit D. Schönecker) Kants Philosophie des Gewissens. Skizze für eine kommentarische Interpretation (2014). Dieter Schönecker Professor für Philosophie (Siegen). Forschungsschwer­punkte: Kants Ethik, Metaethik, Religionsphilosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): Selbst philosophieren. Ein Methodenbuch (2013, mit G. Damschen) und Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit (2005); ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘. Ein einführender Kommentar (2011, mit A. Wood, übersetzt ins Englische und Portugiesische).

Einleitung Saša Josifović und Arthur Kok Die Theorie der praktischen Freiheit, die im Deutschen Idealismus entwickelt wurde, stellt ein Glanzlicht der philosophischen Theorie praktischer Selbstkonstituierung menschlicher Identität dar. Sie beinhaltet eine systematische Erörterung und Darstellung aller handlungsrelevanten Aspekte hinsichtlich bestehender Begründungszusammenhänge, Zwecksetzungen, der Handlungsorganisation, aber auch hinsichtlich der Ausrichtung der Totalität der Praxis auf das höchste Gut. Vor allen Dingen besitzt sie ausgeprägte Stärken im Bereich der Handlungszuschreibung und Kontrolle, indem sie systematische Erörterungen der Transparenz und Kontingenz von Identifikationsprozessen menschlicher Akteure mit einzelnen Aspekten von Ereignissen beinhaltet. Mit dieser inhaltlichen und systematischen Breite besitzt sie sowohl in retrospektiver als auch in prospektiver Hinsicht erhebliche Relevanz. In retrospektiver Hinsicht wird deutlich, dass sie auf einer traditionsreichen Geschichte der Metaphysik der Freiheit beruht, die, wie Kobusch in Die Entdeckung der Person schreibt, „im 13. Jh. beginnt und alsbald das Geistesleben des Kontinents in Atem hielt“.1 Diese „Geschichte der Freiheit des modernen Menschen“2 findet in prospektiver Hinsicht ihre realen Auswirkungen im modernen Staat: „Denn die reale Frucht dieser Metaphysik ist der moderne, freiheitliche Rechtsstaat, in dem die Freiheit durch die unbedingte Respektierung unveräußerlicher Menschenrechte konkrete Wirklichkeit wurde.“3 Der traditionsreichen Geschichte der Metaphysik der Freiheit, die ihr vorausgeht, verleiht die Klassische Deutsche Philosophie, namentlich Kants Theorie der praktischen Freiheit, ganz spezifische, richtungsweisende Impulse, indem sie dem Gedanken der Autonomie eine deutliche Kontur verleiht und somit ein ebenso deutliches Verständnis dessen, was wirkliche Selbst-Bestimmung bedeutet, entwickelt. Mit der reifen Theorie der wechselseitigen Beziehung von Freiheit und Sittengesetz als ratio essendi und ratio cognoscendi, der Theorie vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft und ‚Grundgesetz‘ der intelligiblen Welt, und nicht zuletzt der spezifischen Rolle, die praktische Gesetze als Imperative im komplexen Gefüge der Willensstruktur und Handlungsorganisation 1  Kobusch, Theo (1997): Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. 20. 2  Kobusch 1997, 20. 3  Idem, 21.

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menschlicher Akteure spielen ‚erfindet‘ Kant zwar weder den Menschen, noch die ‚Person‘, aber sie gibt ihm eine ganz bestimmte, erkennbare Kontur, indem sie die vollständige Transparenz von Begründungszusammenhängen ermöglicht, die der freien Willentlichen Selbstbestimmung in Entschei­ dungsprozessen und Handlungen zugrunde liegen muss. Ihre Strahlkraft reicht bis hin zu gegenwärtigen Theorien der Fundierung moralischer Normativität in freier, willentlicher Selbstbestimmung. Die von Kant ausgehende Theorie der praktischen Freiheit zeichnet sich in erster Linie durch den Gedanken der Autonomie als ursprüngliche Quelle praktischer Normativität aus und umfasst neben der moralischen auch eine pragmatische bzw. instrumentelle Dimension praktischer Normativität. Eine Schlüsselfunktion besitzen dabei praktische Gesetze. Kants Ausführungen in der Kritik der Praktischen Vernunft, § 1 inklusive Anmerkung, zufolge wird zwischen praktischen Grundsätzen und praktischen Gesetzen unterschieden. Praktische Grundsätze sind subjektiv verbindlich, praktische Gesetze sind objektiv verbindlich. Subjektive Grundsätze stellen Maximen dar, während praktische Gesetze für menschliche Akteure und alle anderen vernunftfähigen Wesen, die sich durch Willensschwäche auszeichnen, als Imperative vorgetragen werden. Imperative gebieten demnach, was unter allen Umständen geschehen soll, während Maximen, sofern in ihnen überhaupt eine regulative Funktion der Vernunft enthalten ist, gebieten, was unter bestimmten Bedingungen geschehen soll. Da Imperative keine Ausnahmen zulassen, sind Maximen, sofern sie im Widerspruch mit Imperativen stehen, stets ungültig. Es ist also nicht möglich, dass ein menschlicher Akteur eine „unmoralische Maxime“ rational rechtfertigt, denn um unmoralisch zu sein, muss die Maxime einem bzw. dem Imperativ widersprechen. Soll sie aber rational gerechtfertigt werden, muss sie auf der Vernunft beruhen, was bedeutet, dass die Vernunft Imperative vorschreiben würde, die keine Ausnahmen zulassen und zugleich eine Regel vorschreiben würde, die der Ausnahmslosigkeit der Imperative widerspricht. Das wäre wiederum ein Widerspruch der Vernunft mit sich selbst, was nicht gebilligt werden kann. Zwar ist es durchaus möglich, dass ein Mensch unmoralische Maximen hat, aber es ist nicht möglich, sie rational, also als ‚vernünftig‘, anzusehen und – vor allen Dingen – in Berufung auf Autonomie zu rechtfertigen. Eine leistungsfähige und widerspruchsfreie Theorie der Autonomie verlangt, dass die Gesetze, die ausnahmslos gelten sollen, auch ausnahmslos gelten. Ob sie verlangt, dass überhaupt ausnahmslos gültige praktische Gesetze gegeben werden, also kategorische Imperative formuliert werden, ist eine Frage für sich, in deren Beantwortung Kants Beitrag zur Geschichte der Metaphysik der Freiheit besteht. Ohne die Autonomie und das Faktum der Vernunft, woraus ausnahmslos gültige praktische Gesetze

Einleitung

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entspringen, besäße die intelligible Kausalität, also die Kausalität aus Freiheit, keine gesetzliche Grundlage; denn hypothetische Imperative „sind zwar praktische Vorschriften, aber keine Gesetze“.4 In Analogie zur Physik wäre dies ähnlich, wie wenn zwar kein Gravitationsgesetz bestünde, aber beliebige Fallgesetze existierten, wobei nicht auszuschließen ist, ob die einzelnen Fallgesetze einander widersprechen. Wenn das so wäre, wäre es nicht möglich, zu bestimmen, wohin und wie schnell etwas fällt. Ähnlich unmöglich wäre es zu bestimmen, was als Folge einer Tat in moralischer Hinsicht hervorgeht. Damit solche Unsicherheit nicht besteht, sind praktische Gesetze und deren Vortrag als kategorische Imperative, unerlässlich. Darin besteht der neue Impuls, den Kant der sonst sehr traditionsreichen Metaphysik der Freiheit verleiht, in deren Zentrum ansonsten durchaus die Person als moralisches Wesen, nämlich „ens morale“ im Kontext einer sozialen Welt, die seit dem 13. Jh. traditionell als „sphaera moralis, das ‚Reich der Sitten‘ oder das ‚Reich der Freiheit‘ “5 bezeichnet wurde. Somit steht die menschliche Handlung, die speziell als freie Handlung thematisch ist, im Mittelpunkt der Metaphysik der Freiheit, in deren Tradition Kants Theorie der praktischen Freiheit entwickelt wird. Ein auffälliges Charakteristikum der von Kant entwickelten Theorie der praktischen Freiheit und darin enthaltenen Handlungstheorie stellt die Strenge der Pflichtzuschreibung dar. Sie kulminiert in der Theorie des Gewissens, das als Strukturbeschreibung eines inneren Dialogs zwischen der gesetzgebenden Vernunft, also dem Subjekt der Autonomie, und der Instanziierung der Vernunftfähigkeit im empirischen Menschen, dem empirischen Subjekt, präsentiert wird. Dieser „innere Gerichtshof“,6 der die Fähigkeit des Menschen als „dem angeborenen Richter über sich selbst“7 zum Ausdruck bringt, dient in diesem Sammelband als Ausgangs- und Bezugspunkt für eine umfassende Erörterung der Theorie der Normativität, Rationalität, Pflichtzuschreibung und Handlungskontrolle in Bezugnahme auf das geistige Erbe des Deutschen Idealismus und der Philosophie der Aufklärung. „Es ist“ nämlich, wie Kant in der Religionsschrift betont, „ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf: man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es unrecht sei (. . .). Das Bewußtsein also, daß eine Handlung, die ich unternehmen will, recht ist, ist unbedingte Pflicht“,8 und es ist Sache des Gewissens, behutsam zu prüfen, ob 4  Kant: AA V, Kritik der praktischen Vernunft, 20. 5  Kobusch 1997, 19. 6  Cf. Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten, 437: § 13. Von der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als den angebornen Richter über sich selbst. 7  Idem. 8  Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der bloßen Vernunft, 185–6.

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dies im Einzelfall so ist, ob also die Handlung, die ich beabsichtige, pflichtgemäß ist. Ob sie unter das praktische Gesetz fällt, beurteilt die Urteilskraft, ob aber diese Prüfung ‚behutsam‘ erfolgt, ist eine Frage des Gewissens, das als in der Tugendlehre als „innerer Gerichtshof im Menschen“9 bezeichnet wird und ein als intrasubjektiv oder intersubjektiv anzusehendes Verantwortungsverhältnis zwischen der empirischen und einer idealischen Person, also Mensch und Gott, eröffnet, innerhalb dessen der Mensch 1. als Sinnenwesen und 2. als Subjekt der Autonomie auftritt, und sich darüber Rechenschaft ablegt, wie viel Freiheit in seinem Tun und Lassen enthalten ist. Die für Kants Philosophie charakteristische Strenge der Pflichtzuschreibung wird in den aktuellen handlungstheoretischen Debatten, insbesondere in Bezugnahme auf Normativität, Rationalität und moralische Motivation, vielfach kritisch hinterfragt, namentlich wenn sich ethische und rechtliche Normen in Konflikt geraten und sich ein Widerspruch zwischen dem inneren und äußeren Gerichtshof der Vernunft einstellt. In den aktuellen Debatten wird unter dem Ausdruck „Handlung“ eine spezifische Art von Ereignissen in der Welt verstanden, die sich dadurch auszeichnen, dass sie bestimmten Handlungsträgern, also Akteuren, zugeschrieben werden können, indem sie sich mit einzelnen Aspekten dieser Ereignisse identifizieren und sie als Ausdruck ihrer willentlichen Selbstbestimmung anerkennen können. Kant entwickelt eine der leistungsfähigsten Theorien zur Kontrolle des entsprechenden Identifikationsprozesses und des mit ihm einhergehenden Prozesses der praktischen Selbstkonstituierung von Akteuren. Eine Schlüsselfunktion bei der Kontrolle des für die Konstituierung von Handlungsträgerschaft entscheidenden Identifikationsprozesses mit Ereignissen in der Welt besitzen demnach praktische Grundsätze bzw. Gesetze, die vernunftfähige Wesen in die Lage versetzen, ihre Handlungsweise eigens zu bestimmen, und damit nicht nur zu bestimmen, was sie tun und lassen wollen, sondern auch wie sie es tun und lassen wollen und letztendlich auch zu bestimmen, als was für Persönlichkeiten sie aus der Totalität ihrer Praxis hervorgehen wollen. Praktische Grundsätze stellen also nicht, wie dies in den aktuellen handlungstheoretischen Debatten oftmals unterstellt wird, lediglich eine spezifische Art praktischer Gründe dar, sondern vielmehr den Ausdruck einer höheren Ebene praktischer Normativität, worunter praktische Gründe als Einzelfälle, in denen praktische Grundsätze aktualisiert werden können, fallen. Im konkreten Einzelfall vollzieht sich ein kontrollierter Identifikationsprozess derart, dass ein Akteur, der sich aus der Spontaneität seiner eigenen Vernunft praktische Gesetze gibt und freiwillig zu ihrer Einhaltung verpflichtet, eine 9  Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten, 438.

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empirische Situation erlebt, in der er solche Gesetze – beispielsweise das moralische Gesetz der Nothilfe – aktualisieren kann. Vermittelst der bestimmenden Urteilskraft subsumiert er den Einzelfall unter dieses Gesetz und verpflichtet sich zu der entsprechenden Handlung. Ganz unabhängig davon, welche Neigungen sich ihm einstellen – selbst, wenn es beispielsweise Furcht bei dem Gedanken verspürt, einem Ertrinkenden zu helfen – ist das Subjekt imstande den Identifikationsprozess mit dem entsprechenden Ereignis gänzlich vermittelst der Urteilskraft zu kontrollieren. Aus der Spontaneität der Vernunft entspringen also praktische Gesetze, die eine normative Kraft bei der Gestaltung der Handlungsweise besitzen und vermittels praktischer Urteilskraft die Kontrolle der Identifikationsprozesse ermöglichen. Die 11 Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beziehen greifen das Motiv des „inneren Gerichtshofs im Menschen“ aus unterschiedlichen Perspektiven auf, und entfalten den entsprechenden Gedanken in historischer und systematischer Hinsicht. Den zentralen Bezugspunkt stellt Kants Theorie des Gewissens dar. Da sie in Kants Philosophie sowohl in praktischer als auch religionsphilosophischer Hinsicht erörtert wird, ergibt sich auch für die vorliegenden Beiträge ein entsprechender Kontext. Neben der Erörterung der historischen Weiterführung dieses Gedankens, vor allem bei Hegel, enthält der vorliegende Sammelband such Ansatzpunkte im systematischen Kontext der modernen Handlungstheorie, die sich einerseits als gewinnbringend für das Verständnis zentraler Theorieelemente bei Kant erweist, und andererseits durch die Komplexität und systematische strenge der Klassischen Deutschen Philosophie, insbesondere bei Kant und Hegel, bereichert wird. Auf diese Weise bietet dieser Sammelband einen ideengeschichtlichen, aktualisierenden und kritischen Ausblick, der die bestehende Relevanz und das Problemlösungspotential der Philosophie Immanuel Kants und des Deutschen Idealismus, aufzeigt und ausführt. In seinem Beitrag Selbstbestimmung der Person und sittliche Gemeinschaft als Grundlagen der Ethik gibt Klaus Düsing einen systematisch durchdachten Einblick in zentrale Elemente der praktischen Philosophie in der deutschen Klassik und zeigt, dass ihre Strahlkraft bis hin zu den gegenwärtigen Theorien der Fundierung moralischer Normativität in freier, willentlicher Selbstbestimmung reicht. Walid Faizzadas Beitrag, „Verdammnis“ und „Lossprechung“ durch das Gewissen: Zum Verhältnis von Freiheit und moralischer Verantwortlichkeit in Kants praktischer Philosophie erörtert Kants Theorie praktischer Rationalität in einem freiheitstheoretischen Kontext, und zwar in unmittelbarer Bezugnahme auf Kants Theorie des Gewissens und die gedankliche Figur des Gerichtshofs der Vernunft. Sasa Josifovic interpretiert in seinem Beitrag Der „innere Gerichtshof der Vernunft“: Kants Theorie des Gewissens als

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Ausdruck der unbedingten Selbstverpflichtung zu Freiheit, den Gerichtshof der Vernunft und das entsprechende Verantwortungsverhältnis als intrasubjektiv, nämlich als transzendentalphilosophische Strukturbeschreibung praktischer Subjektivität im handlungstheoretischen Kontext. Heiner Klemme eröffnet in seinem Beitrag Gewissen und Verbindlichkeit: Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolff und Adam Smith, eine ideengeschichtliche Perspektive und betont, dass das Gewissen für Kant ein Prinzip der inneren Selbstbeurteilung eines um seine Pflichten wissenden Vernunftwesens darstellt, das Kant in den Bereich der Moralpsychologie situiert. Thomas Oehls Beitrag stellt ebenfalls einen ideengeschichtlich reichhaltigen, aber auch systematisch und philologisch gründlichen Einblick in die Problematik des Gewissens dar: Gott als Richter? Zum Gewissen im § 13 von Kants Tugendlehre. In historischer Hinsicht stellt Kants Theorie des Gewissens eine im Detail zu untersuchende Variante des intimen Verantwortungsverhältnisses zwischen Mensch und Gott dar, das, wie Kobusch an bereits genannter Stelle betont, seit dem 13. Jh. als solches erörtert und weiter entwickelt wird und bei Kant letztendlich eine transzendentalphilosophische Reprise erhält. Diesem Verhältnis und dem Verständnis sowie der Rolle Gottes im „Gerichtshof der Vernunft“ gehen Elke Schmidt und Dieter Schönecker in ihrem gemeinsamen Beitrag, Über einen (unentdeckten) Gottesbeweis in Kants Philosophie des Gewissens nach, wobei sie hier sogar einen bislang unentdeckten Gottesbeweis sehen. Arthur Koks Jenseits des Gewissen: Der Mensch als Endzweck der Schöpfung bei Kant bringt in diesem metaphysischen bzw. theologischen Zusammenhang den umfassenderen Kontext der kantischen Teleologie ein und erweitert die Untersuchung auf das Verhältnis von Moralität und Religion im Ganzen. Sowohl die Theorie der Handlung als Element der moralischen Selbstbestimmung als auch die Theorie der Freiheit werden im Deutschen Idealismus von Hegel entscheidend weiter entwickelt und in einen umfassenden systematischen Kontext eingebettet. Den entsprechenden Theoretischen fortschritt, der sich auch im Durchgang durch die Beiträge von Fichte und Schelling einstellt, bringt in diesem Band Christian Krijnens Beitrag, Natur und Freiheit? Zu Hegels logischer Überwindung eines wirkungsmächtigen Gegensatzes, im Rahmen einer Erörterung von Hegels Überwindung des Gegensatzes zwischen Natur und Freiheit zum Ausdruck. In Stefan BirdPollens Beitrag, Reason’s Search for the Unconditioned and the Standpoint of the Subject in Kant, wird in Auseinandersetzung mit Hegel und John McDowell der Standpunkt vertreten, dass Kant nicht bloß eine statische und transzendentale, sondern auch eine dynamische und immanente Perspektive der Vernunft ausgearbeitet hat.

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Die zwei abschließenden Beiträge betonen die bemerkenswerte Nähe zwischen Kants und Hegels Standpunkten im thematishcen Kontext. Paul Cobben vergleicht in seinem Beitrag Die Person als Selbstzweck den Kantischen Imperativ mit dem Hegelschen Rechtsgebot. Er betont zwar die Unterschiede zwischen Kant und Hegel, weist aber auch auf bestehende Gemeinsamkeiten hin. Kurt Appel macht in seinem Beitrag Individuum est effabile: Hegels Versuch einer Weiterführung Kants in der Sicht des Menschlichen ebenfalls darauf aufmerksam, dass zwischen Kant und Hegel eine gewisse Kontinuität besteht. Im Anschluss an Hegels Verständnis der Religion in der Phänomenologie des Geistes, bringt er zum Ausdruck, wie das sich erkennende Selbst, gerade in seiner Endlichkeit und Kontingenz seiner selbst gewahr wird.

Selbstbestimmung der Person und sittliche Gemeinschaft als Grundlagen der Ethik Klaus Düsing In der Spätzeit sog. „westlicher“ Zivilisationen gilt weithin Relativismus oder Skeptizismus in der Ethik als aufgeklärtes Resultat der Desillusionierung von hochfahrenden Geltungsansprüchen des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei scheint dann der ethische Relativismus, nämlich daß sich in verschiedenen Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten die Menschen von jeweils sehr divergierenden Vorstellungen von Sitte und Sittlichkeit leiten lassen oder sich ihnen anpassen, durchaus liberal und tolerant zu sein. Werden solche unterschiedlichen, ja ggf. entgegengesetzten Vorstellungen als gleichwertig aufgefaßt, und gilt es als unentscheidbar, welche zu wählen ist, so ergibt sich ein ethischer Skeptizismus. Hintergrund für solchen Relativismus oder deutlicher Skeptizismus kann interkulturelle Vielfalt sein. Sie wird oft für modern gehalten, ist aber nicht neu. Ähnliches gab es im spätrömischen Weltreich mit seinen vielfältigen Kulturen und Religionen; und der argumentreichste damalige Skeptiker: Sextus Empiricus folgerte aus dem Grundgedanken, daß jeder Aussage eine gleichwertige entgegengesetzte gegenüberstehe, die Urteilsenthaltung (Epoché). Aber dann wird es praktisch unmöglich, im Ernstfall, wenn Lebensentscheidungen oder einschneidende sinnhafte Opfer anstehen, eine für den Einzelnen tragfähige sittliche Orientierung und Entscheidung zu treffen; denn das Gegenteil ist ebenso möglich, und nichts gilt als gerechtfertigt einsehbar. Solchen grundlegenden Entscheidungen kann man aber in der lebensweltlichen Praxis kaum ausweichen, z.B. wenn man an einem ethischen „Scheideweg“ steht. Dann bedarf das Individuum in seinem Personsein grundlegender sittlicher Orientierung für sein Handeln. Das Personsein aber ist wesentlich charakterisiert durch Selbstbewußtsein, das, wenn es sich aus eigener Überlegung und Entscheidung selbst bestimmen soll, insofern auch autonom oder selbstgesetzgebend sein muß. Die Theorie darüber liefert eine subjektivitätstheoretisch fundierte Ethik, die aber nicht nur theoretische Explikation enthält, sondern ebensosehr von praktisch-sittlicher Bedeutung ist. Dies sei nun in Grundlinien gezeigt. – Teil 1 gilt im Ausgang von Kant und Fichte der Darlegung von praktischem Selbstbewußtsein in seinem strukturreichen Modell voluntativer Selbstbestimmung. In Teil 2 soll die Idealisierung dieses konkreten Selbstbewußtseinsmodells zu einer allgemeinen grundlegenden © koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_003

Selbstbestimmung der Person und sittliche Gemeinschaft

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Bestimmung skizziert werden, aus der als intentionales Korrelat das allgemeingesetzliche Prinzip ethischer Gemeinschaft hervorgeht; und Teil 3 erörtert die Realisierung dieser ethischen Selbstbestimmung und ihres intentionalen Prinzips in Pflichten, Tugenden und Zwecken sowie in dem höchsten Zweck.1 1

Praktisches Selbstbewußtsein als voluntative Selbstbestimmung

Sucht man prinzipiell das Verhältnis von Personsein oder praktischem Selbstbewußtsein einerseits und Sittlichkeit, orientiert am Sittengesetz, andererseits zu klären, so führt der geschichtliche Rückblick auf klassische Theorien bevorzugt auf Kants Lehre, aber nicht primär auf die „Kritik der praktischen Vernunft“, sondern auf Kants Reflexionen und Metaphysik-Vorlesungen der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts. So erklärt er z.B.: „Dadurch, daß das Subjekt libertatem absolutam hat, weil es sich bewußt ist, beweiset es, daß es nicht subjectum patiens, sondern agens sei (. . .). Wenn ich sage: ich denke, ich handele etc.; dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei.“2 Die reine Spontaneität und Aktivität des Subjekts oder des Ich, die auf seinem Selbstbewußtsein beruht, ist also schon absolute Freiheit; es ist per se autonom und frei. Die Selbstgegenwärtigkeit des freien Ich aber ist, wie Kant in diesem Entwurf – sehr anders als später – konzipiert, die ursprüngliche Evidenz einer intellektuellen Anschauung, durch die das Ich sich auch in eine intelligible Welt versetzt. Diese Bestimmungen bilden für ihn dann offenbar die Grundlagen für den sittlich-freien Willen, für seine Intellektualität und Selbstgegenwärtigkeit. Dies sind, was hier nur erwähnt sei, Ansätze

1  Hier können in der Kürze der Darstellung nur komprimierte zentrale Argumente aufgezeigt werden. Für ausführlichere Erörterungen sei der Hinweis erlaubt auf die Darlegungen des Verf.s: „Fundamente der Ethik. Unzeitgemäße typologische und subjektivitätstheoretische Untersuchungen“ (2005) sowie – knapper – vom Verf.: „Fundamente der Ethik. Eine Problemskizze“. In: „Ethik als prima philosophia?“ (2011) und ders.: „Ethischer Relativismus als Reduktionismus und die Lehre vom sittlichen Selbst“ (2012). – Für die im Folgenden skizzierte Theorie der Selbstbewußtseinsmodelle sei der Hinweis auf die ausführliche Darlegung des Verf.s gestattet: „Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität“ (1997). 2  Kant: Vorlesungen über die Metaphysik, 206; vgl. z.B. auch Kant: AA XVII, Refl. 4225 (464 ff.), auch Refl. 4336 (idem, 509 ff.) u.ö. Vgl. die erste grundlegende Verwendung und Interpretation dieser Entwürfe aus den siebziger Jahren als Lehre vom Persönlichkeitsbewußtsein durch H. Heimsoeth: „Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie“ (1924).

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zu einer Theorie des Selbstbewußtseins und spezifischer: des praktischen Selbstbewußtseins, aus dem freies und sittliches Wollen entspringt. Nachdem Kant sodann, was ebenfalls nur erwähnt sei, in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ die unabweisbare Gültigkeit des Sittengesetzes für einen endlichen Willen zu rechtfertigen suchte, aber nun erkenntniskritisch eine intellektuelle Anschauung und eine Einsicht in die intelligible Kausalität der Freiheit ablehnte, so dass solche „Deduktion“ oder Rechtfertigung schwerlich gelingen konnte, gelangte er zu der voraussetzungsärmeren, einfacheren Theorie in der „Kritik der praktischen Vernunft“, daß man vom Bewußtsein des Sittengesetzes als „Faktum der Vernunft“, d.h. als unmittelbar sich aufdrängende, apodiktische Evidenz und „ratio cognoscendi“ der Freiheit auszugehen habe und daß Freiheit auch des endlichen Willens daraufhin anzunehmen sei als „ratio essendi“ des Bewußtseins des Sittengesetzes.3 Das Sittengesetz ist damit jedem vernünftigen Willen praktisch-unbedingt einleuchtend und Respekt verlangend; und er hat es zu verwirklichen, was er nur unter der definitiven Annahme der Freiheit kann. In diesem späteren Ansatz Kants kann aber die absolute Gültigkeit des Sittengesetzes für den endlichen Willen nicht mehr bewiesen werden; man muß die Gültigkeit des Sittengesetzes vielmehr als „Faktum der Vernunft“ ansetzen. Ferner bleibt hierbei die Grundstruktur des sittlichen Selbstbewußtseins ununtersucht; und damit bleibt auch die Art und Weise offen, wie Freiheit in concreto der endlichen, spontanen, handelnden Person zukommt. Der frühe Fichte, der der Kantischen Sittlichkeitslehre durchaus nahesteht, betrachtet Kants Stehenbleiben der Untersuchungen beim „Faktum der Vernunft“ offenbar in systematischer Hinsicht als eine Vorläufigkeit und fordert eine Darlegung, wie das Sittengesetz aus dem reinen praktischen Selbstbewußtsein entspringt. Ohne daß Fichte vermutlich die oben erwähnten früheren Entwürfe Kants aus den siebziger Jahren kennt, weisen Grundthesen seiner Theorie in der „Sittenlehre“ von 1798 deutliche Analogien dazu auf. Dem Ich kommt reine Spontaneität und Selbsttätigkeit zu als allgemeine Freiheit. Es stellt sich unmittelbar selbst in intellektueller Anschauung vor. 3  Vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 1788, 5. Anm. Zum „Faktum der Vernunft“ vgl. ebd. 56, 72, 74, 81 u.ö.; Henrich schon erörtert die „Faktum“-Lehre im Kontext subjektivitätstheoretischer Perspektiven. Zur Abänderung der in der „Grundlegung“ versuchten Theorie vgl. Kr.d.pr.V. 82. Zur Abfolge der erwähnten Lehren Kants über Spontaneität, Sittengesetzbewußtsein und Freiheit ma der Hinweis gestattet sein auf die Darlegung des Verf.s: „Spontaneität und Freiheit in Kants praktischer Philosophie“ (ital. 1993). Zum generellen Zusammenhang von Sittengesetz und Freiheit vgl. Korsgaard: Creating the Kingdom of Ends (1996), 160–176.

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Es gelangt darin zur Vorstellung eigener sich durchhaltender Identität, deren Gesetzmäßigkeit für Fichte zunächst individuelle Sittlichkeit ist, die dann intersubjektiv zur sittlichen Gesetzmäßigkeit für alle Personen zu erweitern ist; und sowohl diese Gesetzmäßigkeit als auch das Reich aller sittlichen Personen gehören zur intelligiblen Welt. – Die Durchführung bleibt freilich bei Fichte deduktiv-abstrakt; und aufgrund des Sittlichkeitsverständnisses sollen die Personen sich als existente Mitglieder der intelligiblen Welt erkennen. Die Ansätze bei Kant und Fichte zur Entwicklung einer Grundkonzeption von Sittlichkeit aus der bestimmten Struktur von Selbstbewußtsein und spezifischer: von praktischem Selbstbewußtsein seien aufgenommen und auf der neuen, konkreteren Basis von Selbstbewußtseinsmodellen teils als „Aufstieg“ zum prinzipiellen Sinn von sittlichem Selbstbewußtsein, teils als „Abstieg“ zu orientierenden Weisen von dessen Realisierung in der Welt dargelegt. So sei zusammenfassend umrissen, daß Selbstbewußtsein kein monolithischer Begriff ist, dem etwa eine starre Subjekt-Objekt-Identität zukommt, sondern eine Skala von immer komplexer werdenden Selbstbeziehungsweisen in Selbstbewußtseinsmodellen. Ein Selbstbewußtseinsmodell wird auf der Basis signifikanter Erfahrungen gewonnen und bildet einen Idealtypus (in Max Webers Sinne) von ganzheitlicher Selbstgegenwärtigkeit auf einer gewissen Stufe. Das erste, noch rudimentäre Selbstbewußtseinsmodell, das phänomenologische Horizontmodell, enthält freilich noch gar keine ausdrückliche Selbstbeziehung, sondern verfügt nur über die Möglichkeit, im Wahrnehmen und Erleben anderer, lebensweltlicher Gegebenheiten auf sich zurückzukommen; es ist seiner im Gewärtigen solcher anderen lebensweltlichen Gegenstände nur un- oder vorthematisch, nämlich horizonthaft mitgegenwärtig. Wenn das Selbstbewußtsein auf der Basis solchen Erlebens sich selbst ausdrücklich, aber in unmittelbarer Weise thematisiert, entsteht als nächstes das Modell thematischer Unmittelbarkeit der Selbstbeziehung. Diese kann in Grundstimmungen, in psychophysischem Selbstgefühl oder in wahrnehmungsmäßiger oder imaginativer Selbsterschlossenheit stattfinden. Können diese Modelle auch noch vorsprachlich zustande kommen, so setzen die folgenden Sprache voraus. So ergibt sich als nächste Profilierung von Selbstbewußsein die ausdrückliche partielle Selbstidentifikation, z.B.: „Ich bin Kölner“. Hier spricht sich das Selbst im Wissen von sich eine von mehreren Eigenschaften ausdrücklich zu. Wird solches Wissen von sich eigens vorgestellt und artikuliert, so entsteht das Reflexionsmodell von Selbstbewußtsein, z.B.: „Ich erinnere mich daran, daß ich einmal Barockkenner war – und es jetzt nicht mehr bin“. Aus dem Beispiel läßt sich entnehmen, daß der oft gegen dieses Modell erhobene Einwand der unendlichen Iteration der Selbstvoraussetzung des sich auf sich beziehenden Ich in immer gleicher Bedeutung nicht zutrifft.

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Das sich erinnernde Ich ist nicht von gleicher Inhaltsbestimmung wie das erinnerte; die Iteration, die ein inhaltlich symmetrisches Subjekt-ObjektVerhältnis voraussetzte, findet nicht statt; solches im Beispiel erwähnte Selbstverhältnis ist problemlos möglich. – Dem Selbst kommen jedoch nicht nur einzelne, singulär bleibende Eigenschaften zu. Das folgende komplexere Selbstbewußtseinsmodell der epistemisch-intentionalen Selbstbeziehung kommt zustande, wenn das Selbst eine Synthesis insbesondere seiner wesentlichen Eigenschaften vornimmt, und zwar so, wie es sie schon – s­ elbstbezüglich – in seiner Vergangenheit erlebte, wie es sie in seiner Gegenwart – in ­anderen selbstbezüglichen Erlebnissen – sich zuschreibt und wie es sie – in selbstbezüglichen zukünftigen Appräsentationen – erwartet. So bildet das Selbst ein „Persönlichkeitsbild“ von sich aus etwa in einer Autobiographie. Das Selbstbewußtsein gestaltet hierin eine komplexe Gesamtselbstbeziehung, die in umfassender Synthesis jene zeitlich verschiedenen, strukturell einfacheren, aber auch schon synthetischen Selbstbeziehungen in sich vereinigt. Dieses Modell ist nun von besonderer Bedeutung als Ausgangspunkt für das folgende, noch strukturreichere und differenziertere Selbstbewußtseinsmodell, auf das es hier ankommt und das grundlegend praktisches Selbstbewußtsein charakterisiert. Dies ist das Modell voluntativer Selbstbestimmung als das in der Selbstbeziehung am weitesten und differenziertesten entwickelte einzelne Modell. Es ist nicht lediglich ein spezifisches Modell neben anderen, sondern zeigt Selbstbewußtsein in seiner höchsten Entwicklung, nämlich als Personsein auf. In ihm werden die genannten in Zeitphasen verschiedenen einfacheren, gleichwohl schon synthetischen Selbstbeziehungsweisen ebenfalls – wie schon im vorigen Modell – zu einer übergreifend synthetischen, holistischen Gesamtselbstbeziehung vereinigt, jedoch nun mit der Prävalenz der Zukünftigkeit, auf die hin ein Selbst als ganzes sich wesentlich entwirft, sich selbst darin bestimmt und darauf mit seiner ganzen Aktivität hinwirkt. Es entwirft damit sein „Lebensziel“, das es in selbstgesetzten Maximen, Haltungen und Handlungen anstrebt. Doch ist dadurch noch nicht ein reines, sittliches Selbstbewußtsein erreicht; die hier charakterisierte selbsttätige, voluntative, höchst komplexe Selbstbeziehung ist noch ethisch neutral. Soll das reine sittliche Selbstbewußtsein erreicht werden, so ist eine weitere, höherstufige Idealisierung erforderlich, die die Struktur jener sittlichen Selbstbeziehung und Autonomie als solche rein hervorhebt, vergleichbar der idealisierten, reinen Gestalt, die eine klassische Skulptur hervorhebt. Es wird hierbei nicht nur von erlebten besonderen Inhalten, sondern auch von den konkreten modellhaften Selbstbeziehungsweisen, also etwa von Grundstimmungen, von psychophysischem Selbstgefühl oder von inhaltlich

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bestimmter partieller Selbstidentifikation zunächst abgesehen; sie zeichnen die reine Sittlichkeit des Selbst nicht aus. Dasselbe gilt von den erwähnten Bestimmungen der Erlebniszeit, nämlich von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Zeitphasen des Seiner-inne-Seins; ebenso wird von der situativen und inhaltlich begrenzten Finalkausalität zunächst abgesehen. Dies alles gehört grundlegend nur zum konkreten erlebenden Selbst in seiner Welt, nicht zum rein herausprofilierten sittlichen Selbst. Positiv kommt als exemplarischer, allgemein gültiger, reiner Sinngehalt dem idealiter hervorgehobenen Selbst in seiner voluntativen Selbstbestimmung Spontaneität, Autonomie und Energie zu, die sich entfaltet in der übergreifenden Gesamtsynthesis von je schon selbstbezüglichen Instanzen des Selbst. Diese rein tätige, energetische Gesamtsynthesis und die durch sie zusammengefügten Instanzen des Selbst gelten als unzeitlich, was nicht heißt: als überzeitlich. In der reinen, idealisierten Spontantätigkeit des Selbst walten nur keine erlebniszeitlichen Unterschiede; sie sind für die Sittlichkeit des Selbst nicht von Bedeutung. Daher bezieht sich diese reine Tätigkeit in ihrer Gesamtsynthesis auf eine variable und somit für sich unbestimmte Mannigfaltigkeitsbasis des Erlebens des Selbst. Diese variable, unbestimmte Mannigfaltigkeitsbasis des Erlebens enthält als vorgegebene nur der Möglichkeit nach die zuvor erwähnten konkreten Erlebnisse, Erlebnisweisen und Stufen der Selbstbeziehung. Das sich als Ganzes verstehende Selbst prägt und gestaltet in seiner spontanen, energetischen Synthesis dieses allererst bestimmbare, vorgegebene und damit unaufhebbar faktische Erlebnismannigfaltige. Dem Selbst kommt daher als holistischer, selbsttätiger Bestimmung seines Vorgegebenen ursprünglich Faktizität zu. Das reine, und wie sich sogleich zeigen wird, sittliche Selbst versteht und entwirft sich daher in solcher ursprünglichen Faktizität. Faktizität ist der prinzipielle Terminus in dieser zweistufig idealisierten Sphäre für das in der Lebenswelt erfahrene und erlebte vielfältige Vorgegebene, wozu auch psychophysisch Lebendiges und die Pluralität von individuell Lebendigem gehört. Für solche Erlebnisfakta ist Faktizität der zum Selbst gehörige ermöglichende Grundcharakter. – Hierin unterscheidet sich der gegenwärtige Ansatz – mit deutlichen Folgen für die weitere Explikation – insbesondere von Fichtes Lehre vom reinen, freien, intelligiblen, praktischen Selbstbewußtsein. Dieses wird bei ihm im Prinzip deduktiv hergeleitet; hier dagegen wird es im „Aufstieg“ von konkreten, auch psychophysischen Erlebnissen und Erlebnisweisen zunächst in erster Idealisierung als konkretes Modell der voluntativen Selbstbestimmung entwickelt, aus dem dann in höherer Idealisierung das reine sittliche Selbst herausgehoben wird, bei dem aber die ursprüngliche Faktizität erhalten bleibt.

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Dieses seine eigene vorgegebene Erlebnismannigfaltigkeit voluntativ bestimmende Selbst ist ferner in seiner Faktizität ebenso wie Spontaneität immer einzelnes tätiges Subjekt. Nur als dieses Einzelne ist es für sein Tun verantwortlich. Diese Einzelheit des Subjekts muß noch von der konkreten, bestimmungsreichen Individualität unterschieden werden; in dieser ist Einzelheit als konstitutives, essentielles Moment enthalten. Dieses sich voluntativ bestimmende, sich in seiner Faktizität und Einzelheit der Existenz verstehende Selbst kann nun solches Einzelne als begrenztes nur unter Einzelnen sein. Es kann sich profiliert seiner Einzelheit nur in Abhebung von und Beziehung zu anderen Einzelnen bewußt sein; dies gehört essentiell zu seiner faktischen Existenz und stellt die prinzipielle Grundlage dafür dar, daß seine lebensweltliche Erfahrung im wesentlichen in einer Vielheit von ihm bewußten Individuen stattfindet; und deshalb stellt sich ihm notwendig die Frage, wie es sich grundsätzlich zu den anderen Einzelnen verhalten soll. – Versuche idealistischer Argumentationen, die von einem prinzipiell schon konzipierten Selbst oder Ich ausgehen, um daraufhin Intersubjektivität zu deduzieren oder als notwendig zu entwickeln, entfallen hiermit. Dies sind die allgemeinen Charakterisierungen der voluntativ sich bestimmenden Person unter Personen; es gilt nun zu zeigen, wie die so – im „Aufstieg“ vom konkreten Erleben – gewonnene Profilierung des Selbst oder der Person grundlegend sittlich sein kann. 2

Idealisierte voluntative Selbstbestimmung und Prinzip ethischer Gemeinschaft

Das reine Selbst, das seiner inne ist in durch Idealisierungen erreichter praktischer Gesamtsynthesis, nämlich in der voluntativen Selbstbestimmung, ist reine Person. Sie übt ihre komplexe Selbstbeziehung in Autonomie, Spontaneität, aber auch Faktizität und Einzelheit an ihrem Erlebnismannigfaltigen aus. Darin ist enthalten, daß sie in solcher vorgegebenen Mannigfaltigkeit als ­einzelne von anderen einzelnen Personen Kenntnisnahme entwickelt, was dann in der Lebenswelt konkret-empirisch realisiert wird in Wahrnehmungen und Verstehen der Personen untereinander. Darin ist aber vor allem und wesentlich enthalten, daß die einzelne voluntativ sich bestimmende Person andere Personen als ebensolche Subjekte mit voluntativer Selbstbestimmung und d.h. mit Autonomie und Freiheit als selbsttätiger Kausalität und ebenso als Existenzen in Faktizität und Einzelheit auffaßt, und daß die solchermaßen geachteten Personen sowohl untereinander als auch gegenüber der Ausgangsperson die gleiche Achtung von deren Autonomie und Freiheit

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sowie die gleiche Beachtung von deren Faktizität und Einzelheit aufbringen. Und daraus ergibt sich, daß die einzelne Person die Achtung, die sie von den Anderen ihr gegenüber einfordert, auch als Selbstachtung sich selbst gegenüber erbringen muß. – So zeigt sich, daß die grundlegend praktische Haltung der Personen wechselseitige „Anerkennung“ und zugleich subjektive und intersubjektive Achtung ist. Sie betrachten darin einander und jeweils sich selbst als prinzipiell gleiche Subjekte der Selbstbestimmung. Solche Anerkennung und Achtung ist die Grundbedeutung der Sittlichkeit von Personen untereinander und für sich selbst. Wird solche Sittlichkeit als wechselseitige Anerkennung und als subjektive und intersubjektive Achtung aller Personen als gleicher, sich voluntativ selbst bestimmender Subjekte entworfen, so entsteht der noematische Sinngehalt einer idealen ethischen oder sittlichen Gemeinschaft. Diese ideale ethische Gemeinschaft wird konstituiert und erhalten durch die freiwillige Einwilligung darein, daß allen Personen im Wechselverhältnis zueinander und je für sich in ihrer Faktizität gleichermaßen jene autonome und freie voluntative Selbstbestimmung zukommt. Die ethische Gemeinschaft beruht also nicht auf Vertrag oder vertragsähnlichen Vereinbarungen, weil dadurch in diese ethische Grundentscheidung ein Moment äußerlichen Zwangs gelangte, insofern eine Zuwiderhandlung äußerlich veranlaßte Strafe nach sich zöge, die man etwa befürchtet. Deshalb hinkt auch der Vergleich dieser Gemeinschaft mit einem Staat. Sie kann zwar als ein konstituiertes Ganzes von Personen verstanden werden, die allgemeinen Regeln, ja apodiktischen, aber weiten, idealen Gesetzmäßigkeiten des Zusammenlebens und Zusammenwirkens folgen; doch dies geschieht rein aus selbstbestimmter Grundentscheidung mit harmonischer Einwilligung aller anderen Personen. Ferner findet jede einzelne Person darin, was die Kompetenzen und Möglichkeiten eines modernen Rechtsstaats entschieden übersteigt, ihre essentielle Selbstverwirklichung und ihre Erfüllung. Damit werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Ansätzen von ursprünglicher ethischer Gemeinschaft schon deutlich. So entwirft Rawls die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft in einem fingierten Urzustand;4 in ihr sollen prinzipielle Gleichheit der Personen vor dem Recht und hinsichtlich der anfänglichen gesellschaftlichen Chancen gelten, was ursprünglich nur ethisch begründet sein kann. Dies aber orientiert Rawls an einem Urvertrag, was nicht originär ethisch ist. Zudem führt er die Anwendung von Gerechtigkeit in vielen allzu konkreten sozialen und wirtschaftlichen Fällen durch, die in solcher Konkretion nicht mehr spezifisch zur Ethik gehören. 4  Vgl. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1979), bes. 81 ff., 174 ff. (in der deutschen Fassung).

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Auch Habermas entwirft, Rawls’ Konzeption nicht fernstehend, ein ideales gesellschaftliches Ganze in seiner idealen Kommunikations- oder Diskursgemeinschaft, deren Dialogik das, wie Habermas meint, monologische Vernunftprinzip ersetzt.5 Deren Teilnehmer sollen in aufrichtiger Gesinnung in symmetrischen, herrschaftsfreien Dialogchancen erst moralische Normen finden und verabreden. Aber solches Aufsuchen und Finden setzt moralische Normen und Haltungen wie Aufrichtigkeit schon voraus. Ferner soll hierdurch auch ein politisches Ganzes zustande kommen, was dann ebenfalls in allzu erfahrungshaltiger Konkretion ausgeführt wird, wenn dies denn zur Ethik gehören soll. – Beide, Rawls ebenso wie Habermas, entwickeln keinen Begriff von spezifisch ethischer Personalität oder von Grundbestimmungen sittlicher Subjektivität, was dann zum Hinübergleiten in konkrete, reichliche Empirie enthaltende sozialtheoretische und politische Untersuchungen führt. Als spezifisch ethisches Ideal hat dagegen Kant den Gedanken des Reichs der Zwecke konzipiert. Rawls sowie Habermas berufen sich in unterschiedlicher Weise gelegentlich darauf; Korsgaard schließt sich deutlich enger an Kants Lehre an.6 Das Reich der Zwecke als der sittlichen Personen, die als Selbstzwecke, als autonome und freie Handlungssubjekte verstanden werden, ist gegenüber der Allgemeingesetzlichkeitsformel des kategorischen Imperativs die bedeutungsreichere, differenziertere Vorstellung des Sittengesetzes. In ihr wird in profilierter Weise die ideale ethische Gemeinschaft als Prinzip der Sittlichkeit gedacht; und dies geschieht in analoger Konzeption auch im hiesigen Entwurf. Aber während Rawls und Habermas die Teilnehmer des ursprünglich ethischen, etwa gerechten politischen Ganzen sogleich in allzu empirisch-konkreter Bedeutung als soziale, wirtschaftliche, überhaupt sinnliche Handlungsträger auffassen, sieht Kant von ebensolcher empirisch-­ sozialen Sinnlichkeit für den ethischen Sinn der Personen im Reich der Zwecke ganz ab; er leugnet den Sinn von Sinnlichkeit oder Gesellschaftlichkeit der Menschen nicht; aber dergleichen gehört nicht zur Grundlegung der Ethik. 5  Vgl. z.B. Habermas: „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983), 53–125; ferner ders.: Erläuterungen zur Diskursethik (1991), 119–226. 6  Vgl. bes. Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 433 ff. u.ö.; zu Korsgaards Aufnahme und Weiterführung vgl. z.B. Creating the Kingdom of Ends (1996) 22 ff., auch 110–124; zur Normativitätsbegründung dies.: The Sources of Normativity (1996), 7–166 (dazu die dichte, auch kritische Stellungnahme von Nagel: Universality and the reflective self, ebd. 200–209) und in weiterem Zusammenhang Korsgaard: Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity (2013), z.B. 27–44. – Zu den Bezügen von Rawls, Korsgaard und Habermas auf Kant mag auch verwiesen werden auf die Darlegung des Verf.s: „Kants Ethik in der Philosophie der Gegenwart“ (2004), bes. 234 ff., 240 ff., 246 ff.

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Der sittliche Wille ist nach Kant rein intelligibel; seine Freiheit ist reine intelligible Kausalität. Eine eigene Theorie praktischer Subjektivität aber hat Kant, wie oben schon erwähnt, nicht ausgebildet. Dies geschah – in abstrakter Weise – bei Fichte, der jedoch am rein intelligiblen Charakter der spezifisch sittlichen Person festhielt. In der hiesigen Theorie des Selbstbewußtseins, nämlich der Selbstbewußtseinsmodelle wird dagegen dargelegt, dass von Basiserfahrungen ausgegangen wird und daß in zweifacher Idealisierung das ethische Modell voluntativer Selbstbestimmung erreicht wird, dem für seine reine Sittlichkeit zwar in der Tat solche empirisch-konkreten Bestimmungen von sozialen, wirtschaftlichen, ja überhaupt sinnlichen Handlungsträgern nicht zukommen, dem aber variable, unbestimmte Erlebnismannigfaltigkeit erhalten bleibt als derjenige subjektive Bereich, worauf die voluntative Selbstbestimmung prägend einwirkt, und d.h. dem in begrifflich grundsätzlicher Bestimmung Faktizität, Einzelheit und Intersubjektivität erhalten bleiben. So zerfällt die Person nicht in ein rein intelligibles, autonom Tätiges und einen empirischsinnlichen, letztlich physikalisch bestimmten Körper und Leib. 3

Realisierungsweisen des ethischen Grundprinzips

Das im „Aufstieg“ gewonnene subjektivitätstheoretische Prinzip der Ethik, die reine, idealisierte voluntative Selbstbestimmung und ihr intentionales, inhaltliches Korrelat, die ideale ethische Gemeinschaft, sind nun zwar apriorische, aber nicht selbstgenugsam und autark für sich gültige Vorstellungen. Ihre Bedeutung als ethische Inhalte ist vielmehr grundlegend praktisch und fordert das wollende Subjekt auf, zur praktischen Realisierung in der Welt beizutragen. Dies geschieht in verschiedenen Weisen je nach den grundlegenden Gebieten der Ethik, die in einer systematisch durchgeführten Ethik allesamt und nicht selektiv zu berücksichtigen sind, nämlich in der Deontologie oder ethischen Pflichtenlehre, in der Lehre von sittlichen Tugenden sowie in der Lehre von sittlichen Zwecken und vom höchsten Zweck, und zwar sowohl in einer Individualethik als auch in einer politischen Ethik. Daß dies die zentralen Gebiete sind, die essentiell zu einer Ethik gehören, sei hier – aus anderen Zusammenhängen7 – nur vorausgesetzt. Metaphorisch kann man die praktische Beförderung und partielle Realisierung des ethischen Grundprinzips in diesen verschiedenen, aber untereinander verknüpften Gebieten – als Gegenstück zum vorher dargelegten „Aufstieg“ – nun einen „Abstieg“ in die menschliche lebensweltliche Realität nennen. 7  Vgl. vom Verf.: Fundamente der Ethik (s. Anm. 1), 9–63.

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Der Gedanke der Realisierung des ethischen Grundprinzips führt zuerst zur Deontologie oder Pflichtenlehre. Denn die ideale ethische Gemeinschaft ist noch nicht wirklich; sie soll daher praktisch befördert und einer Verwirklichung nähergebracht werden. Diese Aufforderung hat apodiktische Gültigkeit. Solches apodiktische Sollen ist somit grundlegend ethische Pflicht. Sie gilt für die Einrichtung aller Maximen, Handlungsabsichten und Durchführungen von Handlungen; und sie gilt in strikter Allgemeinheit für alle Personen, da für sie voluntative Selbstbestimmung in solcher ethischen Gemeinschaft essentiell ist. So ergibt sich die apodiktische Allgemeingesetzlichkeit in der Vorstellung von Sittlichkeit für alle Personen, nämlich daß sie zur Beförderung und schrittweisen Realisierung der idealen ethischen Gemeinschaft nach Kräften beitragen sollen; denn darin erst verwirklichen und erfüllen sie ihre ihnen wesentliche Selbstbestimmung. Spezifisch inhaltliche Konkretion erhält diese ganz allgemeine, ethisch grundlegende Pflicht erst in den einzelnen Pflichten, wie hier nur kurz skizziert sei.8 Diese lassen sich, wie z.B. schon Kant zeigte, grundsätzlich einteilen einerseits in Pflichten gegenüber Anderen wie z.B. das Tötungsverbot und Pflichten gegenüber sich selbst etwa in der Selbstachtung als unabhängiger Person – und andererseits, traditionell gesagt, in strikte Pflichten, die jederzeit und ohne Begrenzung auszuführen sind wie z.B. wieder das Tötungsverbot, und weite Pflichten, die zwar ebenso auszuführen sind, aber in lebensweltlich möglichen Grenzen verbleiben wie z.B. Spenden für Arme, ohne sich selbst gänzlich zu verausgaben. Der zusätzliche konkrete Inhalt über die Allgemeingesetzlichkeit der ethischen Pflicht hinaus kommt hier aus der konkreten, faktischen Lebenswelt und den in ihr intersubjektiv existierenden Personen. In allen diesen Pflichten aber soll die ideale ethische Gemeinschaft von sich selbst voluntativ bestimmenden Personen gefördert werden. Darin liegt unmittelbar schon sowohl das individualethische als auch das gemeinschaftsethische Applikationsprogramm der Deontologie. Der zweite Bereich der Ausführung des ethischen Grundprinzips ist die Tugendlehre. Tugend ist, generell betrachtet, die sittliche Einstellung und identitätsstiftende Habitualität des Willens einer Person, die durch selbständigen Entschluß die ethische Pflicht der Beförderung der idealen ethischen Gemeinschaft auf sich genommen und internalisiert hat. In der Ausführung in vielen Maximen und Handlungen darf die Person nicht in disparate Einzelheiten zerstreut werden, sondern muß charakterlich, d.h. 8  Ausgeführt werden die konkreten Bestimmungen der ethischen Pflichten, Tugenden und Zwecke in individualethischer und politisch-ethischer Anwendung, worauf hier der Hinweis erlaubt sei, im Buch des Verf.s: Fundamente der Ethik (s. Anm. 1), 187–300.

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in der Weise ihres Wirkens identitätsbildend tätig sein; und die dann ausgebildete ­sittlich-persönliche Haltung als Disposition zu sittlichen Handlungen ist die Tugend. Tugendlehren wurden produktiv und differenziert insbesondere in der Antike entwickelt. Sie traten in der Neuzeit in den Hintergrund. Erst seit kurzem gibt es erneute Versuche zur Tugendlehre. In systematischer Hinsicht muß sie wie die Deontologie dem ethischen Grundprinzip der reinen, idealen voluntativen Selbstbestimmung der Person und dem entsprechenden noematischen Inhalt, der idealen ethischen Gemeinschaft, folgen. Tugenden erweisen sich somit als dauerhafte Willensbildungen und Haltungen solcher voluntativ sich selbst bestimmenden Personen, d.h. als wesentliche Habitualitätsbestimmungen der sittlichen Subjekte und müssen daher prinzipiell in einer Subjektivitätstheorie entwickelt werden. Auch die Tugend läßt sich nach verschiedenen Hinsichten in Tugendgruppen einteilen, denen wieder konkrete Einzeltugenden angehören. So kann man – wie bei den Pflichten – einerseits Tugenden gegenüber sich selbst und gegenüber Anderen unterscheiden, was nicht immer zu verschiedenen Tugenden führen muß, sondern auch zwei verschiedene Hinsichten auf dieselbe Tugend bedeuten kann. Andererseits können Tugenden – in Aufnahme etwa der Aristotelischen Einteilung – als mentale oder geistige und als psychophysische Tugenden bestimmt werden. So ist unter den mentalen oder geistigen Tugenden die Wahrhaftigkeit eine habituelle sittliche Einsicht sowohl sich selbst gegenüber als auch gegenüber Anderen; Großmut z.B. im Verzeihen ist eine geistige Tugend allein gegenüber Anderen. Psychophysische Tugenden entfalten ihre Wirkung nur durch habituelle Prägung von Gefühlen oder individuellen bzw. gesellschaftlichen Gewohnheiten bis hin zur Prägung auch leiblichen Verhaltens. Eine solche Tugend, und zwar gegenüber sich selbst ist z.B. die in der Antike viel erörterte Besonnenheit oder auch Mäßigung. Eine andere spezifisch psychische Tugend, und zwar gegenüber Anderen ist die Barmherzigkeit, die das natürliche Gefühl des Mitleids sittlich prägt. – Aus diesen knappen Charakterisierungen läßt sich entnehmen, daß die Tugenden einerseits individualethische Realisierungen der voluntativen Selbstbestimmung der Person unter Personen sein können, wie sich z.B. deutlich an der Besonnenheit zeigen läßt, und andererseits ethischpolitische Realisierungen der Beförderung des ethischen Gemeinwesens, und zwar nicht nur des idealen, sondern durchaus auch des realen und lebensweltlichen Gemeinwesens, wie sich etwa an der aus sittlicher Einsicht internalisierten Tugend der Gerechtigkeit aufweisen läßt. So bestimmen die Tugenden als selbst gewählte und angeeignete geistige oder psychophysische Eigenschaften die ethische Gesinnung des Selbst als

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ganzen auch in seiner Konkretion. Sie füllen – die psychophysischen ebenso wie die geistigen Tugenden – sein Selbstbewußtsein holistisch aus; oder sie werden etwa in der Bestimmung der Gefühlswelt bis hin zur psychisch durchwirkten Leiblichkeit Sittlichkeitsvorstellungen, die das ganze, konkrete Selbst durchdringen, zu dem die anfänglichen, vorreflexiven und unmittelbaren Selbstbewußtseinsmodelle mitgehören. Diese partizipieren am Selbst auch in seiner sittlichen Selbstbestimmung, aber nicht, weil sie selbst und als solche sittlich wären, sondern weil sie vom ethisch sich bestimmenden Selbst geprägt werden; und in dieser holistischen, je verschiedenen Prägung der praktischen Einstellung des Selbst durch jeweils verschiedene konkrete Tugenden wird auf besondere Weise auch in unserer Lebenswelt die allgemeine ethische Gemeinschaft gefördert. Das dritte Gebiet der Realisierung des ethischen Grundprinzips, nämlich der reinen, idealen voluntativen Selbstbestimmung und ihres noematischen Korrelats, der idealen ethischen Gemeinschaft, besteht in den ethischen Zwecken und dem höchsten Zweck oder Gut. Viele ethische Theorien von Aristoteles bis heute haben als Eudämonismen oder Utilitarismen solche Zwecklehre zur Lehre vom Prinzip der Ethik erhoben, das dann in der Glückseligkeit oder im größten Glück der meisten bestehen soll. Die ethische Lehre von Zwecken und vom höchsten Zweck als Inhalt des sittlichen Wollens setzt aber die reine voluntative Selbstbestimmung der Person und der Personen in der idealen ethischen Gemeinschaft schon voraus; sonst könnten Glückseligkeit und größtes Glück der meisten gar keine spezifisch ethischen Wollensinhalte sein; und sie setzen die Allgemeingesetzlichkeit des Sittlichen und damit die ethische Pflicht und ihre Spezifikationen sowie die sittliche Tugend und deren konkrete Haltungen in der Ausführung bereits voraus. Aber auch die Lehre von Zwecken und vom höchsten Zweck gehört in dieser Anordnung genuin zur Ethik, da der endliche Wille der sich selbst bestimmenden Person unter Personen jeweils bestimmte, zu realisierende Inhalte als seine Zwecke will. Die ethischen Zwecke lassen sich nun – ähnlich wie die sittlichen Pflichten und Tugenden – einteilen in Zwecke, die die individuelle Person als solche, und in diejenigen, die die Gemeinschaft oder Gesellschaft betreffen. Als Beispiel für die erste Art der Zwecke mag das Leben der einzelnen Person genannt werden, das es immer zu achten und zu befördern gilt als Grundlage für spezifischere sittliche Zwecke wie z.B. die kulturelle und sittliche Selbstbildung. Als Beispiel für die zweite Art der Zwecke sei die soziale Solidargemeinschaft erwähnt, auf die es in Nothilfe und Fürsorge hinzuwirken gilt. Alle diese schon weitgefaßten Zwecke, die vielfältiger Konkretisierung in der Lebenswelt der Personen fähig sind, unterstehen aber einem höchsten

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Zweck oder anzustrebenden höchsten Gut als grundlegendem und allgemeinem ethischen Wollensinhalt. Dieser besteht einerseits, ähnlich wie insbesondere Kant es sah, in der Vollendung der einzelnen Person, deren Tugend zusammenstimmt mit menschenwürdigem Glück, und andererseits übergreifend in einem vollendeten Weltzustand endlicher freier und selbständiger Personen, wozu auch, wie schon Kant sagt, das „höchste politische Gut“, der „Frieden“ gehört;9 und es gilt, auf beide grundlegenden Inhalte, auf das höchste Gut des Einzelnen ebenso wie der Menschheit, in den faktischen, konkreten Gegebenheiten der Lebenswelt auch in kleinen Schritten realisierend hinzuwirken. So hat sich wohl wie an einem Ariadnefaden durch das Labyrinth der Subjektivität gezeigt, daß Sittlichkeit, die am Sittengesetz orientiert ist, sich aus der Struktur des reinen praktischen Selbstbewußtseins und seines intentionalen Korrelats, der idealen ethischen Gemeinschaft, entwickeln läßt. Im „Aufstieg“ über eine Skala von Selbstbewußtseinsmodellen wird das differenzierteste und in seiner Selbstbeziehung komplexeste einzelne Modell der voluntativen Selbstbestimmung erreicht, das in seiner reinen, idealisierten und damit idealen Bedeutung zum Prinzip des selbsttätigen sittlichen Selbstbewußtseins wird. Ihm kommt nicht nur Spontaneität und praktische Intellektualität, sondern auch Faktizität, Einzelheit und ebenso der Charakter von intersubjektivem Dasein zu. Daher konstituiert dieses sittliche Selbstbewußtsein als sein intentionales Korrelat ursprünglich das Prinzip der idealen ethischen Gemeinschaft als die bedeutungsreichere Fassung des Kantischen allgemeingültigen Sittengesetzes. Dies ethische Prinzip der reinen autonomen Selbstbestimmung der Person und der von ihr konstituierten Vorstellung der idealen ethischen Gemeinschaft bleibt aber nicht bloß theoretischer Gedankeninhalt, sondern erhält für sittlich gesinnte Menschen praktische Gültigkeit durch Realisierung im „Abstieg“ in die kulturell und anthropologisch vielfältige Lebenswelt. Diese realisierende Durchführung erfolgt zuerst durch das konkretisierende Verständnis jenes intentionalen ethischen Prinzips als grundlegende ethische Pflicht und deren Besonderungen in Pflichten. Die Deontologie expliziert daher nicht selbst dieses Prinzip, sondern ist schon darin begründet. Der zweite Realisierungsbereich liegt in der Tugend und den Tugenden als habitualisierten ethischen Willenseinstellungen; und der dritte Bereich, der ebenfalls grundlegend zur Ethik gehört, aber nicht etwa gegen die Deontologie oder gegen die Tugendlehre auszuspielen ist, besteht in den ethischen Zwecken und dem höchsten Gut. Sie alle können individualethisch und ethisch-politisch ausgeführt werden. In allen 9  Kant: AA VI, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 355.

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diesen Realisierungen wird das Selbst ganzheitlich, d.h. auch psychisch bis hin zu psychisch durchwirkter Leiblichkeit gemäß den einfacheren vorangehenden Selbstbewußtseinsmodellen, bestimmt und geprägt durch sein Sittlichkeitsbewußtsein. Literatur Düsing, Klaus (ital. 1993) „Spontaneität und Freiheit in Kants praktischer Philosophie“, in: Klaus Düsing, Subjektivität und Freiheit: Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel, 2. Aufl. Stuttgart-Bad: Cannstatt, 2013, 211–235. ——— (1997) Selbstbewußtseinsmodelle: Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München, 1997. ——— (2004) Kants Ethik in der Philosophie der Gegenwart. In: D.H. Heidemann und Kr. Engelhard (Hgs.), Warum Kant heute?, Berlin: De Gruyter, 2004, 231–263. ——— (2005) Fundamente der Ethik. Unzeitgemäße typologische und subjektivitätstheoretische Untersuchungen, Problemata 152, Stuttgart-Bad Cannstatt. ——— (2011) Fundamente der Ethik: Eine Problemskizze. In: H.-D. Klein (Hg.), Ethik als prima philosophia?, Würzburg, 2011, 119–129. ——— (2012) Ethischer Relativismus als Reduktionismus und die Lehre vom sittlichen Selbst. In: W. Grießer (Hg.), Reduktionismen – und Antworten der Philosophie, Würzburg, 2012, 195–208. Habermas, Jürgen (1983) „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt: Suhrkamp, 1983/ 3. Aufl. 1988, 53–125. ——— (1991) Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt: Suhrkamp, 119–226. Heimsoeth, H. (1924) Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie. In: H. Heimsoeth, Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und ontologische Grundlagen, Kant-Studien (Erg.-H. 71), Köln, 1956, 227–257. Henrich, Dieter (1960) „Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft“, in: D. Henrich, Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken: Festschrift für H.-G. Gadamer, Tübingen, 1960, 77–115. Kant, Immanuel, Akademieausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften [AA], Bd. IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1910 ff. ——— AA VI, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. ——— AA XVII, Refl. 4225 & 4336. ——— (1788) Kritik der praktischen Vernunft, Riga. ——— (1821) Vorlesungen über die Metaphysik. Herausgegeben von C. Poelitz. Erfurt. (Nachdruck: Darmstadt 1964.)

Selbstbestimmung der Person und sittliche Gemeinschaft

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„Verdammnis“ und „Lossprechung“ durch das Gewissen: Zum Verhältnis von Freiheit und moralischer Verantwortlichkeit in Kants praktischer Philosophie Walid Faizzada 1 Einleitung Die Verortung der kantischen Freiheitstheorie in die gegenwärtigen Debatten um Determinismus, Freiheit und moralische Verantwortlichkeit ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Jeder Versuch, Kants Freiheitstheorie einem der bekannten Ismen zuzuordnen, scheitert, weil Kant offensichtlich einen starken Freiheitsbegriff vertritt, der dem Verständnis von Libertariern entspricht, zugleich aber auch davon ausgeht, dass unsere Handlungen durch Naturgesetze beeinflusst werden, die wir nicht außer Kraft setzen können. Er glaubt also, dass wir frei sind, obwohl wir durch die Kontingenz naturgesetzlicher Umstände gewissermaßen determiniert sind. Der kantische Ansatz entfaltet sich also im Spannungsfeld zwischen einem genuinen Freiheitsverständnis und dem beobachtbaren Handlungsdeterminismus. Als erstes werden die Positionen in den Debatten dargestellt und erläutert. Dabei soll angedeutet werden, warum die kantische Freiheitstheorie keiner der Positionen entspricht. Hinsichtlich der Frage, in welchem Verhältnis Determinismus, Freiheit und moralische Verantwortlichkeit gedacht werden, lassen sich alle erörterten Positionen entweder der Freiheitstheorie oder dem Freiheitsskeptizismus zuordnen und dementsprechend stark fällt die Gewichtung der Frage aus, ob jemand für seine Handlungen und ihre Folgen verantwortlich gemacht werden kann. Wann eine Handlung frei und dem Akteur in vollem Umfang zugeschrieben und zugerechnet werden kann, hängt im Wesentlichen von drei Kriterien ab, die selbstverständlich genannt und erläutert werden. Dabei werden auch die einschlägigen kantischen Textpassagen nach diesen Kriterien untersucht. Anschließend wird ein Argument entwickelt, das den Verdacht der einseitigen Schuldzuweisung adäquat wiedergibt. Damit wird das Kernproblem skizziert, das ohne das entsprechende Problembewusstsein bei der Ausarbeitung der Funktionen des Gewissens nicht aufgelöst werden kann. Diese Funktionen werden zu einer einheitlichen Theorie des Gewissens zusammengesetzt.

© koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_004

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Systematische Einführung

Moralische Verantwortlichkeit stellt einen primären Untersuchungsgegenstand der gegenwärtigen Willensfreiheitsdebatten dar, in denen unter Bezugnahme auf unterschiedliche Freiheitsbegriffe1 entweder dafür argumentiert wird, dass Handlungszuschreibungen zulässig sind, oder der Standpunkt geltend gemacht wird, dass Menschen ihre Handlungen nicht zugeschrieben werden können, da sie schlicht und ergreifend keine freien Handlungen vollziehen können. Die erste Meinung vertreten Freiheitstheoretiker, für die zweite Meinung stehen Freiheitsskeptiker ein. Freiheitstheoretiker, die von einem moderaten Freiheitsbegriff ausgehen, der mit jeder Spielart des Determinismus vereinbar ist, werden Kompatibilisten genannt. Die gegenteilige Meinung vertreten Inkompatibilisten. Die Ausdrücke „Kompatibilismus“ und „Inkompatibilismus“ beschreiben logische Vereinbarkeits- und Unvereinbarkeitsthesen von Aussagen, Theorien und Propositionen, die ausschließlich von Autoren der Willensfreiheitsdebatte verwendet werden.2 Der Kompatibilismus bezeichnet in diesem Kontext die These, dass zwei Aussagen, Theorien und Propositionen miteinander verträglich sind, wenn keine zureichenden Gründe gegen ihre Vereinbarkeit vorzufinden sind. Dem Inkompatibilismus liegt die gegenteilige Annahme zugrunde.3 In der gegenwärtigen Debatte um Determinismus, Freiheit und moralische Verantwortlichkeit bezeichnet der Kompatibilismus die These, dass Determinismus und Freiheit miteinander verträglich sind, wogegen Inkompatibilisten davon ausgehen, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Dem Determinismus, der in diversen Spielarten vertreten wird, geht die ontologische These voraus, dass alle Tatsachen und Handlungen notwendigerweise aus einem Weltzustand unter Berücksichtigung aller Naturgesetze folgen.4 In der physikalischen Spielart besagt der Determinismus, dass alle Weltzustände Wirkungen bereits stattgefundener physikalischer Ereignisse sind, der Weltlauf „eine gerade unverzweigte Linie“5 darstellt, 1  Vgl. Keil, G. 2007 (2): Mythen über die libertarische Freiheitsauffassung, in: Heilinger, 281–305, hier: 282. 2  Vgl. Lohmar, A. 2005: Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit?, 8. 3  Vgl. Ebd., 7. 4  Vgl. Buchheim, T. 2004: Libertarischer Kompatibilismus. Drei alternative Thesen auf dem Weg zu einem qualitativen Verständnis der menschlichen Freiheit, in: Hermanni/Koslowski, 34–76, hier: 71. 5  Beckermann, A. 2006: Der freie Wille heute, in: Abel, 663–666, hier: 663.

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die sich „zu jedem Zeitpunkt auf nur genau eine Weise weiterentwickeln kann“.6 Der physikalische Determinismus lässt somit keine alternativen Weltverläufe zu und schließt zugleich auch jede Einflussnahme durch den Menschen aus. In der einschlägigen Forschungsliteratur entspricht der von Hobbes,7 Hume8 und Locke9 vertretene klassische Kompatibilismus dem weichen Determinismus.10 Im Ausgangspunkt eines mit der Vorstellung einer deterministischen Welt kompatiblen Freiheitsbegriffs gehen die Vertreter davon aus, dass Determinismus und Freiheit in keinem disjunktiven Verhältnis zueinander stehen.11 Der harte Determinismus, der die gegenteilige Position zum weichen Determinismus beschreibt, gründet sich indessen in der Überzeugung, dass die Determinismusthese die Willensfreiheit widerlegt. Harte Deterministen wie Wolfgang Prinz,12 Gerhard Roth13 und Wolf Singer14 berufen sich auf die von Benjamin Libet entwickelten und durchgeführten Experimente und machen unisono den Standpunkt geltend, dass Handlungen als neuronale Prozesse bereits im Gehirn festgelegt sind, bevor sie bewusst wahrgenommen werden.15 Libet hat unter den experimentellen Rahmenbedingungen gezeigt, dass dem Entschluss zu spontanen Handlungen ein messbares Bereitschaftspotential vorausgeht. Prinz nimmt dieses Ergebnis zum Anlass, um die hierarchische Ordnung zwischen Wollen und Handeln zu verkehren.16 Harte Deterministen, die auch Freiheitsskeptiker genannt werden können, machen geltend, dass die Auffassung von Menschen als freie Akteure daher illusorisch sei.17 Der harte Determinismus hat jedoch keinerlei radikale Auswirkungen auf das geltende Strafrecht; stattdessen fordern Freiheitsskeptiker einen milderen Umgang mit ‚Tätern‘, sofern sie überhaupt als solche bezeichnet werden dürfen. Sie plädieren für ein ausgeprägtes Bewusstsein für Schuld- und Strafunfähigkeit, mithin sprechen sie die Empfehlung zu stärkeren Resozialisierungsmaßnahmen aus. 6  Stuckenberg, C.-F. 2009: Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, Antrittsvorl., 4. 7  Vgl. Hobbes, T. 1651: Leviathan, in: Ders. 2004. 8  Vgl. Hume, D. 1739: Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 1, in: Ders. 2013. 9  Vgl. Locke, J. 1960: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. 1, in: Ders. 2006. 10  Vgl. James, W. 1979: The Dilemma of Determinism, in: The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, 114–139, hier: 119. 11  Vgl. Dennett, D. 1984: Elbow Room, 12. 12  Vgl. Prinz, W. 2000: Kognitionspsychologische Handlungsforschung, in: Zeitschrift für Psychologie, 208, 32–54. 13  Vgl. Roth, G. 2001: Fühlen – Denken – Handeln. 14  Vgl. Singer, W. 2003: Ein neues Menschenbild? 15  Singer 2003, 20. 16  Vgl. Prinz, W. 1996: “Freiheit oder Wissenschaft?”, in: Cranach/Foppa, 86–103, hier: 98 ff. 17  Vgl. Roth 2001, 453.

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Die dem harten Determinismus anders gelagerte Position wird Libertarianismus genannt. Er gründet sich wiederum in der Annahme, dass einige Handlungen frei sind und jede Spielart des Determinismus per se falsch ist. Libertarier gehen von der Unverträglichkeit von Determinismus und Freiheit aus und lehnen die Determinismusthese mit der Begründung ab, dass es Freiheit wirklich gebe. Der harte Inkompatibilismus stellt wiederum eine von Derk Pereboom exklusiv vertretene Position dar. Ihm liegt die Überzeugung zugrunde, dass der Determinismus und die Freiheitsthese falsch sind, dass beide Positionen sich gegenseitig ausschließen, mithin unter keinen Umständen vereint werden können. Mit der Verortung in dieser Debatte wird zugleich festgelegt, welche Bedeutung dem Konzept „moralische Verantwortlichkeit“ beigemessen wird. 3

Das Verhältnis von Freiheit und moralischer Verantwortlichkeit

Freiheitstheoretiker beschreiben die moralische Verantwortlichkeit in der Regel affirmativ, Freiheitsskeptiker negativ. Libertarier gehen davon aus, dass wir frei sind und die Verantwortung für unsere Handlungen daher in vollem Umfang tragen.18 Sie machen geltend, dass freie Handlungen auf Entscheidungsprozessen beruhen, die nicht von äußeren Faktoren beeinflusst werden. In der Debatte kristallisieren sich drei Kriterien heraus, die erklären, wann eine freie Entscheidung vorliegt, nämlich: 1. Andershandelnkönnen 2. Kontrolle 3. Urheberschaft Das erste Kriterium besagt, dass jemand dann frei gehandelt hat, wenn er hätte anders handeln können, d.h. dass er zu dem Zeitpunkt, als er die Handlungsoption X aktualisiert hat, mindestens die Handlungsoption Y hätte aktualisieren können (wenn er sich dazu entschlossen hätte, Y zu aktualisieren). Studiert man die einschlägigen kantischen Textpassagen nach diesem Kriterium, gelangt man alsbald zu der Erkenntnis, dass die moralische Pflicht (sittlich vortrefflich zu handeln) die Handlungsoptionen determiniert, d.h. aus einem unbestimmten Handlungsspektrum einige Handlungen festlegt. Als einschlägig für diese Erkenntnis eignet sich eine Textpassage aus der KpV: 18  Chisholm, R. 1964: Die menschliche Freiheit und das Selbst, in: Pothast 1978, 76.

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Aber der Heiligkeit der Pflicht allein alles nachsetzen und sich bewußt werden, daß man es könne, weil unsere eigene Vernunft dieses als ihr Gebot anerkennt und sagt, daß man es tun solle, das heißt sich gleichsam selbst über die Sinnenwelt gänzlich erheben [ . . .]. (KpV A 283) Kant vertritt einen moralischen Determinismus (Vgl. Kant, AA VI 49; AA XXVIII 252 (Refl. 5611)), der ohne das Andershandelnkönnen auskommt. Dem moralischen Determinismus liegt die These zugrunde, dass die menschliche Willkür durch hinreichende (moralische) Gründe bestimmt werde (Vgl. Kant, Anm. zu AA VI 49 f.) Auch wenn das Andershandelnkönnen als notwendige Bedingung für freie Entscheidungen und Handlungen abgelehnt wird, räumt ihm Kant bei der nachträglichen Beurteilung einer Situation eine besondere Funktion ein. Pflichtverstöße können durchaus intra- und intersubjektiv moralisch belangt werden, da urteilsfähige Akteure jederzeit die Wahl gehabt haben, anders als pflichtwidrig zu handeln. Das zweite Kriterium fordert, dass der Akteur Urheber seines Willens und der ihm gemäßen Handlung sei. Die Urheberschaft wird von Kant unter dem Ausdruck „Zurechnung“ erörtert, der ihm zufolge „das Urteil [ist], wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdenn Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird“ (Kant, AA VI 227; 223). Sie gründet sich wiederum in der Urteilsfähigkeit (Vgl. KpV A 176), woraus sich die strengste Forderung ableiten lässt, jederzeit nur sittlich richtig und wertvoll zu handeln. In dieser Hinsicht vertritt Kant einen kompromisslosen Ansatz, der die Preisgabe der Integrität der moralisch bewussten Person nicht einmal unter Qualen und Folter für zulässig erklärt: „Alle Arten von Marter können nicht seine freie Willkühr zwingen; er kann sie alle ausstehen und doch auf seinem Willen beruhen.“ (Kant, AA XXVIII 182) Urteilsfähig und moralisch integer sind Menschen nach Kant genau dann, wenn sie das Alter der „zartesten Kindheit“ bereits überschritten haben und weder vom „Wahnsinn“ noch von der „hohen Traurigkeit“ befallen sind. (Vgl. Kant, AA XXVIII 182) In der Lebensspanne, die mit dem Ausdruck „zarteste Kindheit“ versehen wird, haben Menschen Kant zufolge ein unzureichend ausgebildetes moralisches Verständnis und eine wenig geschulte moralische Urteilskraft. Sie haben in abstracto keinen Begriff vom Sittengesetz als alleinigen moralischen Maßstab und können in concreto keine Einzelfälle darunter subsumieren. Der „Wahnsinn“ und die „hohe Traurigkeit“ hindern den Menschen dagegen bei der Willensbildung und konterkarieren seine Urteilsfähigkeit. Das dritte Kriterium fordert die Kontrolle der handelnden Person über die gesamten Entscheidungs- und Handlungsprozesse und ihr liegt der genuine

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kantische Freiheitsgedanke zugrunde, den Saša Josifović in seiner umfangreichen Studie Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit historisch und systematisch herausgearbeitet hat.19 Freiheit stellt die kontrollierte willentliche Selbstbestimmung dar und beinhaltet die negative Freiheit als die Unabhängigkeit des Akteurs von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit (Vgl. KrV B 830) und die positive Freiheit als spezifisches Vermögen, sich vermittels von praktischen Grundgesetzen von selbst zu bestimmen (Vgl. KpV A 58 f.). Da Freiheit – wie aus der Kant-Lektüre entnommen werden kann – einen vielschichtigen Begriff darstellt, der Wahlfreiheit (Vgl. Kant, AA VI 226), Handlungsfreiheit (Vgl. KrV B 562; 830), Entscheidungsfreiheit (Vgl. Kant, AA III 521), Willensfreiheit (Vgl. KrV B 474; 561 – „transzendentale Freiheit“; Vgl. KpV A 51 f. – „transzendental-praktische Freiheit“), negative Freiheit (Vgl. KrV B 562; 521; KpV A 58) und positive Freiheit (Vgl. KrV B 562; KpV A 59; 155) bereits in sich enthält, entspricht sie keinem der gegenwärtig diskutierten Freiheitsbegriffe. Kants Freiheitstheorie ist komplex und lässt sich daher weder durch den weichen und den harten Determinismus noch durch den Libertarianismus adäquat beschreiben. Weil freien Handlungen stets ein freier Wille, der zugleich als ein solcher gedacht wird, der jederzeit unter Gesetzen steht, vorausgeht, bezeichnet moralische Autonomie denjenigen Begriff, der Zurechnung und Verantwortung überhaupt erst begründet. Moralische Verantwortlichkeit setzt also ein anderes Freiheitsverständnis als das kompatibilistische voraus. Nach Kant ist also nicht das Andershandeln-, sondern das Sohandelnkönnen der Grund für die „Imputabilität“. Jemandem können die Handlungen und ihre Folgen nicht dann erst zugerechnet werden, wenn er hätte andershandeln können, sondern gerade deshalb, weil er jederzeit hätte gesetzmäßig handeln sollen und können. Dieses spezifisch kantische Freiheitsverständnis beruht nun seinerseits auf der ontologischen These, dass die gesamte Realität sich nicht in der Sphäre der Erscheinungen erschöpft (Vgl. KrV B 564); andernfalls wäre „Freiheit nicht zu retten“ (Ebd.). Diese These wird in Abgrenzung zum transzendentalen Realismus transzendentaler Idealismus genannt. Die Theorie des transzendentalen Idealismus besagt, dass Erscheinungen und Dinge an sich unterschiedlichen Sphären angehören (Vgl. Ebd.; KpV A 206), spricht dabei nur den Gegenständen in der Sphäre der Erscheinungen

19  Vgl. Josifović, S. 2014: Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit, 10.

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raumzeitliche Realität zu,20 ohne jedoch zugleich die Dinge an sich in ihrer Funktion als regulative und konstitutive Ideen zu marginalisieren. Der transzendentale Realismus, nach dem es keinen prinzipiellen und epistemischen Unterschied zwischen Erscheinungen und Dingen an sich gibt, erklärt die menschliche Freiheit für eine Illusion. Nach ihm stellen ausnahmslos alle durch den Leib des Menschen vorsätzlich und absichtlich verursachten Veränderungen in der Welt Glieder in der natürlichen Abfolge dar. (Vgl. KrV B 571) Er führt somit auch den Diebstahl, den Todschlag usw. auf die Natur zurück und beschreibt den „Hieb des Scharfrichters“ als „natürliches Geschehen“, das unter den Bedingungen, die zu seinem Hervortreten beigetragen haben, unausweichlich war.21 Unser moralisch-rechtliches Beschreibungsnarrativ müsste daher zwangsläufig durch das folgende ersetzt werden: Auf diesem Verhältniß von Ursache zur Wirkung durch Naturbestimmung beruhen die prädeterminirten Folgen als Wirkung von Ursachen, und insofern kann man annehmen, daß dieser Mensch den anderen todtschlagen mußte. (Kant, AA XXVII 502) 4

Der Verdacht der einseitigen Schuldzuweisung

Moralische Verantwortlichkeit setzt Kant zufolge die spezifische Freiheit als Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen von selbst anzufangen (Vgl. KrV B 474), notwendigerweise voraus. Beim Studium der einschlägigen Textpassagen aus der Metaphysik der Sitten entsteht nun der folgende Eindruck: 1. 2.

3.

Kant teilt die Ansicht, dass sich moralische Verantwortlichkeit auf Taten gründet. (Vgl. Kant, AA VI 227; 223) Eine Handlung gilt nach kantischem Dafürhalten genau dann als Tat, wenn sie gesetzmäßig ist, d.h. mit einem Gesetz übereinstimmt. Taten sind also gesetzmäßige Handlungen. Sie begründen das Konzept der moralischen Akteurschaft. Moralische Akteure sind wiederum Urheber ihrer gesetzmäßigen Handlungen, also Urheber ihrer Taten.

20  Vgl.: Rosefeldt, T. 2013: Dinge an sich und der Außenweltskeptizismus, in: Emundts, 221– 260, hier: 222 f. 21  Geismann, G. 2007: Kant über Freiheit in spekulativer und praktischer Hinsicht, in: KS 98. 283–305, hier: 286.

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4. 5.

6. 7.

8.

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Moralische Verantwortlichkeit gründet sich also in gesetzmäßigen Handlungen, weil nur sie den moralischen Akteuren in vollem Umfang zugerechnet werden können. Jemandem kann seine Handlung somit genau dann in vollem Umfang zugerechnet werden, wenn er Urheber dieser Handlung, also moralischer Akteur ist. Also können nur moralische Akteure moralisch verantwortlich gemacht werden. Akteure sind indes per definitionem moralisch frei und können daher als Adressaten moralischen Lobs angeführt werden. Auf der Bedingung moralischer Akteurschaft kann also nur das moralische Lob, aber nicht der moralische Tadel begründet werden, denn Taten sind nur solche Handlungen, die gesetzmäßig sind und als deren Urheber Akteure gelten. Das Kriterium der Gesetzmäßigkeit fordert, dass die Handlung einem allgemein verbindlichen und streng notwendigen Gesetz entsprechen soll. Eine Handlung ist genau dann gesetzmäßig, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Wenn die Handlungsmaxime erstens zu einem allgemeinen Gesetz erhoben werden kann und nur sie den Akteur zum entsprechenden Vollzug motiviert. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann der Akteur als frei und moralisch beurteilt und ihm seine Handlung in vollem Umfang zugerechnet werden. Da Akteure per Definition frei und moralisch sind und moralische Verantwortlichkeit auf der Grundlage moralischer Akteurschaft begründet wird, kann sie dem kantischen Ansatz nach nur moralisch legitime Taten begründen. Tadelnswürdig ist eine Handlung nach dieser Argumentation erst dann, wenn sie gesetzwidrig, d.h. gegen eine der beiden Bedingungen verstößt. Verstößt sie jedoch gegen eine der beiden Bedingungen, kann sie dem Akteur nach diesem Gedankengang nicht in vollem Umfang zugerechnet werden. Es stellt sich also der dringende Verdacht ein, dass Kant nur die moralische Belobigung, nicht aber den moralischen Tadel begründen kann.

Mit der Kenntnisnahme dieses Arguments können wir prima facie festhalten, dass es entweder keine moralisch verwerfliche Handlungen gibt, oder (eine schwächere Konsequenz) dass sie kein Ausdruck von Freiheit sind. Wenn sie aber kein Ausdruck von Freiheit sind, wie können sie dann klassifiziert werden? Eine Möglichkeit lautet: „Moralisch verwerfliche“ Handlungen geschehen unbewusst, zufällig etc. Eine Theorie, die auf dieser Annahme beruht, hätte nun weitreichende Folgen für das Rechtssystem und dem ihm zugrunde liegenden Rechtsdenken, mithin für die Justiz und das Strafrecht; sie macht

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Begriffe wie „Schuld“, „Vergehen“, „Verbrechen“ funktions- und sinnlos. Denn niemand könnte für seine eigenen Vergehen oder Verbrechen schuldig gesprochen werden, weil sie eben nicht „seine eigenen“ wären und sie ihm nicht z­ ugerechnet werden könnten. Es ist also dringend erforderlich, diesem Verdacht nachzugehen und ihn zurückzuweisen. 5

Der Prädeterminismus als erstzunehmendes Freiheitsproblem

Ein Lösungsansatz lässt sich unter Rekurs auf die einschlägigen Textabschnitte, in denen Kant sein moralphilosophisches Gebäude Stein für Stein errichtet, entwickeln. Da sich diese Textstellen über die ersten beiden Kritiken, die Metaphysik der Sitten und die Religionsschrift erstrecken, erfordert dieser Lösungsansatz eine umfangreiche Textkenntnis. Andererseits beruht er auf der These, dass die Freiheitstheorie nicht nur beim Übergang von der Dialektik zum Kanon der Kritik der reinen Vernunft kohärent ist, sondern bei der Festlegung des Lektürerahmens (der die oben genannten Schriften sowie ausgewählte Abschnitte der Grundlegungsschrift umfasst) sogar sukzessive fortentwickelt wird.22 Als Freiheitstheoretiker und -verteidiger sieht sich Kant mit zwei konkreten Einwänden konfrontiert, nämlich dem Prädeterminismus (der wiederum nur unter der gültigen Annahme des transzendentalen Realismus freiheitsgefährdend ist) und der Möglichkeit, dass die empirisch bedingte praktische Vernunft den alleinigen Bestimmungsgrund des Willens abgibt. Vor dem Hintergrund der Aussagen zur Komplexität und Vielschichtigkeit des kantischen Freiheitsbegriffs und speziell zur Funktion des Sittengesetzes als formale Bestimmung des Willens (Vgl. KpV A 55; 59) kann dem zweiten Einwand die argumentative Grundlage entzogen werden. Mit der im Vergleich zur ersten Kritik aktualisierten Motivationstheorie werden die Bedingungen für den konkreten Vollzug einer pflichtgemäßen aus Pflicht abgehandelt und die Möglichkeit der Virulenz der reinen praktischen Vernunft formallogisch abgesichert. Daher kann man den zweiten Einwand auf sich beruhen lassen. Der erste Einwand ist nach kantischem Dafürhalten für die Freiheit akut gefährdend, da er die Menschen jeder Möglichkeit zur freien Gestaltung beraubt. Der Determinismus wird vom Prädeterminismus abgegrenzt und Kant sieht bloß in letzterem eine ernstzunehmende Gefahr für unser Verständnis als 22  Das ist eine der Hauptthesen, die ich in meiner Dissertation „Autonome Praxis und die intelligible Welt. Die transzendental-praktische Freiheit in Kants Lehre vom höchsten Gut“ erörtere.

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freie Akteure. Unter den Prädeterminismus (Vgl. Kant, AA VI 49 f.),23 der vom Determinismus distinktiv zu unterscheiden ist, versteht Kant die These, dass „die vergangene Zeit nicht in meiner Gewalt ist, so [. . .] daß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt“ sind, determiniert ist (KpV A 169). Da ihm zufolge Freiheit keineswegs der „Zufälligkeit der Handlung“, sondern der „absoluten Spontaneität“ entspricht, wird sie allein vom Prädeterminismus bedroht, wo der Bestimmungsgrund der Handlung in der vorigen Zeit ist, mithin so, daß jetzt die Handlung nicht mehr in meiner Gewalt, sondern in der Hand der Natur ist, mich unwiderstehlich bestimmt. (Kant, Anm. zu AA VI 49 f.) In der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft beweist Kant, dass es kein „­ richtigdisjunktiver Satz sei, daß jede in der Welt entweder aus Natur, oder aus Freiheit entspringen müsse“, sondern, dass „beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden könne.“ (KrV B 564) So ist es nicht überraschend, dass Menschen nach seinem Dafürhalten als vernünftige Wesen ein Vermögen der Kausalität (transzendentale Freiheit) beiwohnt, vermittels dessen sie „Ursache von Erscheinungen sein“ können (KpV B 565). Diesem Vermögen liegt nun ein besonderes Gesetz zugrunde, „ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde“ (KrV B 567), nämlich der beharrliche, unveränderliche und unzeitliche intelligible Charakter (Vgl. KrV B 579). Dem intelligiblen Charakter wiederum unterliegt der empirische Charakter als Sinnesart, der Handlungen als Wirkungen in der Welt vollzieht. Eine erste, wenngleich auch näher zu erläuternde Erklärung darüber, wie eine Handlung nach moralischen Gesichtspunkten beurteilt werden kann, liefert Kant am Beispiel der „boshaften Lüge“ (Vgl. KrV B 582). In diesem Textpassus stellt er nämlich fest, dass

23   In der Kant-Forschung gehen die Meinungen diesbezüglich auseinander. Den Standpunkt, dass Determinismus und Prädeterminismus identisch sind, vertreten im Ausgangspunkt von Schelling ((S.W. I/7, 383) Jochen Bojanowski (Bojanowski, J. 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, in: KSEH 151, 14), Tobias Rosefeldt (Rosefeldt, T. 2012: Kants Kompatibilismus, in: Brandhorst et al., 77–110, hier: 78) und Geert Keil (Keil 2007 (1): Willensfreiheit, 85). Die einschlägige Textpassage aus der Religionsschrift, nämlich die Anmerkung zu Kant, AA VI 49 f. spricht jedoch dafür, beide Positionen zu unterscheiden und den Prädeterminimus mit dem Determinismus in der gegenwärtigen Willensfreiheitsdebatte gleichzusetzen.

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eine willkürliche Handlung, z.E. eine boshafte Lüge [. . .] zuerst ihren Bewegursachen nach, woraus sie entstanden, untersucht und darauf beurteilt [werde], wie sie samt ihren Folgen ihm [dem Menschen] zugerechnet werden könne. (KrV B 582) Ganz gleichgültig, wie stark die äußeren Einflüsse waren, oder ob ein unglücklicher Zufall jemanden dazu trieb, zu lügen, hält Kant nachdrücklich fest, dass man ihm die Handlung zuschreiben und zurechnen kann, weil er jederzeit in der Lage war, sie wegen des Vernunftgesetzes, das sein Verhalten ungeachtet kontingenter Umstände durchgängig bestimmt, zu unterlassen (Vgl. KrV B 584). Daher wird derjenige, der eine boshafte Lüge verbreitet, auch getadelt werden müssen. Diese erste Erklärung dafür, wie der moralische Tadel nach kantischem Dafürhalten begründet wird, lautet also konkret: Die Vernunft verpflichtet uns zur strengsten Einhaltung von moralischen Gesetzen. Auch beim kleinsten Verstoß weist sie uns darauf hin, dass wir – auch wenn wir glauben, durch die äußeren Umstände restringiert zu sein – die Handlung unterlassen hätten können und sollen. Hier tritt die Vernunft als richtende und beurteilende Instanz auf. Es findet also eine Vermittlung, ein innerer Dialog, zwischen dem Subjekt und der Vernunft statt, in dem sie das Subjekt entweder anklagt und ihr die Schuld aufbürdet oder freispricht. Dieser gesamte Vorgang spielt sich nun im Gewissen, dem „inneren Gerichtshof im Menschen“ (Kant, AA VI 438), ab. 6

Das Gewissen und seine Funktionen

6.1 Das warnende und retrospektive Gewissen Auf die spezifische Vermittlungsstruktur der Vernunft verweist Kant bereits an zwei Stellen in der Kritik der praktischen Vernunft und es stellt sich sogleich der Eindruck ein, dass sich die Funktion des Sittengesetzes keineswegs in seiner Bestimmung als formales Gesetz (Vgl. KpV A 41) erschöpft. Das Sittengesetz fungiert überdies als Faktum der Vernunft (Vgl.: KpV A 56; 72; 96)24 und Grundgesetz der intelligiblen Welt (Vgl. KpV A 74 f.) und findet seinen angemessenen Ausdruck in der Vernunft selbst (Vgl. KpV A 62 – „Stimme der Vernunft“; „himmlische Stimme“). In ebendieser Textstelle wird das Gewissen in seiner Funktion als warnende Instanz („warnendes Gewissen“ – Kant,

24  Vgl. hierzu: Henrich, D. 1960: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Ders., 77–115.

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AA VI 440) angedeutet. Das warnende oder prospektive Gewissen,25 das von dem Subjekt in „einer Gewissenssache“ vor der Handlung26 zu Rate gezogen wird, beurteilt über Bedenklichkeit und Unbedenklichkeit eines moralischen Sachverhalts und erklärt jeden kleinsten Verstoß gegen die Pflicht für eine „wahre Übertretung“ (Ebd.). Daher gleicht ein „weites Gewissen“ nach kantischem Dafürhalten der Gewissenslosigkeit. (Vgl. Ebd.) Neben dem warnenden Gewissen wird aber auch das retrospektive Gewissen behandelt, das über die Pflichtmäßigkeit oder Pflichtwidrigkeit von Maximen urteilt.27 Die Entscheidung, ob eine Handlung als Tat beurteilt werden kann, obliegt wiederum der Urteilskraft (Vgl. Kant, AA VI 438), das als Vermögen, „unter Regeln zu subsumieren“, darüber entscheidet, „ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (KrV B 171). Die Urteilskraft überprüft also, ob „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen“ (Kant, AA V 179) gedacht werden könne, und ist im Grunde genommen dafür zuständig, „zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden“ (Kant, AA VII 201). Sie ist bestimmend, wenn ein allgemeines Gesetz gegeben und ein Einzelfall oder eine Reihe von Einzelfällen darunter zu subsumieren sind (Vgl. Kant, AA V 179). Im Unterschied dazu hat sie auch eine reflektierende Ausrichtung, bei der sie im Ausgangspunkt eines Einzelfalls oder einer Reihe von Einzelfällen nach einem allgemeinen Gesetz sucht, worunter der Einzelfall oder die Reihe von Einzelfällen stehen (Vgl. Ebd.). Da der bestimmenden Urteilskraft das allgemeine Gesetz „a priori vorgezeichnet“ ist (Ebd.), handelt es sich bei ihr um „ein besonderes Talent [. . .] das gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“ (KrV B 172). Die reflektierende Urteilskraft steigt hingegen in Ansehung eines von ihr selbst ­stammenden (Vgl. Kant, AA V 180), transzendentalen (Vgl. Ebd., 181) Prinzips „von dem Besonderen der Natur zum Allgemeinen“ (Ebd., 180) auf. Auf die Frage, ob die Urteilskraft bei der moralischen Urteilsfindung bestimmend oder reflektierend ist, findet sich eine eindeutige Antwort: Da bei der moralischen Urteilsfindung die Verallgemeinerbarkeit von Maximen ermittelt wird, wobei das Sittengesetz als Allgemeines bekannt ist und nicht eigens aufgesucht werden muss, ist die moralische Urteilskraft bestimmend. In der konkreten Anwendung setzen moralische Gesetze also eine durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft voraus,

25  Bernecker, S. 2006: Kant zur moralischen Selbsterkenntnis. In: KS 97, 163–183, hier: 174. 26  Vgl. Blöser, C. 2014: Zurechnung bei Kant: Zum Zusammenhang von Person und Handlung in Kants praktischer Philosophie, 127. 27  Vgl. Bernecker 2006, 174.

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um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihren Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen, da diese [. . .], als selbst mit so viel Neigung affiziert, der Idee einer praktischen, reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen. (GMS BA IX) Während die bestimmende Urteilskraft also entscheidet, ob eine Maxime unter dem Moralgesetz steht, ob also die intendierte Handlung eine Tat ist und das warnende Gewissen sicherstellt, dass die Maxime tatsächlich aus Pflicht aktualisiert wird, besteht die Aufgabe der Vernunft in der „Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung“ (Kant, AA VI 438). Die bestimmende Urteilskraft beurteilt, ob eine Handlung Tat sei, die Vernunft indessen fällt das Rechtsurteil darüber, welche Auswirkungen diese Tat auf den Boden der Erfahrung haben könnte – und der gesamte Vorgang spielt sich im Gewissen vor einem inneren Gericht ab, das wiederum in Ansehung der Bemühung der moralischen Person, dem Gesetz „Effect“ zu verschaffen, als Gerichtshof vorgestellt werden muss (Vgl. Ebd.). Das Gewissen stellt im Ganzen also das „Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ dar. (Vgl. Kant, AA VI 438) 6.2 Die intrapersonale Dimension des Gewissens Aufgrund der intrapersonalen Struktur des Gewissens kann es als „innerer Richter“ vorgestellt werden, der die Menschen „beobachtet“ und „bedroht“ und den sie mit „Respect (mit Furcht verbundener Achtung)“ b­ egleiten (Ebd.). Es ist jedem Menschen „in seinem Wesen einverleibt“ und begleitet ihn wie „ein Schatten“; es wendet sich an ihn mit einer „furchtbare[n] Stimme“, die er zuweilen im Taumel der Gelüste überhören, die er jedoch keineswegs gänzlich „vermeiden“ kann (Vgl. Ebd.). Weil dieser Rechtsstreit jedoch nicht von der Person allein ausgetragen werden, da sie nicht gleichzeitig Anklägerin und Angeklagte sein kann – denn das hieße, dass sie als Anklägerin jederzeit verlöre (Vgl. Ebd.) –, denkt sie sich im Gewissen eine andere Person, die als Richterin fungiert und den Rechtsstreit ‚verhandelt‘. Da es sich bei dem Gewissen um einen inneren Gerichtshof der Person handelt, läuft der Gedankengang auf ein Zwiegespräch hinaus, das die Person mit dem idealischen Ich führt und vor dem sie Rechenschaft ablegt. Zwischen der natürlichen Person und dem idealischen Ich besteht ein intimes Verantwortungsverhältnis, das die Autonomie der Person garantiert und zudem gewährleistet, dass keine konkreten Inhalte nach außen dringen.

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Das Motiv des Zwiegesprächs entspringt aus der anthropologischen Annahme, dass der Mensch als „vernünftiges aber endliches Wesen“ (KpV A 45) eine doppelte Natur hat. Er ist „unheilig genug“ (KpV A 155), um aus der sittlichen Grundordnung auszubrechen und moralische Pflichten zu verletzen. Seiner endlichen Natur gemäß strebt er danach, einen Zustand herzustellen, in dem ihm alles nach Wunsch und Willen geht (Vgl. KpV A 224). Als vernünftiges Wesen hat er vermittels des Sittengesetzes als Faktum der Vernunft Einblick in die intelligible Welt und er entwickelt (durch Erziehung und Bildung) zunehmend das Bewusstsein für den systematischen Zusammenhang von Freiheit und allgemeiner Wohlfahrt. Da er als sinnliches Wesen ein Leben führt, das sich über einen festgelegten Zeithorizont erstreckt, er jedoch zugleich nach dauerhaftem Glück strebt, ist es ausgeschlossen, dass er des dauerhaften Glücks (Glückseligkeit) jemals teilhaftig wird. Es wäre aber widersinnig, wenn er nicht einmal hoffen dürfte, der Glückseligkeit, der er bedürftig ist und wonach er strebt, und dessen er sich als würdig erwiesen hat, nicht teilhaftig werden könnte (Vgl. KpV A 199). Sein Glücksstreben und sein sittliches Pflichtbewusstsein stehen in einer natürlichen Konkurrenz, die je nach Grad der sittlichen Bildung und Selbstkultivierung zu der einen oder anderen Seite ausschlägt. Er trägt einen inneren Kampf aus, der sich in der „Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür gründet, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen, oder nicht“, dem „natürlichen Hang“, dem guten oder bösen Herz (Kant, AA VI 29). Die „Klage eines Apostels“ verleiht dieser Spannung Ausdruck: Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt, d.i. ich nehme das Gute (das Gesetz) in die Maxime meiner Willkür auf; aber dieses, welches in der Idee (in thesi) eine unüberwindliche Triebfeder ist, ist subjectiv (in hypothesi), wenn die Maxime befolgt werden soll, die schwächere (in Vergleichung mit der Neigung). (Ebd.) Ein Hang, der „den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupisentia), sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist“ (Kant, AA VI 28) bezeichnet, kann entweder angeboren sein und durch Bildung und Kultur positiv entwickelt oder durch schädliche äußere Faktoren beeinträchtigt werden. Kultur und Bildung zählen zu den integralen Bestandteilen einer planvollen kosmopolitischen Erziehung die durch die Anlagen zum Guten vollendet werden und den „Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen“ (Kant, AA VII 325), zugunsten des einzelnen als auch des gesellschaftlichen Menschen (Vgl. Kant, AA IX 449) ausgehen lassen kann. Die organisierte Erziehung hat also die Aufgabe,

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den „großen Hang zur Freiheit“ im Menschen gegen seinen „tierischen Hang“ (Vgl. Kant, AA VII 324 f.) zu behaupten und sein Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Freiheit keineswegs in der Loslösung von Gesetzen besteht (Vgl. Kant, AA IX 442), sondern Gesetze als konstitutiv für ihre Ausübung erachtet und moralische Gesetze als wesentliche Grundlage für die freie willentliche Selbstbestimmung (Autonomie) anerkennt (Vgl. KpV A 4 f.). Die „Unlauterkeit“, die als nähere Bezeichnung für das spezifisch menschliche Wesensmerkmal angeführt wird (Vgl. Kant, AA VI 29), ist also der wesentliche Grund dafür, daß die Maxime dem Objecte nach (der beabsichtigten Befolgung des Gesetzes) zwar gut und vielleicht auch zur Ausübung kräftig genug, aber nicht rein moralisch ist, d.i. nicht, wie es sein sollte, das Gesetz allein, zur hinreichenden Triebfeder, in sich aufgenommen hat: sondern mehrenteils (vielleicht jederzeit) noch anderer Triebfedern außer derselben bedarf, um dadurch die Willkür zu dem, was Pflicht fordert, zu bestimmen; mit andern Worten, daß pflichtmäßige Handlungen nicht rein aus Pflicht gethan werden. (Kant, AA VI 30) Eine Handlung ist nach kantischem Bekunden eo ipso nicht moralisch, wenn die Maxime zum allgemeinen Gesetz erhoben und von einer „idealen Sprechergemeinschaft“ als solches anerkannt wird.28 Vielmehr wird zugleich erfordert, dass diese Maxime der motivierende Grund ist, um dessen willen die Handlung überhaupt erst vollzogen wird. Demnach gilt eine Handlung als Tat, wenn sie „sittlich richtig“ und „sittlich wertvoll“ ist (Vgl. KpV A 285); eine Handlung, deren Maxime die notwendige Bedingung (der Gesetzeskonformität) erfüllt, ist nicht moralisch wertvoll, wenn sie nicht zugleich aus „Achtung fürs Gesetz“ (KpV A 231) aktualisiert, wenn sie also nicht aus Pflicht vollzogen wird. Moralisch wertvoll ist die Handlung also genau dann, wenn das moralische Gesetz den Willen ohne die Zwischenschaltung eines Gefühls als bestimmt. Eine pflichtgemäße Handlung, die aufgrund eines sinnlichen Motivs aktualisiert wird, fällt zwar in den Bereich der Legalität und kann nach den entsprechenden Rechtsmaßstäben beurteilt werden, sie ist jedoch keineswegs der angemessene Ausdruck der moralischen Gesinnung (Vgl. KpV A 126 f.). Als Taten zeichnen sich Handlungen dadurch aus, dass die Maxime Gesetz und als solches zugleich auch Triebfeder ist, d.h. dass sie objektiver und subjektiver Grund, mithin der objektive Grund subjektiv ist et vice versa. 28  Vgl.: Stekeler-Weithofer, P. 1990: „Willkür und Wille“, in: KS 81, 304–320, hier: 311.

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6.3 Die Achtung als echtes moralisches Gefühl Auf den ersten Blick sind es zwei Schritte, bei denen die formale Richtigkeit und Wertigkeit der Handlung überprüft und sichergestellt wird, ob eine Handlung Tat ist. Es dürfte mittlerweile klar sein, dass die formale Richtigkeit der Handlung daran gemessen wird, ob der private Grundsatz allgemeines Gesetz sein kann; es dürfte inzwischen ebenfalls einleuchten, dass die Handlung darüber hinaus einen moralischen Wert haben muss, wenn sie aus Achtung fürs Gesetz vollzogen wird, ohne dass dabei ein dazwischen geschaltetes Gefühl wirksam ist und den Entschluss zur Handlung in irgendeine Weise beeinflusst. Die Forderung, dass das Sittengesetz, an dem bereits die formale Richtigkeit der Maxime beurteilt wird, zugleich Triebfeder sein soll, besagt, dass es „für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens“ (KpV A 128) sei und zieht ein „für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem“ (Ebd.) nach sich. Dieses Problem ist erkenntnistheoretischer Art und liegt genau genommen in der Gewissheit, dass zu keinem Zeitpunkt mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass jemand aus Pflicht gehandelt hat, ohne Rücksicht auf etwaige Gefühle zu nehmen. Diesbezüglich kann unserer Handlung durchaus eine verallgemeinerbare Maxime zugrunde liegen und sie kann formal richtig sein, aber in der Praxis können wir niemals feststellen, ob sie zugleich einen moralischen Wert hat und ob wir die Handlung aus Achtung aktualisieren. Nachdem aber die Signifikanz dieses zweiten Überprüfungsschrittes von Kant mehrfach hervorgehoben wurde, belässt er es nicht einfach dabei, sondern entwickelt eine spezifische Motivationstheorie, in der die psychologische (Ein-)Wirkung der Vernunft auf den menschlichen Willen beschrieben wird. Nach Kant löst die Vernunftbestimmung zunächst einen Schmerz (Vgl. KpV A 129) aus, indem sie das Subjekt dazu auffordert, allen „gesetzwidrigen Gefühlen“ zu entsagen, die Selbstliebe einschränkt und den Eigendünkel, der das Wohlgefallen an der eigenen Person darstellt, niederschlägt (Vgl. Ebd.). Die unbestimmte Selbstliebe soll sich auf diejenigen Neigungen und Gefühle beschränken, die in keiner Konkurrenz oder Disjunktion mit dem moralischen Gesetz stehen. Diese Selbstliebe, die sich auf gesetzeskonforme Gefühle und Neigungen gründet, wird vernünftig genannt. (Vgl. Ebd.) Beim Anblick des Himmels und des grenzenlosen Raums mit den unüberschaubar großen Anzahl an Sternen, von denen einige heller leuchten als andere, und dem Wissen, dass dieser Blick zugleich ein Blick in die Vergangenheit ist, können berechtigte Zweifel an der Einzigartigkeit des menschlichen Daseins und seiner Bedeutung als Krone der Schöpfung aufkommen. (Vgl. KpV A 289) Der Blick nach außen führt uns die Bodenlosigkeit der menschlichen Existenz vor Augen und macht uns als Naturwesen gleich mit allen anderen Naturwesen. Die Fixierung dieser Wahrnehmung gleicht jedoch der „Vernichtung“ unseres

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Selbst.29 Nach Kants Bekunden kann ihr durch die bewusste innere Rückkehr entgegengewirkt und die Seele dadurch geläutert werden. Bei der moralischen Urteils- und Entscheidungsfindung dürfen Neigungen und sinnliche Antriebe, „die auf Gefühl gegründet“ sind (KpV A 128 f.), keine motivatorische Funktion haben. Nach kantischem Dafürhalten kann das Sittengesetz als Triebfeder nur in dieser besonderen Funktion a priori erkannt und zum Gegenstand des Wissens erhoben werden, da auch die „negative Wirkung aufs Gefühl [. . .] selbst Gefühl“ ist (KpV A 128 f.). Die reine praktische Vernunft weist demnach alle Neigungen, die mit dem Sittengesetz in Konflikt stehen, ab und schlägt den Eigendünkel nieder, indem sie die „Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem [moralischen] Gesetze übereinstimmt“ (KpV A 130) zum alleinigen Maßstab des moralischen Wertes von Handlungen erklärt. Mit dem ­moralischen Gesetz in der Form der „intellektuellen Kausalität, d.i. der Freiheit“ (Ebd.) geht eine positive Erfahrung einher, die „ein Gegenstand „der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls [ist], das nicht empirischen Ursprungs ist, und a priori erkannt wird.“ (Ebd.) Da die Achtung für das moralische Gesetz ein notwendiges Gefühl darstellt, das auf einem „intellektuellen Grund“ beruht, kann sie a priori erkannt werden. Die Wirkung des moralischen Gesetzes als Triebfeder auf das Gemüt in der Abweisung moralisch bedenklicher Gefühle und der Niederschlagung des Hanges der Person zur Selbstüberschätzung wird zunächst subjektiv als ein negatives Gefühl wahrgenommen, das der Demütigung entspricht. (Vgl. KpV A 132) Aus ihr erwächst das Bewusstsein für das Gesetz der reinen praktischen Vernunft, das objektiv „im Urteile der Vernunft, indem es den Widerstand aus dem Weg schafft“ (KpV A 133), erkannt wird und Achtung erweckt. Die subjektiv erfahrene Demütigung und die Achtung bilden zusammen die Achtung als moralisches Gefühl (Vgl. Ebd.). Obwohl sie, wie Kant fortfährt, pathologisch sei und auf einem empfundenen sinnlichen Gefühl beruhe, könne sie als das einzige Gefühl bezeichnet werden, das nicht auf die Sinnlichkeit zurückzuführen sei, sondern allein durch die reine praktische Vernunft bewirkt werde. Insofern sei die Achtung als moralisches Gefühl keinesfalls „pathologisch, sondern muß praktisch-gewirkt heißen“ (KpV A 134). Dieter Sturma bezieht sich auf diese Textabschnitte und die darin enthaltenen Aussagen und konstatiert, dass die Achtung, sofern sie „Veränderungen im Bewusstsein“ bewirken könne,

29  Vgl. Grondin, J. 2000: Zur Phänomenologie des moralischen ‚Gesetzes‘. Das kontemplative Motiv der Erhebung in Kants praktischer Metaphysik. In: KS 91. 385–394, hier: 387.

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als ein nicht sinnlich vermitteltes „Gefühl“ bezeichnet werden solle.30 Genauso wie das empirische Begehrungsvermögen zwar nur eine Bedingung, aber nicht der ausschließliche Grund für moralische Handlungen ist (denn dann wäre ja jede Handlung eo ipso moralisch), ist das Gemüt (Vgl. KrV B 33) zwar nur eine Bedingung, um das Gefühl der Achtung zu empfinden, aber bei weitem nicht der ausschließliche Grund für diese Empfindung. Wäre die Wirkung des moralischen Gesetzes auf das Gemüt bloß negativ und erschöpfte sie sich in dem als Demütigung empfundenen Gefühl, könnte unter keinen Umständen eingesehen werden, wie die praktische Vernunft Triebfeder sein könne. (Vgl. KpV A 140 f.) Zum negativen Gefühl kommt also die objektive Willensbestimmung im moralischen Urteil hinzu. Sie bietet Kant zufolge Einsicht in die Wirksamkeit der reinen praktischen Vernunft, erhebt die Schätzung des Sittengesetzes und steigert den Wert der Person unendlich. Auf die Demütigung folgt also im objektiven Urteil der Vernunft die Erhebung des Subjekts zum Wesen. Diese „Erhebung“ wird noch einmal im Beschluss nachdrücklich hervorgehoben: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden [Fußnote gestrichen von W.F.] Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. [. . .] Das Zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher [. . .] ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. [. . .] Der zweite [Anblick] erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart [. . .] (KpV A 289) Da wir als vernünftige aber endliche Wesen gegen das moralische Gebot verstoßen und daher zu keinem Zeitpunkt sicherstellen können, dass wir nicht nur pflichtgemäß, sondern zugleich auch aus Pflicht gehandelt haben, ist es dringend erforderlich, dass die moralische Urteils- und Entscheidungsfindung behutsam und sorgfältig abläuft. Es ist die Funktion des „Verstandes“, zu urteilen, ob eine geplante Handlung „überhaupt recht oder unrecht sei“ (Kant, AA VI 30  Vgl. Sturma, D. 2004: Kants Ethik der Autonomie, in: Ameriks/Sturma 2004, 160–177, hier: 172.

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186); genau genommen ist es die reine praktische Vernunft, der diese Aufgabe zukommt, denn sie gibt das Sittengesetz, nach dem die formale Richtigkeit der Maxime gemessen wird. „Recht“ und „unrecht“ sind hierbei Bestimmungen aus dem Bereich der Legalität, ohne zugleich zwangsläufig eine moralische Wertung zu enthalten. Ob eine Handlung recht oder unrecht sei, kann nämlich nach einer Lesart bedeuten, dass sie Ausdruck der äußeren Freiheit ist und von dem Subjekt als solchen überhaupt erst anerkannt werden kann. Hierbei werden Handlungen als bewusste Willensäußerungen von Akten, zu denen das Subjekt in irgendeine Weise getrieben wurde, unterschieden. Die Vernunft beurteilt also nach logischen Gesichtspunkten, ob ein Akt Ausdruck der willentlichen Selbstbestimmung ist und überhaupt zum Gegenstand der moralischen Wertung erklärt werden kann. „Recht“ und „unrecht“ können aber nach einer zweiten Lesart als moralische Kategorien aufgefasst werden. Dabei überprüft sie, ob die Handlung moralisch oder unmoralisch ist. Um darüber hinaus zu garantieren, dass sich bei der Überprüfung keine Fehler einschleichen, stellt das Gewissen sicher, „daß die Handlung, die ich unternehmen will, recht sei“ (Kant, AA VI 186). Dabei ist es nicht von großer Dringlichkeit, alle möglichen Handlungen nach der Rechtmäßigkeit zu überprüfen; das ist für Menschen, deren Wirklichkeit raumzeitlich konstruiert wird, auch nicht möglich. Es geht vielmehr um Situationen, die, wie Kant schreibt, moralisch bedenklich sind und bei denen die reelle Gefahr besteht, dass bei der Überprüfung, ob die Handlung recht oder unrecht sei, Fehler unterlaufen können. In dieser Funktion kann das Gewissen als die sich selbstüberprüfende Urteilskraft interpretiert werden, die den Akt des moralischen Urteilens kontrolliert. Der „innere Gerichtshof“ und die Dialektik von Selbstunterwerfung und Selbstbestimmung Im Gewissen als „inneren Gerichtshof“ stellt sich die empirische Person eine idealische Person vor, gegenüber der sie Rechenschaft darüber ablegt, ob die moralische Urteils- und Entscheidungsfindung gewissenhaft erfolgt oder nicht. Als idealische Person, die sich die Vernunft selbst schafft, verfügt sie über bestimmte Eigenschaften, die sie als solche auszeichnen. Ihre Autorität hat sie als ein „allverpflichtendes“, „herzenskundiges“ moralisches Wesen, das die volle Gewalt über den „Himmel“ und „auf Erden“ besitzt, damit sie ihren „Gesetzen den ihnen angemessenen Effect verschaffen“ kann (Vgl. Kant, AA VI 439). Da diese Eigenschaften mit den göttlichen übereinstimmen, wird das Gewissen letztendlich als „subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht“ (Kant, AA VI 439). Diese Verantwortung, die Menschen als moralische Wesen gegenüber Gott tragen, besteht darin, 6.4

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z­ umindest sicherzustellen, dass die Überprüfung, ob die Handlung, die unternommen wird, moralisch richtig, mithin überhaupt der Ausdruck der willentlichen Selbstbestimmung, also Tat ist, behutsam und sorgfältig durchgeführt wird. Er hat also die unbedingte Pflicht zur Freiheit. Da eben derselbe Mensch im inneren Gerichtshof Kläger und Angeklagter ist, wobei er sich in der Gestalt des Subjekts der moralischen Autonomie als vernunftbegabtes Sinnenwesen anklagt (Vgl. Anm. zu Kant, AA VI 439.), bindet er sich an die Gesetzgebung der Vernunft und verpflichtet sich zur strengsten Einhaltung des moralischen Gesetzes. Aus der unbedingten Pflicht zur Freiheit wird die Notwendigkeit, sich aus der Perspektive des vernunftbegabten Sinnenwesens der Autorität der sittlichen Person unterzuordnen und das Gesetz der Freiheit in seiner Reinheit und Einzigartigkeit anzuerkennen. Was aus der Perspektive des vernunftbegabten Sinnenwesens zunächst als Fremdbestimmung anmutet, wird aus der Perspektive eben derselben Person als moralisches Wesen als Selbstbestimmung anerkannt. Aus der Wechselbeziehung zwischen Selbstunterwerfung und Selbstbestimmung geht nun der genuine Gedanke der Selbstverpflichtung hervor, die die Person zu Trägerin von moralischen Rechten und Pflichten erklärt, sie aus der einseitigen Perspektive des vernunftbegabten Sinnenwesens an die moralischen Gesetze bindet und zur Normempfängerin macht. Zugleich wird sie als moralisches Wesen in Verantwortung genommen, bei der Überprüfung der einzelnen Schritte (formale Richtigkeit und Wertigkeit der Handlung) stets behutsam vorzugehen. Diese Verantwortung trägt sie gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Menschen; aus der Forderung und Verpflichtung zur Gewissenhaftigkeit geht die Verantwortung hervor, der Strafbarkeit durch das Gewissen zu entgehen und sich „nach vorangegangener Bangigkeit“ zu beruhigen (Vgl. Kant, AA IV 440). Im Gewissen als inneren Gerichtshof wird die Person entweder „verdammt“ oder „losgesprochen“, wobei die Verdammnis hier nicht das endgültige Urteil für ein Vergehen ist, sondern über denjenigen ausgesprochen wird, der die Überprüfung nicht behutsam und sorgfältig durchführt. Kant zufolge stehen wir jederzeit im Generalverdacht, zumindest bei der Überprüfung nicht behutsam gewesen zu sein, und wir haben daher die strengste Pflicht, uns in jedem Augenblick zu bewähren und von der unparteiischen Vernunft im Rechtsurteil ‚freigesprochen‘ zu werden. Der oben argumentativ aufgeschlüsselte Verdacht der einseitigen Schuldzuweisung besteht insofern nicht, als wir der Verurteilung im Gewissen durch sittliches Verhalten entgehen können. Es ist richtig, dass eine Handlung als Tat eo ipso das moralische Lob nach sich zieht; sofern die Handlung aber unrecht und moralisch bedenklich oder gar verwerflich ist, wird sie im

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Gewissen sanktioniert. Das Rechtsurteil fällt aber auch negativ aus, wenn die Überprüfung, ob die Handlung moralisch richtig sei, nicht sorgfältig durchgeführt wurde. Literatur Beckermann, Ansgar: Der freie Wille heute, in: Abel, Günter (Hg.): Kreativität. Hamburg: Meiner 2006. S. 663–666. Bernecker, Sven: Kant zur moralischen Selbsterkenntnis, in: Kant-Studien 97 (2006), S. 163–183. Bojanowski, Jochen: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Kant-Studien Ergänzungshefte Bd. 151. Berlin/New York: de Gruyter 2006. Buchheim, Thomas: Libertarischer Kompatibilismus. Drei alternative Thesen auf dem Weg zu einem qualitativen Verständnis der menschlichen Freiheit, in: Hermanni, Friedrich/Koslowski, Peter (Hg.): Der freie und unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven. Paderborn: Wilhelm Fink. S. 34–76. Chisholm, Roderick: Die menschliche Freiheit und das Selbst (1964), in: Pothast, Ulrich (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978. Dennett, Daniel C.: Elbow Room: The Varieties of Free Will Worth Waiting. Cambridge: MIT Press 1984. Geismann, Georg: Kant über Freiheit in spekulativer und praktischer Hinsicht, in: Kant-Studien 98 (2007), S. 283–305. Grondin, Jean: Zur Phänomenologie des moralischen ‚Gesetzes‘. Das kontemplative Motiv der Erhebung in Kants praktischer Metaphysik, in: Kant-Studien 91 (2000), S. 385–394. Henrich, Dieter: Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft. In: Ders. (Hg.): Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Tübingen: Mohr 1960. S. 77–115. Hobbes, Thomas: Leviathan („Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil“) (1651), übers. von Jutta Schlösser, hg. von Herman Klenner. Hamburg: Meiner 2004. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur („A Treatise of Human Nature“) (1739), Bd. 1., neu hg. von Reinhard Brandt. Hamburg: Meiner 2013. James, William: The Dilemma of Determinism, in: The Works of William James, Bd. 6, The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy. Cambridge: London 1979. S. 114–149. Josifovic, Sasa: Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit. Leiden/Boston: Brill 2014.

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Der „innere Gerichtshof“ der Vernunft

Kants Theorie des Gewissens als Ausdruck der unbedingten Selbstverpflichtung zur Freiheit Saša Josifović Bereits aufgrund der Tatsache, dass Menschen als körperliche Wesen exis­ tieren, ist es unvermeidlich, dass sie in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt stehen, also teils Einflüssen ihrer Umwelt ausgesetzt sind, teils verändernd auf die Zustände in der Welt einwirken. Sie sind dadurch unausweichlich an Ereignissen beteiligt, von denen einige als Handlungen angesehen wer­ den können. Grundsätzlich könnte jede Beteiligung menschlicher Wesen an Ereignissen in der Welt, also jede Veränderung der Zustände der Welt, die durch die leibliche Einwirkung von Menschen verursacht wird, als deren Handlung angesehen werden; da aber die Umstände solcher Beteiligung und Einwirkung sehr vielfältig ausfallen können, ergibt sich in der Geschichte und Gegenwart der Handlungstheorie eine Vielzahl miteinander konkur­ rierender Beschreibungsansätze mit jeweils spezifischen Wahrheits- und Geltungsansprüchen sowie spezifischen Schwerpunktsetzungen. Nicht jede Interaktion leiblicher Wesen mit ihrer Umwelt, also nicht jede Beteiligung leiblicher Wesen an Ereignissen in der Welt, muss notwendiger­ weise als Handlung oder sogar deren Handlung angesehen werden. In weiten Teilen der Geschichte der Philosophie werden Handlungen nämlich als eine spezifische Art von Ereignissen in der Welt angesehen und es wird der Versuch unternommen, das Spezifische an ihnen begrifflich zu erfassen, indem Charakteristika angegeben werden, die zur Abgrenzung von Handlungen gegenüber Phänomenen, die nicht als Handlungen anzusehen sind, dienen. Wenn beispielsweise eine Windböe einen Menschen ins Taumeln bringt, tau­ melt der Mensch; ob dies aber seine Handlung ist, stellt eine Frage für sich dar. In diesem Zusammenhang haben sich zwei Theorien weitgehend eta­ bliert, nämlich zum einen die sogenannte Zuschreibungstheorie (auch Identifikationstheorie) und zum anderen die Theorie praktischer Gründe. Die Zuschreibungstheorie besagt, dass Handlungen eine spezifische Art von Ereignissen in der Welt darstellen, die Handlungsträgern bzw. Akteuren zugeschrieben werden können. Als Identifikationstheorie besagt sie, dass Handlungen eine spezifische Art von Ereignissen in der Welt darstellen, die sich dadurch auszeichnen, dass sich Akteure mit ausgewählten Aspekten dieser Ereignisse identifizieren und eventuell auch ihren weiteren Verlauf mitgestalten. Die Theorie praktischer Gründe besagt, dass Handlungen aus Gründen geschehen, die als solche nachvollzogen und angegeben werden © koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_005

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können. Unter Gründen werden in der Tradition von Donald Davidson WunschÜberzeugungs-Paare verstanden. Beide Ansätze werden im Laufe der Philosophiegeschichte und aktuel­ len Debatten in der modernen Handlungstheorie zu höchster Komplexität angereichert und es hat sich nunmehr eine dynamische Debattenlandschaft entwickelt, deren Skizze eine eigenständige und stets aktualisierungsbe­ dürftige Aufgabe darstellt. Die richtungsweisenden Impulse der modernen Handlungstheorie stammen jedenfalls von Henry Frankfurt hinsichtlich der Zuschreibungs- bzw. Identifikationstheorie und Donald Davidson sowie G.E.M. Anscombe hinsichtlich der Theorie praktischer Gründe. Die wirkungs­ mächtigste klassische Referenz ist sicherlich Aristoteles. Die handlungstheoretischen Entwürfe, die in der Klassischen Deutschen Philosophie entwickelt wurden, zeichnen sich trotz aller nachvollziehbaren Differenzen zwischen den einzelnen Autoren und trotz aller gedanklichen Dynamik innerhalb der Theoriebildung der jeweils einzelnen Autoren, durch einige gemeinsame, und zwar wesentliche, Charakteristika aus. 1. 2. 3. 4. 5.

Anders als in vielen modernen Ansätzen wird die Handlung in der Klas­ sischen Deutschen Philosophie als Ausdruck der willentlichen Selbstbe­ stimmung angesehen. Auch wird konsequent zwischen Taten und Handlungen unterschieden. Das menschliche Handeln wird vom animalischen Verhalten unterschei­ den. Die Handlungstheorie steht immer im Kontext der Freiheit. Es ist also vorzugsweise die freie Handlung thematisch. Die Normativität entwickelt sich nicht in Respondenz auf Tatsachen und Sachverhalte in der Welt, wie beispielsweise bei Derek Parfit oder Joseph Raz, sondern im Ausgangspunkt von der Spontaneität und Autonomie des Subjekts.

Diese Charakteristika ergeben sich zum einen als Resultat der einschlä­ gigen Theoriebildung, die sich Kant und Hegel aus der Geschichte der Philosophie zuspricht, teils durch die spezifischen Impulse, die sie der wei­ teren Theoriebildung verleihen. Sie stehen daher nicht allein im Kontext der aktuellen Debatten, sondern zugleich im Kontext der Philosophiegeschichte, worin sie eine bedeutende Stellung einnehmen. Im Jahrtausend vor Kant und Hegel etabliert sich sukzessive ein funda­ mentaler Unterschied zwischen animalischem Verhalten und menschli­ chem Handeln, und es wird angenommen, dass sich menschliches Handeln durch einige Besonderheiten auszeichnet, die philosophisch expliziert wer­ den können. Diese Besonderheiten ergeben sich primär im Bewusstsein der

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Freiheit, die insbesondere seit dem 13. Jahrhundert weitgehend als willentliche Selbstbestimmung angesehen wird. Daher steht die Handlungstheorie in weiten Teilen der Geschichte der Philosophie, insbesondere im Zweiten Jahrtausend mitsamt der Klassischen Deutschen Philosophie unter dem Primat der Freiheit. Unter dem Ausdruck „liberum arbitrium“, freie (menschliche) Willkür, wird im Zweiten Jahrtausend eine komplexe Theorie der Handlungsorganisation unter dem Gesichtspunkt der willentlichen Selbstbestimmung entwickelt, die auf systematische Art und Weise sowohl die Bedingungen als auch Folgen des menschlichen Handelns erörtert.1 Die gesamte Handlungskoordination erfolgt unter dem Gesichtspunkt des höchsten Guts, das als Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit eine christlich-metaphysische Reprise der teleologi­ schen aristotelischen Idee darstellt, dass alles Handeln letztendlich auf die Glückseligkeit abzielt. Doch, indem diese Reprise unter den Vorzeichen der freien willentlichen Selbstbestimmung steht, entwickelt sich aus der gedank­ lichen Dynamik der christlichen Philosophie des Mittelalters auch eine neue Schwerpunktsetzung, aus deren Mitte die emphatische Begeisterung der Philosophen für die Idee der Freiheit und des freien Menschen entspringt. Die fundamentale anthropologische Differenz zwischen dem animalischen Verhalten und menschlichen Handeln beruht auf der Idee der Freiheit. Diese Bedeutung der christlichen Philosophie des Mittelalters im Hinblick auf die Theorie der Freiheit wird auch in der Moderne als solche anerkannt. So betont Hegel in Bezug auf die Idee der Freiheit: Diese Idee ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach wel­ chem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis zu haben, d. i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist. (Hegel, Enz., § 482, Anmerkung). Als Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist der Mensch des Christentums also zur höchsten Freiheit bestimmt. Daher steht die Handlungstheorie in weiten Teilen der Geschichte der Philosophie einschließlich des Deutschen Idealismus unter den Vorzeichen der Freiheit. Sie entwickelt sich also als Theorie des freien Handelns. Da Freiheit als kontrollierte willentliche Selbstbestimmung angese­ hen wird, stellt die Handlung demnach einen Ausdruck der freien willentli­ chen Selbstbestimmung von Akteuren in der Welt dar. Das intime Verantwortungsverhältnis zwischen dem Menschen als einer unverwechselbar einzigartigen Persönlichkeit und einem ebenfalls 1  Vgl. hierzu: Kobusch, Theo (1997): Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.

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persönlichen Gott findet einen wirkungsmächtigen Ausdruck in Kants Theorie des Gewissens, das von ihm als „innerer Gerichtshof im Menschen“ bezeichnet wird. Das Gewissen wird von Kant als „subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung“ gedacht. (MS, A 101 f.) Zwei Dinge sind dabei besonders interessant, und zwar im Hinblick auf die Frage, wie die einschlägigen Resultate der christlichen Metaphysik von Kant aufgenommen und transzendentalphilosophisch aufgearbeitet werden; nämlich zum einen die Verantwortung vor Gott und zum anderen der Gegenstand der Verantwortung vor Gott, also der zu verhandelnde Sachverhalt, nämlich „Taten“. Zum ersten Punkt wird hier nichts gesagt, denn der vorliegende Sammelband enthält eine umfassende und gründliche Studie von Elke Schmidt und Dieter Schönecker, die sich mit diesem Gegenstand auseinandersetzt und worin sogar die These vertreten wird, dass Kant hier einen bislang unentdeckten Gottesbeweis vor­ legt. Da meine Herangehensweise im weitesten Sinne handlungstheoretisch ist, konzentriere ich mich auf den zweiten Punkt, nämlich die Tatsache, dass der Gegenstand der Verhandlung im Gewissen, dem inneren Gerichtshof im Menschen, seine „Taten“ sind. Nun ist aber eine „Tat“ Kant zufolge nicht jede beliebige Beteiligung von Menschen an Ereignissen in der Welt, ja nicht einmal jede Handlung derselben, sondern nur eine spezifische Art von Handlungen, nämlich: „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“, und, was noch viel wichti­ ger ist, „folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird“ (MS, AB 22). Die Tat ist eine freie Handlung. Also stellt das Gewissen ähnlich wie in Hegels oben zitierter Anmerkung die subjektive Instanziierung eines intimen Verantwortungsverhältnisses zwischen Mensch und Gott – ob buchstäblich, metaphorisch oder allegorisch, sei dahingestellt – dar, in dem der Mensch vor Gott Verantwortung darüber ablegt, was er aus (dem Geschenk) seiner Freiheit im Einzelnen und im Ganzen seiner Existenz gemacht hat. Das Maß aller Dinge, mithin auch der „Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“.2 Dies ist sehr charakteristisch für die klassi­ sche Deutsche Philosophie, die sich als Resultat und Reflexion der christlichen Philosophie im zweiten Jahrtausend, an dessen Ende sie steht, ergibt. 1

Kants Theorie des freien Handelns

Es ist überaus merkwürdig, dass der Mensch „nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird“, sofern seine Tat „unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“. (MS, AB 22). Von einem vorphilosophischen Standpunkt her wäre durchaus 2  Schelling, F.W.J., 1795: Vom Ich als Prinzip der Philosophie. In: AA I, 2, 101; SW I, 177.

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anzunehmen, dass „Gesetze der Verbindlichkeit“ die „Freiheit der Willkür“ ein­ schränken, indem sie der „Willkür“ Grenzen setzen. Dies ist umso mehr der Fall, als sich „Verbindlichkeit“ und „Willkür“ im natürlichen Sprachgebrauch gänzlich auszuschließen scheinen. Aber Kants Formulierung ist wohldurch­ dacht und nur auf den ersten Blick kontraintuitiv. Sie enthält eine Pointe, die den spezifischen Impuls zum Ausdruck bringt, den Kant der Theorie der freien menschlichen Willkür verleiht, die sich ihm aus der Geschichte der Philosophie der Freiheit als „liberum arbitrium“ bzw., wie er schreibt, „arbitrium liberum“ zuspricht. Durch diesen Impuls wird die Theorie des liberum arbitrium in die eigentliche Gestalt der „praktischen Freiheit“ kantischer Prägung übertragen, und darin besteht Kants ganz origineller und innovativer Beitrag zur philoso­ phischen Theorie der Freiheit. Dieser Beitrag entwickelt sich im Kontext der Begrifflichkeit und Systematik des transzendentalen Idealismus, in dessen Mittelpunkt die Spontaneität und Autonomie des Subjekts stehen. In der Geschichte der Philosophie entwickelt sich, insbesondere im zweiten Jahrtausend, ein zunehmend ausgeprägtes Bewusstsein dafür aus, dass der menschlichen Willkür nicht allein Grenzen durch „Gesetze der Verbindlichkeit“, sondern zunächst Grenzen ganz anderer Art gesetzt wer­ den, nämlich durch Naturzwänge. Daher ergibt sich zuallererst die Frage, ob überhaupt und wie der Mensch imstande ist, sich über gegebene Naturzwänge hinwegzusetzen und als freien Handlungsträger zu konstituieren. Aus dieser Fragestellung und ihrer Beantwortung ergibt sich die fundamentale anthro­ pologische Differenz zwischen animalischem „Verhalten“ und menschlichem „Handeln“. Sie beruht auf der konsequenten begrifflichen Unterscheidung zwischen zwei Arten der „Willkür“, nämlich der animalischen und menschli­ chen. Die animalische Willkür wird von Kant in den Metaphysikvorlesungen, der Kritik der reinen Vernunft und der Einleitung in die Metaphysik der Sitten mit dem traditionsreichen Ausdruck „arbitrium brutum“, die menschliche mit dem Ausdruck „arbitrium liberum“ bezeichnet. Die menschliche Willkür gilt als frei. Ganz in der Tradition der einschlägigen Theoriegeschichte führt Kant in den Metaphysikvorlesungen und der Kritik der reinen Vernunft aus, dass sich die sinnlich bzw. „pathologisch“ affizierte Willkür, nämlich „arbitrium sensitivum“, auf zweierlei Art und Weise vollziehen kann; nämlich entweder so, dass sie sowohl pathologisch affiziert als auch pathologisch nezessitiert (KrV, B 562) ist, oder so, dass sie zwar pathologisch affiziert, aber nicht pathologisch nezes­ sitiert ist. Sofern ein arbitrium sensitivum pathologisch affiziert und zugleich pathologisch nezessitiert ist, wird es als „arbitrium brutum“, animalische Willkür, bezeichnet. Sofern es aber zwar pathologisch affiziert, jedoch nicht pathologisch nezessitiert ist, handelt es sich um „arbitrium liberum“, nämlich freie Willkür.

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Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen. (KrV, B562) Denn nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; (KrV, B 830) Demnach handelt es sich bei der menschlichen Willkür um ein arbitrium sensitivum liberum, also eine sinnlich affizierte, aber nicht sinnlich nezes­ sitierte Willkür, denn (wir) Menschen besitzen offenbar die Fähigkeit, „die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“, und zwar, indem wir etwaige Konsequenzen unseres Tuns und Lassens mitsamt deren Attraktivität berücksichtigen, also: „durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist“. Wir sind imstande, einem gegebenen Stimulus und einer sich unmittelbar einstellenden Neigung bzw. Handlungsdisposition zu widerstehen, wenn absehbar ist, dass sie Konsequenzen nach sich ziehen, die wir als unattraktiv erachten. Das ist soweit unkontrovers, und zwar aus zwei Gründen, nämlich erstens, weil es intuitiv nachvollziehbar ist, und zweitens, weil es sich als Resultat einer weitreichenden philosophischen Theoriebildung ergibt. Doch an diesem Punkt spitzt Kant die Fragestellung auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu und entwickelt dadurch ein neues Problembewusstsein, dessen Lösung die Theorie der praktischen Freiheit darstellt und worin praktische Gesetze der Autonomie die entscheidende Rolle spielen. Kants Rezeption der Theorie des liberum arbitrium entsprechend sind menschliche Akteure imstande, sich in reflexive Distanz zu den gegebe­ nen Antrieben der Sinnlichkeit zu versetzen und aus solcher reflexiven Distanz zu entscheiden, ob sie sich mit ihnen identifizieren oder nicht. Da ihr Handeln nicht pathologisch nezessitiert ist, kann davon ausge­ gangen werden, dass gegebene Stimuli zwar durchaus Gründe für die Entwicklung von Handlungsdispositionen darstellen, dass diese Gründe aber nicht zureichend, mithin nötigend sein müssen, sondern in komplexe­ ren Begründungszusammenhängen auftreten können. Sofern das Subjekt in solchen Situationen selbst entscheidet, ob es dem Stimulus bzw. der Neigung nachgeht oder nicht, gilt es als frei. Die Frage, die von Kant mit allem Nachdruck formuliert wird, lautet: Was heißt hier eigentlich „selbst“? Wie entscheidet das

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Subjekt „selbst“, ob es einer Neigung nachgehen will oder nicht. Es ist denkbar, dass sich im Subjekt eine Konkurrenz von Neigungen einstellt und das Subjekt der stärkeren Neigung nachgeht, sich im Nachhinein mit der Lust, die sich durch die Befriedigung der Neigung einstellt, identifiziert und damit auch die Handlung als Ausdruck seiner eigenen willentlichen Selbstbestimmung aner­ kennt. Aber es besteht der begründete Verdacht, dass das Subjekt in gewisser Hinsicht überhaupt nicht „selbst“ entschieden hat, was es wollen und was es tun und lassen will. Diesen Verdacht bringt Korsgaard zum Ausdruck: The desire to pursue the end and the desires that draw me away from it each hold sway in their turn, but my will is never active. The d­ istinction between my will and the operation of the desires and impulses in me does not exist, and that means that I, considered as an agent, do not exist.3 Im Falle einer gegebenen Konkurrenz von Neigungen ist das Subjekt, sofern sein Tun und Lassen durch die stärkere Neigung nezessitiert wird, genauso wenig frei, wie wenn sein Verhalten durch eine einzelne gegebene Neigung nezessitiert wird, die nicht in Konkurrenz mit anderen Neigungen steht. Es ist also im Hinblick auf die freie willentliche Selbstbestimmung unwesent­ lich, ob das Verhalten eines Subjekts durch eine einzelne Neigung oder die stärkste von vielen gegebenen Neigungen nezessitiert wird: sofern es über­ haupt pathologisch nezessitiert wird, ist es nicht frei. Das Subjekt konstitu­ iert sich, wie Korsgaard im Fortgang ihrer Erörterungen ausführt, überhaupt als Handlungsträger, indem es sich in reflexive Distanz zu den gegebenen Neigungen versetzt und selbst entscheidet, ob es ihnen nachgehen will oder nicht. Alle Stimuli und auf ihnen beruhende Neigungen werden an das Subjekt vermittels der Rezeptivität der Sinnlichkeit herangetragen. Das Subjekt ist also hinsichtlich der Frage, ob es die entsprechende Neigung haben will oder nicht, durch und durch fremdbestimmt: „Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht“ (KpV, A 213). Das Subjekt erhebt sich über die Nötigung durch sinnliche Antriebe nur, indem es von einem Vermögen Gebrauch macht, das sich nicht durch Rezeptivität, sondern durch Spontaneität auszeichnet. Dieses Vermögen stellt in Kants Transzendentalphilosophie die Vernunft dar. Kant vertritt den Standpunkt, dass die Vernunft das einzige Vermögen im Menschen darstellt, das imstande ist, sich ganz unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe zu vollziehen und aus eigener Spontaneität den Willen zu bestimmen. So geht Kant zu Beginn der Kritik der 3  Korsgaard 2009: Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity. Oxford. 70 f.

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praktischen Vernunft die Frage an, ob die reine Vernunft überhaupt imstande ist, den Willen ganz a priori zu bestimmen und die empirisch praktische Vernunft von der „Anmaßung“ abzuhalten, „den Bestimmungsgrund des Willens allein angeben zu wollen“ (KpV, A 31), beantwortet diese Frage affir­ mativ und erörtert, wie dies überhaupt möglich ist, wie also die reine Vernunft praktisch sein, also den Willen ganz aus eigener Spontaneität bestimmen kann. Bei der Beantwortung dieser Frage spielen die praktischen Gesetze eine Schlüsselrolle: 1. Die Vernunft stellt ein Vermögen dar, dass sich nicht durch Rezeptivität, sondern durch Spontaneität auszeichnet. 2. Sie stellt ein gesetz­ gebendes Vermögen dar, ist also imstande, aus eigener Spontaneität Gesetzte zu geben, die den Willen bestimmen können. 3. Solche Gesetze werden, sofern sie „objektiv“ verbindlich sind, als „praktische Gesetze“ bezeichnet. 4. Für menschliche Akteure und andere Wesen, bei denen die „Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrund des Willens ist“ (KpV, A 36), die sich also durch die sogenannte „Willensschwäche“ auszeichnen, werden praktische Gesetze in Form von ausnahmslos gültigen, also „kategorisch“ gültigen Imperativen formuliert. Die reine Vernunft kann also praktisch sein, nämlich den Willen ganz a priori bestimmen, indem sie praktische Gesetze erlässt, die handlungs­ leitende Funktion besitzen. Diese Funktion erhalten sie mithilfe der bestim­ menden Urteilskraft und freien Selbstverpflichtung. Menschliche Akteure sind Kant zufolge imstande, einzelne Situationen, die Gelegenheiten bieten, praktische Gesetze in der Tat zu verwirklichen, als solche, also als praktische Gründe, zu erkennen, indem sie sie vermittels bestimmender Urteilskraft als Einzelfälle unter die entsprechenden Gesetze subsumieren. Sie sind über­ dies imstande, den entsprechenden rationalen Prozess mit der Fähigkeit zur freien Selbstverpflichtung zu begleiten und dadurch den gesamten Entscheidungs- und Motivationsprozess aus eigener Spontaneität zu bestim­ men und zu kontrollieren. Nur auf diese Art und Weise ist die Vollständigkeit und Transparenz von Begründungszusammenhängen gegeben, die nötig ist, um von freier willentlicher Selbst-Bestimmung im strengsten Sinne zu spre­ chen. Nur dadurch wird ein Subjekt befähigt, „selbst“ zu entscheiden, was es tun und lassen, was es wollen und nicht wollen will und nicht zuletzt: ob es einer gegebenen Neigung überhaupt nachgehen will oder nicht. Selbst das geringste Maß an Intransparenz oder Kontingenz, das sich im Rahmen dieses Prozesses einstellen könnte, bringt unausweichlich auch Fremdbestimmung mit sich. Es kontaminiert die willentliche Selbstbestimmung und erweckt den begründeten Verdacht, dass es sich bloß um die „Freiheit eines Bratenwenders“ (KpV, A 174) handelt. Das Subjekt ist umso weniger selbstbestimmt und umso mehr fremdbestimmt, je mehr Intransparenz und Kontingenz in seine Entscheidungs- und Motivationsprozesse einfließen.

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Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung, dass das Subjekt „nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet“ wird, „sofern seine Tat unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht“, inhaltlich nachvollziehbar: Da nur die Autonomie der Vernunft in Begleitung der bestimmenden Urteilskraft und Fähigkeit zur freien Selbstverpflichtung das Subjekt dazu befähigt, den Prozess seiner willentli­ chen Selbstbestimmung vollständig zu kontrollieren, kann von gelingender willentlicher Selbst-Bestimmung nur dort die Rede sein, wo das Subjekt tat­ sächlich sein Tun und Lassen nach den Gesetzen der Autonomie selbst bestimmt. Sofern es ohne Rücksicht auf Gesetze der Autonomie tätig ist, handelt es sich unbedingt um eine Tätigkeit, die durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit – statt Spontaneität der Vernunft – bestimmt ist und das Subjekt ist nicht frei im strengsten Sinne, in dem praktische Freiheit nach Kant zu verstehen ist. Diese Idee entwickelt Kant kontinuierlich seit den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts unter Verwendung bestimmter gedanklicher Formeln bzw. begrifflicher Figuren, die nahezu unverändert bleiben und selbst in der Metaphysik der Sitten noch angetroffen werden: So stellt er bereits in den Metaphysikvorlesungen fest, dass die freie Willkür im strengsten Sinne als „liberum arbitrium intellectuale oder transcendentale“ bezeichnet werden muss und sie sich dadurch auszeichnet, dass sie „durch gar keine stimulos necessi­ tirt oder impellirt wird, sondern durch Motiven, durch Bewegungsgründe des Verstandes determinirt wird“. (PM 182) In der Kritik der reinen Vernunft sieht er dies als Ausdruck des Vermögens an, „sich unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen“. (KrV, B 562: AA III, 365) Ähnlich äußert sich Kant in der Metaphysik der Sitten: „Die Freiheit der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben“, und fügt unmittelbar hinzu: „Der Positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein.“ (MS, AA VI, 213 f.) Dass reine Vernunft praktisch sein kann und wie sie den Willen vermittels praktischer Gesetze zu bestimmen vermag, ist aus der Zweiten Kritik bekannt. Kant bestätigt diese Theorie in der Einleitung zur MS: „Dies ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der ersten zum allgemeinen Gesetze.“ (MS, AA, VI, 214) Daher hält Kant auch in der Metaphysik der Sitten, worin die gedankliche Arbeit der Zweiten Kritik mitsamt der Theorie vom Faktum der Vernunft und Sittengesetz als „Grundgesetz“ der intelligiblen Welt (KpV, A 74), nämlich Welt der Freiheit, aufgehoben ist, in einer Formulierung fest, die stark an die entsprechende Passage aus den Metaphysikvorlesungen erinnert, nämlich: „Die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt freie Willkür. Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, Stimulus) bestimmbar ist, würde tierische Willkür (arbitrium brutum) sein.“ (MS, AA VI,

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213, 29–32) Der philosophische Fortschritt, der sich aber zwischen diesen bei­ den Passagen entwickelt, betrifft die genaue Art und Weise, wie die Willkür in positivem Sinne frei wird, indem sie durch die Vernunft nach Gesetzen der Freiheit, nämlich moralischen Gesetzen, bestimmt wird. Will man es auf den Punkt bringen, müsste man sagen, dass in der fertigen Theorie der praktischen Freiheit – um es mit Hegel zu formulieren – erkannt wird, was im Begriff „liberum arbitrium intellectuale oder transcendentale“ als bekannt erschien: es liegt nunmehr eine gründliche begriffliche Explikation dessen vor, was ein liberum arbitrium „intellectuale oder transcendentale“ ist. Darin besteht der innovative Impuls, den Kant der Theorie der mensch­ lichen Willkür und menschlichen Freiheit versetzt, die bereits auf eine tau­ sendjährige Geschichte zurückblickt. Er stimmt mit allen Vorgängern darin überein, dass menschliche Freiheit im Kern als willentliche Selbstbestimmung aufzufassen ist, aber er geht dem Gedanken der Selbstbestimmung bis zur letz­ ten Konsequenz nach und stellt fest, dass von willentlicher Selbstbestimmung im strengsten Sinne nur dort die Rede sein kann, wo die Vollständigkeit der Gesetze, Begründungszusammenhänge und Selbstverpflichtung gegeben ist und der gesamte Kontext von der Spontaneität der menschlichen Vernunft getragen wird. Darüber hinaus stellt die handlungsleitende Funktion praktischer Gesetze einen Ausdruck der transzendentalen Freiheit im Kontext der praktischen Freiheit dar, denn Kant vertritt den Standpunkt, dass mit der Theorie vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft das „Grundgesetz“ der intelligiblen Welt (vgl.: KpV, A 72 ff., insbesondere A 74 f.), entdeckt wurde, also das Grundgesetz der Kausalität aus Freiheit. Kausalität aus Freiheit vollzieht sich demnach im Modus des moralischen Sollens.4 So kommen Freiheit und Ethik im Gewissen, dem inneren Gerichtshof im Menschen, zusammen, worin sich das Subjekt „als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch“ vor sich selbst „als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung“ (MS, A 101, Fußnote) Rechenschaft über seine Taten gibt: nämlich über seine freien Handlungen, wobei diese als frei gelten, insofern sie gänzlich auf der Autonomie beruhen und nach der Kausalität aus Freiheit, also Kausalität des moralischen Sollens, erfolgen. Der Mensch legt also vor sich selbst als freies Wesen Verantwortung darüber ab, wie frei er wirklich ist – wie sehr er eigentlich Mensch ist und wie sehr er sich über die animalische Existenz, das arbitrium brutum, erhebt. Prinzipiell erhebt ihn zwar das Bewusstsein des Sittengesetzes „unendlich“ und offenbart 4  Vgl.: Josifovic, S. 2014: Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit. Leiden/Boston. 254 ff.

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ihm „ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben“ (KpV, A 289), nämlich ein durch und durch selbstbestimmtes Leben aus Autonomie, aber wie sehr er im Einzelnen und Ganzen als ebendieser „mit Vernunft begabte Sinnenmensch“ dem Ideal eines solchen Lebens entspricht, muss er im Gewissen mit sich ausmachen. 2

Die unbedingte Pflicht zur Freiheit

Als Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes ist der Mensch des Christentums und der Aufklärung also zur absoluten Freiheit bestimmt und diese Bestimmung gelangt in Kants Theorie des Gewissens auch in der zweiten einschlägigen Passage, nämlich in der Religionsschrift, zum Ausdruck. Neben der Tugendlehre in der MS spricht Kant das Gewissen also auch in der Religionsschrift an. Die bei­ den Passagen weisen in der Hauptsache eine bedeutende Gemeinsamkeit auf, nämlich die unbedingte Selbstverpflichtung des Subjekts zur Freiheit. Diese war in der Tugendlehre über die freiheitstheoretische Bedeutung der „Tat“ erkenn­ bar und äußerte sich in der Selbstverpflichtung zum freien Handeln, nämlich dadurch, dass die Handlungen unter Gesetze der Verbindlichkeit gestellt und somit zu Taten qualifiziert werden. Ähnlich, allerdings noch verbindlicher und deutlicher, äußert sich Kant in der Religionsschrift: „Das Bewußtsein, daß die Handlung, die ich unternehmen will, recht ist, ist unbedingte Pflicht.“ (RS, A 271 / B 288). Ob eine Handlung recht ist oder nicht, ob sie also unter den bestehenden Gesetzen der Verbindlichkeit steht oder nicht, prüft, wie Kant an gegebener Stelle schreibt, „der Verstand“ (RS, A 271 / B 289) bzw., wie es weiter unten heißt, „die Vernunft, so fern sie subjektiv praktisch ist“ (RS, A 271 / B 289). Genau genommen, müsste es die bestimmende Urteilskraft sein, aber das ist nicht von Bedeutung. Ob aber, und das ist durchaus von Bedeutung, diese Prüfung „mit aller Behutsamkeit“ erfolgt und die „Gewißheit“ besteht, dass das Handeln eines Akteurs recht ist; das prüft das Gewissen. Das Gewissen stellt somit „die sich richtende moralische Urteilskraft“ dar (RS, A 271 / B 289), nämlich die Instanz, die prüft, ob die Selbstverpflichtung des Subjekts zur Bestimmung seines Willens (zur Tat) durch die Autonomie der praktischen Vernunft erfolgt. Ob dann die Tat gelingt oder nicht, ist eine ganz andere Sache und fällt in den Bereich der empirisch praktischen, bzw. pragmatischen Vernunft, deren regulative, nicht normative, Funktion in hypo­ thetischen Imperativen zum Ausdruck gelangt. Das Subjekt hat also die unbedingte Pflicht zur Freiheit. Dies wird in der Religionsschrift in Bezugnahme auf Plinius, eingeführt: „Es ist ein morali­ scher Grundsatz, der keines Beweises bedarf: man soll nichts auf die Gefahr

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wagen, daß es unrecht sei (quod dubitas, ne feceris! Plin.)“ (RS, A 271 / B 288). Dieser Grundsatz mag zwar keines Beweises bedürfen, aber es ist, wenn man es will, durchaus möglich, ihn im Kontext der kantischen praktischen Philosophie zu beweisen, denn praktische Gesetze gelten nach § 1 der Kritik der praktischen Vernunft ausnahmslos, also für jeden einzelnen Akteur in jeder beliebigen Situation. Da sie ausnahmslos gelten, ist es überhaupt nicht der Willkür des Akteurs überlassen, ob er seine Handlungen, speziell seine Handlungsmaximen, unter die Verbindlichkeit der praktischen Gesetze stel­ len will oder nicht. Er hat dies zu tun, denn sie gelten ausnahmslos! Das ist eine ganz eindeutige Stellungnahme zu einer der wichtigsten Grundfragen innerhalb der Theorie des liberum arbitrium im Zweiten Jahrtausend, näm­ lich: „Besteht Freiheit darin, dass ein Akteur wählen kann, ob er im Einklang oder Widerspruch zu den moralischen Gesetzen handelt?“ Kants Antwort ist eindeutig: Solche Wahlfreiheit besteht gar nicht. Das Subjekt ist als Akteur nur dann frei, wenn es sein Tun und Lassen selbst bestimmt – und das geht nur so, wie oben erörtert, also durch autonome „Taten“ im strengsten Sinne. Alles andere ist keine wirkliche Freiheit, sondern ein Ausdruck davon, dass sich das Subjekt durch Willensschwäche oder irgendwelche Stimuli, Neigungen, Triebe und Zufälle fremdbestimmen lässt, also letztendlich die „Freiheit eines Bratenwenders“. Die unbedingte Pflicht eines jeden sich als Handlungsträger konstituieren­ den Subjekts, dafür Sorge zu tragen, dass seine Handlung recht ist, dass sie also eine Tat ist, gelangt auch in der Tugendlehre (MS, A 103) zum Ausdruck. Unter dem Begriff des „warnenden Gewissens“ betont Kant nachdrücklich, dass im Vorfeld der Handlung, nämlich im Rahmen der Entschließung zur Handlung bzw. Tat, „die äußerste Bedenklichkeit“ geboten ist und es „keine Kleinigkeitskrämerei“ darstellt, ganz gründlich zu prüfen, ob meine Handlung im Einklang mit dem Sittengesetz steht. Das Gewissen muss die nötige Strenge aufweisen und der Ausdruck „weites Gewissen“ ist, wie Kant schreibt, synonym für Gewissenlosigkeit. 3

Das Verhältnis von Selbstbestimmung, Selbstunterwerfung und Selbstverpflichtung

Der innere Gerichtshof im Menschen stellt einen allegorischen Ausdruck der transzendentalphilosophischen Struktur des Subjekts dar, deren Instanzen das Subjekt der Autonomie und der mit Vernunft begabte Sinnenmensch sind. Daher äußert sich das Gewissen als Selbstrechtfertigung des Subjekts, das sich als „zwiefache Persönlichkeit“ vorstellt, indem es die beiden Grundinstanzen

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seines Seins in jeweiliger Selbstständigkeit einander gegenüber stellt: Dadurch entsteht ein Autoritäts- und Verantwortungsverhältnis zwischen dem einseitig vorgestellten Subjekt der Autonomie und dem ebenfalls ein­ seitig ­vorgestellten vernunftbegabten Sinnenwesen, also dem empirischen Subjekt; das ganz wesentlich von der Grundstruktur der praktischen Freiheit geprägt ist, deren Kausalität ein Produkt der normativen Kraft des Subjekts der Autonomie ist. Das Subjekt, das sich als Subjekt der Autonomie vorstellt, denkt sich zugleich als Autorität, aus deren vernunftgegründeter Autonomie die praktische Normativität hervorgeht. Es stellt sich als Quelle der prakti­ schen Gesetze vor, die gegenüber vernunftbegabten aber nicht heiligen Wesen, also empirischen Subjekten, in Form kategorischer Imperative vorgetragen werden. Mit dieser imperativischen Form geht auch der Autoritätsanspruch einher, der sich als Anspruch der Verpflichtung des empirischen Subjekts zur Konformität mit den praktischen Gesetzen äußert. Als Subjekt der Autonomie, nämlich jene „idealische Person“ (MS, A 101), die als „Richter“ vorgestellt wird, erhebt das Subjekt also den Anspruch der Autorität, einen Herrschaftsanspruch, gegenüber sich selbst in der Instanz des empirischen Subjekts, des Sinnenwesens. Aufgrund der jeweiligen Einseitigkeit, in der sich die beiden Instanzen des Seins der transzendentalen Subjektivität hier gegen­ über stehen, wird der Herrschaftsanspruch aus der Perspektive der idealischen Person nicht im Verständnis der Selbstverpflichtung, sondern im Verständnis der Fremdverpflichtung vorgetragen: Er äußert sich also als Anspruch der Unterwerfung der empirischen Subjektivität unter die Gesetze der Freiheit. Zugleich stellt sich das Subjekt in der Instanz des vernunftbegabten Sinnenmenschen vor, nämlich einseitig als Adressat der normativen Autorität des Subjekts der Autonomie, also einseitig als Normenempfänger. Dem Autoritätsanspruch des Subjekts der Autonomie entspricht in der Instanz des empirischen Subjekts die Fähigkeit zur Anerkennung der Pflicht, mithin die Fähigkeit der Selbstunterwerfung. Diese Fähigkeit wird beispielsweise von Korsgaard (2009) als ganz wesentlich für die praktische Selbstkonstituierung von Handlungsträgern angesehen. Das ist sie auch. Allerdings handelt es sich im Gewissen zunächst um die Gegenüberstellung zweier normati­ ver Grundhaltungen, nämlich Selbstbestimmung und Selbstunterwerfung, aus deren intimem Verantwortungsverhältnis der komplexere Prozess der Selbstverpflichtung erst hervorgeht. Hierbei handelt es sich, wenn man so will, um eine Präfiguration der von Hegel entwickelten Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft:5 Im Gewissen 5  Vgl.: Stekeler-Weithofer, P. (2004): Selbstbildung und Selbstunterdrückung. Zur Bedeutung der Passagen über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes.

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stellt sich das Subjekt als „zwiefache Persönlichkeit“ vor, deren eine Instanz (das Subjekt als intelligibles Wesen), den Anspruch der Herrschaft und Richterschaft über die andere (das Subjekt als Sinnenwesen) erhebt und im „Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische Folge der Tat“ (MS, A 101, Anmerkung) geltend macht. Zugleich stellt die zweite Instanz (das Subjekt als Sinnenwesen) die allegorische Verkörperung des Knechts dar, der die normative Kraft und richterliche Autorität des Herrn als solche anerkennt und sich dem Richterspruch mitsamt seinen Folgen, nämlich Glückseligkeit oder Elend, fügt. Aus dem Gesamtkontext der von Kant entwickelten Theorie der Freiheit wissen wir, dass das Grundgesetz der intelligiblen Welt das Sittengesetz ist, dass also die Gesetze der Freiheit moralische Gesetze sind und sich die Kausalität aus Freiheit im Modus des moralischen Sollens vollzieht. Wir wis­ sen auch, dass die Gesetze der Sinnenwelt empirisch sind. Nun stellt Kant in der einschlägigen Anmerkung (MS A 101, Anmerkung) fest: „denn über das Kausal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt es keine Theorie“. Es gibt also keine Theorie, die das gesetzmäßige Verhältnis zwischen der idea­ lischen und empirischen Person beschreibt. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Verhältnis, das sehr charakteristisch für die bestimmende Urteilskraft mitsamt ihrer ganzen Fallibilität ist. Bereits im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest: Ein Arzt daher, ein Richter, oder ein Staatskundiger, kann viele schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopfe haben, (. . .), und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entwe­ der weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden. (KrV, B 172 f.) Der Richter kann sich also durchaus irren. Darum ist es unbedingte Pflicht, „mit aller Behutsamkeit“, die an der einschlägigen Stelle in der Religionsschrift gefordert wird, dafür Sorge zu tragen, dass die entsprechende Prüfung In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2004/1, 49–68. Vgl. auch: Ders. 2013: Recognition of Norms and Recognition of Persons. Practical Acknowledgment in Hegel’s Phenomenology of Spirit. In: C. Krijnen (Hg.), Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden / Boston 2013. 207–233. Vgl. auch: Josifovic, S. 2013: The Dialectic of Normative Attitudes in Hegel’s Lordship and Bondage. In: Krijnen 2013. 267–286.

Der „innere Gerichtshof “ der Vernunft

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gründlich und sorgfältig erfolgt. Der Richter als allegorischer Repräsentant des Subjekts der Autonomie kann niemals in den Verdacht geraten, dass er „das Allgemeine in abstracto“, also die moralischen Gesetze, nicht kennt. Es kann höchstens sein, dass er nicht gründlich genug prüft, ob und inwiefern ein gegebener Einzelfall darunter in concreto zu subsumieren ist. Da es also keine Theorie über das Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt, kann nicht mehr als Gewissenhaftigkeit bei der Prüfung beansprucht werden. Das gesamte Verhältnis aber zwischen der idealischen und empiri­ schen Person stellt einen Ausdruck der Fähigkeit des Subjekts zur freien Selbstverpflichtung dar. Dieses Selbstverständnis geht aus dem Bewusstsein hervor, dass die beiden Instanzen, die in der Allegorie des inneren Gerichtshofs im Menschen jeweils einseitig vorgestellt werden, in Wahrheit nur Ausdrucksweisen einer „zwiefachen Persönlichkeit“ sind, die sie als Einheit umfasst. Als diese umfassende Persönlichkeit beinhaltet das Subjekt sowohl die Fähigkeit der Autonomie als auch die Fähigkeit zur Tat, also Handlung aus Pflicht. Anders als in der Allegorie äußert sich die Autonomie hier aber nicht als Gesetzgebung mit dem Autoritätsanspruch der Fremdverpflichtung, sondern im eigentlichen Sinne der Autonomie als Fähigkeit des Subjekts, sei­ nen eigenen Willen vermittels der Spontaneität seiner eigenen Vernunft zu bestimmen, also als Selbstbestimmung. Zugleich äußert sich die Fähigkeit, seine Handlungen unter bestehende Gesetze der Verbindlichkeit zu stel­ len und somit zu Taten zu erheben, als Ausdruck der Selbstverpflichtung, nicht als Unterwerfung unter fremde Gesetze. Im Ganzen bringt der innere Gerichtshof im Menschen also die transzendentalphilosophische Dynamik von Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung zum Ausdruck, nämlich die beiden normativen Grundhaltungen des Subjekts, die unerlässlich für freie willentliche Selbstbestimmung und praktische Freiheit sind. Der Maßstab aller Dinge ist Freiheit. Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. v. Nicolin, Friedhelm / Pöggeler, Otto. Hamburg: Meiner, 8. erw. Aufl. Josifovic, Sasa: The Dialectic of Normative Attitudes in Hegel’s Lordship and Bondage. In: Krijnen (Hg.) Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge. Leiden / Boston: Brill 2013. S. 267–286. Ders.: Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit. Leiden/Boston: Brill 2014.

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Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Sonderausgabe) 1983. Kants Gesammelte Schriften, hg. von der (Königlich) Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900 ff. Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1997. Korsgaard, Christine M.: Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford: University Press 2009. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Werke. Bd. 1, Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wesen (1795). Leipzig 1907. Stekeler-Weithofer, Pirmin: Selbstbildung und Selbstunterdrückung. Zur Bedeutung der Passagen über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2004/1, S. 49–68. Ders.: Recognition of Norms and Recognition of Persons. Practical Acknowledgment in Hegel’s Phenomenology of Spirit. In: Krijnen, C. (Hg.), Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge. Leiden / Boston: Brill 2013. S. 207–233.

Gewissen und Verbindlichkeit

Kants Idee eines „inneren Gerichtshofs“ zwischen Christian Wolff und Adam Smith1 Heiner F. Klemme 1

Gewissen, Gesetz, Verbindlichkeit

Der vielleicht auffälligste Befund von Kants Verwendung der Wörter Gewissen, Gewissenhaftigkeit und Gewissenlosigkeit ist, dass sie zur Moralpsychologie, nicht zum Kernbestand seiner Lehre vom kategorischen Imperativ gehören.2 Denn das Gewissen, das Kant in der Kritik der praktischen Vernunft ein „wundersames Vermögen“ (AA 5: 98) nennt und in der Metaphysik der Sitten als einen „inneren Gerichtshof “ (AA 6: 428) beschreibt, hat weder eine die Möglichkeit des kategorischen Imperativs erklärende noch eine uns unmittelbar zu Handlungen aus Pflicht motivierende Funktion. Es ist keine eigenständige Quelle unbedingter moralischer Verpflichtung, sondern setzt diese in Gestalt der reinen Vernunft voraus. Es kann daher nicht überraschen, dass Kant das Gewissen in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten unter die „ästhetischen Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe überhaupt“ (AA 6: 399) subsumiert. Kants Entscheidung, den Begriff des Gewissens im Rahmen der „ästhetischen Vorbegriffe“ abzuhandeln, ist eine Folge3 seiner Einschätzung der Leistungsfähigkeit der von Christian Wolff begründeten philosophia practica universalis, die eine Art allgemeiner Handlungstheorie für alle praktischen 1  Für Hinweise und Kritik danke ich vor allem Antonino Falduto, Diego Kosbiau, Katerina Mihaylova und Gabriel Rivero. 2  In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts nennt Kant das Gewissen noch einen Instinkt, womit er es faktisch zum unteren Begehrungsvermögen zu zählen scheint: „Das Gewissen ist ein Instinct sich selbst nach moralischen Gesetzen zu richten; es ist kein blosses Vermögen, sondern ein Instinct, nicht über sich zu urtheilen, sondern zu richten. [. . .] Das Gewissen hat aber eine treibende Gewalt uns vor den Richterstuhl wieder unsern Willen wegen der Rechtmässigkeit oder Unrechtmässigkeit der Handlungen zu fordern es ist also ein Instinct ein natürlicher Antrieb und nicht blos ein Vermögen der Beurtheilung.“ (Kant 2004: 188–189) – Kants Druckschriften werden, mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, unter Angabe der Band- und Seitenzählung nach der Akademie-Ausgabe (Sigel AA) von Kants Gesammelte Schriften (Berlin 1900ff.) zitiert. Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft werden durch Verweis auf die Originalpaginierung A (1781) und B (1787) nachgewiesen. 3  Soweit ich sehe, ist im Rahmen zumindest der neueren Forschung dieser Umstand bei der Interpretation von Kants Begriff des Gewissens nicht beachtet worden. © koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_006

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Wissenschaften darstellt. In der Grundlegung kritisiert Kant Wolff dafür, mit dieser Wissenschaft den Begriff des „reinen Willens“ (4: 390) systematisch zu verfehlen. Wolff gelingt es aufgrund seiner Vermengung empirischer und reiner Begriffe nicht, „Prinzipien a priori“ (4: 390) zu benennen, durch die der Wille bestimmt wird. Wenn Kant den Begriff des Gewissens, der zu den Grundbegriffen der allgemeinen praktischen Philosophie4 gehört, gerade nicht im Rahmen seiner Überlegungen zur Möglichkeit eines kategorischen Imperativs thematisiert, erklärt sich dies durch seine Überzeugung, dass dieser Begriff einen signifikanten empirisch-psychologischen Gehalt5 hat. Das Gewissen ist also insofern kein grundlegender Begriff der reinen Moralphilosophie, als er für den Aufweis der Möglichkeit eines praktischen synthetischen Satzes a priori (des kategorischen Imperativs) nicht allein entbehrlich ist. Aufgrund seines empirischen Gehalts würde er diesen Aufweis geradezu unmöglich machen. Aber er ist insofern von großer Bedeutung, als er uns Aufschluss über die Art und Weise gibt, wie die reine Vernunft in uns Menschen subjektiv praktisch wird.6 Im Gewissen individualisiert (oder materialisiert) sich die Stimme der reinen praktischen Vernunft in uns, insofern eine Person aufgrund ihrer individuellen empirischen Dispositionen mehr oder weniger gewissenhaft oder gewissenlos handeln kann. Was also versteht Kant unter dem Gewissen?7 In nuce das Folgende: Das Gewissen ist ein „moralischer Gerichtshof“8 bzw. das „Bewußtsein eines 4  Vgl. Wolff, Deutsche Ethik, §§ 73–138, Wolff, Philosophia practica universalis, pars posterior (1739), §§ 597 ff., und Georg Friedrich Meier, Allgemeine praktische Weltweisheit (1764). Der Umstand, dass Kant in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie ausführlich auf den Begriff des Gewissens eingeht, erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass Alexander Gottlieb Baumgarten ihn in seinen Initia philosohiae practicae primae (1760) thematisiert (siehe Sensen 2015: 134). Kant hielt seine Vorlesungen nach diesem Lehrbuch (und nach Baumgartens Ethica philosophica, 1740). 5  Oliver Sensen ist zuzustimmen, wenn er das Gewissen ein „komplexes Phänomen“ nennt, „bei dem sowohl die Vernunft als auch das Gefühl eine wichtige Rolle spielen.“ (2015: 123) 6  Dass der Begriff des Gewissens für Kants Moralphilosophie insgesamt „of only very limited importance“ (Esser 2013: 277; vgl. Sensen 2015: 133) ist, scheint mir daher eine übertrieben negative Einschätzung zu sein. 7   Es wird nicht der Anspruch erhoben, in den nachfolgenden Ausführungen alle Bedeutungsvarianten von „Gewissen“ bei Kant erfasst zu haben. Auf verschiedene Bedeutungsdimensionen von Kants Verwendung dieses Begriffs verweist bereits Stäudlin (1824: 139–145). 8  A A 6: 74; vgl. 6: 146 Anm. Die Gerichtshofmetapher findet sich auch bei Johann Georg Walch: „Eigentlich ist das Gewissen das innerliche Gericht, welches die Vernunfft von des Menschen Thun und Lassen anstellet“ (1775: Teil 1, Sp. 1762). Zum breiteren historischen Kontext (allerdings ohne Berücksichtigung von Adam Smith) des Gewissens als forum internum siehe Mihaylova (2015).

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inneren Gerichtshofes im Menschen“.9 Weil der objektive Zweck des Gerichts die Feststellung individueller Schuld und Unschuld durch den Richter ist, identifiziert Kant den Gerichtshof10 auch mit der Person des Richters (vgl. AA 6: 227). Das Urteil des Gewissens ist das Urteil des Richters in einem Zivil- oder Strafgerichtsprozess. Im Gewissen urteilen wir über uns selbst als ein Wesen, das der Rechenschaft fähig ist. Selbstbeziehung ist demnach ein zentrales Merkmal des inneren Gerichtshofs. Kant führt aus, dass der Mensch aufgrund seiner „zweifachen Persönlichkeit“ (AA 6: 439) als homo noumenon und homo phaenomenon zugleich Richter und Beklagter ist (vgl. AA 6: 429 Anm.). Der Mensch sieht sich „durch seine Vernunft genöthigt“, über sich Gericht zu sitzen, wohl wissend, dass es sich hierbei um „ein Geschäft des Menschen mit sich selbst“ (AA 6: 438) handelt. In seiner Rolle als Verteidiger versucht der Mensch seine Tat mit Verweis auf Notwendigkeiten zu entschuldigen, die in seiner sinnlichen Natur liegen. Doch diese Strategie misslingt. Meldet sich das Gewissen zu Wort, ist dies ein unfehlbarer Beleg dafür, dass die Tat dem Angeklagten zugerechnet werden kann, dass der Mensch mit einer Situation konfrontiert ist oder war, in der er die Freiheit besitzt oder besaß, sich für oder gegen seine Pflicht zu entscheiden. Als Ort unserer moralischen Selbsterkenntnis ist das Gewissen dem Gerichtshof der Kritik der reinen Vernunft vergleichbar, der seinen Zweck in der Selbsterkenntnis findet (vgl. KrV: A XI–XII). Kants Konzeption des Gewissens gewinnt vor dem Hintergrund von Christian Wolffs diesbezüglicher Auffassungen an Konturen.11 In seiner zuerst 1720 publizierten Schrift Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (= Deutsche Ethik), versteht Wolff die Vernunft als die „Lehrmeisterin des Gesetzes der Natur“ (1733: § 23). Zwar verbindet (verpflichtet) uns die Natur, „uns und unseren Zustand vollkommener“ (1733: § 19) zu machen, aber ohne die Vernunft würden wir ihr Gesetz und damit auch die von ihm geforderten Handlungen (Pflichten) nicht erkennen können. Das „Gesetze der Natur“ ist Wolffs Auffassung nach „zugleich das Gesetze Gottes“ (1733: § 30), weil Gott selbst bei der Erschaffung der Welt eine 9  AA 6: 438. Zum Begriff des Gewissens in der Tugendlehre siehe Tomasi (1999) sowie Esser (2013) und die dort angegebene Literatur. 10  In Zedlers Universal-Lexicon heißt es: „Gericht. Das Wort wird genommen entweder vor dem Ort wo Gericht gehalten wird, oder vor die Versammlung derer Richter und Beysitzer des Gerichts, oder vor die Gerichtsbarkeit selbst, oder vor die Ordnung und Handlung, des Gerichts und des Processes, vornehmlich aber vor die gantze Handlung, so vom Klägern und Beklagten vor dem Richter, der solche durch seinen Richerlichen Ausspruch endiget, ergebt.“ (Zedler 1732–1754: Band 10, Sp. 1110–1111). 11  Selbstverständlich ist die Orientierung an Wolff nicht alternativlos, zumal sein Begriff der Verbindlichkeit seinerseits nicht alternativlos ist. Zur ersten Orientierung siehe Walch (1775: II, Sp. 1255–1258).

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Verbindung zwischen Natur, Gesetz, Bewegungsgründen (Motive) und unserer eigenen Glückseligkeit hergestellt hat. Aber dies bedeutet nicht, dass unsere Erkenntnis Gottes der Einsicht in die Verbindlichkeit dieses Gesetzes vorausgeht. Weil der Mensch „vermittelst seiner Vernunft“ sich „selbst ein Gesetze“ (1733: § 24) ist, stellt die vernünftige Erkenntnis dieses Gesetzes einen hinreichenden Grund für den Vollzug seiner Pflichten dar. Wolff grenzt sich mit seiner Interpretation von Vernunft, Gesetz und Verbindlichkeit nicht allein von allen theologisch-voluntaristischen Positionen ab, denen gemäß die Verbindlichkeit des Gesetzes auf einer (kontingenten) Entscheidung Gottes beruht. Die Vernunft ist nach Wolff nicht nur eine notwendige, sie ist auch eine hinreichende Quelle praktischer Normativität. Erkennen wir aufgrund unserer Vernunft förmlich das Gesetz der Natur, kann es nicht überraschen, dass Wolffs kognitivistische Auffassung moralischer Verbindlichkeit mit einer dezidiert theologiefreien Konzeption des Gewissens einhergeht. Das Gewissen wird von ihm nicht mehr als die externe Stimme Gottes in uns interpretiert.12 Wolff identifiziert es vielmehr mit unserem Urteil 12  Dies ist die Position von Christian August Crusius, der im Übrigen im Gegensatz zu Wolff vom „Gewissenstrieb“ spricht. In seiner Anweisung, vernünftig zu leben schreibt Crusius: „Der Gewissenstrieb ist also bloß ein Trieb, gewisse Schuldigkeiten, das ist, solche ­allgemeinen Verbindlichkeiten zu erkennen, die man aus Gehorsam zu beobachten hat, wenn man auch den daher rührenden Nutzen oder Schaden nicht in Erwegung ziehen will, deren Uebertretung hingegen Gott strafen will, und auch, wenn seyn Gesetz nicht vergeblich sein soll, straffen muß.“ (1744: § 133) In seinem Kurzen Begriff der Moraltheologie führt er aus: „Das Gewissen ist demnach der Erkenntnisgrund, das Gesetz Gottes und die Tugend a posteriori zu erweisen. Nemlich wenn wir unpartheyisch Achtung geben, was uns die Natur als gut und gerecht lehret und fühlbar macht, und dafür zu halten nöthiget; und wenn wir dasselbe unter allgemeine Sätze bringen, welche sich aus jenen Empfindungen abstrahiren lassen: so entsteht die Erkenntniß der angebohrnen natürlichen Gesetze mit Bewußtsein in uns.“ (1772: § 43, S. 175) Dem auf Erfahrung beruhendem Erkenntnisgrund unserer Pflichten entspricht ein apriorischer Erkenntnisgrund: „Und da wird man wahrnehmen, daß wir durch das Gewissen (dictamen conscientiae) auf eben die Sätze geführet werden, deren Grund a priori §. 23. gezeigt worden, daß wir nemlich dasjenige, was der Vollkommenheit Gottes und der Geschöpfe, unserer selbst und anderer, insonderheit der Liebe zu Gott und Menschen, gemäß ist, und was uns also in der That schon an sich nützlich und gut ist, also ausüben sollen, daß wir solcher Gestalt alle unsere Zwecke und Thaten dem Gehorsam gegen Gott subordiniren sollen.“ (1772: § 42, S. 176) Für Crusius ist das Gewissen ein Gefühl: „Es erstreckt sich aber das Gefühl des Gewissens noch weiter, und lehret auch solche Pflichten, zu denen sich kein Grund a priori in distincten Regeln angeben läßt, sondern das allgemeine Gefühl, daß etwas schädlich und unmenschlich sey, ist selbst der Erkenntnisgrund a posteriori. Woraus man schliessen kann, daß solche Pflichten zwar wahre und von Gott bestimmte, aber doch in der zufälligen Einrichtung der

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über das Gute und das Böse. Weil unser diesbezügliches Urteil entsprechend unseres Erkenntnisstandes richtig oder falsch sein kann, gibt es auch ein richtiges und ein irrendes Gewissen. „Das Urtheil von unsern Handlungen ob sie gut oder böse sind, wird das Gewissen genennet. In so weit also der Mensch fähig ist den Erfolg seiner Handlungen zu beurtheilen, ob dadurch sein innerlicher oder äusserlicher Zustand, oder auch der innere oder äussere Zustand eines anderen vollkommener wird [. . .], in so weit hat er ein Gewissen. Wenn dieses Urtheil wahr ist, so heisset es ein richtiges Gewissen: ist es aber falsch, ein irrendes Gewissen.“13 Wolffs Vernunfturteil und Gewissen identifizierende Konzeption ist nicht unwichtig für das Verständnis von Kants Auffassung des Gewissens. Prinzipiell folgt Kant Wolffs rationalistisch-kognitivistischer Auffassung, wonach wir sowohl das Moralgesetz wie unsere Pflichten förmlich erkennen können, ohne Bezug auf das göttliche Gesetz nehmen zu müssen. Eine wichtige Differenz stellt allerdings das Verhältnis von Gesetzeserkenntnis und Vernunft dar. Nach Kant erkennen wir durch die Vernunft das Moralgesetz nicht nur, Kant begreift die Vernunft auch als ein Vermögen, durch das uns das Gesetz unseres Wollens gegeben wird. Sie ist die Quelle des Gesetzes, nicht bloß (wie bei Wolff) das Mittel, dieses unabhängig von ihr in der Natur existierende Gesetz zu erkennen. Gibt die Vernunft selbst das Gesetz, weil das Gesetz eine Wesenseigenschaft der Vernunft ist, dann kann sie hinsichtlich seiner Geltung und seines Umfangs auch nicht irren. Die Vernunft muss sich nicht menschlichen Natur gegründete Pflichten sind, welche Gott von Menschen nicht aus hypothetischer Nothwendigkeit des Wesens eines vernünftigen Geistes aufleget, sondern welche er willkürlich um seiner erwählten besonderen Absichten willen dem Menschen ins Herz geschrieben hat.“ (1772: § 43, S. 176) Crusius macht auch deutlich, dass es einen die Moralpraxis ermöglichenden Übergang zwischen Vernunft und Gefühl gibt: „Ueberhaupt wird auch durch das Gewissen die Geschwindigkeit in der Ausübung des Guten befördert, weil daraus eine natürliche Empfindung des Gerechten und Ungerechten, so wie aus denen in unsern Verstand gelegten Kennzeichen der Wahrheit, nemlich aus gewissen Grundsätzen und Schlußregeln, eine Empfindung des wahren und Falschen entstehet. Ohne dieses Gefühl der Güte und Bosheit würden die meisten moralischen Begriffe uncharacteristisch, mithin nicht brauchbar seyn. Daher auch, wo man die Erklärung und den Beweis in aufgelösten Begriffen nicht vollständig zu geben vermag, oder nicht die Absicht hat, so weit zu geben, es besser ist von moralischen Sachen nur gute concrete Ideen, Exempel und wichtige Prädicate anzugeben. Das Muster zu dergleichen Vortrage kann man in der Schrift selbst finden.“ (§ 43, S. 176–177) Für Crusius ist die Freiheit ein notwendiger Zweck in einer Welt, die von Gott, dem vollkommenen Wesen, geschaffen worden ist. 13  1733: §§ 73–74; vgl. § 138. Zum irrenden Gewissen bei Crusius siehe Kurzer Begriff der Moraltheologie (1772: § 43).

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zu etwas ihr zunächst fremd gegenüber Stehendes (die Natur) hinwenden, um das Gesetz zu erkennen. Sie findet dieses Gesetz vielmehr in sich selbst. Seine Erkenntnis setzt (anders als bei Wolff) keine Erfahrung von Dingen voraus, die an sich vernünftig sind, sondern konstituiert sich durch Begriffe, die dieser Vernunft intern sind. Applizieren wir das Moralgesetz auf unsere Handlungsmaximen, erkennen wir zweifelsfrei unsere Pflichten, d.h. diejenigen Handlungen, deren Vollzug das Moralgesetz gebietet. Es gibt nach Kant daher kein irrendes Gewissen. Signifikant für Kants Konzeption ist auch, dass er das Urteil der Vernunft (bzw. des Verstandes) über unsere Pflichten nicht mehr als Gewissensurteil interpretiert.14 Im Gegensatz zu Wolff versteht er den Begriff des Gewissens im Sinne einer Beziehung, in der die urteilende Person zu sich selbst als beurteilte Person steht. Im Gewissen beurteilt der Mensch sich selbst. Für diese von Kant vertretene Position der „sich selbst richtenden moralischen Urtheilskraft“ (AA 6: 186) steht nicht Wolff, sondern Adam Smith, dessen Theory of Moral Sentiments (1759) Kant unmittelbar nach dem Erscheinen ihrer deutschen Übersetzung15 mit Begeisterung liest. Denn während Wolff, wie wir gesehen haben, das Gewissen mit dem Urteil gleichsetzt, dass wir „von unsern Handlungen ob sie gut oder böse sind“ (1733: §§ 73) fällen, und zwischen einem „richtigen“ und einem „falschen“ Gewissen unterscheidet, rückt Smith die selbstbezügliche Struktur des Gewissens in das Zentrum seiner Überlegungen. Diese Struktur soll erklären, wie der Mensch als ein „moralisches Wesen“ (1770: 277) nicht nur von anderen sondern auch von sich selbst für sein Handeln zur „Rechenschaft verbunden“ (1770: 277) sein kann. „Wenn ich mich bemühe“, schreibt Smith, „mein eigenes Verhalten zu untersuchen, 14  So heißt es (nicht zuletzt in Abgrenzung zu der Position von Crusius) in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793): „Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber urtheilt der Verstand, nicht das Gewissen. Es ist auch nicht schlechthin nothwendig, von allen möglichen Handlungen zu wissen, ob sie recht oder unrecht sind. Aber von der, die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urtheilen und meinen, sondern auch gewiß sein, daß sie nicht unrecht sei, und diese Forderung ist ein Postulat des Gewissens, welchem der Probabilismus, d.i. der Grundsatz entgegengesetzt ist: daß die bloße Meinung, eine Handlung könne wohl recht sein, schon hinreichend sei, sie zu unternehmen.“ (AA 6: 186) Die Position des „Probabilismus“ vertritt Wolff: „Wenn man überführet ist, daß eine Handlung entweder gut oder böse sey; so hat man ein gewisses Gewissen: wenn es uns aber nur wahrscheinlich ist, daß die Handlung gut oder böse sey; so ist das Gewissen wahrscheinlich. Sind wir endlich zweifelhafft, ob die Handlung gut oder böse sey; so ist das Gewissen zweiffelhafftig.“ (1733: § 75) Kant lehnt die Position von Wolff vehement ab (vgl. AA 4: 403–404). 15   Theorie der moralischen Empfindungen, Braunschweig 1770.

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wenn ich mich bemühe, ein Urteil darüber zu sprechen, und es entweder zu billigen oder zu verdammen, so ist es augenscheinlich, daß ich in allen solchen Fällen mich selbst, gleichsam in zwei Personen theile, und daß ich, der Untersucher und der Richter, einen ganz andern Charakter vorstelle als der andere, Ich, die Person, deren Verhalten untersucht und gerichtet wird.“16 Smith bezieht sich mit unterschiedlichen Begriffen auf den „judge within“.17 Er ist der „höchste Schieds-Richter“ (1770: 320), er ist der „Einwohner“ in den Herzen der Menschen, er ist „dieser abstracte Mensch, der Stellvertreter der Menschen, und der Statthalter Gottes, den die Natur zum obersten Richter aller ihrer Handlungen verordnet hat“.18 Mit diesem Hinweis auf Smith möchte ich selbstverständlich nicht behaupten, dass Kants Lehre vom kategorischen Imperativ nur eine Variante von Smith‘ ‚impartial spectator‘ darstellt, wie dies Christian Garve und Arthur Schopenhauer19 behauptet haben. Kants Gewissensbegriff beruht nicht auf generalisierten Affekten und auf Erfahrung,20 sondern auf der reinen gesetzgebenden Vernunft,21 von der mangels einer klaren Trennung zwischen Vernunft und Gefühl bei Smith keine Rede sein kann. Hilfreich für das Kantische Verständnis des Gewissens ist die Unterscheidung zwischen der Vorstellung unserer Pflicht gemäß des Gesetzes auf der einen Seite und der Anwendung dieses Wissens auf konkrete Handlungssituationen auf der anderen Seite. „Gewissen“, heißt es in Zedlers Großem Universal-Lexicon, „ist das innerliche Urtheil von der Wahrhafftigkeit unserer Pflichten, und dererselben Adplicacion.“ (1732–1754: Bd. 10, Sp. 1389) Die Ebene der „Wahrhafftigkeit unserer Pflichten“ wird bei Kant durch das Moralgesetz beschrieben, auf der es (anders als im Weiteren bei Zedler ausgeführt) keinen Irrtum geben kann. Der Ebene der „Adplicacion“ sind bei Kant die Begriffe der Gewissenhaftigkeit 16  1770: 276; vgl. Kant AA 6: 417. 17  „Die Pflicht ist hier nur, sein Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden (mithin nur indirekte Pflicht), um ihm Gehör zu verschaffen.“ (AA 6: 401). 18  1770, 284–285; vgl. 319–320. 19  Siehe die „Introduction“ des Hrsg. in Smith 1770 (reprint): viii–ix. 20  Vgl. Smith 1770: 313. 21  „Vernunft ist es, Grund-Trieb, Gewissen, der Einwohner unsers Herzens, der Mensch in uns, der grosse Regent und Schieds-Richter unsers Verhaltens. Der ist es, der uns, wenn wir in Begrif stehen so zu handeln, daß wir der Glückseligkeit anderer zu nahe treten, mit einer Stimme, wofür auch die Kühnsten und Gewaltsamsten unter unsern Leidenschaften erzittern müssen, zuruft, daß wir nur einer aus der Menge sind, in keiner Absicht besser als jeder anderer, und daß wir, wenn wir uns so schändlich und so blindlings andern vorziehen, dadurch die eigentlichen Gegenstände des Unwillens, des Fluchs und des Abscheus werden.“ (1770: 291).

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und der Gewissenlosigkeit zugeordnet. Gewissenhaft nennt Kant eine Person genau dann (vgl. AA 8: 261), wenn sie vor ihrer Tat Auskunft darüber einholt, ob die Tat oder ihre Maxime mit dem Gesetz übereinstimmt. Gewissenlos ist eine Person dagegen, wenn sie die Tat vollzieht, ohne dabei die Möglichkeit bedacht zu haben, dass diese Tat „unrecht“ (AA 6: 187) sein könnte. In der Tugendlehre schreibt Kant: „Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang sich an dessen Urtheil nicht zu kehren.“ (AA 6: 401) Sie manifestiert sich als Nachlässigkeit zugunsten der Neigungen, als der Versuch, Ausnahme für sich selbst zu begründen, ohne sich dadurch prinzipiell als Sache zu begreifen, deren Wirken der Naturnotwendigkeit unterliegt. Gewissenlosigkeit bedeutet also nicht das subjektive Unvermögen, das Moralgesetz zu erkennen, oder etwa den festen Willen, dem Moralgesetz bloß deshalb nicht Folge leisten zu wollen, weil es das Moralgesetz ist. Kein Mensch handelt – so Kants optimistische Diagnose – aus Freiheit uneigennützig böse, sondern immer mit Rücksicht auf seine Neigungen, die ihm Gründe und Motive sind, Ausnahme von der allgemeinen Verbindlichkeit des Moralgesetzes zu machen. Um die „Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden“, sind wir verpflichtet, unser „Gewissen zu kultivieren“. Mit seiner These, dass „Gewissenlosigkeit“ nicht als Mangel an Erkennt­ nis des Gebotenen verstanden werden kann, unterscheidet sich Kant von Wolff. Worin begründet sich diese Differenz? Gewissenlosigkeit ist bei Kant kein Phänomen, das dem (im engeren Sinne so zu verstehenden) Erkenntnisvermögen, sondern dem vom Erkenntnisvermögen prinzipiell getrennten Begehrungsvermögen zuzuordnen ist. Gewissenlos ist eine Person, die ihre Pflicht erfüllen könnte, weil sie ihre Pflicht kennt. Aber die Person will ihre Pflicht nicht erfüllen. Zwar ist der Hang des Menschen, Ausnahmen von der allgemeinen Geltung des Moralgesetzes für sich zu begründen, unausrottbar. Aber dieser Hang kann überwunden werden, wenn der Mensch es nur will. Hang, Instinkt, Neigung und Leidenschaften sind die verschiedenen Stufen oder Ebenen des unteren Begehrungsvermögen, die sich der Art nach vom oberen Begehrungsvermögen, das Kant mit der (reinen) praktischen Vernunft bzw. gelegentlich auch mit dem Willen (im Unterschied zur Willkür als dem allgemeinen Vermögen, sich selbst durch die Vorstellung von Prinzipien zum Handeln bestimmen zu können), identifiziert. Wolff dagegen (und die ihm folgende Tradition) kennt diese strikte Trennung von unterem und oberem Begehrungsvermögen nicht. Kant selbst deutet diese Differenz in der Vorrede zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten an, in der er sich (wie bereits erwähnt) kritisch mit Wolffs Philosophia practica universalis beschäftigt. Kants Kritik lautet, dass Wolff empirische Psychologie betreibt und keinen Begriff eines „reinen Willens“ kennt. Weil Wolff von diesem keinen Begriff hat, vermag

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er auch den Begriff eines moralischen Gesetzes nicht zu verstehen, der „als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll“ und „absolute Notwendigkeit bei sich führen“ (AA 4: 389) muss. Ich hatte eingangs behauptet, dass der Begriff des Gewissens nicht zum Kernbestand von Kants Lehre vom kategorischen Imperativ gehört. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in der sich Kant zur Aufgabe gesetzt hat, das „oberste Prinzip der Moralität“ (AA 4: 392) aufzusuchen und festzusetzen, steht der Begriff der Verbindlichkeit und das ihn erklärende Prinzip der Autonomie im Zentrum von Kants Aufmerksamkeit. Das Gewissen dagegen spielt in dieser Schrift keine Rolle. Wollen wir die Funktion des Gewissens im Kontext von Kants Ethik verstehen, müssen wir uns etwas näher mit dem Begriff einer unbedingten moralischen Verbindlichkeit beschäftigen. 2

Verbindlichkeit und Freiheit: Wolff, Crusius, Kant

Zunächst ist daran zu erinnern, dass Kant mit Christian Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten und anderen zwischen Verbindlichkeit oder Verpflichtung (obligatio) auf der einen Seite und Pflicht (officium) auf der anderen Seite unterscheidet.22 Während Verbindlichkeit nach der Grundlegung die „Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung)“23 bedeutet, bezeichnet die Pflicht eine Handlung, zu deren Vollzug oder Unterlassung wir verbunden sind.24 Demnach setzt die Erkenntnis unserer Pflichten durch die Anwendung des 22  Ich übernehme im Folgenden Passagen aus Klemme 2015. 23   A A 4: 439. Auf ein „heiliges Wesen“, d.h. auf einen „vollkommen guten Willen“ kann der Begriff der Nötigung nicht angewendet werden: „Ein vollkommen guter Wille würde also ebensowohl unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genötigt vorgestellt werden können, weil er von selbst nach seiner subjektiven Beschaffenheit nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist. Daher sind Imperativen nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z.B. des menschlichen Willens auszudrücken.“ (AA 4: 415). 24  „Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht.“ (AA 4: 439) Wolff schreibt in seiner Deutschen Ethik: „Durch die Pflicht verstehen wir eine Handlung, die dem Gesetze gemäß ist. Da nun kein Gesetze ohne Verbindlichkeit ist; so sind die Pflichten Handlungen, die wir zu vollbringen verbunden sind. Und daher pflegen

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kategorischen Imperativs auf unsere Maximen voraus, dass wir nach gesetzesfähigen Maximen handeln sollen. Wenn Kant schreibt, dass der kategorische Imperativ ein synthetischer Satz a priori ist, bringt er damit zum Ausdruck, dass der menschliche Wille verbunden ist, dem Moralgesetz zu folgen. Und dies, obwohl oder gerade weil dieser Wille aufgrund seiner Affektion durch Sinnlichkeit kein „schlechthin guter Wille“ ist. Mit seiner Strukturbeschreibung des kategorischen Imperativs weist Kant dezidiert eine Konzeption der Verbindlichkeit zurück, in der ein analytischer Zusammenhang von Wille und Vernunft bzw. Moralgesetz behauptet wird. Für diese Konzeption steht wiederum Wolff, der – in Kants Terminologie ausgedrückt – moralische Imperative wie hypothetische Imperative interpretiert: Weil wir nach Wolff ein glückseliges Leben führen wollen, müssen wir den Gesetzen der Natur folgen, die uns unsere Vernunft zu erkennen gibt.25 Nach Wolff ist es unsere Natur, die uns „verbindet“, die „an sich gute[n] Handlungen zu vollbringen und die an sich bösen zu unterlassen“ (1733: § 12). Bereits mit seiner zu Beginn der Grundlegung ausgesprochenen These, dass wir nur den „guten Willen“ (AA 4: 393) für uneingeschränkt gut denken können, grenzt sich Kant von Wolffs Verständnis der Verbindlichkeit ab. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Ein Grund besteht darin, dass Wolff Kants Ansicht nach die Existenz von Begriffen übersehen hat, mittels derer wir eine externe Perspektive gegenüber unseren auf unseren Neigungen beruhenden Maximen einnehmen können. Diese Begriffe stammen nicht aus unserer Erfahrung, sondern aus unserer reinen Vernunft. Mit dieser These über den Ursprung unserer moralischen Begriffe von gut und schlecht ist das Band zum Wolffianismus zerschnitten. Warum? Weil nach Kant kein gradueller Übergang zwischen undeutlichen und deutlichen Vorstellungen, Begierden und Vernunftbegriffen stattfindet. Begierden, Neigungen und Leidenschaften gehören – wie bereits erwähnt – zu unserem unteren Begehrungsvermögen, die reine Vernunft macht dagegen das obere wir zu sagen: Es ist meine Pflicht dieses zu thun, wenn wir andeuten wollen, daß wir es zu thun verbunden.“ (1733: § 221). 25   Ob diese (vom Kant der kritischen Philosophie vertretene) eudämonistische Interpretation der Position Wolffs angemessen ist, steht auf einem anderen Blatt. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Deutschen Ethik schreibt Wolff, dass die Tugend „bloß mit der natürlichen Verbindlichkeit [. . .] bestehen kann; alle übrige [Verbindlichkeit] aber weiter nichts als eine äußerliche Zucht würket.“ (ohne Seitenzählung) Weil Glück und Unglück Wolffs Auffassung nach zusätzliche Motive sind, die Gott mit der Befolgung der natürlichen Gesetze verbindet, um auch denen ein Motiv zur Tugend zu geben, die unvernünftig sind, handelt der vernünftige Mensch um des vernünftigen Gesetzes willen.

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Begehrungsvermögen aus.26 Kant stellt der wolffschen Identifikation von Vernunft und Wille somit eine dualistische Konzeption handlungsleitender Gründe gegenüber. Dieser Dualismus stellt die Basis für seinen Begriff der Verbindlichkeit dar. Denn das im kategorischen Imperativ zum Ausdruck gebrachte unbedingte Sollen wendet sich an einen Willen, der sich durch Gründe seiner Sinnlichkeit zum Handeln bestimmen kann, sich aber durch Gründe seiner reinen Vernunft zum Handeln bestimmen soll.27 Damit ist klar: Während wir nach Wolff unser moralisches Wollen ausschließlich durch eine verbesserte Erkenntnis des Guten verändern können, ändern wir nach Kant unser Wollen in moralischer Hinsicht dadurch, dass wir uns – gut augustinisch – entscheiden, etwas anderes zu tun. Bei Kant steht der Wille nicht mehr in einer bloß dienenden Beziehung zur Vernunft. Er ist vielmehr ein Vermögen sui generis, ist weder Gefühl noch Erkenntnis.28 Aus der Perspektive von Verstand und Vernunft betrachtet ist der freie Wille nach Kant ein zufälliger Wille.29 Wir können seiner Auffassung nach nicht erklären, warum wir uns im vollen Wissen um unsere moralischen Verbindlichkeiten entweder für oder gegen unsere Pflicht entscheiden. Wir können nur feststellen, dass wir uns oftmals gegen unsere Pflicht entscheiden, und zwar mit dem Argument, dass das Moralgesetz Ausnahmen zugunsten unserer Neigungen 26  Zu Kants triadischer Vermögenstheorie und insbesondere zum Verhältnis von unterem und oberem Begehrungsvermögen vgl. Klemme (2014) sowie die Studien von Höwing (2013) und Falduto (2014). 27  Erstmalig stellt Kant diesen Zusammenhang von Verbindlichkeit und Autonomie im Naturrecht-Feyerabend heraus, eine studentische Vorlesungsnachschrift, die zeitgleich mit der Grundlegung entstanden ist: „Verbindlichkeit ist moralische Neceßitation der Handlung, d: i: die Abhängigkeit eines [nicht] an sich guten Willen vom Princip der Autonomie, oder objectiv nothwendigen praktischen Gesetzen. Pflicht ist die objective Nothwendigkeit der Handlung aus Verbindlichkeit.“ (AA 27: 1326) Siehe auch Moral Mrongovius II (1784–1785): „Die Verbindlichkeit (obligatio) ist eine moralische Nothwendigkeit und diese die Vorstellung der Nothwendigkeit freyer Handlung aus dem Begriff eines guten Willens, dessen Princip es ist daß man wollen kann daß eine Maxime desselben zur allgemeinen Regel wird. Pflicht (officium) ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit.“ (AA 29: 609) An anderer Stelle schreibt Kant: „Die Nöthigung einer Handlung durchs moralische Gesetz ist Verbindlichkeit, die Nothwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit ist Pflicht.“ (AA 29: 611). 28  In der zweiten Kritik lesen wir: „[. . .] weil der Wille nicht bloß unter dem Naturbegriffe, sondern auch unter dem Freiheitsbegriffe steht, in Beziehung auf welchen die Prinzipien desselben Gesetze heißen“ (AA 5: 172). 29  Zum Begriff der libertas indifferentiae bei Kant und seiner Unterscheidung zwischen Wille und Willkür siehe Klemme (2013).

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zulässt. Unsere moralischen Entscheidungen erklären zu wollen, hieße entweder, den Menschen zu naturalisieren, d.h. seine Entscheidungen durch die mechanischen Gesetze der Natur erklären zu wollen. Oder es würde bedeuten, Natur als Freiheit zu denken. Beide Varianten leuchten Kant nicht ein. Er vermeidet diese beiden Alternativen, indem er auf die Willenskonzeption von Christian August Crusius zurückgreift, dem größten unter allen zeitgenössischen Wolff-Kritikern. In seiner Anweisung vernünftig zu leben von 1744 gibt Crusius dem Begriff der Freiheit eine nicht-deterministische und nicht-kognitivistische Bedeutung. Unser Wollen folgt nicht unserer Erkenntnis des Guten, sondern stellt eine Kraft dar, „sich zu einer Handlung selbst zu determiniren, ohne daß man durch irgend etwas anders, es sey in uns oder ausser uns, dazu determiniret werde“ (1744: § 39, S. 48). Unsere Freiheit qualifiziert uns nicht nur dazu, „einem Gesetze und Verbindlichkeit unterworffen zu seyn“ (1744: § 38, S. 47–48), sie stellt auch das Vermögen dar, uns sowohl für das Gute wie für das Böse zu ­entscheiden. Crusius’ libertarianische Auffassung führt direkt zu einer alternativen Auffassung der Verbindlichkeit: Nach Crusius bezeichnet Verbindlichkeit die Beziehung zwischen dem freien Willen und einem Zweck, den wir wählen sollen, aber nicht wählen müssen, gerade weil unser Wollen nicht dem Prinzip des zureichenden Grundes unterliegt.30 Entscheidend ist der Begriff der „moralischen Notwendigkeit“.31 Während Crusius jedoch einem theologischen Begriff von Gesetz und Verbindlichkeit das Wort redet, wonach uns

30  „Demnach ist die Freyheit nicht nothwendig eine Kraft, nach den besten Vorstellungen des Verstandes zu handeln, sondern da, wo unter den vorgestellten Handlungen wircklich eine die beste ist, da soll sie nur eine Kraft seyn, das beste erwehlen zu können, und nach der göttlichen Absicht soll sie zu der wircklichen Ergreiffung desselben angewendet werden“ (Crusius 1744: § 52, S. 64–65). 31  So schreibt Crusius: „Eine Pflicht im weiten Verstande ist ein Thun oder Lassen; darzu eine moralische Nothwendigkeit vorhanden ist. Eine moralische Notwendigkeit ist ein solches Verhältnis eines Thuns oder Lassens gegen gewisse Endzwecke, daraus ein vernünftiger Geist verstehen kann, daß es gethan oder gelassen werden soll. Derjenige Zustand, in welchem eine moralische Nothwendigkeit zu etwas vorhanden ist, wird die Verbindlichkeit in weitem Verstande genennet. Demnach handelt die Moral von Pflichten und Verbindlichkeiten.“ (1744: § 160). Eine genaue Untersuchung des Verhältnisses von Kant zu Crusius‘ und Wolffs Konzeption der Verbindlichkeit steht noch aus. Einerseits übernimmt Kant von Crusius den Gedanken der „moralischen Notwendigkeit“, andererseits weist er mit Wolff Crusius’ theologischen Gesetzesbegriff zurück (siehe auch Rivero 2016).

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unser Gewissen verpflichtet, dem Gesetz Folge zu leisten, weil es uns von Gott32 gegeben worden ist, setzt Kant auf die Vernunft als eigenständige Quelle moralischer Verbindlichkeit. Weil der Gehorsam gegenüber Gottes Gebot nach Kant nicht der primäre Grund unseres moralischen Strebens ist, stellt sich umso dringlicher die Frage, warum wir an der Befolgung des Moralgesetzes ein Interesse nehmen. Wenden wir uns nochmals Kants Willensbegriff zu: Man muss sich im Klaren darüber sein, dass Kant von zwei Annahmen ausgeht: Erstens, dass unser Wille insofern ein freier Wille ist, als er sich selbst durch die Vorstellung von Begriffen zum Handeln bestimmen kann, die ihren Ursprung in der reinen Vernunft haben (Stichwort Autonomie). Und die zweite Annahme lautet, dass diese aus der Vernunft stammenden Begriffe eine selbstbezügliche Funktion haben. Bestimmt der Wille sich durch diese Begriffe zum Handeln, wird er im Gebrauche seiner Freiheit das, was er seinem Vermögen nach ist, nämlich vernünftig. Bestimmt sich der Wille durch Begriffe der natürlichen Welt (Natur), bleibt der Wille seiner Möglichkeit nach zwar frei, unterwirft sich im Akt seiner Selbstbestimmung aber der Natur. In diesem Falle lässt er sich durch die Gesetzlichkeit der Natur zum Handeln bestimmen, er ist heteronom. Bezeichnet Kant den Willen als unbedingt gut, möchte er damit zum Ausdruck bringen, dass wir es vernünftigerweise vorziehen, als ein potentiell frei handelndes Wesen auch tatsächlich frei zu handeln. Wir sind verpflichtet, dem Moralgesetz im Gebrauch unserer Vernunft zu folgen, weil uns die Vernunft als Menschen (Sinnenwesen) entsprechend bestimmt. Diesen Akt des praktischen Bestimmtseins durch die reine Vernunft nennt Kant Nötigung.33 Wir sind uns bewusst, nach Begriffen der reinen Vernunft handeln zu sollen, weil der freie Wille sich durch eine Vernunft bestimmt wahrnimmt, die im Gebrauch dieses Willens zur Geltung kommen will. Ich kann mich zwar dazu entscheiden, nicht meine Pflicht zu erfüllen. Aber ich kann mich nicht dazu entscheiden, nicht verpflichtet zu sein. 32  Siehe 1744: §§ 133, 166, 238, 319. 33   Zwar greift bereits Baumgarten den Begriff der Nötigung (necessitatio, coactio: Erzwingung, Zwang) bei seiner Definition der Verbindlichkeit auf und verweist auf einen zwischen Vernunft und Fleisch bestehenden Streit oder Dissens. Aber Baumgartens Begriff der Nötigung ist rein psychologisch zu verstehen: Ich folge in Freiheit demjenigen Vermögen, das nach meiner den Streit schlichtenden Überlegung (deliberatio) die Oberhand gewonnen hat (vgl. Baumgarten 2011: §§ 693, 696, 697, 714, 727). Völlig fremd ist Baumgarten schon allein deshalb der Begriff einer Nötigung meiner selbst durch die reine praktische Vernunft, weil er nicht streng zwischen dem unteren und dem oberen Begehrungsvermögen unterscheidet.

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Kant setzt im Begriff des kategorischen Imperativs voraus, dass wir das, was wir tun sollen, als reine Vernunftwesen auch tun wollen. Wir selbst geben uns das Gesetz. Diese Selbstbeziehung zwischen der Legislative und Exekutive in uns erläutert Kant durch den Begriff des Interesses. Das Interesse der Exekutive an der Legislative begründet sich durch die Tatsache, dass wir uns als Vernunftwesen das Gesetz unseres Wollens selbst geben. Nur weil wir es uns selbst geben, denken wir uns diesem Gesetz unterworfen. Weshalb aber können wir uns keine Vernunft denken, die in einem mit einem Willen begabten Wesen nicht praktisch ist. Warum nicht? Dieser Gedanke ist für uns nicht möglich, weil sich, so Kant in der Grundlegung, die Vernunft „selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen [muß], unabhängig von fremden Einflüssen, folglich34 muß sie als praktische Vernunft oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden, d.i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.“35 Man könnte dies Kants performative Deduktion der Idee der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft nennen: Betrachten wir uns als Urheber unserer Handlungsprinzipien (Maximen), können wir dies nur unter der Idee der Freiheit tun.36 Diesen Anspruch auf Urheberschaft können wir nicht aufgeben, ohne uns zugleich als Vernunftwesen zu negieren. Aus diesem praktischen Interesse an uns selbst, an unserer Fähigkeit, im Gebrauche unserer Freiheit zu verbleiben, erklärt sich beispielsweise Kants Warnung vor den Affekten der Scham, des Zornes, der Traurigkeit und der Furcht, die sich als „Angst, Bangigkeit, Grauen, Entsetzen“ (AA 25: 1345) materialisieren kann. Besonders negativ beurteilt Kant das Entsetzen: „Beim Entsetzen“, heißt es in Anthropologie-Dohna (1791/92?), „hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verlohren.“37 Weil das Entsetzen den größten Schaden verursacht, können wir 34  Zur Interpretation von „folglich“ siehe Henrich (1975: 68–69), der eine Parallele zur Schulz-Rezension zieht, in der Kant von einem „eben so“ (AA 8: 14) spricht. Dabei „verwischt“ Henrich allerdings „die Unterschiede zwischen theoretischer und praktischer Vernunft“ (Steigleder 2002: S. 83). 35   A A 4: 448. In der zweiten Kritik schreibt Kant: „Dieses Prinzip der Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des Willens, unangesehen aller subjektiven Verschiedenheiten derselben, macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftigen Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d.i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen“ (AA 5: 32). 36  Siehe ausführlich Klemme (2014a). 37  Das vollständige Zitat lautet: „Furcht ist eine Art von kränklichem Zustande – Bangigkeit, Angst, Traurigkeit, Grauen – Entsetzen sind verschiedene Ausbrüche der Furcht. Beim Entsetzen hat der Mensch schon allen Selbstbesitz verlohren.“ (Anthropologie- Dohna,

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es als den schlechtesten Affekt bezeichnen, der uns nach Kant affizieren kann. Er ergreift von unserem ganzen Selbst Besitz und vernichtet es. Wer sich selbst verliert, der ist zu einem auf Tugend und Glück (dem „höchsten moralischphysischen Gut“, AA 7: 277) zielenden Handeln nicht mehr in der Lage. Über die Bedeutung des Selbstbesitzes äußert sich Kant bereits in der AnthropologieCollins (1772–73) in folgender Weise: „Der Selbstbesitz (animus sui compos), der Gott der Stoiker ist viel erhabener, als das stets fröhliche Gemüth des Epikur, denn ist man Meister über sich selbst, so ist man auch Herr über sein Glück und Unglück.“38 Ohne Übertreibung können wir sagen, dass nach Kant der Verlust des Selbstbesitzes das summum malum unseres Lebens ist. Dem Erhalt unserer selbst gilt unsere erste Sorge.39 Wir nehmen ein natürliches Interesse daran, im Gebrauche unserer freien Willkür zu sein, weil wir ein selbstbestimmtes, auf unser Glück zielendes Leben führen wollen. Und zugleich nehmen wir ein Vernunftinteresse an diesem Gebrauch, weil wir vernünftigerweise nicht wollen können, nicht Urheber unserer Handlungen zu sein. 3

Die Lehre vom angeborenen Recht der Freiheit und die Frage nach rechtfertigenden Gründen

Kants Gedanke einer vorbehaltlosen Wertschätzung unserer selbst als eines Gebots zugleich unserer reinen Vernunft und unserer auf unsere Glückseligkeit zielenden Klugheit findet seine Entsprechung in Kants Lehre

S. 232, unveröffentlicht) Wenn ich richtig sehe, wird in keiner Druckschrift Kants die Bedeutung des Selbstbesitzes (unter diesem Namen) ähnlich stark hervorgehoben.– Sachlich verwandt mit diesen Überlegungen sind Kants Ausführungen zum angeborenen Freiheitsrecht in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten (vgl. AA 6: 237–238). 38   A A 25: 68–69. In der Anthropologie-Collins (1772/73) wird dieser Gedanke mit dem Begriff der „Herrschafft der freyen Willkühr“ ausgedrückt: „In der Macht der freyen Willkür, alle übrige actus unseres Vermögens in uns beliebig zu exerzieren und zurückzuhalten, hierin besteht das gröste Glück der Welt. Denn gesezt, es stößt mir das gröste Ubel zu, bin ich nur im Stande von meinen Vorstellungen zu abstrahiren, habe ich Macht, Vorstellungen gleichsam nach belieben zu verbannen, und andere herzu zu rufen, so bin ich gegen alle gewafnet und unüberwindlich. Die Oberste Herrschafft der Seele, die auch kein Mensch aufzugeben vermag, ist die Herrschafft der freyen Willkühr.“ (AA 15: 29–30). 39  Inhaltlich verwandt mit dem Selbstbesitz ist die von Kant häufig erörterte „Achtung vor sich selbst“ (AA 6: 399, 459, 462), die „Selbstschätzung“ (AA 5: 73, 79, 128 u.ö.) und die „Selbstbilligung“ (AA 5: 81) und damit seine Lehre von der Würde des Menschen und der Menschheit in mir. Wer sich selbst achten will, darf sich jedoch zuvor nicht verloren haben. Insofern geht der Selbstbesitz Fragen der Selbstachtung vorher.

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vom ­angeborenen Recht der Freiheit40 in der Rechtslehre. Es mag lohnend scheinen, auf sie kurz einzugehen. Begnügt sich die Ethik mit einem Begriff der Verbindlichkeit, dem Rechnung zu tragen jedem Willensentschluss einer jeden einzelnen Person überantwortet bleibt, tritt das Recht als Zwangsinstitution auf. Nicht der gute Wille allein, der Staat als Zwangsinstitution steht unter der Verbindlichkeit, die Befolgung von Gesetzen zu garantieren, die speziell den äußeren Freiheitsgebrauch von Personen ermöglicht, indem sie ihn gesetzlich einschränkt. Typisch für das Verhältnis von Ethik und Recht sind hier drei Aspekte: Erstens können die Rechtsinhalte nicht direkt aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden, zweitens können sie selbst dann mit dem Anspruch auf allgemeine Befolgung auftreten, wenn sie nicht dem Ideal des Vernunftrechts genügen, und drittens schließlich kann ein Rechtsinhalt nur dann mit dem Anspruch auf faktische Geltung auftreten, wenn er auch institutionalisiert worden ist. Die positivrechtliche Wirksamkeit von Rechtsinhalten beruht auf einer Willensbekundung der Legislative. Dies bedeutet nach Kant aber auch, dass nur diejenigen Rechtsinhalte nach Maßgabe des Vernunftrechts positiviert werden sollen, die mit der Zustimmung der von ihnen Betroffenen rechnen können (Stichwort Öffentlichkeit). Schließlich ist es die Freiheit der Bürger, die durch die Gesetze eingeschränkt wird, und zwar in der Absicht, ihre reale Freiheit zu ermöglichen. Genau an dieser Stelle kommt das angeborene Freiheitsrecht ins Spiel. Denn es legt fest, wer wem gegenüber in welcher Hinsicht begründungspflichtig ist. Das Recht der Freiheit bringt zum Ausdruck, dass derjenige, der behauptet, ein erworbenes Recht zu haben, hierfür den Nachweis [„die Beweisführung (onus probandi)“, AA 6: 238] erbringen muss. Begründungsbedürftig ist also nicht mein Recht, freien Gebrauch von meiner Willkür zu machen, begründungsbedürftig ist vielmehr die gesetzliche Einschränkung dieser Freiheit. Das angeborene Freiheitsrecht beruht somit auf keiner ominösen Eigenschaft abstrakter Subjekte, sondern speist sich aus unserer Fähigkeit, uns selbst im Gebrauche unserer äußeren Handlungsfähigkeit durch Gründe zum Handeln bestimmen zu können (und dies prinzipiell auch zu wollen), die rechtfertigungsfähig sind. Man darf dieses Recht nicht ontologisch, als Wertbegriff, sondern man sollte es als einen Funktionsbegriff verstehen, der für alle diejenigen unmittelbar einsichtig und verbindlich ist, die sich seiner bedienen. Das Freiheitsrecht begründet sich durch seinen Gebrauch für denjenigen, der es für sich in Anspruch nimmt. Die Parallele zur Grundlegung scheint 40  „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ (AA 6: 237).

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mir offenkundig zu sein: Wenn Kant in dieser Schrift hervorhebt, dass sich alle Menschen dem Willen nach als frei denken, bezeichnet er damit explizit einen „Rechtsanspruch“ (AA 4: 457), den wir erheben, weil wir uns bewusst sind, uns durch Begriffe zum Handeln bestimmen zu können, die in unserer reinen Vernunft begründet sind. Wir erheben faktisch diesen Rechtsanspruch, wir ‚maßen‘ uns einen Willen an, „der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört“ (AA 4: 457). Und dieser praktische Anspruch ist berechtigt, weil wir mit den Mitteln der theoretischen Philosophie beweisen können, dass alle Versuche, die praktische Wirklichkeit der Freiheit als eine Chimäre zu beweisen, mit Notwendigkeit zum Scheitern verurteilt sind. Würde die spekulative Philosophie nicht die Möglichkeit der Freiheit gegen die Angriffe der Fatalisten beweisen können, müssten wir den kategorischen Imperativ als eine Illusion41 aufgeben. Wer also unter der Idee der Freiheit sich selbst bestimmt, der fragt nach Begründungen für Freiheitseinschränkungen. Und nur weil Freiheit auch missbraucht werden kann, kann unser Verlangen nach ihrer gesetzlichen Bestimmung im politischen und rechtlichen Raum reifen. Die Vernunft, so Kant, wirkt „nicht instinktmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählich fortzuschreiten“ (AA 8: 19). In seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten federt Kant somit den kategorischen Geltungsuniversalismus von Moral und Vernunftrecht auf der Menschheitsebene ab: Das Menschenrecht der Freiheit gilt zwar universell, aber ohne entsprechende „Versuche, Übung und Unterricht“ können wir nicht erwarten, dass es von allen erkannt und anerkannt wird. 4

Widerstandsverbot und Gewissensurteil

Was bedeutet dies alles für das Gewissen? Zunächst: Der „innere Gerichtshof“ des Gewissens wird im Recht durch den „äusserlichen Gerichtshof“42 ­abgelöst, 41  Genau dies ist auch Kants These in der Ende 1787 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft. Die Aufgabe der spekulativen Philosophie besteht darin, den Begriff der Freiheit als möglich nachzuweisen: „[. . .] die spekulative Vernunft aber (um unter ihren kosmologischen Ideen das Unbedingte seiner Causalität nach zu finden, damit sie sich selbst nicht widerspreche) wenigstens als möglich annehmen mußte, nämlich das der Freiheit, von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf, nicht blos die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen.“ (AA 5: 47). 42  Einen kurzen Vergleich zwischen dem „innerlichen Gerichtshoff des Gewissens mit dem äusserlichen Gerichtshof“ (2004, 193) finden wir bereits in der Nachschrift seiner Vorlesung über Moralphilosophie aus der Mitte der siebziger Jahre (Kant 2004: 193–194).

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der blutige Konsequenzen haben kann.43 Zwar spielt das Gewissen vor dem äußeren Richterstuhl keine Rolle. Der Richter interessiert sich nicht für das Gewissen der Menschen, sondern urteilt nach bestehender Gesetzeslage. Aber für die Bürger selbst ist das Gewissen doch insofern von Bedeutung, als es ihnen Auskunft darüber gibt, welchen Gesetzen sie in keinem Fall Folge leisten dürfen, obwohl sie kein formales Widerstandsrecht besitzen. „Der Satz“‚ scheibt Kant in der Religionsschrift, „man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll.“ (AA 6: 9 Anm.) Man könnte dieses Zitat als einen Hinweis darauf verstehen, dass es zu einem Konflikt zwischen dem inneren und dem äußeren Gerichtshof kommen kann. Obwohl wir nach Kant prinzipiell verbunden sind, die staatlichen Gesetze zu befolgen und es kein Widerstandsrecht gibt, kann es Situationen geben, in denen die Inhalte des positiven Rechts dem Moralgesetz direkt widersprechen. In diesem Fall kommt dem inneren Gerichtshof ein Primat gegenüber dem äußeren Gerichtshof zu. Dabei kommentiert Kant nicht die Frage, ob dieser Primat mich nicht auch dazu berechtigt, Widerstand gegen staatliche Autoritäten zu leisten. Besonders bemerkenswert ist sein Schweigen auch deshalb, weil bereits das passive Nichtbefolgen einer staatlichen Anordnung oder Befehls als Widerstand gewertet werden kann. Eine Möglichkeit, diese innere Spannung im Bereich von äußerem und ­innerem Freiheitsgebrauch bei Kant zu lösen, bestünde darin, zwischen dem Widerstand gegen die staatliche Ordnung als Ganzer (der immer verboten ist) und dem Widerstand gegenüber einzelnen Gesetzen und Anordnungen zu unterscheiden, wobei in beiden Fällen mit staatlichen Sanktionen zu rechnen ist. Hierbei stellt sich allerdings nicht nur die Frage nach der Grenzziehung zwischen beiden Typen von Widerstand. Es stellt sich auch die Frage, ob die staatliche Rechtsordnung als solche ihre Legitimität nicht verliert, wenn sie von den Bürgern Handlungen verlangt, die unmittelbar dem Moralgesetz widersprechen. Es wäre dann auch (die von Kant nicht thematisierte) Frage, ob es sich hierbei um eine Spannung zwischen dem Moralgesetz und der Rechtsordnung handelt – oder ob bestimmte Rechtsinhalt die Legitimität (nicht: die Legalität) der Rechtsordnung als solche aufheben.44 Sieht das positive Recht beispielsweise die willkürliche Vernichtung von Rechtssubjekten vor, könnte auch auf der Basis von Kants Rechtsphilosophie argumentiert werden, dass sich die Rechtsordnung aufgrund dieser Rechtsinhalte selbst abgeschafft hat. Stellt nämlich das Recht die Bedingungen dar, unter denen Personen ihre äußere Handlungsfreiheit unter einem allgemeinen Gesetz gebrauchen 43  Siehe zum Folgenden weiterführend Klemme (2013a). 44  Siehe zu dieser Thematik auch Klemme (2016).

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können, widerspricht es dem Rechtszweck, wenn das äußere Recht als ein Mittel missbraucht wird, Personen als Rechtssubjekte zu vernichten. Nicht jede faktisch wirksame Rechtsordnung entspricht (auch nach kantischen Begriffen) dem Vernunftbegriff des Rechts. Entspricht sie diesem nicht, befinden sich die Menschen im rechtlichen Naturzustand. In diesem Fall sind sie rechtlich verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um diesen Zustand wieder zu verlassen und ihr Recht in einem öffentlichen Rechtszustand zu finden. Und selbstverständlich sind sie auch verpflichtet, nur nach solchen Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren. Obwohl im Naturzustand der äußere Gerichtshof außer Kraft gesetzt worden ist, tagt der innere Gerichtshof. Literatur Baumgarten, Alexander Gottlieb (2011): Metaphysica / Metaphysik (1739). Historischkritische Ausgabe. Übersetzt, eingeleitet und hrsg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt. Crusius, Christian August (1767): Anweisung, vernünftig zu leben [. . .]. Die Dritte und vermehrte Auflage, Leipzig. ——— (1772): Kurzer Begriff der Moraltheologie, oder nähere Erklärung der practischen Lehren des Christenthums, Erster Theil, Leipzig. Esser, Andrea M. (2013): „The Inner Court of Conscience, Moral Self-Knowledge, and the Proper Object of Duty (TL 6: 437–444)“, in: Kant’s „Tugendlehre“. A Comprehensive Commentary, hrsg. von Andreas Trampota, Oliver Sensen und Jens Timmermann, Berlin und Boston, S. 269–291. Falduto, Antonino (2014): The Faculties of the Human Mind and the Case of Moral Feeling in Kant’s Philosophy, Berlin, Boston. Henrich, Dieter (1975): „Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnittes von Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘, in: Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag, hrsg. von Alexander Schwan, S. 55–112. Höwing, Thomas (2013): Praktische Lust. Kant über das Verhältnis von Fühlen, Begehren und praktischer Vernunft, Berlin, Boston. Kant, Immanuel (1900ff.): Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (etc.), Berlin. (Zitiert: AA Band, Seiten) ——— (2007): „Naturrecht Feyerabend. Einleitung“, in: Kant e il diritto naturale. L’Introduzione al Naturrecht Feyerabend, Saggio introduttivo, edizione critica e note di Gianluca Sadun Bordoni, Rivista internazionale di filosofia de diritto, 84, S. 236–281. – Zitiert nach der Bandzählung und Paginierung der Akademie-Ausgabe (Band 27, 1316–1329).

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Gewissen und Verbindlichkeit

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Gott als Richter?

Zum Gewissen im § 13 von Kants Tugendlehre Thomas Oehl Im berühmten § 13 der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten1 ringt Kant – unter anderem – mit folgendem Problem: Jeder Gerichtshof – also auch der innere Gerichtshof der Vernunft, das Gewissen – kann seine Funktion nur erfüllen, wenn dem Angeklagten eine souveräne, distinkte und in diesem Sinne autoritäre Stimme als Richter gegenübersteht; wenn es ein Gefälle zwischen Beklagtem und Richter gibt; wenn eine Instanz, wie Kant es selbst ausdrückt, als „machthabende Person“ (AA VI: 439 Anm.) den „Gesetzen den ihnen angemessenen Effect“ verschaffen kann (AA VI: 439). Doch soll der Gerichtshof der Vernunft ein innerer bleiben und der Mensch damit autonom – worin ja gerade Kants aufklärerische Pointe liegt –, so darf diese kraftvoll-richtende Stimme nicht als eine extern gegebene, fremde, heteronome Instanz gedacht werden: Etwa als der schlicht vorausgesetzte Gott oder als die Geschichte in ihrem faktischen Verlauf. Zugespitzt gesagt: Will man einen inneren Gerichtshof denken, droht dieser, ein zahnloser zu werden; ein Gerichtshof, vor dem der Angeklagte nur unverbindlich mit sich selbst spielt. Will man dies vermeiden, muss man scheinbar auf das Konzept eines inneren Gerichtshofes Verzicht leisten und eine extern vorausgesetzte Instanz des Richters denken. Dieser Aporie wird von Kant dadurch Rechnung getragen, dass er anerkennt, eine externalisierte Instanz denken zu mussen, diese jedoch so denken will, dass sie die Autonomie des Menschen nicht verletzt. Das Gewissen habe, so Kant, das Besondere in sich, daß, obzwar dieses sein Geschäfte ein Geschäfte des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genöthigt sieht, es als auf den Geheiß einer anderen Person zu treiben. Denn der Handel ist hier die Führung einer Rechtssache (causa) vor Gericht. Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen Anderen (als den Menschen überhaupt, d. i.) als sich selbst,

1  Kants Werke werden, wie üblich, nach der Akademieausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. im Schema „AA Bandnummer:Seitenzahl“ zitiert, die Kritik der reinen Vernunft mit der Sigle „KrV“ und der A-/B-Paginierung. © koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_007

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zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. (AA VI: 438; Hervorh. T.O.) Ich will im Folgenden dreierlei tun: Im ersten Abschnitt will ich diese Aporie in ihrer philosophisch-theologischen Geschichte näher ausbuchstabieren und so den von ihr ausgehenden Problemdruck sichtbar werden lassen; im zweiten Abschnitt will ich dann zeigen, dass sich bei Kant eine Möglichkeit zur Auflösung der Aporie findet, die sich am Text (und an Textproblemen) des § 13 der Tugendlehre entwickeln lässt. Sie wird ihrerseits ermöglicht durch weitere Differenzierungen in Bezug auf den Gottesbegriff, wie sie im Opus Postumum angedacht werden. Sie will ich im dritten Abschnitt abschließend besprechen. 1

Die Aporie und ihr philosophisch-theologischer Kontext

Die Aporie wird, wie das obige Zitat belegt, nicht von außen an Kant herangetragen, sondern war Kant klar als solche bewusst. Kants Philosophie liegt – historisch wie sachlich – in einer Art Zangengriff einer mächtigen Tradition, die dieser Aporie dadurch entgeht, dass sie sich mit Nachdruck auf die Seite der Externalisierung schlägt. Man kann sie die „protestantische“ Tradition nennen. Sie besagt, an ihren theologischen Wurzeln, etwa Folgendes: Wenn der Mensch – wie es auch Kant in der Religionsschrift tut – als radikal böse zu denken ist, ist nicht zugleich zu denken, dass er eine unverdorbene Stimme in sich trägt, die das unverstellte Wissen um Gut und Böse repräsentiert. Zwar mag es Menschen geben, deren Pein gerade darin besteht, das Böse zu tun und dabei vom Guten zu wissen, doch ist dies nicht die äußerste Spitze des Bösen. Diese besteht vielmehr darin, das Böse guten Gewissens zu tun – und das Böse damit als scheinbar Gutes zu rechtfertigen. Für solche gilt der biblische Satz: „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Das Gewissen ist dann nicht mehr die unverfälschte Stimme Gottes, sondern die Stimme des Teufels oder – was auf dasselbe hinausläuft – das Echo der Stimme des bösen menschlichen Willens, den der radikal böse Mensch ja aufweist. Luthers berühmtes Wort, der Böse sei ein incurvatus in se, bringt all dies plastisch zum Ausdruck: Wer in sich verkrümmt ist, wird keine geradlinige Konfrontation seiner selbst mit dem unverfälscht Guten mehr leisten können; er prolongiert nur, worin er ohnehin verstrickt ist. Kein Geringerer als Hegel hat diese traditionelle Lehre philosophisch gerechtfertigt und modernisiert. Um dies zu tun, bedarf es überhaupt keiner dogmatischen Vorannahmen, wie etwa die Existenz Gottes oder des Teufels. Vielmehr folgt bei Hegel das beschriebene Szenario aus einer genauen Analyse des Bösen als verkehrter, d.h. in sich verfestigter, radikal vereinzelter Subjektivität. Deren institutionalisierte Spitze wiederum ist das Gewissen, wie Hegel

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unmissverständlich klarmacht, wenn er im § 511 seiner Berliner Enzyklopädie von 1830 erklärt: Die „sich auf ihre Spitze stellende reine Gewißheit seiner selbst erscheint in den zwei unmittelbar in einander übergehenden Formen, des Gewissens und des Bösen“. Dass das Gewissen und das Böse in diesem Verhältnis zueinander stehen, begründet er wie folgt: Jenes [sc. das Gewissen] ist der Wille des Guten, welches aber in dieser reinen Subjectivität das nicht Objective, nicht Allgemeine, das Unsagbare ist, und über welches das Subject sich in seiner Einzelheit entscheidend weiß. Das Böse aber ist dieses selbe Wissen seiner Einzelnheit als des Entscheidenden, in sofern sie nicht in dieser Abstraction bleibt, sondern gegen das Gute sich den Inhalt eines subjectiven Interesses gibt.2 Das Gewissen, so Hegel, mag also initial durchaus die Stimme des Guten repräsentieren; doch sobald sie ganz zur Verfügung des vereinzelten Subjekts steht, dieses sie allein hören kann („unsagbar“), dieses allein sie deutet und ihr entlang richtet („sich entscheidend weiß“) und ihm all dies bewusst ist („sich entscheidend weiß“), schlägt das Szenario – durch die Form der Vereinzelung – in das Böse um.3 Bei Hegel markiert diese Passage, die noch der Philosophie des objektiven Geistes – genauer: ihrem zweiten Teil, der Moralität – zugehört, den Drang zum Übergang in höhere Gestaltungs- und Reflexionsformen des Guten und Bösen. Zwei davon sind zentral: Eine diesseits das absoluten Geistes, nämlich die Weltgeschichte als Weltgericht (die offenbar kein innerer Gerichtshof des Menschen ist, sondern ein ihn transzendierender), und eine im absoluten Geist, nämlich die (geoffenbarte) Religion. Das Konzept der Weltgeschichte als Weltgericht erinnert den Menschen daran, die Entscheidung über das So-oderanders-sein-Sollen nicht ohne den beurteilenden Verlauf einer ihn transzendierenden Geschichte antizipierend fällen zu können; und die Religion erinnert ihn daran, dass Gott der einzige ist, bei dem es keinerlei Zweideutigkeit des Guten und Bösen gibt; er ist das einzige Subjekt (das „absolute“ Subjekt, wie Hegel sagt), dessen Subjektivität nicht, wie im Zitat beschrieben, die Form des Vereinzelten und damit Bösen angenommen hat. Diese beiden höheren Formen des Geistes, Weltgeschichte und Religion, dienen, sofern der Mensch sich ihrer bewusst wird, der Artikulation eines adäquaten Szenarios des Gerichtshofs: Eines, in dem der Mensch nicht selbst die finale 2  Beides (wie auch im Folgenden) zitiert nach den Gesammelten Werken, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Hamburg 1968 ff. [hier: GW 20: 493]. 3  Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen von Binkelmann (2007: 322 ff.).

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Instanz ist, sondern durch welches er – durchaus schroff – von außen korrigiert und erschüttert wird, ja werden muss: Denn der Mensch, dessen Gewissen Ausdruck seiner radikalen Ichfixiertheit mit Verzicht auf den Ausgriff auf etwas ihn Übergreifendes ist, kann sich nicht mehr selbst korrigieren. Die von Hegel bereits 1807 beschworene „Umkehrung des Bewußtseyns“,4 das Zugrundegehen des fixen Selbst, ereignet sich stattdessen konkret in realen höheren Formen des Geistes: Die Differenz und Vollstreckung von Gut und Böse geschieht nicht, wie der Mensch meint, durch ihn und in ihm, sondern über ihn. Dies geschieht maßgeblich dadurch, dass er sich – in theoretischer Vernunft – als böses Wesen zu verstehen lernt. Er wird, wenn überhaupt, nicht durch innere moralische Vollzüge gut, sondern durch Einsicht in die Entwicklungsbedürftigkeit seiner an sich zweideutigen Subjektivität. Diese Einsicht und ihre Entwicklung aber generiert er nicht aus sich selbst, sondern erfährt sie als ausgehend vom Absoluten, als „Strahl [des Absoluten], wodurch die Wahrheit uns berührt“.5 Nur wer die Wahrheit als realexterne Instanz erfährt, die – unbeschadet dessen – nur für Subjekte erfahrbar ist, da sie selbst Subjektcharakter, Überführungscharakter hat, erfährt sie überhaupt. Und nur so entsteht ihm, so könnte man sagen, ein wirklich schlechtes Gewissen: wenn er den Irrtum einsieht, der in seiner Abkapselung als vereinzeltes Subjekt bestand. Hegel behauptet also nicht nur, dass das vereinzelte Individuum, der jeweilige Mensch, nicht kompetent ist, über Gut und Böse zu befinden; sondern dass eben diese Vorstellung, er sei es, selbst das eigentliche, radikale, metaphysische Böse ist. Ihren Ausdruck findet sie in der Berufung auf das Gewissen als etwas Inneres, der schmerzhaften Korrektur durch realexterne Kräfte gegenüber Immunes. Es lohnt sich, vor dem Hintergrund dieses verschärften Problemdrucks Kants Konzeption des Gewissens in den Blick zu nehmen. Dass Kant am Gewissensbegriff festhält, hat jedoch – ironischerweise – zugleich einen urlutherischen Zug. Schließlich war es Luther, der sich vor dem Reichstag zu Worms bekanntlich auf sein Gewissen berief. Dies nährt den Verdacht, dass – selbst wenn man den Problemdruck, wie er von der (hegelschen) Tradition ausgeht, anerkennt – das Gewissen nicht so einfach als böses Spiel des Bösen mit sich selbst abgetan werden kann. 2

Eine Analyse der Gottesvorstellung und ihrer Funktion in Kants Theorie des Gewissens

Kant gibt der skizzierten Tradition Kredit, wenn er feststellt: 4  G W 9: 61. 5  G W 9: 54.

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Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. (AA VI: 438) Ein solches, auch von Kant problematisiertes Szenario ist genau dasjenige, von dem die protestantisch-hegelsche Tradition behauptet, dass sie die wohl radikalste und intrikateste Manifestation des Bösen darstellt: Die scheinbare Prüfung des Selbst am Maßstab des Guten, die jedoch durch die Verderbtheit des Prüfenden selbst immerzu in einem Freispruch des eigentlich zu Verurteilenden resultiert und sich daher in einem fortdauernden guten Gewissen ausspricht (das gerade der radikal-fanatische Böse ja auch zumeist hat). Ohne Zweifel ist Kant nun „katholisch“ genug, dass er die Möglichkeit einer gelingenden Gewissensprüfung denken will; doch er ist nicht „pelagianisch“ oder utopistisch genug, um dafür die Lehre vom radikal Bösen und all dasjenige zu leugnen, was eine solche Möglichkeit in Zweifel zieht. Klar ist außerdem: Würde Kant, was ein Theologe zweifellos tun könnte, behaupten, inmitten der an sich bösen Selbstreflexion des Menschen spreche mit Macht die Stimme Gottes hinein, so gäbe er die Autonomie des Menschen einer Theonomie preis. Und noch eine Komplikation tut sich auf: Wenn man, wie Hans Reiner,6 mit Recht behauptet, es lasse sich ein Gewissen denken, das zugleich Gottes Stimme als auch die Stimme unserer Vernunft ist, was sich durch eine schöpfungstheologisch oder stoisch begründete Auffassung der Vernunft als ausgerichtet auf Gott rechtfertigen ließe, ist aus transzendentalphilosophischer Sicht noch immer keine akzeptable Lösung gefunden: Denn eine solche Konzeption beruht auf metaphysischen oder gar theologischen Prämissen, auf die sich die Transzendentalphilosophie nicht stützen kann, will sie sich nicht ihres uranfänglichsten Impetus, der begründeten Zurückweisung natürlichtheologischer Erkenntnisansprüche, berauben (und damit aufhören, Transzendentalphilosophie zu sein): Wir haben, wie Kant im § 18 der Tugendlehre prägnant sagt, „hiebei [bei einer transzendentalphilosophischen Analyse Gottes] nicht ein gegebenes Wesen vor uns, gegen welches uns Verpflichtung obläge: denn da müßte dessen Wirklichkeit allererst durch Erfahrung bewiesen (geoffenbart) sein“ (AA VI: 444). Solches ist – aus erkenntniskritischen wie moralphilosophischen Erwägungen – jedoch kein Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie. Die Aporie, der sich Kant stellen muss, ist also nicht nur an sich, sondern gerade für Kant eine äußerst schwierig zu lösende. 6  Vgl. Reiner (1971: 485 u. 484 ff.).

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Kant muss also eine Sprengung der reinen Selbstbezüglichkeit des Menschen leisten, ohne die Form der Autonomie dadurch aufzulösen. Daher erlegt er sich eine Erklärungslast auf, an der er sich im § 13 der Tugendlehre – und nicht nur dort – abarbeitet. Kants (späte7) Theorie des Gewissens findet sich an mindestens zwei Stellen seines Werks ausbuchstabiert: In der Religionsschrift und in der Metaphysik der Sitten, aus der eingangs zitiert wurde.8 Aus dieser Passage wurde direkt deutlich, dass sich der Ausgriff auf einen „Anderen“ im Gewissen aus reiner Vernunft begründen lässt, ja dass die reine praktische Vernunft uns notwendig zu einem solchen Ausgriff nötigt: Es gilt dabei, dass (i) das Auftreten eines „Anderen“ im Gewissen auf keinen Fall dessen Autonomiestatus beschneiden darf; es bleibt dabei, dass es sich beim Geschäft des Gewissens um „ein Geschäfte des Menschen mit sich selbst“ handelt; (ii) das Auftreten eines „Anderen“ im Gewissen nichts ist, auf das man verzichten könnte (also etwa eine unverbindliche, verzichtbare Illustration), sondern etwas, wodurch der Mensch sich „durch seine Vernunft genötigt sieht“ – eben deshalb, weil das Denken ohne Bezug auf diesen „Anderen“, wenn also „der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt“ wird, als „eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe“ zu gelten hat. Die Passage wird von Kant dahingehend fortgeführt, als er sich der Frage zuwendet, wer als und wie dieser „Andere“ im Gewissen zu denken sei: Dieser Andere mag nun eine wirkliche, oder blos idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft. (AA VI: 438f.) Schmidt/Schönecker weisen in ihrer sehr erhellenden Kommentarskizze9 mit Recht auf einige Probleme hin, die sich – dem Text wie der Sache nach – im Ausgang dieser markanten und für die Interpretation des § 13 zentralen Distinktion ergeben: (iii) Die Distinktion zwischen einer „wirklichen“ und einer „idealischen Person“ kann man auf verschiedene Art lesen: Man kann sie als die zwischen 7  Zum Vergleich mit dem frühen Kant vgl. Knappik/Mayr (2013). 8  Die Religionsschrift muss hier aus Platzgründen außer Acht gelassen werden, obgleich aus der Bedeutung des Gottesbegriffs in Kants Gewissenskonzeption unmittelbar einleuchtet, warum selbige auch ein genuin religionsphilosophisches Thema ist. 9  Schmidt/Schönecker (2014).

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dem „wirklichen“ Mensch (als homo noumenon, als Menschheit) und dem (nur) „idealischen“ Gott lesen, prinzipiell aber auch nur als auf Gott bezogen verstehen, wobei die Distinktion dann daran erinnert, dass wir mit Gott als einem wirklichen Wesen zwar zu rechnen haben („als ob“), ihn affirmativ aber nur idealisch denken dürfen.10 (iv) Kant führt diese Distinktion im Text nicht konsequent fort, sondern hebt im direkt darauffolgenden Absatz mit der Besprechung ausschließlich des „Anderen“ im Sinne von Gott als der „idealischen Person“ an. (v) Am Ende des zitierten Satzes findet sich eine Fußnote, die man – ihrem Gehalte nach – als Explikation der anderen Möglichkeit, nämlich die des „Anderen“ als einer „wirklichen Person“, als Mensch(heit), interpretieren kann; wenngleich es – nicht nur wegen des Fußnotencharakters – einige Asymmetrien zu dem gibt, was über die idealische Person ausgeführt wird. (vi) Das gewichtigste Problem ist aber: Kant scheint, soweit man den Text vor dem Hintergrund von (i)–(iii) kohärent interpretieren kann, beide Möglichkeiten – die „wirkliche Person“ (der Mensch, homo noumenon, die Menschheit) und die „idealische Person“ (Gott) – als einander ausschließend zu präsentieren. So auch das Urteil von Schmidt/Schönecker: Sowohl die Fußnote wie auch die sich anschließenden Absätze, die Gott als inneren Richter thematisieren, lesen sich gewissermaßen jeweils alternativlos bzw. ausschließlich – Kant scheint dem Leser jeweils zu sagen: Die ,andere Person‘ muss als Gott bzw. muss als homo noumenon gedacht werden.11 Dann aber stellt sich die Frage, welcher der beiden in Frage kommenden „Personen“ die Vernunft denkend zu folgen hat – und wieso Kant im Folgenden nicht klar erklärt, warum sie einander ausschließen und welche der beiden Möglichkeiten aus welchen Gründen letztlich zu verwerfen ist. Oder formuliert Kant doch keine ausschließende Alternative? Doch wie soll es nicht ausschließend sein, wenn der Richter einmal als Mensch, einmal als Gott gedacht wird? Lehrt Kant etwa – was allein begrifflich schon absurd wäre – eine irgendwie geartete Identität von Gott und Mensch(heit)? Es lohnt sich, an dieser Stelle noch einmal „vor“ den Text zurückzutreten und zu überlegen, was Kant überhaupt motiviert, die beiden Möglichkeiten zu benennen. Wieso nicht nur eine der beiden? Denken wir zurück an die 10  Zu diesen logischen Zusammenhängen der Postulatenlehre vgl. Oehl (2015a). 11  Schmidt/Schönecker (2014: 309).

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eingangs dargestellte Aporie: Wenn Kant vermeiden will, den „Anderen“ radikal zu externalisieren, tut er gut daran, nicht mit einem Schlag von dem einzelnen Menschen auf Gott „umzustellen“; wenn er jedoch vermeiden will, den „Anderen“ überhaupt nicht denken zu können, tut er gut daran, die – immer schon – prominente Figur Gottes als eines richtenden „Anderen“ ins Spiel zu bringen (man denke an die skizzierte Tradition). Kant löst also die Spannung (zunächst) nicht auf, sondern führt sie fort; man kann dies als Tribut an das dargestellte Problem verstehen. Laut Schmidt/ Schönecker wird die Spannung jedoch niemals aufgelöst, da Kant beide Möglichkeiten – als einander ausschließende – letztlich unvermittelt nebeneinander stehen lässt. Dies kann, wozu Schmidt/Schönecker klar tendieren, als Textproblem moniert werden, das dem Gedankengang des § 13 eine bestehen bleibende Zweideutigkeit und Unabgeschlossenheit einträgt.12 Man kann aber umgekehrt – zumindest versuchsweise – vermuten, dass ein tieferer Sinn darin liegt, dass Kant beide Möglichkeiten stehen lässt. Dieser kann aber, soll er philosophisch ernstzunehmen sein, nicht darin liegen, sich „zwei Türchen offenzuhalten“, sondern nur darin, dass die Spannung zwischen beiden Möglichkeiten darauf hindeutet, dass sie nicht schlicht zugunsten der einen oder anderen – vielleicht aber auf eine andere Weise – aufzulösen ist. Die Spannung z­ wischen einem „zu externen“ und einem „zu internen“ Anderen, die sich in der Alternative Gottes oder des Menschen als des Anderen ausspricht, erweist sich dann als eine, der ein fundamentum in re zuzusprechen und die es daher – in irgendeiner Weise – kritisch fortzuentwickeln gilt. Sie ist nicht durch schlichte Bejahung einer Möglichkeit und der ebenso schlichten Negation der anderen lösbar. Der erste Einwand gegen diesen (noch sehr abstrakt projektierten) Interpretationsweg könnte lauten: Warum aber legt Kant in seinem Text keinerlei Vermittlung nahe, sondern vielmehr, wie Schmidt/Schönecker zeigen konnten, dass es sich um einander ausschließende Alternativen handle? Wieso hat er nicht zumindest angedeutet, dass beides – wenn auch nicht bekannt ist, auf welche Weise – zumindest irgendwie zusammenzudenken, zu vermitteln ist? Gegen diesen Einwand ist dreierlei zu erwidern: (i) Zum einen behaupte ich nicht, dass Kant die Aporie offenkundig auflösen konnte. Sonst gäbe es die gesamte Interpretationsdebatte gar nicht. Wir haben also im Verlauf der weiteren Überlegungen durchaus mit einigen (nicht auflösbaren) Irritationen vom Text her zu rechnen. (ii) Zum zweiten ist Schmidts/Schöneckers These von den ausschließenden Möglichkeiten ihrerseits eine Interpretation, die ich nicht teile. Kant selbst sagt nirgends explizit, dass es sich um ein ausschließendes „entweder Gott oder Mensch“ handle. (iii) Zum dritten glaube ich, dass die von mir angedeutete Lesart nicht dadurch unwahrscheinlicher 12  Vgl. Schmidt/Schönecker (2014: 311).

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wird, dass Kant vordergründig nicht von einer Vermittlung oder Vereinigung beider Möglichkeiten spricht. Denn wie ich sogleich zeigen werde, meint mein Interpretationsvorschlag keine vorschnelle Vermittlung, die einer Verwässerung oder gar Vergleichgültigung der beiden Möglichkeiten gleichkäme. Vermittlungen erzeugen ja nicht notwendig lauwarme Zwittergestalten. Wenn – um ein Beispiel zu nennen – Hegel behauptet, der Herr sei der Knecht des Knechtes, so wird damit ja gerade nicht gesagt, der Herr werde zu einem lauwarmen Herrknecht und der Knecht zu einem ebenso lauwarmen Knechtherrn – und beide sind am Ende, ganz undialektisch, dasselbe. Sondern beide sind im Vollsinne als Herren und im Vollsinne als Knechte zu betrachten – gerade darin liegt ja ihr eigentümlich dialektisches Verhältnis. Oder, um ein alltäglicheres Beispiel anzuführen: Das Gefühl, dass Liebe und Hass – an sich unvereinbar – sich vereinen können, besagt nicht, dass nur noch eines von beiden wirklich wäre; auch nicht, dass nun eine lauwarme Mischung aus beiden vorliegt, sondern dass jemand zugleich leidenschaftlich liebt und ebenso leidenschaftlich hasst. Darin liegt ja die Tragik von Catulls berühmtem Gedicht. Doch worin soll hier – im Falle des Anderen als Mensch(heit) oder Gott – ein Vermittlungsverhältnis liegen? Um dieses zu entdecken, müssen wir zunächst eine weitere, entscheidende Präzisierung vornehmen. Kant spricht nämlich (zunächst) nicht davon, dass wir uns den Richter als einen Anderen (von uns, als Menschen, unterschiedenen), sondern dass wir uns das Geschäft des Gewissens als auf Geheiß einer anderen Person zu treibendes denken (müssen). Sehen wir uns den Wortlaut im Kontext an: Die Besonderheit des Gewissens bestehe, so Kant, darin, dass obzwar dieses sein Geschäfte ein Geschäfte des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genöthigt sieht, es als auf den Geheiß einer anderen Person zu treiben. (AA VI: 438; Hervorh. T.O.) Die gedoppelte, nahezu inflationär anmutende Verwendung von „Geschäfte“ fällt ebenso ins Auge wie die unmittelbar damit verbundene Ausdrucksweise, selbiges „auf Geheiß einer anderen Person zu treiben“. Die These Kants ist also nicht (primär): (T1) X, der Andere, ist (auch) Richter und ich bin Richter. – Was umgehend zur Problemfrage führt: Wer ist nun eigentlich Richter? Sondern auch, ja primär:

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(T2) Das Geschäft des Gewissens wird auf Geheiß von X betrieben und X ist ein Anderer als ich. Meine zentrale Interpretationsthese ist nun: (T2) impliziert nicht die Problemfrage, die aus (T1) unmittelbar resultiert. Denn: Dass das Geschäft des Gewissens auf das Geheiß von X betrieben wird, impliziert nicht, dass dieses ausschließlich auf Geheiß von X betrieben werden muss und nicht zugleich auf dasjenige von Y betrieben werden kann (wohingegen in (T1) zwei Richter gedacht werden müssten, was den Prozess ad absurdum führen würde und von Kants Text nicht abgedeckt wäre, oder ein Richter, der zugleich Gott als auch der Mensch ist, was logisch und begrifflich absurd wäre). Um meine These zu begründen, bedarf es einer näheren Analyse dessen, was „auf das Geheiß von X hin handeln“ bedeutet: Die aufgewiesene Differenz zwischen den Implikationen von (T1) und (T2) liegt in einer offenkundigen Asymmetrie zwischen (T1) und (T2) begründet: In (T1) wird eine Funktion (die des Richters) benannt und nach ihrer Besetzung gefragt. Dies impliziert zweierlei: (T1a) Da es sich um eine Funktion handelt, die nur einmal zu besetzen ist, ist kein Platz für zwei Akteure (Mensch und Gott). (T1b) Beide Akteure können aber auch nicht auf einen reduziert werden, da Mensch und Gott im maximalen Sinne nichtidentisch sind. Es gehört, wie in (T1a) ausgedrückt, zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren, dass nur einer der Richter ist.13 Und es gehört, wie in (T1b) ausgedrückt, zum Begriff Gottes und des Menschen, dass sie nicht identisch sind und so ihr gleichzeitiges Auftreten an einer Funktionsstelle nicht als unproblematisch abgetan werden kann. Vor diesem Hintergrund sieht es also tatsächlich so aus, wie Schmidt/Schönecker schreiben: Dass es sich bei Mensch und Gott um ausschließende Alternativen für die Funktion des Richters handelt. Man kann aber, wie in (T2), als eigentlichem und primärem Wortlaut des kantischen Textes, angedeutet, diese Funktion des Richters auch unter dem Aspekt des Vollzugs14 – und nicht der personalen Besetzung – deuten. Der 13  Wir sehen von der Möglichkeit eines Gerichts, das aus mehreren Richtern besteht, ab. Dies gibt es zwar in der Praxis der Rechtsprechung, taugt aber nicht für das hier verhandelte Sachproblem: Gott und Mensch bilden sicherlich kein Richterkollegium. 14  Auch Schmidt/Schönecker (2014: 302) heben den Vollzugscharakter implizit dadurch hervor, dass sie Kants Erklärung des Gewissens als praktische Vernunft dahingehend

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Vollzug des Richters ist das Urteilen, „loszusprechen oder zu verdammen“ (AA VI: 440), wie Kant selbst unmissverständlich deutlich macht. Dies aber kann sehr wohl von mehreren Seiten zugleich geschehen. Ein (nach außen verlagertes) Beispiel: Ein Kind kann sowohl von seiner Lehrerin als auch seiner Mutter dafür verurteilt werden, dass es eine Mitschülerin geschlagen hat. Das Kind steht, sozusagen, in mehreren Gerichtshöfen – entsprechend der verschiedenen Rollen, die es ausfüllt (in diesem Fall: Schülerin und Tochter). Doch ganz analog dazu lässt sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Gott und Mensch im Gewissen nicht auflösen (was, angesichts des „äußerlichen“ Charakters des Beispiels, auch nicht überrascht). Denn das würde bedeuten, den Menschen einmal als Geschöpf Gottes (unter dem Gericht Gottes) und einmal als autonom (mit sich selbst im Gericht) zu denken. Wie bereits eingangs gesagt, kann das zweifellos kohärent gedacht werden. Aber: Zum einen beruht es auf Voraussetzungen, die transzendentalphilosophisch nicht einholbar sind (wieso sollte der Mensch überhaupt unter dem Gericht Gottes stehen?), zum anderen erklärt es nicht, was erklärt werden soll: Nämlich den autonomen Akt des Gewissens. Wenn man ihm einen theonomen an die Seite stellt, so mag die (vermeintliche) Schwäche des autonomen behoben sein. Doch das ist nicht das kantische Programm: Kant will ausschließlich einen autonomen Gewissensakt denken – und damit dieser funktioniert und keine Farce wird, bedarf es ja zuallererst des Ausgriffs auf Gott als den Anderen. Mit anderen Worten: Man muss in den autonomen Akt den theonomen einbilden, sodass das Zustandekommen des letzteren von ersterem abhängig ist. Können wir, bevor wir diese Frage direkt angehen, hierzu ein alltäglicheres, zugänglicheres Beispiel finden? Das ist, da es sich beim Geschäft des Gewissens um etwas durchaus Exklusives handelt, nicht einfach. Aber als eine erste Annäherung folgendes Beispiel: Wer sich gegen Unterdrückung von Minderheiten einsetzt, dient, so sagen wir mit Recht, der Menschheit. Nun steht die Menschheit mit den Minderheiten, die ihrerseits Gruppen von Menschen sind, in einer internen Relation. Und man wird der Menschheit nicht in abstracto, sondern nur in concreto, eben z.B. durch Minderheitenschutz, dienen können. Insofern man dies tut, dient man aber – und das ist nun wichtig: uno eodem actu – der Menschheit. Dies zu sagen, wird dadurch aber nicht überflüssig, da „eine Minderheit schützen“ und „der Menschheit dienen“ nicht das Identische besagen – und es überdies viele konkrete Wege gibt, der Menschheit zu dienen. Wir können also für die vollzugstheoretische Fassung des Gewissens (T2) festhalten: interpretieren, dass das Gewissen „die ,praktische Vernunft‘ ist, und zwar insofern sie (diese Vernunft) etwas Bestimmtes tut“.

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(T2a) Da es sich bei (T2) um einen Vollzug handelt, ist Platz für zwei Instanzen (im eben genannten Beispiel: Die Minderheiten und die Menschheit; wie sich nachher zeigen wird, im Gewissensgeschäft eben auch für Mensch und Gott). (T2b) Beide Instanzen können auch hier nicht auf einen reduziert werden, da sie nicht identisch sind.15 In (T2a) – also dem Platz für zwei Instanzen – liegt also in nuce die Antwort auf die Frage, warum Kant sowohl den Menschen als auch den Anderen, Gott, als Richter denken kann und denkt. Diese Lösung gewinnt man jedoch nur, wenn man den Richter von seiner Vollzugsfunktion (v.a. dem Verurteilen) her denkt, und nicht diese Funktion vergisst oder als nachträgliches Anhängsel seiner exklusiven, nur einmal besetzten Funktion versteht. Wenden wir die gewonnenen Gedanken nun auf die kantische Auffassung des Gewissens an: Das „Geschäft“ des Gewissens ist ein Akt, bestehend in zwei Aktaspekten,16 die man beispielsweise wie folgt beschreiben kann: „Selbstprüfung und -richtung des Menschen“ und „sich-Verantworten des Menschen vor Gott und Gerichtetwerden des Menschen von Gott“ (wobei letzteres, wie später zu zeigen ist, keine Behauptung von Gottes Existenz impliziert). Sofern ich mich, wie Kant annimmt, im Gewissen untrüglich als schuldig befinde, stehe ich uno eodem actu unter dem Urteilsspruch Gottes (so ist dem „Anderen“ Rechnung getragen); wenn ich jedoch meine, nur unter dem Urteilsspruch Gottes zu stehen, versündige ich mich sowohl an mir selbst, am Menschen, als auch an Gott (so ist dem unbedingten Prius der Autonomie Rechnung getragen: ein Mensch der sich nur unter das Urteil Gottes stellt (oder meint, stellen zu können), ist darin sich selbst, der Menschheit und Gott zugleich zuwider). Unter beider Urteilsspruch stehe ich gleichermaßen. Meine Selbstverurteilung und Gottes Verurteilung meiner selbst sind zwei Aktaspekte am einen Akt des Urteils meines Gewissens. Dem entspricht die – vor allem im Katholizismus, aber auch im common sense – beliebte Redeweise 15  Es zeigt sich also, dass Gott und Mensch(heit) als Instanzen des „Anderen“ im Gewissen einander nicht ausschließen, wenn man sie in den dargestellten Vollzugs- und „auf Geheiß von“-Kontext einzeichnet. Als Personen bleiben sie natürlich unvereinbar, d.h. Gott und Mensch sind radikal nichtidentisch und so in der Tat einander ausschließende Alternativen. 16  Der Aspektbegriff ist hier wichtig, da mit ihm ausgedrückt ist, dass das „auf Geheiß des Menschen“ und das „auf das Geheiß Gottes“ sich vollziehende Gewissensgeschäft zwar beider Momente konstitutiv bedarf, zugleich aber, wie für Aspekte allgemein kennzeichnend, jedes der beiden zugunsten des jeweils anderen in der Selbstwahrnehmung des Menschen in den Hintergrund treten kann.

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vom Gewissen als „innerer Stimme“. Dieses Bild enthält ebenfalls einen Akt (das Auftreten einer einzigen Stimme), die aus mir selbst kommt, aber zugleich etwas „Höheres“ zur Geltung bringt. Wenn wir – im Alltag – dieses Bild ­gebrauchen, lassen wir uns mit Recht nicht von etwaigen Inkompatibilitäten des „Inneren“ und des „Höheren“ irre machen. Sondern wir wissen, dass es unsere „innere“ Stimme ist, die aber, wie wir unmittelbar erfahren und spüren,17 etwas „Höheres“ zur Geltung bringt, als wir selbst in unserem faktischen Sosein sind und tun.18 Nun will ich meinen Interpretationsvorschlag näher entfalten, in mehreren Schritten: (0: Die Logik der Metaphorik des § 13) Wie schon gezeigt, lässt sich mit meinem Interpretationsvorschlag ein Zugang zur Metaphorik des Gewissens als Gerichtshof finden. Licht ins dortige Dunkel kann er nicht überall bringen, aber doch, so scheint mir, in mindestens folgenden zwei (weiteren) Hinsichten: (i) Wer oder was genau entspricht im Gewissen dem Ankläger in einem Gerichtshof? (ii) Wie bringt man die prima facie widersprüchlichen Zuordnungen von Gewissen und Richter durch Kant zusammen: Einmal wird der Richter als Richter im Gerichtsprozess, welcher seinerseits in toto eine Metapher für das Gewissen ist, bezeichnet, an zwei Stellen heißt es aber, das Gewissen (als solches) sei der Richter?19 17  „Spüren“ ist hier insofern passend, als auch Kant die im Gewissen vorkommende „Wirkung [des moralischen Gesetzes] aufs Gemüt“ und somit dessen Affektionscharakter unterstreicht (AA VI: 399). 18  Von daher ist es auch zu verstehen, dass Kant keine Schwierigkeiten hat, in diesem Kontext von einem „doppelte[n] Selbst“ des Menschen zu reden (AA VI: 439 Anm.) – obwohl er offenbar keine transzendentale Schizophrenie des Menschen lehren will. 19  Hier ist die Darstellung von Schmidt/Schönecker, soweit ich sehe, ausnahmsweise ungenau. Denn sie behaupten mit explizitem Bezug auf AA VI: 438.28, Kant bezeichne „das Gewissen wiederholt als ,andere[.] Person‘ “ (306). Doch das sagt Kant an besagter Stelle nicht. Vielmehr spricht er davon, dass das Geschäft des Gewissens auf Geheiß einer anderen Person betrieben werde, was ja gerade der zentrale Beleg für meinen Interpretationsvorschlag ist, zugleich aber auch für die Frage, wie die Analogie zwischen Gewissen und Gericht (und den in ihm vorkommenden Personen) näher funktioniert, Einschlägigkeit besitzt. Ein ähnliches Problem der Akzentsetzung findet sich in Andrea Essers Kommentierung des § 13: Man wird, wie gezeigt, dem kantischen Text und der darin verhandelten Sachfrage nur gerecht, indem man den Aktcharakter des Gewissens herausstellt. Scheinbar statische Faktoren – wie am Gewissensvollzug beteiligte Figuren (wie z.B. der Richter) – müssen in diesem Aktzusammenhang verstanden werden.

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Ad (i): In der Tat lässt Kant es offen, wer oder was der Ankläger ist. Dies halte ich aber für kein Problem (und vermute, dass Kant es ebenso gesehen und deshalb nicht weiter problematisiert hat), denn: Der Ankläger in unserem Gewissen ist jede Irritation, die uns zur Selbstprüfung verleitet. Diese Irritation muss nicht berechtigt sein.20 Der Richter hingegen ist derjenige, der – mit Kraft und unantastbar – das Urteil spricht: den machtvollen Akt ausübt, „ihn [sc. den Angeklagten] loszusprechen oder zu verdammen“ (AA VI: 440). Wenn der Ankläger zu unrecht angeklagt hat, spricht der Richter den Angeklagten los und verdammt, sozusagen, den Ankläger. Die Notwendigkeit des Anklägers in der Metapher ergibt sich somit aus einer schlicht realistisch-deskriptiven Analyse dessen, was in unserem Gewissen stattfindet.21

Es verstellt daher den Blick auf die Sache, wenn man, wie Andrea Esser, – den eben erwähnten Zusammenhang geradezu umkehrend – von einer „Personification of Conscience as Inner Judge and God“ spricht (Esser (2013: 281)). Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund meiner Interpretation ein Problem, sondern selbst auf rein exegetischer Ebene: Zwar ist richtig, dass Kant das Gewissen als inneren Richter und diesen Richter als Gott denkt – doch zuvor bestimmt er den Richter als eine Figur im Gerichtshof und Gott als den Anderen, auf dessen Geheiß das Geschäft des Gewissens betrieben wird. Lässt man dies außer Acht, ist der Hinweis auf eine „Personification of Conscience“ geradezu verkehrt: Denn es wird ja letztlich nicht das Gewissen personifiziert, sondern im Vollzugscharakter des Gewissens der Ausgriff auf eine andere Person denkbar. 20  In der nicht expliziten Bestimmung der Funktionsstelle „Ankläger“ sehen Schmidt/ Schönecker (2014: 296) ein großes Problem. Möglicherweise steht bei ihnen die Prämisse im Hintergrund, dass sich im Gewissen nichts moralisch Unrechtes rührt, also auch keine unberechtigte Anklage. Doch das scheint mir Kant nicht vertreten zu müssen. Über jeden Zweifel erhaben muss lediglich der Richter sein. An anderer Stelle (294) sprechen Schmidt/Schönecker selbst von „Subjektrelevanz“, die das distinkte Kriterium dafür ist, dass etwas zur Gewissenssache wird. Zur Realität des Subjekts, in welchem und für welches etwas zur „Gewissenssache“ wird, scheint mir durchaus die Möglichkeit der Irritation durch unberechtigte Anklagen zu gehören. Dass Kant so gedacht hat, zeigt m.E. auch klar die Schlusspassage des § 13: Dort spricht Kant davon, dass jemand nach dem „trostreichen Zuspruch seines Gewissens“, den er als „Beruhigung nach vorhergegangener Bangigkeit“ erfährt, also „ein Frohsein, der Gefahr, strafbar befunden zu werden, entgangen zu sein“, empfindet (AA VI: 440). Welchen Sinn sollte diese Bemerkung machen, wenn der Streit im Gewissen zwischen Ankläger und Angeklagten nicht auch zuungunsten des Anklägers ausgehen könnten, selbiger also zu unrecht die Klage erhob? 21  Im Übrigen halte ich es für unproblematisch, im Falle einer berechtigten Anklage Gott als den Ankläger und Richter zugleich zu denken. Denn die konstitutive Nichtvereinbarkeit beider Rollen vor Gericht gilt nur für unvollkommene Wesen, nicht aber für Gott. Ebenso die strikte (personale) Trennung von Legislative und Judikative. Sie ist auf Gott nicht

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Ad (ii): Behandelt man Problem (ii) ohne meinen Interpretationsvorschlag, hat man es mit einem unlösbaren Widerspruch zu tun, genauer: einer Verwischung von Metapher und dem, wofür sie Metapher sein soll. Entweder der Gerichtshof als solcher ist eine Metapher für das Gewissen und eine Rolle in der Metapher diejenige des Richters (dabei mag dem Richter eine entsprechende Größe im Gewissen entsprechen); oder das Gewissen als solches ist der Richter. Nun könnte man – notgedrungen – diese Unstimmigkeit als „laxe“ Redeweise Kants abtun. Dies wäre jedoch exegetisch ungenau und sachlich unplausibel: Denn wenn man sagt, es laufe auf dasselbe hinaus, ob Gott (oder der Mensch) der Richter ist oder das Gewissen, bedeutet dies – ohne meine Interpretation –, dass X (Gott oder Mensch) und Gewissen schlicht identifiziert würden, was offenbar unsinnig und gänzlich wider die kantischen Intentionen ist. In meiner Lesart lässt sich dieser prima facie-Widerspruch jedoch auflösen: Denn sich vorstellen, auf Geheiß Gottes und zugleich auf Geheiß seiner selbst (als Mensch) gerichtet, verurteilt zu werden, beschreibt eben den Vollzug des einen Gewissens(aktes), unterschieden in zwei Aktaspekte. Wenn aber „auf Geheiß von A gerichtet“ und „auf Geheiß von B gerichtet“ zwei Aktaspekte eines Aktes (nämlich des Gewissensvollzuges) sind, so kann man sagen, dass das Gewissen (der Gewissensvollzug) der eine Akt des Richtens in zwei Aktaspekten – nämlich als Richten auf Geheiß Gottes und auf Geheiß meiner selbst als Mensch – zu denken ist. Und da Kant eben die Aktredeweise nicht streng durchhält (und auch gar nicht durchhalten muss22), kann er – im erläuterten Sinne – statt „Der Gewissensvollzug ist der eine Akt des Richtens in zwei Aktaspekten des Richtens“ kurz sagen „Das Gewissen ist der Richter“. (1: Autonomie) Wahrt die dargelegte Position die Autonomie als Form des Gewissens? Führt die Involvierung Gottes nicht doch zu einer Beschneidung der Autonomie? Das wäre nur dann der Fall, wenn der Gottesbezug dem Selbstbezug begründend oder zweckkausal vorgeordnet wäre: Etwa, wenn ich selbst nur deshalb meinem Gewissen folgen würde, weil ich seine Stimme als von Gott autorisiert betrachte (oder damit ich Gnade vor Gott erlange).23 Doch das impliziert die hier vorgetragene Auffassung nicht: Vielmehr besagt anwendbar, da nicht vonnöten, sodass Kant – auch im § 13 – sowohl von Gott als Richter als auch als Gesetzgeber sprechen kann (vgl. AA VI: 439). 22  Das ist sprachanalytisch klar: Wer von „Fußball“ redet, kann damit das „Fußballspielen“ meinen; wer von einer „Klausur“ redet, das „Klausurschreiben“ meinen. Er muss dafür nicht die jeweils zweitgenannte, explizit dynamische Ausdrucksweise verwenden. 23  In diese Falle tappen fast alle Interpretationen, die Kants schwierige Lehre von Gott als dem Anderen im Gewissen überhaupt berücksichtigen und ernst nehmen. So schreibt etwa Willem Heubült über das von ihm so genannte „Idealgewissen“: „Die Autonomie vollendet sich hier in der Theonomie, bzw. sie begründet sich sekundär aus ihr.“ (Heubült (1980: 452)).

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sie, dass der Mensch seinem Gewissen folgen muss, weil er es sich selbst – als Mensch – und damit der Menschheit in toto schuldet. Insofern er ihm aber folgt – und damit der Menschheit entspricht –, entspricht er zugleich (uno eodem actu) dem, was Gott von ihm „fordert“. Man kann – theologisch durchaus nicht orthodox – soweit gehen, zu sagen, dass Gott als derjenige zu denken ist, der vom Menschen fordert, zunächst auf sich selbst – als Mensch – Acht zu geben und nicht, sich selbst überspringend, alles primär oder gar nur „um Gottes willen“ zu tun. Diese Auffassung ist keine egozentrische; denn sie besagt ja nicht, dass der Mensch im Gewissen seinen Partikularinteressen und -defekten, sondern dem, was er sich als Mensch (als Repräsentant der Menschheit) schuldet, folgen soll. Und das sich-um-sein-Menschsein-Kümmern (in einem, wie gesagt, nichtpartikularen Sinne) ist sodann in Aktunion mit dem GottesWillen-Entsprechen zu denken. Beide Aktaspekte richten sich auf einen dem im Gewissen zu richtenden (bösen) Individuum gegenüber „Anderen“ aus: auf die Menschheit, von der ich mich im partikularen Bösesein entfremdet habe, die somit ein „Anderes“ ist, bzw. auf Gott, der gegenüber dem Menschen immerzu ein „Anderer“ ist. Somit kann Kant das Gewissen, anders als Hegel, so denken, dass ihm die korrigierende Kraft zugehörig und nicht äußerlich ist; er integriert die Externalisierung in die Autonomiestruktur des Gewissens, von der aus die Externalisierung zuallererst recht zu verstehen ist. Diese Priorisierung der Autonomie mag aus Sicht der Religion/Theologie problematisch sein, nicht jedoch die Aktunion von Gottes- und Selbstverhältnisvollzug. Diese findet ihren Ausdruck nämlich auch in zwei – von Kant wohl geschätzten – zentralen, zusammenfassenden Theologoumena der positiven Religion des Christentums, die im Folgenden besprochen werden sollen.24 (2: Biblisch-theologische Illustrationen) Zum einen in der Sündenlehre. Sünde (oder Sündigen) wird – theologischerseits – uno eodem actu als gestörtes Gottes- und gestörtes Selbstverhältnis des Menschen gedeutet.25 In Kontraposition: Wäre der Mensch kein Sünder, hätte er uno eodem actu ein intaktes Gottes- und ein intaktes Selbstverhältnis. Zu einem verdorbenen Selbstverhältnis kommt es nach Kant gerade dann, wenn der Mensch meint, 24  Eine (sukzessionslogische) Priorisierung des Dienstes am Menschen vor dem Dienst an Gott mag man andererseits in folgendem berühmten Wort Jesu erkennen: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40b). 25  Vgl. paradigmatisch Pannenberg (1991: 298 f.). Pannenberg versteht, ohne seine Nähe zu Kant darin zu bemerken, seine Sündenlehre als wesentlich anthropologisch. Sie erhielte ihre Plausibilität im Kern daher auch unabhängig von anderen materialdogmatischen Thesen (wie wir am Schluss sehen werden, sogar unabhängig von der Frage nach der Existenz Gottes). Mit Kant ist, wie wir näher sehen werden, jedoch ein Primat des Selbstverhältnisses vor dem Gottesverhältnis zu denken, das die übliche theologische Ordnung umkehrt.

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nur auf sein intaktes Gottesverhältnis Acht geben zu müssen. Solches Verhalten bezeichnet Kant als „Afterdienst, d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes ist, wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade entgegen gehandelt wird.“ (VI: 168) Dieselbe Aktlogik spricht sich auch im sog. „Doppelgebot der Liebe“ aus, wie es sich in Matthäus 22,38–39 findet: [W]elches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete [. . .]: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.“ (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mose 19,18). In diesen Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. In diesen Worten wird genau diejenige in sich differenzierte Aktstruktur zum Ausdruck gebracht, die ich als Interpretation für die Aufhebung der Spannung zwischen Menschheits- und Gottesbezug im Gewissen nach Kant vorschlage. Im „Doppelgebot der Liebe“ wird der (liebende) Gottesbezug dem (liebenden) Menschheitsbezug – differenziert in Nächsten- und Selbstliebe – „gleichgesetzt“. „Gleich“ bedeutet hier jedoch keinen quantitativ zu verstehenden Grad. Im Griechischen steht für „gleich“ nämlich nicht das quantitative „ἴσος“ (isos), sondern das qualitative „ὁμοῖος“ (homoios), das soviel bedeutet wie „gleichartig“ und – was dadurch impliziert ist – auch „gleichwertig“. Es wird mit dem Menschheitsbezug also nicht nur ein genauso wichtiges, sondern ein im Maximum des Gottesbezuges notwendig und irreduzibel mitzudenkendes Gebot angefügt. Dieses wird aber nicht einfach hinzugedacht, als eine Art äußerliche Ergänzung, sondern ist „gleichartig“, d.h. gehört in den Gottesbezug konstitutiv hinein. Darin liegt die komplexe innere Struktur der Einheit dieser beiden Gebote: Sie sind – natürlich – unterschieden; aber sie sind nicht getrennt und auch nicht trennbar. Die Erfüllung des einen ist nicht ohne Erfüllung des anderen uno eodem actu möglich. Die Erfüllung des einen und die Erfüllung des anderen konstituieren also nicht zwei verschiedene Akte, sondern Aktaspekte einer Aktunion. Ganz analog bei Kant, wie ich oben darzulegen versuchte. Doch es handelt sich hier um mehr als nur eine Analogie oder ein Illustrationsverhältnis: Die von mir vorgeschlagene Deutung des Doppelgebots der Liebe drückt den kantischen Gedanken – allenfalls religionsphilosophisch gewendet und nicht (explizit) sub specie Gewissen – aus.26 26  Wenngleich zuzugeben ist, dass die narrative Erläuterung des Doppelgebots der Liebe durch Jesus unkantisch ist: Dort wird, so scheint es, das situative Mitleidsgefühl anstatt des von Kant gelehrten universalen der-Menschheit-in-jeder-Person-Dienens beschworen.

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(3: Die asymmetrische Vermittlung von Gott, Menschheit und je meinem Selbst) Es ist für die kantische Moralphilosophie insgesamt kennzeichnend, einen nicht synthetisierbaren, geschweige denn reduzierbaren, Unterschied zwischen mir selbst (und dem Mitmenschen), als je individueller Person, der Menschheit als solcher und Gott zu machen. Dabei verläuft die erste Trennlinie zwischen meinem Selbstverhältnis, meinem Verhältnis zum anderen Menschen und zur Menschheit insgesamt auf der einen und Gott auf der anderen Seite. Die erstgenannte Seite findet sich artikuliert im moralischen Selbstbewusstsein, das ich durch die Gewissheit des Sittengesetzes habe. Es wird dort in einen differenzierten Zusammenhang gebracht, den am plastischsten die „Menschheitszweckformel“ des kategorischen Imperativs fasst: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. (AA IV: 429) Gott hingegen, die zweitgenannte Seite, ist dem Menschen zwar mit Gewissheit des moralischen Glaubens,27 nicht aber als Gegenstand des moralischen Wissens, sondern nur von diesem – zwar notwendig, aber nachgeordnet28 – abgeleitet gegeben. Kurzum: Gott ist – in Form der Postulatenlehre – dadurch abgehoben, dem Menschen nur im Ausgang seines moralischen Bewusstseins, als dessen zu denken aufgegebener Kohärenzhorizont, zugänglich zu werden. Kant trägt dieser unbedingten Vorordnung des normativen Selbstbezugs des Menschen vor einem normativen Selbstbezug zu Gott (sprachlich) auch dadurch Rechnung, dass er es verneint, Pflichten als direkte Pflichten gegen Gott zu denken (vgl. AA VI: 443 f.).29 27  So jedenfalls die Lehre im Traktat Vom Meinen, Wissen und Glauben (KrV A 820–831/ B 848–859). 28  Vgl. die Vorrede zur A-Auflage der Religionsschrift: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. [. . .] Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keinesweges der Religion, sondern Vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug. [. . .] Obzwar aber die Moral zu ihrem eigenen Behuf keiner Zweckvorstellung Bedarf, die vor der Willensbestimmung vorhergehen müßte, so kann es doch wohl sein, daß sie auf einen solchen Zweck eine nothwendige Beziehung habe, nämlich nicht als auf den Grund, sondern als auf die nothwendigen Folgen der Maximen, die jenen gemäß genommen werden.“ (AA VI: 3 f.). 29  Vgl. dazu auch Esser (2013: v.a. 272).

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(4: Die Notwendigkeit der Gewissenspein) Nun stellt sich allerdings die Frage, wie die angesprochenen Lehrstücke – Sünde und Moral – in ihrer kantischen Form zusammenzudenken sind? Die in der Religionsschrift rezipierte und transformierte Lehre vom radikalen Bösen besagt so schlicht wie klar: Alle Menschen haben sich zum Bösen entschieden; und das Böse besteht darin, nicht das oben zitierte Sittengesetz zum obersten Bestimmungsgrund seiner Maximen zu machen. Das impliziert aber, nach meiner Lesart: Kein intaktes Selbst-, Menschheits- und Gottverhältnis zu haben. Wenn nun aber meine Lesart zugleich behauptet, im Gewissen liege dieselbe Struktur – folgt daraus nicht, dass wir auch allesamt kein Gewissen haben dürften? Das spräche gegen meine Lesart, da Kant genau das Gegenteil, nämlich die Nichtabweisbarkeit des Gewissens, behauptet.30 Mit anderen Worten: Wenn Kant nicht die These vertritt, dass wir, insofern wir böse sind, auch kein Gewissen haben, welchen Unterschied haben wir dann zwischen der (misslingenden) Pflichterfüllung und dem (gelingenden) Gewissensvollzug einzuzeichnen? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich daraus, dass die richtende Funktion des Gewissens bei Kant nach der Willensbestimmung erfolgt. Das Gewissen bei Kant kennt zwei Funktionstypen: Einen präfaktischen und einen postfaktischen. Schmidt/Schönecker weisen mit Recht darauf hin, dass deren näheres Verhältnis zueinander, besonders aber die Rolle der präfaktischen Funktionen äußerst unklar ist.31 Fakt ist aber, dass Kant die (analogische) Dreiteilung des Gewissens(prozesses) in Angeklagter, Ankläger/Anklage und Richter erst in explizit postfaktischem Szenario veranschlagt: „Wenn die That beschlossen ist, tritt im Gewissen zuerst der Ankläger, aber zugleich mit ihm auch ein Anwalt (Advocat) auf [. . .]“ (AA VI: 440). Und „so wird das Gewissen als subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden müssen“ (AA VI: 439). Das Gewissen – in seiner richtenden Funktion, die mich in dieser Untersuchung beschäftigt – tritt also erst nach Beschluss einer Tat auf. Da für Kant die Willensbestimmung das moralisch Zurechenbare und somit selbst eine Tat ist (und der Wille, wenn keine äußeren Hindernisse entgegenstehen, eo ipso eine Handlung bewirkt), können wir „nach Beschluss einer Tat“ bereits als „postfaktisch“ im kantischen Sinne

30  „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt.“ (AA VI: 438). 31  Schmidt/Schönecker (2014: 293 ff.).

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verstehen.32 Damit ist aber klar: Das Gewissen, insofern es richtend ist, vollzieht sich nicht im Kontext der Willensbestimmung, sondern immer erst danach – ganz wie wir es auch alltäglich empfinden (als quälend, bezogen auf etwas, das schon geschehen ist); und ganz entsprechend der Analogie: Kein Gericht beschäftigt sich mit Straftaten, die noch nicht begangen wurden. So ist leicht zu erklären, warum seine Wirklichkeit in jedem Subjekt nicht einmal der radikalsten Fassung der Lehre vom radikal Bösen widerspricht: Denn es lässt sich ohne Widerspruch denken, dass alle Menschen ausschließlich Böses tun, und zugleich all diese Menschen mit absoluter Sicherheit dafür die nachträgliche, verdiente Gewissenspein leiden: „[W]enn es aber zur That kommt oder gekommen ist, so spricht das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich.“33 (AA VI: 401) So lässt sich die in meiner Interpretation vorgeschlagene Struktur einer in Aktaspekte unterschiedenen Aktunion weiter aufrecht erhalten, nämlich sub specie Pein: Ich begebe mich – um der Menschheit und meiner selbst willen – in Pein; ich bin es mir schuldig, mich peinsam zu fühlen angesichts meines Fehlens, eines Wollens, „worüber [mich m]ein Gewissen nachher peinigen kann“ (AA VI: 394). Und diese Pein ist eine unendliche Pein, mithin eine Pein, die ich mir uno eodem actu als Pein vor und von Gott, als, wie Kant es ausdrückt, „Verantwortung“ vor ihm vorstellen muss und die Macht Gottes so höchst real erfahre. „Nach Schließung der Acten thut der innere Richter, als machthabende Person, den Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische Folgen der That“, so Kant (AA VI: 439 Anm.). Nun mag es so scheinen, als sei Kants Gewissenstheorie maximal sadistisch: Zwar denkt sie dem Menschen nicht (oder nur sehr eingeschränkt) die Möglichkeit zu, Gutes zu wollen und gut zu handeln, dafür aber – im Falle des (zumeist oder immer) vorliegenden bösen Willens – mit Notwendigkeit die Gewissenspein. Abgesehen davon, dass ein solcher „Sadismus-Vorwurf“ kein Argument gegen die Theorie ist, entpuppt er sich als kurzsichtig. Denn vielmehr, so denkt Kant, bietet dem Menschen die Gewissenspein die letzte, unabweisbare, da notwendig sich realisierende Möglichkeit, sein rechtes Selbst-, Menschheits- und Gottesverhältnis zu realisieren – wenn er es doch in der 32  Ich schließe mich also der von Schmidt/Schönecker (2014: 297 Fn. 32) nur alternativ erwogenen Lesart an. Diese drängt sich auch auf, wenn man bedenkt, dass Kants späte Gewissenslehre sich gerade von seiner frühen, an Baumgarten orientierten, dadurch abgrenzt, dass Gegenstand der Gewissens(prüfung) nicht mehr die Handlung, sondern der Wille, das moralische Urteil, ist (vgl. dazu Knappik/Mayr (2013)). 33  Dafür, dass der richtende Gewissensvollzug eintreten kann, ist Voraussetzung, dass ich gewiss bin, moralisch geurteilt zu haben, d.h. mich auch subjektiv nicht von meinem bindenden Willensakt distanzieren kann. Diese Gewissheit denkt Kant daher als dem Gewissen konstitutiv zugehörig. Vgl. dazu Knappik/Mayr (2013).

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moralischen Willensbestimmung schon verfehlt hat. Deshalb ist es wider das je eigene Selbst, die Menschheit und Gott, einen Menschen aus vermeintlicher Menschenliebe seiner Gewissenspein entziehen zu wollen, wie Kant in der Religionsschrift explizit und einigermaßen ausführlich anmerkt: Die Absicht derer, die am Ende des Lebens einen Geistlichen rufen lassen, ist gewöhnlich: daß sie an ihm einen Tröster haben wollen; nicht wegen der physischen Leiden, welche die letzte Krankheit, ja auch nur die natürliche Furcht vor dem Tod mit sich führt (denn darüber kann der Tod selber, der sie beendigt, Tröster sein), sondern wegen der mor­ alischen, nämlich der Vorwürfe des Gewissens. Hier sollte nun dieses eher aufgeregt und geschärft werden, um, was noch Gutes zu thun, oder Böses in seinen übrig bleibenden Folgen zu vernichten (repariren) sei, ja nicht zu verabsäumen, nach der Warnung „sei willfährig deinem Widersacher (dem, der einen Rechtsanspruch wider dich hat), so lange du noch mit ihm auf dem Wege bist (d. i. so lange du noch lebst), damit er dich nicht dem Richter (nach dem Tode) überliefere“, u. s. w. An dessen statt aber gleichsam Opium fürs Gewissen zu geben, ist Verschuldigung an ihm selbst und andern, ihn Überlebenden; ganz wider die Endabsicht, wozu ein solcher Gewissensbeistand am Ende des Lebens für nöthig gehalten werden kann. (AA VI: 78 Anm.) Das Gewissen ist nachträglich, wie das jüngste Gericht. Wie Gott dort auft­ reten mag, tritt er im Gewissen – das jüngste Gericht antizipativ realisierend – auf, gekoppelt an unser Selbst- und Menschheitsverhältnis. (5: Keine „lauwarme“ Position) Nun ist bereits mehrfach dargestellt worden, dass es sich bei der Vermittlung der beiden Fluchtpunkte Mensch/Menschheit und Gott nicht um eine Kompromisslösung handelt, bei der eine Seite zu einer Chimäre verkommen würde. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass nach Kant dem Selbst-/Mitmensch- und Menschheitsbezug in der beschriebenen Weise ein Vorrang vor dem Gottesbezug zukommt. Es ist wichtig, genauer zu erläutern, weshalb eine „lauwarme“ Kompromisslösung philosophisch inakzeptabel wäre. Eine lauwarme Lösung bestünde entweder in einer Auflösung des Gottesbegriffs oder aber in dessen vollständiger Fiktionalisierung. Beides taugt nicht zur Lösung der Aufgabe, die Kant sich selbst explizit gestellt hat: Nämlich durch die Einführung des „Anderen“ in das Selbstbewusstsein des Menschen im Kontext des Gewissensprozesses zu verhindern, das Gewissen als Selbstspiegelung des Menschen denken (und sich selbst somit als unkritisiert, untangiert erfahren) zu müssen. Genau dies aber passiert offenkundig, wenn wir in das

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Selbstbewusstsein das Wissen darüber einzeichnen, dass der Gottesbegriff eigentlich keine distinkte Bedeutung hat. Es passiert aber auch, wenn Gott als eine von mir kreierte Fiktion gedacht wird. Denn die Bewusstseinsinhalte (B1) Ich unterstehe im Gewissensprozess einer höheren Autorität. [Resultierend aus Satz (B1*): Ich muss den Richter im Gewissensprozess als eine von mir distinkte Person denken.] (B2) Diese höhere Autorität verdankt sich meiner Autorität. [Resultierend aus Satz (B2*): (B1*) drückt die Nötigung der Vernunft aus, durch die ich eine Fiktion, d.h. etwas Irreales, ausbilde.] sind logisch inkompatibel, da (B1), (B2) gegeben, impliziert, dass die höhere Autorität letztlich doch nur ich selbst bin. Gott wäre dann nicht ernst zu nehmen, weil ich immer schon wüsste, dass ich ihn mir nur ausgedacht habe. Kompatibilität zwischen (B1) und (B2) könnte nur hergestellt werden, wenn man einen Mechanismus der Vernunft postuliert, der eine Vergessenheit über den Fiktionalitätscharakter ihrer Ideen bewirkt. Doch ein solcher ist nicht mit dem kantischen Vernunftbegriff zu vereinbaren, da diese (i) nicht selbstvergessen und (ii) zu erhaben ist, als dass ihr Geschäft auf etwas, das tatsächlich Fiktion ist, beruhen würde. Doch eines solchen Mechanismus bedarf es auch nicht: Denn (B2*) ist schlicht falsch und deshalb auch (B2).34 Dies lässt sich auf zwei Weisen begründen: (i) Kant betont, dass die Vernunft selbst – und nicht ich selbst, als Partikularwesen, auch nicht eine Gruppe von Partikularwesen – die Ideen (und die Vorstellung eines Anderen im Gewissen) ausbildet; (ii) Kant spricht davon, dass die Vernunft ihre Ideen selbst hervorbringt, d.h. – wie eingangs gezeigt –, dass die Vorstellung des Anderen im Gewissen nicht durch vernunftexterne Data (z.B. eine supranaturale Offenbarung), sondern nur durch Selbstexplikation der Vernunft gerechtfertigt werden kann. „Hervorbringung“ bedeutet also nicht, dass die Vernunft etwas erfindet. Genauso wenig, wie z.B. der Schöpfung Gottes aus Gottes Perspektive mangelnder Realitätscharakter zukommt, weil sie nur aus ihm selbst hervorgebracht wurde und nicht aus externen Faktoren. Es ist also angebracht, „Vorstellung“ in diesem Zusammenhang nicht, wie Andrea Esser, mit „imagination“,35 sondern mit „representation“ ins Englische zu übersetzen. Denn Vernunft, sofern sie ihre eigenen Gehalte hervorbringt und rechtfertigt, generiert keine Fiktionen, sondern ihre ureignen

34  Zur Falschheit der Fiktionalitätsinterpretation schon in Bezug auf die Postulatenlehre vgl. meinen Art. „Als ob“ (Oehl (2015a)). 35  Esser (2013: 282).

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Realitäten, d.h. nichts, von dem, sofern und da es aus reiner Vernunft stammt, mit Recht zu sagen wäre, dass ihm keine Realität zukomme. Dennoch ist an dieser Stelle einzuräumen, dass sich, wie ich zu zeigen versuchte, meine Interpretation zwar gut in die kantischen Gedanken einfügt, Kant selbst jedoch nicht an allen Stellen der Versuchung widerstand, einen „lauwarmen“ Kompromiss aus Menschheits- und Gottesbezug, aus Moralbewusstsein und Gottespostulat, herzustellen. Zwei Belege dafür sind die Rede vom Verständnis der Pflichten „als göttlicher Gebote“ und – besonders drastisch – die im Opus Postumum durch ein Ovidzitat nahegelegte Formulierung eines „Gottes in mir/uns (deus in nobis)“.36 Auf das Opus Postumum – und seine Zweideutigkeit – werde ich am Schluss zurückkommen. Daher an dieser Stelle lediglich eine kurze Bemerkung zur Vorstellung der moralischen Pflichten als göttlicher Gebote: Im hier primär verhandelten § 13 der Metaphysik der Sitten kommt diese Formulierung ihrerseits zweideutig vor: [D]er Mensch erhält vermittelst dieser [sc. der praktischen Vernunft] nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen eine bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit (welche auch religio genannt wird) als Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralisch=gesetzgebenden Vernunft) sich vorzustellen und dessen Willen den Regeln der Gerechtigkeit zu unterwerfen. Der Begriff von der Religion überhaupt ist hier dem Menschen blos „ein Princip der Beurtheilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote.“ (AA VI: 440) In dieser Passage benennt Kant selbst die – von mir so genannte – Dialektik zwischen internalistischer und externalistischer Dimension des Gewissens, die Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: Er spricht von der „Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen“ (Hervorh. T.O.). Sodann aber restringiert Kant die Religion darauf, ein „Prinzip der Beurteilung aller seiner [sc. des Menschen] Pflichten als göttlicher Gebote“ zu sein – wenngleich distanziert, in Anführungszeichen. Sofern Kant, wie man die Stelle durchaus verstehen kann, eine Art philosophische Religionslehre im doktrinalen Sinne ausschließen will und deshalb mit Nachdruck auf die Rückbindung der philosophischen Religion an die Pflichtenlehre hinweist, wäre die Stelle in polemischer Absicht zu interpretieren und daher unproblematisch. Sofern Kant die eben erwähnte Dialektik zwischen internalistischer und externalistischer 36  Vgl. AA XII: 130; vgl. dazu Förster (1998: 359 u. 362).

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Gewissensdimension jedoch dadurch einseitig abschwächen will, dass er die Vorstellung eines göttlichen Wesens reduziert auf „göttlich“ als Attribut der Gebote, so wäre dies ein Beispiel für eine „lauwarme“ Vermittlung der Spannung. Denn als „göttlich“ lässt sich vieles bezeichnen, was nichts mit einer gehaltvollen Gottesvorstellung zu tun hat – und auch nicht mit Gott als einem „Anderen“ im Gewissen. „Göttlich“ kann radikal deflatonistisch verstanden werden; als einen „göttlichen Maler“ z.B. kann jemand Rembrandt auch dann bezeichnen, wenn er damit keinerlei metaphysische Implikationen verbindet. Somit kommen wir zum letzten Punkt des Hauptteils meiner Untersuchung. (6: Zum Status der Gottesvorstellung) Wie gesagt und bekannt, ist bei Kant nirgends nach 1781 – auch nicht im § 13 der Tugendlehre – Gott Gegenstand eines spekulativen Erkenntnisurteils. Ebenso bekannt ist, dass Hegel (und nicht nur er) diese Restriktion spekulativer Vernunft nicht akzeptierte und zu überwinden versuchte. Dies hat uns hier nur insofern zu interessieren, als sich die Frage stellt, ob mit der kantischen Restriktion Gott als der „Andere“ überhaupt die Funktion einer aktaspektualen (und dem Selbstverhältnis nachgeordneten) Externalisierung des Gewissensvollzugs erfüllen kann. Kann etwas, das nur „in der Idee“ existiert, eine spürbare Wirkung im Realvollzug des Gewissens haben – wohlgemerkt ohne, dass man sich doch dogmatisch auf Gottes Existenz verpflichtet? Dies lässt sich, mit kantischen Mitteln, gleich in zweierlei Hinsicht bejahen: (i) Schon in der B-Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft hat Kant die erkenntniskritische Grenzziehung, welche eine Beschneidung der Vernunft in toto zu sein scheint, als tatsächliche Erweiterung derselben, nämlich in praktischer und damit wesentlicher Hinsicht, ausgewiesen:37 Gerade, wo die Vernünftelei über Gott ein Ende hat, entfaltet er seine eigentliche, praktische Kraft – etwa in derjenigen Weise, wie ich es darzustellen versucht habe. (ii) Anders als etwa Vaihingers Kant-Interpretation es nahelegt,38 verpflichtet sich Kant mit seinem spekulativen Agnostizismus nicht darauf, dass es sich bei den Gegenständen der praktischen Vernunft um Fiktionen handelt.39 Sie sind nichts „Niedrigeres“ als die Gegenstände der spekulativen Vernunft, sondern haben, wie Kant sagt, praktische Realität. Was auch immer dies genau bedeutet: es handelt sich um eine Realität; offenbar um eine, die erst aufscheint, wenn man sich in der Ernsthaftigkeit des Praktischen befindet, eben z.B. im Gewissensvollzug. Dort kann Gott als Realität aufscheinen. Das wissen wir aus eigener Erfahrung.

37  Vgl. KrV B XXIV f.; vgl. dazu außerdem Hutter (2014: 5–13). 38  Vgl. Vaihinger (1922). 39  Vgl. dazu meinen Art. „Als ob“ (Oehl (2015a)).

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3 Das Opus Postumum: Auf dem Weg zu einer „grammatischen“ Lehre von Gott und dessen Wirklichkeit40 Wie gezeigt, spielt die Gottesvorstellung eine gewichtige und irreduzible Rolle in der kantischen Explikation des Gewissens. Welche Funktion ihr zukommt, habe ich in meiner Interpretation zu zeigen versucht. Die semantische Bedeutung des Gottesbegriffs in diesem Kontext kommt nun durch zwei Faktoren zustande: (i) Sie wird mit festgelegt durch den Kontext selbst; (ii) sie ist von vornherein, durch die ihm in unserer Sprache und Vernunft eben ­zugewachsene Bedeutung (mit)determiniert. Zu Faktor (ii) zählt – neben ­anderem – die radikale Wesensunterscheidung von Gott und Mensch; der Mensch ist ein Geschöpf Gottes; Gottes Sein dependiert nicht vom Sein des Menschen etc. All dies kann man als Explikation des Gottesbegriffs verstehen. Auf dieser semantischen Ebene nun sind noch überhaupt keine Existenzurteile angesiedelt. Sie sichert dem Gottesbegriff aber diejenige Bedeutung, durch die es erst möglich ist, ihn in der Explikation des Gewissens mit dem „Anderen“ zu identifizieren. Kant selbst hat diese (sehr moderne) semantische Betrachtung in seinem Opus Postumum angedacht.41 Dort verabschiedet er sich, jedenfalls in Bezug auf die philosophische Gottesfrage, vom Begriff der realen Existenz als Leitkategorie. D.h. er behauptet nicht nur, wie in seiner Postulatenlehre, dass die reale Existenz Gottes nicht spekulativ beweisbar oder widerlegbar ist, sondern, dass die Frage nach einer realen Existenz Gottes weder im Kompetenznoch im Interessensbereich der Transzendentalphilosophie liegt.42 Dies scheint mir auch im § 13 schon zu geschehen, wo Kant die für die Postulatenlehre kennzeichnende „Als ob“-Redeweise nicht verwendet, sondern diejenige, die er auch im Opus Postumum verwendet: „Als ob“ als Explikationsausdruck (entsprechend dem Lateinischen „tanquam“ oder „instar“).43 Nun könnte man meinen, damit sei die Wirksamkeit Gottes, die Erfüllung der eingangs erwähnten, ihm zugedachten Rolle, noch weiter eingeschränkt 40   Das folgende Kapitel wendet, wie sich zeigen wird, passende philosophische Errungenschaften des Opus Postumum auf die durch die Interpretation des § 13 der Tugendlehre gewonnenen Gedanken an. Dass es werkgeschichtlich und in einiger Hinsicht auch sachlich eine Differenz zwischen der Tugendlehre und dem (in sich differenzierten) Opus Postumum gibt, soll dadurch freilich nicht geleugnet werden. 41  Zu den diesbezüglichen Hintergründen im Opus Postumum, die, soweit ich sehe, kompatibel sind mit meiner Interpretation des § 13 der Tugendlehre, vgl. Förster (2000). 42  Vgl. zu diesen Zusammenhängen Förster (1998: 359 ff.). 43  Vgl. dazu Förster (1998) sowie Förster (2000: 142–147), außerdem Oehl (2015a). Nicht geleugnet werden soll, dass im § 13 der Tugendlehre durchaus noch Echos der „alten“ Postulatenlehre nachhallen.

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als in der Postulatenlehre ohnehin schon. Doch wie schon in Bezug auf den spekulativen Agnostizismus ist auch hier zu konstatieren: Kant argumentiert geradezu umgekehrt. Vielmehr erreicht der Verzicht auf die Kategorie der realen Existenz die in meinem Interpretationsvorschlag dargelegte Funktion Gottes in höherem Maße: Denn sie befreit den Menschen von der in der Postulatenlehre qua Anwesenheit der Existenzkategorie immer noch wirksamen Illusion, es sei bedeutsam für den Menschen (als autonomes Pflichtwesen), ob Gott „real“, „objektiv“ – sozusagen „in echt“ – existiere. Doch dem ist, nach Maßgabe Kants, nicht so. Es ist, um es anders zu formulieren, in transzendentalphilosophischer Perspektive nicht artikulierbar und nicht relevant, wie es um Gott „an sich“ stehe, sondern, was Gott „für uns“ bedeute. Zu betonen ist noch einmal: Die Frage, wie es um Gott an sich stehe, ist aus Sicht des Opus Postumum nicht nur nicht im epistemischen Modus des Wissens entscheidbar. Ich interpretiere dies im Kontext so, dass nicht einmal ihr Sinn aus transzendentalphilosophischer Perspektive zweifelsfrei gesichert ist (freilich auch nicht ihr Unsinn). Diese metaphysikdistanzierte Zuspitzung Kants mag für den Gläubigen einer positiven Religion und – eo ipso – einen Theologen unbefriedigend sein. Doch für den Menschen als Vernunftwesen und sein eigentliches Interesse, mit dem Kant seine Philosophie immer kurzgeschlossen wissen wollte, stellt es sich durchaus anders dar. Denn: Kants Philosophie hält sich an das, was aus reiner Vernunft verbindlich hervorgeht, und widmet das Denken nicht denjenigen Fragen, über deren Sinn nicht einmal entschieden werden kann. Somit verliert das „nur“ in „Gott ist nur in der Idee wirklich“ seine schmälernde Kraft. Denn dieser Satz besagt dann etwa: „Gott ist in der Idee zugänglich, nicht in verworrenen Fragen“ – und das klingt nicht mehr nach Schmälerung, sondern geistigem Zuwachs. Mit anderen Worten: Wenn es – jedenfalls aus transzendentalphilosophischer Perspektive – unklar ist, ob die Frage nach einer realen Existenz Gottes überhaupt einen Sinn hat, so ist Gott als Begriff, wie er Anwendung im Praktischen findet, nicht mehr „nur“ oder „bloß“ ein Begriff, sondern das Maximum derjenigen Realität, die von Gott – ohne Gefahr, bloßen Unsinn zu reden – überhaupt ausgesagt werden kann. Ein „in echt“ Existieren Gottes über dies hinaus gibt es (für die Transzendentalphilosophie) nicht, schon gar nicht als etwas, das Gott erst wirklich machen würde. Nach dieser Lesart des Opus Postumum weist der kantische „Idealismus“ an dieser Stelle eine stark realistische Rückseite auf. Und der Prozess, der dahin führte, lässt sich als eine Art Entmythologisierung beschreiben: Ganz wie die Menschheit auch nicht weniger von der Realität der Liebe überzeugt war, als sie bemerkte, dass es keinen Sinn macht, an Amors Pfeilschüsse „in der Realität“ zu glauben (es zugleich aber nicht aufgab, diese Pfeilschüsse als adäquaten Ausdruck der weltmächtigen „Göttlichkeit“ und Unverfügbarkeit der Liebe zu gebrauchen).

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Kant hat sich mit dieser (sehr modernen) Sicht einer Revolution der Denkart, die der Philosophie vom späten Wittgenstein her zugewachsen ist, antizipativ angenähert, wenn er – begriffsanalytisch – schreibt: Unter Gott versteht man eine Person die über alle Vernünftige rechtliche Gewalt hat. – Dieser Begrif bietet auch ein Maximum (potestatis legislatoriae) dar: ein Wesen „vor dem sich alle Knie beugen derer die im Himmel, auf Erden etc. sind” das höchste Wesen der Heilige der nur ein Einiger seyn kann. (AA XXI: 35) Kann gibt hier ausdrücklich eine Begriffsexplikation. Sie enthält wesentlich zweierlei: (i) Die Einordnung Gottes in den auch im § 13 der Tugendlehre diskutierten Zusammenhang, wobei Gott eine „Gewalt“ zugeordnet wird, die es – wie eingangs gesehen – braucht, um den Gerichtshof ernsthaft denken zu können. (ii) Gott wird als ein „Maximum“ gedacht, dem der Mensch als ehrfürchtiges Wesen gegenübertritt. Es ist nicht unwichtig, dass Kant hier auf eine Paulus-Stelle (Philipper 2,1044) anspielt, sie gar partiell zitiert.45 Denn Begriffe haben diejenige Bedeutung, die ihnen historisch zugewachsen ist; und genau dies macht Kant durch diese Referenz deutlich. Und eines der unverhandelbaren Konstituenten dieser Bedeutung ist die Tatsache, dass Gott „kein Stück von mir“ ist, wie Thomas Buchheim jüngst anschaulich mit einem Wort Carl Zuckmayers erinnert hat.46 Gott muss – seinem Begriff nach – als dem Menschen gegenüber extern, unabhängig gedacht werden; dies ist kompatibel mit der transzendentalphilosophischen Einsicht, dass von Gott – in transzendentalphilosophischer Perspektive – nicht entkoppelt von der Vernunft die Rede sein kann. Die Pointe dieser Überlegungen besteht darin, dass – unabhängig von der Frage, ob Gott real existiert – Gott, rein begrifflich, nur als jemand gedacht werden kann, der „kein Stück von mir“ ist, der, mit dem Wort Kants aus dem § 13 der Tugendlehre, ein wahrhaft „Anderer“ mir gegenüber ist. Umgekehrt bedeutet das: Alle Redeweisen von einem deus in nobis oder einem Zusammenfall von Gott und Mensch sind nichts anderes als Ausdruck einer begrifflichen Verwirrung. Sie sind meist daher motiviert, sich ontologisch nicht auf die Existenz Gottes verpflichten zu wollen. Doch wer dies in der beschriebenen, verworrenen Weise tut, beraubt sich der Kraft sinnvoller Rede, sodass man 44  Dort ist zu lesen, „dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind“. 45  Vgl. dazu Wimmer (1990: 244). 46  Vgl. Buchheim (2013).

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nicht einmal mehr weiß, in Bezug worauf eigentlich eine Existenzbehauptung vermieden werden soll. Um es an einem analogen Beispiel zu illustrieren: Wer nicht an die „reale“ Existenz des Zyklopen Polyphem glaubt, braucht deshalb nicht zu sagen, man dürfe sich selbigen nicht im griechischen Kulturraum vorstellen. Natürlich darf, ja muss man das: Denn dieser ist – im Narrativ, und nur dort kommt er vor – seine Heimat. Die Unterscheidung zwischen Bedeutung des Gottesbegriffs – und ihrer Explikation – und allen (ontologisch-metaphysischen) Existenzfragen ist nicht nur transzendentalphilosophisch, sondern auch theologisch ­fruchtbar.47 Für jede Disziplin, die sich auf irgendeine Weise mit Gott beschäftigt, ist es Voraussetzung, diesen Begriff sinnvoll, grammatisch korrekt zu gebrauchen. Dies ist im § 13 der Tugendlehre, wie ich ihn deute, der Fall. Und die Bemerkungen im Opus Postumum kann man als vertiefte Rechtfertigung einer solchen Verwendung des Gottesbegriffs verstehen, ohne hinter die kritischen Errungenschaften in Bezug auf die Gotteslehre zurückzufallen, sich aber die Kraft des Gottesbegriffs für eine starke Konzeption des Gewissens zu erhalten: „Der marternde Vorwurf des Gewissens ist die Stimme Gottes in der praktischen Vernunft“ (AA XXI: 149). Und insofern die Marter des Gewissens real erfahrbar ist, ist auch derjenige, dessen Stimme sie ist, Gott, real; und sofern er nicht „nur“ innvernünftig real ist – weil ein solcher Ausdruck keinen Sinn mehr macht – ist diese Realität Gottes Realität – im Vollsinne: „Daß ein solches Wesen existire kann nicht geläugnet werden aber nicht behauptet werden daß es ausser dem vernunftig denkenden Menschen existire“ (AA XXII: 55);48 und falls es einen stärkeren Sinn von „Gottes Realität“ geben sollte, also seine Existenz jenseits der menschlichen Vernunft, so ist dieser Gegenstand einer anderen Disziplin. Nun muss aber konstatiert werden, dass Kant diese scharfsinnige Strategie im Opus Postumum nicht eindeutig durchgehalten hat. An anderer Stelle, die explizit den Zusammenhang zwischen Religion und Gewissen – im Begriff der Gewissenhaftigkeit49 – herstellt, liest es sich wie folgt: Religion ist Gewissenhaftigkeit (mihi hoc religioni) Die Heiligkeit der Zusage u. Warhaftigkeit dessen was der Mensch sich selbst bekennen muß. Bekenne dir selbst. Diese zu haben wird nicht der Begriff von Gott noch weniger das Postulat: „es ist ein Gott” gefordert. (AA XXI: 81) 47  Dass, warum und wie dem so ist, habe ich versucht, in meinem Aufsatz „Theologie als Grammatik“ deutlich zu machen (Oehl (2015b)). 48  Zum Existenzbegriff in diesem Kontext vgl. auch die interessanten, „anselmisch“ inspirierten Überlegungen von Wimmer (1990: 259 ff.). 49  Zu diesem Begriff vgl. Knappik/Mayr (2013).

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Aus der Verabschiedung der Postulatenlehre folgt, wie wir gesehen haben, nicht, dass der Begriff von Gott ebenfalls nicht erforderlich sei (was Kant hier jedoch nahelegt); solches steht weder im Einklang mit der Gewissenskonzeption des § 13 der Tugendlehre noch mit der vorher zitierten Überlegung aus dem Opus Postumum. Wir haben also festzuhalten, dass in den Texten eine letzte Zweideutigkeit in Bezug auf Kants Verständnis des Gottesbegriffs und seines Verhältnisses zu anderen Begriffen bleibt.50 Dennoch glaube ich, dass meine Interpretation nicht nur eine kohärente und philosophisch attraktive Lesart des § 13 darstellt, sondern ebenso die wesentliche Linie (spät)kantischen Denkens in Bezug auf den Gottesbegriff erfasst. In diesem Denken hat die lauwarme deus in nobis-Vorstellung nämlich nicht die Oberhand, wie nicht zuletzt folgendes Zitat aus dem Opus Postumum zeigt, in dem (fast) alle beschriebenen Fäden noch einmal subtil zusammengefügt werden: Religion ist nicht der Glaube an eine Substanz von besonderer Heiligkeit Rang und Obergewalt bey der man sich durch Einschmeichelung Gunst erwerben und Gunst verschaffen kann Gott, die Welt, und das denkende Wesen in der Welt der Mensch. – Ein Wesen, das sich selbst constituirt nicht als Erscheinung gegeben ist. – Ein Gott u. Eine Welt Die eigene moralisch//practische Vernunft oder Sitz in ihr Gott, und der sich selbst in moralisch//practischer Absicht erkennende Mensch in der Welt: Das All der Wesen in wechselseitigem Verhältnis. [. . .] Nicht der Begriff von der Welt als einer absoluten (synthetischen) Einheit sondern der von Gott als einer dynamischen und moralischen geht voran. (AA XXI: 143) An diesem Zitat können wir abschließend zusammenfassen: (1) Kant drängt alle Gottesvorstellungen, die eine Selbst-Überspringung zugunsten eines „um Gottes willen“, das nur ein verkapptes „um meiner selbst (als partikulares ego) willen“ ist, aus guten, moralphilosophischen Gründen zurück. Solches ist nichts anders als „Einschmeichelung“. (2) Gerade um im Gewissen eine starke Institution der Autonomie zu bekommen, bedarf das Bewusstsein einer Kraft, die sich gegen unser faktisches Sosein erhebt und uns unter Rechtfertigungsdruck setzen kann. 50  Diese Zweideutigkeit hat Wimmer (1990: 224) sehr schön in folgender Frage zusammengefasst, die die Überschrift eines der einschlägigen Kapitel zum Opus Postumum darstellt: „Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie: Transzendentaltheologische Fundierung der Anthropologie oder Anthropologisierung des Gottesbegriffs?“

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Diese findet sich in Gott als dem „Anderen“ im erläuterten Sinne. Es ergibt sich ein „All der Wesen“, deren näherer Zusammenhang „dynamisch“ und „moralisch“ zu denken ist: Als in sich in Aktaspekte differenzierter Aktzusammenhang, dem urteilenden Gewissensvollzug als innerem Gerichtshof der Vernunft. (3) Sprach- wie transzendentalphilosophisch wird (1) und (2) durch eine starke Unterscheidung zwischen der Bedeutung des Gottesbegriffs (seiner „Grammatik“) und der Frage nach Gottes Existenz realisiert, welche innerhalb der Transzendentalphilosophie jedenfalls keinen unstrittigen Sinn hat, geschweige denn beantwortet werden könnte. Gott ist somit in keinem Sinne mehr Objekt („Substanz“). Gerade so erkennt der Mensch sich als Gottes Ebenbild: Denn auch er selbst, als noumenales Wesen, ist in keinem Sinne Objekt. Literatur Binkelmann, C. (2007) Theorie der praktischen Freiheit, Berlin. Buchheim, T. (2013) Philosophie und die Frage nach Gott. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 55, 121–135. Esser, A. (2013) The Inner Court of Conscience, Moral Self-Knowledge, and the Proper Object of Duty (TL 6: 437–444). In: A. Trampota, O. Sensen, J. Timmermann (Hgg.), Kant’s “Tugendlehre”. A Comprehensive Commentary, Berlin/Boston, 2013, 269–291. Förster, E. (1998) Die Wandlungen in Kants Gotteslehre. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 52 (3), 341–362. ——— (2000): Kant’s Final Synthesis, Cambridge (MA)/London. Heubült, W. (1980) Gewissen bei Kant. In: Kant-Studien 71 (4), 445–454. Hutter, A. (2014) Methodischer Negativismus: Das Programm einer „Revolution der Denkart“ bei Kant, Hegel und Kierkegaard. In: A. Hutter, A. Rasmussen (Hgg.), Kierkegaard im Kontext des deutschen Idealismus, Berlin, 2014, 5–28. Knappik, F. & Mayr, E. (2013) Gewissen und Gewissenhaftigkeit beim späten Kant. In: S. Bacin, A. Ferrarin, C. La Rocca, M. Ruffing (Hgg.), Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht: Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses Bd. 3, Berlin/ Boston, 329–341. Oehl, T. (2015a) Art. „Als ob“. In: M. Willaschek, J. Stolzenberg, G. Mohr, S. Bacin (Hgg.), Kant-Lexikon, Berlin, 50–54. ——— (2015b) Theologie als Grammatik. In: Kerygma und Dogma 61 (2), 120–156. Pannenberg, W. (1991) Systematische Theologie Band 2, Göttingen. Reiner, H. (1971) Die Funktionen des Gewissens. In: Kant-Studien 62 (4), 467–488.

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Über einen (unentdeckten) Gottesbeweis in Kants Philosophie des Gewissens Elke Elisabeth Schmidt und Dieter Schönecker Der marternde Vorwurf des Gewissens ist die Stimme Gottes in der praktischen Vernunft. OP: 149

∵ In Philosophie und Theologie gibt es eine reiche und alte Tradition, die zwischen dem Gewissen und Gott einen starken Zusammenhang herstellt: Traditionell wurde und wird das Gewissen als Stimme Gottes verstanden, die uns warnt oder verurteilt; Philon von Alexandria oder Augustinus etwa könnte man als Vertreter einer solchen Richtung nennen.1 Auch bei Immanuel Kant finden wir eine Theorie des Gewissens, die uns letztlich zu Gott führt – und dies nicht nur in einem übertragenen Sinne. Wir werden zeigen, dass es gute (und bisher übersehene) Gründe gibt, in Kants Theorie des Gewissen einen praktischen Beweis für die Existenz Gottes zu sehen. Zu diesem Zweck werden wir einen genaueren Blick in den § 13 der Tugendlehre werfen. Kant arbeitet hier mit einer schon in der Patristik2 gebräuchlichen Theorie des Gewissens als „Gericht“ (z.B. 438,8)3 bzw. „Gerichtshof[..]“ (438,11), an dem verschiedene Personen – u.a. „Angeklagte[r]“ (438,30) und „Richter“ (438,30) – den 1  Vgl. Ritter / Eisler (1974, Band 3, 578–580). 2  Etwa bei Chrysostomos; vgl. ebd., 579. 3  Alle Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Akademieausgabe (AA). Seiten- und Zeilenangabe ohne weitere Sigle, z.B. „(440,1)“, beziehen sich auf die Tugendlehre. Alle anderen Werke Kants zitieren wir jeweils mit Sigle, unter Angabe der Seitenund ggf. der Zeilenzählung der Akademieausgabe, z.B. (GMS: 400,3). Die Tugendlehre und die Religionsschrift werden nach den entsprechenden Ausgaben des Felix Meiner Verlags zitiert: Die TL nach der Ausgabe von Bernd Ludwig (²2008); die R nach der Ausgabe von Bettina Stangneth (2003). Alle übrigen Werke werden auf der Textgrundlage der Akademieausgabe zitiert. Folgende Siglen werden verwendet: TL = Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre; MS = Metaphysik der Sitten; R = Religionsschrift; KpV = Kritik der praktischen Vernunft; KrV = Kritik der reinen Vernunft; GMS = Grundlegung zur Metaphysik de Sitten; KU = Kritik der Urteilskraft; Preisschrift = Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik; OP = Opus postumum. © koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_008

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Gewissensprozess gestalten. Üblicherweise wird dieses juristische Modell als Analogie verstanden; wir werden dagegen herausarbeiten, dass die Rede vom „inneren Richter“ (438,13) von Kant nicht als eine bloß austauschbare Analogie zu verstehen ist, sondern als eine notwendige phänomenologische Beschreibung innerer Erlebnisse. Was uns an dieser Stelle primär interessiert, ist Kants Redeweise von der „anderen Person“ (438,28), als welche wir uns das Gewissen oder zumindest einen Teil von ihm – nämlich den ,Richter‘ – ­vorstellen müssen. Die Rede von dieser ,anderen Person‘ als festem Bestandteil des Gewissens nämlich führt uns, so Kant, letztlich „unvermeidlich“ (439,18) zu Gott bzw. zur „Idee“ (439,17) Gottes. Wir werden nun nach einem kurzen Abriss der Kantischen Gewissenstheorie (1) betrachten, wie Kants Argument dafür lautet, sich eine ,andere Person‘ als Teil des Gewissens denken zu müssen (2), ob diese Person als „wirklich[.]“ (438,36) oder „idealisch[.]“ (439,1) gedacht werden muss (3), welche Eigenschaften diese ,andere Person‘ Kant zufolge haben muss (4), und auf welche Weise Kant hier im Kontext einer (notwendigen) Analogie einen praktischen Gottesbeweis durchführt (5). Abschließend fassen wir kurz zusammen (6) und werfen noch einen kurzen Blick auf die Literatur (7). Zunächst aber noch eine Vorbemerkung: § 13 der Tugendlehre ist ungeheuer komplex und schwierig. Die Literatur hat dieses Textstück (wie überhaupt Kants Theorie des Gewissens) in seiner Dunkelheit noch gar nicht wahrgenommen. Unsere Analysen werden dem Text entsprechend ausfallen – komplex und schwierig, wenn auch, wie wir hoffen, nicht dunkel, sondern erhellend. Komplexität ist der Preis, den man für eine Interpretation bezahlen muss, die ihrem Gegenstand gerecht werden will. 1

Kants Theorie des Gewissens – eine Skizze

Wir wollen kurz skizzieren, wie Kants Theorie des Gewissens aussieht.4 Lässt man pathologische Fälle außer Acht, so verfügt Kant zufolge ausnahmslos jeder Mensch über ein Gewissen, selbst ein ausgemachter Bösewicht. Als eine von vier moralischen „Gemütsanlagen“ (399,11) ist das Gewissen notwendig für unser Verständnis von Moral und für unsere Fähigkeit zu ihr, und es wohnt unweigerlich jedem vernünftig-sinnlichen Wesen inne – somit besteht auch keine Pflicht, ein Gewissen zu haben.5 Das Gewissen ist die Stimme der Moral 4   Für eine ausführlichere Darstellung der Kantischen Gewissenstheorie vgl. Schmidt/ Schönecker (2014a) und Schmidt/Schönecker (2014b). 5  Vgl. etwa 400,23 ff. Zu Kants Theorie der Gemütsanlagen vgl. außerdem Schönecker (2010b).

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oder eines ,inneren Richters‘ im Menschen, die unweigerlich spricht, ob man es will oder nicht,6 und die uns und unsere Handlungen „los[]sprechen“ oder „verdammen“ kann (440,26). Und da das Gewissen unsere Handlungen ,verurteilt und losspricht‘, muss es sie zuvor auch in einer spezifischen Hinsicht beurteilen, weshalb Kant das Gewissen auch als eine Art Meta-Urteilskraft oder eine Urteilskraft zweiter Stufe versteht. Am klarsten wird dies im § 4 der Religionsschrift, wo Kant das Gewissen als „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft“ (R: 186,9) bestimmt. Eine entsprechende Erläuterung finden wir im unmittelbaren Fortgang des Textes: Das Gewissen richtet nicht die Handlungen als Kasus, die unter dem Gesetz stehen; denn das tut die Vernunft, sofern sie subjektiv-praktisch ist [. . .]: sondern hier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe [. . .]. (R:186,12). Wir erfahren also zunächst, was das Gewissen nicht tut: Es ,richtet nicht die Handlungen als Kasus, die unter dem Gesetz stehen‘. Das Gewissen ist also nicht dafür verantwortlich, zu bestimmen, ob eine einzelne Handlung erlaubt oder verboten ist (ob man etwa, wenn man in Not ist, ein falsches Versprechen geben darf); das ist vielmehr Aufgabe der Vernunft, insofern sie ,subjektivpraktisch‘ ist. Dagegen kommt es dem Gewissen als spezifischer Form der Vernunft zu, die eigene Vernunftleistung (bzw. Verstandesleistung) zu richten, d. h. zu überprüfen und zu beurteilen, ob die Vernunft ,auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit übernommen habe‘. Die Überlegung, die hinter dieser Begrifflichkeit steckt, ist folgende: Die Vernunft urteilt auf einer ersten Stufe, ob eine einzelne spezifische Handlung in einer konkreten Situation erlaubt oder verboten ist. Das Subjekt urteilt also beispielsweise: ,Ja, ich bin gerade in Not und darf ein falsches Versprechen geben‘. Auf einer zweiten Stufe kommt die Meta-Urteilskraft ins Spiel: Sie drängt zu 6  Vgl. dazu: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch eine inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie ein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es, in seiner äußeren Verworfenheit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden.“ (438,13).

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der Selbstbefragung, ob das vorausgegangene Urteil erster Stufe (,Handlung x ist erlaubt‘), ,behutsam‘ durchgeführt wurde und subsumiert das Urteil dann entweder unter die Kategorie der behutsam oder der nicht behutsam gefällten Urteile. Diese geforderte ,Behutsamkeit‘ muss man vor dem Hintergrund der Kantischen Anthropologie verstehen. Sie besteht darin, nicht dem Hang zum Selbstbetrug im Dienste der Neigungen und Interessen zu erliegen: Der Mensch kennt zwar die moralischen Gesetze, verspürt jedoch in sich einen „Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen“ (GMS: 405,13). Das Gewissen muss also fragen und prüfen, ob ich mein Urteil und damit auch die daraus erwachsende Handlung so verantworten kann, dass ich, soweit möglich, ausschließen kann, in meinem Urteil erster Stufe nicht Opfer jenes ,Hanges‘ geworden zu sein. An dieser Stelle gibt es jedoch eine Komplikation: Der Gegenstand des richtenden Aktes des Gewissens, so hatten wir gesagt, ist das Urteil der ersten Stufe. Tatsächlich lautet die Frage in der eben zitierten Stelle aber nicht, ob die (subjektiv-praktische) Vernunft (der Verstand) ,auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) durchgeführt habe‘. Die Frage ist vielmehr, ,ob sie (die Vernunft) auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe‘. Eine Beurteilung ,durchzuführen‘ ist aber sehr verschieden davon, eine Beurteilung zu ,übernehmen‘. Dieser Befund legt nahe, den Prozess der moralischen Urteilsfindung – und damit den Gewissensprozess – nicht als zweistufig, sondern sogar als dreistufig zu rekonstruieren: Stufe 1:  Der Verstand urteilt, ob eine konkrete Handlung geboten oder erlaubt ist. Stufe 2: Die subjektiv-praktische Vernunft bestimmt sich selbst und ihren Willen, indem sie das Urteil des Verstandes als willensbestimmend übernimmt. Stufe 3: Das Gewissen fordert den Menschen dazu auf, sich die Frage zu stellen, ob die Willensbestimmung auf Stufe 2 behutsam vorgenommen wurde, und die Meta-Urteilskraft als besondere Form der Vernunft prüft dies. Was die Vernunft also vom Verstand ,übernimmt‘, ist das von ihm bloß verstandesmäßig objektiv gefällte Urteil, ob eine Handlung recht oder unrecht sei. Aber sie übernimmt es zum Zwecke der Willensbestimmung. Die ,Behutsamkeit‘ liegt demnach nicht auf Seiten des Verstandes; vielmehr obliegt es der

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Vernunft, sofern sie den Willen und damit sich selbst als praktische Vernunft bestimmt,7 bei der ,Übernahme‘ des moralischen Verstandesurteils zu dieser Willensbestimmung ,Behutsamkeit‘ walten zu lassen. Diese ,Behutsamkeit‘ ist also keine unmittelbare Behutsamkeit bei der objektiven Urteilsbildung des Verstandes, sondern eine Behutsamkeit bei der ,Übernahme‘ des Verstandesurteils zur Willensbestimmung mit Blick darauf, ob es eben ,recht oder unrecht‘ ist. Das Gewissen fordert zu einer Prüfung und Beurteilung dieser ,Behutsamkeit‘ auf, und damit prüft es, aus Anlass der Willensbestimmung, indirekt die Richtigkeit des moralischen Verstandesurteils. In diesem Kontext spricht Kant nun auch von einer „Pflicht“, die das Gewissen mit sich bringt und die womöglich auch in der Überschrift („Von der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als den angeborenen Richter über sich selbst“) des § 13 der TL anklingt: Der Akteur hat die Pflicht (gegen sich selbst), der Forderung des Gewissens zu entsprechen und das heißt Gewissheit darüber zu erlangen, „daß eine Handlung, die ich unternehmen will, recht sei“ (R: 185,25). Und diese hier geforderte Gewissheit setzt nun die gerade erläuterte Überprüfung des gefällten Urteils erster bzw. zweiter Stufe durch die Meta-Urteilskraft voraus. Erst, wenn ich die oben skizzierten drei Stufen des Gewissensprozesses durchlaufen habe, kann ich mir ,gewiss‘ sein, dass eine Handlung rechtmäßig ist.8 Das Gewissen ist demnach erstens eine moralische Anlage, die der Mensch unweigerlich hat, und die zu haben es keine Pflicht gibt. Zweitens entspringt dem Gewissen allerdings eine Forderung danach, Gewissheit darüber zu erlangen, ob die eigenen Urteile verlässlich gefällt wurden, und diese aus der Anlage entspringende Forderung ist durchaus Pflicht. Drittens urteilt das Gewissen darüber, ob die Forderung der Gewissheit erfüllt wurde oder nicht und spricht den Akteur dementsprechend ,los‘ oder ,verurteilt‘ ihn.

7  Vgl. „[. . .] so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft“ (GMS: 412,29). 8   Und diese Gewissheit bezüglich der Rechtmäßigkeit einer Handlung ist nur für solche Handlungen gefordert, deren Ausführung ich in Erwägung ziehe, nicht für „alle[.] möglichen Handlungen“ (R: 186,3). Vgl. dazu: „Das Bewußtsein also, daß eine Handlung, die ich unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht“ (R: 185,25, u.H., Kants Hervorhebungen getilgt) und: „Aber von der [Handlung], die ich unternehmen will, muß ich nicht allein urteilen und meinen, sondern auch gewiss sein, dass sie nicht unrecht sei“ (R: 186,4). Ein solches Wollen geht über die bloße Urteilsbildung auf Stufe 1 hinaus. Dies passt gut zur oben präsentierten Interpretation, wonach es auf Stufe 2 um das ,Übernehmen‘ des Urteils im Akt der Willensbildung geht. – Hier liegt natürlich der Einwand nahe, dass aus der subjektiven Gewissheit nicht zweifelsfrei folge, dass eine angestrebte Handlung tatsächlich recht sei. Dieses Problem wird von Kant nicht thematisiert.

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Kants Argument für die Annahme der ,anderen Person‘

So viel also zum Modell des Gewissens. Wenden wir uns jetzt der Frage zu, warum wir uns eine ,andere Person‘ als Teil des Gewissens vorstellen müssen. Mit dieser Frage ist eine weitere Frage verbunden: Warum müssen wir uns das Gewissen überhaupt als Gericht vorstellen, wie Kant es tut, und nicht als etwas anderes? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir mit Kant einen genaueren Blick in unser Inneres werfen und das Erlebte phänomenologisch beschreiben. Was wir erhalten, wenn wir dies tun, ist der folgende Befund: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt [. . .] gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt.“ (438,13, u.H.) Jeder Mensch spürt in sich – und dies stimmt ja durchaus mit unserer alltäglichen, inneren Erfahrung überein – eine (moralische) Stimme, die auf gewisse Weise nicht seine eigene zu sein, sondern von außerhalb zu kommen scheint. Und darüber hinaus fühlt man sich – je nachdem selten oder oft – auch von dieser inneren Stimme verurteilt, wenn man unmoralisch oder aus den falschen Motiven gehandelt hat. Diese innere, die Akteurin verurteilende Stimme (welche kaum anders als die eines Richters identifiziert werden kann, da ein Richter derjenige ist, der für gewöhnlich verurteilt), ist der phänomenologische Befund, auf dem Kants Argumentation aufbaut (und der in Absatz B von § 13 der Tugendlehre beschrieben wird).9 Es ist also nicht so, als ob ich eine mich richtende Instanz in mir spürte, sondern ich spüre diese Stimme und dieses Richten wirklich in mir. Daher ist das Gericht kein analogisches Modell für das Gewissen, sondern eine phänomenologische Beschreibung einer inneren Erfahrung. Es wäre falsch zu sagen, dass das Gewissen nur wie ein Gerichtshof sei, denn dies würde suggerieren, dass man auch ein anderes Modell wählen könnte, um das Gewissen zu veranschaulichen; es würde suggerieren, dass es sich nur um eine Ähnlichkeit handelte. Das Modell des Gewissens als Gericht ist allerdings nicht (ohne Weiteres) austauschbar mit einem anderen Modell, da eine tatsächliche Ähnlichkeit mit einem realen Gericht vorliegt. Natürlich könnte man insofern von einer Analogie sprechen, als im Gewissen kein reales, berühr- und begehbares Gericht ist und das Gewissensgericht insofern nur einem realen Gericht ähnlich ist. Dennoch halten wir diese direkt-analogische Redeweise hier nicht für angezeigt, da der Begriff der Analogie suggeriert, dass diese eben austauschbar ist und auch etwas anderes an die Stelle des Analogon treten könnte, was im Kontext des Gewissensgerichts aber nicht der Fall ist. Es ist kaum möglich, das Gewissen in Analogie zu etwas anderem zu setzen, 9  Die ersten fünf Absätze des § 13 nennen wir Absätze A, B, C, D und E.

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weil dann die Art und Weise, wie das Gewissen tatsächlich erfahren wird, nicht mehr adäquat beschrieben werden könnte. Insofern handelt es sich hier allenfalls um eine notwendige Analogie oder, und diese Ausdrucksweise ziehen wir vor, um eine phänomenologische Beschreibung des Gewissens als Gericht. Dieser Befund – wir fühlen uns durch einen ,inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt gehalten‘ – bedarf nun aber natürlich einer Erklärung, und die Erklärung, die Kant dafür gibt, ist die des ,Anderen‘. Der Mensch als einzelnes moralisches Subjekt ist nur ein Mensch („numero idem“, 439,28) – wie kann er aber dann noch eine andere Stimme in sich hören? Anders formuliert: Das moralische Subjekt ist der eine Mensch; in einem Gericht – und somit eben auch im Gewissensgericht – gibt es aber „Ankläger“ (438,32), ,Angeklagten‘, „Beistand“ (439,35) bzw. Verteidiger und einen ,Richter‘, also mindestens vier Instanzen. Die Frage ist nun, wie es sein kann, dass ein einzelnes moralisches Subjekt gleichzeitig alle diese Positionen einnehmen kann; insbesondere ist die Frage, wie man die Stimme des ,inneren Richters‘ als ,andere Person‘ denken kann. Betrachten wir den dritten Absatz (C) von  § 13, in dem Kant das Argument für die Notwendigkeit des ,Anderen‘ präsentiert: [C.1] Diese ursprüngliche intellektuelle und (weil sie Pflichtvorstellung ist) moralische Anlage, Gewissen genannt, hat nun das Besondere in sich, daß, obzwar dieses sein Geschäfte ein Geschäfte des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genötigt sieht, es als auf das Geheiß einer anderen Person zu treiben. [C.2] Denn der Handel ist hier die Führung einer Rechtssache (causa) vor Gericht. [C.3] Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. – [C.4] Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen Anderen (als den Menschen überhaupt, d.i.) als sich selbst, zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. [C.5] Dieser Andere mag nun eine wirkliche oder bloß idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft. (438,24) Dies ist also Kants Begründung dafür, warum wir uns einen ,Anderen‘ als Teil des Gewissens denken müssen. Sehen wir uns das der Reihe nach an: Das Gewissen hat etwas ,Besonderes‘. Worin genau besteht dieses aber nun? Aus dem entsprechenden Satz lassen sich die beiden folgenden von Kant für ,besonders‘ gehaltenen Aspekte herauslösen: 1. Das Geschäft des Gewissens ist ein Geschäft des Menschen mit sich selbst. 2. Der Mensch betreibt das Geschäft des Gewissens (,es‘) auf das Geheiß einer anderen Person.

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Kant meint hier mit dem ,Geschäft des Gewissens‘ das, was er in Absatz A des § 13 erläutert hat, d.h. denjenigen Prozess, an dessen Ende die „Verurteilung oder Lossprechung“ (438,7) steht; und dieses ,Geschäft‘ müssen wir, so Kant, ,auf Geheiß einer anderen Person‘ betreiben. Aber warum, so kann man durchaus fragen, müssen wir das tun? Warum müssen wir uns eine ,andere Person‘ vorstellen? Kants Begründung lautet so: Es ist eine ,ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe‘, wenn ,der durch sein Gewissen Angeklagte‘ (also der Mensch, der ein bestimmtes, zu prüfendes Urteil gefällt hat) und der ,Richter‘ (der derselbe Mensch wäre) als ,eine und dieselbe Person vorgestellt‘ werden. Dies ist deshalb eine ,ungereimte Vorstellung‘, weil – und hier kommt die eigentliche Begründung – ,der Ankläger jederzeit verlieren‘ würde. Er verlöre, weil, wenn Richter und ,Angeklagter‘ identisch wären, der Mensch als Richter, wenn er über sich selbst urteilte, sich selbst stets freispräche, weil er ja auch gleichzeitig der ,Angeklagte‘ wäre, der natürlich nicht verurteilt werden wollte. Das Urteil fiele also immer zugunsten des ,Angeklagten‘ aus, weil der Richter den ,Angeklagten‘, der er ja selbst wäre, immer freispräche; die Anklage wäre demnach von vornherein zum Scheitern verurteilt. Folglich müssen aufgrund dieser ,Ungereimtheit‘ bzw. dieses ,Widerspruchs‘ Richter und ,Angeklagter‘ als voneinander verschieden vorgestellt werden; der Richter muss als ,Anderer‘ bestimmt werden, oder, in Kants Worten, der Mensch sieht sich „durch seine Vernunft genötigt“ (438,27), den Richter als verschieden von sich als ,Angeklagtem‘ zu sehen. Kurzum, unsere Vernunft ,nötigt‘ uns dazu, uns den Gewissensrichter als ,andere Person‘ vorzustellen, um einen Widerspruch zu vermeiden; Teil des inneren Gerichtshofs, als den Kant sich das Gewissen vorstellt, ist eine ,andere Person‘, die dem Menschen ,geheißt‘, das ,Geschäft‘ des Gewissens zu betreiben. Halten wir noch einmal fest: Ausgehend von einem phänomenologischen Befund (ich höre eine andere Stimme in mir, die mich verurteilt) behauptet Kant, das Gewissen sei als Gericht zu verstehen. Da in einem Gericht nicht alle Personen mit sich selbst identisch sein können, muss zu diesem Gericht ein ,Anderer‘ gehören, der der Ursprung der inneren Stimme ist. 3

Die ,andere‘ Person als ,wirklich‘ oder ,idealisch‘

Wie genau sollen wir nun diese ,andere Person‘ verstehen? Kant gibt hierauf zunächst folgende Antwort: Die ,andere Person‘ kann „eine wirkliche oder bloß idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft“ (438,36).10 10  Der Relativsatz ,welche die Vernunft sich selbst schafft‘ kann sich rein grammatisch auf die ,idealische Person‘ allein, oder aber auf die ,wirkliche‘ und die ,idealische Person‘

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Während es angesichts des Fortgangs des Textes eindeutig ist, dass mit der ,idealischen‘ Person Gott gemeint ist (dazu gleich mehr), ist es weit weniger klar, wer oder was die ,wirkliche‘ Person ist. Formulieren wir zunächst noch einmal die entscheidende Aussage: [C.5] Dieser Andere mag nun eine wirkliche oder bloß idealische Person sein. Die Interpretation dieses Satzes ist äußerst schwierig, und es gibt mehrere Möglichkeiten, die genannte Alternative von ,wirklicher‘ und ,idealischer‘ Person zu erklären. Wir werden nun die unserer Auffassung nach plausibelste Interpretation vorstellen, in der die ,wirklich‘ und ,idealische‘ Person als eine und dieselbe Person identifiziert werden. Sie geht zunächst davon aus, dass die Rede von dem ,Anderen‘ ausschließlich auf den Gewissensrichter bezogen ist, sodass wir lesen müssen (das ,a‘ steht für Lesart a): [C.5a] Dieser Andere im Gewissen mag nun eine wirkliche oder bloß idealische Person sein. Diese Aussage verstehen wir mit der plausibelsten Interpretation als eine Aussage über den epistemologischen Status des ,Anderen‘, d.h. als Aussage über die Erkennbarkeit des ,Anderen‘ oder eben, wie wir sehen werden, als Aussage über die Erkennbarkeit Gottes. Es geht also nicht einerseits um eine ,wirkliche‘ Person A und andererseits um eine andere, ,idealische‘ Person B, sondern um die Frage, ob eine und dieselbe Person als, im epistemologischen Sinn, ,wirklich‘ oder ,idealisch‘ zu verstehen ist. Wir müssten lesen: [C.5a*] Dieser Andere im Gewissen mag nun eine wirkliche, theoretisch erkennbare Person (Gott) oder bloß eine idealische, theoretisch nicht erkennbare Person (Gott) sein. Es geht demnach bloß um den erkenntnistheoretischen Status der ,anderen Person‘ – also um die Frage, ob diese Person des Gewissensrichters in epistemologischer Perspektive als ,wirklich‘ oder ,idealisch‘ zu verstehen ist. ,Wirklich‘ wäre diese Person, wenn sie anschaulich gegeben und theoretisch

beziehen. Inhaltlich macht es allerdings keinen Sinn, die ,wirkliche‘ Person als Person zu bezeichnen, die ,die Vernunft sich selbst schafft‘ (denn Wirklich-Sein im engeren Sinne ist bei Kant immer verknüpft mit der Idee des Gegebenseinkönnens in der Anschauung). Wir werden von dem Relativsatz zunächst abstrahieren.

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erkannt würde; ,idealisch‘, wenn sie ebendies nicht wäre, aber andere (praktische) Gründe für ihre Existenz sprächen.11 Kant würde demnach zwar im letzten Satz von Absatz C (,Diese ursprüngliche . . .‘) diese Alternative benennen, im Verlauf des Textes aber zeigen, dass wir uns die ,andere‘ Person tatsächlich als ,idealisch‘ denken müssen und eben nicht als ,wirklich‘ im Sinne einer theoretischen Erkenntnis. Für diese Interpretation spricht, dass Absatz E tatsächlich die epistemologische Frage nach der ,Idealität‘ oder ,Wirklichkeit‘ dieser Person thematisiert und so beantwortet, dass wir uns die ,andere‘ Person nicht „als wirklich“ (439,20) denken sollen.12 Kant würde demnach Formen des möglichen epistemologischen Status thematisieren und eine davon ausschließen. Für diese Lesart spricht, wie gesagt, sehr deutlich, dass Kant im entscheidenden Satz [C5] das Prädikat ,wirklich‘ gebraucht, und genau dieses Prädikat in Absatz E dann wieder auftaucht und ausdrücklich thematisiert wird. Aus diesem Grund scheint uns diese Lesart die plausibelste zu sein.13 Allerdings hat sie auch einen großen Haken. Kant schreibt nämlich nicht so etwas wie: ,Wir können uns die andere Person als wirklich oder idealisch vorstellen . . .  ich werde nun zuerst untersuchen, wie man sich diese Person als eine wirkliche Person vorstellen müsste; dann geht es um ebendiese Person als idealische Person; und im Vergleich zeigt sich schließlich, dass die andere Person tatsächlich nur als idealisch verstanden werden darf‘. Dies ist nicht der Fall; die ,Wirklichkeit‘ der ,anderen Person‘ wird gar nicht (ernsthaft) in Erwägung gezogen. Stattdessen beginnt Kant den nächsten Absatz – unmittelbar nachdem er sagt, der ,Andere‘ könne ,wirklich‘ oder ,idealisch‘ sein – mit den Worten „Eine solche idealische Person . . . muss ein Herzenskundiger sein“ (439,3, u.H.) usw.; dies suggeriert nicht, dass er erst unausgemacht lassen wollte, ob die Person ,wirklich‘ oder ,idealisch‘ ist und sich erst dann herausstellte, dass sie ,idealisch‘ 11  Zum genaueren Sinn der Rede von ,Wirklichkeit‘ und ,Idealität‘ vgl. Abschnitt 5 unseres Textes. 12  Vgl. dazu: „Dieses will nun nicht so viel sagen als: der Mensch, durch die Idee, zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, sei berechtigt, noch weniger aber: er sei durch dasselbe verbunden ein solches höchste Wesen außer sich als wirklich anzunehmen [. . .]“ (439,17, u.H.; Kants Hervorhebungen getilgt). 13  Auch die Formulierung aus dem Relativsatz von [C.5], ,welche (idealische Person) die Vernunft sich selbst schafft‘ taucht an späterer Stelle (im Beschluss) wieder auf, wenn Kant über die „Idee von Gott, welche sie [die Vernunft des Menschen] sich selber macht“ (487,11), spricht. Dass diese ,Idee von Gott‘ eine solche ist, ,welche die Vernunft sich selbst schafft‘, impliziert, wie wir noch sehen werden, nicht, dass ihr in der Realität nichts entspricht. Vgl. auch § 16, wo Kant (u.a.) in Bezug auf Gott von einer Person spricht, die nicht Gegenstand der Erfahrung ist und insofern ein „Gedankending“ (442,15) und gleichwohl in praktischer Hinsicht real.

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ist. Vielmehr besteht die einzige sinnvolle Möglichkeit von Vornherein darin, die ,andere Person‘ eben als ,idealisch‘ zu denken. Ein weiteres Manko dieser Interpretation ist, dass sie die Fußnote zu Absatz C nicht recht zu erklären vermag (zu dieser Fußnote gleich mehr). Diese epistemologische Deutung von [C.5] scheint uns, wie gesagt, die plausibelste zu sein. Es gibt allerdings weitere Optionen, dir wir an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen wollen. Die oben genannte, von uns präferierte Lesart geht davon aus, die Rede vom ,Anderen‘ als ausschließlich auf den ,Anderen‘ im Gewissen zu beziehen (wir nennen das die nicht-parallele Lesart: ,Dieser Andere im Gewissen mag nun eine wirkliche oder bloß idealische Person sein.‘). Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung lässt sich eine zweite, nicht-epistemologische Deutung ebendieser Lesart denken: Gemäß dieser Interpretation würde Kant zwei verschiedene Möglichkeiten einer ,wirklichen‘ und einer ,idealischen‘ Person benennen, die aber voneinander unabhängig sind. In diesem Fall wäre man gezwungen, die ,wirkliche Person‘ als homo noumenon zu verstehen (und die ,idealische‘ Person weiterhin als Gott; so viel ist jedenfalls unstrittig); eine andere, vom Menschen und von Gott verschiedene real existierende, ,wirkliche‘ Person kann klarerweise nicht Teil meines Gewissens sein. Wir müssten also lesen: [C.5a**] Dieser Andere im Gewissen mag nun eine wirkliche (der homo noumenon) oder bloß idealische Person (Gott) sein. Für diese Lesart spricht, dass Kant in der Fußnote zweifelsohne die Problematik der ,anderen Person‘ aufgreift, indem er ausdrücklich die „zweifache Persönlichkeit“ (439,22) von ,Angeklagtem‘ und Richter thematisiert. Dabei greift Kant auf die bereits aus dem § 3 bekannte Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon zurück. Die Fußnote erläutert nun erneut, wie es sein kann, dass der Mensch diesen ,Anderen‘ in seinem eigenen Gewissen als von ihm verschiedene Person verstehen muss. Der „Kläger“ (439,27) (bzw. der Richter) als ,andere Person‘ wird in der Fußnote als homo noumenon verstanden und damit natürlich nicht als Gott. Bis hierher legt die Fußnote tatsächlich eine alternative Lesart nahe, derzufolge der Gewissensrichter bzw. der Mensch als „Subjekt der moralischen [. . .] Gesetzgebung“ (439,28) nicht als ,idealische‘ Person, sondern als homo noumenon verstanden werden kann; das „doppelte Selbst“ (439,23) des Menschen wird demgemäß mit Rückgriff auf „die spezifische Verschiedenheit [. . .] der Fakultäten des Menschen (der oberen und unteren)“ (439,33) erklärt. Mit dieser Fußnote und der vorgestellten Interpretation wiederum hängt allerdings eine Vielzahl von Problemen zusammen. Erstens stellt sich der Fortgang der Fußnote als weitgehend unverständlich bzw. nicht kompatibel

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mit dieser Interpretation dar. Kant beschreibt nämlich trotz der vorhergehenden Identifizierung des ,Klägers‘ bzw. Richters mit dem homo noumenon den ,inneren Richter‘ als „machthabende Person“ (439,36) und als „Weltherrscher[.]“ (439,38), dessen „unbedingte[s] iubeo oder veto [wir nur] verehren können“ (439,39). Nun sind ,Weltherrschertum‘ und ,Allmacht‘ allerdings Attribute, die in Absatz D Gott zugeschrieben werden; somit ist nicht erkennbar, wie dies noch zum homo noumenon passen soll. Es ist demnach unklar, ob die Fußnote tatsächlich den homo noumenon als ,wirkliche‘ Person thematisiert oder doch Gott als ,idealische‘ Person oder womöglich beides vermischt (oder versucht, sie zusammenzubringen); eventuell könnte man den Schlussteil der Fußnote als (überraschende) Vorwegnahme von Absatz E verstehen. (An dieser Stelle mag durchaus die Frage aufkommen, ob die Fußnote möglicherweise deplatziert sein könnte.14 Inhaltlich weit mehr Sinn würde sie vor allem als Fußnote zu Absatz E machen, oder auch als Teil des Haupttextes nach Absatz C; im letzterem Fall wäre der anscheinend unvermittelte Beginn von Absatz D (,Eine solche idealische Person . . .‘) erklärt, da sie den letzten Satz der (dann versetzten) Fußnote aufgreifen würde.) Zweitens gibt es keinen Grund, den homo noumenon als ,wirkliche‘ Person im erwähnten epistemologischen Sinne zu verstehen, d.h. als Person, die uns in der sinnlichen Anschauung gegeben werden kann und deren Existenz wir theoretisch beweisen oder belegen können. Der homo noumenon ist in diesem Sinne nicht als ,wirklich‘ zu verstehen; auch ihn können wir nicht vermittelst der Anschauung erfahren oder theoretisch beweisen. Dies wird auch dadurch klar, dass Kant das Vernunftwesen (insbesondere das moralische) als ein Wesen beschreibt, „welches kein Sinn erreicht“ (418,10). Will man die nicht-epistemologische Interpretation aufrechterhalten, muss man demnach zugestehen, dass die Bedeutung von ,wirklich‘ hier nicht die gleiche ist, die im übernächsten Absatz zweifellos gebraucht wird – ,wirklich‘ müsste vielmehr im Sinne von ,eigentlich‘ (,wirkliches‘, „eigentliches Selbst“, GMS: 457,34) verstanden werden. Drittens erläutert Kant die wirkliche Person als homo noumenon nur in der erwähnten, sich an Absatz C anschließenden Fußnote. Damit stehen wir vor 14  Mutmaßungen über die Korruptheit des Textes scheinen im Falle der Tugendlehre durchaus berechtigt (vgl. dazu am Beispiel von § 9 Bacin/Schönecker 2010). Überhaupt ist die textuelle Beschaffenheit von § 13 als Ganzem fragwürdig: Abgesehen von der problematischen Platzierung der Fußnote folgen nach Absatz E drei weitere Absätze, die sich thematisch nicht an E anschließen und zudem mit einer völlig unvermittelten und im Text nicht begründeten Nummerierung einsetzen.

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dem Problem eines sehr großen Ungleichgewichts: Kant thematisiert dann die ,wirkliche Person‘ als homo noumenon lediglich in einer Fußnote, die ,idealische‘ aber im Haupttext. Viertens spricht gegen die nicht-epistemologische Lesart, dass die vermutete Option – wir können die ,andere Person‘ entweder als Gott oder als homo noumenon denken – (abgesehen vom bereits zitierten letzten Satz von Absatz C) aus dem Text selbst heraus nicht unmittelbar bzw. überhaupt nicht ersichtlich wird. Mehr noch: Der Fortgang des Texts scheint diese vermeintliche Wahlmöglichkeit sogar auszuschließen, indem nämlich suggeriert wird, dass wir uns den inneren Richter eben nicht entweder als ,idealisch‘ oder als ,wirklich‘ denken können, sondern als ,idealisch‘ denken müssen. Sowohl die Fußnote wie auch die sich anschließenden Absätze, die Gott als ,inneren Richter‘ thematisieren, lesen sich gewissermaßen jeweils alternativlos. Kant scheint dem Leser etwa insbesondere in Absatz E zu sagen: Die ,andere Person‘ muss als Gott gedacht werden; das Gewissen „leitet“ (439,18), so Kant, den Menschen „unvermeidlich“ (ebd., u.H.) zu Gott bzw. zur „Idee“ (439,17) Gottes. Wenden wir uns nun noch einer anderen Lesart zu, der parallelen Lesart (b). Diese geht nicht davon aus, dass die Rede vom ,Anderen‘ sich ausschließlich auf den Gewissensrichter bezieht. Ihr gemäß muss [C.5] wie folgt rekonstruiert werden: [C.5b] Dieser Andere mag nun, in einem realen Gericht, eine wirkliche Person oder, im Gewissensgericht, eine bloß idealische Person sein. Diese Lesart versteht den ,Anderen‘ als Richter eines – egal, ob realen oder idealischen – Gerichts, der in beiden Fällen verschieden vom ,Angeklagten‘ sein muss. Kant würde demnach das reale Gericht zur Folie des Gewissengerichts machen und betonen, dass in einem realen Gericht die andere Person eine ,wirkliche‘ Person ist, im Gewissensgericht aber eine ,idealische‘, nämlich Gott; und damit wäre auch begriffen, warum er dann im nächsten Absatz allein mit der ,idealischen‘ Person fortfährt – weil es nämlich in § 13 um das Gewissensgericht geht und damit eben um Gott. Mit der ,wirklichen‘ Person wäre demnach eine real existierende, von Gott und dem Menschen verschiedene andere Person gemeint, die aber nicht als Teil des Gewissens, sondern bloß als Teil eines normalen Gerichts zu verstehen ist. Gegen diese Interpretation sprechen auf den ersten Blick zwei Einwände, die allerdings zumindest zum Teil zu entkräften sind. Erstens thematisiert Kant eine tatsächlich ,wirkliche‘ (nicht noumenale) Person im Fortgang des Textes an keiner Stelle (weder im Haupttext noch in der Fußnote). Doch lässt sich hier einwenden, dass Kant ja zum einen bereits in den vorausgegangenen Absätzen sehr viel Raum auf die Erklärung verwendet hat, wie ein Gericht (nicht bloß im

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Gewissensfall, sondern im Allgemeinen) aufgebaut ist. Zum anderen können wir uns daran erinnern, dass wir uns zwar mit § 13 in der Tugendlehre befinden, aber mit ihr auch in der Metaphysik der Sitten, der auch die Rechtslehre zugehörig ist. Und die Überlegung wäre dann diese: Kant erläutert in Absatz A hauptsächlich das Gericht, in Absatz B spricht er über das Gewissen, und in Absatz C erläutert er das Problem der ,anderen Person‘. Da es natürlich auch bei einem ganz normalen realen Gericht der Fall ist, dass Richter und ,Angeklagter‘ verschieden sind, kann Kant am Ende von Absatz C in lockerem Stil hinzufügen, dass diese ,andere Person‘ nun eben im – realen – Gericht klarerweise eine ,wirkliche‘ Person sein kann bzw. ist, im Gewissensgericht aber eine ,idealische‘ (denn in unserem eigenen Gewissen – also irgendwie in unserem Geist oder unseren Gedanken – kann es keine andere ,wirkliche‘ Person geben). Wir müssen also, nochmals gesagt, lesen: ,Dieser Andere – also zunächst nicht der Gewissensrichter, sondern der Richter im Allgemeinen – mag nun (in der wirklichen Welt) eine wirkliche oder (im Gewissen) bloß idealische Person sein.‘ Da der erste Teil dieser Äußerung eine Selbstverständlichkeit ist – in einem wirklichen Gericht ist der Richter klarerweise eine ,wirkliche‘ Person – muss Kant auf diesen Sachverhalt und auf die ,wirkliche‘ Person an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Das würde erklären, warum Kant den folgenden Absatz D ohne Umschweife mit der Formulierung „Eine solche idealische Person (der autorisierte Gewissensrichter) . . .“ (439,3, u.H.) beginnt. Da der Kontext von § 13 zweifellos das Gewissen ist, kann die ,wirkliche‘ Person als Richter kommentarlos übergangen werden, und Kant thematisiert im direkten Anschluss den Gewissensrichter, der eben als ,idealisch‘ zu denken ist. Gegen die besagte Interpretation spricht, zweitens, dass sich ,dieser Andere‘ sowohl grammatisch wie auch inhaltlich auf den ,Anderen‘ im vorher erwähnten ,Gewissen des Menschen‘ zu beziehen scheint. Im vorhergehenden Satz schreibt Kant nämlich: ,Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen Anderen (als den Menschen überhaupt), d.i. als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen‘. Der darauf folgende Satz setzt ein mit den Worten ,dieser Andere‘. Wohlwollend kann man hier allerdings entgegnen, dass zwar auch im zitierten vorhergehenden Satz (C.4) (wie auch im Satz davor) vom ,Anderen‘ als Teil des Gewissens die Rede ist, aber dennoch stets das reale Gericht die Folie für das Gewissensgericht ist und somit mit dem ,Anderen‘ mindestens auch der ,Andere‘ als Teil eines realen Gerichts gemeint ist. Drittens spricht gegen diese Interpretation die Fußnote. Auch in dieser Lesart bleibt rätselhaft, ob, und wenn ja, wie, sie in Einklang zu bringen ist mit dem Haupttext.

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Die Eigenschaften des Gewissensrichters

Kant benennt in Absatz D des § 13 insgesamt drei Eigenschaften des ,Anderen‘. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass Kant hier von den Eigenschaften, die ein realer ,Gerichtshof‘ oder Richter hat, auf die Eigenschaften schließt, die ein Richter als Gewissensrichter haben muss. Eine solche Sichtweise ist allerdings nur eingeschränkt richtig, da die Eigenschaften eines realen Richters klarerweise nicht schlichtweg übernommen werden. Vielmehr werden sie teils überzeichnet, teils in ihrer Spezifität nicht abgeleitet, sondern im Kontext des Gewissensgerichts neu bestimmt und wiederum aus der phänomenologischen Erfahrung gewonnen. Wir werden im Folgenden diese drei Eigenschaften des Gewissensrichters sowohl hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten mit einem realen Richter wie auch hinsichtlich etwaiger Unterschiede betrachten. Der Gewissensrichter wird als „Herzenskundiger“ (439,4), als „allverpflichtend“ (439,5) und als allmächtig (er hat „alle Gewalt“, 439,9) bestimmt; und schon nach wenigen Zeilen wird klar, dass dies die Eigenschaften Gottes sind. Betrachten wir diese Eigenschaften der Reihe nach: Der Gewissensrichter muss, sagt Kant, als ,herzenskundig‘ gedacht werden, und ,herzenskundig‘ ist jemand, der das Innerste des Menschen kennt.15 Nun ist ein Richter in einem realen Gericht freilich nicht ,herzenskundig‘ im strengen Sinn (er kann nicht tatsächlich in den ,Angeklagten‘ hineinsehen), aber auch er muss die Motive und Intentionen des ,Angeklagten‘ in seine Überlegungen miteinbeziehen. Da nun das Gewissensgericht „im Inneren des Menschen aufgeschlagen [ist]“ (439,4), muss der Gewissensrichter mehr wissen über den ,Angeklagten‘ als ein realer Richter, und dies veranlasst Kant dazu, den Gewissensrichter als ,herzenskundig‘ zu bezeichnen. Er weiß um sämtliche Beweggründe und Motive des Menschen; er weiß, warum ich dieses und nicht jenes Urteil gefällt habe, ob ich unbewusst durch Neigungen in meinem Urteil beeinflusst werde, ob ich vernünftele oder nicht. Der ,innere Richter‘ muss all dies wissen, um in der Lage zu sein, wohlinformiert und verlässlich das Urteil der ,Lossprechung‘ oder ,Verdammung‘ über den Menschen zu fällen; er kennt unser Innerstes und weiß, ob wir ,behutsam‘ geurteilt haben (wenn wir ,behutsam‘ geurteilt

15  Kants Lesern, die mit der religiösen Terminologie natürlich viel mehr vertraut waren als die heutigen Leser, war gewiss klar, dass Kant sich mit dem Ausdruck ,Herzenskundiger‘ auf Gott und entsprechende Bibelstellen bezieht (vgl. z.B. Apg. 1:24). Vgl. auch Tugendlehre  § 15, wo Kant ebenfalls von Gott als einem ,Herzenskundigen‘ spricht: „Gebet ist auch nur ein innerlich vor einem Herzenskundiger [sic!] deklarierter Wunsch“ (441,30).

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haben, werden wir ,losgesprochen‘; wenn wir nicht behutsam, sondern aus den falschen Motiven heraus geurteilt haben, werden wir ,verdammt‘).16 Die zweite Eigenschaft des Gewissensrichters, die Kant benennt, ist die, ,allverpflichtend‘ zu sein. Aber warum müssen wir uns den ,Anderen‘ als ,allverpflichtend‘ vorstellen? Was das überhaupt heißt, erläutert Kant unmittelbar im Anschluss: „d.i. eine solche Person sein, oder als eine solche gedacht werden, in Verhältnis auf welche alle Pflichten überhaupt auch als ihre Gebote anzusehen sind“ (439,5). Was das bedeutet, ist nicht ohne Weiteres klar; Kant greift die Thematik am Ende des nächsten Absatzes (E) noch einmal auf, und in der Tat müsste man eigentlich Kants Überlegungen zur „Religionspflicht“ aus dem  § 18 und aus dem „Beschluss“ (486 ff.) zu Rate ziehen. Diese ,Religionspflicht‘ besteht in der „Erkenntnis aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (443,30). Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, als ob Kant an solchen Stellen die Geltung des moralischen Gesetzes an Gott als Gesetzgeber bände. Dies allerdings stünde im Widerspruch zu dem Kerngedanken der Kantischen Autonomie, demzufolge die Geltung moralischer Gesetze eben nicht an ein göttliches Wesen gebunden ist. Will man an diesem Kerngedanken festhalten, muss man die Rede von der ,Allverpflichtung‘ wie folgt verstehen: Die Eigenschaft des ,Anderen‘ bzw. Gottes, ,allverpflichtend‘ zu sein, kann dann nicht bedeuten, dass die menschlichen Pflichten in einem ursprünglichen Sinne Gottes Gebote sind. Sie gelten nicht, weil Gott sie gebietet; vielmehr entspringen sie der autonomen Vernunft – sowohl der menschlichen wie auch der göttlichen. In diesem Sinne ist auch eine Passage der Kritik der praktischen Vernunft zu verstehen, in der Kant ebenfalls betont, dass die Annahme der 16  In Schmidt/Schönecker (2014b, 283) haben wir dafür argumentiert, dass es bei der Frage nach der ,Behutsamkeit‘ nicht um die Frage nach einer Handlung aus Achtung bzw. aus Pflicht geht, sondern nur um die Rechtmäßigkeit einer Handlung. An dieser Stelle wäre in Bezug darauf folgender Einwand denkbar: Der Gewissensrichter muss nicht sämtliche Motive des ,Angeklagten‘ kennen, denn ob eine Handlung recht oder unrecht ist, kann er unabhängig vom Motiv entscheiden (wenn der ,Angeklagte‘ ein Versprechen nicht eingehalten hat, muss man nicht erst auf seine Motive sehen, so das Argument, um zu entscheiden, ob er unrecht gehandelt hat). Hierauf gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten: Entweder man versteht den Blick auf die Motivlage des Menschen als guten Indikator dafür, ob ,behutsam‘ geurteilt wurde bzw. das entsprechende moralische Urteil richtig bzw. falsch ist (denn wer aufgrund von Neigungen handelt, läuft eher Gefahr, nicht ,behutsam‘ bzw. moralisch falsch zu urteilen – obgleich dies natürlich kein notwendiger Zusammenhang ist, denn auch aus Neigung lässt sich Gutes tun). Oder man nimmt diesen Einwand als Hinweis darauf, dass es auch in Kants Gewissenstheorie in der Religionsschrift doch mehr um die Frage nach dem Handeln aus Achtung bzw. Pflicht geht und die Frage nach der ,Behutsamkeit‘ doch mindestens auch eine Frage nach einem Handeln aus Achtung ist.

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Existenz Gottes nicht dazu führe, den „Grund[.] aller Verbindlichkeit überhaupt“ ebenfalls in Gott sehen zu müssen, da dieser ,Grund‘ „lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst [beruht]“ (KpV: 126). Gottes Rolle besteht vielmehr darin, die ohnehin bestehende Geltung des Gesetzes für den Menschen zu bekräftigen, indem auch er dem Menschen befiehlt, sich an diese Gebote zu halten – nur insofern sind die Gebote auch Gottes Gebote und insofern ist er ,allverpflichtend‘. Immerhin schreibt Kant, dass ,alle Pflichten überhaupt auch als seine Gebote anzusehen sind‘. So wenig wie ein Richter im Gerichtshof die Gesetze selbst macht, sondern sie als Vertreter des Gesetzes repräsentiert und für ihre Einhaltung eintritt, so macht Gott die Gesetze nicht, befürwortet sie aber. In diesem Sinne müssen sowohl der Richter in einem realen Gerichtshof wie auch der Gewissensrichter als (co-)allverpflichtend verstanden werden. Gott als Richter repräsentiert also die moralischen Gesetze und bekräftigt ihre Geltung, wacht über sie und sorgt für ihre Einhaltung – sowohl vor wie auch nach begangenen Taten. Diese schwächere Lesart würde der ,Religionspflicht‘ nur die Funktion zuweisen, eine motivationale Lücke zu füllen, ohne dass die Autonomie als Quelle der Geltung moralischer Pflichten dadurch ihre singuläre Stellung verlöre.17 Die ,Religionspflicht‘, sich die ,Pflichten als göttliche Gebote‘ vorzustellen, diente demnach nur dazu, die „Verpflichtung (moralische Nötigung) [. . .] wohl anschaulich [zu] machen“ (487) und (damit) „zur Stärkung der moralischen Triebfeder“ (487) beizutragen und würde, entgegen allem semantischen Anschein (,allverpflichtend‘), keine Implikationen zum Geltungsgrund der Pflichten beinhalten. Es bleibt allerdings einzuwenden: Wir können keine abschließende Antwort auf die Frage geben, warum der Gewissensrichter schon an dieser Stelle als ,allverpflichtend‘ gedacht wird. Kant suggeriert zwar ein Argument („weil das Gewissen über alle freie Handlungen der innere Richter ist“, 439,8, u.H.). Aber es scheint uns nicht nachvollziehbar, warum diese behauptete Tatsache, dass ,das Gewissen über alle freie Handlungen der innere Richter ist‘, eine Erklärung dafür ist, dass dieser ,innere Richter‘ als ,allverpflichtend‘ gedacht werden muss. Über ,alle freien Handlungen‘ der ,innere Richter‘ zu sein, ist etwas anderes als, und impliziert jedenfalls nicht, ,allverpflichtend‘ zu sein. Wenn überhaupt, dann wird Kants These vom ,allverpflichtenden‘ Charakter der ,anderen Person‘ erst klar im Zusammenhang mit der ,Religionspflicht‘. Kommen wir nun zur dritten Eigenschaft des Gewissensrichters: Der innere Richter muss Kant zufolge „alle Gewalt (im Himmel und auf Erden) 17  Es ist allerdings nicht ersichtlich, warum überhaupt die Gefahr einer motivationalen Lücke droht. Eine solche Gefahr hat Kant in der KrV dazu getrieben, einen, wie es scheint, halbierten Autonomiebegriff zu nutzen.

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haben [. . .]“18 (439,9), d.h. er muss allmächtig sein. Obgleich ein Richter eines normalen Gerichts natürlich nicht allmächtig ist, liegt auch hier eine Gemeinsamkeit zwischen realem und Gewissensrichter vor, denn beide müssen dazu in der Lage sein, den „Gesetzen den ihnen angemessenen Effekt [zu] verschaffen“ (439,11); diese Eigenschaft gehöre, so Kant, „doch zum Richteramt notwendig“ (439,10), und d.h. zu jedem Richteramt dazu.19 Da Kant ,Verurteilung oder Lossprechung‘ als „Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung“ (438,7) bezeichnet und eine Wirkung nichts anderes als ein Effekt ist, besteht nun das ,dem Gesetz Effekt verschaffen‘ darin, den Akteur ,loszusprechen‘ oder zu ,verurteilen‘; das ist das, was Kant in der Fußnote als „moralische Folgen der Tat“ (439,37) bezeichnet. Auch dies, also ,lossprechen‘ und ,verurteilen‘, leistet ein gewöhnlicher Richter; also muss es auch der Gewissensrichter tun. Warum muss nun aber der Gewissensrichter nicht lediglich ,dem Gesetz Effekt verschaffen‘ können, sondern gar allmächtig sein? Zunächst ist das ,Effekt verschaffen‘ im Falle des Gewissensrichters anders; es geht hier um einen inneren, keinen äußeren Effekt. Ein realer Richter kann allenfalls hoffen, dass sich auf Seiten des Verurteilten ein schlechtes Gewissen einstellt; der Gewissensrichter hingegen kann dies direkt bewirken und hat somit Macht über innere Erfahrungen des Menschen. Zudem nutzt Kant statt des Begriffs ,verurteilen‘ auch stellenweise den Begriff „verdammen“ (440,26), was, zusammen mit der Formulierung ,im Himmel und auf Erden‘, auch so etwas wie eine ewige Strafe im christlichen Sinn suggerieren könnte. An dieser Stelle begeben wir uns allerdings ins Feld der Spekulationen; ,verdammen‘ könnte hier schlicht als alternativer Ausdruck zu ,verurteilen‘ genutzt sein oder eben nicht. Es wird trotz aller Bemühung nicht vollständig klar, warum wir den Gewissensrichter als all- und nicht nur begrenzt mächtig vorstellen müssen. Der Verdacht drängt sich auf, als machte Kant sich hier einer petitio principii schuldig: Der Gewissensrichter würde demnach schon vor dem eigentlichen Beweis der Identität mit Gott als allmächtig verstanden, weil er ja Gott ist (wie aber erst später gezeigt wird); in diesem Fall wäre Kants Argumentation zirkulär.20 18  Die Klammer muss als Anspielung auf das Vaterunser verstanden werden. 19  In der realen Welt sind zwar Judikative und Exekutive getrennt, aber dennoch bestimmt der Richter ja über die Exekutive und ordnet konkrete Maßnahmen an, die dann ausgeführt werden müssen. 20  Eine mögliche Begründung für die Eigenschaft der Allmacht Gottes könnte auch im Kontext des höchsten Guts gefunden werden. Es ist allerdings unklar, ob dies hier eine Rolle spielt (auf den ersten Blick nicht); jedenfalls können wir dies hier nicht weiter verfolgen.

Über einen (unentdeckten) Gottesbeweis in Kants

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So oder so, oder vielmehr unabhängig von einer systematischen Kritik an Kants Gedankengang, bleibt aber: Auch wenn die Interpretation der einzelnen Eigenschaften und ihrer Notwendigkeit für das Amt des Gewissensrichters stellenweise schwierig bleibt, ist klar, wie Kant seinen Grundgedanken verstanden wissen will: Es sind diese drei Eigenschaften der Allwissenheit, der Allverpflichtung und der Allmacht, die dazu führen, dass wir uns den ,Anderen‘ bzw. den Gewissensrichter als Gott denken müssen. Jede dieser drei Eigenschaften ist eine notwendige Eigenschaft der ,anderen Person‘, und vereinigt in einer Person sind sie hinreichend dafür, diese Person mit Gott zu identifizieren.21 Somit leitet das Gewissen den Menschen ,unvermeidlich‘ zu Gott bzw. zur ,Idee‘ Gottes. Kant schließt seine Ausführungen zu den Eigenschaften der ,anderen Person‘ am Ende von Absatz D mit der Bemerkung: „[S]o wird das Gewissen, als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung, gedacht werden müssen[. . .]“ (439,13, u.H.). Wir müssen uns, so Kant, das Gewissen also als ,Verantwortung‘ vor Gott vorstellen. 5

Das Gewissen als praktischer Gottesbeweis

Wie ist es nun zu verstehen, dass wir uns, und das ist am Ende von Absatz D unbestreitbar Kants These, das Gewissen als ,Verantwortung‘ vor Gott denken müssen? In welchem Sinne ,leitet‘, wie Kant sagt, das Gewissen den Menschen ,unvermeidlich‘ zu Gott? Kant scheint sagen zu wollen, dass der Mensch keine andere Wahl hat, als sich das Gewissen als Gottes Gewissensgericht zu denken – doch was wird damit über die tatsächliche Existenz Gottes ausgesagt? Haben wir hier einen (unentdeckten) Gottesbeweis vor uns? Das Gewissen gibt uns einen, sagen wir vorerst: Grund, weshalb wir Gott im moralischen Kontext denken müssen. In aller Kürze: Es steht für Kant außer Frage, dass es das moralische Gesetz gibt, dass der Mensch um die Geltung dieses Gesetzes weiß und prinzipiell ihm entsprechend handeln kann. Gäbe es das Gewissen als eine der vier Gemütsanlagen nicht, wäre der Mensch zu moralischem Handeln nicht in der Lage, da die Gemütsanlagen „subjektive Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ (399,8) sind. Würden wir uns keinen ,Anderen‘ als Teil des Gewissens denken, könnten wir uns den eingangs erläuterten Befund (dass der Mensch in sich eine andere, 21  Allerdings könnte man hier einwenden, dass jede der drei genannten Eigenschaften für sich schon hinreichend ist zur Identifizierung der ,anderen Person‘ mit Gott; denn nur Gott kann ,herzenskundig‘, ,allverpflichtend‘ oder allmächtig sein.

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ihn richtende Stimme vernimmt) nicht erklären, und würden wir uns den ,Anderen‘ nicht als ,allwissend‘, ,allverpflichtend‘ und allmächtig denken, könnten wir uns nicht erklären, warum uns dieser ,Andere‘ im Gewissen genau so erscheint, wie er uns faktisch erscheint, und wie er unsere Handlungen ,verurteilen oder lossprechen‘ kann. Für den Akt der – autonomen – Gesetzgebung brauchen wir Gott nicht, weder im Falle von Pflichten gegen Andere noch im Falle von Pflichten gegen sich selbst. Dies hat Kant vor allem in den §§ 1–3 der Tugendlehre klargemacht, indem er auf seinen Begriff der Autonomie der praktischen Vernunft zurückgreift und alle Pflichten als einem Akt der Selbstverpflichtung entspringend versteht.22 Wofür wir Gott aber durchaus, so Kant, brauchen, ist die Kontrolle der Einhaltung der Gesetze, d.h. für eine verlässliche moralische Beurteilung unserer selbst. Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle nochmals die drei Stufen des Gewissens und stellen wir uns die Frage, wo im Gewissensprozess Gott eine Funktion innehat.23 Auf den Stufen 1 und 2 sind allein Verstand und Vernunft aktiv, auf Stufe 3 wird das Gewissen in seiner spezifischen Form aktiv, indem es den Menschen zur ,Behutsamkeit‘ auffordert. Auch diese Aufforderung lässt sich noch problemlos als der praktischen Vernunft des Menschen entspringend denken; so, wie der Mensch vermittelst seiner Vernunft und der Gemütsanlagen weiß, dass er moralisch handeln soll, so weiß er auch (wenigstens indirekt), dass er ,behutsam‘ urteilen und sich nicht von seinen Neigungen auf schiefe Bahnen lenken lassen soll. Zu Stufe 3 gehören allerdings auch die Überprüfung, ob die Forderung nach ,Behutsamkeit‘ tatsächlich erfüllt wurde oder nicht, sowie die dementsprechende Verurteilung. Und an dieser Stelle erst sieht man sich gezwungen, an Gott zu denken: Erstens, weil, ein verlässliches Urteil über die Moralität meiner Handlungen und Motive nur von einem allwissenden Wesen gefällt werden kann (denn nur ein solches kennt meine geheimsten und unbewusstesten Motive), und zweitens, weil dem Urteil nur ,Effekt verschafft‘ werden kann, wenn ein Wesen auch die Macht dazu hat (d.h. wenn es mich die Verurteilung und den entsprechenden Schmerz oder die Lossprechung innerlich spüren lassen kann).24 22  Vgl. Schönecker (2010a). 23  Hier nochmals zur Erinnerung: Stufe 1: Der Verstand urteilt, ob eine konkrete Handlung geboten oder erlaubt ist. Stufe 2: Die subjektiv-praktische Vernunft bestimmt sich selbst und ihren Willen, indem sie das Urteil des Verstandes als willensbestimmend übernimmt. Stufe 3: Das Gewissen fordert den Menschen dazu auf, sich die Frage zu stellen, ob die Willensbestimmung auf Stufe 2 behutsam vorgenommen wurde, und die MetaUrteilskraft als besondere Form der Vernunft prüft dies. 24  Wegen der unklaren Bedeutung der ,Allverpflichtung‘ lassen wir diese hier außen vor.

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Somit führt uns das Gewissen also zur ,Idee‘ Gottes, oder etwas genauer gesagt: zur ,Idee‘, sich das Gewissen „als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung“ (439,13 ) zu denken. Oder noch einmal selbstständig formuliert: Das Gewissen führt uns zur ,Idee‘ von Gott als der Instanz, vor der wir uns im Gewissen verantworten müssen. Aber nochmals – welche Reichweite hat diese Überlegung? Wir möchten an dieser Stelle für folgende Position argumentieren: Unserer Ansicht nach gibt es gute Gründe, die Beschreibung des Gewissens in § 13 der Tugendlehre als praktischen Beweis der Existenz Gottes zu verstehen. Um zunächst zu erläutern, inwiefern hier möglicherweise ein praktischer Gottesbeweis vorliegen könnte, müssen wir uns zunächst daran erinnern, was ein Beweis oder ein Argument überhaupt ist oder leisten kann. Ein (deduktiver) Beweis liegt dann vor, wenn man aus (in der Regel) zwei oder mehr Aussagen (den Prämissen) eine weitere Aussage (die Konklusion) ableiten kann, deren Wahrheit bei valider Schlussform notwendig aus der Wahrheit der Prämissen folgt. Dies gilt sowohl für theoretische wie auch für praktische Beweise, und der Unterschied zwischen diesen beiden Unterarten ist für Kant lediglich der folgende: Während bei theoretischen Beweisen die Wahrheit der Prämissen selbst aus der Erfahrung bewiesen werden kann, ist dies bei einem praktischen Beweis nicht möglich. Hier kann die Wahrheit der Prämissen selbst nicht aus der Erfahrung bewiesen werden; dennoch muss aber natürlich die Wahrheit der Prämissen aus anderen Quellen einsichtig sein, damit das Argument triftig ist. Solch ein praktischer Gottesbeweis liegt unserer Ansicht nach im Kontext von Kants Theorie des ,inneren Richters‘ vor. Kants praktischer Gottesbeweis lässt sich so zusammenfassen: Im Gewissen ist uns unbestreitbar die Existenz eines inneren Richters gegeben. Dieser innere Richter muss herzenskundig, allverpflichtend und allmächtig sein. Herzenskundig, allverpflichtend und allmächtig kann nur Gott sein. Also müssen wir uns die Existenz des inneren Richters als Existenz Gottes denken. – Wir werden diesen Grundgedanken nun in Bezugnahme auf Kants Text entfalten, indem wir zunächst mehrere Einwände gegen eine solche Interpretation des § 13 ausräumen. 5.1 Zur Idealität des ,Anderen‘ Auf den ersten Blick gibt es ein Problem mit dieser Behauptung, dass Kant uns mit seiner Theorie des Gewissens einen praktischen Gottesbeweis liefert, und zwar Kants Text selbst. Dieser scheint nämlich Gegenteiliges zu suggerieren, da er ja, wie wir gezeigt haben, den Gewissensrichter als ,idealische‘ Person im Unterschied zu einer ,wirklichen‘ Person präsentiert. Diesen Einwand allerdings können wir recht problemlos entkräften. Entgegen einem möglichen ersten Eindruck heißt dies nämlich nicht, dass wir Gott nicht als real und nur

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als ,ideal‘ – im Sinne von nicht existierend – annehmen müssen; vielmehr können wir Gott tatsächlich für real existierend halten. Dafür muss man nur in Rechnung stellen, wie Kant die Begriffe ,Ideal‘ bzw. ,idealisch‘ gebraucht. Schon in der Kritik der reinen Vernunft versteht Kant unter dem Ideal die Idee als Person und somit als Gott.25 Dass er Gott als ,Ideal‘ oder als „Idee [. . .], welche sie [die Vernunft des Menschen] sich selber macht“ (487,11), bezeichnet, sagt aber nicht, dass Gott nur eine ,Idee‘ und nicht real ist, sondern bloß, dass wir Gott weder vermittelst der Erfahrung noch vermittelst eines theoretischen Beweises erkennen oder erklären können. Nur solche erfahrbaren Dinge sind Kant zufolge ,wirklich‘; alles andere ist zwar nicht erfahrbar, deswegen aber in einem anderen Sinne nicht weniger wirklich und auch nicht weniger ungewiss. Daher schreibt Kant auch in Absatz E von § 13, dessen erster Teil ([E1.1]) eine Reflexion der vorausgegangenen Rede über Gott darstellt, und der noch einmal beleuchtet, was es denn nun heißen soll, dass wir nicht umhin kommen, das Gewissen als ,Verantwortung‘ vor Gott zu verstehen: [E1.1] Dieses will nun nicht soviel sagen als: der Mensch durch die Idee, zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, sei berechtigt, noch weniger aber: er sei durch dasselbe [Gewissen] verbunden, ein solches höchstes Wesen außer sich als wirklich anzunehmen; denn sie [die Idee] wird ihm nicht objektiv durch theoretische, sondern bloß subjektiv, durch praktische, sich selbst verpflichtende Vernunft, ihr [der Idee Gottes im Gewissen] angemessen zu handeln, gegeben [. . .] (439,17) Das scheint, auf den ersten Blick, eine deutliche Absage an die Erwartung zu sein, aus dem Gewissen ließe sich ein praktischer Gottesbeweis schöpfen. In der Tat wird die Idee Gottes dem Menschen zwar ,nicht objektiv durch theoretische Vernunft gegeben‘, und insofern dürfen wir Gott nicht als ,wirklich‘ im Sinne eines Erfahrungsgegenstands bezeichnen. Aber sie wird dem Menschen – als praktische Erkenntnis – ,subjektiv, durch praktische Vernunft gegeben‘, und insofern dürfen wir Gott sehr wohl für existent halten (da es neben Erfahrungsgegenständen eben noch andere existierende Objekte gibt). Was Kant praktische Erkenntnis26 nennt, beschränkt sich nicht auf die Erkenntnis von Imperativen als Handlungsnormen. Diese ,Erkenntnis‘ ist zwar in der Tat insofern ,praktisch‘, als es um die Erkenntnis von Regeln für die Praxis geht; sie hat es „bloß mit Bestimmungsgründen des Willens zu tun“ (KpV: 20). 25  Vgl. dazu die Kapitel „Von dem Ideal überhaupt“ und „Vom dem transzendentalen Ideal (Prototypon transscendentale)“ der KrV. 26  Vgl. für einen kurzen Überblick und Stellenhinweise Bacin (2015).

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Dennoch ist zu beachten, dass es auch eine ,praktische Erkenntnis‘ transzendenter (übersinnlicher) Gegenstände auf der Grundlage der moralischen Gesetze als „ratio cognoscendi“ (KpV: 4) gibt; ja, in gewisser Hinsicht kann man sagen, dass das gesamte kritische Projekt Kants darauf ausgerichtet ist, zwischen der theoretischen (d.h. der aus sinnlicher Anschauung und begrifflicher Struktur gewonnenen) Erkenntnis von Erscheinungen und der Erkenntnis von Dingen an sich auf der Grundlage moralischen Wissens zu unterscheiden.27 Wir wissen, dass das moralische Gesetz (für uns der Kategorische Imperativ) gilt; dann wissen wir aber auch um die Implikationen, die sich daraus ergeben: dass wir frei sind, unsere Seelen unsterblich, und dass Gott existiert. In der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV schreibt Kant ausdrücklich und in sehr grundsätzlicher Weise über das Programm seiner Philosophie: „Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der spekulativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sie nicht in ihrer praktischen Erkenntnis Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen, und auf solche Weise, dem Wunsche der Metaphysik gemäß, über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen“ (KrV: BXXI, u.H.). Kant spricht ausdrücklich von „praktischen Erkenntnisquellen“ (KrV: BXXVI), die über „praktische Data“ (BXXII, u.H.)28 verfügen; was hier ‚gegeben‘ ist, ist das moralische Gesetz. Kant spricht fortlaufend davon, dass wir um das moralische Gesetz wissen, dass wir es erkennen, dass es real und wirklich ist. Es steht für ihn außer Frage, „daß ein solches Noumenon, als Sache an sich, wirklich und selbst nach seinen Gesetzen, wenigstens in praktischer Absicht, erkennbar ist, ob es gleich übersinnlich ist“ (Preisschrift: 292). Es gehört leider zu den grundlegenden Missverständnissen der Kantrezeption, dass Kant die Ideen von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit als bloße Ideen in dem Sinne betrachtete, dass wir so tun müssten, als ob diese Ideen für unsere Praxis zwar unverzichtbar, tatsächlich aber in dem Sinne illusionär wären, als ihnen in der wirklich realen Welt (den Dingen an sich, den Noumena) nichts entspreche; ja selbst das moralische Gesetz wird dabei als letztlich illusionär verstanden (‚illusionär‘ natürlich nicht im willkürlich-subjektiven Sinne, sondern in dem Sinne, wie etwa

27  Vgl. die Vorrede zur GMS, wo Kant schreibt, dass die Metaphysik der Sitten es ebenfalls mit „Gegenständen und den Gesetzen zu tun hat, denen sie unterworfen sind“ (GMS: 387), nämlich den Gesetzen der Freiheit. 28  Vgl. KrV: BXXVIII und KU: 468.

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Raum und Zeit letztlich illusionär sind, wenn sie auch unvermeidbar illusionär sind).29 Kants Darlegung etwa von Freiheit als „bloß in der Idee zum Grunde gelegt“ (GMS: 448) sind für eine solche Interpretation scheinbar einschlägig; dabei meint Kant nur, dass es keinen theoretischen Beweis der Freiheit gibt (in dem von ihm definierten Sinne): „Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgendeiner möglichen Erfahrung, dargetan werden kann“ (GMS: 459, u.H.). Die ,objektive Realität‘ der Freiheit kann aber auf andere, nämlich moralisch-praktische Weise dargetan werden,30 und Ähnliches gilt für Gott und Unsterblichkeit. Der praktische Charakter einer Erkenntnis macht diese nicht weniger real; so wenig die Freiheit des Menschen nicht unwirklich ist, weil wir sie nur praktisch, vermittelst des moralischen Gesetzes erkennen, so wenig ist also Gottes Existenz unwirklich, weil wir sie praktisch erkennen.31 Kurzum: Die Rede von der ,Idealität‘ des ,Anderen‘ und damit des Gewissensrichters sowie die Rede von der Subjektivität der Gotteserkenntnis sprechen nicht gegen die These, dass Kant uns im Kontext des Gewissens einen praktischen Gottesbeweis präsentiert. Sie bestätigen sie vielmehr.

29  Diese Interpretationsrichtung wurde wohl nicht unmaßgeblich gefördert durch die Als-ob-Philosophie Vaihingers. Für eine vollständige Naturalisierung einschließlich der Moral vgl. neuerdings Rauscher (2015). 30  Vgl. z.B. die KpV, wo Kant zweifelsfrei den Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott „objektive Realität“ (KpV: 132) zuspricht. Da, wo Kant schreibt, solche Ideen oder Begriffe hätten „keine objektive Realität“ (KpV: 134), nimmt er stets eine Einschränkung vor: Sie haben ,keine objektive Realität‘ „auf dem theoretischen Wege“ (ebd., u.H.), weil es „keine korrespondierende Anschauung“ (ebd.) gibt; vgl. auch KpV:136. In den sogenannten Vorarbeiten zur Rechtslehre schreibt Kant sehr schön, dass (z.B.) „Pflicht“ ein „Begriff von einem Grunde zu handeln [sei] der objective Realität hat aber den Sinnen nicht vorgestelt werden kann“ (AA 20: 274). − Die Zahl der Stellen, in denen Kant die Freiheit auf die eine oder andere Weise ,real‘, ,wirklich‘ usw. nennt, ist Legion. Wir erinnern auch an den § 91 der KU, wo Kant die Freiheit (wie überhaupt die Ideen) zu den ,[e]rkennbare[n] Dingen‘ (KU: 467) rechnet und die Freiheit sogar zu den „Tatsachen“ (KU: 468) und „scibilia“ (ebd.). 31  Es ist nicht unsere These, dass die Erkennbarkeit Gottes den gleichen epistemologischen Status hat wie die Erkennbarkeit der Freiheit. Im bereits erwähnten § 91 der KU rechnet Kant die Freiheit zu den wissbaren Tatsachen, Gott dagegen wird zu den „Glaubenssachen“ (KU: 467). Darauf folgt aber nicht, dass Glaubenssachen nur im Sinne einer ,regulativen Idee‘ oder gar im Sinne des Als-ob zu verstehen wären.

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5.2 Zum Begriff der Analogie in Absatz E Doch es gibt noch ein weiteres Problem, das sich, so meinen wir, nicht ganz so einfach beheben lässt. Wir begegnen ihm in der zweiten Hälfte ([E1.2]+[E2]) von Absatz E.32 Hier zeigt sich die Dunkelheit und Komplexität des Texts in besonderem Maße. Diese zweite Hälfte von Absatz E lautet wie folgt: [E1.2] [. . .] und der Mensch erhält vermittelst dieser [praktischen, sich selbst verpflichtenden Vernunft / Idee Gottes] nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen eine bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit (welche auch religio genannt wird) als Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralisch-gesetzgebenden Vernunft) sich vorzustellen und dessen Willen sich als Regel der Gerechtigkeit33 zu unterwerfen. [E2] Der Begriff von der Religion überhaupt ist hier dem Menschen bloß ,ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote‘. (440,1) Diese Passage birgt eine Fülle von Informationen, Bezügen und Problemen in sich, die wir an dieser Stelle nicht alle berücksichtigen können. Das Hauptproblem besteht darin, wie die Rede von der ,Analogie‘ zu verstehen ist und wie sich Kants Einbettung der Gewissensproblematik in ebendiese Rede auf unsere Behauptung auswirkt, § 13 beinhalte einen Gottesbeweis. Um dies zu klären, muss man sich u.a. fragen, worauf ,dieser‘ (440,2) bezogen ist, wer genau der ,Gesetzgeber‘ (440,2) ist, welche die Relata der Analogie sind und welches ihr Ergebnis ist.34 Diese Probleme hängen auf komplexe und verwirrende Weise zusammen. Wir sind der Ansicht, dass sich die genannten Probleme nicht zu voller Zufriedenheit klären lassen; so gut wie jede Interpretation bringt mehr oder minder gravierende Probleme mit sich, was der extremen Dunkelheit des Texts geschuldet ist. Um vorab einen Eindruck 32  Der ganze lange Absatz E besteht nur aus zwei Sätzen, die wir [E1] und [E2] nennen. 33  An dieser Stelle (, . . . dessen Willen sich als Regel der Gerechtigkeit . . .‘) folgen wir der zweiten Auflage der Tugendlehre (1803); die entsprechende Formulierung der ersten Auflage (,dessen Willen den Regeln der Gerechtigkeit‘) scheint fraglich. Tatsächlich müssen wir aber eine Einschränkung festhalten: Der Text der A-Auflage (1797) lässt sich grammatisch kohärent lesen. Tut man dies, sieht man sich allerdings mit einem ganz anderen Thema konfrontiert, nämlich der Frage nach der Willkürlichkeit des göttlichen Willens (man müsste dann lesen, dass man den Willen Gottes ,den Regeln der Gerechtigkeit unterwerfen‘ muss). Dies spielt hier allerdings keine Rolle. 34  Als ,Relata‘ bezeichnen wir die beiden Elemente einer Analogie: Etwas (A) wird in Analogie zu etwas Anderem (B) verstanden; dazu später mehr.

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von den Schwierigkeiten zu vermitteln, werden wir jetzt zunächst im Überblick die Elemente benennen, aus denen die Mehrdeutigkeiten der Textstelle und damit die Hürden der Interpretation resultieren. Formulieren wir dazu vier Grundfragen: (1) Worauf ist ,dieser‘ bezogen? (440,2) (a) auf ,praktische, sich selbst verpflichtende Vernunft‘ (439,21) (b) auf die ,Idee‘ (Gottes) (439,17) (2) Wer ist der ,Gesetzgeber‘? (440,2) (a) der Richter (b) Gott (c) ein möglicher säkularer Weltgesetzgeber (3) Was sind die Relata der Analogie? Lesart (a): Unter der Annahme, dass sich die Relata hinter ,dieser‘ und dem ,Gesetzgeber‘ verbergen, erhalten wir folgende Möglichkeiten für die Relata der Analogie:35 (a1) ,praktische Vernunft‘ – Richter (a2) ,praktische Vernunft‘ – Gott (a3) ,praktische Vernunft‘ – ein möglicher säkularer Weltgesetzgeber (a4) ,Idee‘ Gottes im Gewissen – ein möglicher säkularer Weltgesetzgeber Lesart (b): Unter der Annahme, dass sich Relatum A nicht hinter ,dieser‘ verbirgt, erhalten wir folgende Möglichkeiten für die Relata: (b1) das Vorgestellte36 – ,Gesetzgeber‘ (b2) das Gewissen – ,Gesetzgeber‘ (4) Was ist das Ergebnis der Analogie? (1) dass wir uns das Gewissen als Verantwortung vor Gott denken müssen (2) die Geltung der ,Religionspflicht‘

35  Rein kombinatorisch würden sich zwei weitere Möglichkeiten ergeben: a5) Idee Gottes im Gewissen – Richter und a6) Idee Gottes im Gewissen – Gott. Diese Möglichkeiten schließen wir allerdings als offenkundig sinnlos von vornherein aus. 36  Mit dem ,Vorgestellten‘ beziehen wir uns auf das, worauf wir eine ,Leitung‘ erhalten, nämlich ,die Gewissenhaftigkeit sich als Verantwortlichkeit . . . vorzustellen‘ ([E1.2]).

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Wir können, wie gesagt, im Folgenden nicht alle möglichen Optionen durchspielen; wie unschwer zu erkennen ist, ergibt die Kombinatorik eine Vielzahl solcher Interpretationsmöglichkeiten. Der Spielraum der Interpretation ist aber nicht nur ein gewissermaßen logischer; es gibt mehrere Lesarten, die je für sich durchaus Argumente auf ihrer Seite haben. Nun werden wir aber die Probleme der Reihe nach und ausführlicher erläutern. 5.3 Ad (1) Worauf ist ,dieser‘ bezogen? Beginnen wir mit der ersten Grundfrage nach dem Bezug von ,dieser‘: Der Bezug ist nicht unmittelbar klar; grammatisch kommen die zwei genannten Möglichkeiten, also ,praktische Vernunft‘ und ,Idee‘ in Betracht. Nimmt man an, dass sich ,dieser‘ auf die kurz vorher genannte ,Vernunft‘ bezieht, lautet Kants These (verkürzt dargestellt)37 folgendermaßen: [E1.2a] Der Mensch erhält vermittelst der praktischen, sich selbst verpflichtenden Vernunft nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftiger Weltwesen eine Leitung, sich die Gewissenhaftigkeit als Verantwortlichkeit vor Gott vorzustellen. In dieser Rekonstruktion haben wir die Kennzeichnung ,von uns selbst unterschiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen (der moralisch-gesetzgebenden Vernunft)‘ ersetzt durch ,Gott‘. Die Tatsache, dass Kant hier von einem ,heiligen Wesen‘ spricht, schließt aus, die Kennzeichnung auf den ,inneren Richter‘ zu beziehen, so wie er in der unmittelbaren Gewissenserfahrung gegeben ist. Vielmehr beschreibt die Kennzeichnung, wie dieser ,innere Richter‘ verstanden wird und verstanden werden muss, nämlich als ,heiliges Wesen‘, d.h. als Gott. Bezieht man dagegen ,dieser‘ nicht auf die ,praktische Vernunft‘, sondern auf die erwähnte ,Idee‘ (439,17), so lautet Kants These folgendermaßen: [E1.2b] Der Mensch erhält vermittelst der Idee Gottes nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftiger Weltwesen eine Leitung, sich die Gewissenhaftigkeit als Verantwortlichkeit vor Gott vorzustellen. Wichtig ist nun, dass die ,Idee‘, von der hier die Rede ist, nicht schlicht die Idee Gottes ist, sondern die ,Idee‘ von Gott als der Instanz, vor der wir uns im Gewissen verantworten müssen und zu der das Gewissen den Menschen ,unvermeidlich leitet‘. Auf den ersten Blick scheint die Aussage von [E1.2b] redundant: Durch die Idee Gottes als Gewissensinstanz, vor der wir uns verantworten müssen, ,erhalten‘ wir eine ,Leitung‘, sich die Gewissenhaftigkeit als ,Verantwortlichkeit‘ vor Gott vorzustellen, was aber, wie es scheint, das 37  Für den Augenblick abstrahieren wir von dem Satzteil, in dem es um den ,Willen‘ und die ,Regeln der Gerechtigkeit‘ geht.

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Ergebnis der Analogie ist. Unter dieser Voraussetzung – dass es das Ergebnis der Analogie ist, sich das Gewissen als ,Verantwortlichkeit‘ vor Gott vorzustellen – kann man [E1.2b] ausschließen, d.h. den Bezug von ,dieser‘ auf ,Idee‘. Die Variante [E1.2a] ist also unter der besagten Voraussetzung die richtige. Wenn wir nun weiterhin annehmen, dass auch der zweite Teil von Absatz E (, . . .; und der Mensch erhält . . .‘) eine Reflexion über die vorhergehenden Absätze C und D ist, kommen wir zu folgender Überlegung: In diesen Absätzen C und D wird eine Erklärung für die Funktionsweise des Gewissens gesucht. Dieses Gewissen ist nichts anderes als die praktische Vernunft bzw. die praktische Vernunft in einer ganz bestimmten Hinsicht, eben der des Gewissens.38 Daher rekonstruieren wir die Kernaussage von [E1.2] vorläufig wie folgt: [E1.2]* Der Mensch erhält vermittelst der praktischen, sich selbst verpflichtenden Vernunft (=das Gewissen) nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftiger Weltwesen eine Leitung, sich die Gewissenhaftigkeit als Verantwortlichkeit vor Gott vorzustellen.39 Wir werden aber später sehen, dass es, erstens, eine Variante gibt, in der die ,praktische Vernunft‘ nicht mit dem Gewissen identifiziert wird, und dass es, zweitens, keineswegs zwingend ist, jene Voraussetzung bezüglich des Ergebnisses der Analogie zu machen. Ad (2) und (3): Wer ist der Gesetzgeber, und was sind die Relata der Analogie? Was heißt es aber, und damit kommen wir zur eigentlichen Funktion der Analogie, dass der Mensch diese Leitung ,nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftiger Weltwesen‘ erhält? Widerspricht dies nicht unserer Gottesbeweis-These? Betrachten wir zunächst etwas genauer, was Kant überhaupt unter einer Analogie versteht. Zu ihr gehören zwei Elemente: Relatum A, das vermittelst einer Analogie beschrieben werden soll, und Relatum B, das zur vergleichenden Beschreibung herangezogen wird. Dabei ist Relatum A meist ein Gegenstand, der keiner unmittelbaren Anschauung fähig ist, und insofern können wir keine (theoretische) Erkenntnis im strengen Sinn von ihm erlangen. Relatum B hingegen ist anschaulich 5.4

38  Entsprechendes lesen wir auch in der Einleitung zur Tugendlehre: „Denn Gewissen ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft“ (400, 27, u.H.). 39  Wir hatten zuvor gesagt, dass das Problem in unserem Kontext (des Gewissens) nicht die eigentümliche Natur der Selbstverpflichtung ist, sondern die Selbstüberprüfung. Dagegen scheint hier das Gewissen als ,praktische, sich selbst verpflichtende Vernunft‘ verstanden zu werden; diese Spannung können wir hier nicht weiter verfolgen.

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zugänglich und kann daher dazu dienen, Überlegungen von B auf A zu übertragen. Dementsprechend lässt sich auch Kants Definition der Analogie als „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“ (KU: 352), verstehen. Damit wären wir bei der dritten Grundfrage (die, wie wir gleich sehen werden, mit der zweiten verbunden ist), welche genau die Relata der Analogie sind – was wird hier also analog zu was verstanden? Während Relatum B an der Oberfläche einfach zu identifizieren ist als ,Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen‘ (aber was heißt das?), bereitet die Identifizierung von A großes Kopfzerbrechen. Es ergeben sich in Bezug auf A zunächst die beiden grundlegenden Lesarten, dieses Relatum A entweder als enthalten im ,dieser‘ (das sich ja unter einer bestimmten Voraussetzung auf die ,praktische Vernunft‘ bezieht) zu verstehen – oder eben nicht. Spielen wir diese beiden Lesarten durch. Lesart (a): Das ,dieser‘ und der ,Gesetzgeber‘ als die Relata der Analogie Die erste Möglichkeit, derzufolge die Analogie zwischen dem, worauf das Demonstrativpronomen ,dieser‘ verweist (die ,praktische Vernunft‘), und dem ,Gesetzgeber‘ besteht, haben wir eben schon formuliert ([E1.2]*): Durch eine Analogie zwischen dem Gewissen bzw. dem Gewissensrichter (= Relatum A, Bezug auf ,dieser‘) und einem ,Gesetzgeber‘ (= Relatum B) erkennen wir, dass (Ergebnis der Analogie) wir im Kontext des Gewissens Verantwortung vor Gott beweisen müssen. Aber wer genau – damit kommen wir zur zweiten Grundfrage – ist der ,Gesetzgeber‘: (a) ein Richter, (b) Gott, oder (c) ein möglicher säkularer Weltgesetzgeber? Option (a): Für einen realen Richter als Relatum B spricht zunächst, dass dieser gut geeignet ist als Entsprechung zum ,inneren Richter‘ und dass in Absatz D auch faktisch der ,innere Richter‘ analog zu einem realen Richter verstanden wird.40 Vor allem aber hat Option (a) den Vorteil, dass ein realer Richter de facto anschaulich erfahrbar ist (wir kennen eben Richter aus der realen Welt), und diese Anschaulichkeit ist ja für das Relatum B gefordert. Gegen Option (a) allerdings spricht, dass man einen realen Richter schwerlich als ,Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen‘ verstehen kann. 5.5

40  Mit einem ,realen Richter‘ meinen wir natürlich nicht eine reale Person (etwa einen Richter an irgendeinem Gericht in Königsberg), sondern die Figur oder Rolle des realen Richters.

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Option (b): Für diese Interpretation spricht, dass die Wendung vom ,Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen‘ wohl mit der Tradition als Kennzeichnung Gottes verstanden werden muss. Dies passt insofern zum Prädikat der ,Allverpflichtung‘, als diese als die Eigenschaft der ,anderen Person‘ verstanden wird, alle Pflichten für alle aufzustellen. Gegen Option (b) spricht, dass Gott als Relatum B die entscheidende Funktion der Analogie, nämlich Anschaulichkeit zu liefern, gerade nicht zukommt.41 Abgesehen von dieser mangelnden Anschaulichkeit ergibt sich zudem folgendes strukturelles Problem: Was Kant in den vorausgehenden Absätzen macht, ist nicht, das Gewissen in Analogie zu Gott oder dessen erfahrbaren Eigenschaften zu setzen. Vielmehr setzt er das Gewissen in notwendige Analogie zu einem realen Gericht und schließt vermittelst dieser Analogie, dass man das Gewissen als ,Verantwortung‘ vor Gott verstehen muss. Option (c): Erkennt man das Ergebnis der Analogie darin, dass mit ihr in Absatz E ein neues Moment hinzukommt (das Moment der ,Religionspflicht‘; dazu gleich mehr), dann spricht für Option (c) (der Weltgesetzgeber), dass dieses Moment in der zwar irrealen, aber doch einigermaßen plausiblen Figur eines möglichen säkularen Weltgesetzgebers eine anschauliche Darstellung fände. Gegen Option (c) spricht einfach, dass sie weit hergeholt scheint; nirgendwo im Text vorher ist auch nur ansatzweise von einer solchen Figur die Rede. Die vierte Option – oben unter (3a4) gelistet – können wir hier noch nicht behandeln; dies geschieht weiter unten, wenn wir problematisieren, was eigentlich das Ergebnis der Analogie ist. In dieser Option wird das Relatum A auch nicht als ,praktische Vernunft‘, sondern als ,Idee‘ Gottes im Gewissen verstanden. 5.6 Lesart (b): Das ,dieser‘ verweist nicht auf das Relatum A Selbst wenn man das ,dieser‘ auf die ,praktische Vernunft‘ bezieht, impliziert dies nicht zwingend, dass damit die ,praktische Vernunft‘ das Relatum A der Analogie ist; damit kommen wir zur zweiten Möglichkeit, das Relatum A zu identifizieren. Komplizierterweise kommt auch dafür wieder mehr als nur eine Option in Betracht: Das Relatum A könnte dasjenige sein, das man sich 41  Selbst wenn man zugestehen würde, dass Gott hier nicht einfach ,Gott‘ ist, sondern ,Gesetzgeber‘ und als solcher durchaus erfahrbar, scheint uns diese Erwiderung nicht überzeugend zu sein. Sie würde vielmehr die Lesart (3a3) unterstützen, derzufolge das Relatum B ein möglicher säkularer Weltgesetzgeber ist, dessen Eigenschaften analogisch erlauben, Überlegungen über Gott bzw. den (anschaulich nicht erfahrbaren) Gewissensrichter anzustellen.

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mittels der ,Leitung‘ vorstellen kann (b1) oder das Gewissen (b2); damit ist noch nicht geklärt, wie man den ,Gesetzgeber‘ als Relatum B zu verstehen hat. Die Grundidee von (b1) ist folgende: Durch die praktische Vernunft wird dem Menschen laut [E1.1] die ,Idee‘ (,sie‘, 439,20) von Gott ,gegeben‘ als der Instanz im Gewissen, vor der wir uns zu verantworten haben. Aber ,vermittelst dieser‘, also ,vermittelst‘ der ,praktischen Vernunft‘ wird dem Menschen noch etwas gegeben; er ,erhält‘ (d.h. eben, ihm wird etwas gegeben) ebenso die ,Leitung‘, sich nicht nur die ,Gewissenhaftigkeit als Verantwortlichkeit‘ vor Gott vorzustellen, sondern auch, und das ist eben ein neues Moment, ,dessen‘, d.h. Gottes, ,Willen sich als Regel der Gerechtigkeit zu unterwerfen‘. Der Mensch erhält also durch die ,praktische Vernunft‘ die ,Leitung‘, sich alle Pflichten als göttliche Gebote vorzustellen (was Kant später in § 18 ,Religionspflicht‘ nennt). Relatum A ist also das, was sich nach der ,Leitung‘ vermittelst ,dieser‘ (,praktischen Vernunft‘) als Vorstellung (die Gewissenhaftigkeit als ,Verantwortlichkeit‘ vor Gott und die ,Religionspflicht‘) ergibt. – Unabhängig davon, was in dieser Lesart eigentlich der ,Gesetzgeber‘ als Relatum B sein soll, liegt ihr Problem auf der Hand: Der Mensch ,erhält . . . nach der Analogie . . . eine Leitung‘, sich das Gewissen als Gott und die ,Religionspflicht‘ ,vorzustellen‘; somit sind die Vorstellung des Gewissens als Gott und die ,Religionspflicht‘ das Ergebnis der Analogie, nicht aber Relatum A. Kommen wir zu Option (b2), die wir in zwei Varianten vorstellen werden. Beiden Varianten ist gemein, dass sie das Gewissen als Relatum A verstehen (und nicht das ,dieser‘) und Relatum B als den ,Gesetzgeber‘. Entweder kann man nun davon ausgehen, dass sich ,dieser‘ auf die ,praktische Vernunft‘ bezieht, die aber nicht mit dem Gewissen identifiziert wird. Der Gedanke wäre dann: Die praktische Vernunft stellt eine (notwendige) Analogie zwischen dem Gewissen und einem ,Gesetzgeber‘ auf, und dadurch erhalten wir eine ,Leitung‘, das Gewissen als ,Verantwortlichkeit‘ vor Gott zu verstehen. Die Analogie findet also in Absatz D zwischen dem Gewissen und einem realen Richter statt, ihr Ergebnis war die Idee Gottes als Gewissensinstanz, und der ,Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen‘ muss als ,allverpflichtender‘ und allmächtiger Richter verstanden werden. (Das Hauptproblem dieser Gleichsetzung hatten wir bereits thematisiert.) Demnach folgt nach dem Semikolon (440,1) im Wesentlichen kein neuer Aspekt; vielmehr wird die Art des ,Gegebenseins‘ der ,Idee‘ Gottes erläutert (,erhält‘ greift das ,gegeben‘ nur auf). Oder man geht davon aus, dass sich ,dieser‘ doch auf die ,Idee‘ Gottes im Gewissen bezieht (aber wiederum dennoch nicht Relatum A ist). Die Überlegung wäre in diesem Fall, dass die ,Idee‘ ,nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber‘ gegeben wird; die ,Idee‘ wäre demnach das Ergebnis der Analogie (dazu gleich noch einmal mehr). Und vermittelst dieser durch eine

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Idee erhaltene Analogie zwischen Gewissen und ,Gesetzgeber‘ (= Richter) erhalten wir nun die ,Leitung‘, das Gewissen uns so-und-so zu denken, und insbesondere die ,Religionspflicht‘. 5.7 Ad (4) Was ist das Ergebnis der Analogie? Wir haben oben darauf hingewiesen, dass das Modell (3a4), wonach das Relatum A die ,Idee‘ Gottes im Gewissen ist und das Relatum B ein säkularer Weltgesetzgeber, nur dann sinnvoll ist, wenn das Ergebnis der Analogie nicht allein darin besteht, dass wir uns das Gewissen als Verantwortung vor Gott denken müssen; wäre dem so, wäre das Modell, wie oben schon bemerkt, zirkulär. Konzentrieren wir uns also nun auf die Frage, was das Ergebnis der Analogie ist. Es fällt auf, dass Kant die ,Gewissenhaftigkeit‘ in der Klammer mit ,religio‘ (440,4), also Religion, identifiziert, und dieser Begriff der Religion wird auch in [E2] nochmals aufgegriffen, indem behauptet wird, dass Religion hier ,ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote‘ sei. Und tatsächlich wird hier in der zweiten Hälfte von Absatz E ein Gedanke entwickelt, der zwar nicht völlig neu ist, da Kant bereits vom ,allverpflichtenden‘ Charakter der ,anderen Person‘ (Gottes) gesprochen hat, der aber trotzdem diesen Aspekt noch einmal eigens thematisiert und begrifflich präzisiert – den Gedanken der ,Religionspflicht‘: Es ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, sich seine Pflichten als Gebote Gottes vorzustellen. Somit können wir nun Lesart (3a4) thematisieren. Ihrzufolge kann man das ,dieser‘ durchaus auf die ,Idee‘ Gottes als Gewissensrichter beziehen, weil der Einwand der Zirkularität dadurch seine Kraft verliert, dass das Ergebnis der Analogie wesentlich in der ,Religionspflicht‘ besteht. Gestützt wird diese Lesart dadurch, dass der letztmögliche Bezug von ,dieser‘ ein Personalpronomen ist, nämlich ,ihr‘ (440,1). Und dieses ,ihr‘ muss auf die zuvor genannte ,Idee‘ bezogen werden, sodass wir erhalten: ,Der Mensch ist durch die Idee (des Gewissens als subjektivem Prinzip einer vor Gott zu leistenden Verantwortung) nicht berechtigt, oder verbunden, ein höchstes Wesen außer sich als wirklich anzunehmen; denn die Idee (sie) wird ihm . . . bloß subjektiv, durch praktische, sich selbst verpflichtende Vernunft, der Idee (ihr) angemessen zu handeln, gegeben; und der Mensch erhält vermittelst dieser Idee nur nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen eine bloße Leitung . . .‘. Somit wäre als Relatum A die ,Idee‘ Gottes im Gewissen zu verstehen und als Relatum B der ,Gesetzgeber‘. Interpretiert man diesen ,Gesetzgeber‘ nun als einen säkularen Weltgesetzgeber, erhielte man folgende Überlegung: Die von Kant dargelegte Analogie steht entgegen allem ersten Anschein nicht in

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direktem Zusammenhang mit dem Gewissen oder dem ,inneren Richter‘; nicht dieser oder jenes wird ,nur‘ in Analogie zu etwas gesetzt, sondern das Ergebnis des Vergleichs des ,inneren Richters‘ mit einem realen Richter – dass wir nämlich das Gewissen als ,subjektives Prinzip‘ vor Gott verstehen müssen. Dieses Ergebnis wird nun analog zu einem Weltgesetzgeber verstanden. Und das Ergebnis dieser erneuten Analogie ist die ,Religionspflicht‘: Fortan muss das Gewissen nicht nur als bloß ,subjektives Prinzip einer vor Gott zu leistenden Verantwortung‘ gedacht werden, sondern alle Pflichten (aller Vernunftwesen) müssen darüber hinaus auch als Pflichten Gottes verstanden werden (deswegen ist Relatum B der Analogie auch – in Rückgriff auf die Eigenschaft des ,Anderen‘, allverpflichtend zu sein – der Gesetzgeber). Gegen diese Lesart spricht nicht nur die, wie schon bemerkt, recht unplausible Deutung der Wendung ,Gesetzgeber aller vernünftiger Weltwesen‘. Es kommt hinzu, dass die ,Religionspflicht‘ im Kern in der Idee Gottes als Gewissensrichter bereits enthalten ist (denn dieser muss ja als ,allverpflichtend‘ verstanden werden), und dieser Interpretationsansatz den hohen Preis bezahlen muss, Kant eine mehr als deutliche Redundanz in der Darstellung zu unterstellen. Es würde sich bei der ,Religionspflicht‘ um keinen neuen Aspekt handeln, der einer Verdeutlichung durch eine Analogie bedürfte; vielmehr betonte Kant nur erneut, was er bereits gesagt hat. 6

Was bleibt? Versuch einer abschließenden Deutung

Versuchen wir eine Zusammenfassung und abschließende Bewertung: In § 13 müssen mehrere argumentative Schritte klar voneinander getrennt werden. Der phänomenologische Befund des ,inneren Richters‘ wird, da sich die Vernunft andernfalls in Widersprüche verstricken würde, in einem ersten Schritt mit dem ,Anderen‘ erklärt. In einem zweiten Schritt wird dieser ,innere Richter‘ als ,Anderer‘ dann analog zu einem äußeren, realen Richter verstanden, und aufgrund dieser Analogie werden die drei Eigenschaften des Gewissensrichters geschlussfolgert, um diesen dann mit Gott zu identifizieren. Strittig ist, wie uns scheint, im Kern, wie man die zweite Hälfte von Absatz E interpretieren soll: Was versteht Kant hier analog zu was, und was ist das Ergebnis der Analogie? Wiederholt Kant hier die Analogie aus Absatz D, oder präsentiert er einen weiteren Aspekt? Für die Frage, ob Kant in § 13 einen praktischen Gottesbeweis darlegt, ist dieser Streit aber unerheblich. Wer sich auf Kants Rede von der Analogie bezieht, um die These, Kant liefere hier keinen Gottesbeweis, zu untermauern,

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ist im doppelten Sinne schlecht beraten. Denn erstens ist ja insgesamt gesehen diese Analogie sehr schwer rekonstruierbar, und so lange unklar ist, worin sie besteht, kann sie nicht herangezogen werden, um dieses oder jenes zu belegen oder widerlegen. Zweitens ist die vielleicht plausibelste Interpretation dieser Analogie gänzlich ungeeignet, unsere These (Kant präsentiert in § 13 einen praktischen Gottesbeweis) zu schwächen. Das Gewissen bzw. der ,innere Richter‘ ist in § 13 das, dessen Funktionsweise nicht anschaulich erfahren werden kann; um dennoch etwas darüber auszusagen, müssen wir eine Analogie heranziehen, die aber keinesfalls beliebig ist, sondern sich dem Menschen aufgrund seiner Erfahrung der ,anderen Stimme‘ als notwendig aufdrängt. Daher wird das Gewissen (die praktische Vernunft) bzw. der ,innere Richter‘ als Teil dieses Gewissens in Analogie gesetzt zu etwas, das anschaulich erfahrbar ist und bzgl. dessen wir über Wissen verfügen. Mit Hilfe dieser Analogie schließen wir auf Gott als die ,andere Person‘, aber daraus folgt nicht, dass die Erkenntnis dieser ,anderen Person‘ oder eben Gottes im Gewissen, vor dem wir uns verantworten müssen, bloß eingebildet, subjektiv oder gar fiktiv wäre; gleiches gilt für die ,Religionspflicht‘. Gleichwohl die Erkenntnis Gottes als Gewissensinstanz keine theoretische sein kann, ist sie trotzdem Erkenntnis.42 An anderer Stelle nennt Kant alle Erkenntnis Gottes „symbolisch“ (KU: 353), und so wenig, wie damit gemeint ist, dass die Erkenntnis Gottes fiktiv wäre, so wenig ist es die analogische Erkenntnis. Praktische Erkenntnis ist Erkenntnis, auch wenn sie ,symbolisch‘ oder analogisch ist.43 7

Ein kurzer Blick auf die Literatur

Kants Theorie des Gewissens und vor allem der Zusammenhang mit Gott werden in der Sekundärliteratur nur sporadisch betrachtet und wenn, dann meist nicht mit der gebotenen Genauigkeit. Dies führt dazu, dass besonders der von uns behauptete praktische Gottesbeweis überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder jedenfalls nicht thematisiert wird – und selbst wenn man unserer These nicht zustimmt, sollte man die Textgrundlage, die es unbezweifelbar gibt, ernst nehmen. Der fehlende Ernst zeigt sich auch darin, dass in der 42  In § 13 gibt es also einen direkten Weg vom moralischen Gesetz über das Gewissen zur Religionspflicht. In der KpV läuft dieser Weg über den Begriff des höchsten Guts: „Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d.i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote . . .“ (KpV: 129). Auf diesen Zusammenhang können wir hier nicht eingehen. 43  Vgl. dazu auch Maly (2012).

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von uns herangezogenen Forschungsliteratur, so weit wir sehen, niemand das Analogie-Modell näher analysiert. Doch der Reihe nach: In Wood’s Kant’s Ethical Thought (1999), einem der einflussreichsten Bücher über Kants Moralphilosophie der letzten Jahre, wird das Gewissen in nur einem Satz als eine der vier Gemütsanlagen erwähnt; die Gerichts-Parallele und die Verbindung zu Gott werden nicht ­thematisiert.44 Malibabo, dessen Buch (2000) sich u.a. zu einem nicht unerheblichen Teil mit der Beschreibung aller Pflichten der TL beschäftigt, erwähnt das Gewissen an keiner zentralen Stelle und die mit ihm verbundene Pflicht gar nicht – was umso unverständlicher ist, als, wie bereits erwähnt, § 13 die Überschrift „Von der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als den angeborenen Richter über sich selbst“ trägt und somit schon durch die Überschrift eine mit dem Gewissen verbundene Pflicht nahegelegt wird.45 In Timmons Kant’s Metaphysics of Morals (2002) wird Gott als der ,Andere‘ im Gewissen an keiner Stelle thematisiert; in diesem Sammelband befasst sich der Aufsatz von Hill (2002) noch am ausführlichsten mit der Gewissensthematik, doch auch hier findet man keine Erwähnung Gottes oder eine adäquate Bezugnahme auf § 13. Dies ist umso erstaunlicher, als Hill insbesondere das Verhältnis von Gewissen und Motiv beleuchtet; auch zur ,Religionspflicht‘ oder zur Eigenschaft des Gewissensrichters, ,allverpflichtend‘ zu sein, wird keine Verbindung hergestellt. Auch die Arbeit von Dauner (2008) thematisiert, so weit wir sehen können, Gott als den Gewissensrichter bei Kant bzw. dessen Eigenschaften nicht; ebenso wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Lektüre von Höffe (2014). Auch in Sensens Aufsatz (2015) zum Gewissen werden, obgleich es einen längeren Abschnitt zum ,inneren Richter‘ gibt, weder der ,Andere‘ noch Gott thematisiert. Auch in Denis‘ Sammelband Kant’s “Metaphysics of Morals” (2010) wird die Verbindung zwischen Gott und Gewissen nicht zufriedenstellend beleuchtet. Guyer (2010) schreibt in seinem Beitrag noch am meisten zu diesem Thema, obgleich er die Frage nach einem möglichen Beweis der Existenz Gottes an dieser Stelle nicht explizit stellt (die spezifische Bedeutung von ,ideal‘ jedenfalls wird nicht thematisiert).46 44  Vgl. Wood (1999, 38). 45  Nun kann man einräumen, dass die Interpretation allein dieser Überschrift allerdings den Leser vor Probleme stellt und auch die Platzierung des § 13 überhaupt (vgl. dazu Schmidt/ Schönecker 2014b, 305). Dies darf aber nicht vergessen lassen, dass im § 13 nichtsdestotrotz von einer – wie auch immer genau zu verstehenden – Pflicht die Rede ist, die in einer Beschreibung aller Pflichten der TL zweifelsohne Erwähnung finden sollte. 46  Vgl. dazu: „But what is important in all of this is that we conceive of conscience as an ,ideal person‘ who ,impose[s] all obligation‘ [. . .] The point is just that conscience can be thought of as the empirical voice that informs us of our specific obligations [. . .]“ (Guyer 2010, 145).

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Kittsteiners Ausführungen (1991) über Kants Gewissenstheorie irritieren durch eine frappierende Textferne. So behauptet er etwa – ohne ernsthafte Diskussion –, Kant vollziehe in der Religionsschrift „[d]ie Ausgrenzung aller religiösen Bezüge aus einem Begriff des Gewissens“ (Kittsteiner 1991, 267) und wohl auch insgesamt; es seien „alle Verbindlichkeiten des Gewissens gegenüber einem Gott abgeschnitten“ (ebd., 268); das Gewissen brauche „keinen anderen Mitwisser oder Zeugen, keinen Gott und keinen Teufel, sondern es stellt den Menschen ,wider oder für sich selbst zum Zeugen auf [. . .]‘ “ (ebd.); und der Mensch sei „keinem fremden Richter unterworfen, sondern er ist mit einem ,doppelten Selbst‘ ausgestattet; gleichsam mit einem Ich über seinem Ich, das die vormaligen Funktionen Gottes wahrnimmt“ (ebd., 279). Forkl (2001) kommentiert § 13 der TL und somit auch die betreffenden Stellen zu Gott, kommt dabei aber im Wesentlichen zu folgenden zwei Einschätzungen, ohne diese ausreichend zu begründen: § 13 zeigt ihm zufolge nicht, dass der Mensch „zur Annahme einer solchen Idee ,berechtigt‘ (=theoretisch berechtigt)“ (Forkl 2001, 180) sei; das stimmt, daraus folgt aber nicht, dass „das Gewissen [. . .] kein Beweis dafür [ist], daß Gott existiert“ (ebd.). Ebenfalls werde, so Forkl, nicht gezeigt, dass der Mensch „durch das Gewissen zur Gottesvorstellung ,verbunden‘ [sei]; es besteht keine Pflicht, sich Gott als Gewissensrichter vorzustellen“ (ebd., 181).47 Weiter schreibt Forkl: „[D]a die Idee nicht objektiv durch praktische Vernunft gegeben ist, können wir durch die Idee nicht dazu verpflichtet werden, gemäß der praktischen Vernunft zu handeln“ (ebd.). Nun ist zunächst unklar, wie dies gemeint ist: Sofern Forkl hier sagen will, dass die Idee Gottes auf keine Art und Weise durch die praktische Vernunft gegeben wird, widerspricht diese Aussage Kants eigener Aussage; denn Kant behauptet ja gerade, dass die Idee Gottes dem Menschen „subjektiv, durch praktische, sich selbst verpflichtende Vernunft [. . .], gegeben“ (439,21) wird. Sofern Forkl aber sagen will, dass die Idee Gottes zwar durch praktische Vernunft, aber nicht ,objektiv‘ gegeben wird, muss noch einmal festgehalten werden, dass aus der Tatsache, dass ein Gegenstand nicht theoretisch (,objektiv‘) erkennbar ist, nicht folgt, dass er gar nicht erkennbar ist. Auch die Freiheit wird uns, wie gezeigt, nicht objektiv durch theoretische Vernunft gegeben, sondern praktisch, und dennoch sind wir vollkommen berechtigt, sie als real anzunehmen. Ebenso sind wir durch die Betrachtung des Gewissens darin gerechtfertigt, Gottes Existenz als eines Wesens außerhalb unserer Erfahrungswelt anzunehmen.

47  Dass es keine Pflicht gibt, sich den Gewissensrichter als Gott vorzustellen, sagt Kant an keiner Stelle; vielmehr ist es unklar, was genau die in der Überschrift des § 13 erwähnte Pflicht ist.

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Auch Sorabji (2014) und Esser (2013) sprechen sich viel zu schnell gegen die Möglichkeit eines praktischen Gottesbeweises aus, ohne den Text ausreichend genau zu betrachten. So behauptet Sorabji: „[. . .] it does not follow that God actually exists outside oneself. For the idea is given subjectively by practical reason, not objectively by theoretical reason“ (Sorabji 2014, 180). (Außerdem beschreibt Sorabji die drei Eigenschaften Gottes nicht auf adäquate Weise, insbesondere nicht die der Allverpflichtung.) Auch Essers Interpretation führt in die gleiche Richtung – auch ihr zufolge beinhaltet die Schilderung des Gewissens als Gerichtshof keinesfalls einen praktischen Gottesbeweis. Sie betont, dass es sich beim ,Anderen‘ im Gewissen um „an imaginary other“ (Esser 2013, 282) handelt und schreibt: “This sensualization of conscience by analogy does not, of course, have the status of a proof of God’s existence [. . .]” (ebd., u.H.). Blöser (2014) thematisiert das göttliche Gewissensgericht relativ ausführlich; ob sie den praktischen Erkenntnischarakter und somit den praktischen Gottesbeweis allerdings völlig ablehnt, wird nicht ganz klar. Einerseits „warnt“ Kant ihrzufolge „ausdrücklich davor, die Identifikation des Gewissensrichters mit Gott als Aussage über die ,objektive‘ Existenz eines göttlichen Wesens misszuverstehen“ (Blöser 2014, 126). Blöser schreibt: „Gemeint ist damit [mit der praktischen Gotteserkenntnis] offenbar, dass die Vorstellung Gottes moralische Verpflichtung und Verantwortlichkeit verdeutlichen bzw. in einer pädagogisch besser greifbaren Art und Weise darstellen kann.“ (ebd.) Andererseits scheint Blöser auch im Kontext der Freiheit deren praktische Erkenntnis anzuerkennen („Das Urteil, man sei frei, ist vielmehr eine Art von praktischer Erkenntnis, die daraus folgt, dass man ein vernünftiges Prinzip, das Sittengesetz, als verbindlichen Handlungsgrund anerkennt“, ebd., 115.) Letztlich allerdings scheint auch sie den praktischen Erkenntnischarakter nicht in vollem Umfang zu erfassen. Dies wird deutlich, wenn sie etwa schreibt: „Kant nennt sie [die idealische Person] wegen ihrer Eigenschaften, allwissend und ,allverpflichtend‘ (d.h. alle Pflichten vorschreibend) zu sein, Gott. Zugleich räumt er jedoch ein, dass von dieser Konzeption des Gewissens nicht auf die Existenz Gottes geschlossen werden kann, sondern Gott nur ,nach der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen‘ (6:440) vorgestellt wird“ (ebd., 220). Literatur Bacin, Stefano (2015): „Praktische Erkenntnis“, in: Willaschek, Marcus / Stolzenberg, Jürgen / Mohr, Georg / Bacin, Stefano (Hrsg.), Kant-Lexikon, Berlin / Boston. Bacin, Stefano / Schönecker, Dieter (2010): „Zwei Konjekturvorschläge zur Tugendlehre, § 9“, in: Kant-Studien Heft 2, 247–252.

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Jenseits des Gewissens

Der Mensch als Endzweck der Schöpfung Arthur Kok In seiner praktischen Philosophie untersucht Kant die Möglichkeit der Freiheit unter der Bedingung der kopernikanischen Wende. In der phänomenalen Wirklichkeit gibt es nichts, was wir einen freien Willen nennen können, weil jede Handlung auch als Resultat mechanischer Gesetze erklärt werden könnte. Also muss der freie Wille ein Noumenon sein, von dem wir aber nur einen negativen Begriff haben. Den Gegenstand eines solchen Begriffs können wir nicht erkennen. Aus diesem Grund wird Kants kritische Philosophie häufig als ein Dualismus zwischen theoretischer und praktischer Vernunft dargestellt. Obgleich ich meine Willensfreiheit nicht theoretisch beweisen kann, darf ich in praktischer Hinsicht, d.h. insofern ich in meinen Handlungen versuche, die moralische Pflicht zu verwirklichen, die Existenz meiner Freiheit annehmen. Ich soll, also muss ich auch können. Meines Erachtens ist es aber ein Missverständnis, dass Kant wirklich gedacht hat, dass es praktisch überzeugende Gründe geben könnte, die aber theoretisch nicht zu begreifen wären. Eine solche Interpretation führt dazu, und hat auch oft dazu geführt, dass Kants These, dass die Begrenzung der Erkenntnis Raum für die Freiheit schaffen muss, so gemeint ist, als ob sie von einer anderen, z.B. rein moralischen, Erkenntnisart unterschieden werden könnte, deren Geltung selbstverständlich leicht zu problematisieren wäre, da sie keinen theoretischen Grund hat. Meiner Meinung nach ist bei Kant genau das Gegenteil der Fall. Die Grenzen der theoretischen Vernunft bestimmen ohnehin auch die Grenzen der praktischen Vernunft, weil genau diese Grenzbestimmung eine kritische praktische Philosophie ermöglicht, ohne die sie sich in bloße Spekulation verlieren würde.1 Dieser Beitrag beabsichtigt nachzuweisen, wie Kant seine praktische Philosophie aus der Begrenzung der reinen Vernunft in der ersten Kritik entwickelt. Also die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft ist 1 In der Vorrede seiner Kritik der praktischen Vernunft sagt Kant selbst zu dieser Frage: „Ich besorge in Ansehung dieser Abhandlung nichts von dem Vorwurfe, eine neue Sprache einführen zu wollen, weil die Erkenntnißart sich hier von selbst der Popularität nähert. Dieser Vorwurf konnte auch niemanden in Ansehung der ersteren Kritik beifallen, der sie nicht blos durchgeblättert, sondern durchgedacht hatte.“ (Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, 10.)

© koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_009

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nicht erst in der Kritik der Urteilskraft thematisch, sondern auch schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft. Dennoch wird erst am Ende der dritten Kritik, in der Methodenlehre, letztlich klar, wie das Faktum und die Postulate (die oft zu Unrecht als bloß praktische Urteile interpretiert werden) in der Tat mit der theoretischen Vernunft vollständig übereinstimmen. Diese Entwicklung des Gedankens lässt sich mit Kants Ausdruck zusammenfassen, dass „Moral also unumgänglich zur Religion [führt]‟.2 Es wird sich ergeben, dass dieser Übergang zur Religion zutiefst mit Kants These, dass „der Mensch der Schöpfung Endzweck“ ist, verbunden ist.3 1

Übergang von theoretischen zur praktischen Philosophie und Begründungsfunktion der praktischen Vernunft

Das Subjekt ist transzendental und spontan, insofern es Begriffe hervorbringt, aber für die Anwendung dieser Begriffe, d.h. zur Apprehension, bleibt es von der sinnlichen Anschauung abhängig. Die Unabhängigkeit des Intellekts liegt in der synthetisierenden Handlung, die durch Gesetzmäßigkeit Einheit – und erst hierdurch Objektivität – setzt, aber darin ist er auch von der Vermittlung durch das Sinnliche abhängig. Kant hebt an dieser Stelle ausdrücklich hervor, dass die Kraft des Verstandes nicht schöpferisch ist, d.h. wir haben keine intellektuelle Anschauung, aber dennoch die Kraft, die Natur zu zwingen, sich nach unseren Begriffen zu richten. Ohne diese Verstandestätigkeit würde es gar keinen Gegenstand der Erfahrung geben. Objektivität ist an sich Begriff, zwar ein in seinem empirischen Gebrauch durch Sinnlichkeit beschränkter Begriff. Also, objektive Erkenntnisse sind niemals absolut, aber nicht, weil Begriffe prinzipiell einen in der Anschauung gegebenen Gegenstand niemals vollständig erfassen können, sondern weil sie die prinzipielle Möglichkeit einer solchen Erfahrung, welche ihre Synthesekraft überhaupt ausmacht, nur in Bezug auf eine unzureichende Anschauung verwirklichen können. Nun können wir nicht sagen, dass in der praktischen Philosophie bloß dadurch, dass wir uns jetzt nicht mehr mit der Möglichkeit der Erkenntnis, sondern mit der des Handelns beschäftigen, dieser Standpunkt der theoretischen Vernunft nicht mehr relevant sei. Nicht nur setzt Handeln selbstverständlich Bewusstsein voraus, dessen Struktur Hauptthema der ersten Kritik ist, aber mehr spezifisch, wenn wir zum Behuf der Möglichkeit des Handelns 2 Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der Religion, 6. 3 Kant: AA V, Kritik der Urteilskraft, 435.

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in der praktischen Philosophie den freien Willen thematisieren wollen, ergibt sich, dass die in der Kritik der reinen Vernunft abgelehnte Schöpfungskraft, als die kausale Verbindung von Begriff und Gegenstand, gerade zur Möglichkeit des Handelns überhaupt erforderlich ist. Meines Erachtens ist also die Frage, die in Kants praktischer Philosophie im Mittelpunkt steht, wie eine für das Handeln notwendige, ursprüngliche Beziehung auf einen Gegenstand unter der Bedingung der Kritik des theoretischen Gebrauchs der Vernunft denkbar, d.h. im Begriff erfassbar, ist. Das heißt, dass die Vorstellung unseres Selbst als Ursache eines Gegenstandes aus empirisch-pragmatischen Gründen keine für uns sinnvolle Freiheit vorstellbar macht. Dazu gehört eben auch das Urteil, dass wir Handlungsfähigkeit annehmen dürfen, weil das moralische Sollen ein Können voraussetzt. Dieses wäre auch bloß pragmatisch: Es stimmt zwar, aber es erklärt nichts. Kant schlägt vor, das freie Subjekt als einen sich der Natur unterwerfenden Gesetzgeber darzustellen, und behauptet, dass dieses gesetzgebende Subjekt in noumenaler und selbstbestimmender Hinsicht Grund des Handelns ist. Doch gerade in der Übereinstimmung von Gesetzgebung und Selbstbestimmung wird dasjenige, was in der Kritik der reinen Vernunft sorgfältig getrennt blieb, zusammengenommen; nämlich der Unterschied zwischen denjenigen Begriffen, die mittels sinnlicher Anschauung auf Gegenstände bezogen werden können, und denjenigen, die durch Selbstbestimmung diese Beziehung unmittelbar von sich aus zustande bringen. Kant handelt diese Übereinstimmung nicht unkritisch ab, sondern setzt zu Recht, dass sie zum Begriff der Handlung gehört. Er zeigt gerade, im Gegensatz zum Pragmatismus, dass die menschliche Freiheit sehr erklärungsbedürftig ist! (Übrigens ist der Grund, dass die Wirklichkeit des Handelns eine Verbindung annehmen muss, welche der theoretischen Vernunft erspart blieb, dass letztere die Bestimmung des Gegenstands als etwas Übersinnliches und Unerkennbares, also als ein Ding an sich, stehen lassen könnte, da es dort ja nicht um die Bestimmung, sondern um die Grenze derselben ging.) Das kritische Moment der praktischen Philosophie besteht hauptsachlich darin, dass Kant nicht über die Spannung zwischen Selbstbestimmung und Gesetzgebung hinausgeht. Einerseits ist das freie Subjekt ein Noumenales, bei dem die Vorstellung eines Gegenstandes unmittelbar dessen Wirklichkeit hervorbringt, und dass deshalb die ursprüngliche Einheit von Begriff und Gegenstand ist; andererseits hört dieses Subjekt nicht auf, mit dem transzendentalen Subjekt, das sich als affizierten Verstand gerade als nicht ursprünglich weiß, übereinzustimmen. Schon von Anfang der Grundlegung an können wir Kant so lesen, als ob er diese Aufgabe lösen wollte.

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Im Grunde wäre die Lösung die, dass wir uns selbst nur mittels der Gesetzgebung als Ursprung eines Gegenstandes begreifen können. Dies erklärt Kants Ausgangspunkt, dass Handlungen nur nach Regeln, d.h. nach Maximen, möglich sind. Maximen können niemals bloß beliebig sein, sondern als meine Maximen haben sie ein Moment der Selbstbestimmung an sich. Sie können also nicht ursprünglich aus den heterogen bestimmten Neigungen hervorkommen. Hier wird erstmal klar, was die eigentliche Aufgabe ist. Die objektive Gültigkeit einer Maxime wird also gerade dadurch bewiesen, dass sie das Handeln bestimmen soll, absolut unabhängig von demjenigen, was empirisch der Fall ist. Nun könnte man sagen, dass die Gründung einer derartigen objektiven Gültigkeit im Noumenalen über die Grenze jeglicher Erkenntnis hinausgeht. Wir haben aber die reine Kategorie der Kausalität, die uns in die Lage versetzt, ein selbstbestimmendes Wesen als bloß logische Möglichkeit, d.h. als zu einer Welt jenseits der sinnlichen gehörig, festzuhalten. Obwohl diese Welt nicht empirisch beweisbar ist, muss jeder empirische Beweis umgekehrt doch die Einheit der Erfahrung, nämlich als Begriff des Dinges an sich, voraussetzen, und damit die Möglichkeit einer solchen Welt wesentlich offenlassen. Es steht also nicht nur nicht im Widerspruch zur Erfahrung, ein solches Wesen anzunehmen; im Gegenteil, insofern es lediglich die im Grenzbegriff bloß negativ angegebene Möglichkeit der Erfahrung positiv fasst, erfassen wir am Ende nichts anderes als die Möglichkeit der Erfahrung selber und wäre das Urteil, dass sogar die Erfahrung im absoluten Sinne, d.h. mit Inbegriff ihrer Möglichkeitsbedingungen, keine Freiheit beweisen würde, sogar selbst noch ein Widerspruch in sich. Ebenso kann man nicht leugnen, dass aus dieser Sicht jede Maxime eine kategorische Dimension hat, und dass Maximen, insofern sie kategorisch sind, in der Tat objektiv gesetzgebend sein müssen. Doch diese Objektivität beweist sich nur in ihrer vollständigen Unabhängigkeit vom Sinnlichen und leugnet damit, dass jede Maxime gesetzgebend ist, also im Verhältnis zum Sinnlichen steht. Es ist deshalb unmöglich, eine konkrete Maxime zu formulieren, die die kategorische Dimension adäquat ausdrückt. Vom Verhältnis zum Sinnlichen können wir nicht absehen, weil sogar das rein theoretische Wegsehen von allem Sinnlichen in der Bestimmung eines Gegenstandes zum wesentlich unbestimmten Begriff des Dinges an sich führt. Trotzdem ist die Annahme eines noumenalen Subjekts der allgemeinen und kategorischen Gesetzgebung erlaubt, wenn wir das Subjekt als Selbstverwirklichung der reinen Begriffe verstehen. Dies löst das Problem nicht unmittelbar, weil die Darstellung der Gesetzgebung des Verstandes als

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Selbstverwirklichung der reinen Begriffe (obschon reine Begriffe als Kategorien spontan sind) erst Rechenschaft darüber ablegen muss, dass Verstandesbegriffe trotzdem nicht schöpferisch sind. Also, die reine Synthesehandlung des Selbstbewusstseins darf niemals als Handlung im praktischen Sinne verstanden werden. Die wahre Lösung wird aber gefunden, wenn wir uns klar werden, dass die Verwirklichung der Begriffe durch die relative, nicht-schöpferische, von Affektion abhängige Spontanität des Verstandes eine absolute Negation aller Sinnlichkeit in der Bestimmung eines Gegenstandes durch Begriffe voraussetzt. Diese Negation ist der Vernunftschluss, den Kant am Ende der transzendentalen Ästhetik einführt, und welche über das absolute Nichts-Sein von Raum und Zeit in Bezug auf die Möglichkeit der Erkenntnis von Dingen an sich (als ihre transzendentale Idealität) entscheidet.4 Die Negation aller Sinnlichkeit in der Anschauung entwickelt sich durch die Analytik des Verstandes hindurch zum Grenzbegriff, aber bekommt in der praktischen Philosophie eine positive Bedeutung, nämlich die rein praktische Tätigkeit des vernünftigen Subjekts zu sein, das die Reichweite der Neigungen zum Behuf eines gewissen Zwecks, nämlich der Freiheit, absolut eingrenzt. Die theoretische Vernunft muss diese Tätigkeit des Subjekts zwar voraussetzen, aber ihre Möglichkeit erklärt nicht mehr als nur dies. Die Kritik der praktischen Vernunft zeigt aber, dass diese auf die Autonomie des Subjekts verweist, welche dadurch auch als Voraussetzung der ersten Kritik von Kant anerkannt wird.5 Nun, dieses grenzbestimmende Subjekt ist dasjenige Subjekt, das sich selbst das Gesetz gibt, und auf diese Art und Weise Ursprung seiner Gegenstände ist. Das kann nicht heißen, dass die Gesetzgebung plötzlich doch schöpferisch wäre. Die objektive Gültigkeit des Kategorischen in der Gesetzgebung durch Maximen beweist sich theoretisch überzeugend dadurch, dass die Maximengeleitete Handlung die sonst ins unbegreifliche Jenseits versetzte Einheit der Erfahrung als positive Wirklichkeit des Begriffs überhaupt ausdrückt. Also, in der Handlung, die in der Tat nur als intelligible Welt wirklich sein kann, wird nicht positiv bestimmt, was diese Welt sein könnte – dies bleibt ­allerdings 4 Cf. Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), 56. Diese These habe ich weiter ausgeführt in meiner Dissertation Kok, A. (2013) Kant, Hegel, und die Frage der Metaphysik, München: Wilhelm Fink. 5 Aus diesem Grund kann bei Kant in der Tat von einem ‚Primat der praktischen Vernunft ‘ die Rede sein. Cf. AA V, Kritik der praktischen Vernunft, 6: „Folglich werden wir nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern nur der praktischen Vernunft überhaupt zu bearbeiten haben. Denn reine Vernunft, wenn allererst dargethan worden, daß es eine solche gebe, bedarf keiner Kritik. Sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält.“

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unmöglich –, sondern das Positive ist, dass im Handeln die Negation des Sinnlichen selbstbewusst auf sich genommen wird. Der Vernunftschluss wird als ursprünglich subjektiv vorgestellt, obgleich ihr Resultat, der Unterschied zwischen phänomenaler und noumenaler Welt, sogar absolute Gültigkeit hat. Wenn Kant in der Grundlegung sagt, dass der Mensch zur Möglichkeit seines Handelns sich über die sinnliche Welt hinaus als Bewohner einer intelligiblen Welt denken muss, kann das objektiv gesehen nicht heißen, dass wir uns eine Welt jenseits der sinnlichen vorstellen müssen. Kant muss gemeint haben, dass eine solche intelligible Welt erst als absolute Negation der sinnlichen Welt objektiv ist. Das Kategorische der Freiheit drückt darin zugleich aus, wie das gesetzgebende Subjekt in der Tat zugleich Noumenon sein könnte, nämlich insofern die Gesetzgebung bloß ein Gesetz in die Hand gibt, dass nur durch das Subjekt selbst in der Welt ist, und worin nichts anderes als die Einheit des Subjekts mit sich selbst ausgedrückt wird. Obgleich es nichts Besonderes ist, zu sagen, dass menschliche Freiheit erst durch die Hemmung und Zurückweisung pathologischer Bestimmungsgründe wirklich wäre, ist es gleichwohl unmöglich, ein Beispiel für eine solche Handlung ohne Interesse zu geben. Aus der Perspektive der konkreten Handlung steht das Kategorische und Selbstbestimmende immer als abstraktes Wesen der wirklichen Handlung gegenüber. Eine Handlung aber, die demjenigen, was sie zu Handlung macht, gegenüber stehen bleibt, darf natürlich niemals eine wirkliche Handlung genannt werden. Wie kann ich handeln, wenn ich nicht weiß, ob ich die Sinnlichkeit in der Bestimmung meiner Gegenstände getilgt habe, oder nicht? Eine solche Freiheit wäre bloß spekulativ und sogar unmoralisch, wogegen Kant gerade die moralische Freiheit, insbesondere das moralische Gesetz, zur Lösung dieses Widerspruchs einführt. Kant stellt zwar das Primat der praktischen Vernunft, aber nur insofern der natürliche Wille nicht durch Neigung, sondern durch Maximen bestimmt wird. Dies setzt ein Verhältnis zur Natur voraus, statt der unmittelbaren Bestimmung durch sie, und also ein selbstbestimmendes Subjekt der Handlung, aber diese Voraussetzung kann weder hypothetisch noch kategorisch geprüft werden. Die Erfahrung gibt keinen Anlass, Freiheit zu ermöglichen, sogar nicht die Möglichkeit der Erfahrung, sofern diese objektiv gesehen durch die reinen Anschauungsformen des sinnlichen Gemüts bedingt ist. Aber insofern wir diese Tatsachen mit absoluter Sicherheit einsehen können, wissen wir, dass wir definitiv keine intellektuelle Anschauung besitzen, und dass es in der Welt absolut nichts gibt, was der Freiheit zur Möglichkeitsbedingung dienen kann. Es bleibt also keine andere Möglichkeit übrig, als dass die für uns erkennbare Freiheit auf jeden Fall ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen aus sich heraus hervorbringen muss. Erst die moralische Freiheit, welcher es nur um

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die Freiheit selber zu tun ist, erfüllt diese aus der ersten Kritik hervorgehende Anforderung, dass alles, was wirklich ist, in der Form des Begriffs erfassbar sein soll – auch der freie Wille. Erst als moralische Freiheit wird sie als Grenzbegriff bestimmt, aber auf eine besondere Weise. Nehmen wir die Formulierung des kategorischen Imperativs: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.6 Erst diese Maxime trägt zur Möglichkeit der Freiheit objektiv bei, weil sie aussagt, dass wir in der besonderen und dadurch auch beschränkten Handlung auf eine Allgemeinheit, nämlich die Freiheit, Rücksicht nehmen, das Dasein derselben aus keinem Grund als die Maxime selbst hergeleitet werden kann; also zum Behuf seiner eigenen Möglichkeit, muss jede Maxime jederzeit die sie ermöglichende Allgemeinheit selbst hervorbringen. Anders gesagt, jede besondere Maxime setzt allgemeine Freiheit voraus, aber diese hat keine andere objektive Realität als Möglichkeitsbedingung jener Maxime zu sein. Moralisch würde diejenige Handlung heißen, in der die besondere Maxime also rein selbstbestimmend sei, d.h. bloß die Identität des Subjekts mit sich ausdrückt. Als unmittelbare Realität verstanden, wäre diese Selbstbestimmung immer eine Abstraktion, weil subjektive Bestimmung Besonderheit und daher Vielheit impliziert. Es geht darum, dass die Ganzheit vieler besonderer Handlungen eine Welt bildet, die nicht in der Sinnlichkeit, sondern in der Selbstbestimmung des Menschen gründet, also die Handlungswirklichkeit ist eine sittliche Welt. Die Sittlichkeit ist die ganze Wirklichkeit des menschlichen Handelns und schlechthin als Wirklichkeit des kategorischen Imperativs zu denken, also absolut unvermischt mit Sinnlichkeit. In der Grundlegung unterscheidet Kant zwar zwischen Moralität und Sittlichkeit, aber diese Unterscheidung kommt eben auch aus der Anwendung der theoretischen Perspektive auf den Freiheitsbegriff hervor. Im letzten Kapitel der Grundlegung stellt Kant Moralität und Sittlichkeit einander gegenüber als zwei Prinzipien, die sich gegenseitig voraussetzen. Sittlich ist gerade die besondere Handlung, in der sich das moralische Subjekt konsolidiert; Moralität kann nur als sittliche Welt wirklich sein, weil erst die (notwendig sittlich) bestimmte Maxime den Gedanken eines noumenalen Subjekts hervorruft. Dies bildet aber einen Zirkelschluss, und demzufolge können wir die objektive Realität der Freiheit nicht aus der wechselseitigen Förderung 6 Kant: AA V, Kritik der praktischen Vernunft, 30.

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von Moralität und Sittlichkeit beweisen. Der Zirkelschluss erklärt aber, dass die objektive Realität der Moralität nicht in der Sittlichkeit zu finden ist, sondern rein in sich selbst. Die sittliche Welt ‚verwirklicht‘ also nicht ein abstraktes Moralgesetz. Die objektive Realität des kategorischen Imperativs ist eine ursprüngliche, vollkommen in sich selbst gegründete, intellegible Welt. diese ursprüngliche Welt der Freiheit; die sittliche Wirklichkeit ist nicht ihre Wirklichkeit, sondern bloß ihr Abbild. In dieser absoluten Ungleichheit von Moralität und Sittlichkeit zeigt sich letztendlich, wie Gesetzgebung und Selbstbestimmung ohne Widerspruch gedacht werden können. Das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit drückt wesentlich die Freiheit als Verhältnis von Selbstbestimmung – d.h. das Subjekt als Ursache seiner Gegenstände – und Gesetzgebung – d.h. das Subjekt als Negation der Sinnlichkeit – aus. Den Unterschied zwischen dem Gesetz und der in ihm abgebildeten ursprünglichen Selbstbestimmung drückt Kant aus, wenn er sagt, dass das moralische Gesetz immer Pflicht ist. Als Pflicht steht das Gesetz zwar dem handelnden Subjekt gegenüber, aber die Pflicht trägt eben dadurch doch zur Möglichkeit der Handlung bei, weil in der Pflicht eindeutig explizit wird, dass der Inhalt einer wirklichen Handlung ein absoluter Inhalt sein soll. Die Selbstbestimmung ist hier Urheber der Vernunft und absoluter Inhalt des Gesetzes, weil sie sich als Autor des Gesetzes setzt. Also dasjenige, was in der Vorstellung der Pflicht zum Absoluten gemacht wird, ist das handelnde Subjekt selbst. Kant bestimmt aus diesem Grund sogar, dass der Vernunft, die von keinen aus der Sinnlichkeit hervorkommenden Triebfedern affiziert werden könnte, eine eigentümliche Triebfeder zukommt, nämlich die Achtung vor dem Gesetz, die ausschließlich die sich in der Handlung verwirklichende Persönlichkeit, oder die Menschlichkeit überhaupt betrifft. Wiederum ist die Frage, ob Kant durch die Einführung einer Triebfeder der Vernunft nicht gerade eine Art intellektuelle Anschauung voraussetzt. Die Urheberschaft der Vernunft, die als der wahre Gegenstand des moralischen Gesetzes bestimmt ist, wird in der Tat letztlich als Faktum der Vernunft begriffen. Wäre dieses Faktum nicht mindestens eine Spur der Freiheit, als ein Horizont, gegen den sich die dunklen Umrisse einer intelligiblen Welt sich auf eine weiter nicht erkennbare Weise abzeichnen? Eine Spur, die uns hinreichenden Anlass gibt, das absolute Dasein der Freiheit als ein Gottespostulat anzunehmen? Ich würde sagen, nein. Das Faktum der Vernunft erörtert nicht, dass wir zum Behuf der Möglichkeit der Freiheit genötigt sind, eine rein intellektuelle, theoretisch unerklärbare Gewissheit anzunehmen. Es liefert gerade die theoretische Erklärung dafür, dass wir, trotz der Abwesenheit irgendeiner intellektuellen Anschauung, sogar ihrer Möglichkeit nach, die Freiheit als Noumenon im Bewusstsein haben können. Diese Freiheit ist nämlich immer

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schon für die theoretische Vernunft Ausgangspunkt gewesen, nämlich im Schluss der Vernunft im Urteil über die transzendentale Idealität von Raum und Zeit – das absolute Nichts-Sein der Sinnlichkeit in der Bestimmung von dem, was die Dinge an sich sind. Dieser Vernunftschluss wird in der praktischen Philosophie in der Tat wiederholt. Ein vernünftiges Wesen zu sein, hieß schon in der Grundlegung, dass das handelnde Subjekt sich moralisch dazu verpflichtet weiß, dass es von aller sinnlichen Bestimmtheit in seinen Maximen abstrahieren sollte. Nun erklärt Kant in der zweiten Kritik grundsätzlich, dass die Frage, wie eine solche Handlung in der für uns erkennbaren Welt vorkommen kann, sinnlos ist. Sie kann niemals empirisch objektiv sein, weil ihre Möglichkeit dies ausschließt – sie ist Noumenon. Wenn wir aber fragen, wie die Identität, die wir zum Behuf der Möglichkeit der Erfahrung annehmen müssen, d.h. das transzendentale Subjekt – wie diese Identität selbst eigentlich möglich wäre (und ob ihre Gesetzgebung durch sich selbst oder durch etwas anderes als die Sinnlichkeit beschränkend funktionieren könnte); so sehen wir ein, dass nicht bloß die kategoriale Struktur des Verstandes, keine Gegenstände schaffen zu können, Voraussetzung für jeden spekulativen Vernunftgebrauch ist und letzteren also begrenzt, sondern dass umgekehrt diese Vernunft ebenso diejenige Voraussetzung für den Verstand ist, welche seine begrenzende Tätigkeit selbst überhaupt ermöglicht. Das noumenale Subjekt kann deshalb in der Tat mit dem transzendentalen Selbstbewusstsein verknüpft werden, aber erst durch die transzendentale Idealität von Raum und Zeit, die auch diesem Selbstbewusstsein durch einen Vernunftschluss vorgegeben sein muss. Die praktische Seite dieses Schlusses drückt Kant aus, wenn er sagt, dass es in der Welt nichts Wertvolles gibt außer dem Menschen, und sogar diesen Menschen nur als freies und noumenales Wesen, d.h. als Person. Der Wert der Persönlichkeit verhält sich zur absoluten Wertlosigkeit der sinnlichen Welt, wie Einheit zur Vielheit. Der offene Platz, den der Verstand der Freiheit lassen muss, ist keine Unsicherheit, sondern gerade die Sicherheit, dass, wenn es Einheit gibt (auch in der Erfahrung), diese Einheit niemals erscheint und als nicht-erscheinend nur Grenzbegriff sein kann. Genauso müssen wir sagen, dass der einzige Wert, den es möglicherweise geben kann, nicht erscheinen kann, sondern seiner Möglichkeit nach bloß in der Negation der ganzen Erscheinungswelt zu finden ist. Jedoch, der absolute Wert der Persönlichkeit, als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft, die sich zwar nicht mehr beweisen lässt, aber umgekehrt selber unbedingtes und unleugbares Kriterium jedes Beweisgrundes ist, kann gleichwohl nicht diejenige Einheit von Selbstbestimmung und Gesetzgebung sein, die seinen eigenen Wert aus sich heraus schöpft. Die Endlichkeit der

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moralischen Position zeichnet sich gerade dadurch aus, dass der Wert der Person nicht durch die Achtung vor der Pflicht hervorgebracht, sondern bloß erweckt wird. Darüber hinaus weiß das sich moralisch verpflichtet wissende Subjekt auch noch, dass es nicht die Mittel besitzt, zu wissen, ob es in seinen Handlungen die Pflicht verwirklicht oder nicht, weil die Pflicht ihn zur Urhebung seiner Gegenstände bloß als Gebot (Du sollst!) auffordert. Es ist bekannt, dass die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes eingeführt wurden, um diese Kluft zu überbrücken, aber dabei bleibt immer unklar, wie sie genau zur Lösung der erkenntnistheoretischen Problematik, dass Freiheit auch im Bewusstsein vorhanden sein muss, beitragen. Sie scheinen nämlich das Gegenteil zu bewirken. Wie Hegel es im Kapitel über die moralische Weltanschauung in der Phänomenologie des Geistes behauptet, versetzen gerade diese Postulate die Wirklichkeit des moralischen Handelns in ein übersinnliches, unerkennbares Jenseits.7 Doch bereits in der Kritik der praktischen Vernunft selbst gibt es einen Hinweis, dass die Postulate vielleicht doch nicht so gemeint sind. Die sehr bemerkenswerte Formulierung, deren Kant sich bedient, wenn er den Wert der moralischen Person mit der absoluten Wertlosigkeit der sinnlichen Natur verknüpft, ist, dass es in der Schöpfung nichts von Wert gibt, außer dem Menschen, auf den die Schöpfung aber zweckmäßig abzielt: In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch blos als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an sich selbst.8 Das Wort „Schöpfung“ ist hier eigentlich merkwürdig. Bisher haben wir nämlich auf eine andere Weise über Schöpfung gesprochen, nämlich als eigentümliche Tätigkeit des anschauenden Intellekts, d.h. als Gegenbegriff zum menschlichen Erkenntnisvermögen. Schöpfung wäre dann derjenige Gegenstand, der bloß durch die Vorstellung eines schöpferischen Intellekts, der durch Begriffe anschaut, Realität wird. Manchmal wird davon ausgegangen, dass wenn Kant über Gott spricht, er gerade ein solches schaffendes Wesen vor Augen hätte, das auf vollkommene Weise selbstbestimmend wäre, das in ihm der Pflichtcharakter, und also das Moralische, überhaupt gar keine Bedeutung mehr hätte. Für Gott gibt es keine Pflicht. (In diesem Gegensatz von Pflicht und Vollkommenheit sieht Hegel zu Recht einen großen Widerspruch: die verwirklichte Moralität hebt die Pflicht 7 Hegel: GW 9, Phänomenologie des Geistes, 324 ff. 8 Kant: AA V, Kritik der praktischen Vernunft, 87.

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auf.) Aber dann geht man davon aus, dass Schöpfung die Wirklichkeit der Freiheit ist. Gott hat die Welt geschaffen, heißt, dass die Übereinstimmung von Selbstbestimmung und Gesetzgebung schon dadurch gesichert wäre, dass die Natur meine Freiheit nicht fremd gegenüberstünde, sondern unter der Bedingung des Postulats selber schon als Ausdruck eines intelligiblen Wesens betrachtet wird. Diese Interpretation macht aber, wie auch Hegel nachweist, die Wirklich­ keit der Freiheit zu etwas Unbegreiflichem. Vielleicht hat Kant es aber nicht so gemeint. Vielleicht müssen wir Kant an dieser Stelle so interpretieren, dass es ihm nicht um positive Schöpfung geht, sondern um das im Schöp­ fungsverhältnis zum Ausdruck kommende absolute Nichts-Sein der natürlichen Welt. Diese mögliche Bedeutung der Postulatenlehre habe ich nicht selbst erfunden, sondern wird meiner Meinung nach von Kant selber in der Methodenlehre aus der Kritik der Urteilskraft angegeben; ein Text, der sich so als Korrektur der Postulatenlehre begreifen lässt. 2

Die Methodenlehre der Kritik der Urteilskraft als Korrektur der Postulatenlehre

Wer der Natur einen Urheber zugrunde legt, der willkürlich entscheiden kann, ob die Natur es dem Subjekt erlaubt, nach seiner Pflicht zu handeln, führt immer einen von der Freiheit losgelösten Gott ein. Auch wenn diesem Gott nachher zugemutet wird, dass er aus Gründen seiner Güte den Menschen, der seine Pflicht erfüllt, mit Glückseligkeit belohnt. Eine derartig vorgestellte objektive Realität des gnädigen Gottes würde der menschlichen Realität gegenüberstehen, sogar in noumenaler Hinsicht. Sie würde die von Kant unleugbar geachtete moralische Hierarchie, in der die Pflicht das Höchste ist, doch leugnen. Dieser praktische Einwand gegen eine bestimmte Lesart der Postulate bekommt in der Methodenlehre der dritten Kritik aber auch eine für die Kritik selber sehr wichtige theoretische Bedeutung.9 In § 85 erörtert Kant, dass die Theologie sich nicht in einer physischen Teleologie fundieren kann, weil ihre Vorstellung von Gott immer etwas Unbegreifliches bleibt. Sie würde nur Sinn machen, wenn wir eine intellektuelle Anschauung hätten. Mit diesem unbegreiflichen Gott ist kein anderer Gott gemeint als der schöpferische Gott, für den weder die Achtung, noch die Pflicht einen bedeutsamen Wert hat. Eine göttliche Wirklichkeit aber, in der die Verwirklichung der Pflicht nicht ernst genommen wird, d.h. diese 9 Kant: AA V, Kritik der Urteilskraft, 416 ff. (insbesondere ab § 85).

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nicht ­schlechthin Endzweck aller Dinge ist, hat für uns keine Bedeutung. Vom ­moralischen Gesichtspunkt aus kann Gott die Pflicht nicht als für ihn nicht geltend betrachten. Der einzige für uns wertvolle Urheber der Natur ist derjenige, der in seiner Schöpfungstat keinen anderen Zweck vor Augen gehabt hat als den absoluten Wert des Menschen. (§ 86) Erst dieser über die moralische Teleologie vermittelte Gottesbegriff kann nach Kant zur Grundlegung einer Theologie gebraucht werden, aber merkwürdigerweise gerade aus dem Grund, dass wir durch diese Vermittlung die Absicht Gottes vollkommen begreifen können. Hiermit ist ein theoretisches Wesensmoment im Praktischen angegeben, das sogar die Postulate in dem Sinne korrigiert, dass Kant hier nachdrücklich zeigt, dass ein in praktischer Hinsicht Postulieren eines Gottes zugleich einen Erklärungszwang mit sich führt, dass gerade, um praktisch legitim zu sein, dieser postulierte Gott begreiflich sein soll. Jetzt bleibt deshalb die wichtigste Frage übrig. Wie macht die Vermittlung durch die Moralität (als das im Gefühl der Achtung vor dem Gesetz bloß durch die Vernunft Affiziertwerden) denn in  der Tat ein Dasein Gottes begreiflich; also wie ist ein Begriff von Gott möglich? Praktisch sagen wir, dass die Vorstellung der Natur als Schöpfung in der Tat wertvoll ist, insofern der Mensch der Schöpfung Endzweck ist; d.h. die Natur ist im Allgemeinen nur da, so dass wir unsere Freiheit verwirklichen können. Diese Vorstellung wäre zugleich ein Begriff der Natur, wenn sie die einzige für uns einleuchtende Vorstellung wäre von dem, was die Natur an sich selbst ist. Dasjenige, was deshalb ‚begreifen‘ heißen soll, ist die Übereinstimmung zwischen dem Freiheitsbegriff und dem Begriff von dem, was die Natur an sich ist, und diese soll nach Kant in der Vorstellung des Menschen als Endzweck der Schöpfung zum Ausdruck kommen. In der ganzen Kritik der Urteilskraft ist es Kant ausschließlich um die Autonomie des endlichen Vernunftwesens zu tun, nicht – wozu die zweite Kritik vielleicht noch Anlass geben könnte – die Autonomie eines göttlichen Urhebers, die die Natur heiligen würde. Der Urheber der Vernunft ist sogar nicht ein übermenschlicher Gott, für den die Pflicht keine Bedeutung hätte, sondern er ist der Mensch in noumenaler Hinsicht. Gott ist diejenige Vorstellung, die betont, dass der Mensch zwar bedingt und kontingent, aber zugleich als Vernunftwesen absolut ist. Die vernünftige und unbedingte Einheit des Subjekts darf deshalb nicht der Kontingenz gegenüber stehen bleiben. Sie kann nicht anders als derjenige reine Vernunftbegriff verstanden werden, der zugleich ausdrückt, dass dasselbe Subjekt auch immer sinnlich affiziert ist. Die Autonomie der Urteilskraft, die Kant in der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft als „Selbstgesetzgebung“ beschreibt,10 damit Selbstbestimmung 10 Kant: AA XX, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 225.

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und Gesetzgebung auch wörtlich verknüpfend, richtet sich also nicht bloß auf die allgemeine intelligible Freiheit überhaupt (die ja immer abstrakt bleibt), sondern auch auf das Spezifische der menschlichen Freiheit. Bereits am Anfang der Grundlegung stellt Kant sich auf den Standpunkt, dass der gute Wille, seine objektive Realität das sich selbst Wollen des Willens ist, der Glückseligkeit entgegengesetzt ist, weil die Bestimmung des Glücks eine subjektive Absicht ist, die auch von der Natur abhängt. Doch wir haben gesehen, dass auch die Entgegensetzung von Moralität und Glückseligkeit aus der Tatsache hervorgeht, dass die menschliche Freiheit keine schöpferische intellektuelle Anschauung ist, sondern dass die Natur für sie etwas Äußeres ist. Obgleich Kants Analyse der Autonomie der Urteilskraft eine Reflexion über den Pflichtcharakter der Freiheit ist, überbrückt sie die in der Pflicht angegebene Spaltung von Moralität und Glückseligkeit, indem sie zeigt, dass beide bereits in der Pflicht doch innerlich aufeinander bezogen sind. Diese Innerlichkeit kann eben nur dadurch gesichert werden, dass die Natur objektiv zweckmäßig auf unsere Freiheit gerichtet ist. Das heißt eben, dass, weil, die menschliche Freiheit in ihrer Gesetzgebung selbstbestimmend ist, wir ein Verhältnis zu demjenigen, was wir Schaffen nennen, herstellen müssen. Der Schöpfungsakt darf sogar dem Menschen nicht äußerlich gegenüberstehen, sondern muss innerlich vollzogen werden. An dieser Stelle den Schöpfungsakt so zu verstehen, als ob ein intentionaler Gott nötig wäre, um die Natur in Übereinstimmung mit der Freiheit zu erschaffen, löst das Problem nicht. Die Äußerlichkeit eines solchen Gottes, für den die Pflicht offensichtlich keine Bedeutung hat, muss eben auch aufgehoben werden. Es ist nämlich nicht bloß die objektive Zweckmäßigkeit der Natur, die für uns die reine, abstrakte Freiheit verwirklicht, sondern die Natur ist gerade objektiv zweckmäßig und erst dadurch überhaupt etwas Objektives, weil sie a priori mit der objektiven Realität der Freiheit übereinstimmen soll. Einfacher gesagt, Freiheit ist Grund der Objektivität der Natur überhaupt. Eine Natur dagegen, die die Objektivität der Freiheit garantieren müsste, wäre ein Unding. Also die Vorstellung der moralischen Pflicht als Selbstgesetzgebung im Bewusstsein setzt die objektive Zweckmäßigkeit der Natur immer voraus. Durch diese Vermittlung kann das autonome Subjekt nicht Gott erkennen, sondern gleichwohl sich selbst als Urheber des moralischen Gesetzes tatsächlich wissen, weil dieses Gesetz bloß den unbedingten Wert seiner eigenen Person zum Inhalt hat. Praktisch können wir an dieser Stelle sagen, dass wir uns selbst in der Tat bloß durch persönliche Überzeugung auf den Standpunkt stellen können, dass wir aus eigener Kraft die Pflicht in Übereinstimmung mit unseren subjektiven Absichten bringen, oder wir können gewissenhaft handeln. Kant lehnt die Möglichkeit eines solchen Gewissens gar nicht ab,

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aber meint zu Recht, dass auch das Gewissen noch erklärungsbedürftig sei. Zu ­diesem Wissen, obgleich es für die Möglichkeit des freien Willens konstitutiv ist, muss das Subjekt sich in der Tat einen Schöpfungsakt denken, aber dann so, dass es diesen Akt zumindest seiner Möglichkeit nach selbst vollziehen kann. Der Schöpfungsakt darf also keine intellektuelle Anschauung bedeuten, also es muss immer noch erklärt werden, wie ein solcher absoluter Akt doch möglich wäre. Wenn wir jetzt zurückschauen auf den Vernunftschluss als Begrenzung der Anmaßung der Sinne, sich als Erkenntnisquelle bis zu den Dingen, wie sie an sich sind, erstrecken zu können, so können wir den Schöpfungsakt doch auch vom Gesichtspunkt dieses Schlusses aus ganz gut begreifen. Wenn wir nämlich versuchen zu verstehen, was eine schöpferische Natur an sich sein könnte, so sehen wir, dass, in der Beurteilung der Natur, alle Naturdinge erschaffene, aber niemals schöpferische Dinge sind. Die vollständige Natur, die erst als Schöpfung in ihrem unendlichen Reichtum und Ganzheit erfasst wird, wäre an sich absolut wertlos, wenn ihr nicht ein Endzweck beigemessen würde, die in ihr als solche nicht vorhanden ist. Dieser Endzweck, die freie Persönlichkeit selbst, ergibt sich so aus dem absoluten Nichts-Sein der Natur, insofern diese erschaffen ist. Das Schöpfungsverhältnis zeigt also die absolute Kontingenz alles Sinnlichen im Angesicht der Wirklichkeit der Freiheit. Hierin wird letztendlich deutlich, wie der Begriff der Freiheit mit dem Grenzbegriff in Übereinstimmung zu denken ist. Eigentlich sind die ganze Zeit zwei Deutungen des absoluten Nichts im Spiel gewesen. Erstens, die transzendentale Idealität alles Sinnlichen, und zweitens, das absolute Nichts in der schöpferischen Freiheit, die aus dem Nichts Gegenstände hervorbringt (oder causa sui ist). Das erste ist mit der absoluten Unerkennbarkeit der intelligiblen Welt verbunden, das zweite mit der Möglichkeit der Handlung. Die Aufstellung eines Grenzbegriffs verknüpft beide Deutungen. Die Feststellung durch die Vernunft, die Möglichkeit reiner Erkenntnisse a priori im Licht der absoluten Kontingenz des Sinnlichen schlechthin zu begrenzen, ist nämlich selbst eine Feststellung, welche die Möglichkeit der Handlung überhaupt nachweist. Der Grenzbegriff nämlich, gerade insofern er die Synthesehandlung als Möglichkeitsbedingung der Erfahrung beweist, ist nämlich selber ein Beweis, dass die moralische Aufforderung, die Sinnlichkeit in der Bestimmung des Willens zu negieren, immer schon erfüllt ist. Es ist die Erfahrung selbst, die schon ein Beweis ist, dass wir nicht bei unserem bloßen Affiziert-Werden stehen bleiben, sondern darüber hinaus auf eine intelligible Welt bezogen sind, weil woher können wir sonst wissen, dass die Erfahrung eine objektive Realität hat? Nun können wir in der Tat nicht sagen, dass wir schaffende Wesen sind, aber im Schöpfungsverhältnis

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drücken wir dennoch objektiv aus, dass das Sinnliche absolut nichts ist im Lichte des Wertes eines Menschen. Moralisch gesagt, unsere sinnliche Natur können wir nicht leugnen, aber wir können sie darin doch absolut negieren, dass die Neigung niemals das letzte Wort haben kann, wenn es darauf ankommt, die Möglichkeit der Freiheit zu denken. Dass durch diese absolute Negation etwas Wahres gesagt wird, oder sogar die Unwahrheit des aus dem Empirismus hervorgehenden Zynismus bewiesen wird, stimmt vollständig mit der theoretischen Vernunft in ihrem kritischen Gebrauch überein. 2.1 Schlussfolgerung Also, was heißt es am Ende bei Kant, dass die Moralität zur Religion führt? Es ist die objektive Zweckmäßigkeit der Natur, die Freiheit und Natur verbindet, erst weil sie Selbstbestimmung und Gesetzgebung als die zwei in der Pflicht auseinandergenommenen Seiten der menschlichen Freiheit wieder zusammenführt. Kant macht aber Freiheit und Natur nicht gleich, z.B. indem er einen schöpferischen Gott einführt, sondern ihre Verbindung liegt gerade in ihrer absoluten Ungleichheit: Die moralische Person erscheint nicht, aber sie ist das einzige Nicht-Erscheinende, von dem wir den absoluten Wert kennen, weil sonst überhaupt kein Wert in der Welt wäre, ohne welchen die zur Möglichkeit der Erfahrung erforderliche Einheit der Erfahrung nicht denkbar wäre. Die Möglichkeit der Handlung liegt deshalb in der Übereinstimmung des rein praktischen Vernunftgebrauchs mit subjektiven Absichten, d.h. in der Übereinstimmung von Moralität und Glückseligkeit, und gehört also zur Religion. Kant beschreibt dieses religiöse Gefühl als einen praktischen Glauben und ein Zutrauen. Er erörtert, dass der wahre Glaube ein Zweifelsglaube ist. Der Zweifel betrifft aber keineswegs die Existenz eines Gottes, der durch seine Güte mich handlungsfähig macht. Praktisches Wissen heißt nämlich, dass ich mir bewusst bin, dass die mögliche Übereinstimmung des Moralischen mit der subjektiven Setzung von Absichten, was zur Glückseligkeit subjektiv notwendig ist, prinzipiell möglich ist. Der Zweifel ist eher, dass ich, trotz dieses in der Möglichkeit der Erfahrung selbst gründenden Faktums der Vernunft (als apodiktisches Urteil), niemals wissen kann, ob ich in dieser oder jener subjektiven Absicht die objektive Realität der Freiheit tatsächlich zum Zweck gemacht habe. Das religiöse Gefühl oder der Zweifelsglaube ist also immerhin eine Vereinigung jenseits des Gewissens, weil es der Zweifel am Gewissen ist. Dieser Zweifel ist notwendig, um den Begriff der Freiheit als Grenzbegriff zu erhalten. Das gewissenhafte Handeln bleibt noch subjektiv, indem das handelnde Subjekt sich aufgrund einer bloßen Möglichkeit die Sicherheit anmaßt, die Moralität tatsächlich subjektiv zur Absicht gemacht zu haben. Das religi-

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öse Handeln weiß aber, dass diese prinzipielle Möglichkeit keine Auskunft darüber gibt, ob das Subjekt in der Tat moralisch handelt. Es verhütet aber einen Rückfall in Zynismus und gibt, trotz seiner Verunsicherung, niemals die Hoffnung auf, dass moralisches Handeln gar nicht möglich wäre. Dieser subjektive Glaube hat nämlich auch die objektive Seite des Begreifens, dass der Mensch nicht auf seine Neigungen beschränkt ist. Erst ein ‚gläubiger‘ Mensch kann dies mit Sicherheit sagen, gerade weil er nicht verlangt zu wissen, ob diese oder jene Neigung nun in Übereinstimmung mit der Freiheit wäre – denn diese Weisheit besitzt kein Wesen ohne intellektuelle Anschauung. Literatur Hegel, G.W.F. (1968 ff.) Gesammelte Werke (GW), Bd. 9, Phänomenologie des Geistes. Hg. von der Rheinisch-Westfällischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Felix Meiner. Kant, I. (1900 ff.) Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (AA), Bd. IV, Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin. ——— AA V, Kritik der praktischen Vernunft/Kritik der Urteilskraft, Berlin. ——— AA XX, Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, Berlin. Kok, A. (2013) Kant, Hegel, und die Frage der Metaphysik: Über die Möglichkeit der Philosophie nach der kopernikanischen Wende, München: Wilhelm Fink.

Natur versus Freiheit?

Zu Hegels logischer Überwindung eines wirkungsmächtigen Gegensatzes Christian Krijnen 1 Freiheit Freiheit ist das Grundthema der modernen Philosophie. Verstanden als eine philosophische Epoche, gewinnt der Mensch hier ein neues Verhältnis zu sich selbst und seiner Welt. Sein Denken, Tun und Lassen soll von nun an nicht mehr als fremdbestimmt, sondern als selbstbestimmt gelten. Das Paradigma der philosophischen Bewältigung dieses Impetus der Freiheit ist die Vernunft. Kant hat ihr mit seiner ‚Kopernikanischen‘, d. i. transzendentalen Wende eine dem modernen Selbst- und Weltverständnis gemäße Form gegeben. Die Vernunft1 erweist sich als die Quelle aller Geltung menschlicher Tätigkeit. Gegenständlichkeit (Objektivität), welche auch immer, steht von Anfang an unter den Bedingungen der Vernunft, oder, wie es im Diskurs auch heißt, der ‚Subjektivität‘. Die deutschen Idealisten waren einerseits zwar begeistert von diesem Gedanken, anderseits aber vermochte Kants Durchführung des transzendentalen Gedankens sie nicht zu überzeugen. Reinhold, Fichte, Schelling oder Hegels sind allesamt der Überzeugung, Kants Philosophie sei in eine metho­ dische und systemische Form zu bringen, die, anders als bei Kant selbst, dem Anspruch des Kantischen Kritizismus entspreche. Diese Einschätzung der Sachlage zieht eine innovative Kantaneignung nach sich, die zweifelsohne die Differenz von ‚Geist und Buchstaben‘ der Kantischen Philosophie aufs Äußerste strapaziert. Gerade die Frage nach der Einheit und der Einheitlichkeit des Kantischen Kritizismus hat die Entwicklung der deutschen idealistischen Philosophie von Anfang an beflügelt. Fichtes Bemühung, die praktische Vernunft als Grundlage von theoretischer und praktischer Vernunft zu konzipieren,2 zeigte sich dabei wegen seiner Ausrichtung auf Freiheit als wegweisend für spätere Bemühungen, zu einem umfassenden Begriff der Einen Vernunft als des

1 – im weiten Sinne als Inbegriff der weder naturalistisch noch kulturalistisch zu verstehenden (oberen) ‚Erkenntnisvermögen‘ des Subjekts. 2 Vgl. Johann Gottlob Fichte: Fichtes Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte (Berlin 1971) Bd. I, 264; III, 20 f.

© koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_010

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absoluten Einheitsgrundes zu gelangen. Hegel hat sie geradezu auf die Spitze getrieben: Freiheit durchzieht sein ganzes System der Philosophie. Es sind dies alles Bestrebungen, die in irgendeiner Form eingehen in den Entwicklungsgang des späteren Idealismus etwa der Neukantianer und deren Anliegen, die von Fichte angestoßene Debatte über einen (unkantischen) Primat der praktischen Vernunft aufzugreifen und zu einem über das Praktische hinausgehenden umfassenden Idealismus der Freiheit weiterzubilden.3 Man denke aber auch an die Systementwürfe neuerer Transzendentalphilosophen wie Hans Wagner oder Werner Flach.4 Kants Kritizismus ist ihnen alle ebenso Inspirationsquelle wie in Sachen Einheit und Einheitlichkeit unbefriedigend. Besonders gilt dies, wenn die Einheit der Vernunft als Freiheit konzipiert werden soll. Hegel hat, wenn ich recht sehe, in bislang unübertroffener Weise Vernunft und Freiheit als eine Einheit gedacht, aus der alles andere hervorgeht und sich begreiflich machen läßt. Freiheit ist ihm der Anfang, der Weg und das Ende der Philosophie. Hegel kann zu dieser Position kommen, weil, was nach wie vor unzureichend verstanden, geschweige denn gewürdigt wird, Freiheit die Qualifikation des Begriffs ist: „Der Begriff ist das Freie“.5 Freiheit hat also

3 Vgl. Christian Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts (Würzburg 2001) Kap. 6.1 mit 7.2.3; ders.: Metaphysik in der Realphilosophie Hegels? Hegels Lehre vom freien Geist und das axiotische Grundverhältnis kantianisierender Transzendentalphilosophie. In: Metaphysik und Metaphysikkritik in der Klassischen Deutschen Philosophie, hg. von Myriam Gerhard, Annette Sell und Lu de Vos (Hamburg 2012) 171–210; ders.: Anerkennung, Wirklichkeit und praktische Vernunft im Neukantianismus. In: Das Wirklichkeitsproblem in Metaphysik und Transzendentalphilosophie. Heinrich Barth im Kontext, hg. von Christian Graf und Harald Schwaetzer (Basel 2014) 15–51; ders.: Das Dasein der Freiheit. Geltungsrealisierung bei Hegel und in der kantianisierenden Transzendentalphilosophie. In: Kulturphilosophie. Probleme und Perspektiven des Neukantianismus, hg. von Christian Krijnen, Massimo Ferrari und Pierfrancesco Fiorato (Würzburg 2014) 35–84. 4 Hans Wagner: Philosophie und Reflexion (Würzburg 31980); Werner Flach: Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur (Würzburg 1997). 5 E § 160, vgl. II 218. – Hegel wird wie folgt zitiert: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Hg. von Georg Lasson, Leipzig 1951 = I; Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Hg. von Georg Lasson, Leipzig 1951 = II; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg (= PhB Bd. 33) 81991 = E; Phänomenologie des Geistes. Hg. von Hans-Friedrich Wessels, Heinrich Clairmont und Wolfgang Bonsiepen, Hamburg 1988 = PG; Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955 = R; Werke in zwanzig Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971 = TWA.

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eine logische Grundlage.6 Und die Logik ist in Hegels System die erste wie die letzte Wissenschaft. Welchen Sinn macht es jedoch, den Begriff als das Freie zu qualifizieren? Ist Freiheit nicht die Freiheit von tätigen Subjekten, etwa als Selbstbestimmung des politischen Gemeinwesens (politische Freiheit) oder als willentliche Selbstbestimmung (Willensfreiheit)? Und wie kann eine Freiheit des Begriffs die Grundlage für die natürliche und geistige Realität bilden? Solche Fragen nach der Eigenart von Freiheit sind gerade angesichts der transzendentalphilosophischen Tradition von besonderer Brisanz. Hegel kriti­ siert und überwindet nämlich eine grundlegende Kantische Freiheitskonzep­ tion, die so oder so auch für die kantianisierende Transzendentalphilosophie der Neukantianer und der Späteren maßgebend ist: Freiheit als Vermögen eigengesetzlicher Kausalität des tätigen Subjekts. Er kommt zu einem grund­ sätzlich anderen und gleichwohl ursprünglicheren Freiheitsverständnis als dem einer ‚Kausalität aus Freiheit‘: Freiheit als Bei-sich-sein-im-Anderen. 2 Kant Die Vernunftarchitektonik Kants bildet den Ausgangspunkt der idealistischen Perfektionierungsdebatte der Transzendentalphilosophie. Kant teilt durchgän­ gig die Philosophie ein in theoretische und praktische sowie die ihr korrespon­ dierenden Gegenstände in Natur und Freiheit; entsprechend unterscheidet er theoretische Erkenntnis und Willensbestimmung bzw. Naturphilosophie 6  Sie ist erst in letzter Zeit eingehend zum Thema gemacht worden. Vgl. Tommaso Pierini: Theorie der Freiheit. Der Begriff des Zwecks in Hegels Wissenschaft der Logik (Paderborn  2006); Charlotte Baumann: Hegel’s Logic of Freedom. http://sro.sussex .ac.uk/38556/1/Baumann,_Charlotte.pdf (9.2.2015); Franz Knappik: Im Reich der Freiheit. Hegels Theorie autonomer Vernunft (Berlin 2013); Hans Friedrich Fulda: Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes. In: Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, hg. von Anton Friedrich Koch, Friedrike Schick u. a. (Hamburg 2014) 15–41. – Wie wenig diese logische Grundlage in der Auseinandersetzung mit Hegels Denken über Freiheit in Rechnung gestellt wird, zeigt sich schon daran, daß Klaus Vieweg: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (München 2012), einerseits zweifelsohne das Verdienst zukommt, die logische Grundlage der Hegelschen Rechtsphilosophie gegen ihre Verächter zur Geltung gebracht zu haben, er anderseits Hegels Auffassung geradezu entstellt, wenn es heißt, nur der Wille habe das „Prädikat“ ‚frei‘ und Freiheit sei „nur im Paradigma des Willens“ zu denken, erst in den Grundlinien werde „expliziert und erwiesen“, daß Freiheit eine „immanente Bestimmtheit der Idee ist“ (ebd. 44.). Für Hegel indes ist der Begriff Freie; und daß und wie der Begriff das Freie ist, ist das Ergebnis einer „immanenten Deduktion“, welche die „Genesis des Begriffs“ ist.

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und Moralphilosophie (als „praktische Gesetzgebung der Vernunft nach dem Freiheitsbegriffe“).7 Die Bestimmung von Erfahrungsgegenständen erfolgt in theoretischen Urteilen, die Bestimmung des Willens in praktischen. Eine und dieselbe reine Vernunft betätigt sich in theoretischer oder in praktischer Hinsicht. Während die theoretische Vernunft auf Gegenstände geht, die ihr anderswoher gegeben sind, nämlich durch die sinnliche Anschauung, bezieht sich die praktische Vernunft auf Gegenstände, die sie selber hervorbringen kann, betrifft sie doch unmittelbar die Bestimmung des Willens. Entsprechend besteht der Gegenstandsbezug theoretischer Vernunft darin, den Gegenstand „bloß zu bestimmen“; der praktischen Vernunft hingegen geht es darum, ihre Gegenstände, gemäß ihrer Erkenntnis, „wirklich zu machen“. Eine über die historische Referenz hinausgehende zureichende Begründung für diese Einteilung gibt es bei Kant trotz des tiefschürfenden Begründungsans­ pruchs seiner Transzendentalphilosophie nicht. Aufgrund der historisch vorliegenden Lage, differenziert Kant in einer Weise, in der die aktive, leistende Komponente im menschlichen Verhalten, die es etwa auch in der theoretischen und der ästhetischen Erkenntnis gibt, primär unter ‚­praktischen‘ Gesichtspunkten thematisch wird und größtenteils bleibt. Die Kritiker können entsprechend geltend machen, es fehle bei Kant ein die mannigfaltigen Freiheitskonzepte bzw. -ansätze seines Denkens umfassender Freiheitsbegriff, der als Einheitsgrund seiner Spezifikationen zu dienen vermag. Willensfreiheit als Selbstbestimmung des Wollens ist zweifelsohne eine für den Menschen eminente Freiheitsbestimmung. Zwar zeigt Kant in der dritten Antinomie, und damit innerhalb der theoretischen Philosophie, daß Freiheit (qua Vermögen, spontan, also nicht-naturkausaldeterminiert zu handeln, sondern aus sich selber kausal zu wirken) denkmöglich, und im Rahmen seiner praktischen Philosophie, daß sie wirklich ist. Schon Kants Nachweis der Denkmöglichkeit einer solchen kosmologischen Freiheitskausalität zeigt jedoch auch, daß es ihm vor allem um die Möglichkeit moralischer Freiheit für unser Handeln zu tun ist (der die kosmologische Freiheit, auch ­transzendentale 7 Vgl. KrV B 868 f., 830; KpV A 29; KdU V, 167 f., 171, 174, 178 f., 416 u. ö. Kant wird zitiert nach: Immanuel Kant: Kants gesammelte Schriften. Bd. I–XXVI. Hrsg. von Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften (Berlin 1910 ff.), im folgenden zitiert als AA oder nach den Siglen: KrV = Kritik der reinen Vernunft; KpV = Kritik der praktischen Vernunft; KdU = Kritik der Urteilskraft; GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; MS = Metaphysik der Sitten. – Vgl. zu Kants Architektonik auch Christian Krijnen: Teleology in Kant’s Philosophy of Culture and History. A Problem for the Architectonic of Reason. In: The Sublime and its Teleology. Kant, German Idealism, Phenomenology, ed. by Donald Loose (Leiden et al. 2011) 115–132, und ders.: Kants Kategorien der Freiheit und das Problem der Einheit der Vernunft. In: Kant und die Kategorien der Freiheit, hg. von Stephan Zimmermann (Berlin, im Erscheinen).

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genannt, logisch vorhergeht: KrV B 561 f., vgl. 831). Die „Freiheit im praktischen Verstande“ definiert er in der Kritik der reinen Vernunft seinen Ethikschriften gemäß als „Unabhängigkeit der Willkür [bzw. des Willens, ck] von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (KrV B 561 f.; Herv. ck) und als Vermögen des Menschen, sich in solcher Unabhängigkeit „selbst zu bestimmen“ (KrV B 562). Hier wird all das praktisch genannt, was mit freier Willkür zusammenhängt (KrV B 830), „praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist“ (KrV B 828). Auf der Grundlage der gesicherten kosmologischen Freiheit der Kritik der reinen Vernunft, dreht sich sodann alles um die Willensfreiheit. In seiner praktischen Philosophie (vor allem in den Grundlegungsschriften), in der die Wirklichkeit oder objektive Realität der Freiheit dargetan wird, faßt Kant Freiheit von vornherein in der Perspektive des ‚Sittengesetzes‘ und damit im Kontext moralischer/sittlicher Erwägungen: das Problem des Wollens und dessen Geltungsbestimmtheit sind der Angelpunkt. Ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen sind Kant einerlei (vgl. GMS IV, 447), Wille und praktische Vernunft fallen letztlich zusammen.8 Vor diesem Hintergrund läßt sich gut verstehen, daß von Fichte über Hegel, Neukantianismus und Phänomenologie bis in die heutige Transzendentalphilosophie hinein Kants Gegensatz ‚theoretisch – ­praktisch‘ bzw. ‚Natur – Freiheit‘ als unzureichend eingeschätzt wird, um die innere Struktur der Vernunft zu explizieren. Ihnen kam bzw. kommt es nicht zuletzt auf die Herausarbeitung eines Freiheitsbegriffs an, der ein durchgängiges, den Kantischen Gegensatz ‚theoretisch – praktisch‘ umfassendes und durchdringendes Verhältnis etabliert und folglich jeglicher Spezifikation von Freiheit zugrunde liegt, gleich, ob der logischen Freiheit der Spontaneität, der Willensfreiheit, der Handlungsfreiheit, der ästhetischen Freiheit usw. Freiheit spielt schon in der theoretischen Philosophie der Gegenstandserkenntnis eine Rolle, denn sie ist Bestimmungsstück jeglicher vernünftiger Tätigkeit. Kants Architektonik muß daher als unzulänglich erscheinen: vernünftig ist alles, was durch Freiheit möglich ist. Diesen Schluß haben die nachkantischen Idealisten schon früh gezogen. Fichtes erste Wissenschaftslehre soll „vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit“ sein,9 ebenso wie der junge Schelling in der Freiheit „das A und O aller Philosophie“ erblickte.10 Und auch Hegel hatte 8  MS VI, 213, vgl. auch KpV A 29, 96, 160; GMS IV, 412, 441, 448; MS VI, 227. 9 Brief an Reinhold vom 8. Januar 1800 (Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von Reinhard Lauth u. Hans Jacob (Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff.) III/4, 182). 10 Johannes Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. 4 Bd. (Hamburg 21961) I, 22.

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von Anfang an philosophisches Wissen und die Erkenntnis der Vernunft als Freiheit geradezu in eins gesetzt (TWA IV, 46). Kant indes definierte Freiheit und Natur noch gegeneinander und gab den Begriff der Freiheit nicht als Ursprung alles Philosophierens und Seins aus, sondern als „Schlußstein“ des ganzen Gebäudes eines Systems der reinen Vernunft (KpV A 4). Während Kants Freiheitskonzept eine nachträgliche, keine ursprüngliche Einheit des Systems, der theoretischen und der praktischen Vernunft, Natur und Freiheit bietet,11 transformiert der nachkantische Idealismus Kants dualistisch ­angelegte Transzendentalphilosophie in einen Monismus der Vernunft, der ein Monismus der Freiheit ist. Erkenntnis, wovon auch immer, ist selbst ein eminenter Akt der Freiheit. Visiert man eine umfassende Philosophie der Erkenntnis an, dann stellt sich heraus, daß Objektivität und Subjektivität der Erkenntnis, objektive Geltung des Erkannten und subjektiver Vollzug der Erkenntnis durch das erkennende Subjekt intrinsisch zusammengehören. Die Sphären des Theoretischen und des Praktischen lassen sich folglich nicht mehr so trennen, daß sie sich jeweils begrenzen, daß das Theoretische oder die Natur aufhört, wo das Praktische oder die Freiheit anfängt. Könnte das erkennende Subjekt sich nicht gemäß dem Gesetz theoretischer Verbindlichkeit verhalten, eine Synthesis in Urteilen wäre unmöglich. Kants Gliederung bildet also keinen vollständigen Gegensatz: es kommt kein in sich begründetes Ganzes zustande, das die Vernunft ist. Vielmehr gilt es, Kants Vernunftdualismus aus einem ursprünglicheren Verhältnis heraus zu begreifen. Dennoch bleibt die Sachlage insofern komplex, als Kant durchaus eine ingeniöse Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft bzw. Philosophie bietet. Zwar läßt sich mit den Verfechtern einer unkantischen Primatlehre der praktischen Vernunft im Sinne eines allgemeinen, das Theoretische und Praktische übergreifenden Freiheitsbegriffs gegen Kant ins Feld führen, das Subjekt als Aktvollzugsgröße müsse als bestimmbar durch Geltungsgesetzlichkeit, folglich nicht nur bestimmt durch Naturgesetzlichkeit und daher als frei gedacht werden, so daß theoretische und praktische Vernunft nicht gegeneinander definiert werden können – gegen die Verfechter eines umfassenden Freiheitsbegriffs läßt sich jedoch aus Kantischer Sicht ins Feld führen, daß die Bestimmbarkeit des Subjekts durch Freiheit nicht eigens Thema der theoretischen Philosophie ist, sondern der praktischen. Hier geht 11 So auch in der Kritik der Urteilskraft: sie soll die „unübersehbare Kluft“ (KdU XIX) überbrücken, die zwischen den Gesetzgebungen durch den Natur- und den Freiheitsbegriff besteht, setzt also die Einteilung der Vernunft in den von Kant unterschiedenen Vermögen und transzendentalen Gesetzmäßigkeiten schon voraus.

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es um die Selbstgestaltung des Subjekts; sie ist gemäß Kants Architektonik per definitionem praktisch, letztlich gar moralisch. Jegliche Zwecksetzung unterliegt als Zwecksetzung praktischer Gesetzlichkeit. Dies ruiniert freilich keineswegs die eigengesetzliche Geltung des Nicht-Praktischen, sondern betrifft das Verhältnis des Subjekts qua Realisierungsinstanz zu ihr. 3 Hegel 3.1 Freiheit als Programm Läßt man dies als eine Strapazierung Kantischer Architektonik gelten, dann bricht gleichwohl eine entscheidende Differenz zu Hegel auf, der, ebenfalls von Kant ausgehend, zu einer grundlegend anderen Vernunft­ architektonik kommt. Während etwa im Neukantianismus oder in der Transzendentalphilosophie der Gegenwart Kants Selbstgestaltungsmodell sich jedenfalls dahingehend gehalten hat, daß überhaupt die Welt des Menschen als Ergebnis von Selbstgestaltungsverhältnissen konzipiert wird, löst Hegel das Selbstgestaltungsmodell durch ein Selbsterkenntnismodell ab, macht also radikal ernst mit Kants Forderung nach „Selbsterkenntniß“ (KrV A XI) der Vernunft. Dabei überwindet er die am Gegensatz ‚theoretisch – praktisch‘ orientierte Vernunftarchitektonik.12 Verbesserungsversuche innerhalb der Idee dieser Architektonik schießen daher allesamt zu kurz. Mit Blick auf die Einheit der Vernunft, sollen die Beschränkungen des theoretischen Erkennens unter der Idee des Wahren und des praktischen Erkennens unter der Idee des Guten durch eine logische Lehre von der absoluten Idee (II 429 ff.) ebenso aufgehoben werden wie das theoretische und praktische Agieren des Geistes durch eine Lehre vom freien Geist (E §§ 445 ff.). Der logischen Ideenlehre aber geht die Lehre des Begriffs voran. Hier exponiert Hegel den Begriff des Begriffs – und zwar als Freiheit. Indem die Logik, die das ­„begreifende Denken“ zum Thema hat (I 23), sich gliedert in eine Logik des Seins als An-sich-seins des Begriffs, des Wesens als Für-sich-seins des Begriffs und des Begriffs als An-und-für-sich-seins des Begriffs,13 läuft die Selbsterkenntnis der Vernunft schon in einem programmatischen Sinne auf die Erkenntnis der Vernunft als Freiheit hinaus.

12 Vgl. dazu eingehend Christian Krijnen: Recognition. Future Hegelian Challenges for a Contemporary Philosophical Paradigm. In: Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, ed. by Christian Krijnen (Leiden, Boston 2014) 99–127. 13 Vgl. E §§ 83 sowie E §§ 84 mit 112 und I 18, 31, 42 f., 277.

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Anders als etwa Kant, Fichte, Schelling oder in der späteren Transzen­ dentalphilosophie, denkt Hegel das ursprünglich Freie, das die Vernunft ist, nicht als praktisches Subjekt, als Ich, als (Selbst-)Bewußtsein oder als wertbezogene Tätigkeit eines sich selbst gestaltenden Subjekts. Vielmehr erweist sich innerhalb der Logik speziell der Begriff selbst, der Eine Begriff, als das Freie. Er ist die ausgezeichnete und fundamentale Form des Bei-sich-seinsim-Anderen, d. i. Hegels Bestimmung der Freiheit. Dieses Beisichselbstsein des (einen, r­ einen) Begriffs im Anderen und daher in seinem Anderen zu sein, drückt als solches die Form des spekulativen Begründungsprogramms aus. Es ist, wie die Metaphysik, auf Letztbegründung philosophischer Gehalte aus und bringt dabei, wie von Kants Transzendentalphilosophie inauguriert, die Vernunft als schlechthinnige Geltungsquelle in Anschlag. Metaphysik und Kants Transzendentalphilosophie leiden Hegel zufolge allerdings daran, externen Erkenntnisvorgaben verhaftet zu bleiben, sind folglich defiziente ‚Stellungen des Gedankens zur Objektivität‘ (vgl. E §§ 19 ff. mit 40 ff.). Sachgemäßes Denken habe sich von ihnen zu lösen, also zu befreien. Mit Blick auf die programmatische Formel der Phänomenologie des Geistes und den Begriff der Substanz, der gerade in Hegels Übergang in den Begriff des Begriffs als des Freien von besonderer Bedeutung ist, muß in dieser Befreiung die ‚Substanz‘ nicht nur zum ‚Subjekt‘ werden (PG 18), sondern in Hegels Analyse des Substanzbegriffs erweist sich der Begriff geradezu als die „zum Begriffe befreite Substanz“ (II 219), und wie Hegel hinzufügt: diese „Vollendung“ der Substanz ist nicht mehr die Substanz selbst, sondern „der Begriff, das Subjekt“. Aufs Ganze gesehen, wird man ein Begründungsprogramm, das auf ­„immanente Deduktion“ (II 219) abgestellt ist, als ein Programm auffassen müssen, in dem der Begriff sich im radikalen und umfassenden Sinne im Laufe seiner begrifflichen Selbstbestimmung zu sich selbst befreit. Freilich soll dabei Hegels spekulative Logik an die Stelle treten der durch Kant überflüssig gewordenen vormaligen Metaphysik wie der Kantischen Kritik der Vernunft.14 Hegel gibt seine Logik zwar auch als die ­„eigentliche Metaphysik“ aus (I 5), verleiht damit der Metaphysik jedoch eine andere thematische und methodische Bedeutung als sie in der vorkantischen Metaphysik 14 Vgl. zur Wandlung des Kritikbegriffs auch Christian Krijnen: Kritik. In: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts, hg. von Christian Bermes, Ulrich Dierse und Monika Hand (Hamburg 2015) 267–282. Zur Transformation der Metaphysik vgl. etwa Hans Friedrich Fulda: Ontologie nach Kant und Hegel. In: Metaphysik nach Kant?, hg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann (Stuttgart 1988) 44–82; ders.: Die Ontologie und ihr Schicksal in der Philosophie Hegels. Kantkritik in Fortsetzung Kantischer Gedanken. In: Revue Internationale de Philosophie 53 (1999), 465–484.

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hatte, ebenso wie er damit von Kants Konzept einer t­ranszendentalisierten Metaphysik abweicht. Die Logik habe die Denkbestimmungen frei von seienden Substraten der Vorstellung zu betrachten, die „Natur“ der Gedankenbestimmungen und ihren „Wert“ „an und für sich“ zu bestimmen (I 46 f.). Methodisch kommt es Hegel diesbezüglich darauf an, daß es im philosophischen Begreifen die „Natur des Inhalts“ selbst ist, die sich „bewegt“, der Inhalt also selbst seine Bestimmung „setzt und erzeugt“ (I 6). Eine solche Logik ist weder eine vorkantische Metaphysik noch eine Kantische transzendentale Logik, sondern eine Logik der (absoluten) Idee, d. i. des mit sich in seiner Objektivität zur Übereinstimmung gekommenen Begriffs. Eine derartige Selbstbewegung des ‚Begriffs‘ vollzieht sich in einem immanenten und in sich notwendigen Bestimmungsprozeß vom Anfang des Denkens als des unbestimmten Unmittelbaren, das das Denken qua ‚Sein‘ ist, bis hin zur Vollendung dieser Selbstbewegung im Verständnis seiner Bewegung, das das Denken qua ‚absolute Idee‘ ist. Schon dies legt es nahe, daß die Philosophie Hegel zufolge nur einen einzigen Inhalt und Gegenstand hat: die Idee, näherhin: die absolute Idee (II 484), die der „sich begreifende Begriff “ (II 504), die „absolute Wahrheit und alle Wahr­heit“ ist (E § 236, vgl. II 484). Die Idee ist also kein Seiendes, auch kein ‚seienderweise‘ Seiendes. Die absolute Idee erweist sich vielmehr als die Methode, d. h. als die eigentümliche Prozessualität, die der in der Logik thematischen reinen Gedankenbestimmungen eigen ist, in eins mit dem System dieser Gedankenbestimmungen. So gesehen laboriert die Philosophie nicht an Substraten der Vorstellung oder sonstwie Vorgegebenem – die absolute Idee enthält alle Bestimmtheit in sich (II 484). Sie erschöpft sich somit nicht als logische Idee. Aufs Ganze der Philoso­ phie gesehen, ist sie vielmehr thematisch in drei Bestimmungshinsich­ ten: als Logisches, Naturales und Geistiges. Zur Einlösung des neuartigen Philosophieprogramms Hegels gehört somit, daß Natur und Geist als die beiden Sphären des Realen in die Philosophie einbezogen werden, und zwar in der Weise einer immanenten und erfahrungsbezogenen Entwicklung der Idee in unterschiedlichen Elementen. Die Logik ist dabei als „innerer Bildner“ und „Vorbilder“ der Realphilosophie (II 231) die „Grundlage“ jeglicher naturalen oder geistigen Bestimmtheit (II 224, vgl. TWA 8, § 24, Z 1). Wegen ihrer schlechthin fundierenden Funktion hat Hegel sie nicht nur als „erste“, sondern auch als „letzte“ Wissenschaft qualifiziert (II 437).15 Sie ist nicht nur ­fortwährende Grundlage, sondern wird am Ende der Systementwicklung sogar sich 15  Vgl. dazu Christian Krijnen: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Unter­ suchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegen­ wartsphilosophie (Würzburg 2008) Kap. 4.2.3, bes. S. 228 ff.

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wissendes Logisches, das sich zugleich als Einheit von Natur und Geist und damit als Prinzipiationsgrund von Realem weiß, so daß die Philosophie selbst als schlechthinnige Grundlegungs- oder Totalitätswissenschaft begriffen wird. Kurzum: Hegels Idealismus ist programmatisch auf das Beisichselbstsein und -bleiben des Begriffs auch im Anderen seiner selbst angelegt. Die „Substanz“, bei Spinoza das einzig wahrhaft Reale, als causa sui durch sich selbst notwendig Existierende und Grund aller beschränkten Seinsweisen und Bestimmungen oder deren Modifikation, muß eben „Subjekt“ und damit in den sich begreifenden Begriff zurückgenommen werden. Während Spinozas Monismus der Substanz, der für ihn auch ein Monismus der Freiheit ist,16 mit einem Determinismus einhergeht, der für die Willensfreiheit des Menschen keinen Raum läßt,17 reduziert Kant Freiheit wiederum aufs Praktische, gar auf den Willen. Weder auf eine solche Spinozistische Freiheit der Substanz noch auf eine derartige Kantische des Subjekts ist Hegel aus. Der spekulative Begriff integriert vielmehr Begriffe wie Spontaneität, Selbstbestimmung, Notwendigkeit, Gesetzlichkeit, Kausalität, Allgemeines, Einzelnes in komplizierter Weise und ermöglicht dadurch erst so etwas wie geistige Freiheit. Es wäre müßig, die Stellen auch nur anzudeuten, in denen Hegel sein Programm spekulativer Philosophie mit Freiheit konnotiert. Vielsagend etwa ist der letzte, einen Gesamtüberblick bietender Einleitungsparagraph der Enzyklopädie. Das „Ganze“ der philosophischen Wissenschaft sei die „Darstellung der Idee“, die Idee jedoch das „schlechthin mit sich identische Denken und dies zugleich die Tätigkeit, sich selbst, um für sich zu sein, sich gegenüber zu stellen und in diesem Anderen nur bei sich selbst zu sein“ (E § 18). – Soweit die eine, die programmatische, die eher offensichtliche, als programmatische freilich ‚bloß abstrakte‘ Seite. Die andere, die spezifische, eher verdeckte, wenn auch ‚konkrete‘ Seite ist die genaue logische Systemstelle der absoluten Idee als des Freien. Diese Stelle ist der Begriff : mit dem Übergang vom Abschnitt ‚Die Wirklichkeit‘ zur ‚Lehre vom Begriff‘ deduziert Hegel den Begriff des Begriffs und die ihm eigene Freiheit. Freiheit ist weder zunächst noch zumeist etwas Praktisches: „der Begriff ist das Freie“ (E § 160), Freiheit die „absolute Negativität des Begriffs als Identität mit sich“ (E § 382). Wie kommt es zu dieser tief- und weitreichenden Innovation Hegels?

16 Vgl. Benedictus de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hrsg. von Wolfgang Bartuschat (Hamburg 2010) Pars 1, Def. 7. 17 Ebd. Pars I, Prop. 29, 32 f.

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3.2 Freiheit des Begriffs Philosophiehistorisch gesehen durch eine Korrektur des kosmologischen Freiheitsbegriffs Kants und des Substanzbegriffs Spinozas. Beide beruhen, systematisch gesehen, auf unreflektierten und unhaltbaren Voraussetzungen. Dies zu begreifen, führt zu einem umfassenderen und grundlegenderen Freiheitsbegriff, eben dem Begriff als dem Freien. Kant modelliert Freiheit in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft als ein „Vermögen“, Ursache von Wirkungen zu sein, näherhin: ein Vermögen, eine Reihe von Wirkungen „von selbst“, „spontan“ anzufangen. Diese vermögenstheoretische Modellierung läßt, worum es Kant geht, der schon im kosmologischen Kontext die Freiheit „im praktischen Verstande“ ins Zentrum rückt, den Menschen als Subjekt seiner Handlungen verstehen: nicht bloß als Wirkung einer Naturkausalität. Kant zufolge sind Naturgesetze Gesetze für Dinge als Erscheinungen. Für Dinge an sich gelten sie nicht: diese sind unabhängig von „Naturgesetzen“ (d. i. negative transzendentale oder kosmologische Freiheit), fähig, „einen Zustand von selbst anzufangen“ (d. i. positive transzendentale oder kosmologische Freiheit) (KrV B 561). An die Stelle von Bestimmung durch Anderes (Naturgesetze, Heteronomie) tritt Bestimmung durch sich selbst als Vermögen, einen Zustand von selbst, spontan anzufangen: Kausalität durch Freiheit. Wie jede „wirkende Ursache“, denkt Kant auch den „Charakter“ einer durch Freiheit wirkenden Ursache als „Gesetz“ (KrV B 567); einem „Subjecte der Sinnenwelt“ kommt dadurch sowohl ein „empirischer Charakter“ wie ein „intelligibler Charakter“ zu; seine „Handlungen“ sind folglich zum einen als ‚Erscheinungen‘ naturgesetzlich bedingt, zum anderen aber „Ursache jener Handlungen als Erscheinungen“ (KrV B 567). Kant denkt Freiheit offenbar als ein ‚Vermögen der Kausalität‘, als eine Fähigkeit, von selbst, spontan, aus eigenem Gesetz (kosmologischem Gesetz der Freiheit: Spontankausalität) zu wirken, Ursache von Wirkungen zu sein. Ebendiesen ganz allgemeinen Begriff von Freiheit – lehnt Hegel ab. Freiheit ist ihm kein Vermögen der Kausalität, sondern Bei-sich-selbst-sein-imAnderen (Freiheit als Vermögen intelligibler Kausalität wäre allenfalls eine Spezifikation dieses allgemeinsten Freiheitsbegriffs).18 Der Kausalitätsbegriff der Freiheit als Gegenbegriff zur Naturkausalität gründet in unausgewiesenen Voraussetzungen, näherhin in Kants Präformierung durch die rationalistische

18 Freiheit als „Vermögen“ (Freiheit als Möglichkeit), das auf einen so oder so gegebenen Stoff ‚angewandt‘ wird, ist für Hegel vielmehr eine bloße ‚Verstandesauffassung‘ dessen, was Freiheit ist (R § 10 A, vgl. auch § 15 A).

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Metaphysik seiner Zeit.19 Freiheit ist hier so oder so als Kausalität gedacht, als Vermögen, eine Reihe von Dingen von selbst anzufangen, als unbedingte Tätigkeit bzw. unbedingte Kausalität. Schon im Rahmen von Kants kosmologischem oder transzendentalem Freiheitsbegriff bildet die praktische Freiheit menschlichen Handelns den Angelpunkt. Entsprechend ist auch der transzendentale Grund von naturgesetzlich Bedingtem als eine ‚Folgen bewirkende Ursache‘ gedacht, näherhin als Willkürvermögen, als Vermögen, von selbst so oder anders handeln zu können, also aus Möglichkeiten zu wählen und sie durch Handlungen zu verwirklichen. Als Spontankausalität bewirkt sie Erscheinungen, die, ungeachtet der Vernünftigkeit (Vernunftbedingtheit) dieses Bewirkens, hätten anders sein können, also als Spontankausalität kontingenterweise so sind, wie sie sind (vgl. KrV B 584 f.). Die Beziehung von Ursache und Wirkung ist also äußerlicher Natur. Fällt aber die Bestimmung freiheitlicher Tätigkeit als eines kausalen Vermögens, dann wird wenigstens fraglich, in welchem Sinne das kosmologische Verhältnis von Ursache und Wirkung als eine der Naturgesetzlichkeit analoge ‚Gesetzlichkeit‘ (gesetzliche Notwendigkeit) aus Freiheit zu denken ist – jedenfalls, wenn man nicht von vornhinein die Perspektive der praktischen Philosophie in der Bestimmung der Freiheit einnimmt, sondern versucht, einen wahrhaft allgemeinen Begriff von Freiheit zu konzipieren, der noch indifferent ist in bezug auf mögliche inhaltliche Spezifikationen (Wille, Willkür). Ein solcher allgemeiner Freiheitsbegriff wäre zunächst bloß das Gegenstück zur empirischen Welt (‚Erscheinung‘) als einem durchgängig naturgesetzlich determinierten Geschehen. Von Hegels Perspektive aus gesehen, bietet Spinozas Substanzphilosophie durchaus ein Gegenmodell dieser Art umfassender Freiheit als spontankausaler Grundlage der Erscheinungswelt. Wie die Formel von der Subjektwerdung der Substanz impliziert, eignet Hegel es sich an, indem er es spekulativ transformiert. Die Substanz ist das Eine, aus dem alles andere ist, die Eine Substanz als „Sein in allem Sein“ Hegels, absolut notwendiges Sein, „absolute Vermittlung seiner mit sich selbst“, „Sein, das ist, weil es ist [causa sui, ck]“ (II 185). Diese Größe gilt es idealistisch und damit subjektivitätstheoretisch zu denken, nicht, wie Spinoza, ‚äußerlich‘ (II 164).20 Die „absolute Macht“ und 19 Vgl. zur Einbettung Kants in die Schulphilosophie etwa die Hinweise von Reinhard Finster: Spontaneität, Freiheit und unbedingte Kausalität bei Leibniz, Crusius und Kant. In: Studia Leibnitiana 14 (1982), 266–277 und besonders Katsutoshi Kawamura: Spontaneität und Willkür. Der Freiheitsbegriff in Kants Antinomienlehre und seine historischen Wurzeln (Stuttgart-Bad Cannstatt 1996). 20 Vgl. zur spekulativen Transformation Spinozas: Wolfgang Bartuschat: Nur hinein, nicht hinaus. Hegel über Spinoza. In: Hegel und die Geschichte der Philosophie, hg. von

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„blinde Notwendigkeit“, die Spinozas Substanz eignen, müssen sich dazu ausdrücklich als Freiheit entpuppen, die das Denken, der Begriff oder die Idee ist. Die kosmologische Einheit von Grund und Folge stellte sich dann (in logischer und nicht in ontotheologischer Weise) als immanente Notwendigkeit begreifenden Denkens heraus; wie Hegel sagt, legt das Absolute „sich selbst aus“; seine „Auslegerin“ ist die „absolute Notwendigkeit“, keine Erkenntnis von Attributen durch „äußere Reflexion“, sondern „identisches Setzen seiner selbst“ (II 185, vgl. 157 f., 163 f.). Diesen Manifestations- oder Selbstauslegungsprozeß des Absoluten expliziert Hegel gemäß den Kantischen Relationskategorien (KrV B 106). Für sich als philosophische Grundpositionen genommen, bilden sie in spekulativer Perspektive wohl Spinoza (Substanz), Sensualismus und Materialismus (Kausalität) und Leibniz (Wechselwirkung) ab. Qua unmittelbares ­‚absolutes‘ Verhältnis handelt es sich um das von Substanz und Akzidenzen, das sich sodann als Verhältnis der Bestimmung gegen Anderes bestimmt, d. i. als „Kausalitäts-Verhältnis“ (E §§ 153 f.), und sich schließlich als sich auf sich beziehendes Verhältnis, d. i. als „Wechselwirkung“ zeigt (II 185, 202 ff.; E § 155 ff.), so daß das wahrhaft absolute Verhältnis die „gesetzte Einheit seiner in seinen Bestimmungen“ ist, d. i. der „Begriff“ (II 185, 213 ff.). Indem die „Wirklichkeit“ sich als unmittelbare „Einheit des Wesens und der Existenz“, und damit von ‚Sein‘ und ‚Wesen‘, ‚Äußerem und Innerem‘ ergeben hat, die „Erscheinung“ ist (E § 142), erweist sich eben jene Freiheit, die der Begriff ist, als Grund der Wirklichkeit als Erscheinung – nicht eine bloße Spontankausalität. Der kosmologische Grund ist keine „Ursache“ mehr, deren „Wirkung“ die „Wirklichkeit“ ist (vgl. E § 153; II 189 ff.). Die Seinsart seiner Macht ist eine „innerliche Notwendigkeit“, die zur „Freiheit“ wird dadurch, daß ihre noch „innere Identität“ sich „manifestiert“ (II 204). Durch die Beziehung der Substanz auf sich, der Totalität und Reflexion auf sich, ergeben sich die Bezogenen selbst als substantiell; entsprechend ist und bleibt die Substanz im Anderen bei sich und identisch mit sich und weiß sie sich als solches selbstbezügliches Verhältnis. Ebendies ist jedoch, ganz allgemein, Freiheit. Die spekulative Entwicklung der Substanz führt somit zu einer Einheit, die der Begriff ist; Dietmar Heidemann und Christian Krijnen (Darmstadt 2007) 101–115; Klaus Düsing: Von der Substanz zum Subjekt. Hegels spekulative Spinoza-Deutung. In: Spinoza und der deutsche Idealismus, hg. von Manfred Walther (Würzburg 1991) 163–180; Detlev Pätzold: Spinoza, Aufklärung, Idealismus. Die Substanz der Moderne (Frankfurt am Main, New York 1995); Brigitte Sandkaulen: Die Ontologie der Substanz, der Begriff der Subjektivität und die Faktizität des Einzelnen. Hegels reflexionslogische ‚Widerlegung ‘ der Spinozanischen Metaphysik. In: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5 (2007), 235–275.

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sie ist dessen „unmittelbare Genesis“ (II 214, 218). Ist aber die erreichte selbstbezügliche Einheit der absoluten Substanz der Begriff in seiner Allgemeinheit, dann ist sie sich manifestierende Selbstbeziehung – Freiheit. Hegel denkt das kosmologische Verhältnis von Ursache und Wirkung folglich nicht mehr, wie Kant, als eine der Naturgesetzlichkeit analoge ‚Gesetzlichkeit‘ (gesetzliche Notwendigkeit) aus Freiheit. Gesetzliche Notwendigkeit ist kein explicans von Freiheit mehr. Indem solche Notwendigkeit zur Wechselwirkung von Substanzen als „freien Wirklichkeiten“ wird, wird die „Notwendigkeit“ (wie auch die „Zufälligkeit“) zur „Freiheit“ erhoben“; sie ist die „innere Identität“, deren „Manifestation“ die Kausalität ist (II 203 f.). Die „Wahrheit der Notwendigkeit“ erweist sich als „unendliche negative Beziehung auf sich“; die „Wahrheit der Substanz“ als der „Begriff “ (E §§ 157 f.), die „Freiheit als die Wahrheit der Notwendigkeit“ und als die „Verhältnisweise des Begriffs“ (II 214, vgl. 216). Durch den „Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit“ oder „vom Wirklichen in den Begriff“ entpuppt sich das Grundverhältnis als ein Verhältnis, das im anderen ganz bei sich selbst ist (E § 159 A). Der kosmologische Grund ist somit weder bloße (den Einzelfall bestimmende) Notwendigkeit des Gesetzes noch gesetzlose Zufallsspontaneität. Der Grund der Wirklichkeit, der zunächst Substanz schien, stellt sich als der Begriff heraus; die Einheit der Substanz als bloß „innere Notwendigkeit“ wird „manifestierte“ oder „gesetzte“ Identität und so für Hegel jene „Freiheit, welche die Identität des Begriffs ist“ (II 218). Da die Notwendigkeit der Substanz nunmehr gesetzte negative Selbstbeziehung, an und für sich seiende Identität ist, „eröffnet“ sich im Begriff, wie Hegel sagt, „das Reich der Freiheit“ (II 218 f.). Um der unerhörten Radikalität und Fundamentalität dieses allgemeinen Hegelschen Freiheitsbegriffs gerecht zu werden, sollte man den kosmologischen Kontext seiner Exposition nicht aus den Augen verlieren. Hegel überführt dabei gerade den kosmologischen Zusammenhang in einen begrifflichen, so daß sich der ‚Grund von allem‘ als den (nicht-kosmologisch verfaßten, sondern jedweder Kosmologie noch zugrundeliegenden) Begriff herausstellt. Hegels Logik als das An-und-für-sich-werden der absoluten Idee oder der Selbsterkenntnis der Vernunft im Element des reinen Denkens in der Weise des „Vorwärtsgehens“, das zugleich „Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften“ ist (I 55, vgl. 55 ff., II 498 ff.) – Bestimmung also, die zugleich Begründung ist – fängt an mit dem reinen Sein als dem ‚unbestimmten Unmittelbaren‘; dieses Unmittelbare aber stellt sich als Vermittlung mit sich und ‚Beziehung auf sich‘ heraus, damit als Wesen, und folglich als zwar ‚gesetzter‘ jedoch noch nicht ‚schlechthin in sich reflektierter‘ Begriff. Das „Wesen“ erweist sich näherhin als der „Grund“ der „Existenz“ bzw. der „Erscheinung“ bzw. der „Wirklichkeit“ (E §§ 112–159; II Zweites Buch); der Grund ist g­ eradezu das Wesen als „Totalität“

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(E § 121) gesetzt. Das Grundverhältnis (von Grund und Begründetem) als inneres, „absolutes Verhältnis“ ergibt sich sodann aus dem kosmologischen Format des Substantialitätsverhältnisses, des Kausalitätsverhältnisses und das der Wechselwirkung als Selbstver­hältnis des Begriffs. Dieser qualifiziert sich wiederum durch seine Momente des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen, wodurch der Rekurs auf extern Vorgegebenes bzw. Freiheit, die bloße Spontaneität und damit Willkür bzw. Zufall ist, in den Begriff zurückgenommen wird. Der so verstandene Begriff ist das Freie. Es wundert daher auch nicht, daß Hegel im Anschluß an diese in der ‚Wesenslogik‘ erreichte Bestimmung des Begriffs die ‚Begriffslogik‘ mit einleitenden und auch rekapitulierenden Ausführungen „Vom Begriff im Allgemeinen“ beginnt, in denen ausgerechnet Kant zur Sprache kommt, näherhin, das, was nach Hegelscher Auffassung zu den „tiefsten und richtigsten Einsichten“ der Kritik der reinen Vernunft gehört: die „ursprünglich-­ synthetische Einheit der Einheit der Apperzeption“ (II 221). Entgegen eines bloß „äußerlichen Verhältnisses“, habe Kant die „Einheit, die das Wesen des Begriffs“ ausmacht, als ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption, des „Ich denke oder des Selbstbewußtseins“ gedacht. Kant überwinde somit die Äußerlichkeit von Ich und Verstand bzw. Begriff und Gegenstand. Zu Recht betont Hegel, daß nach Kantischer Auffassung das „Object“ das ist, „in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist“ (KrV B 137). Alle „Vereinigung“ von Vorstellungen ist „Einheit des Bewußtseins in der Synthesis derselben“ (KrV B 137); es ist also die „Einheit des Begriffs“, durch die etwas „Objekt“ ist (II 222). Die Bestimmung des Begriffs als des wahrhaft ‚absoluten Verhältnisses‘ führt so gesehen die Elemente der Kantischen Relationskategorien, die traditionellerweise jenes Verhältnis qualifizieren, in den „Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperception“ als „oberstes Princip alles Verstandesgebrauchs“ (KrV B § 17) zurück. Hegel hält freilich Kants Rückführung in die Einheit des Selbstbewußtseins als absolute Grundlage für unzureichend, weil das Verhältnis des Begriffs zur „Realität“ qua „Objektivität“ dem Begriff als „Subjektivität“ doch „gegenübergestellt“ (II 223, vgl. 223 ff.), das Verhältnis von Anschauung und Begriff, Verstand und Sinnlichkeit, Form und Inhalt als ein bloß abstraktes Verhältnis begriffen wird. Es fehlt bei Kant somit das Hegelisch verstandene „Prinzip der Bestimmung“, d. h. die jedwede Äußerlichkeit aufhebende Realisierung des Begriffs durch seine Momente des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen.21 Hegels Begriffslehre vollendet so gesehen das, was er als Grund für die Schwere der Kantischen ­transzendentalen 21 – dies ist Hegels ‚eigentliche‘ oder wesentliche Kant-Kritik, um mit dem Titel von Appels Beitrag in diesem Band zu reden, die sich eben in allen ihren Erscheinungen manifestiert.

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Deduktion ausgibt: daß über die bloße „Vorstellung“ des Verhältnisses von „Verstand“ und „Ich“ bzw. „Begriff “ zu einem „Ding und seinen Eigenschaften und Akzidenzien“ zum „Gedanken“ fortgegangen wird (II 221). Der spekulativ verstandene Begriff hat sich als diese gesuchte absolute Grundlage ergeben (vgl. auch II 220). Freiheit ist nach wie vor spontane Tätigkeit. Sie ist aber nicht mehr durch Bestimmungen kausaler Verhältnisse wie Notwendigkeit, Zufälligkeit, Gesetz, Ursache, Wirkung charakterisiert, sondern durch die Struktur des spekulativen Begriffs: Allgemeines, Besonderes, Einzelnes. Das Freie, das der eine Begriff ist, bleibt als Allgemeines, Besonderes und Einzelnes in seiner Tätigkeit durchgängig bei sich und ist zugleich als in sich differenzierte Einheit im anderen seiner Momente. Solches Beisichselbstsein, sich von sich aus, also ‚­spontan‘, zu sich bestimmen, ist wahrhafte ‚Selbstbestimmung‘. Sie ist zugleich Vermittlung seiner Momente des Freien miteinander und sich selbst, wahrhafte Selbstvermittlung, und insofern immer noch Vermittlung unter eigenem (begrifflichem) Gesetz, ‚Autonomie‘. Entsprechend ist das Allgemeine nicht einfach ein wie auch immer gegebenes Gesetz (Autonomie, Heteronomie), welches das Einzelne zu befolgen bemüht ist, sondern durchgängige Selbstbestimmung des Allgemeinen zum Einzelnen; das Einzelne wiederum ist nicht einfachhin dem Allgemeinen unterworfen, sondern es bestimmt sich innerhalb des Allgemeinen zum Allgemeinen. Solche Freiheit spontaner Selbstbestimmung und vollständiger Selbstvermittlung als die Tätigkeitsweise des Begriffs und der ihm eigenen Notwendigkeit ist grundlegend für jedwede Spezifikation von Freiheit (namentlich geistiger Freiheit). Sie ist die „absolute Negativität des Begriffs als Identität mit sich“ (E § 382), die sich nunmehr in allem Fortgang, sowohl innerhalb der weiteren logischen Entwicklung des Begriffs als auch im Fortgang zum Element oder zu den Elementen des Realen erhält. Auf diesen Fortgang von der Subjektivität des Begriffs in seine Objektivität und deren Einheit in der Idee wie deren freien Ent-schluß oder Befreiung zum Realen (als durchgängiges Bei-sich-selbst-sein-und-bleiben-in allem-Anderen des Begriffs), gehe ich nicht näher ein. Ich bemerke abschließend nur, daß nicht bloß die Logik an zahlreichen das Ganze in den Blick nehmenden Stellen von der Prominenz des Begriffs als des grundlegend Freien zeugt – auch die Ausrichtung der Geistphilosophie zeugt vom Impetus der Freiheit: sie ist eine Lehre von solchen realen Wesen, denen (anders als bloßen Naturphänomenen) wirkliche (wirkende) Freiheit eignet. Indem der Begriff durch seine Herkunft aus dem Substanzialitätsverhältnis die Einheit der Substanz in eine gesetzte Identität transformiert, welche die der „Identität des Begriffs“ ist, ist ein selbstbezügliches Verhältnis „absoluter Negativität“ erreicht, das Hegel ­

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b­ ekanntlich als Freiheit, damit jedoch auch als „­manifestierte“ Identität qualifiziert (II 218). Hier ist die Vermittlung des Begriffs zu einer „Vermittlung des Begriffs mit sich selbst“ geworden, zur „manifestierten Beziehung“ (II 242). Für Hegel ist Manifestation als Tätigkeit eines wahrhaft Absoluten Manifestation seiner selbst in seiner Äußerung.22 Entsprechend sind Natur und Geist in je spezifischer Weise Manifestationen des Begriffs und damit des Freien. Wir sind frei, weil der Begriff, als das Freie, das er ist, sich als geistiges Selbstverhältnis manifestiert. Anders als im Falle der Natur, ist das (formelle) „Wesen“ des Geistes die „Freiheit“ (E § 382), so daß die (inhaltliche) Bestimmtheit des Geistes „Manifestation“ (E § 383) ebendieses Wesens ist. Manifestation ist nicht Manifestation oder Offenbarung von „Etwas“, sondern der Geist selbst ist dieses Offenbaren, seine „Möglichkeit ist daher unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit“ (E § 383, vgl. II 164),23 wirkende Freiheit also. Dieses offenbarende Manifestieren des Geistes vollzieht sich letztlich in einer Form seiner selbst, die Offenbaren in der Form des Begriffs ist. In diesem Offenbaren im Begriff ist nicht weniger die Natur einbezogen (E § 384): Der freie Geist überformt in seinem Schaffen die Natur, verleiht ihr dadurch ein geistiges Gepräge, erschafft in ihr ein Sein seiner selbst und erfaßt sich in ihr letztlich im Begriff, in der Philosophie nämlich. Mit diesem geistigen Rückgang in den Begriff vereinigt sich in der Philosophie in unüberbietbarer Weise die absolute Idee als Geist in ihrem Anderen, das die Natur ist, mit sich. Literatur Bartuschat, Wolfgang (2007) „Nur hinein, nicht hinaus. Hegel über Spinoza“, in: Heidemann, Dietmar / Krijnen, Christian (Hrsg.) Hegel und die Geschichte der Philosophie, Darmstadt, 101–115. Baumann, Charlotte (2011) Hegel’s Logic of Freedom, online source: http://sro.sussex .ac.uk/38556/1/Baumann,_Charlotte.pdf, visited 9 Feb 2015. Düsing, Klaus (1995) „Von der Substanz zum Subjekt. Hegels spekulative SpinozaDeutung“ in: Walther, Manfred (Hrsg.) Spinoza und der deutsche Idealismus, Würzburg, 163–180.

22 I I 163 f., 169 f., 190; E §§ 139, 142 A, 151. 23 Der Wille als freier Wille ist entsprechend ebenfalls nicht mehr gedacht als „bloße Möglichkeit, Anlage, Vermögen“, sondern als das „Wirklich-Unendliche“ (R § 22, vgl. § 22 A). Nur so ist er schlechthin „bei sich“, die „Abhängigkeit von etwas anderem“ verschwunden (R § 23).

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Reason’s Search for the Unconditioned and the Standpoint of the Subject in Kant Stefan Bird-Pollan In this paper I’d like to propose a reading of Kant’s philosophy from the standpoint of reason in its most general or generic sense, as synthetic activity per se. That is, to come right out and say it, I will be stressing the idea that reason imposes form or unity on the manifold of content not just in the epistemic sense but also in the practical sense. In order to do this, reason must itself be conceived as fundamentally unified. This project, I believe, can shed light on a number of problems which contemporary Kant scholarship in both the theoretical and practical realms continues to encounter. Understanding Kant from the perspective of reason per se allows us to understand Kant’s project as dynamic and immanent rather than as static and transcendental. Examining Kant from this vantage point allows us to see that the two uses of reason, the speculative and the practical, are merely versions of reason’s original form giving capacity or synthesis. If this is correct, the understanding and practical reason are themselves to be understood as dynamic and as synthetic, constituting their respective domains through their activity of subsuming intuitions under concepts in thought or by producing states of affairs by ordering particular elements in the world through action. The main obstacle to such a dynamic conception of reason is Kant’s alleged formalism most prominently expressed in the theory of the categories. Kant’s table of the categories seems to suggest that there is a stable, transcendental and hence non-dynamic core to our relation to material nature. This idea has suggested to many that Kant has a limited conception of reason’s role and that this role is antagonistic to the role the understanding plays as it determines what is legitimately to be called knowledge and what is not.1 The emphasis is hence placed on the understanding rather than on reason. Moreover, if one begins one’s reading of Kant’s philosophy, as Kant himself suggested, with a discussion of the understanding and hence the categories, it appears that 1  This criticism is, of course, Hegel’s main critique of Kant. Hegel argues that Kant’s insight into the organizing capacity of reason is decisively undercut by the rigidity of the categories of the understanding which, as stable, are prejudge our experience of nature. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Faith and Knowledge (Albany: State University of New York Press, 1977).

© koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_011

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the theory of the understanding undermines the authority of reason in its generic sense. Such readings are dominant in the current secondary literature and hence it is of little surprise that there have been relatively few investigations which have sought to understand Kant from the perspective of reason.2 I intend, nonetheless, to propose a reading of Kant from the perspective of reason since I believe the payoff could well be significant. I will seek to address the issue of the categories indirectly, by concerning myself foremost with the problem of the divided authority of reason which lies at the bottom of the objection to the categories. I will show that the divided authority of reason is not as problematic as is often thought by showing that the understanding is subordinated to reason in a genus-species relation (as, analogously, is practical reason to reason). I will further suggest that the division within reason into the understanding and practical reason, criticized by Hegel and McDowell alike, relates not to Kant’s supposed empiricism, but rather to the relation between practical reason and the understanding as two stems of the same activity, one active, the other passive, which nonetheless form parts of a unity. This division will ultimately be shown to characterize the basic condition of reason itself. In part 1 of this paper, I situate the ambitions of this paper to reorient our understanding of Kant’s division of reason with regard to the criticism that he does not have a unified conception of reason because his view of reason is static. This section is meant to motivate the necessity of seeing Kant’s theory of reason from the larger perspective suggested by both Hegel and McDowell. Part 2 examines Kant’s view of reason as the search for the unconditioned of its conditions through an examination of reason’s basic activity, synthesis. I conclude that Kant’s conception of reason and hence also of the subject itself is dynamic or productive. In Part 3, I come back to respond, albeit obliquely, to the criticism that Kant was wrong to separate practical and speculative reason. I argue that the division within reason between the understanding and practical reason is meant to account for the fact of human subjectivity which finds itself both affected by the world and as an agent within it. It is this fact which accounts for the tension between the two branches as knowledge and action. The Copernican turn, then, is conceived as the rational human’s perspective on her own double relation to materiality as an embodied subject who is within nature yet not quite of it. 2  But see, the important work by Axel Hutter, Das Interesse Der Vernunft: Kants UrsprüNgliche Einsicht Und Ihre Entfaltung in Den Transzendentalphilosophischen Hauptwerken (Hamburg: Meiner, 2003). A dynamic conception of reason can more often be found in the work of thinkers who do not pursue a directly Kantian line, for example Stanley Cavell or Richard Rorty, and on the other side the philosophical idiom, by Heidegger or Adorno.

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The Problem: Reason Divided Against Itself

In this section I’d like to introduce the criticism made of Kant by Hegel and McDowell to the effect that Kant has a divided notion of reason. Kant is considered by Hegel to side with the empirical, hence the understanding, against reason’s authority and by McDowell to inject a transcendental story about reason to defend against precisely the sort of charge Hegel makes. The ensuing discussion will help us to situate both the challenge posed by this criticism and what might be needed to parry it. I will thus be arguing that Hegel and McDowell are essentially right in their criticism of Kant but that, as I will show in the following section, Kant himself has the resources to answer the challenge if we consider his claims about reason’s activity per se. 1.1 Shifting the Ground of Kantkritik Both Hegel and John McDowell have charged Kant with imposing a transcendental story about things in themselves where there ought to be simply talk of the dialectic between knowing and acting. In order to take stock of the sort of response that is needed against these critics it is worth looking at the contents of their respective critiques in a little detail, as they exemplify two different directions of attack. While Hegel accuses Kant of having too limited a notion of the idea of reason, McDowell faults Kant for introducing a transcendental story about the thing in itself where none is needed, effectively creating a more extended notion of reason than is needed. I shall argue, however, that these two criticisms come to the same in the sense that they both accuse Kant of failing to conceptualize the relation between subject and nature as symmetrical. Such an symmetrical conception, both argue, would also have to be dynamic, something Kant also fails to produce. Both criticisms ultimately open up a perspective which allows us to see Kant’s project in a favorable light in the sense that they both invite a reading of Kant which emphasizes the dynamic relation between reason and nature and hence a reading which lays to rest – as much as possible – Kant’s own tendencies to veer into either an idealist story or an empiricist story. Both criticisms thus point toward the need to overcome what are understood to be the limitations of Kant’s conception of the categories.3 3  I argue in a forthcoming paper that McDowell actually has two readings of Kant, one which faults him for introducing a transcendental or an idealist story while the other, which concerns spontaneity and receptivity is precisely the sort of story Kant is, in my view, getting at. See Bird-Pollan, “McDowell’s Two Readings of Kant”, in Die Klassische Deutsche Philosophie und Ihre Folgen, (ed.) Michael Hackl, Berlin: Springer forthcoming.

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The challenge is thus to move our conception of Kant thinking away from being preoccupied with the understanding and toward a thinking of the relation between reason and nature more generally. In some ways this shift takes place in Kant’s thinking itself in the move from the first Critique in which the categories of the understanding play a central role to the second and third Critiques where the categories play almost no role anymore. This shift is also of a piece with Kant’s doctrine of the primacy of the practical according to which the ideas of reason – the immortality of the soul, god and freedom – frame all our cognitions. In this paper I will not be able to detail these two shifts in the development of Kant’s writing but will confine myself to the meta-theoretical framework which Kant himself already provides in the Critique of Pure Reason, the thought that reason seeks the unconditioned for its conditions. In order to bring out the importance of the perspective of reason as opposed to the perspective of the understanding, let me go into a little more detail about the framework of first two critiques as they offer us important clues about what to seek in the alternative perspective of reason per se. Hegel’s critique of Kant, at least as it appears in Faith and Knowledge, is essentially that Kant saw the truth of the relation between experience and idea but failed to follow through on his insight: “In choosing between the two [Reason and appearance] his [Kant’s] nature despised the necessity of thinking the Rational, of thinking an intuitive spontaneity and decided without reservation for appearance.”4 Hegel acknowledges, however, that Kant saw the implication of his thought as proposing a fundamental unity between the thing in itself and appearance. Hegel put it in his usual way: Appearance is [for Kant] an absolute essence; it is the In-itself of cognition – as if it were not also an exercise of the cognitive faculty when it conceives and knows (denkt und erkennt) that an intellect for which possibility and actuality are not sundered, in which universal and particular are one and whose spontaneity is at the same time intuitive, is a necessary Idea.5  Hegel’s point is that for Kant even the understanding must ascend to the heights of reason since it must possess the authority to adjudicate between what is experience and what is illusion. Kant’s limitation of the understand to sensory experience is itself a limitation that only makes sense against a more 4  Hegel, Faith and Knowledge. 89–90. “Glauben Und Wissen,” in Gesammelte Werke ed. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Frankfurt: Meiner, 1968–). 4:341. 5  Faith and Knowledge. 89. “Glauben Und Wissen.” 4:341.

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fundamental authorization born by reason in the generic sense. Reason, then, for Hegel, necessarily already has the whole in view in the sense that its theoretical use must already be authorized in a way which extends beyond Kant’s official definition of the understanding as the capacity to subsume intuitions. For Hegel, the understanding is simply part of the activity of seeking the unity of what is (fact) and what could be (the highest good, or in Hegel’s language, absolute Spirit). While this position clearly does not exhaust Hegel’s criticism of Kant, it points to an important issue which I propose to make the most of in this paper, namely the fact that Kant’s notion of the understanding necessarily relies on the more fundamental authority of reason as the idea of the unity of fact and value. This claim points to the need to understand Kant’s project from the perspective of reason as seeking unity rather than as essentially consisting of its component parts. The original unity of the theoretical and the practical points to the need for a dynamic reconciliation between the two. Let us now briefly look at McDowell’s critique of Kant: McDowell conceives of his project as pushing Kant in the direction of Hegelian absolute idealism, glossed as the rejection of “the idea that the conceptual realm has an outer boundary” which could be given by the empirical.6 McDowell, like Hegel, accuses Kant of rejecting his own best insight into the necessary relation between mind and world – thinking and knowing – by interposing a transcendental story about the necessary separation between appearances and things in themselves – between what is otherwise a perfectly coherent story about ordinary experience being received and reflected upon by the activity of mind. McDowell writes: “In the transcendental perspective, receptivity figures as a susceptibility to the impact of a supersensible reality, a reality that is supposed to be independent of our conceptual activity in a stronger sense than any that fits the ordinary empirical world.”7 For McDowell, then, Kant divided the work of reason into two, consigning reason in the generic sense to be the authority in the noumenal realm and consigning the understanding to be authoritative in the phenomenal realm. Reason here too is understood to be divided and hence to undermine what should be the basic spontaneity/receptivity relation. In a sense, McDowell’s criticism of Kant is the reverse of Hegel’s: McDowell criticizes Kant not for overstating the authority of the understand at the expense of the authority of reason, but rather for understating the authority of the understanding by making it dependent on a transcendental story which requires additional support from the generic use of reason. McDowell’s point 6  John McDowell, Mind and World (Cambridge, MA: Harvard University Press 1996). 44. 7  Ibid. 41.

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is that there is no distinction necessary between understanding and reason since all that is needed is simply the activity of mind and its receptivity to nature. Thus McDowell characterizes Kant’s transcendental story about the background of the reason-nature relation as sliding back into the preoccupations of metaphysics which seeks to give an a priori account of the authority of knowledge independent of the givenness of that knowledge. Finally, McDowell argues that Kant’s need for the transcendental story is due to his lack of a dynamic conception of the relation between reason and nature. McDowell writes that “Since he [Kant] does not contemplate a naturalism of second nature, and since bald naturalism has no appeal for him, he cannot find a place in nature for this required real connection between concepts and intuitions. And in this predicament, he can find no option but to place the connection outside nature, in the transcendental framework.”8   The criticisms voiced by Hegel and McDowell comes down to this: the fact that Kant’s inability to conceive of the relation between reason and nature as dynamic leads him, on the one hand to posit an empiricism and, at the same time to seek to disavow this empiricism by positing a transcendental (hence non-empirical) distinction between the nature and reason. Both of these problems could be solved, so the argument goes, by having a dynamic conception of the relation between reason and nature. Such a relation would constitute a direct answerability of the conceptual to the empirical and vice versa. This dynamic relation also allows us to see that the proper reason-nature relation would not only be dynamic but also immanent in the sense in which we can speak of a ‘direct answerability’ which needs no transcendental structure. There could be no perspective which existed outside of the movement of the reason-nature relation, hence no transcendental or, what comes to the same, empirical bedrock against which the dynamic story could be assessed.9 The outcome of the dynamic relation constitutes at every point the only 8  Ibid. 98. 9  This is a charge which even Pippin’s sympathetic criticism misses in asserting: “But McDowell, in his proposed moderation (which, because it preserves receptivity, again seems to give us all the check on that spinning that we need), seems to me just to help himself to what Kant thinks must be established by the hard work of the deduction. [. . . Kant] has to rule out the possibility that the intuited manifold’s unity is not that which the category prescribes. It is possible that it is not; we do not know that it is. (It is possible that the “same form” conceptualizable elements in an intuition are only the elements that can manifest themselves in a way we could take some notice of; those that cannot are not attended to. There would not then be genuine guidance in the way McDowell wants it. Passivity alone will not do it.) Robert Pippin, “Postscript: On Mcdowell’s Response to ‘Leaving Nature Behind’,” in The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath (Cambridge: Cambridge University Press, 2005). 214.

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response to the problem that prompted the process of reflection. The connection between the immanent and the dynamic perspective is put thus by McDowell: If we restrict ourselves to the standpoint of experience itself, what we find in Kant is precisely the picture I have been recommending: a picture in which reality is not located outside a boundary that encloses the conceptual sphere. [. . .] The fact that experience involves receptivity ensures the required constraint from outside thinking and judging. But since the deliverances of receptivity already draw on capacities that belong to spontaneity, we can coherently suppose that the constraint is rational; that is how the picture avoids the pitfall of the Given.10 The challenge is thus to show that Kant’s conception of reason is both dynamic and immanent rather than static and transcendental, that is, that it fits both Hegel and McDowell’s conception of what is needed better than they think it does. What must be shown, in other words, is that Kant has a unified notion of authority which would make possible the relation between mind and world in an immanent and dynamic way, that is, in a way in which knowledge and action could constitute themselves immanently through their answerability to nature. The challenge this paper sets itself is to answer the criticisms voiced by Hegel and McDowell in the terms of suggested by them: to show that Kant’s view of reason is immanent and dynamic but without giving up on the other central element of Kant’s system, the idea that there is indeed a basic distinction within in reason, and hence that Kant is right to posit the division between the understanding and practical reason. My suggestion is that we follow Hegel and McDowell’s lead in proceeding from the perspective of a unified, dynamic and hence immanent conception of reason and comprehend the division in the authority of reason as a division not between reason and material nature but rather as between reason’s two basic relations to material nature, hence between speculative and practical reason. This approach would keep us from reifying nature into something which has a particular conceptual character independent of our judgments about it. It is this basic distinction between our interface with nature, as both practical and speculative, which constitutes the nature of reason and hence the nature of subjectivity itself. 10  McDowell, Mind and World. 41.

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1.2 The Immanent and Dynamic Perspective Let me suggest first of all why Kant’s philosophy is of interest to both Hegel and McDowell in the first place, that is, why it seems appropriate to seek a reading of Kant against himself in the way I am proposing. The answer is simply that Kant’s position is already immanent and dynamic from its very inception. In the A preface Kant says: “For the main question is always this: what, and how much, can understanding and reason cognize independently of all experience? rather than: how is our power of thought itself possible?” (A xvii)11 That is, Kant is concerned not with the authority of thought itself but rather, given thought’s authority, with the question of the extent of the legitimacy of the thinking we already engage with. The question about the a priori nature of knowledge is thus the question of the legitimacy of the activity of cognizing which we are already engaged in, not with the question of whether cognition as such is possible. The former question goes to the question of what we are doing and whether we are rightly doing it when we comprehend and act in the world. The latter question would seek a ground to refute skepticism. Kant’s point is that such skepticism does not arise because we are already in the midst of the process of cognizing nature. In the B preface Kant expands on the idea that we are already acting in the midst of nature, cognizing the world around us. Again he emphasizes the immanent perspective of our reason to our subjectivity: “Reason starts from principles that it cannot avoid using in the course of experience, and that this experience at the same time sufficiently justifies it in using.” (A vii) For Kant, reason’s relation to experience is immanent in the sense that it is born out or justified simply in its use. Reason simply is the relation the human subject has to experience. Kant’s conception of reason is thus immanent in the most basic sense that knowledge is the product of the working of mind. This does not mean, however, that all the products of our cognitions are legitimate. Our cognitions thus require a critique. 11  Kant’s works will be cited in text according to the Akademie Ausgabe. For the English translation of the first Critique (given with reference to the A/B editions) I have used Immanuel Kant, Critique of Pure Reason, trans. Werner S. Pluhar (Indianapolis, IN: Hackett 1996). For the second (KprV), I use Critique of Practical Reason, ed. Mary J. Gregor, trans. Mary J. Gregor, Practical Philosophy; the Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant (Cambridge: Cambridge University Press, 1996). The Groundwork (GMS) is cited from Groundwork for the Metaphysics of Morals, ed. Mary J. Gregor, trans. Mary J. Gregor, Practical Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1996). For the Opus Postumum (OP) I have used Opus Postumum, trans. Eckart Förster, The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant (Cambridge: Cambridge University Press, 1993).

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Kant says the same thing in the practical sphere, emphasizing that “if as pure reason it [reason] is really practical, it proves its reality and that of its concepts by what it does, and all subtle reasoning against the possibility of its being practical is futile.” (KrV 5:3) That is, practical reason is not a transcendental structure which can be referred to from within the practical spheres to guarantee the moral judgment’s authority but is rather authoritative action itself, a sort of self-actualization, revealing its authority simply by what it accomplishes. The authority of an action thus stems simply from my having reflected on it and chosen to perform it. The point then in both the t­ heoretical and the practical spheres is that Kant proceeds from the perspective of the possession of knowledge and the doing of action. We are, in other words, always already engaged in rational activity within nature. It is this decisive feature of Kant’s philosophy, the ‘inside-ness’ of the human perspective which I am calling by the term immanence. The immanence of the perspective of human subjectivity also leads necessarily to the other term I’ve been using in describing Kant’s account, dynamic. The immanent account and the dynamic account go hand in hand in the sense that being inside our world also means that reacting to a prompt given by the world in turn shaping that world. Spontaneity and receptivity are thus necessarily the features of a subjectivity which finds itself already affected and hence already acting in its world. On first blush, then, it looks like Kant already has the right conception of reason, one which is both immanent and dynamic, reflecting the subject’s position within nature and hence both the authority over nature as well as responsiveness to nature, as suggested by Hegel and McDowell. And no doubt this conception is what attracted both to Kant’s thinking. 1.3 Where Kant Goes Wrong The correct conception of the relation between reason and nature, however, seems to be undone again when Kant appears to claim that there is some determinate logic which allows us to distinguish between truth and illusion or between correct and incorrect practical judgments. The problem comes in Kant’s claim that reason somehow oversteps its own authority producing a dialectic of appearance and illusion in the speculative sphere and a dialectic of legitimate and illegitimate conceptions of the highest good in the practical sphere. With regard to its speculative use, Kant writes that reason: finds itself compelled to resort to principles that go beyond all possible use in experience, and that nonetheless seem so little suspect that even common human reason agrees with them. By doing this, however,

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human reason plunges into darkness and contradictions; and although it can indeed gather from these that they must be based on errors lying hidden somewhere, it is unable to discover these errors. (Aviii) The issue at stake is why Kant has to posit a dialectic, that is, why he thinks there is ineluctable error in our relation to nature at all. If reason is really immanent and dynamic then, its relation to nature will be a process which will not be prone to error precisely because it does not claim to know anything about what it has not yet become responsive to. To suggest, however, that error is a necessary part of our relation to nature presupposes that we cannot help but be mistaken about what our responsiveness to nature involves. This latter claim then clearly takes away authority from the claims of reason per se to be immanent and dynamic, that is, to be directly responsive to nature. Kant rather appears to posit a difference between reason and nature such that we can speak of the different between appearance and illusion in a priori terms, i.e. as existing within reason itself. Kant’s notion of critique then appears as itself based on a distinction within reason itself which separates reason from what is its business to come to terms with, nature. The question for this paper is what to make of this difference within reason which seems so intolerable to Kant’s many critics. On the usual way of reading Kant, the difference within reason pertains to a difference internal to each of reason’s two uses, the practical and the theoretical. That is, the fact that there is a dialectic of speculative and practical reason is taken to be the decisive point. Kant’s distinction between reason and nature in the theoretical realm appears to be expressed as the difference between the understanding and intuition where the understanding has the authority to subsume intuitions according to its own proper logic (the categories) in order to constitute facts. These facts are then deployed against the authority of ­reason in the theoretical use, revealing the judgments of speculative reason about the anything beyond the empirical world to be illusion.12 While the authority of reason is thus intolerably divided in the theoretical sphere, it is deemed, by Hegel at least, too limited in the practical sphere. For there, according to Hegel, the categorical imperative, the authority of practical reason, is too remote from the empirical which it is supposed to be judging and hence remains empty. The critique of Kant is thus a critique which applies to each of the two spheres of reason separately.

12  This critique is rehearsed chiefly in Faith and Knowledge. see supra.

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1.4 My Suggestion My suggestion is that, while the usual reading of Kant’s distinction between the illegitimate and legitimate use of reason is indeed connected to the distinction between intuition and the understanding, on the one hand, and to the formal characteristics of the categorical imperative on the other hand, the distinction between reason in either its theoretical or practical employment and the empirical is not in fact the primary distinction which is at work in Kant’s philosophy. My proposal is to read the distinction between the legitimate and illegitimate use of reason as based on a more fundamental distinction between the two kinds of employments of reason themselves. That is, I would like to propose that the individual dialectics at work within each of the two branches of reason are themselves the reflection of a more fundamental dialectic at work between speculative and practical reason. Further I’d like to suggest that this more general – genus level – dialectic between speculative and practical reason is one which can be defended in a way in which the other two perhaps cannot, since the genus level dialectic between speculative and practical reason is itself a consequence of the basic immanent and dynamic character of reason. Part 2 of this paper makes the argument that Kant has, as has already been pointed out by Hegel, a strong conception of reason which is both immanent and dynamic. In Part 3 I argue that the division of reason into practical and theoretical reflects this dynamic and immanent sense of reason as a ‘fact’ of human subjectivity, hence as reflecting the ‘fact’ that nature is divided for us. 2

The Generic Sense of Reason and its Two Uses

In order to show that Kant has a unified notion of reason which nonetheless admits of an internal division, I’d like now to turn briefly to the nature of reason conceived in the generic sense and to examine how this generic notion relates to the two uses of reason. This will prepare the way for understanding Kant’s notion of subjectivity as essentially constituted in the relation of the two uses of reason to each other. 2.1 Reason in the Generic Sense Deploying now Hegel and McDowell’s suggestion that Kant has a more powerful conception of reason that is born out by the account in the first two Critiques, I’d like to point out the two basic characteristics, already alluded to, of that conception. Reason is dynamic or active in the sense of being able to respond to what confronts its receptive side and, further, this activity of reason

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is what Kant understands by synthesis. In order to stick with the bird’s eye view level of analysis offered in this paper, I will not delve into the details of Kant’s theory of reflection as offered in particular in the A-deduction, but will generally confine myself to his more schematic comments in the B preface as well as in the introduction to the dialectic of pure reason. Reason as such is the activity of conceptualization or form-giving which Kant articulates as formula that reason “demands [the] unconditioned for everything conditioned, thus demanding that the series of conditions be completed by means of that unconditioned.” (Bxx) The unconditioned is simply that which can ground or give form to the conditions or content. The notion of this demand of reason brings us to the second point which is essential here, namely the idea that reason is active, that is, reason gives form to nature and thereby constitutes nature as unified or for it. This thought is expressed in one of Kant’s most well-known formulation, namely that “through receptivity an object is given to us; through spontaneity an object is thought in relation to that [given] presentation (which [otherwise] is a mere determination of the mind). Intuition and concepts, therefore, constitute the elements of all our cognition.” (A50/B74). Kant calls reason’s essential form-giving activity of received content synthesis.13 As Kant formulates it in the Transcendental Aesthetics: [Synthesis] in the most general sense of the term, I mean the act of putting various presentations with one another and of comprising their manifoldness in one cognition. [. . .] synthesis of a manifold [. . .] is what first gives rise to a cognition. Although this cognition may still be crude and confused at first and hence may require analysis, yet synthesis is what in fact gathers the elements for cognition and unites them to [form] a certain content. (A77–78/B102–103)  As the striving for unconditional form-giving, reason in the generic sense is synthesis per se. If the activity of synthesis is really generic, which it must be, then synthesis takes place with regard to any type of content that is encountered. Kant characterizes the synthesis produced by reason as totalizing, uninhibited by the particular nature of what is encountered: “pure reason aims at nothing but the absolute totality of the synthesis on the side of the conditions (whether of inherence, or of dependence, or of concurrence), and that it is not concerned with absolute completeness on the side of the conditioned.” (A336/B393) 13  On the connection between the notion of synthesis in the Transcendental Dialectic and the Transcendental Aesthetic see Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik (Berlin: De Gruyter, 1966–71). 53.

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Thus, reason is what synthesizes nature regardless of its particular content and hence synthesizes the manifold of what will be further divided into illusion and appearance equally. Or, to put it more accurately, the distinction between appearance and illusion is not one which is internal to the generic sense of reason. So, from the perspective of reason there is not yet dialectic, only synthesis. The Subordination of the Understanding under the Generic Use of Reason I’ve been suggesting that Kant critical project, when seen in the right light, is primarily concerned not with the relation of intuition and the understanding but rather with the relation between reason in the generic sense and the two uses of reason. Two points can be made in support of this claim. The first, simpler, claim is that Kant understands the project of critique to be concerned with the relation between understanding and reason and not between the understanding and intuition. Kant at several points states that the activity of the understanding is subordinate to the activity of reason. This is to be understood in the sense that speculative reason is only a species of reason per se. “The understanding may be considered a power of providing unity of appearances by means of rules; reason is then the power of providing unity of the rules of understanding under principles. [. . .] This unity may be called unity of reason, and is quite different in kind from what unity the understanding can achieve.” (A302/B359)  This genus-species relation is different and subordinated to the speciessub-species relation which exists between the understanding and intuitions. Kant says: “Truth and illusion are not in the object insofar as it is intuited, but are in the judgment made about the object insofar as it is thought.” (A293/ B350) Because the understanding is merely the subsumption of an intuition under a concept according to the categories of the understanding, this proc­ ess is liable only to false application because of an error in the senses but does not produce a genuine problem for our subjectivity.14 That is, Kant is little concerned with questions of epistemology per se.15 2.2

14  See here, for instance, Zöller’s claim that Kant was not at all concerned with epistemology in the modern sense but was rather concerned with the possibility of understanding and intuition meeting successfully which for Zöller means working out the fundamental nature of synthesis. Günter Zöller, “Of Empty Thoughts and Blind Intuitions; Kant’s Answer to Mcdowell,” Trans/Form/Ação, Marília 33, no. 1 (2010). 15  “Transcendental illusion, on the other hand, does not cease even when we have already uncovered it and have, through transcendental critique, had distinct insight into its nullity. [. . .] The cause of this is that in our reason (regarded subjectively as a human

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The real issue that arises from the genus-species relation between the generic use of reason and its employment for the establishment of knowledge is that the understanding cannot satisfy the demand of reason to know the unconditioned for its conditions and so falls into dialectic. This is not, on Kant’s model, because we do not yet know all the facts nor even that we have not yet been exposed to all the sorts of intuitions the world has to offer, but because the understanding can only produce cognitions from the intuitions available to it. The problem with the understanding is thus not primarily one of the finitude of our sensory apparatus but with the fact that the totality of experience is necessarily out of reach for us simply because – and here comes the other stem of reason per se – we are free. The Relation between Reason in the Generic Sense and Practical Reason The relation between reason and practical reason is somewhat different than that between reason and the understanding. Nonetheless, the same sort of structure can be discerned there. Practical reason follows reason in its generic sense in demanding the unconditioned for its conditions, that is, practical ­reason seeks to organize nature as a final and complete end. Reason and practical reason do not differ with regard to their aspiration, practical reason seeks what reason seeks. Indeed, the categorical imperative can easily be formulated as the injunction to organize the world according to a self-sufficient, that is, unconditioned, schema. The formulation “act as if the maxim of your action were to become by your will a universal law of nature” suggests that our task is to organize nature in such a way that everything in it is legitimized. (GMS 4: 421) The point at which the dialectic of practical reason set in is rather when we seek to universalize the wrong sorts of things, substituting inclination for reason by universalizing maxims which will eventually come into conflict with other maxims which we hold to be equally important. Again it is important to see that it is not a question of simply getting the maxim right in the sense of envisioning exactly what it will produce. The problem goes deeper since each maxim which is acted upon will actually alter the world and hence will render the conditions upon which it was deemed proper to be universalized obsolete. The problem, to put it in the most general terms, is that each action produces a new world which must then be conceptualized anew epistemically and will, 2.3

cognitive power) there lie basic rules and maxims of its use that have entirely the look of objective principles; and through this it comes about that the subjective necessity of a certain connection of our concepts for the benefit of understanding is regarded as an objective necessity of the determination of things in themselves.” (A297/B353).

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in turn, lead to the need for more action. It is then neither a question of getting the fact or the actions right once and for all. Facts and actions work together in a dialectic which might well be virtuous either in the Hegelian sense or, more modestly, in the constructivist sense of a reflective equilibrium. 3

The Position of the Subject between Two Sense of Nature

In this section I argue that the relation which practical and theoretical have to each other constitutes the basic structure of the rational subjectivity, as the striving to unify itself in the context of a manifold of nature which has not yet to be determined. The first thing to point out here is that, as I’ve been arguing, Kant conceives of reason as unified not just in its aspirations, i.e. to furnish a unified conception of all there is, but also in its origin in one mental power: “reason’s cognition can be referred to the object of that cognition in two ways: either in order merely to determine the object and its concept (which must be supplied from elsewhere), or in order to make it actual as well. The first is reason’s theoretical, the second its practical cognition.” (B ix–x) Form precedes content in all of our cognitions. If reason in its all synthesizing or all cognizing aspiration is indeed the basic function of subjectivity we must now turn to the question of what reason is faced with. What, in other words, is nature and how does the subject stand to it? Indeed, it is only through the generic relation between subject and nature that we can shed any light on either. A clue to Kant’s conception of human nature is given by his differentiation between human nature and, what, presumably, might be divine nature. Kant writes: “An understanding wherein through self-consciousness alone everything manifold would at the same time be given would be an understanding that intuits. Our understanding can only think, and must seek intuition in the senses.” (B135) That is, while god’s relation to nature is immediate, knowing and willing being the same, the human subject’s relation to nature is dual, we know nature as fact and we act on or constitute nature as will. We take turns with nature, just as nature constitutes us by presenting us with the way things are (receptivity), so we constitute nature through our agency (spontaneity). Kant typically characterizes human subjectivity as divided in some way between these two receptivity and spontaneity, between the realm of what is and the realm of what ought to be, between causality and freedom. While this picture is typically adduced to show that Kant is a dualist of some sort, the picture I’m trying to get on the table by emphasizing the unity of reason in

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its generic sense is a different one; it is a picture in which the human subject is not divided into two already existing realms but rather is herself the unity and difference of those two spheres. We are the way we are, because we are essentially receptivity and agency. In other words, we are part nature part god, as Kant puts it in a typical formulation from the Opus Postumum: “God, the world, and that which thinks both in real relation to each other: the subject as rational world-being” (OP 21:27)16 What is central in this formulation is the thought that the human subject is constituted by the relations she has on the one side to god or morality and on the other side to the world or empirical nature. Human subjectivity is simply this relation. The point is that the question of how reason can unify speculative and practical relations into one is the wrong question to ask. Rather, reason is the way it is because it is already the activity of the process of responding to nature by shaping it. The doing and the knowing are just the two sides of this basic activity. Reason is synthetic because subjectivity is exists in tension with itself. This point can also be grasped with reference to the Copernican turn metaphor in which Kant makes the subject rather than the world (either as reason or nature) the central figure or perspective. Instead of claiming that humans are part god and part nature, Kant is here claiming that the god and nature are abstractions or idealizations of what it is to be human. The Copernican turn is the recognition that we already find ourselves in the middle of a world which, however, necessarily gives itself to us from the perspective we ‘happened’ to have already. It makes no sense, Kant argues, for us to worry about the happenstance of our perspective since, just as we cannot see the world from the perspective of the sun, so too the perspective from within our subjectivity is the only one available to us. All this is simply the expression of the immanent perspective: the immanent perspective is simply the perspective of subjectivity on the world which is encountered by the subject in two sorts of ways, as the receiving of knowledge and as the acting on problems. 3.1 Finitude I’d now like to say something about the nature of reason as a response to the fact of its own receptivity to nature. Seen from the perspective of the fundamental activity of reason as seeking the unconditioned for its conditions, the two fundamental strands of inquiry outlined by Kant, the search to understand nature and the attempt to establish the kingdom of ends are two versions of 16  “Gott, die Welt, und was beyde in realem Verhältnis gegen einander denkt, das Subject als vernünftiges Weltwesen.” 21:27.

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the same project, namely the search for unity or form. Kant’s Copernican turn, however, is to have understood that this fundamental activity of reason is characterized by a mutual limitation. The activity of altering the world makes it impossible for the world to be grasped fully and the question for a stable world which could be grasped is make impossible by our need to change it. I’d now like to go one further step, suggesting that this mutual limitation of reason by itself is recognized as our fundamental determination as subjects. Human subjectivity is simply the expression of a certain sort of limitation or finitude. The nature of this finitude is that it both limits and enables us. It limits us from being as we imagine the divine to be but it enables us to be just the sorts of beings we are, namely strivers who seek to organize the whole. This finitude is expressed in our embodiment in the sense that it is our embodiment which exposes us to receptivity and hence makes spontaneity necessary. This embodiment is again the immanent perspective, the condition of the agent who finds herself having agency over nature and at the same time as receptive to nature. The point then is that human finitude is itself rationally expressed in the inherent limitation practical reason and the understanding impose on each other. Their necessary cooperation, however, is at the same time guaranteed by the fact that they are both species of one generic activity, reasoning per se. The activity of reasoning – for reason is always a process – we can say, is simply what beings who are receptive to nature and at the same time agents in nature do. Reason and finitude imply each other in the most basic sense possible, just as, to use that other pair of concepts I’ve been using, immanence and dynamism imply each other. Conclusion While there is no space in this paper to engage with the criticism by Hegel and McDowell examined earlier in this paper, we have, I believe, come somewhat closer to understanding what the onus of their criticism amounts to and are hence pointed to a perspective from which we might evaluate the positions of Hegel and McDowell themselves. As I acknowledged, Hegel and McDowell’s criticisms of Kant’s bifurcation of speculative reason into the activity of subsumption and categories is unsustainable. This criticism forced us to consider whether there might not be a more ambitious conception of reason at work in Kant. I argued that there was in the general activity of reason’s form-giving activity which was not limited by any prejudgment about its possible results.

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The second point I made was that the real significance of Kant’s division of reason into speculative and practical reason lay not in what each of these two strands respectively accomplished in terms of cognition but rather in the interaction between the two. It is the relation between speculative and practical reason which gives the real clue to Kant’s theory of subjectivity in the sense that Kant conceives the two stems of reason, or so I have argued, as expressing the basic spontaneous and receptive constitution of the subject. This dual nature of the subject itself expresses our human finitude in the sense that we are within nature in a way which at the same time transcends nature. This boundedness by nature and yet agency over nature is the key, I argued, to understanding Kant’s theory of the subject. Finally, I’d now like to suggest that if Kant is right to comprehend reason from the perspective of its activity and if this activity is essentially linked to the subject’s dual determination as in nature and above it, then we are now in a position to ask our two critics, Hegel and McDowell (as well as many others) what their account of human finitude looks like and whether there is, in their accounts, the kind of conception of the human subject which we have found to be necessary through our investigation of Kant. I must leave the investigation of that question for another time, however. Literature Hegel, G.W.F. (1977) Faith and Knowledge, Albany: State University of New York Press. ———. Glauben Und Wissen. In: G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke, edited by Deutsche Forschungsgemeinschaft, 313–414 Frankfurt: Meiner, 1968 ff. Heimsoeth, H. (1966–71) Transzendentale Dialektik. Berlin: De Gruyter. Hutter, A. (2003) Das Interesse der Vernunft: Kants Ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg: Meiner. Kant, I. (1996) Critique of Practical Reason. Translated by Mary J. Gregor. In: Mary J. Gregor (ed.), Practical Philosophy: the Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, Cambridge: Cambridge University Press. ——— (1996) Critique of Pure Reason. Translated by Werner S. Pluhar. Indianapolis, IN: Hackett. ——— (1996) Groundwork for the Metaphysics of Morals. Translated by Mary J. Gregor. In: Mary J. Gregor (ed.), Practical Philosophy: the Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant, Cambridge: Cambridge University Press. ——— (1993) Opus Postumum. Translated by Eckart Förster. The Cambridge Edition of the Works of Immanuel Kant. Cambridge: Cambridge University Press.

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McDowell, J. (1996) Mind and World, Cambridge, MA: Harvard University Press. Pippin, R. (2005) Postscript: On McDowell’s Response to “Leaving Nature Behind”. In: R. Pippin, The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge: Cambridge University Press, 2005, 206–220. Zöller, G. (2010) Of Empty Thoughts and Blind Intuitions: Kant’s Answer to Mcdowell. In: Trans/Form/Acão, Marília 33, no. 1 (2010): 65–96.

Die Person als Selbstzweck Paul Cobben In § 36 der Grundlinien der Philosophie des Rechts formuliert Hegel das Rechtsgebot: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.1 Obwohl dieses Gebot dem Kantischen kategorischen Imperativ ähnelt,2 betrifft es nicht das moralische Subjekt. Im Fortgang dieses Texts wird erörtert, wie sich das Rechtsgebot und der kategorische Imperativ zueinander verhalten. Wie genau ist Hegel im Stande, einerseits den Dualismus zwischen dem noumenalen und dem phänomenalen Subjekt zu überwinden und andererseits die Heiligkeit3 des moralischen Subjekts nicht zu verlieren? Um das Rechtsgebot zu verstehen, muss deutlich sein, dass die ganze Entwicklung der Grundlinien immer schon vorausgesetzt ist. Die Freiheit des empirischen Individuums wird von Kant ummittelbar angenommen. Für Hegel dagegen ist die Freiheit des empirischen Indivduums eine normative Bedingung, die sich erst durch die praktische Bildung im modernen Arbeitsprozess verwirklichen lässt. Die Bildung im Arbeitsprozess ist ihrerseits an spezifische institutionelle Bedingungen der Arbeit gebunden. Axel Honneth zum Beispiel hat diese Einsicht ungenügend verstanden. Die Folge ist, dass er meint die Person der bürgerlichen Gesellschaft mit der Kantischen Person der praktischen Vernunft identifizieren zu können.4 Bei Hegel lässt sich die Universalität der Person jedoch weder auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft, noch auf der Ebene des Staates, sondern vielmehr auf der Ebene der Weltgeschichte denken. Erst auf der Ebene der Weltgeschichte kann völlig klar werden, weshalb sich die Person als Selbstzweck verstehen lässt. 1 Einleitung In § 36 der Grundlinien der Philosophie des Rechts formuliert Hegel das Rechtsgebot: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.5 Dieses 1  Hegel, GW 14/1, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 36. 2  Vgl. Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 429. 3  Kant, AA V, Kritik der praktischen Vernunft, 87: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.“ 4  Vgl. Paul Cobben, The Paradigm of Recognition. Freedom as Overcoming the Fear of Death, Brill, Leiden/Boston, 2012, 146, Fußnote 2. 5  Hegel, GW 14/1, § 36. © koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_012

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Gebot ähnelt dem Kantischen kategorischen Imperativ, der in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zum Beispiel die folgende Formulierung hat: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“6 In beiden Formulierungen kommt zum Ausdruck, dass im moralischen Handeln dem Person-Sein des Menschen Recht widerfahren muss, d.h. seine Autonomie muss respektiert werden. Diese Autonomie ist nicht nur die Voraussetzung, sondern auch das Resultat des moralischen Handelns. Die Identifizierung des Hegelschen Rechtsgebots mit dem kategorischen Imperativ scheint trotzdem problematisch zu sein. Das moralische Subjekt gehört, Kant zufolge, als freies Subjekt zur noumenalen Welt, die wesentlich von der phänomenalen Welt getrennt ist. Er meint, dass sich ohne diese Trennung die Autonomie des Subjekts nicht aufrecht halten lässt. Insofern das Subjekt von der Natur bestimmt wird, kann es sich nicht als Selbstzweck geltend machen. Für Hegel dagegen ist die Person des Rechtsgebots nicht nur auch ein naturliches Wesen, sondern zugleich ein Wesen, das seine Freiheit in der Natur zur Erscheinung bringt. Anders als bei Kant sind Freiheit und Natur nicht voneinander getrennt. In § 35 bezeichnet Hegel das Person-Sein wesentlich als das Person-Sein eines endliches Wesens: “In der Persönlichkeit liegt, dass ich als Dieser vollkommen nach allen Seiten (in innerlicher Willkür, Trieb und Begierde, sowie nach unmittelbarem äußerlichen Dasein) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß.”7 Die Person, die als endliches Individuum erscheint, hat sich jedoch noch nicht adäquat als Person verwirklicht. Die ganze Entwicklung der Philosophie des Rechts ist darauf gerichtet, die adäquate Verwirklichung zu vollziehen: sie resultiert in den Institutionen des Rechtsstaates. Aus Kantischer Sicht scheint die Aufhebung der Trennung zwischen Freiheit und Natur die Autonomie des menschlichen Subjekts zu zerstören. Ihre Einheit scheint nur zwei Optionen übrig zu lassen. Entweder die Natur wird zur Freiheit reduziert, so dass es am Ende eigentlich nicht mehr um die Freiheit eines endlichen, menschlichen Wesens geht, sondern vielmehr um eine göttliche Freiheit, die Freiheit des absoluten Geistes, die der Autonomie des Menschen keinen Raum lässt. Oder die Freiheit wird zur Natur reduziert, so dass die Verwirklichung der Freiheit am Ende ihre Entwirklichung bedeutet. Beide Interpretationen verneinen, dass das Hegelsche Rechtsgebot mit dem kategorischen Imperativ gleichgestellt werden kann.

6  Kant, AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 429. 7  Hegel, GW 14/1, § 35.

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In meinem Beitrag werde ich die Verwandtschaft zwischen Kant und Hegel betonen. Wie Kant, geht es auch Hegel um die Verwirklichung der reinen Freiheit des Menschen. Um diese Verwandtschaft zu verdeutlichen, beziehe ich mich auf die Momente des Begriffes der Person, wie sie in der Phänomenologie des Geistes entwickelt werden, und zeige wie sie systematisch in die Philosophie des Rechts aufgenommen sind. Dann stellt sich heraus, dass die Einheit der Freiheit und der Natur bei Hegel keineswegs ihre Reduktion auf Freiheit oder auf Natur mit sich bringt. Allein meint Hegel, ihre Einheit und ihren Unterschied besser als Kant ausdrücken zu können. 2

Die Person des abstrakten Rechts im Vergleich zur Person des römischen Rechts in der Phänomenologie des Geistes

Obgleich sich sowohl die Personen des abstrakten Rechts als auch die Personen des römischen Rechts als frei und gleich zueinander verhalten,8 können die beiden Personenbegriffe dennoch keineswegs miteinander identifiziert werden. Die Personen des römischen Rechts sind Mitglieder eines kontingenten, historischen Reiches, nämlich des Römischen Reiches. Ob ein konkretes Individuum Person ist, ist völlig von kontingenten Voraussetzungen abhängig. Nicht jedes Individuum ist Person; man kann auch ein Sklave sein oder, wie die meisten Frauen, Teil einer Familie sein, die von dem Manne als Haupt der Familie und Person repräsentiert werden. Die Person des abstrakten Rechts dagegen drückt eine wesentliche Bestimmung des Menschen aus. Als freies Individuum ist der Mensch wesentlich Person. Deshalb kommt das Person-Sein jedem menschlichen Individuum zu. In diesem Sinne ist das Person-Sein eine absolute, normative Bestimmung. Die menschliche Freiheit lässt sich nicht adäquat verwirklichen, ohne in einer Rechtsordnung als Person zur Geltung zu gelangen. Deshalb drücken die freien und gleichen Personen des römischen Rechts zwar ein Moment der Freiheitsverwirklichung aus, aber dieses Moment ist noch nicht als solches verstanden. Erst nach dem Untergang des Römischen Reiches wird eingesehen, dass die Freiheit der Person nicht von einer kontingenten Rechtsordnung abhängig ist, sondern einen absoluten Grund hat. In der Vorstellung des Christentums sind alle Menschen gleich vor Gott. In unserer Zeit sagen wir: Freiheit ist ein Menschenrecht. In diesem absoluten Sinne

8  Hegel, GW 9, Die Phänomenologie des Geistes, 422: „Das Allgemeine in die Atome der absolut vielen Individuen zersplittet, dieser gestorbene Geist ist eine Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten.“

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ist das Person-Sein des abstrakten Rechts gemeint. Das Hegelsche Rechtsgebot hat den gleichen unbedingten Status wie der kategorische Imperativ von Kant. 3

Die Person des abstrakten Rechts im Vergleich zur Anerkennung zwischen Selbstbewusstseinen

Das absolute Rechtsgebot der Grundlinien lässt sich am besten vergleichen mit der reinen Anerkennung, wie sie im SelbstbewusstseinsKapitel der Phänomenologie des Geistes introduziert wird. Auf der Ebene des Selbstbewusstseins stellt sich die Frage, wie sich die Freiheit des Selbstbewusstseins, die als reine Selbstbeziehung gedacht wird, überhaupt zu Andersheit, zu einer fremden objektiven Welt, verhalten kann.9 Jede fremde Selbstständigkeit scheint die Freiheit des Selbstbewusstseins zu unterminieren. Deswegen steht das Selbstbewusstsein anfänglich in einem reinen negativen Verhältnis zur Andersheit.10 In diesem negativen Verhältnis lässt sich jedoch die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins gar nicht denken. Darum muss das Problem gelöst werden, wie das Selbstbewusstsein zugleich sowohl ein negatives als auch ein positives Verhältnis zu Andersheit einnehmen kann. Hegel argumentiert ausführlich, dass sich ein solches Verhältnis nur als reine Anerkennung zwischen Selbstbewusstsein und Selbstbewusstsein verstehen lässt. Dann wird die reine Anerkennung introduziert als die neue subjektive Gewissheit des Selbstbewusstseins: Das Selbstbewusstsein kann sich als Selbstbewusstsein nur in einem rein symmetrischen Verhältnis zu einem anderen Selbstbewusstsein verwirklichen.11 Das führt zu der Aufgabe, wie sich ein solches Verhältnis verwirklichen lässt. In diesem Kontext ist es wichtig festzustellen, dass diese Aufgabe am Ende der Phänomenologie des Geistes gelöst ist: Die Verwirklichung des reinen Selbstbewusstseins lässt sich als absoluter Geist denken. Deshalb kann, retrospektiv, geschlussfolgert werden, dass die genannte subjektive Gewissheit des Selbstbewusstseins 9  Hegel, GW 9, 104: „Das Bewusstseyn hat als Selbstbewusstseyn nunmehr einen gedoppelten Gegenstand, den einen, den unmittelbaren, den Gegenstand der sinnlichen Gewissheit, und des Wahrnehemens, der aber für es mit dem Charakter des negativen bezeichnet ist, und den zweyten, nemlich sich selbst, welcher das wahre Wesen, und zunächst nur erst im Gegensatze des ersten vorhanden ist.“ 10   Idem, 105: „Das Selbstbewussteyn, welches schlechthin fürsich ist, und seinen Gegenstand unmittelbar mit dem Charakter des Negativen bezeichnet, oder zunächst Begierde ist, wird daher vielmehr die Erfahrung der Selbständigkeit desselben machen.“ 11  Hegel, GW 9, 111: „Das Selbstbewusstseyn erreicht seine Befriedigung nur in einem Selbstbewusstseyn.“

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als eine absolute Bestimmung des Selbstbewusstseins verstanden werden kann. Diese absolute Bestimmung des Selbstbewusstseins wird sozusagen im Rechtsgebot des abstrakten Rechts expliziert. Das Rechtsgebot: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“ ist nichts anderes als die zum absoluten Begriff gebrachte subjektive Gewissheit des Selbstbewusstseins, nämlich „das Selbstbewusstsein kann sich nur als Selbstbewusstsein verwirklichen in einem rein symmetrischen Verhältnis zu einem anderen Selbstbewusstsein“. Im gegenseitigen Respektieren verhalten sich die Personen symmetrisch zueinander. Im Gebot, Person zu sein, wissen die Personen, dass sie sich als dieses symmmetrische Verhältnis verwirklichen müssen. Und als Verwirklichung der Person handelt es sich um die Verwirklichung einer reinen Beziehung. Wie der kategorische Imperativ ist auch das Rechtsgebot ein absolutes Gebot, das rein und universal ist. Wie der kategorische Imperativ ist das Rechtsgebot ein normatives Verhältnis, das dem realen Individuum gebietet, seine reine Freiheit zu verwirklichen. Die Frage ist, ob diese Verwirklichung bei Kant und Hegel dieselbe Bedeutung haben. 4

Lässt sich das Hegelsche Rechtsgebot ohne Widerspruch verwirklichen?

Die Trennung zwischen der noumenalen und der phänomenalen Welt hat vielleicht zur Folge, dass sich das Subjekt des kategorischen Imperativs niemals adäquat verwirklichen kann, aber sie stellt zumindest auch sicher, dass die Autonomie dieses Subjektes in seinem Versuch, sich zu verwirklichen, nicht verloren geht. Für die Person des Rechtsgebots scheint die Gefahr, ihre Autonomie zu verlieren, dagegen weniger imaginär. Die Freiheit der Person ist nicht von der natürlichen Welt getrennt. Ihre Autonomie ist sogar davon abhängig, ob sich ihre Freiheit adäquat in der wirklichen, erscheinenden Welt verwirklichen lässt. Bedeutet das nicht eine Vermischung der absoluten Freiheit mit der Endlichkeit der Natur? Führt diese Vermischung nicht dazu, dass entweder der Absolutheit der Freiheit, oder aber der Endlichkeit der Natur kein Recht widerfährt? Diese Problematik wird explizit in der Phänomenologie des Geistes erörtert, nämlich auf der Ebene der Gesetzgebenden Vernunft und der Gesetzprüfenden Vernunft. Auf der Ebene der Gesetzgebenden Vernunft versucht das freie Selbstbewusstsein, sich zu verwirklichen, indem es gemäß einem Gesetz handelt, das es sich selbst gegeben hat. Als selbstgegeben ist dieses Gesetz ein Gesetz der Vernunft, d.h. ein reines, universelles Gesetz. Aber dieses reine Gesetz ist nichtsdestoweniger ein bestimmtes Gesetz, sonst könnte das

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Selbstbewusstsein in diesem Gesetz seine Verwirklichung nicht vollziehen. Hegel gibt zwei Beispiele von Gesetzen, die diesen Kriterien entsprechen: „Jeder soll die Wahrheit sprechen“12 und „Liebe deinen Nächsten, als dich selbst“.13 Diese beiden Gesetze scheinen in der Tat universell zu sein, das eine im theoretischen Bereich, das andere im praktischen Bereich. Wenn alle die Wahrheit sprechen, sind alle auf gleiche (symmetrische) Weise bezogen auf den Inhalt, den sie in ihrem Sprechen zum Ausdruck bringen. Wenn alle ihren Nächsten lieben wie sich selbst, sind alle auf gleiche (symmetrische) Weise aufeinander bezogen. Die nähere Betrachtung dieser beiden Gesetze lehrt jedoch, dass ihre Universalität an bestimmte Konditionen gebunden ist. Man kann die Wahrheit erst sprechen, wenn man die Erfahrungen gemacht hat, welche die Einsicht in die Wahrheit ermöglichen. Man kann den Nächsten erst lieben wie sich selbst, wenn man die richtigen Erkenntnisse hat, um zu wissen, was es bedeutet, in den Handlungen der Liebe zum Nächsten gerecht zu werden. Die selbstgegebenen Gesetze scheinen universell zu sein, aber sobald diese Gesetze mit einem Inhalt verbunden werden, sodass sie eine bestimmte Handlung ermöglichen, verlieren sie ihre Universalität. Die Problematik der gesetzgebenden Vernunft wird systematisch integriert in das abstrakte Recht der Grundlinien, wenn das abstrakte Recht versucht sich im Vertrag zu verwirklichen. Die Personen des abstrakten Rechts sind wirklich, insofern sie ihre Freiheit im Eigentum objektivieren. Auf der Ebene des Vertrags, mehr spezifisch auf der Ebene des Tauschvertrags, entwickelt Hegel, dass das Eigentum durch den Tausch, und deswegen auch durch andere Personen, vermittelt ist.14 Der Tausch ist eine freie Handlung, in der die Personen ihre gegenseitige Anerkennung als freie und gleiche Personen verwirklichen. Im Tausch stehen die Personen in einem wirklichen symmetrischen Verhältnis. Das Eigentum, das die Personen austauschen, wobei sie wirklich sind, haben für die Personen den gleichen Wert. Vor und nach dem Tausch haben die Personen eine vollkommen identische Wirklichkeit: Sie haben ihre Freiheit in einem Eigentum mit demselben Wert objektiviert. Wie die beiden Beispiele der gesetzgebenden Vernunft scheint auch das Gebot ‚die Personen sollen ihre Freiheit verwirklichen im Tausch des Eigentums bzw. der Güter mit demselben Wert‘ ein selbstgegebenes Gesetz zu sein, in dem das Rechtsgebot verwirklicht wird. Aber auch diesmal lehrt die nähere Betrachtung, dass dieses Gesetz nicht wirklich universell ist, weil sie an wirkliche Bedingungen gebunden ist. Die Gegenstände des Eigentums, die Güter, haben einen allgemeinen 12  Hegel, GW 9, 361. 13  Idem, 362. 14  Hegel, GW 14/1, § 71.

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Wert, weil sie als Gebrauchswerte miteinander vergleichbar sind. Dass der Vergleich zwischen den Gebrauchswerten von allen auf dieselbe Weise vollzogen wird, ist jedoch von bestimmten historischen Bedingungen abhängig. Auf der Ebene der gesetzprüfenden Vernunft hat das freie Selbstbewusstsein erfahren, dass der gesetzgebenden Vernunft die Vermischung zwischen Freiheit und Natur anhaftet und versucht diese zu überwinden. Die gesetzprüfende Vernunft akzeptiert, dass sie rein aus sich heraus keine universellen Gesetze hervorbringen kann, aber sie versucht indirekt doch geeignete Gesetze zu finden. Sie prüft vorgefundene Gesetze, indem sie untersucht, ob der Inhalt, auf den das Handeln dieser Gesetze gerichtet ist, sich als ein universeller Inhalt denken lässt. Hegel schließt jedoch, dass auch die gesetzprüfende Vernunft das Gesetz, in dem die Freiheit adäquat verwirklicht wird, nicht bestimmen kann. Jeder Inhalt, der sich selbst nicht widerspricht, lässt sich als ein allgemein geltender Inhalt denken. Die Prüfung beinhaltet nur eine formelle Prüfung auf Widerspruchslosigkeit. Die Gesetze der gesetzprüfenden Vernunft sind deshalb zwar nicht an einen bestimmten kontingenten Inhalt gebunden, aber sie können den bestimmten kontingenten Inhalt auch nicht normieren. Weil jeder widerspruchslose kontingente Inhalt reicht, verhalten sich diese Gesetze gleichgültig zu ihm. Die Problematik der gesetzprufenden Vernunft wird systematisch in das abstrakte Recht der Grundlinien integriert, wenn sich das abstrakte Recht in der Entäußerung der Sache zu verwirklichen versucht. Auf dieser Ebene versucht die Person, sich nicht im Tausch zu verwirklichen, sondern setzt ihre Wirklichkeit als Person, indem sie explizit zeigt, dass Person und Sache (als Eigentum) unterschiedlich sind. Sie entäußert die Sache (und entäußert sich von der Sache), indem sie die Sache einem fremden Willen überlässt. In diesem Verhältnis ist die Identität der Person wirklich, weil sie sich von der Identität der Sache unterscheidet. Wiederum handelt es sich um eine rein formelle Beziehung. Wie die Sache inhaltlich bestimmt ist, ist gleichgültig. Wichtig ist nur, dass Person und Sache voneinander entfremdet sind. Auch in den Grundlinien schlussfolgert Hegel, dass die Gleichgültigkeit dem Inhalt gegenüber die adäquate Verwirklichung des Rechtsgebots ausschließt. Der noch unbestimmte Inhalt bietet dem Unrecht noch allen Raum. 5

Die Bestimmung des moralischen Inhalts

In den Grundlinien wird die Unbestimmtheit des Inhalts auf der Ebene der Moralität aufgehoben. In der Moralität wird dieser Inhalt als das Wohl bestimmt, oder, in Kantischer Terminologie ausgedrückt, als die Glückseligkeit. Am Ende des Moralitätskapitels wird die Forderung der Moralität (nämlich

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das Wohl zu verwirklichen) mit dem Rechtsgebot zusammengeschlossen. Damit bekommt das Rechtsgebot einen Inhalt, den Hegel als die Pflicht des Gewissens ausdrückt „was an und für sich gut ist, zu wollen“.15 Dies scheint vollkommen mit Kants Auffassung übereinzustimmen, dass das moralische Handeln die Möglichkeit der Verwirklichung des absoluten Guten voraussetzt, in dem Freiheit und Glückseligkeit miteinander in Harmonie stehen. Im Gegensatz zu Kant scheint die Verwirklichung des absoluten Guten für Hegel jedoch etwas zu sein, das in der wirklichen Welt geschieht. „Das Gute ist die Idee, als Einheit des Begriffs des Willens und des besonderen Willens, – . . . . – die realisierte Freiheit, der absolute Endzweck der Welt.“16 Diese realisierte Freiheit wird als eine sittliche Welt charakterisiert: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewusstsein seine Wirklichkeit, sowie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, – der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit.“17 Bedeutet dies nicht, dass die Vermischung zwischen reiner Freiheit und Natur, die vorher abgewehrt schien, auf der Ebene der Sittlichkeit wiederkehrt? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir verstehen, wie die Verwirklichung des absoluten Guten genau gemeint ist. Ich denke, dass die Entwicklung im GeistKapitel der Phänomenologie des Geistes dazu hilfreich sein kann. 6

Die Verwirklichung des absoluten Guten im Geist-Kapitel der Phänomenologie des Geistes

Im Geist-Kapitel wird die sittliche Welt anfänglich (unmittelbar) nach dem Modell der Griechischen Polis gedacht. Die Polis wird durch das menschliche Gesetz charakterisiert. Von der Innenperspektive heraus betrachtet verwirklichen die Staatsbürger, die dem menschlichen Gesetz gemäß handeln, das gute Leben. Deshalb scheint das menschliche Gesetz, das Rechtsgebot zu verwirklichen. Aus der Sicht der Außenperspektive ist diese Verwirklichung jedoch inadäquat. Aus dieser Sicht hat das menschliche Gesetz einen traditionellen Inhalt. Deshalb kann mit Recht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in der Polis reine Freiheit und Natur vermischt werden. Im menschlichen Gesetz hat die reine Freiheit eine bestimmte (kontingente), historische Form, die keineswegs mit dem absoluten Guten identifiziert werden darf.

15  Hegel, GW 14/1, § 137. 16  Idem, § 129. 17  Idem, § 142.

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Auf der Ebene der Französischen Revolution versucht der Staatsbürger diese Kontingenz des menschlichen Gesetzes zu korrigieren. Er erkennt nur ein Gesetz an, das als Ausdruck seines subjektiven Handelns zur Geltung kommt. Seine Korrektur hat deshalb die Form der gesetzgebenden Vernunft und kann demzufolge das Problem nicht lösen. Die Gesetze der französischen Bürger können nicht universell sein, weil sie aus einem subjektiven Standpunkt heraus formuliert und deshalb empirisch bedingt sind. Auf der Ebene der moralischen Weltanschauung untersucht Hegel, ob Kants praktische Philosophie das Dilemma der französischen Bürger überwinden kann. Das Gesetz, in dem das absolute Gute verwirklicht werden muss, wird nicht länger als ein wirkliches, menschliches Gesetz verstanden, sondern als ein transzendentes, moralisches Gesetz, nämlich der kategorische Imperativ. Nur dann lässt sich die Freiheit als eine universelle Freiheit bewahren. Das moralische Handeln hat jedoch nur dann das absolute Gute zu seinem Zweck, wenn es mit der Verwirklichung der Glückseligkeit verbunden ist. Ein direkter Zusammenhang ist unmöglich, weil sonst das moralische Handeln seine Reinheit verliert und deswegen als moralisch zugrunde geht. Aber, nach Kant, gibt es doch einen indirekten Zusammenhang, den er in seiner Postulatenlehre zum Ausdruck bringt. Nach dieser Postulatenlehre gibt es eine Harmonie zwischen Freiheit und Natur. Zwar können wir diese Harmonie nicht erkennen, weil sie nicht sinnlich erscheint (eine moralisch gute Handlung erscheint nicht als eine Handlung, die der Glückseligkeit dient), aber wir müssen sie vernünftigerweise annehmen. Ohne die Postulate ist die Wirklichkeit des moralischen Handelns nicht denkbar. Hegel übt fundamentale Kritik an Kants Postulatenlehre. Sie bleibt im Widerspruch gefangen, dass einerseits das moralische Handeln nicht für die Verwirklichung der Glückseligkeit verantwortlich gemacht werden kann, während es andererseits doch dafür verantwortlich ist, weil sonst die Verwirklichung des absoluten Guten unmöglich ist und das moralische Handeln unterminiert wird. Deswegen introduziert Hegel das moralische Gewissen, das sich selber als verantwortlich für die Verwirklichung des absoluten Guten erachtet. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob dieses Gewissen sowohl seine reine Freiheit, als auch seine Glückseligkeit verwirklichen kann. Die Entwicklung, in der die Frage erörtert wird, wie das moralische Handeln des Gewissens bestimmt werden kann, läuft auf zwei Gesichtspunkte hinaus, die nicht miteinander zu vereinbaren sind. Einerseits der Gesichtspunkt, dass das Gewissen nicht handeln darf, weil jede Handlung bestimmt ist und deswegen der reinen Freiheit zuwiderläuft. Andererseits der Gesichtspunkt, dass das Gewissen handeln muss, weil sonst das absolute Gute nicht verwirklicht werden kann. Dieser Widerspruch lässt sich auf der Ebene der moralischen Weltanschauung nicht mehr lösen; die Lösung ist erst möglich,

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wenn der Übergang zum absoluten Geist gemacht ist. „Das Wort der Versöhnung ist der daseyende Geist, der das reine Wissen seiner als der absolut in sich seyenden Einzelnheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist“.18 Auf der Ebene des absoluten Geistes hat das moralische Subjekt sein absolutes Wesen als eine Gottheit vorgestellt, die unmittelbar sinnlich erscheint. Am Ende der Entwicklung hat diese Gottheit ihre adäquate Form angenommen, nämlich als der absolute Geist, der sich in und durch die Weltgeschichte verwirklicht. Diese Entwicklung wird in die Grundlinien als ein systematisches Moment integriert. Auch das moralische Gewissen der Grundlinien verwirklicht sein absolutes Wesen in der Weltgeschichte, die als Erscheinung des absoluten Geistes verstanden wird. Wiederum stellt sich die Frage, ob in diesem Endresultat reine Freiheit und Natur nicht vermischt werden. Wird im Prozess der Weltgeschichte, die als Ausdruck des absoluten Geistes verstanden wird, die reine Freiheit des absoluten Geistes nicht mit der kontingenten Welt der Geschichte vereint? Hat Kant nicht Recht, wenn er behauptet, dass die reine Freiheit nur gerettet werden kann, wenn sie als noumenale Entität scharf von der phänomenalen Welt getrennt wird? Zu allererst muss geklärt werden, auf welche Weise der absolute Geist ein Wesen ist, das in der Weltgeschichte erscheint. Das Wesen/ErscheinungVerhältnis darf keineswegs als ein dialektisches Verhältnis verstanden werden, als ob der absolute Geist das Wesen sei, das aus dem geschichtlichen Prozess deduziert werden könne, weil er nichts anderes ist als wie er in der Weltgeschichte erscheint. Diese Auffassung würde den absoluten Geist historisieren und dadurch verendlichen. Das Verhältnis zwischen dem absoluten Geist und der Weltgeschichte wird vielmehr durch eine ‚ontologische Differenz‘ charakterisiert. Zwar erscheint der absolute Geist in der Weltgeschichte und würde ohne die Erscheinung überhaupt nicht existieren, aber gerade als absolut kann er niemals adäquat in der Weltgeschichte erscheinen. In diesem Sinne ist der absolute Geist das ewige Streben, sich adäquat in der Weltgeschichte zu verwirklichen. Kehrt mit dieser ontologischen Differenz jedoch die Problematik nicht zurück, die Hegel im Rahmen der Postulatenlehre erörtert? Denn auf der Ebene des absoluten Geistes erscheint die reine Freiheit in der phänomenalen Welt, aber bleibt als solche von der phänomenalen Welt getrennt. Aus Hegels Sicht lässt sich diese Überlegung widerlegen. Hegel wendet sich gegen die Introduktion einer unkennbaren noumenalen Welt, in der Kant die reine Freiheit situiert. Zwar meint auch Hegel, dass die Einsicht der modernen 18  Hegel, GW 9, 621.

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Naturwissenschaft in die Gesetzmäßigkeit der Natur eine Kopernikanische Wende voraussetzt, aber dies bedeutet doch nicht, dass die Erkenntnis der modernen Naturwissenschaft als eine Erkenntnis von deren Gesetzstruktur durch das erkennende Subjekt bedingt ist, deswegen von dem Ding an sich und einer unkennbaren noumenalen Welt unterschieden werden muss. Das erkennende Subjekt ist immer schon auch ein kulturelles Subjekt, das im Stande ist, dem menschlichen Gesetz seiner Kultur zu dienen. Gerade weil das kulturelle Subjekt im Stande ist, dem menschlichen Gesetz zu dienen, ist es innerlich frei. Nur ein Subjekt, das seine Triebe überwunden hat, hat die Freiheit, nicht seinen Trieben gemäß zu handeln, sondern den Normen und Werten seiner Kultur zu dienen. Es ist diese innere Freiheit, die auf der Ebene des absoluten Geistes als solche expliziert wird. Und es ist diese explizierte Freiheit, die es ermöglicht, die Natur in ihrer Eigenart als gesetzmäßig strukturierte Natur zu erkennen. 7 Schluss Wie der kategorische Imperativ drückt auch das Rechtsgebot in den Grundlinien das Gebot aus, die reine Freiheit zur Norm des moralischen Handelns zu machen. Sowohl bei Kant als auch bei Hegel lässt sich die Trennung zwischen reiner Freiheit und Geschichte nicht überwinden. Insofern Hegel die Verwirklichung der Freiheit in der Weltgeschichte thematisiert, handelt es sich um die Verwirklichung einer institutionellen Struktur, die es ermöglicht einzusehen, dass die Weltgeschichte als das endlose Streben verstanden werden muss, die Freiheit zu verwirklichen. Wie bei Kant bleibt der ewige Frieden ein unerreichbares Ideal. Literatur Cobben, P. (2012) The Paradigm of Recognition: Freedom as Overcoming the Fear of Death, Leiden/Boston: Brill. Hegel, G.W.F. (1968 ff.) Gesammelte Werke (GW), Bd. 9, Phänomenologie des Geistes. Hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg: Felix Meiner. ——— GW 14/1, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Kant, I., Akademieausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften [AA], Bd. IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1900 ff. ——— AA V, Kritik der praktischen Vernunft.

Individuum est effabile

Hegels Versuch einer Weiterführung Kants in der Sicht des Menschlichen Kurt Appel 1 Vorbemerkung 1. Der Kongressband ist zentriert um das Thema der Vernunft, wie sie sich bei Kant und im Deutschen Idealismus darstellt. Ich möchte im Folgenden Hegels Phänomenologie des Geistes (PhdG) herausgreifen1 und in Bezug zu Kants Kritik der Urteilskraft (KdU)2 setzen. Das Ziel liegt dabei in der Herausarbeitung einer zu wenig beachteten Tatsache, nämlich dass sich mit Hegels Philosophie eine bestimmte Sichtweise, man könnte sagen, eine aisthesis verbindet, die es erlaubt, das Einzelne (in der Dialektik der drei Begriffsmomente EinzelnesBesonderes-Allgemeines) in seiner Kontingenz und Endlichkeit zu würdigen. Im Gegensatz zu landläufigen Vorurteilen ist Hegel nicht der Denker, der das Individuum zugunsten eines abstrakten Allgemeinen auflöst, vielmehr eröffnet er durch die dialektische Methodik neue Wege, sich demselben zu nähern und bietet dadurch einen Blick für die Endlichkeit, Verletzbarkeit und Dignität des einzelnen Menschen. Auf Grund dieser These ist der Titel des folgenden Beitrags gewählt. 2. Dieser ist in drei Teile gegliedert: Im ersten möchte ich Anmerkungen zum im Titel ausgedrückten Thema anbringen, dessen Bedeutsamkeit, Herausforderung und Schwierigkeit, der zweite Teil erwähnt einige entscheidende Gedanken Kants, die Hegel für dieses Thema aufzunehmen und weiterzuführen versucht, im Abschlussteil möchte ich philosophische Konsequenzen daraus ziehen. 1 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 22f., in Werke 1–20 (stw 601–620), hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1986, Werke 3. Im Folgenden wird die Suhrkamp-Ausgabe verwendet, da sie einen guten Text bietet und allgemein zugänglich und leistbar ist. 2 Die Werke Kants werden folgendermaßen zitiert: Die Kritik der reinen Vernunft (KrV) nach Ausgabe A bzw. Ausgabe B und Seitenzahl, die Kritik der praktischen Vernunft (KpV) und die Kritik der Urteilskraft (KdU) gemäß den Originalausgaben mit Seitenzahl, die restlichen Werke nach der Berliner Akademieausgabe, gegebenenfalls mit dem Sigel AA vor der Band und Seitenangabe. Siehe: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Gruyter, 1910ff.

© koninklijke brill nv, leiden, ���7 | doi ��.��63/9789004327191_013

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3. Als Eingang in die folgenden Überlegungen sollen zwei Hegel-Passagen erwähnt werden: Die erste ist der Vorrede aus Hegels PhdG, genauer gesagt dem 17. Abschnitt derselben entnommen, die auch die Vorrede zu Hegels gesamtem System darstellt und die spekulative Philosophie Hegels in einem Satz, dem sogenannten spekulativen Satz zusammenfasst: Es kommt nach meiner Einsicht, welches sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muss, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.3 Dieser Satz stellt den eigentlichen Anfang des spekulativen Werkes Hegels dar, und man könnte durchaus sagen, dass die folgenden 1500–2000 Seiten von PhdG und Wissenschaft der Logik (WdL)4 eine Variation desselben zum Ausdruck bringen. Im spekulativen Satz sind Subjekt und Prädikat umfanggleich. Dies wäre in der formalen Logik eine sinnlose Tautologie. Im spekulativen Denken Hegels ist damit aber angezeigt, dass die Bedeutung in einer Bewegung zwischen Subjekt und Prädikat liegt, die im gesamten Hegelschen System mitschwingt. Man kann den Gehalt dieser Hegelschen Methodik selbst an (scheinbar) banalen Beispielen aufzeigen, z.B. der Aussage: Du hast blaue Augen. Diese kann ein Urteil intendieren. In diesem Falle würde einem fixierten Subjekt („Du“) die Prädikation „blaue Augen“ zukommen (oder blauäugig), die durch andere Prädikationen nahezu beliebig erweitert und differenziert werden kann. Ist diese Aussage aber im Kontext einer liebenden oder staunenden Behauptung eingebettet, ändert sich das Szenario: Die „blauen Augen“ bringen in diesem Falle all das zur Sprache, was das „du“ ausmacht. Es handelt sich damit nicht mehr um eine Qualifizierung des „Du“, sondern in diesem scheinbar kleinen Detail manifestiert sich das Du und durch es vermittelt letztlich der gesamte Sinngehalt der Welt des Liebenden. Umgekehrt ist das „Blau“ des/der Blauäugigen keine abstrakte Farbe mehr – die ich etwa durch eine Frenquenzangabe angeben könnte –, sondern vielmehr das einmalige Blau der Augen des geliebten Menschen, ohne dessen Existenz die Farbe etwas anderes bedeutete. Dies hat nicht zuletzt zur Folge, dass das „Du“ ohne das „Blau“ der Augen und umgekehrt die Farbe „Blau“ ohne die Augen des „Du“

3 Hegel, Phänomenologie des Geistes, 22f. 4 Hegel, Wissenschaft der Logik, in Werke 1–20 (stw 601–620), hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1986, Werke 5 und 6.

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nicht adäquat zum Ausdruck gebracht werden könnten und immer abstrakte Allgemeine blieben. Angewendet auf den vorliegenden Satz kann das spekulative Hauptwerk Hegels gemäß zweier Bewegungsrichtungen gelesen werden: Die Substanz ist als Subjekt zu verstehen, d.h. wir befinden uns nicht in einer Welt von ruhenden und fixierbaren Objekten, die mittels Urteil immer differenzierter bestimmt werden können,5 sondern in einer – wie auch immer dies dann näher zu verstehen ist – aus geistigen Kontexten (Liebe, Staunen etc.) vermittelten Welt (Hegel spricht vom Begriff). Die zweite Richtung, die nicht vergessen werden darf, muss dahingehend zum Ausdruck gebracht werden, dass das Subjekt die Substanz der Welt ausmacht, d.h. genauso wie die Substanz Subjekt ist, ist das Subjekt substanziell, was in seinen ethischen Konsequenzen zu entfalten sein wird. 4. Hegels philosophische Hauptwerke, konkret die PhdG und die WdL, sind eine Darstellung des eingangs zitierten spekulativen Satzes. Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften,6 auch wenn sie formal die Natur- und die Geistphilosophie enthält, hat bereits sehr stark die Form eines Lehrbuches, wurde auch als solches konzipiert und entfaltet daher nicht in dem Ausmaß wie die beiden erstgenannten Hauptwerke die entscheidenden spekulativen Übergänge (Bewegung zwischen Substanz und Subjekt) der Hegelschen Philosophie. Gleiches gilt auch für Hegels Rechtsphilosophie sowie für dessen Vorlesungen. Ich möchte, nachdem ich den Anfang der Hegelschen Philosophie zitiert habe, kurz auf das Ende von deren philosophischer Systematik eingehen.7 Nicht auf das Ende der WdL, sondern auf jenes der Enzyklopädie, konkret 5 Besonders auf diese Tatsache hat Bruno Liebrucks in seinem monumentalen Hauptwerk „Sprache und Bewußtsein“ aufmerksam gemacht. Vergleiche dafür besonders: Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd.3: Wege zum Bewußtsein. Sprache und Dialektik in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft, 1966. Ders., Sprache und Bewußtsein, Bd.5: Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft, 1970; ders., Sprache und Bewußtsein, Bd.6: Der menschliche Begriff. Sprachliche Genesis der Logik. Logische Genesis der Sprache. Hegel: Wissenschaft der Logik (drei Teilbände). Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft, 1974. 6 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in Werke 1–20 (stw 601–620), hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1986, Werke 8–10. 7 Dieses Ende könnte man gemäß dem bisher Ausgeführten auch am Anfang verorten, weil das „zwischen“ eine Bewegung vom Anfang zum Ende, aber ebenso vom Ende zum Anfang impliziert. Weiters könnte man es am Ausgang der WdL in der Darstellung der absoluten Methode auffinden, da die Methode als absolute Form den gesamten Inhalt der Hegelschen

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der darin enthaltenen Geistphilosophie, insofern, als darin die spekulativen Schlüsse, die die Hegelsche Philosophie durchziehen, thematisiert und ­explizit in ihrer historischen und systematischen Stellung reflektiert werden. Der Leser hat (zumindest in der letzten Fassung von 1830) zwei Enden vor sich: Einmal die Schlüsse der Philosophie als Reflexion auf die Methode (§§ 575–577), die sich in drei Schlüsse auseinanderlegt. Im ersten stellt Hegel die Natur, also die griechisch/aristotelische Seinsmetaphysik, in die Mitte, im zweiten die Freiheit, also die kantische Transzendentalphilosophie, und im dritten Schluss die absolute Bewegung zwischen Natur- und Geistphilosophie – die Bewegung zwischen Natur und Freiheit bzw. zwischen Metaphysik und Transzendentalphilosophie – also Hegels dialektische Philosophie. Das zweite Ende, in den §§ 567–570 entfaltet, bietet eine inhaltliche Reflexion über den absoluten Geist der Religion, der sich ebenfalls in drei Schlussformen auseinanderlegt: Einmal tritt in der offenbaren Religion der absolute Geist im Momente der Allgemeinheit als immanente Trinität auf, als sich durch die Vermittlung des Unterscheidens in sich und Rücknahme dieser Vermittlung aufhebende Vermittlung – die Mitte in dieser Figur ist der ewige und allgemeine Logos in seinem Rhythmos von Einheit und Unterschied. Zweitens tritt im Momente der Besonderheit das Moment des Gegensatzes und der Endlichkeit, also das Moment der in sich entzweiten und entzweienden Natur in die Mitte – die Mitte in dieser Figur wäre gewissermaßen der geschichtliche Logos und ihm korrespondierend das die Welt in Subjekt und Objekt entzweiende Handeln und Urteilen. Drittens zerfällt das Moment der Einzelheit selber wiederum in drei Momente: Die allgemeine Einzelheit ist die Verwirklichung der allgemeinen göttlichen Substanz in einem einzelnen Selbstbewusstsein, d.h. jenes Moment, in der ein einzelnes Selbstbewusstsein (Jesus von Nazareth) gerade in seiner Endlichkeit (Schmerz der Negativität) Zeigestab auf das Absolute ist. Das nächste Moment ist jenes der besonderen Einzelheit, in der dieses Gesche­hen (von der Gemeinde) zeitlich und räumlich distanziert und festgehalten wird, also Jesus als der vergangene und kommende Messias. Das letzte und entscheidende Moment ist schließlich jenes der einzelnen Einzelheit, in der diese Vermittlung sich als innewohnend im Selbstbewusstsein bewirkt und die wirkliche Gegenwärtigkeit des an und für sich seienden Geistes als des allge­meinen ist.8

Philosophie zum Ausdruck bringt. Schließlich kann man aber auch realphilosophisch das Ende dem absoluten Geist zuordnen. 8 Hegel, Enzyklopädie, § 570.

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Genau diesen Satz, in gewisser Weise der inhaltliche Schlusspunkt der Hegelschen Philosophie, gilt es – wie jenen oben zitierten Anfang aus der Vorrede der PhdG – verständlich zu machen, wenn man begreifen will, was die Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem bedeuten könnte, welche der dritte Schluss der Philosophie zum Ausdruck bringt. Es wird darum gehen, die geistige Präsenz des Absoluten als „einzelne Einzelheit“ in der Wahrnehmung des kontingenten und konkreten Selbstbewusstseins (Genetivus subiectivus und obiectivus!) verständlich zu machen. 5. Zwei erste Hinweise bezüglich des Individuums und seiner Aussagbarkeit sind zu geben, um in den Hauptteil der Arbeit überleiten zu können: 5.a. Zunächst muss noch einmal auf den Titel des Artikels zurückgekommen werden. Individuum est effabile – ich verdanke den Anstoß zu dieser Formulierung Thomas Auinger9 – stellt gewissermaßen die Gegenthese zum sich nicht zuletzt auf Aristoteles stützenden10 scholastischen Grundsatz der Unausdrückbarkeit des Individuums (daher die dortige These „Individuum est ineffabile“) dar. Wir gelangen formallogisch nur zu allgemeinen Aussagen, insofern der Hintergrund der formalen Logik die Bestimmung des Einzelnen als Fall von Allgemeinheiten ist.11 Da die formale Logik und ihre Urteilsstruktur aber wiederum die Grundlage des metaphysischen Seinsdenkens ausmacht,12 9 Wie sehr die Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem den Gang der PhdG bestimmt sowie die Tatsache, dass die sinnliche Gewissheit nicht nur der erste, sondern auch der letzte Inhalt der PhdG ist, zeigt Thomas Auinger in seiner äußerst lesenswerten Hegelinterpretation: Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. 10 Vgl. Aristoteles, Metaphysik Buch IV, 1003a 6–17, („denn nichts Allgemeines bezeichnet ein bestimmtes Etwas“), weiters auch die Bücher VII–IX. Vgl. dazu auch Thomas Auinger, „Substanz und Begriff – Zu Hegels Begriffsbestimmung des Begriffs an Hand der Kategorie der Substanz“, in Substantia – Sic et non. Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen, hg. Holger Gutschmidt, Antonella Lang-Balestra und Gianluigi Segalerba. Heusenstamm: Ontos Verlag, 2008, 421–444. 11 Wenn daher etwa ein Schluss lautet, dass alle Menschen sterblich sind und Sokrates ein Mensch und daher sterblich ist, ist Sokrates bereits als Fall von Sokrates gesetzt, da er als Individuum sich jeder Prädikation entzöge. Die Metaphysik denkt letztlich vom Urteil her, in dem das Subjekt immer durch allgemeine Aussagen definiert ist. 12 Sehr erhellend sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Max Gottschlich in: F. Ungler, Bruno Liebrucks’ „Sprache und Bewußtsein“. Vorlesung zum WS 1988, mit einem Geleitwort von Josef Simon, aus dem Nachlass herausgegeben von Max Gottschlich, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2014.

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beinhaltet die Aufhebung der Urteilsstruktur im Denken Hegels, in dem das „Sein“ als Bewegung und daher genauso als „Nichts“ zu denken ist, auch eine Fundamentalkritik an der metaphysischen Tradition.13 Diese Kritik ist im Denken Kants vorgezeichnet, insofern Kant zeigt, dass jedes Urteil nur dann bestimmt ist, wenn es in eine Totalität von Urteilsketten eingebettet ist, wobei solche Totalitäten widersprüchlichen Charakter aufweisen. Denn die Totalität ist niemals Gegenstand des Urteils, da sie als solcher dem Urteil unterläge. Ist wiederum die Urteilsstruktur das höchste Moment, so kann ich deren Momente (Subjekt/„Ich“, Objekt/„Welt“, Sein/„Gott“) zwar hypostasieren, ohne allerdings diesen Hypostasen eine inhaltliche Vorstellung (Objekthaftigkeit) unterlegen zu können. Die Trennung in zwei Erkenntnisstämme, die Kant vornimmt, nämlich in Sinnlichkeit und Verstand, ergibt sich für ihn aus der Notwendigkeit, eine anwendbare Urteilsstruktur aufrechtzuerhalten. Wenn nämlich eine Urteilsmöglichkeit bestehen soll, dann wird ein gleichzeitig umgrenzbares und uneinholbares Moment benötigt, ein „Hier“ und „Jetzt“, an dem sich das Urteil vollzieht. Das Urteil changiert also zwischen dem Ideal einer vollständigen Bestimmbarkeit des ihm vorliegenden Gegenstandes und der Notwendigkeit eines semantischen Überschusses desselben, sich in der Sinnlichkeit ­manifestierend,14 der gewissermaßen den im Urteil in Anspruch genommenen Totalitätscharakter des Seins zum Ausdruck bringt. Hegel – bei dem der Form des spekulativen Satzes gemäß, in dem Anfang und Ende ineinander übergehen, die sinnliche Gewissheit Anfang und Ende des Systems darstellt – beginnt seine Darstellung der PhdG mit der sinnlichen Gewissheit und zeigt auf, dass das in ihr intendierte Einzelne nicht mittels des Urteils fixierbar ist. Dies bringt sich nicht zuletzt in der Sprache, die in allgemeinen Begriffen spricht, zum Ausdruck. Resultat der sinnlichen Gewissheit ist die Erfahrung der Negativität, also der Nichtfesthaltbarkeit des Hier und Jetzt und eine erste Erfahrung des Allgemeinen (das Hier war immer schon viele Hier, das Jetzt immer schon viele Jetzt usw.). Allerdings bleibt die Frage nach dem Einzelnen virulent und tritt z.B. explizit in der Auseinandersetzung mit der offenbaren Religion hervor. Denn der christliche Gott ist nicht nur 13 Hegel schreibt in der Vorrede der PhdG (Absatz 61): „Formell kann das Gesagte so ausgedrückt werden, dass die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird [. . .].“ Siehe Hegel, PhdG, 59. 14 Von daher ist es kein Zufall, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft (KdU) von einer ­„ästhetischen Idee“ spricht, die mehr denken lässt, „als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann“. Vgl. Kant, KdU, 195.

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Individuum, vielmehr muss theologisch unterstrichen werden, dass der Name Gottes, in der Bibel zentral durch das unaussprechbare Tetragramm JHWH ausgedrückt,15 sich in einem singulären, wenngleich niemals direkt ­dechiffrierbaren Ereignis manifestiert, nämlich im Namen des Jesus von Nazareth. Mit diesem Gedanken verbindet sich eine zweite Stoßrichtung: Der eine Gott hat die eine zusammengehörige Welt (aus deren Gefüge nichts einen definitiven Ausschluss erfahren darf) erschaffen und steht dem einzelnen, jedem einzelnen Menschen gegenüber. Anders gesagt: Gerade im Gedanken der Menschwerdung und der damit verbundenen Herausstreichung des singulären Geschichtlichen tritt der personale Gedanke zunehmend ins Zentrum: ein Gott, eine Welt, eine Freiheit/Seele/Person. 5.b. Damit sind wir wiederum bei den Kantischen Vernunftideen a­ ngelangt: Ich/Seele, Welt und Gott sind die drei Vernunftbegriffe (sich aus dem kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Schluss ableitend16), deren Begriff keiner kategorialen Erfahrung korrespondiert. Oben wurde angedeutet, dass die klassische Metaphysik die Möglichkeit, über das Individuum philosophische Aussagen zu treffen, verneint. Wechselt man zur Kantischen Transzendentalphilosophie, so ist die Auskunft der KrV nicht sehr viel verheißungsvoller. Zu Grunde der transzendentalen Seelenlehre liegt, so Kant (KrV A 345f.) „die einfache und für sich an Inhalt gänzliche leere Vorstellung: Ich; von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet“. Wir können also Substanz, Einfachheit, Einheit gerade nicht von der Seele prädizieren, sondern sind bei einem rätselhaften Begleiter unserer Vorstellungen gelandet, der zwar unsere Urteile notwendig begleiten können muss, nicht aber als Gegenstand des (urteilenden) Wissens fungieren kann.

15 Eigentlich ist der Gottesname dadurch eine Signatur, die der Semantikdes Textes, eine neue Bedeutung zukommen lässt. Vgl. zur Frage der Signatur Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2009. 16 Äußerst erhellend ist bis heute der Kommentar von Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Berlin/New York: de Gruyter, 1966–1971. Hier ganz besonders der erste Band: Heimsoeth, Ideenlehre und Paralogismen, 43–63.

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Perspektiven Kants und Hegels Aufnahmen davon

2.1 Kants Zugang zum Individuum mittels der Praktischen Vernunft Die Frage nach dem Subjekt als Frage nach dessen adäquater Wahrnehmung hat eine höchst ethische Dimension. Kant redet in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten davon, „dass der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich existiert, nicht bloß als beliebiges Mittel“ (IV, 428). Ferner spricht er von Personen, die dadurch ausgezeichnet sind, dass sie – im Gegensatz zu Sachen – Zwecke an sich selbst sind, [. . .] und zwar objektive Zwecke, [. . .] deren Dasein an sich selbst Zweck ist [. . .], an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann [. . .], weil ohne dieses überall gar nichts von absolutem Werthe würde angetroffen werden; wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden (IV, 428). In der KdU spricht Kant davon, dass wir in der Welt eine einzige Art Wesen haben, deren Kausalität teleologisch, d.h. auf Zwecke gerichtet und doch sogleich so beschaffen ist, dass das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig vorgestellt wird. Das Wesen dieser Art ist der Mensch, aber als Noumenon betrachtet.17 Es wurde darauf hingewiesen, dass es für Kant innerhalb der theoretischen Vernunft keine Möglichkeit gibt, das Individuum adäquat zu denken. Anders ist die Lage in der praktischen Vernunft: Die Vernunft als Vermögen des Unbedingten findet dieses Unbedingte in Bezug auf alle Bedingungen im Zweckbegriff.18 „Der Endzweck ist derjenige Zweck, der keines anderen als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“, erklärt Kant in der KdU.19 Dieser Endzweck kann nun (zunächst) nicht einfach eine materiale Ausgestaltung 17 Kant, KdU, 398. 18 Zum Zweckbegriff und seine Bezüge zur praktischen Vernunft sowie zur Religion vgl. die extrem inhaltsreiche Monografie von Rudolf Langthaler, Geschichte, Religion und Ethik im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“. Berlin: de Gruyter, 2014. 19 Kant, KdU, 396.

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finden, sondern er liegt in der Vernunftform selber, da einzig sie als Vermögen der Prinzipien einen solchen Zweck als absolutes Prinzip denken kann. Das Unbedingte der Vernunft finden wir dabei nicht in der Sphäre seiender Bedingungsketten, sondern in einem Imperativ, der absolut bestimmend ist, ohne durch irgendwelche Bedingungen bestimmt zu werden und damit der Form nach völlig allgemein ist. Er lautet in der ersten Fassung: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (IV, 421). Eine inhaltliche Seite erfährt dieser kategorische Imperativ durch die bereits angeführte Überlegung, dass der Zweckbegriff (als oberstes praktisches Prinzip) an die Vernunft rückgebunden ist, weshalb die Vernunft selber Zweck an sich ist – und zwar in Gestalt von deren Trägerschaft, also dem Menschen, allerdings als Noumenon betrachtet. Damit ergibt sich eine weitere Fassung des kategorischen Imperativs, nämlich: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person jedes anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel betrachtest. (IV, 429). Interessant ist an diesem Imperativ, dass er Allgemeines und Einzelnes in eine Einheit bringt: Das Individuum, insofern des Gedankens des Allgemeinen und des Prinzips mächtig, wird, wenngleich als Noumenon, zum Träger der allgemeinen Menschheit bzw. der Vernunft selber. Damit wird der in der ersten Fassung des kategorischen Imperativs noch unterbelichtete Umstand deutlich, dass mit diesem Imperativ die Person, insofern sie nicht zum Mittel für andere degradiert werden darf, unvertretbar ist. Wichtig bleibt dabei der Zusatz „als Noumenon betrachtet“. Dies stellt nicht einfach eine Einschränkung dergestalt dar, dass der empirische Mensch, wie er uns begegnet, nicht Zweck wäre, sondern weist darauf hin, dass wir den uns begegnenden Menschen nie bloß empirisch (als Naturwesen) betrachten dürfen, sondern ihn als Noumenon (Freiheitswesen) (an)erkennen müssen. Es gibt also einen geforderten Überschuss gegenüber einer bloß empirischen Wahrnehmungsweise des Individuums und in diesem, so wird man vermuten, liegt die Möglichkeit, die Person – und zwar jede einzelne Person – als Totalität der Menschheit und als „Dasein, welches den höchsten Zweck in sich selbst trägt“,20 zu betrachten. Die Frage, die sich im Gefolge Hegels stellt, ist die nach der Bedingung der Möglichkeit einer Sichtweise des Menschen als Noumenon (Freiheitswesen), ohne dessen Existenz als Phainomenon (Naturwesen) auszublenden. Die Behauptung dieses Artikels geht dahin, dass Hegels eigentliche Kantkritik in 20 Kant, KdU, 398.

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der PhdG daraufhin abzielt, dass die Kantischen Kritiken diese Frage nicht hinlänglich geklärt haben. Im Übrigen kann durchaus darauf verwiesen werden, dass Kant selber diese Frage für klärungsbedürftig hielt, was nicht zuletzt auch zur Abfassung der Religionsschrift geführt hat. 2.2 Hegels Kritik an Kants Moralität Es ist eine verbreitete Ansicht, dass Hegel Kants Moralität auf Strukturen der Sittlichkeit zurückführen will. Vielfach wird dabei auf Hegels Rechtsphilosophie verwiesen, in der das Kapitel über die „Sittlichkeit“ dem der„Moralität“ folgt. In der PhdG stellt sich dagegen diese Sache bei genauer Lektüre differenziert dar. Mit dem Rechtszustand ist in der PhdG das erste Mal explizit die Frage nach dem Geltungsanspruch des Ichs aufgetreten. Um diese Frage in ihrer Bedeutung adäquat einordnen zu können, muss angemerkt werden, dass sich im ersten Teil der PhdG, der von der sinnlichen Gewissheit bis zum Gewissenskapitel läuft, also Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft und Geist umfasst, das Subjekt in den gegenständlichen Gestalten seiner Weltbegegnung wiederzufinden und zu verorten trachtet. Hegel spricht im Kapitel über das absolute Wissen, in dem er auch den bisherigen Gang der PhdG zusammenfasst, davon, dass sich das Bewusstsein mit dem Selbstbewusstsein im Gang des Bewusstseins von der Seite des Fürsichseins zu versöhnen suchte,21 mit anderen Worten: sich als Selbstbewusstsein in seinem Gegenstand zu fassen trachtete. Im dritten und vierten Absatz des absoluten Wissens22 wird auch eine weitere Gliederung des Werkes, insbesondere in Bezug auf die Erfassung des Gegenstandes, deutlich gemacht, nämlich eine Gliederung gemäß der beiden „extremsten“ Ur-Teile, an denen die Urteilsform selber zerbrechen wird.23 Das erste Urteil zeigte sich am Ende der beobachtenden Vernunft: „Das Ich ist ein Ding“.24 Die Vernunft versuchte sich dort dinghaft widerzuspiegeln – heute würden wir dies konkretisieren in Richtung „neuronale Wellen“, „Gene“ oder 21 Hegel, PhdG, 579. 22 Hegel, PhdG, 577. 23 Vgl. dazu Auinger, Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. Auinger zeigt in diesem Werk sehr schön, wie im Kapitel über das absolute Wissen noch einmal die Grundstruktur der PhdG deutlich wird. Wenn Pöggeler dagegen schreibt, dass wir in Hegels PhdG nichts endgültig Fertiges vor uns haben, so stimmt dies insofern, als die PhdG in sich ein freies Element des Denkens enthält, welches eine permanente Re-Lecture erfordert. Vgl. dazu Otto Pöggeler, Die Komposition der Phänomenologie des Geistes, in Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, hg. von Hans F. Fulda und Dieter Henrich. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1973, 382. 24 Genauer heißt es dort: „und was in Wahrheit gesagt wird, drückt sich hiermit so aus, dass das Sein des Geistes ein Knochen ist“ (Hegel, PhdG, 260).

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„Proteinstrukturen“. Im Scheitern dieses Versuchs und dem damit verbundenen Zerbrechen des Ur-Teils ergab sich eine Umkehr des Bewusstseins, welches sich immer mehr auf die eigene Wissensauffassung und deren Geltung richtete. Daraus folgte das zweite Extrem-Urteil: „Das Ding ist ein Ich“. Dieser Satz findet seinen Höhepunkt zunächst im Utilitarismus und findet im Terror der französischen Revolution eine weitere Ausgestaltung. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass das Ich in seiner Negativität und seinem absoluten Geltungsanspruch jeden Inhalt zernichtet. Übrig bleibt die abstrakte Reflexionsbewegung selber, nämlich das prädikatlose Absolute, ein rein n ­ oumenales Ich, in dem alle Geltung zusammenläuft. In der Moralität25 manifestiert sich diese Bewegung als die allgemeine Urteilsform in Gestalt des kategorischen Imperativs. Sie ist daher, so könnte man Hegel folgend sagen, der gehemmte Terror des absoluten Urteils (und das harte Herz des urteilenden Gewissens dessen Internalisierung) und seines Geltungsanspruchs, in dem sich das Ich am Ausgang des Gewissenskapitels ein letztes Mal selbst zu verorten sucht. Die großartige, nicht zurückzunehmende Seite der Moralität besteht nach Hegel allerdings in ihrer Form der Allgemeinheit. Sie ist die „Bewegung des Selbsts, die Abstraktion des unmittelbaren Daseins aufzuheben und sich Allgemeines zu werden“.26 Die Moralität ist nicht an familiäre, kulturelle und soziale Partikularitäten gebunden, wie Hegel durchaus anerkennt. Sie ist dadurch freies Selbstbewusstsein, der ein freier Gegenstand korrespondiert.27 Allerdings wird sie der Freiheit ihres Gegenstandes nicht gerecht, weil sie sich im Geltungsanspruch ihres Urteilens zu finden sucht. Sie wird einerseits, wie Hegel schreibt, ihren Gegenstand, die „Natur“, man könnte hier auch sagen: die Kontingenz, das phänomenale Ich, als das völlig Freie und Andere in Bezug auf die zu verwirklichende Pflicht ansehen, andererseits aber auch als Aufzuhebendes, wie Hegel v.a. anhand der Kritik der Postulatenlehre aufzuzeigen sucht. Hegels Kritik an der Kantischen Moralität liegt also darin, dass seiner Meinung nach die Vermittlung zwischen noumenalem und phänomenalem Ich nicht geleistet ist. Die Postulatenlehre hebt dabei nach Hegel die Phänomenalität und die mit dieser einhergehende Kontingenz auf und wird damit zur (abstrakt) allgemeinen Reflexion.

25 Vgl. zur Moralität Andrés Prestel, Die Verstellungen der Kantischen Moralität. Wien: facultas wuv universitätsverlag, 1998. 26 Hegel, PhdG, 442. 27 Vgl. Hegel, PhdG, 443.

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Dieser reflexive Charakter des Postulats der Einheit von Freiheit (Bewusstsein) und Natur (Bewusstseinsgegenstand) ist Kant durchaus bewusst, wie seine grandiosen Ausführungen im §88 der KdUzeigen: Dass nun zu dieser Schöpfung, d.i. der Existenz der Dinge gemäß einem Endzwecke, erstlich ein verständiges, aber zweitens nicht bloß (wie zu der Möglichkeit der Dinge der Natur, die wir als Zwecke zu beurteilen genötigt waren) ein verständiges, sondern ein Gott, angenommen werden müsse: ist ein [. . .] Schluss, welcher so beschaffen ist, dass man sieht, er sei bloß für die Urteilskraft nach Begriffen der praktischen Vernunft, und als ein solcher für die reflektierende, nicht die bestimmende Urteilskraft gefällt.28 (KdU 327) Kant verortet hier die göttliche Vermittlung der beiden Sphären Natur und Freiheit in dem Bereich der reflektierenden Urteilskraft. Im Opus postumum dagegen scheint er um eine andere Lösung zu ringen: Der Satz „Es ist ein Gott Denn es ist ein categorischer Pflichtimperativ vor dem sich alle Knie beugen die im Himmel [und] auf Erden etc. sind und dessen Nahme heilig ist ohne daß eine Substanz angenommen werden darf welche dieses Wesen für die Sinne repräsentirte“29 bezeichnet meiner Ansicht nach bereits in der Formulierung (es ist . . .) einen Übergang von der reflektierenden in die bestimmende Urteilskraft, ohne dass Kant diesen Übergang noch näher ausführen konnte. Hegel dagegen ist der Auffassung, dass – unter Nichtpreisgabe des Gedankens des Allgemeinen, weshalb jede unmittelbare Rückkehr in partikulare sittliche Verhältnisse ein Unterlaufen des Vernunftanspruchs wäre – alles darauf ankommt, das kontingente Moment des Subjekts, welches nicht reflexiv-­geltungsmäßig einholbar ist, tiefer und grundsätzlicher als in Kants ersten beiden Kritiken zu fassen. Gerade weil es dabei auch um die Grenzen der Reflexion geht, bezieht sich Hegel – zumindest in der PhdG – nicht zuletzt auf Kants KdU und dabei wiederum ganz besonders auf die Analytik des Erhabenen. 2.3 Kants Analytik des Erhabenen In seiner dritten Kritik, der KdU, unternimmt Kant neben der Analytik der ästhetischen Urteilskraft auch eine Analytik des Erhabenen. Entscheidend ist, dass die „ästhetische Urteilskraft ein besonderes Vermögen darstellt, Dinge nach einer Regel, nicht aber nach Begriffen zu beurteilen“ (KdU LII; im Gegensatz dazu ist die teleologische Urteilskraft nur die reflektierende Urteilskraft über28 Kant, KdU, 327. 29 Immanuel Kant, Opus postumum. Erstes Konvolut, Fünfter Bogen, Dritte Seite, AA XXI, 64.

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haupt), wobei sich in der Zweckmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Regeln ein Gefühl der Lust und Unlust herstellt, welches – im Gegensatz zur Vernunft (welche Interesse am Guten hat) und zur Empfindung (welche Interesse am Angenehmen hat) – ohne (subjektives) Interesse ist, und damit zwar allgemeine Bedeutung hat, ohne aber den mindesten Begriff zum angeschauten Gegenstand hinzuzufügen. Konkret beruht das Geschmacksurteil, ohne „Interesse am Objekt“ zu nehmen, auf der Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts (Verstand und Einbildungskraft), aus denen das ästhetische Urteil über eine Sache erwächst.30 Wir sind in diesem Spiel mit einer Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz und mit einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck, die uns damit vermittelt wird, konfrontiert, und gerade die Frage, ob eine Gesetzmäßigkeit erfahrbar wird, ohne in ein starres Gesetz zu kippen, bestimmt das Urteil, ob etwas schön ist oder nicht. Zu betonen ist, dass wir mittels der Aisthesis der Urteilskraft das Objekt niemals direkt einem Urteil unterziehen können (schön, Zweck an sich/ Selbstzweck, objektiv einer Regel unterworfen). Es wäre aber auch verfehlt, von einer subjektiven Voraussetzung zu sprechen, welche dieses Urteil bestimmt, da es, wie Kant betont, interesselos ist. Die Schönheit des Objekts folgt also einerseits weder einem objektiven Begriff noch einer subjektiven Disposition, andererseits ist sie Ausdruck einer Zweckmäßigkeit der Erkenntniskräfte. Man ist also mit mehrfachen Brechungen konfrontiert: Die ästhetische Sichtweise zielt nicht auf die begriffliche Bestimmung des Objekts, sie ist aber auch keine Selbstbespiegelung des bestimmenden (interesselosen) Subjekts. Ihr Urteil folgt dagegen dem freien Spiel von Verstand und Einbildungskraft (unter Führung letzterer!), was bedeutet, dass die Reflexion des Verstandes an der anarchischen Einbildungskraft gebrochen ist, diese aber rückgebunden bleibt an die Verstandesgesetze. Unterstreicht man den Begriff der Zweckmäßigkeit, so zeigt sich auch eine besondere Gebrochenheit im Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem. Im Gegensatz zur teleologischen Urteilskraft verfügt die ästhetische über kein reflexives Allgemeines (nämlich den Zweckbegriff), sondern nur über eine Zweckmäßigkeit (ohne dass dieselbe einen „ganzen“ Zweck ausmachte), weiters steht sie im Spiel der Erkenntniskräfte unter dem Primat der Einbildungskraft, der in der Darstellung der ästhetischen Idee kein Begriff adäquat zu sein vermag,31 da sie gewissermaßen über einen kontingent-­anarchischen Überschuss verfügt, der in keine letzte Regel gebracht zu werden vermag. 30 Vgl. dazu den umfangreichen Kommentar von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Immanuel Kant: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Text und Kommentar (3 Bde). Frankfurt: Suhrkamp Verlag 2001. 31 Vgl. Kant, KdU, 193.

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Wir sind damit in einem Bereich „zwischen“ Subjektivität und Objektivität, zwischen Einzelnem und Allgemeinem, der das besondere Interesse Hegels erweckt hat. Noch mehr gilt dies für den zweiten Teil der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, die Analytik des Erhabenen. Wie das Schöne ist das Urteil des Erhabenen nicht eine begriffliche Bestimmung des Gegenstandes und wie das Schöne gefällt das Erhabene interesselos. Allerdings bezieht die Urteilskraft in der Erfahrung des Erhabenen die Einbildungskraft nicht – wie in der Beurteilung des Schönen – auf den Verstand,32 sondern „auf die Vernunft, um zu deren Ideen (unbestimmt welchen) subjektiv übereinzustimmen“.33 Mit anderen Worten: Im Urteil „erhaben“ sind wir mit einem freien Spiel von Einbildungskraft und Vernunft bzw. mit einer (noch näher zu bestimmenden) Darstellung der Vernunft durch die Einbildungskraft konfrontiert. Kant gibt eine weitere wichtige Bestimmung: „Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist“,34 was dazu führt, dass im Angesicht der Erfahrung des Erhabenen jede sinnliche Darstellung und damit jeder Versuch, sich im Objekt direkt zu reflektieren, zerbricht. Das Gefühl des Erhabenen, ausgelöst durch eine Begegnung mit nicht mehr in der Einbildungskraft unmittelbar konzipierbaren Objekten, löst, wie Kant festhält,35 eine fundamentale Erschütterung aus, deren Überschwänglichkeit einen Abgrund für die Einbildungskraft ausmacht. Sie zerbricht allerdings nicht unmittelbar an einem erhabenen Objekt, d.h. es ist nicht das Objekt als solches erhaben, sondern es ist mit der Erhabenheit genau jene Gemütslage des Subjekts erfasst, die sich beim Zerbrechen aller objekthaften (Selbst-)Konzeptionen des Ichs manifestiert. In diesem Zerbrechen erwächst das Gefühl der Erhabenheit aus der Erfahrung einer fundamentalen Nichtzugehörigkeit zur Welt der Natur, eines Scheiterns aller Beheimatungsversuche in den Objekten unserer Weltbegegnung. Das Selbst macht in der Begegnung des Unendlichen den Erfahrungsschritt, dass seine Bestimmung nicht in der Welt liegt und kann gerade deshalb über diese hinausgehen; es befindet sich, konfrontiert mit der Idee des Unendlichen, die sich an den Grenzen seines Reflexionspotentials,36 also den Grenzen der Möglichkeit der verstandesmäßigen Auffassung des Sinnlichen,37 kundtut, auf 32 Vgl. Kant, KdU, 94. 33 Kant, KdU, 95. 34 Kant, KdU, 84. 35 Vgl. Kant, KdU, 98. 36 Vgl. Kant, KdU, 110f. 37 Vgl. die schöne Stelle in der KdU: „[. . .] und jene Absonderung ist also eine Darstellung des Unendlichen, welche zwar eben darum niemals anders als bloß negative Darstellung

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dem Sprung zu seiner übersinnlichen und damit in weiterer Folge moralischen Bestimmung. Man könnte sagen, dass es in eine Schule der Unverfügbarkeit der Welt eintritt, die die Voraussetzung für eine moralische Sichtweise darstellt, die den Anderen nicht als bloßes Mittel behandelt. Die ursprüngliche Fragestellung nach einer Vermittlung von phänomenalem und noumenalem Ich bekommt damit eine entscheidende Facette: Es ist das Erhabene, welches auf negative Weise den Weg für eine Aisthesis der Freiheit öffnet. Genau an dieser Stelle hakt Hegel in seinem Religionskapitel ein. Der Einsatz der Religion als Erschütterung aller Selbstkonzeptionen des Ichs 2.4.1 Das Schöne als Symbol des Sittlichen und die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Seienden Ich fasse noch einmal die Struktur der PhdG zusammen: Deren erster Teil handelte von dem Versuch einer Versöhnung des Bewusstseins (Substanz) mit dem Selbstbewusstsein (Subjekt) nach der Seite des Ansichseins (Bewusstsein).38 Die beiden Leitsätze, die dies zum Ausdruck brachten, waren „Das Ich ist Ding“ und „Das Ding ist Ich“. Der zweite Teil, das Religionskapitel, hat es mit der Versöhnung nach der Seite des Fürsichseins (Selbstbewusstsein) zu tun. Der erste Teil ist also der Versuch, sich im Gegenstand der Erfahrung zu finden. Der letzte Gegenstand dieser Erfahrung war der Geltungsanspruch, wie er sich in der Form des Urteils in der Moralität und im Gewissen39 darstellte. Am Ende des Gewissenskapitels allerdings wird am Subjekt ein Erfahrungsschritt vollzogen, der in das Religionskapitel überleitet: Das Gewissen dirimierte sich in zwei verschiedene Gestalten, das urteilende (allgemeine, noumenale) und das handelnde (kontingente, phänomenale) Selbst, wobei Letzteres dem Urteil des ersteren unterlag. Am Ende des Gewissenskapitels allerdings wird das urteilende Gewissen aus seiner urteilenden Position versetzt und erschüttert, sein „hartes Herz“ bricht, wie Hegel dies zum Ausdruck bringt.40 Das urteilende Gewissen schaut sich in der Kontingenz des Anderen. Es erfährt also, dass sein Anundfürsichsein Gesetztsein ist, wie Hegel den Übergang vom 2.4

sein kann, die aber doch die Seele erweitert. Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen [. . .]“. (Kant, KdU, 125). 38 Vgl. Hegel, PhdG, 579. 39 Hegel spricht in diesem Zusammenhang vom „harten Herzen“, vgl. Hegel, PhdG, Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung, Absatz 36, 490. 40 Hegel, PhdG, 492.

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Wesen in den Begriff beschreibt, und nimmt darin wahr, dass die Urteile und Konzeptionen seines Gegenstandes die eigenen Projektionen auf das Andere waren.41 Dadurch verliert es seinen absoluten Ort, von dem aus es urteilte und den es in keinem Gegenstande (bzw. keiner Vergegenständlichung seiner selbst im Anderen) einholen konnte, was zur Folge hat, dass es in dieser Verlusterfahrung und Verrückung aus den eigenen Projektionen den Anderen (an)erkennen kann, der das Ende der eigenen Projektion und des ­absoluten Geltungsanspruchs des Urteils darstellt. Das Allgemeine des Selbsts liegt also darin, dass von dem eigenen allgemeinen Geltungsanspruch abgelassen wird, das „Wir“ bringt sich auf diese Weise in dem vinculum einer geteilten Kontingenz des Selbst mit dem Anderen, die bewusst wird, zum Ausdruck. Hegel spricht im Zusammenhang dieses Anerkennens vom absoluten Geist.42 Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Erfahrung des Zerbrechens der Konzeption, was Ich zu sein hat, im Zusammenhang steht mit der Gestalt der Verzeihung der Kontingenz des Anderen (der sich nicht auf den absoluten Ort, in dem „Ich“ mich spiegeln wollte, festlegen ließ), die allerdings niemals von einem urteilenden Ich, welches dem anderen verziehe, geleistet werden kann, sondern mit einem Akt radikaler Ent-subjektivierung (die nicht mit Heteronomie verwechselt werden darf!) einhergeht. Das „Ich“ kann nur das verzeihen, was schon an sich verziehen ist, da es ansonsten seine eigene (moralische) Überheblichkeit als Projektionsfläche einer Selbstdarstellung in Anschlag brächte. Der entscheidende Punkt besteht also darin, dass am höchsten Punkt gewissenhafter Selbstgewissheit das Subjekt eine absolute Dezentrierung und Verrückung erfährt. Diese wird es dazu befähigen, eine adäquate Sicht von „Ich“, „Subjekt“ und „Individuum“ zu finden, die sich in deren Freilassung aus meinen Projektionen und Verfügungen zum Ausdruck bringt. Diese Ensubjektivierung darf aber nicht dahingehend interpretiert werden, dass an die Stelle des handelnden Subjekts ein fremdes Anderes (sei es Gott, sei es das Schicksal etc.) tritt, vielmehr liegt darin die Bedeutung, dass jeder Anfang des Subjekts Anfang eines Anderen (im Sinne des mitspielenden geistigen

41 Slavoj Žižek bringt eine daraus folgende Konsequenz auf den Punkt: „The crucial feature to bear in mind here is how concrete universality is not true concrete universality without including in itself the subjective position of its reader-interpreter as the particular and contingent point from which the unversality is perceived.“ Vgl. Slavoj Žižek, Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism. London/New York: Verso, 2012, 359. 42 Hegel, PhdG, 493.

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Geschehens) ist, wobei dieser Anfang eo ipso Anfang des Subjekts (auch im Sinne des Genetivus subiectivus!) ist. Das auf das Gewissen folgende Religionskapitel ist dabei aus zweierlei Gründen von zentraler Wichtigkeit:43 Erstens schildert es uns eine Genese der in der PhdG bis hin zum Gewissen widerfahrenden Versetzungen. So ist z.B. die Verzeihung des Gewissens ohne eine Lektüre der offenbaren Religion nicht zu verstehen, insofern darin klar wird, dass „mein“ Ablassen immer schon in ein substanzielles Geschehen eingebettet war und daher auch Ablassen des Anderen ist. Zweitens, und dies ist für das Gespräch zwischen Kant und Hegel von besonderem Interesse, wird der Leser im Religionskapitel mit Symbolisierungen des „Selbstbewusstseins“ konfrontiert, die aus der Tatsache resultieren, dass das religiöse Bewusstsein (gegenüber der Welt des Geistes) den Erfahrungsschritt gemacht hat, sich nicht im Anderen letztgültig projizieren und sich daher nicht mehr unmittelbar in den Objekten seiner Weltbegegnung wiederfinden zu können (in der Religion ist daher auch die Geltung, welche als Leitmotiv für den entfremdeten Geist und den seiner selbst gewissen Geist fungierte, kein Thema mehr). Man könnte sagen, dass für Hegel paradoxerweise die Religion die umgekehrte Funktion wie bei Feuerbach hat, insofern bei ihm die Religion das Ende aller Projektionen des Ichs darstellt. Kant entwickelt im wichtigen §59 der KdU „Das Schöne als Symbol der Sittlichkeit“ den wichtigen Gedanken, dass eine Versinnlichung dann symbolisch ist, wenn sie eine „indirekte Darstellung des Begriffs“ beinhaltet44 und zwar vermittels der Analogie,

43  Dieser Aspekt bleibt in den sehr aufschlussreichen und gründlich gearbeiteten Kommentaren zur PhdG von Bruno Liebrucks, Ludwig Siep und Pirmin Stekeler, die alle drei bedeutsame Standards für ein Hegel-Verständnis setzen, unterbelichtet. Vgl. Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt: Suhrkamp, 2000; Pirmin Stekeler, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar (2 Bde). Hamburg: Meiner, 2014. Alle drei tendieren dahin, die Religion gewissermaßen als Vorstufe zur Philosophie zu sehen (allerdings einer Philosophie, die sich des Absoluten bewusst ist und dieses nicht ausblendet) und akzentuieren nicht die Tatsache, dass die Religion als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes keinen direkten Gegenstand mehr kennt, in dem sie sich finden könnte, sondern Ausdruck eines Bruchs ist. In der Religion erkennt das Selbst, dass es „losgelöst“ (absolviert) von positiver Gegenständlichkeit ist. Allerdings wird diese Erfahrung noch einmal symbolisch festgehalten und damit das Ich (noch) als Besonderes und Abgetrenntes bewahrt. 44 Kant, KdU, 256.

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in welcher die Urteilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung [zu applizieren], und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von der der erstere nur ein Symbol ist, anzuwenden.45 Diese Indirektheit ist auch in Hegels Religionskapitel entscheidend, und jede Gestalt darin wird im Grunde genommen die Verrückung und Dezen­ trierung des Subjekts, verbunden mit einer zunehmenden Erfahrung der Unverfügbarkeit seines Gegenstandes, zum Ausdruck bringen. Kant prägt die wichtige Feststellung, dass „alle unsere Erkenntnisse von Gott bloß symbolisch sind“,46 die durch eine zweite Feststellung ergänzt wird, nämlich dass das Schöne – und hier wäre zu ergänzen: das Schöne vorbereitet durch das Erhabene und seine Erfahrung der Unverfügbarkeit der Natur – das Symbol des Sittlich-Guten darstellt.47 Für Kant ergibt sich dies aus der Allgemeinheit des Wohlgefallens am Schönen, in der sich die Urteilskraft „selbst das Gesetz gibt“, wobei sie die Erfahrung der Möglichkeit einer „damit übereinstim­ menden Natur [macht]“, und auf etwas im Subjekt und außer ihm bezogen ist [nämlich der Erfahrung eines Allgemeinen, welches dem Subjekt unverfügbar bleibt], „was nicht Natur, auch nicht Freiheit, doch aber mit dem Grunde der letzteren, nämlich dem Übersinnlichen, verknüpft ist“.48 Man könnte den dahinterliegenden Gedankengang folgendermaßen zusammenfassen: Das interesselose Wohlgefallen, welches dem Schönen und dem Erhabenen zugrunde liegt, ist von allgemeiner Natur. Es entspringt nicht direkt dem Objekt, denn eine solche Zuschreibung wäre nach Kant eine Überschreitung unseres Verstandesgebrauchs, verbunden mit einer unzulässigen Weltbemächtigung. Gleichzeitig ist das interesselose Wohlgefallen auf Grund der Allgemeinheit auch nicht eine Bestimmung des erkennenden Subjekts. Vielmehr befinden wir uns in einem „Zwischenraum“, in einer Bewegung der Dezentrierung des Subjekts (welches tatsächlich immer wieder versuchen wird, das Schöne und Erhabene durch das Angenehme zu ­ersetzen), in welcher sich eine Unverfügbarkeit des Seienden zum Ausdruck bringt. In solcher Unverfügbarkeit vermag es frei zu begegnen und darin einen Blick auf die noumenale Bestimmung des Individuums (Kant würde sagen: auf dessen Bestimmung als Freiheitswesen) zu eröffnen. 45 Ebd. 46 Kant, KdU, 257f. 47 Vgl. Kant, KdU, 258. 48 Kant, KdU, 258f.

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2.4.2 Hegels Einsatz im Religionskapitel der PhdG: Das Lichtwesen Mit dem hier Ausgeführten ist es nun möglich, in das Religionskapitel der PhdG einzusteigen. Hegel gibt bereits in der Einleitung die Zielrichtung des Religionskapitels an, welche in der Religion allerdings nicht erreicht wird: Es geht um die Form „des freien Andersseins“,49 in der der religiöse Gegenstand begegnen soll. Allerdings zeigt sich diese Form in der Religion de facto im „Kleid der Vorstellung, in der der Wirklichkeit nicht ihr volles Recht widerfährt, „nämlich nicht nur Kleid zu sein, sondern selbständiges freies Dasein“.50 Der erste Gestalt im Religionskapitel der PhdG ist das Lichtwesen.51 Hegel spricht von einer „Gestalt der Gestaltlosigkeit“, vom „Aufgang“, von einer Auflösung seiner „Schönheit in der Erhabenheit“, vom „taumelnden“ Leben und der „negativen Macht“ als der „Wahrheit des Selbsts“. Das entscheidende Moment daran ist also genau jene Versetzung, die in Kants Figur der Erhabenheit begegnet. In der Religion hat es das Bewusstsein mit dem „Selbstbewusstsein des Absoluten“ zu tun, welches nicht mehr als Spiegelbild eigener Selbstprojektion wie in den Gestalten bis zum Geistkapitel zu begegnen vermag. Vielmehr „bricht“ das Selbstbewusstsein an jeder religiösen Bewegung. Ich gebe einige Beispiele: In der auf das Lichtwesen folgenden Tierreligion ist es nicht die Vitalität des Tieres, in der sich das Bewusstsein spiegelte, sondern es ist die Befremdlichkeit des Tieres, in der die Verrückung hin zum Absoluten erfolgt, in der sich das Absolute also symbolisiert (bei diesem Ausdruck könnte man im Übrigen durchaus auch an Lacan ­denken). Folgt man dem weiteren Verlauf des Religionskapitels Hegels, so kann man die zunehmende Zentralität der Figur des Todes bemerken. Nicht erst Heidegger hat im Zusammenhang der Entfaltung des „Seins zum Tode“ als Grundmoment der Sorgestruktur des Daseins darauf aufmerksam gemacht, dass im Sein zum Tode jedem Moment einer Selbstreflexivität eine grundsätzliche Grenze eingeschrieben ist. Auch Hegel benutzt diese Gestalt als entscheidendes Brechungsmoment. Sie begegnet im Symbol der Pyramide, welche im wahrsten Sinne des Wortes um den Tod gebaut ist, im Symbol der Undurchdringlichkeit der Hieroglyphe, im Leidensgang des Künstlers usw. Da hier nicht auf alle religiösen Gestalten der PhdG eingegangen werden kann, sollen im Folgenden drei kurz herausgegriffen werden.

49 Hegel, PhdG, 497. 50 Hegel, PhdG, 498. 51 Hegel, PhdG, 505–507. Vgl. zur Interpretation auch Josef Schmidt, „Geist“, „Religion“, „Absolutes Wissen“. Ein Kommentar zu den gleichnamigen Kapiteln aus Hegels Phänomenologie des Geistes“. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 1997.

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2.4.3 Das Spiel als Aufhebung des Körpers Im Kapitel Das lebendige Kunstwerk nimmt Hegel Bezug auf den Kult der Olympischen Spiele. Von besonderem Interesse ist, dass im Spiel der Bewegung die lebendige Körperlichkeit zum Zeigestab des Absoluten wird. Die Bewe­ gung deutet in dieser Gestalt mittels ihrer spielerischen Freiheit bereits den Verweischarakter des Körpers auf das Absolute an, wenngleich sie diesen Verweis noch nicht als solchen verinnerlicht hat. Entscheidend ist aber, dass nicht der Körper direkt das Göttliche ausdrückt, sondern dessen spielerische Verflüssigung und Aufhebung. 2.4.4 Die Komödie als Zerlachen aller bisherigen Gestalten In der Tragödie wird das Verhängnis des Todes als das eigentlich Absolute deutlich. Der Tod wird dann, wie alle positiven Bestimmungen des Daseins, in der Komödie zerlacht. „Das Selbst ist das absolute Wesen“ ist, so Hegel, ihr Leitsatz,52 und liest man dieses Kapitel, gewinnt man den Eindruck, als hätte Hegel Nietzsche als den großen Komödianten der Neuzeit vorweggenommen. Im Unterschied zur Einsicht des entfremdeten Geistes ist das komödiantische Bewusstsein als absolutes Wesen allerdings nicht die Selbstbespiegelung des Selbsts im eigenen Geltungsanspruch bzw. in der eigenen Intellektualität und Reflexivität, die die Re-alität, die Sache des Anderen ersetzt, sondern ein Zerlachen aller Gestalten und Symbole. Liegt also der letzte Selbstausdruck des Individuums im Lachen? Auch an dieser Stelle ergibt sich eine erstaunliche gedankliche Parallele zwischen Hegel und Kant: Letzterer bestimmt in der KdU das „Lachen als einen Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“,53 die, so Kant, „für den Verstand nicht erfreulich ist“. Denn das „Nichts“, dem wir im Lachen begegnen, stellt ein anarchisches Moment und eine Versetzung in Bezug auf jede Selbstkonzeption dar. Auch bei Hegel steht hinter dem komödiantischen Ich der Gedanke einer Versetzung und Umkehrung des Bewusstseins, welche sich in der Figur der Selbstentäußerung, die in der offenbaren Religion thematisch wird, niederschlägt.

52 Vgl. Hegel, PhdG, 545. 53 Kant, KdU, 225. Vgl. dazu Hans-Dieter Bahr, Sätze ins Nichts. Versuch über den Schrecken. Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke, 1995.

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2.4.5

Die offenbare Religion und die Figur der Selbstentäußerung des Ich Ausgangspunkt der offenbaren Religion ist das Wissen des unglücklichen Bewusstseins, welche Bewandtnis es mit „dem wirklichen Gelten der abstrakten Person [. . .] hat“. Das unglückliche Bewusstsein ist daher das Bewusstsein des Verlusts aller Wesenheit in dieser Gewissheit seiner und der Verlust eben dieses Wissens von sich – der Substanz wie des Selbsts; es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, dass Gott gestorben ist. (PhdG 547) Die Komödie entledigte sich aller substanziellen Momente. Darin ist sie die vollkommene Entäußerung der absoluten Substanz54 und die Wahrheit der bisherigen religiösen Stufen, die durch ein Zerbrechen substanzieller Gegenständlichkeit als möglicher Reflexionsebenen des Ichs gekennzeichnet waren. Das Selbst ist das absolute Wesen in dem Moment, in dem es sich endgültig von seiner Selbstdarstellung befreit hat. Die damit einhergehende Verlusterfahrung wird im unglücklichen Bewusstsein deutlich. Sie stellt als Komplementierung und Weiterführung seiner substanziellen Entäußerung eine Entäußerung des Subjekts55 dar, welches sich – so Hegel – darin „zur Dingheit oder zum allgemeinen Selbst“ macht.56 In den bisherigen Gestalten wollte sich das Subjekt immer „rein“ an einem losgelösten Ort, den es nicht finden konnte, erhalten. Die Welt sollte einerseits seine Spiegelfläche sein, andererseits konnte sie das nicht, weil das Subjekt sich aus ihr herausnahm, auf einer abstrakten Singularität als Weltbegleiter beharrte, Negation des Gegenständlichen war. Kant geht im Paralogismuskapitel den großen Schritt in Richtung Zerstörung einer substanzhaft-gegenständlichen Ichkonzeption, den Hegel weiterführt. Das „Selbst“ ist weder gespenstischer Begleiter noch in der Form der Gegenständlichkeit, sondern als radikales Freilassen des Gegenständlichen/Anderen gesetzt oder wie Hegel sagt: „Entlassen aus der Form seines Selbsts“.57 Was dem Bewusstsein im Zerbrechen aller bisherigen substanziellen und selbstreflexiven Konzeptionen widerfährt, ist eine neue Erfahrung des Sinnlichen. Das phänomenale Ich zeigt sich, befreit von allen reflexiven Kleidern, in denen es bisher konzipiert wurde, in neuer Unmittelbarkeit, in der radikalen Kontingenz eines „positive­n 54 Vgl. Hegel, PhdG, 547. 55 Vgl. Hegel, PhdG, 547. 56 Hegel, PhdG, 549. 57 Hegel, PhdG, 590 (Absolutes Wissen, Absatz 20).

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Selbsts“, es ist gestellt in ein „unmittelbares gegenwärtiges Dasein“ und „erkennt den Gott in ihm“.58 Hegel bringt dieses Geschehen in den zentralen Satz: „Das Niedrigste ist also zugleich das Höchste.“59 Die Unmittelbarkeit einer Sinnlichkeit – im Sinne eines Geschehen-Lassens und nicht einer vereinnahmenden Wahrnehmungsweise60 –, die nicht mehr unter den abstrakt-allgemeinen Kategorien eines „Hier“ und „Jetzt“ steht wie die sinnliche Gewissheit, ist die Vollendung des Begriffs, die Vermittlung von phänomenalem und noumenalem Ich, von Substanz und Subjekt, von Mensch und absolutem Geist. Wie Hegels Gang der Logik ein Schluss vom Sein hin zum Begriff ist, der umgekehrt einen Entschluss des Begriffes zum Sein bedeutet, ist die PhdG ein Gang von der sinnlichen Gewissheit zum absoluten Wissen, der die Gegenbewegung hin zur sinnlichen Gewissheit nicht nur als erster, sondern auch als letzter Stufe entspricht. In der Reflexion des Kreuzesgeschehens vertieft Hegel diesen Gedanken: Das Aufheben „seiner [d.h. des göttlichen Mittlers] Gegenständlichkeit oder seines besonderen Fürsichseins“61 ist, so kann man in Anknüpfung an den eingangs erwähnten letzten Schluss der Enzyklopädie festhalten, der Weg zur ­„wirkliche[n] Gegenwärtigkeit des an und für sich seienden Geistes als des allgemeinen“. Wie ist dies zu verstehen? Mit dem Tod des Mittlers stirbt die Abstraktion des göttlichen Wesens, verbunden mit einem letzten substanziellen Verlust,62 aus dem die Begeistung, wodurch die Substanz Subjekt ist, erwächst.63 Dies insofern, als in der Negativität des Kreuzes Kantisch gesprochen ein Moment der Erhabenheit auftritt, Hegelisch gesprochen das Absolute nur mehr als ein sich von sich selbst absolvierendes Wissen auftritt. Die christliche Gemeinde versucht das Skandalon des Kreuzes noch einmal zu distanzieren in ein vergangenes (historischer Jesus) bzw. zukünftiges (kommender Messias) objektivierbares Geschehen. Der entscheidende Punkt besteht aber darin, dass die Sinnlichkeit in diesem Geschehen einen so massiven Überschuss gewinnt (man denke an die Ausführungen zur ästhetischen Idee in Kants

58 Hegel, PhdG, 551. 59 Hegel, PhdG, 553f. 60 Man könnte vermuten, dass Hegels Wahrnehmungsweise jene nicht unmittelbar religiös konnotierte Mystik zum Ausdruck bringt, die von Denkern wie Dworkins gesucht wird. Vgl. Ronald Dworkin, Religion ohne Gott. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2014 (2013). 61 Hegel, PhdG, 571. 62 Vgl. PhdG, 572. 63  Vgl. dazu auch Franco Chiereghin, La fenomenologia dello spirito di Hegel. Roma: Carocci, 2011.

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KdU64), dass es nicht mehr reflexiv bewältigbar ist. Hegels Paradoxien sind in der Weise zu lesen, dass das Absolute auf einen gekreuzigten, „überpräsenten“ Körper verweist und dieser in seiner Über-Präsenz Zeigestab des Absoluten ist. Brachte der erste Teil der PhdG ein Scheitern aller positiven Konzeptionen des Selbsts, so bringt der zweite Teil (Religionskapitel) ein Scheitern von dessen negativer Darstellung. Was bleibt, ist ein nicht festzuhaltender Übergang von Substanz und Subjekt, von phänomenalem und noumenalem Ich, von Subjektivierung und Entsubjektivierung, von aktivem Handeln und widerfahrender Passivität, ein nichturteilendes Freilassen des Anderen, welches nicht mehr abstrakt distanzierbar ist, sondern in die Art und Weise unseres Sehens einzugehen hat. 3 Résumé Das Individuum ist für Hegel ausdrückbar, allerdings nicht unmittelbar, auch nicht in moralischen Kategorien, so wichtig diese sind, sondern nur über den Umweg einer Selbstaufhebung, eines Sich-Öffnen-Lassens für eine Sicht, die nicht mehr von einem „Ich denke“ oder „Ich handle“ ausgeht. Dies führt Hegel nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Kant auf die Spuren der KdU. Denn, so seine Überzeugung, dem moralischen Urteil muss eine Sichtweise vorgeschaltet bleiben, die der Kontingenz des Subjekts gerecht wird, eine Sichtweise, die im Niedrigsten, also in der Verletzbarkeit, Sterblichkeit, Hinfälligkeit das Höchste zu erkennen vermag als Bedingung der Möglichkeit praktischer Vernunft und ihrer Imperative. Literatur Agamben, Giorgio (2009) Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt: Suhrkamp. Aristoteles, Metaphysik Buch IV. Auinger, Thomas (2003) Das absolute Wissen als Ort der Ver-Einigung. Zur absoluten Wissensdimension des Gewissens und der Religion in Hegels Phänomenologie des Geistes. Würzburg: Königshausen & Neumann.

64 „Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“ (Kant, KdU, 192f.).

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Auinger, Thomas (2008) Substanz und Begriff – Zu Hegels Begriffsbestimmung des Begriffs an Hand der Kategorie der Substanz. In: Holger Gutschmidt / Antonella Lang-Balestra / Gianluigi Segalerba (Hgs.), Substantia – Sic et non. Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen, Heusenstamm: Ontos Verlag, 2008. Bahr, Hans-Dieter (1995) Sätze ins Nichts. Versuch über den Schrecken. Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke. Chiereghin, Franco (2011) La fenomenologia dello spirito di Hegel. Roma: Carocci. Dworkin, Ronald (2013) Religion ohne Gott. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2014. Frank, Manfred / Zanetti, Véronique (Hg.)(2001) Schriften zur Ästhetik und Naturphi­ losophie. Text und Kommentar: Bd. 3: Kommentar. Frankfurt: Suhrkamp. Hegel, G.W.F. (1986) Werke 1–20 (stw 601–620). Werke 3: Phänomenologie des Geistes. Hg. von Eva Moldenhauer / Karl M. Michel. Frankfurt: Suhrkamp. ——— Idem. Werke 5–6: Wissenschaft der Logik. Frankfurt: Suhrkamp Verlag. ——— Idem. Werke 8–10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp Verlag. Heimsoeth, Heinz (1966–1971) Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Berlin/New York: de Gruyter. Kant, Immanuel (1900 ff.) Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: De Gruyter. Langthaler, Rudolf (2014) Geschichte, Religion und Ethik im Anschluss an Kant: Philosophische Perspektiven „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“. Berlin: de Gruyter, 2014. Liebrucks, Bruno (1966) Wege zum Bewußtsein. Sprache und Dialektik in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen. In: Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein: Bd. 3. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft, 1966. ——— (1970) Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein: Bd. 5. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft, 1970. ——— (1974) Der menschliche Begriff. Sprachliche Genesis der Logik. Logische Genesis der Sprache. In: Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein: Bd.6: Hegel: Wissenschaft der Logik (drei Teilbände), Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft, 1974. Pöggeler, Otto (1973) Die Komposition der Phänomenologie des Geistes. In: Hans F. Fulda und Dieter Henrich (Hg.) Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt: Suhrkamp, 1973. Prestel, Andrés (1998) Die Verstellungen der Kantischen Moralität. Wien: facultas wuv universitätsverlag.

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Index Achtung 14, 15, 18, 32, 36, 38–41, 66, 77, 102, 108, 117, 130, 150, 161, 163–165, 213 Akt/Aktunion/Aktaspekt 42, 75, 94–98, 119, 134, 175, 234 / 99, 100, 103, 107, 113 allmächtig 129, 132–135, 145 allverpflichtend 42, 130, 131, 133–135, 145–147, 151 allwissend 134, 151 Analogie 3, 10, 96, 100, 103, 106, 116, 120, 121, 139–149, 151, 235 Andere, der (im Gewissen) 148, 149 / 134 / 36, 69, 92 / 89, 90, 96, 97, 123–128 Angeklagter 36, 43, 65, 84, 88, 89, 97, 102, 115, 121, 122, 125, 127–130 Ankläger/Anklage 36, 84, 88, 96, 97, 102, 121, 122 Anschauung 9, 10, 123, 126, 137, 138, 142, 143, 155, 156, 158, 159, 161, 163, 164, 166, 167, 169, 173, 184, 216, 236 Autonomie 1–4, 12–14, 29, 36, 38, 41, 43, 46, 48, 51, 52, 55–59, 61, 71, 73, 75, 84, 88, 89, 95, 98, 99, 112, 130, 131, 134, 158, 165, 166, 185, 209, 212 Behutsamkeit 57, 60, 117–119, 130, 134 Beisichselbstsein 177, 179, 185 Bewusstsein 3, 26, 36–38, 40, 48, 51, 56, 57, 61, 64, 66, 112, 119, 155, 161, 163, 166, 167, 221, 223, 225, 228, 230, 235, 237, 238, 242 Böses, radikales 85–88, 102, 103 Crusius, Christian August 66–68, 71, 74, 81, 181, 187 Deontologie 17–19, 21 Endzweck 6, 74, 148, 154, 156, 165, 167, 215, 226, 230 Erkenntnis, praktische 136, 137, 148 Ethik 5, 8, 9, 15–18, 20–22, 41, 45, 46, 56, 64, 65, 71, 72, 78, 82, 83, 152, 174, 179, 188, 226, 242 ethisch 8, 9, 12, 14–22, 45, 221, 226 Existenz (Gottes) 85, 99, 110, 115, 131, 133, 135, 149, 151 Externalisierung 85, 99, 107

Freiheit 1–10, 14, 17, 24–27, 29–33, 37, 38, 40, 42–52, 54–62, 65, 67, 70, 71, 73–80, 82, 113, 137, 138, 150, 151, 154, 156–188, 208–218, 222, 225, 227, 229, 230, 233, b236, 238 Freiheit, kosmologische 173, 174, 180 Freiheit, moralische 159, 160, 173 Freiheit, praktische 1–3, 51, 52, 55, 56, 59, 61, 113, 181, Freiheit, transzendentale 33, 56 Gebot 28, 41, 75, 100, 163, 209, 213, 233 Geheiß 84, 92, 93, 95–98, 121, 122 Geist 7, 49, 59, 62, 67, 74, 86, 87, 128, 163, 169–172, 176–179, 186, 187, 209–212, 215, 217–223, 228, 235, 237, 238, 240–243 Geist, absoluter 86, 209, 217, 218, 235 Geist, freier 186, 171 Geist, objektiver 86 Gemeinschaft 5, 8, 9, 11, 13–15, 17–21, 23 Gemüt 40, 41, 96, 100 Gemütsanlagen 116, 133, 134, 149 Gerichtshof, innerer 3, 5, 42, 47, 49, 51, 53, 55, 57–59, 61, 79, 81, 84 / 4, 50, 86 / 34, 36, 42, 43, 50, 56, 63, 80, 84 / 36, 65, 84 / 5, 6, 61, 63, 65, 122 Geschäft des Gewissens 89, 92–94, 96, 97, 121, 122 Gesetzgeber 98, 106, 130, 139–147, 151, 156 Gesetzgebung 81, 125, 134, 156–162, 164–166, 168, 173, 175 Gewissen 3–6, 11, 24, 34–36, 42–44, 47, 50, 56–59, 61, 63–71, 75, 79, 80, 82–89, 92–100, 102–108, 111–113, 115–125, 127–136, 138, 140–151, 154, 166–168, 215–217, 129, 233, 235 gewissenhaft 42, 64, 70, 166 Gewissenhaftigkeit 43, 61, 63, 69, 106, 111, 113, 139–142, 145, 146 Gewissenspein 102–104 Gewissensrichter 122, 123, 125, 127–133, 135, 138, 143, 144, 146, 147, 149–151 Glückseligkeit 20, 37, 49, 60, 66, 69, 77, 103, 164, 166, 168, 214–216 Gott 4, 6, 42, 49, 50, 57, 65–67, 69, 72, 75, 77, 80, 84–86, 88, 90–95, 97–101, 103–113, 115, 116, 123, 124, 126, 127, 129–133, 135,

246 Gott (cont.) 136, 138–142, 144–152, 163–166, 168, 204, 210, 224, 225, 230, 234, 236, 239–241 Gottesbeweis 6, 50, 115, 116, 133, 135, 136, 138, 139, 142, 147, 148, 151 Grenzbegriff 157, 158, 160, 162, 167, 168 Grundgesetz (der intelligiblen Welt) 1, 29, 34, 55, 56, 60 Hegel, G.W.F. 5–7, 22, 45, 48–50, 56, 59–62, 85–88, 92, 99, 106, 107, 113, 149, 158, 163, 164, 169–172, 174, 176–184, 186–199, 203, 205, 206, 208–224, 226–230, 232, 243 Herzenskundiger 124, 129 Ideal 16, 57, 78, 136, 149, 218, 224 Idee 6, 36, 37, 49, 55, 63, 76, 79, 82, 101, 107, 109, 116, 124, 127, 133, 135, 136, 138–142, 144, 146, 147, 150, 172, 176, 178, 179, 182, 183, 185, 186, 215, 224, 231, 240, 241 Imperativ, kategorischer 45, 59, 63, 69, 71, 73, 79, 82, 208, 209, 211, 212, 216, 218, 227 Kant, Immanuel 1–11, 16–18, 21, 22, 24, 28–46, 48, 50–58, 60, 62–65, 67–82, 84, 85, 87–92, 94–117, 119–138, 141, 142, 144–156, 158–166, 168–170, 172–177, 179–181, 183, 184, 187–212, 215–219, 221, 224–228, 230–233, 235, 236, 238, 239, 241, 242 katholisch 88 Kritik 2, 3, 9, 10, 33, 34, 51, 53, 55, 58, 60, 63, 65, 71, 73, 76, 79, 82, 84, 107, 115, 130, 133, 136, 154–156, 158, 160, 162–165, 169, 173–175, 177, 180, 184, 188, 208, 216, 218, 219, 225, 229, 232, 242 Kritizismus 170, 171 Luther/lutherisch 85, 87 Mensch 2, 4, 6, 30, 37, 43, 47, 49–51, 56, 65–72, 76, 77, 84–87, 89–95, 98, 99, 102, 104, 106, 108, 110–113, 116–122, 124, 125, 133, 134, 136, 139, 141, 142, 145, 146, 150, 154, 155, 159, 163, 165, 169, 170, 208, 210, 223, 226, 227, 240 Menschheit 21, 37, 77, 78, 90, 94, 95, 99, 101, 103, 104, 109, 114, 208, 209, 227 homo noumenon 65, 90, 125–127

Index Metaphysik 1–4, 9, 10, 16, 22, 30, 32, 40, 44, 49, 50, 51, 55, 62, 63, 70, 71, 77, 81, 82, 84, 89, 106, 109, 115, 128, 137, 152, 155, 158, 169, 171, 173, 177, 178, 181, 182, 187, 188, 208, 209, 218, 222, 223, 225, 226, 241 Natur 6, 26, 30, 33, 35, 37, 44, 65–69, 72, 74, 75, 142, 155, 156, 159, 163–168, 170, 172, 174, 175, 178, 179, 181, 186, 209, 210, 212, 214–217, 221, 222, 224, 229, 230, 232, 236 Naturkausalität 180 Notwendigkeit 43, 65, 70, 71, 74, 79, 82, 97, 102, 103, 121, 133, 179, 181–183, 185, 224 Noumenon 65, 90, 125–127, 137, 154, 159, 161, 162, 226, 227 Opus Postumum 85, 106–109, 111, 112, 115, 196, 204, 206, 230 Person 1–5, 7, 8, 14, 15, 17–21, 28, 35, 36, 39–43, 49, 59–62, 64, 65, 68–70, 78, 84, 88–90, 92, 96, 97, 100, 101, 103, 105, 110, 116, 120–128, 130, 131, 133, 135, 136, 143, 144, 146, 148, 149, 151, 152, 162, 163, 166, 168, 208–214, 225, 226, 239 Person, wirkliche 90, 125–127 idealische 42, 59, 89, 90, 121–128, 151 Persönlichkeit 4, 9, 12, 22, 41, 49, 58, 60, 61, 65, 125, 161, 162, 167, 209 Pflicht 6, 9, 18–21, 27, 28, 32, 35–39, 41, 43, 57–61, 63, 65–75, 82, 84, 101, 106, 116, 118, 119, 121, 128, 130, 131, 134, 138, 142, 139, 144–151, 154, 161, 163–165, 168, 215, 229 Postulat(e) 68, 90, 101, 105, 106, 108, 109, 111, 112, 155, 161, 163–165, 216, 217, 229, 230 Recht 42, 77, 78, 110, 209, 213, 214 recht und unrecht 3, 41–43, 58, 68, 70, 71, 97, 117–119, 130 Religion 6, 7, 68, 86, 99, 106, 109, 111, 112, 139, 146, 155, 168, 222–224, 226, 238–243 Religionspflicht 130, 131, 140, 144–149 Richter 3, 6, 30, 36, 59, 61, 65, 69, 84, 88–90, 92, 93, 95–97, 102–105, 115, 116, 119–122, 125, 127, 128, 131, 132, 140, 141, 145–150 Schöpfung 6, 39, 88, 105, 154, 155, 156, 163–167, 230 Schöpfungsakt 166, 167

Index Selbstbestimmung 2, 4–6, 8, 9, 11–15, 17–21, 29, 38, 42, 43, 49, 53–56, 58, 59, 61, 75, 156, 157, 160–162, 164, 165, 168, 172, 173, 177, 179, 185 Selbstbewusstsein 8–13, 17, 20–22, 101, 104, 158, 162, 184, 211–215, 222, 223, 228, 229, 233, 235, 237 Selbstverhältnis 12, 99, 101, 107, 186 Selbstverpflichtung 6, 43, 47, 54–59, 61, 134, 142 Sittengesetz 1, 9, 10, 16, 21, 28, 32, 34, 35, 37, 39–42, 55, 56, 58, 60, 80–82, 101, 102, 151, 174 Sittlichkeit, sittlich 5, 8–23, 27, 28, 34, 37, 38, 43, 44, 49, 76, 160, 161, 174, 215, 228, 230, 233, 235, 236 Smith, Adam 6, 63, 64, 68, 69, 83 Spontankausalität 180–182 Stimme der Vernunft 34 Substanz 112, 113, 177, 179–183, 185, 186, 188, 220–223, 225, 230, 233, 235, 239–242 Sünde/Sünder 99, 102 Teleologie 6, 49, 164, 165, 226, 230, 231 Tugend 19–21, 66, 72, 77 Tugendlehre 4, 6, 18, 19, 21, 57, 58, 63, 65, 70, 81, 84, 85, 88, 89, 107, 108, 110–113, 115, 116, 120, 126, 128, 129, 134, 139, 142, 151, 152

247 Urteilskraft 4, 5, 28, 35, 36, 42, 54, 55, 57, 60, 115, 117–119, 134, 152, 155, 164–166, 169, 173, 175, 219, 224, 230–232, 236 Verbindlichkeit 6, 50, 51, 55, 57, 58, 61, 63, 66, 70–75, 78, 82, 131, 150, 153, 175 Vernunft, Einheit der 176 Vernunft, Faktum der 1, 2, 10, 22, 37, 44, 55, 56, 161 Vernunft, praktische 2, 3, 9, 10, 22, 32, 40–42, 54, 57, 58, 63, 64, 70, 75, 79, 89, 93, 94, 101, 106, 107, 115, 118, 119, 130, 134, 136, 140–145, 148, 150, 154, 155, 163, 170, 171, 173, 175, 188, 208, 226, 230, 241 Vernunft, Primat der praktischen 171 Vernunft, reine 36, 54, 55, 63, 64, 72, 73, 75, 79, 89, 105, 154, 173, 175 Vernunft, theoretische 87, 150, 154–156, 162, 168, 173 Vernunft, Triebfeder der 161 Welt, intelligible 1, 11, 9, 34, 37, 55, 56, 60, 158, 159, 161, 176 Wolff, Christian 6, 63–68, 70–74