Diskurshandlungen: Theorie und Methode linguistischer Diskursanalyse am Beispiel der Bioethikdebatte 9783110258813, 9783110258806

This work examines discourse analysis in terms of its theory and methodology and their empirical implementation. The lin

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Diskurshandlungen: Theorie und Methode linguistischer Diskursanalyse am Beispiel der Bioethikdebatte
 9783110258813, 9783110258806

Table of contents :
Siglenverzeichnis
Verzeichnis der Übersichten
Vorwort
Einleitung
I Theorie
1 Sprachtheoretische Verortung
1.1 Vorbemerkungen
1.2 Sprache und Wirklichkeit: Wilhelm von Humboldt
1.3 Sprechen als Tätigkeit: Karl Bühler und Valentin Vološinov
1.3.1 Karl Bühler
1.3.2 Valentin N. Vološinov
1.4 Sprachgebrauch und Sprachhandeln: Ludwig Wittgenstein
1.5 Systematisierungskonzepte von Sprechhandlungen: Austin, Searle und Grice
1.5.1 John L. Austin
1.5.2 John Searle
1.5.3 Paul Grice
1.6 Das sprachliche Zeichen im Kontext der Pragmalinguistik
1.6.1 Die Sozialität des sprachlichen Zeichens: Ferdinand de Saussure
1.6.2 Die Semiose des sprachlichen Zeichens: Charles W. Morris
1.6.3 Form, Funktion und Verwendung des sprachlichen Zeichens: Karl Bühler
1.6.4 Abschließende Bemerkungen zum Zeichenbegriff
1.7 Zusammenfassung
2 Zur Explikation eines linguistischen Diskursbegriffes
2.1 Vorbemerkungen
2.2 Die Diskurstheorie Michel Foucaults
2.2.1 Vorbemerkungen
2.2.2 Diskurs und Wissen
2.2.3 Diskurs und Macht
2.2.4 Diskurs und Subjekt
2.2.5 Foucaults Sprach- und Zeichenbegriff
2.2.6 Abschließende Bemerkungen
2.3 Kriterien eines Linguistischen Diskursbegriffes
2.3.1 Linguistische Diskursbegriffe im Anschluss an Foucault
2.3.2 Foucault: Übernahmen, Modifi kationen und Abgrenzungen
2.3.3 Merkmale eines linguistischen Diskursbegriffes
2.3.3.1 Serialität, Prozessualität, Sukzessivität und Diskursivität thematischer Textverbünde
2.3.3.2 Intertextualität und Dialogizität als sprachliche Realisation von Diskursivität
2.3.3.3 Gesellschaftlichkeit und soziale Praxis als Merkmale von Diskursen
2.3.3.4 Öffentlichkeit und Massenmedialität als Bedingungen von Diskursen
2.3.4 Diskurs und Text – Anmerkungen zum Textbegriff
2.3.4.1 Textualität
2.3.4.2 Prototypentheorie
2.3.4.3 Text als Prototyp
2.3.4.4 Anmerkungen zur Vereinbarkeit von pragmatischen und poststrukturalistischen Grundannahmen hinsichtlich des Textbegriffes
2.3.5 Das kommunikative Handlungsmodell als Fundierung des linguistischen Diskursbegriffes
2.3.5.1 Die Kontextfaktoren
2.3.5.2 Faktoren der Emittentenseite: Intention und Strategie
2.3.5.3 Faktoren der Rezipientenseite: Verständnis und Konsequenz
2.4 Sprache und Politik im Kontext der Diskurslinguistik
2.4.1 Sprachliches Handeln in der Politik
2.4.2 Der Kommunikationsbereich Politik
2.4.2.1 Merkmale politischer Kommunikation
2.4.2.2 Handlungsfelder und Sprachfunktionen des Kommunikationsbereichs Politik
2.4.3 Öffentlich-politische Kommunikation und wertendes Sprechen
2.4.4 Resümee: Diskurs und Politolinguistik
2.5 Aufgaben und Ziele einer Diskurslinguistik
II Methode
3 Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode
3.1 Methodologische Überlegungen und methodische Ausrichtung: Diskursanalyse als Mehrebenenanalyse
3.1.1 Zur Makroebene des Diskurses
3.1.2 Zur Mikroebene des Diskurses: Der Einzeltext und seine Dimensionen
3.1.2.1 Situationalität und Kontextualität
3.1.2.2 Funktionalität
3.1.2.3 Thematizität
3.1.2.4 Strukturalität und sprachliche Gestalt
3.1.3 Zur diskursanalytischen Erweiterung des Analysemodells
3.2 Analyseansätze
3.2.1 Die lexikalische Ebene: Analyse semantischer Kämpfe
3.2.2 Die metaphorische Ebene: Metaphernanalyse
3.2.3 Die argumentative Ebene: Argumentationstoposanalyse
3.2.4 Die diskursive Ebene: Das Isotopiekonzept als Möglichkeit der Erfassung diskursiver Strukturen
III Anwendung
4 Analyse des öffentlich-politischen Bioethikdiskurses um humane embryonale Stammzellforschung
4.1 Zur Makroebene des Diskurses
4.1.1 Ausgangspunkt: Gegenstand und Diskursdimensionen
4.1.1.1 Sachstand
4.1.1.2 Die rechtliche Situation
4.1.1.3 Die ethische Konfl iktlage
4.1.1.4 Diskursstrukturierende und diskursive Ereignisse
4.1.1.5 Diskursverschränkungen, Diskursakteure und Kommunikationsbereiche
4.1.2 Das Textkorpus zum Bioethikdiskurs um Stammzellforschung
4.1.2.1 Printmedien als Ermöglichungsbedingung von Diskursen
4.1.2.2 Medienspezifi ka und Diskursverlauf
4.1.2.3 Textsortenspektrum
4.1.3 Ausblick und Perspektiven des Diskurses
4.2 Die lexikalische Ebene: Meinungskämpfe als semantische Kämpfe. Denotative und evaluative Bedeutungsund Nominationskonkurrenzen
4.2.1 Vorbemerkungen
4.2.2 Der Embryo als umstrittenes Objekt
4.2.3 Zur semantischen Vagheit von Leben und Lebensbeginn
4.2.4 Menschenwürde von Anfang an? Die semantische Vagheit von Menschenwürde
4.2.5 Die Stammzelle als Potenzial, Tausendsassa oder Wunderwaffe. Nominationspraktiken und der Streit um denotative Bedeutungsaspekte
4.2.6 Segen oder Verderben? Zu Bedeutungs- und Nominationskonkurrenzen der lexikalischen Einheit Therapeutisches Klonen
4.2.7 Zusammenfassung
4.3 Die metaphorische Ebene: Diskurskonstitution durch Metaphorik
4.3.1 Vorbemerkungen
4.3.2 Von Hindernissen, Fortschritt und Labyrinthen: WEG-METAPHORIK
4.3.3 Von festen und veränderlichen Grenzen: Zur Semantik der GRENZ-METAPHORIK
4.3.3.1 Das allgemeine Konzept der GRENZ-METAPHORIK
4.3.3.2 DIE RUBIKON-METAPHER als besondere Ausprägung der GRENZ-METAPHORIK
4.3.4 Rohstoffe, Ersatzteile und Herstellungsprozesse: INDUSTRIE- und WAREN-METAPHORIK
4.3.5 Wenn Forschung zum Dammbruch wird: NATURKATASTROPHEN-METAPHORIK
4.3.6 Zwischen Stabilität und Dynamik: GEBÄUDE- und BAUWERK-METAPHORIK
4.3.7 Der Kampf um Gebiete, Objekte und Embryonen: KRIEGS-METAPHORIK
4.3.8 Ausgleichen und Abwägen, WERTE ALS GEWICHTE: BALANCE-METAPHORIK
4.3.9 Zusammenfassung
4.4 Argumentationsmuster im Diskurs: Zwischen der Orientierung am Nutzen und der Orientierung an Prinzipien und Pfl ichten
4.4.1 Hauptargumentationslinien des Diskurses
4.4.2 Zentrale Positionen im Kontext der Diskussion um den moralischen Status von Embryonen
4.4.3 Zentrale Topoi des Diskurses
4.4.3.1 Der Gefahren-Topos
4.4.3.2 Der Dringlichkeits-Topos
4.4.3.3 Nützlichkeitstopoi I: Die Topoi vom medizinischen Nutzen
4.4.3.4 Nützlichkeitstopoi II: Die Topoi vom ökonomischen Nutzen
4.4.3.5 Der Topos der Alternative
4.4.3.6 Der Realitäts-Topos
4.4.3.7 Der Entwicklungs-Topos/Automatismus-Topos
4.4.3.8 Der Abwägungs-Topos
4.4.3.9 Prinzipientopoi
4.4.3.10 Der Rechts- und Gesetzes-Topos
4.4.3.11 Der Differenz-Topos
4.4.3.12 Der Widerspruchs-Topos
4.4.3.13 Die SKIP-Topoi: Spezies-, Kontinuitäts-, Identitätsund Potenzialitäts-Topos
4.4.4 Zur funktionalen Differenzierung der Argumentationsmuster
4.4.4.1 AUFBAUEN VON BEDROHUNGSSZENARIEN: Krankheit vs. Zerstörung der Werteordnung
4.4.4.2 SCHAFFEN VON AUSWEGEN: ES-Forschung als Krankheitsbekämpfung vs. Verzicht auf Forschung unter Bezug auf Prinzipien
4.4.4.3 BETONEN VON VERANTWORTUNG: Krankheitsbekämpfung vs. absoluter Menschenwürdeschutz
4.4.4.4 HERAUFBESCHWÖREN VON HANDLUNGSZWÄNGEN: Wir haben keine Wahl
4.4.5 Die ethische Differenzierung der Argumentationsmuster: Die diskursiven Grundfi guren des Nutzens und des vorgängigen moralischen Prinzips als weltanschauliche Voraussetzungen und handlungsleitende Kategorien
4.4.5.1 Konsequenzialistische Ethik: Der Utilitarismus
4.4.5.2 Deontologische Ethik: Die Kantische Pfl ichtenethik
4.4.6 Zusammenfassung
5 Schluss
5.1 Zum Konzept linguistischer Diskursanalyse
5.1.1 Zur handlungstheoretischen Begründung
5.1.2 Zur methodischen Begründung
5.2 Die diskursive Vernetzung der sprachlichen Ereignisse: Isotopien und semantische Grundfi guren
5.3 Linguistische Diskursanalyse als Kulturanalyse
5.4 Ausblick
Quellen- und Literaturverzeichnis
A Verzeichnis der Mediendokumente
B Wörterbücher und Lexika
C Quellen aus dem Internet
D Sekundärliteratur

Citation preview

Constanze Spieß Diskurshandlungen

Sprache und Wissen Herausgegeben von

Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat

Markus Hundt · Wolf-Andreas Liebert Thomas Spranz-Fogasy · Berbeli Wanning Ingo H. Warnke · Martin Wengeler 7

De Gruyter

Constanze Spieß

Diskurshandlungen Theorie und Methode linguistischer Diskursanalyse am Beispiel der Bioethikdebatte

De Gruyter

Für Cosima und Magdalena

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Spiess, Constanze. Diskurshandlungen : Theorie und Methode linguistischer Diskursanalyse am Beispiel der Bioethikdebatte / by Constanze Spiess. p. cm. -- (Sprache und Wissen ; 7) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-025880-6 (alk. paper) 1. Discourse analysis--Germany. 2. German language--Discourse analysis. 3. Discourse ethics. 4. Bioethics. 5. Embryonic stem cells--Moral and ethical aspects. I. Title. P302.15.G3S65 2011 401‘.41--dc23 2011022911

ISBN 978-3-11-025880-6 e-ISBN 978-3-11-025881-3 ISSN 1612-443X

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Bildnachweis (Umschlag): Christopher Schneider, Laufen

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Verzeichnis der Übersichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I

Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 Sprachtheoretische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Sprache und Wirklichkeit: Wilhelm von Humboldt . . . . . . . . . . 1.3 Sprechen als Tätigkeit: Karl Bühler und Valentin Vološinov . . . 1.3.1 Karl Bühler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Valentin N. Vološinov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Sprachgebrauch und Sprachhandeln: Ludwig Wittgenstein. . . . . 1.5 Systematisierungskonzepte von Sprechhandlungen: Austin, Searle und Grice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 John L. Austin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 John Searle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Paul Grice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Das sprachliche Zeichen im Kontext der Pragmalinguistik . . . . 1.6.1 Die Sozialität des sprachlichen Zeichens: Ferdinand de Saussure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Die Semiose des sprachlichen Zeichens: Charles W. Morris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3 Form, Funktion und Verwendung des sprachlichen Zeichens: Karl Bühler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.4 Abschließende Bemerkungen zum Zeichenbegriff . . . . . 1.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 14 21 22 28 33 41 43 46 50 56 56 60 65 70 70

2 Zur Explikation eines linguistischen Diskursbegriffes . . . . . . . . . . . . . 73 2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.2 Die Diskurstheorie Michel Foucaults . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

VI

Inhaltsverzeichnis

2.2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Diskurs und Wissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Diskurs und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Diskurs und Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Foucaults Sprach- und Zeichenbegriff . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kriterien eines Linguistischen Diskursbegriffes . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Linguistische Diskursbegriffe im Anschluss an Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Foucault: Übernahmen, Modifikationen und Abgrenzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Merkmale eines linguistischen Diskursbegriffes . . . . . 2.3.3.1 Serialität, Prozessualität, Sukzessivität und Diskursivität thematischer Textverbünde . . . . . . . . 2.3.3.2 Intertextualität und Dialogizität als sprachliche Realisation von Diskursivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.3 Gesellschaftlichkeit und soziale Praxis als Merkmale von Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.4 Öffentlichkeit und Massenmedialität als Bedingungen von Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Diskurs und Text – Anmerkungen zum Textbegriff . . 2.3.4.1 Textualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.2 Prototypentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.3 Text als Prototyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4.4 Anmerkungen zur Vereinbarkeit von pragmatischen und poststrukturalistischen Grundannahmen hinsichtlich des Textbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Das kommunikative Handlungsmodell als Fundierung des linguistischen Diskursbegriffes . . . 2.3.5.1 Die Kontextfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5.2 Faktoren der Emittentenseite: Intention und Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5.3 Faktoren der Rezipientenseite: Verständnis und Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Sprache und Politik im Kontext der Diskurslinguistik . . . . . . . 2.4.1 Sprachliches Handeln in der Politik . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Der Kommunikationsbereich Politik . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Merkmale politischer Kommunikation . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2 Handlungsfelder und Sprachfunktionen des Kommunikationsbereichs Politik . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Öffentlich-politische Kommunikation und wertendes Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 80 89 92 96 99 100 100 108 110 112 115 125 128 135 135 138 140

141 143 147 152 153 155 155 158 158 167 175

Inhaltsverzeichnis

VII

2.4.4 Resümee: Diskurs und Politolinguistik . . . . . . . . . . . . 178 2.5 Aufgaben und Ziele einer Diskurslinguistik . . . . . . . . . . . . . . . 179

II Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3 Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode . . . . . . . 3.1 Methodologische Überlegungen und methodische Ausrichtung: Diskursanalyse als Mehrebenenanalyse. . . . . . . . . 3.1.1 Zur Makroebene des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Zur Mikroebene des Diskurses: Der Einzeltext und seine Dimensionen . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Situationalität und Kontextualität . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Funktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3 Thematizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4 Strukturalität und sprachliche Gestalt . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Zur diskursanalytischen Erweiterung des Analysemodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Analyseansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die lexikalische Ebene: Analyse semantischer Kämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die metaphorische Ebene: Metaphernanalyse . . . . . . . 3.2.3 Die argumentative Ebene: Argumentationstoposanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die diskursive Ebene: Das Isotopiekonzept als Möglichkeit der Erfassung diskursiver Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185 185 186 187 187 189 190 192 193 195 195 204 214

220

III Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4 Analyse des öffentlich-politischen Bioethikdiskurses um humane embryonale Stammzellforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zur Makroebene des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Ausgangspunkt: Gegenstand und Diskursdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.1 Sachstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Die rechtliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.3 Die ethische Konfliktlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.4 Diskursstrukturierende und diskursive Ereignisse . . . . 4.1.1.5 Diskursverschränkungen, Diskursakteure und Kommunikationsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225 225 225 231 235 238 242 248

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Inhaltsverzeichnis

4.1.2

Das Textkorpus zum Bioethikdiskurs um Stammzellforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.1 Printmedien als Ermöglichungsbedingung von Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.2 Medienspezifika und Diskursverlauf . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.3 Textsortenspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Ausblick und Perspektiven des Diskurses . . . . . . . . . . 4.2 Die lexikalische Ebene: Meinungskämpfe als semantische Kämpfe. Denotative und evaluative Bedeutungsund Nominationskonkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Der Embryo als umstrittenes Objekt . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Zur semantischen Vagheit von Leben und Lebensbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Menschenwürde von Anfang an? Die semantische Vagheit von Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Die Stammzelle als Potenzial, Tausendsassa oder Wunderwaffe. Nominationspraktiken und der Streit um denotative Bedeutungsaspekte . . . . 4.2.6 Segen oder Verderben? Zu Bedeutungs- und Nominationskonkurrenzen der lexikalischen Einheit Therapeutisches Klonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die metaphorische Ebene: Diskurskonstitution durch Metaphorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Von Hindernissen, Fortschritt und Labyrinthen: WEG-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Von festen und veränderlichen Grenzen: Zur Semantik der GRENZ-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1 Das allgemeine Konzept der GRENZ-METAPHORIK . . . . 4.3.3.2 DIE RUBIKON-METAPHER als besondere Ausprägung der GRENZ-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Rohstoffe, Ersatzteile und Herstellungsprozesse: INDUSTRIE- und WAREN-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Wenn Forschung zum Dammbruch wird: NATURKATASTROPHEN-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Zwischen Stabilität und Dynamik: GEBÄUDE- und BAUWERK-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . . 4.3.7 Der Kampf um Gebiete, Objekte und Embryonen: K RIEGS-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251 253 256 261 279

280 280 285 316 333

345

359 374 375 375 381 411 411 420 429 438 444 452

Inhaltsverzeichnis

IX

Ausgleichen und Abwägen, WERTE ALS GEWICHTE : BALANCE-METAPHORIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 4.3.9 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 4.4 Argumentationsmuster im Diskurs: Zwischen der Orientierung am Nutzen und der Orientierung an Prinzipien und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . 464 4.4.1 Hauptargumentationslinien des Diskurses. . . . . . . . . . 464 4.4.2 Zentrale Positionen im Kontext der Diskussion um den moralischen Status von Embryonen . . . . . . . 466 4.4.3 Zentrale Topoi des Diskurses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 4.4.3.1 Der Gefahren-Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 4.4.3.2 Der Dringlichkeits-Topos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 4.4.3.3 Nützlichkeitstopoi I: Die Topoi vom medizinischen Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 4.4.3.4 Nützlichkeitstopoi II: Die Topoi vom ökonomischen Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 4.4.3.5 Der Topos der Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 4.4.3.6 Der Realitäts-Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 4.4.3.7 Der Entwicklungs-Topos/Automatismus-Topos . . . . . 495 4.4.3.8 Der Abwägungs-Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 4.4.3.9 Prinzipientopoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 4.4.3.10 Der Rechts- und Gesetzes-Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 4.4.3.11 Der Differenz-Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 4.4.3.12 Der Widerspruchs-Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 4.4.3.13 Die SKIP-Topoi: Spezies-, Kontinuitäts-, Identitätsund Potenzialitäts-Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .517 4.4.4 Zur funktionalen Differenzierung der Argumentationsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 4.4.4.1 AUFBAUEN VON BEDROHUNGSSZENARIEN: Krankheit vs. Zerstörung der Werteordnung . . . . . . . . . 525 4.4.4.2 SCHAFFEN VON AUSWEGEN: ES-Forschung als Krankheitsbekämpfung vs. Verzicht auf Forschung unter Bezug auf Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 4.4.4.3 BETONEN VON VERANTWORTUNG : Krankheitsbekämpfung vs. absoluter Menschenwürdeschutz . . . . . . 527 4.4.4.4 HERAUFBESCHWÖREN VON H ANDLUNGSZWÄNGEN: Wir haben keine Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 4.4.5 Die ethische Differenzierung der Argumentationsmuster: Die diskursiven Grundfiguren des Nutzens und des vorgängigen moralischen Prinzips als weltanschauliche Voraussetzungen und handlungsleitende Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 4.3.8

X

Inhaltsverzeichnis

4.4.5.1 Konsequenzialistische Ethik: Der Utilitarismus . . . . . 533 4.4.5.2 Deontologische Ethik: Die Kantische Pflichtenethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 4.4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 5 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 5.1 Zum Konzept linguistischer Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . 540 5.1.1 Zur handlungstheoretischen Begründung . . . . . . . . . 541 5.1.2 Zur methodischen Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 5.2 Die diskursive Vernetzung der sprachlichen Ereignisse: Isotopien und semantische Grundfiguren . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 5.3 Linguistische Diskursanalyse als Kulturanalyse . . . . . . . . . . . . . 550 5.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .551

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A Verzeichnis der Mediendokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B Wörterbücher und Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C Quellen aus dem Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

553 553 553 554 554

Siglenverzeichnis AM

AS AW BD BT

CLG

DdM DFG DWB DWDS DGWDS ESchG FWB

GdE

Foucault, Michel (2005): Analytik der Macht. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt. Bühler, Karl (21976): Die Axiomatik der Sprachwissenschaft. Einleitung und Kommentar von Elisabeth Ströker, Frankfurt. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt. Bundestagsdebatte Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.) (2002): Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin. Zwei Bände. Band 1: Stammzellforschung und die Debatte des Deutschen Bundestages zum Import von menschlichen embryonalen Stammzellen. Band 2: Schlussbericht, Berlin. Saussure, Ferdinand de (32001): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Herausgegeben von Charles Bally und Albert Sechehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger. Übersetzt von Herman Lommel. Mit einem Nachwort von Peter Ernst, Berlin/New York. [frz. Titel: cours de linguistique generale] Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht, Berlin. Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. CD-Rom. Frankfurt 2001 Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jh. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. CD-Rom. Mannheim 2006 Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13. Dezember 1990, BGBI.I, 2746. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Robert R. Anderson [für Bd.1]/Goebel, Ulrich [alle Bde.]/Lobenstein-Reichmann, Anja [Bde. 5; 10; 11; 13]/Reichmann, Oskar [alle Bde.]. Bearb. v. Oskar Reichmann [Bde. 1; 2; 3; 11,1; demnächst Lief. 6,3ff.], Joachim Schildt [Bd. 4; Lief. 6,1; 6,2], Markus Denkler/Dagmar Hüpper/Oliver Pfefferkorn/Jürgen Macha/Hans-Joachim Solms [Bd. 5, bisher Lief. 1], Anja LobensteinReichmann [Lief. 7,1; 7,2; 9,1; 9,2], Winge, Vibeke [Lief. 8,1; 8,2], Berlin/New York. Foucault, Michel (21994b): Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten. Ein Interview mit Michel Foucault. In: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul (21994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault. Aus dem Amerikanischen von Claus Rath und Ulrich Raulff, Weinheim, 265-292.

XII GdL GMS

HI

H III

HV

HWPh KP KpV

KrV

KU MS

OdD ODis PG PU

SI SM

Siglenverzeichnis

Foucault, Michel (1989): Sexualität und Wahrheit II: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt. Kant, Immanuel (1998): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Band 4. Hrsg. Von Wilhelm Weischedel, Darmstadt. Humboldt, Wilhelm von (1960): Über den Geist der Menschheit. In: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Werke in fünf Bänden, Bd 1. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt, 506-518. Humboldt, Wilhelm von (1963): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues [1827-1829]. In: Schriften zur Sprachphilosophie. Werke in fünf Bänden, Bd.3. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt, 144-367. Humboldt, Wilhelm von (1981): An Schiller: Über Sprache und Dichtung. In: Schriften zur Sprachphilosophie. Werke in fünf Bänden, Bd. 5. Herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt, 195200. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter/Gründer, Karlfried und Gottfried Gabriel, Basel/Stuttgart 1971. Bühler, Karl (31965): Die Krise der Psychologie. Mit einem Geleitwort von Hubert Rohracher, Stuttgart. Kant, Immanuel (1998): Kritik der praktischen Vernunft. In: Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Band 4. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt. Kant, Immanuel (1998): Kritik der reinen Vernunft. In: Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Band 2. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt. Kant, Immanuel (1998): Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Band 5. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt. Vološinov, Valentin N. (1975): Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft. Herausgegeben und eingeleitet von Samuel M. Weber, Frankfurt u.a. Foucault, Michel (141997): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt. Foucault, Michel (1977): Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970, Frankfurt. Wittgenstein, Ludwig (2009): Philosophische Grammatik. Werkausgabe Band 4, Frankfurt. Wittgenstein, Ludwig (1984): Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, Frankfurt. Foucault, Michel (2001): Schriften in vier Bänden. Band 1, Frankfurt. Foucault, Michel (21994a): Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault. Aus dem Amerikanischen von Claus Rath und Ulrich Raulff, Weinheim, 243-261.

Siglenverzeichnis

ST Sus TA

Tlp

ÜS WA

WG WW

XIII

Bühler, Karl (31999): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz, Stuttgart. Foucault, Michel (1989): Sexualität und Wahrheit III: Die Sorge um sich, Frankfurt. Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung (Hrsg.) (2003): Menschliche Stammzellen. Studie des Zentrums für Technologiefolgen-Abschätzung Bern. TA 44/2003. Wittgenstein, Ludwig. (1984): Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, Frankfurt. Foucault, Michel (2006): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt. Foucault, Michel (2003): Was ist ein Autor? In: Foucault, Michel: Schriften zur Literatur. Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt, 234-270. Foucault, Michel (2007): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen, Frankfurt.

Verzeichnis der Übersichten Übersicht 0-1 Übersicht 1.3-1 Übersicht 2.2-1 Übersicht Übersicht Übersicht Übersicht

2.3-1 2.3-2 2.4-1 3.1-1

Übersicht 3.2-2 Übersicht 3.2-3 Übersicht 4.1-1 Übersicht 4.1-2 Übersicht 4.1-3 Übersicht 4.1-4 Übersicht 4.1-5 Übersicht 4.1-6 Übersicht 4.2-1 Übersicht 4.2-2 Übersicht 4.2-3 Übersicht 4.2-4 Übersicht 4.2-5 Übersicht 4.2-6 Übersicht 4.3-1 Übersicht 4.3-2 Übersicht 4.3-3 Übersicht 4.3-4 Übersicht 4.3-5 Übersicht 4.3-6 Übersicht 4.3-7 Übersicht 4.3-8

Diskurslinguistik als Theorie, Methode und Praxis . . . . . . . . . 5 Vierfelderschema nach Bühler 1999/1934, Auer 1999 und Wunderlich 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Kategorien der Diskursformationen und Existenzweisen der Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Diskursmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Faktorenmodell der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Differenzierung der politischen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Textbeschreibungsdimensionen (modifiziert im Anschluss an Adamzik 2004, Bachmann-Stein 2004, Brinker 62005, Heinemann/Viehweger 1991, Heinemann/Heinemann 2002, Stein 2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Argumentationsschema (Grundstruktur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 vollständiges Argumentationsschema nach Toulmin (1958) . . . 215 Zentrale Diskursereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Zentrale diskursbeeinflussende Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . 248 Diachrone Verteilung der Texte nach Printmedienorganen . . . 256 Textvorkommen 2000–2002 Tagespresse . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Verteilung der Medientexte von Januar 2001 bis Januar 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Anzahl meinungsbetonter und informationsbetonter Textsorten im Diskurskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Nominationskonkurrenzen zu ‚verschmolzene Eiund Samenzelle‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Nominationsausdrücke zu ‚verschmolzene Ei- und Samenzelle‘ nach Sprechergruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Nominationskonkurrenz im sprachlichen Zeichen nach Girnth (2002: 65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Bedeutungsaspekte Lebensbeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Bedeutungsdimensionen Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Nominationskonkurrenz ‚Stammzelle‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Metaphernkonzepte im Stammzelldiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Häufigkeit der Metaphern im Jahr 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Häufigkeit der Metaphern im Jahr 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Häufigkeit der Metaphern im Januar 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Systematisierung WEG-METAPHER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Systematisierung GRENZ-METAPHER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Bedeutungsaspekte der RUBIKON-METAPHER nach Sprechergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 RUBIKON-METAPHORISIERUNGEN und ihre Teilbedeutungen . . . . 425

XVI Übersicht 4.3-9 Übersicht 4.3-10 Übersicht 4.3-11 Übersicht 4.3-12 Übersicht 4.3-13 Übersicht 4.4-1 Übersicht 4.4-2 Übersicht 4.4-3 Übersicht 4.4-4 Übersicht 5-1 Übersicht 5-2

Verzeichnis der Übersichten

Systematisierung INDUSTRIE-METAPHER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Systematisierung NATURKATASTROPHEN-METAPHER. . . . . . . . . . . 440 Systematisierung GEBÄUDE-METAPHER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Systematisierung K RIEGS-METAPHER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Systematisierung BALANCE-METAPHER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Grundpositionen zum moralischen Status von Embryonen. . . . 467 prozentuales Vorkommen der Topoi von 1998–2002 in SZ, FAZ und FR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Argumentationstypen und ihre Realisierung durch Topoi . . . . 531 Argumentationstypen und prototypische Sprechergruppen . . . . 532 Zusammenspiel der sprachlichen Ebenen und der Untersuchungsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 Isotopien im Diskurskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2009/2010 vom Fachbereich II (Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften) der Universität Trier als Dissertation angenommen. Mein erster Dank gilt den beiden Gutachtern und Betreuern der Dissertation, Herrn Prof. Dr. Stephan Stein (Trier) und Herrn Prof. Dr. Heiko Girnth (Marburg), die die Arbeit bereitwillig und kontinuierlich betreut haben. Die Grundlagen für linguistisches Arbeiten wurden während meines Studiums an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in den Vorlesungen von Prof. Dr. Günter Bellmann, in den Seminaren von Prof. Dr. Heiko Girnth und Prof. Dr. Joachim Herrgen sowie im DFG-Projekt ‚Mittelrheinischer Sprachatlas‘, in dem ich als studentische Hilfskraft tätig war, gelegt. Mein Interesse an der Analyse und der Theorie von Sprache wurde nicht zuletzt durch die Tätigkeit beim ‚Sprachatlas‘ geweckt. Zahlreichen Fachkolleginnen und -kollegen bin ich für wertvolle Hinweise und anregende Diskussionen zu Dank verpflichtet. Hervorheben möchte ich unter ihnen Dr. Noah Bubenhofer, PD Dr. Anja Lobenstein-Reichmann und Prof. Dr. Joachim Scharloth; unter den Münsteraner Kolleginnen und Kollegen: Prof. Dr. Susanne Günthner, Dr. Dagmar Hüpper und Dr. Wolfgang Imo; unter den Trierer Kolleginnen und Kollegen: Dr. Christine Bähr, Dr. Stefanie Kugler, Jens Gerdes und Dr. Fausto Ravida. Der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk danke ich für die Aufnahme in die Graduiertenförderung und die finanzielle Förderung der Dissertation über den Zeitraum von vier Jahren. Herrn Prof. Dr. Ekkehard Felder möchte ich für die Aufnahme der Dissertationsschrift in die von ihm herausgegebene Reihe „Sprache und Wissen“ herzlich danken. Den lebensweltlichen Hintergrund zu organisieren und stabilisieren halfen Sandra Upgang, Ines Wichmann und Katja Winkler. Schließlich danke ich meiner Familie, besonders meinen Eltern und meinem Mann Christian Spieß. Meinen Töchtern Cosima und Magdalena widme ich dieses Buch. Münster, im November 2010

Constanze Spieß

Einleitung Bioethische Diskurse stellen zentrale Konfliktfelder im öffentlich-politischen Kommunikationsbereich dar. Ein gesellschaftlich brisanter und auch gegenwärtig aktueller Diskurs, der seit November 1998 virulent ist, im Jahr 2001 besonders heftig geführt wurde und über diesen Zeitpunkt hinaus je nach Ereignislage mehr oder weniger stark auch gegenwärtig andauert, stellt der bioethische Diskurs um die humane embryonale Stammzellforschung dar. Ein Ausschnitt aus dem Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung – nämlich der Diskurs in überregionalen Printmedien im Zeitraum November 1998 bis Januar 2002 – ist Gegenstand der empirischen Analyse dieser Arbeit. Mit der ersten gelungenen Isolierung humaner embryonaler Stammzellen durch J. A. Thomson im November 1998 etablierte sich ein neuer biomedizinischer Forschungsteilbereich, mit dem viele Hoffnungen auf Therapien bislang nicht-therapierbarer Krankheiten verbunden werden, der aber zugleich äußerst umstritten ist und nicht nur in Deutschland ethische Konfliktfelder eröffnete. Die Konfliktlinien, die hinsichtlich der Bewertung der Stammzellforschung quer zu den üblichen Parteibildungen im politischen Spektrum verlaufen, entzündeten sich am Herstellungsverfahren humaner embryonaler Stammzelllinien, bei dem Embryonen verbraucht werden. In dieser Auseinandersetzung ging und geht es in erster Linie darum, ob das Verfahren der Stammzellherstellung in Deutschland zugelassen werden sollte oder nicht bzw. ob an oder mit humanen embryonalen Stammzellen in Deutschland überhaupt geforscht werden darf. Demzufolge ging es auch um die Bewertung des Verfahrens durch die verschiedenen am Diskurs beteiligten Akteure. Das am 1. Juli 2002 in Kraft getretene und im August 2008 bereits erneuerte Stammzellgesetz, das den Import von und den Umgang mit humanen embryonalen Stammzellen regelt, wurde in seinem Entstehen von heftigen Auseinandersetzungen begleitet1. Der zunächst zögerliche Anfang des Diskurses ist in der ersten gelungenen Isolierung humaner embryonaler Stammzellen (ES-Zellen) im November 1998 zu sehen. Intensiviert wurde 1

Vgl. hier die beiden Bundestagsdebatten vom 31.5.2001 und vom 30.1.2002, die auch in dieser Arbeit Beachtung finden werden. In der Arbeit werden Sprachbelege aus der Bundestagsdebatte mit dem Namen des Debattenredners und der Abkürzung BD für Bundestagsdebatte sowie dem Datum gekennzeichnet.

2

Einleitung

der Diskurs aber insbesondere durch einen im Sommer 2000 bei der DFG gestellten Antrag des Neuropathologen Oliver Brüstle. In diesem Forschungsantrag formulierte Brüstle die Absicht, an importierten humanen embryonalen Stammzellen zu forschen. Die Diskussionen über einen solchen Import führten schnell in eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den moralischen Status menschlicher Embryonen und dem damit verbundenen Umgang mit menschlichen Embryonen, der bislang im Embryonenschutzgesetz geregelt wurde. Damit steht der hier als Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung bezeichnete Diskurs2 in einer Reihe anderer bioethischer Diskurse, die sich mit den Fragen des menschlichen Lebensbeginns, des Menschenwürdeschutzes und des menschlichen Lebensendes befassen, wie beispielsweise die Diskussion um die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, die Regelung der Abtreibung (u.a. auch der Spätabtreibung), die Regelung der künstlichen Befruchtung und die Praxis der Reproduktionsmedizin, die damit verbundene Diskussion um den Embryonenschutz sowie die Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes im Jahre 1990, die Regelung der Organtransplantation oder der Sterbehilfe. In all diesen Diskursen geht es um den Umgang mit und die Bewertung von menschlichem Leben in dilemmatischen Situationen. Die Möglichkeit der humanen embryonalen Stammzellforschung ist recht neu und war zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes noch nicht gegeben. In Deutschland ergab sich somit erst auf Grund dieser biotechnischen Innovation im Jahre 1998 ein rechtlicher Regelungsbedarf, insofern sich im Embryonenschutzgesetz3 hinsichtlich des Umgangs mit humanen embryonalen Stammzellen eine Gesetzeslücke auftat. Forschungsbefürworter sahen im Gesetz die Möglichkeit der Forschung mit Stammzellen als rechtlich zulässig, da es sich bei Stammzellen nicht um Embryonen handelt; Forschungsgegner klagten dagegen Regelungsbedarf und vor allem eine öffentlich-politische, breit angelegte Meinungsbildung ein. Der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung wurde und wird in erster Linie sprachlich ausgetragen bzw. durch Sprache konstituiert. Die in unterschiedlichen Weltanschauungen bzw. in unterschiedlichen Wissensformationen gründende Konflikthaftigkeit des Diskurses wird sprachlich zum Ausdruck gebracht.4 Denn mit der Verwendung bestimmter Ausdrücke wird bereits ein ethisches Urteil impliziert, wie es beispielsweise an den

2 3 4

Was genau unter einem Diskurs in linguistischer Perspektive zu verstehen ist, wird Gegenstand des zweiten Kapitels der Arbeit sein. Im Folgenden abgekürzt durch ESchG. Die disparaten und pluralen Meinungen prallen im Diskurs aufeinander, man kann hier auch von Wissensrahmen sprechen, die je ein eigenes Sprachspiel verfolgen, was insbesondere beim Zusammentreffen geisteswissenschaftlicher Wissensformationen mit naturwis-

Einleitung

3

Bezeichnungskonkurrenzen therapeutisches Klonen und Forschungsklonen, die beide auf das gleiche Referenzobjekt – nämlich den Zellkerntransfer einer Körperzelle in eine Eizelle – referieren, deutlich wird. Darüber hinaus sind Sprache und Sprachverwendung selbst Themen des Diskurses. Der Ausdruck Therapeutisches Klonen wird von den Forschungsbefürwortern gebraucht, Forschungsklonen dagegen von den Forschungsgegnern. Die Entscheidung für die Verwendung eines dieser beiden Ausdrücke gibt somit eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit zu erkennen, die auf unterschiedlichen weltanschaulichen Voraussetzungen basiert und damit die jeweils favorisierte (moralische) Bewertung des Sachverhaltes impliziert. Ähnlich verhält es sich beispielsweise bei dem Begriffspaar menschliches Leben und Zellhaufen. An den Beispielen wird deutlich, dass mit der Wahl eines dieser Ausdrücke eine sprachliche Handlung vollzogen wird, die in erster Linie dazu dient, eine Bewertung vorzunehmen, indem bestimmte Bedeutungsaspekte des Referenzobjektes hervorgehoben werden; gerade hier kommt die wirklichkeitskonstitutive Potenz von Sprache zum Tragen. Eine weitere den Diskurs um Stammzellforschung kennzeichnende Besonderheit besteht darin, dass im Verlauf des Diskurses zunehmend der Diskurs selbst sowie sprachliche Phänomene des Diskurses zum Gegenstand des Diskurses wurden. Der Diskurs selbst wurde somit innerhalb des Diskurses sozusagen auf einer Metaebene reflektiert, was sich durch Sprachthematisierungen – näherhin durch die explizite Thematisierung des Sprachgebrauchs sowie durch implizite Thematisierung durch den Gebrauch unterschiedlicher Bezeichnungen – , durch Thematisierung der Argumentationsführung sowie durch Thematisierung der Art und Weise der Diskursführung bzw. der Form des Diskurses bemerkbar machte. Zwar kann die linguistische Untersuchung öffentlich-politischer Diskurse mittlerweile als etabliert gelten5, spezielle Untersuchungen zu bioethischen Themenfeldern sind gleichwohl selten. Domasch (2006 und 2007) setzt sich mit Sprachgebräuchen im Diskurs um PID auseinander, Faulstich (2002) geht in ihrem Beitrag auf den Begriff Leben und dessen Diskursivität im Kontext der Berliner Rede Johannes Raus ein. Dabei stellt sie gängige Argumentationsmuster und deren Funktion im Diskurs heraus. Zimmer (2006) setzt sich mit unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen des Schlüsselworts therapeutisches Klonen auseinander. Döring/Nerlich (2004) sowie Nerlich (2005) beschreiben die Verwendung diskurstypischer Metaphern innerhalb

5

senschaftlichen Wissensformationen zur Geltung kommt. Vgl. hier den Hinweis auf das Konzept UNSTERBLICHKEIT in Kapitel 4.2.5 dieser Arbeit. Als gut erforscht kann der Migrationsdiskurs gelten. Vgl. hier vor allem Arbeiten der Düsseldorfer Schule um Karin Böke, Thomas Niehr und Martin Wengeler. Vgl dazu Kapitel 2.3.1 und 4 dieser Arbeit.

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Einleitung

des Diskurses um embryonale Stammzellforschung. Spieß (2006, 2007 und 2009) setzt sich mit Redestrategien des Diskurses auseinander. Böke (1991) befasst sich in ihrem Aufsatz mit dem Sprachgebrauch des Abtreibungsdiskurses. Sie geht hier auch auf die Problematik der Versprachlichung der verschmolzenen Ei- und Samenzelle ein. Darüber hinaus existieren Arbeiten, die die Analyse der Sprache des Stammzelldiskurses zum Gegenstand erheben, jedoch nicht aus linguistischer, sondern aus ethischer, philosophischer oder theologischer Perspektive an die Analyse herangehen.6 Eine ausführliche Analyse des Sprachgebrauchs des Diskurses um humane embryonale Stammzellen existiert noch nicht. Diskurse wie dieser bioethische Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung sind charakteristisch für demokratisch organisierte Rechtsstaaten, die Debatten und Diskussionen werden in der Öffentlichkeit geführt, wobei hier insbesondere die Rolle und Funktion der Medien relevant ist für die Entwicklung und Struktur von Diskursen. Insbesondere die öffentlichpolitische Dimension des Diskurses, die Vielzahl der beteiligten Akteure aus den unterschiedlichsten Kommunikations- und Wissensbereichen machen den bioethischen Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung interessant, aber auch komplex für eine linguistische Analyse, da bereits in der Diskurskonstellation – nämlich dem quer zu den sonst typischen politischen Lagern verlaufenden Meinungsstreit – das linguistische Untersuchungsinteresse begründet liegen kann, insofern politische Kämpfe in Deutschland verbal ausgetragen werden und öffentlich-politische Wirklichkeit unter anderem sprachlich konstituiert wird. Diese Situation führt dazu, dass sich gerade in meinungsbetonten Diskursen unterschiedliche Positionen bzw. Werthaltungen in einander divergierendem Sprachgebrauch manifestieren. Die Beteiligung einer Menge an Diskursakteuren, die aus der Naturwissenschaft, aus der Jurisprudenz, der Theologie, Philosophie, der Politik oder aber der Medizin stammen, erfordert für eine linguistische Untersuchung, dass zunächst die für die je spezifischen Disziplinen typischen Sachverhalte nachvollzogen werden. Die Auseinandersetzung mit dem Fachwissen der Einzeldisziplinen erfolgt dabei notwendigerweise in reduzierter Form, da man nicht für alle Gebiete gleichermaßen den Expertenstatus erlangen kann und muss, um die Grund legenden Probleme und Konfliktfelder nachvollziehen zu können. Ausgehend von einer pragmatisch begründeten Auffassung von Sprache und der damit verbundenen Auffassung von der sprachlichen Konstruktion der Wirklichkeit liegt es also auf der Hand, dass sich die Konfliktträchtigkeit 6

Hier sind die Arbeiten von Christine Hauskeller, Matthias Kettner, Walter Lesch und Sigrid Graumann anzuführen, die die sprachliche Perspektive mitreflektieren und in ihre je fachspezifischen Überlegungen integrieren. Vgl. Graumann (2003); vgl. Hauskeller (2002 a und b) sowie (2005a und b); vgl. Kettner ( 2007); vgl. Lesch (2007).

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Einleitung

des Diskurses sprachlich niederschlägt, aber unter anderem auch durch Sprache diskursiv erzeugt wird. Damit ist eine zentrale Grundannahme angedeutet, von der die folgende Arbeit ausgeht: Gesellschaftliche Konflikte beruhen auf weltanschaulich unterschiedlichen Perspektiven oder Voraussetzungen, die sich sprachlich manifestieren bzw. die sprachlich den konfliktreichen Diskurs hervorbringen. Manifest wird das beispielsweise durch Bedeutungsvarianz und Bezeichnungsvielfalt. Beide Formen sprachlicher Phänomene gehen mit deutlichen Bewertungen den Sachverhalt betreffend einher und zeigen sich auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen. Die hier vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, sowohl theoretischen, methodischen als auch empirischen Fragestellungen im Hinblick auf die Etablierung eines linguistischen Diskursbegriffes nachzugehen: Zunächst geht es um eine sprachtheoretische Fundierung eines im Anschluss an Foucault formulierten diskurslinguistischen Analysezugriffs und um eine damit verbundene Explikation eines pragmatisch orientierten, linguistischen Diskursbegriffes (Teil I). Zum anderen geht es um die Erarbeitung eines für die Analyse von Diskursen zugeschnittenen Mehrebenenanalysemodells, das unterschiedliche methodische Zugriffsweisen integriert (Teil II). Zum Dritten verfolgt die Arbeit das Ziel, das Mehrebenenanalysemodell am empirischen Gegenstand auf seine Tauglichkeit hin zu erproben, wobei hier insbesondere die Vernetzung unterschiedlicher sprachlicher Ebenen aufgezeigt und die Relevanz von Schlüsselwörtern, Metaphern und Argumentationsmustern im Diskursausschnitt herausgearbeitet werden soll. In diesem Zusammenhang geht es auch um den Nachvollzug, in welcher Weise mit sprachlichen Mitteln Konflikte ausgetragen, wie aber auch mit dem Einsatz bestimmter sprachlicher Mittel Wirklichkeiten und Bedeutungen diskursiv hervorgebracht sowie Sachverhalte konstituiert werden (Teil III). sprachtheoretische Verortung Teil I: ling. Diskurstheorie theoretische Explikation des linguistischen Diskursbegriffes

Teil II: method. Begründung

Methode: Mehrebenenanalyse

Teil III: ling. Diskursanalyse

Empirische Untersuchung

Übersicht 0-1: Diskurslinguistik als Theorie, Methode und Praxis

Forschungsinteresse

Analyseergebnisse

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Einleitung

Die Arbeit besteht aus drei Teilen. Teil I (Kapitel 1 und 2) und II (Kapitel 3) liefern die theoretischen und methodischen Begründungen und Rahmenbedingungen für die im dritten Teil erfolgende empirische Untersuchung (Kapitel 4). Kapitel 1 umfasst die Darstellung sprachtheoretischer Positionen von Humboldt, Bühler, Vološinov, Wittgenstein, Austin, Searle, Grice, Saussure und Morris hinsichtlich ihrer Relevanz für einen pragmatisch fundierten, linguistischen Diskursbegriff. Damit verbunden ist auch eine bestimmte pragmatisch orientierte Auffassung von Bedeutung, die dieser Arbeit zu Grunde gelegt und mit den genannten Positionen begründet wird: mit der wirklichkeitskonstituierenden Funktion von Sprache (Humboldt), mit der Sozialität von Sprache sowie mit der Veränderbarkeit sprachlicher Zeichen (Saussure), mit der Auffassung, dass jeglicher Sprachgebrauch gesellschaftlich und damit ideologisch ist (Vološinov), mit der Auffassung, dass Sprache ein Handeln ist (Bühler, Austin, Searle, Grice, Morris) und dass Bedeutung im kontextuellen Vollzug und auf der Basis einer Lebensform entsteht (Wittgenstein). Es wird also von einer handlungsorientierten Auffassung von Bedeutung ausgegangen, Bedeutung konstituiert sich dabei auf Grund verschiedener Faktoren: auf Grund von Situationswissen, Kontextwissen sowie auf Grund sämtlichen situations- und kontextrelevanten Vorwissens.7 Auf der Basis dieser zentralen sprachpragmatischen, sprachphilosophischen und sprachtheoretischen Bezugs- und Referenzpunkte werden zu Beginn von Kapitel 2 Anknüpfungspunkte an die Diskurstheorie Foucaults im Hinblick auf eine linguistische Operationalisierung des Diskursbegriffes thematisiert und diskutiert. Dabei soll es darum gehen, den von Foucaults Schriften ausgehenden Impuls einer kontextsensitiven Beschreibung von Strukturen historischer und gesellschaftlicher Diskurse in die Linguistik dahingehend zu implementieren, dass Entstehung und Veränderung von Bedeutung textübergreifend, kontextuell und pragmatisch zu erklären sind. Im Anschluss an die Darstellung zentraler Aspekte des Diskursbegriffes Michel Foucaults wird demzufolge ein linguistischer Diskursbegriff entwickelt bzw. ausformuliert, der – anders als Foucault – zugleich das Konzept einer pragmatischen Sprachauffassung integriert. Dabei wird von unterschiedlichen Merkmalen, die den Diskursbegriff näher beschreiben, ausgegangen. 7

Dieses Wissen kann ganz verschiedene Ebenen und Bereiche umfassen: allgemeines Alltagswissen, Interaktionswissen, Sprach- und Handlungswissen. Einer notwendigen Voraussetzung eines gewissen, vagen und ungenauen Vorwissens zur Erfassung von Bedeutung hat Wittgenstein in seiner Gebrauchstheorie der Bedeutung zu wenig Beachtung geschenkt. Vgl. dazu Felder (2006a: 35). Fix (2005) und Busse (2005) beschreiben den Prozess der Bedeutungskonstitution als ein Wechselverhältnis zwischen dem Bezug auf bereits Bekanntes und dessen variativem Gebrauch, was m. E. das Phänomen der Bedeutungskonstitution und Bedeutungsverhandlung adäquat erfasst. Vgl. beispielsweise Fix (2005); vgl. Busse (2005).

Einleitung

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Die Merkmale stellen kein statisches und festes Ensemble von Merkmalen dar, sondern sind vielmehr als ein dynamisches Merkmalbündel, die mehr oder weniger auf die je einzelnen Diskurse zutreffen können, aufzufassen. Im Zusammenhang des letzten Teilkapitels des ersten Teiles der Arbeit erfolgt auf Grund der Thematik des Analysegegenstandes – bioethische Diskurse sind Teil politischer Öffentlichkeit – auch die Herstellung eines Bezuges zwischen linguistischer Diskursanalyse und dem Forschungsteilbereich der Politolinguistik, der sich ebenso handlungstheoretisch begründet und einen handlungsbezogenen Sprachbegriff zu Grunde legt. Politolinguistik – so u.a. eine These dieser Arbeit – kann und muss diskurslinguistisch fundiert sein, damit sie zu angemessenen Aussagen führt. Im zweiten Teil werden die im ersten Teil entworfenen theoretischen Grundannahmen und Voraussetzungen in die methodischen Überlegungen implementiert. Es wird ein Mehrebenenmodell diskurslinguistischer Analyse entworfen, das aus der Forschungspraxis erwachsen ist und damit auch umsetzbar sein sollte8. Die Umsetzbarkeit des Analysemodells einerseits sowie die Konsistenz des erörterten Diskursbegriffes werden im dritten Teil am Beispiel des bioethischen Diskurses um die humane embryonale Stammzellforschung geprüft. Der Diskurs wird zunächst auf einer Makroebene hinsichtlich kontextueller und situativer Faktoren analysiert. In einem weiteren Schritt erfolgt die Analyse unterschiedlicher sprachlicher Ebenen: die Ebene der Lexik, die Ebene der Metaphorik und die Ebene der Argumentationsmuster. Die komplexen Argumentationen lassen sich dabei sprachlich als Argumentationstopoi erfassen und in ihrer je spezifischen diskursiven Funktion beschreiben. Das abschließende Kapitel führt die Ergebnisse zusammen und reflektiert diese im Hinblick auf die Diskursivität der sprachlichen Phänomene. Der Auswahl des im dritten Teil der Arbeit näher beschriebenen sprachlichen Materials wurden verschiedene Kriterien zu Grunde gelegt. So stellt nicht nur die Häufigkeit des Auftretens ein Kriterium für die Auswahl der

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Das mehrere Ebenen umfassende methodische Analysemodell von Spitzmüller und Warnke (DIMEAN) umfasst deutlich mehr Ebenen und ist in der Beschreibung der einzelnen Ebenen auch sehr viel detaillierter. Warnke und Spitzmüller haben mit dem DIMEANModell ein Maximalprogramm vorgelegt, das alle diskursrelevanten sprachlichen und außersprachlichen Ebenen umfasst. Das führt meines Erachtens jedoch dazu, dass dieser mehrebenenorientierte Analysevorschlag nicht mehr praktikabel und durchführbar ist. Vgl. Warnke/Spitzmüller (2008a: 3–54). Dagegen ist das in dieser Arbeit vorgelegte Mehrebenenmodell aus der Empirie erwachsen. Es unterscheidet sich im Design auch dadurch, dass eine Verknüpfung der einzelnen Sprachebenen und der Untersuchungsdimensionen mit bedacht wird (vgl. Kap. 3 dieser Arbeit). Zudem erfolgt eine handlungstheoretische Begründung dieses Modells in Teil 1 der Arbeit. Der dritte große Teil der Arbeit stellt den Versuch dar, die Praktikabilität dieses Modells anhand einer empirischen Analyse des öffentlich-politischen Bioethikdiskurses um Stammzellforschung aufzuweisen.

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Einleitung

sprachlichen Phänomene dar, sondern auch die sprachliche Thematisierung und die diskursive Vernetzung der entsprechenden sprachlichen Phänomene einer Ebene mit sprachlichen Phänomenen anderer Ebenen, z.B. die Integration von Schlüsselwörtern oder Metaphernlexemen in komplexe Argumentationen und Argumentationsmuster. Das relevanteste Kriterium allerdings ist der Bezug zum Gegenstand. Hier hat sich bei der Korpuszusammenstellung und der ersten Korpusbetrachtung gezeigt, dass bestimmte Lexeme, Metaphern und Argumentationsmuster für den Diskurs zentral sind und für den Diskurs relevante Gegenstände bezeichnen, verhandeln und konstituieren. Während in anderen Disziplinen wie beispielsweise den Sozialwissenschaften lebhafte Diskussionen über methodologische Fragestellungen der Diskursanalyse und über theoretische Fundierungen der Diskurstheorie zu verzeichnen sind9, ist in der Linguistik erst für die letzten Jahre eine vertiefte Auseinandersetzung über eine theoretische Verortung und eine methodische Ausrichtung der Diskurslinguistik zu konstatieren.10 Die vorliegende Arbeit will insofern eine Forschungslücke schließen, als im ersten Teil der Arbeit eine theoretische Fundierung, die über den Bezug zu Foucault hinausgeht und Diskurslinguistik in einen größeren sprachtheoretischen Kontext verortet, vorgelegt wird; im zweiten Teil wird – ausgehend von textlinguistischen Ansätzen – die methodische Ausrichtung linguistischer Diskursanalyse präzisiert und weiter entwickelt und schließlich im dritten Teil am empirischen Beispiel des Diskurses um humane embryonale Stammzellforschung erprobt. Es wird hier also der Versuch unternommen, Theorie, Methode und den empirischen Gegenstand aufeinander zu beziehen. Ein Problem, das sprachwissenschaftlichen Arbeiten dabei in besonderer Weise und fortwährend anhaftet und dementsprechend immer mit bedacht werden muss, ist die Gebundenheit an die Sprache. Auf einer Metaebene wird mit denselben zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln versucht,

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Vgl. hier insbesondere die Zusammenschau des Forschungsstandes bei Bührmann/Schneider (2009); vgl. darüber hinaus Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver (2003). Zu nennen sind hier in erster Linie Wengeler (2003), Warnke (2007) und Warnke/ Spitzmüller (2008a und b), die sich ausführlicher mit solchen Fragestellungen befassen. Busses Historische Semantik von 1987 hat die Diskussionen um eine Inanspruchnahme Foucaults für die Linguistik initiiert. In dieser Schrift legt Busse eine sprachtheoretische Begründung der Diskurssemantik vor, ohne jedoch die Methodenfrage eingehender zu erörtern und auszuformulieren. Ein weiteres Zeichen dafür, dass sich der Forschungsbereich der Diskurslinguistik erst am Beginn befindet, ist das Fehlen einer Einführung in diesen Forschungsteilbereich. Auch hier sind nur vereinzelte Aufsätze zu nennen, die einen Überblick über die unterschiedlichen diskurslinguistischen Ausprägungen und Ansätze geben. Einen Überblick über verschiedene diskurslinguistische Schulen geben beispielsweise Bluhm/Deissler/Scharloth/Stukenbrock (2000). Vgl. dazu ausführlicher auch Kapitel 2 dieser Arbeit.

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sprachliche Phänomene zu beschreiben. Die Linguistik ist demnach ihrem Untersuchungsobjekt in besonderer Weise verbunden und kann ihren Gegenstand nicht von außen betrachten.

I Theorie 1 Sprachtheoretische Verortung 1.1 Vorbemerkungen Jede empirische Arbeit basiert auf theoretischen Hintergründen, die bei der Analyse mit bedacht und reflektiert werden müssen. Gegenstand dieses Kapitels ist eine sprachtheoretische Fundierung des im folgenden Kapitel zu explizierenden linguistischen Diskursbegriffes. Dabei wird auf Positionen zurückgegriffen, die alle den Aspekt des sprachlichen Handelns in irgendeiner Art und Weise aufgreifen. Damit soll Diskurslinguistik als ein theoretischer Rahmen begründet und sprachtheoretisch verortet werden. Gleichzeitig geht es aber auch darum, Diskurslinguistik in der Form linguistischer Diskursanalyse als einen methodischen Zugriff auf sprachliches Material zu konzeptualisieren (vgl. Gardt 2007: 27–39). Die Diskurslinguistik als Theorie und Methode1 gleichermaßen folgt dabei einer pragmatischen Sprachauffassung, die zum einen davon ausgeht, dass sich Sprache und Gesellschaft gegenseitig bedingen und konstituieren, wobei hier die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Denken und Wirklichkeit gestellt wird (vgl. Busse 1987). Durch Sprache wird Wirklichkeit angeeignet und zwar durch handelnd-kommunikative Praxis. Die Lebenswelt wird durch Sprache bestimmt, insofern Sprache Wirklichkeit konstituiert (vgl. Busse 1987: 84). Zum anderen wird Sprache als soziales Handeln2 aufgefasst, das in bestimmten Kontexten stattfindet und nicht unabhängig von diesen betrachtet werden sollte (vgl. Searle 1983; vgl. Cherubim 1984). Sprache ist folglich sowohl in soziale als auch in situative Kontexte eingebettet, die jeweils gebunden sind an gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen einerseits sowie an Intentionen und Interessen der sprechenden Individuen andererseits. In Abkehr von der Schwerpunktsetzung

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Gardt spricht hier zudem noch von Diskurslinguistik als einer Haltung, insofern damit die Öffnung der Linguistik zur Kulturwissenschaft impliziert ist. Vgl. Gardt (2007). Der Handlungsbegriff innerhalb der linguistischen Pragmatik ist vielfach diskutiert worden. Vgl. hier beispielsweise Holly/Kühn/Püschel (1984); vgl. auch Rehbein (1979).

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auf den Systemgedanken der Sprache3 als ein dem aktuellen Sprechen zu Grunde liegendes Zeichensystem und einer damit einhergehenden Bevorzugung der Untersuchung dieses Systems als abstraktes, kontextloses Gebilde, legt eine pragmatische Auffassung von Sprache ihren Schwerpunkt auf die Analyse aktueller, konkreter, kontextbezogener Sprachverwendung.4 Gleichwohl gibt es unterschiedliche Herangehensweisen bezüglich der Gegenstandskonstitution der linguistischen Pragmatik; so wird Pragmalinguistik zum einen als allgemeine Zeichentheorie gefasst, die den Rollen des Sprechers und Hörers, den Zeichenbenutzern, große Bedeutung beimisst, zum anderen wird der Handlungsaspekt von Sprache in den Vordergrund gestellt, indem es um einzelne zu analysierende Sprechakte, um den Gebrauch von Sprache geht; eine weitere Herangehensweise stellt das Gespräch als den genuinen Gegenstand der Pragmalinguistik heraus.5 Dieser Arbeit liegt ein Pragmatikverständnis zu Grunde, das diese Ansätze vereint: Zeichen werden in ihrer Verwendung kontext- und situationsgebunden im Hinblick auf deren Handlungspotenz und Interaktionspotenzial betrachtet; Texte gelten als primäre Handlungseinheiten, die innerhalb von Diskursen aufeinander Bezug nehmen, intertextuell strukturiert sind und miteinander interagieren.6 Im Bewusstsein darum, dass sprachliche Zeichen und Einheiten, dass Bedeutungen auch unter kognitionswissenschaftlicher Perspektive als kognitive Entitäten beschrieben werden können und die kognitive Dimension von Sprache nicht geleugnet werden kann und soll, wird hier jedoch das Gewicht auf die Perspektive des Gebrauchsaspekts von Sprache gelegt. Beide Perspektiven schließen sich nicht aus, wie Weigand im Folgenden konstatiert7, sondern ergänzen sich.

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Sprache wird in dieser Sichtweise als in sich geschlossenes Ganzes aufgefasst. Ehlich konstatiert, dass „aus dem Bereich der Sprache (langage) [...] zunächst das System der »langue« herausgelöst und zum eigentlichen Objekt der Linguistik erklärt [wird].“ Ehlich (1995: 957). Dabei werden die abgespaltenen Bereiche anderen Wissenschaftsdisziplinen zugewiesen etwa der Soziologie, Psychologie oder der Ethnologie. Vgl. Ehlich (1995); vgl. auch Saussure (32001); vgl. Ernst (2001: 291–347). Um mit der Terminologie Saussures zu sprechen, wendet sich linguistische Pragmatik also der Untersuchung der parole zu. Zur vieldiskutierten Gegenstandskonstitution von linguistischer Pragmatik vgl. Cherubim (1984) sowie Schlieben-Lange (1975) und Ernst (2002). Schlieben-Lange stellt die einzelnen philosophischen, sozialwissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Traditionen, auf die eine linguistische Pragmatik rekurrieren kann, im Überblick dar. Vgl. Schlieben-Lange (1975); vgl. Ernst (2002); vgl. Levinson (32000). Wichter konzeptualisiert Diskurse als „Gesellschaftsgespräche“, womit er die interaktive – Texte reagieren auf Texte und stellen somit Möglichkeitsbedingungen für immer weitere Textprodukte dar – Dimension von Diskursen beschreiben will. Vgl. Wichter (1999b). Vgl. dazu kritisch Keller (1995a: 82–85); vgl. Weigand (1989: 22). Felder greift die Problematik auf, verweist auf die Perspektivität der je spezifischen Ansätze und sieht ebenfalls eine gegenseitige Ergänzung der Ansätze als notwendig an. Vgl. Felder (2006: 33–34).

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Ein gebrauchstheoretischer Bedeutungsbegriff und ein kognitiver schließen sich nicht aus, nur stehen beide in unterschiedlichen Zusammenhängen. [...] Doch ist kommunikatives Handeln kein Abbilden kognitiver Strukturen. Nur unter psychologischem Aspekt kann Bedeutung mit einer kognitiven Struktur identifiziert werden. Zwischen kommunikativer und psychologisch-kognitiver Bedeutung ist ein Zuordnungsmechanismus anzusetzen, der unterschiedliche Gegenstände, die in unterschiedlichen Theorien zu behandeln sind, aufeinander bezieht und über den wir nach wie vor sehr wenig wissen. (Weigand 1989: 22)

Im Folgenden soll es nicht um eine Geschichte der linguistischen Pragmatik gehen, auch nicht um einen Beitrag zur sprachtheoretischen Diskussion im Sinne einer Modifikation und kritischen Diskussion der Ansätze oder des jeweils zu Grunde liegenden Handlungsbegriffes (vgl. Holly/Kühn/Püschel 1984), vielmehr werden sprachtheoretische Motive und Aspekte der Pragmalinguistik im Hinblick auf einen zu operationalisierenden linguistischen Diskursbegriff und einen diskurslinguistischen Analysezugriff reflektiert. Es geht mit dem Verweis auf verschiedene sprachtheoretische Konzepte also um die Frage, auf welche Theorien und Modelle speziell eine linguistische Diskursanalyse angewiesen ist bzw. zurückgreifen kann und welche sie deshalb als Voraussetzungen in ihr Konzept integrieren sollte, welche sprach- und zeichentheoretischen Ansätze nicht zu umgehende Hintergründe bei der pragmatischen Beschreibung politischen Sprachhandelns in Diskursen darstellen8 und schließlich welches Kommunikationsmodell im Zusammenhang mit der Diskursanalyse dieser Arbeit zu Grunde gelegt werden kann9, um damit die Untersuchung öffentlich-politischer Diskurse theoretisch zu fundieren. Es wird zunächst auf Humboldt als Vordenker einer linguistischen Pragmatik10 eingegangen, der zwischen Sprache als Tätigkeit (energeia) und Sprache als Werk (ergon) unterscheidet; zudem sieht er das wesentliche Charakteristikum von Sprache in deren gesellschaftlicher Bedingtheit. Im Anschluss daran werden Sprechhandlungskonzepte von Bühler, Vološinov, Wittgenstein, Austin, Searle und Grice vorgestellt; in einem dritten Schritt werden pragmatische Aspekte und Implikationen eines jeder linguistischen

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Der Rückgriff auf sprachtheoretische Grundlagen impliziert keine Vollständigkeit; es geht vielmehr um wenige wichtige Verbindungen. 9 Vgl. hierzu das Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit. In Kapitel 2 des Theorieteiles wird im Kontext des linguistischen Diskursbegriffes ein Kommunikationsmodell vorgestellt. 10 Der Begriff Pragmatik wurde von Charles Morris in seiner Auseinandersetzung mit der Semiose des sprachlichen Zeichens geprägt und von der Linguistik für denjenigen Teil sprachwissenschaftlicher Untersuchungen verwendet, der sich beispielsweise mit Sprachverwendung, Sprechakten, Situationalität und Kontextualität von Äußerungen und der Beziehung zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer auseinandersetzt. Vgl. Levinson (32000: 1–5); vgl. Busse (2005: 23).

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Arbeit zu Grunde gelegten aber nicht immer explizierten Zeichenbegriffes in Rekurs auf Saussure, Morris und Bühler geklärt.

1.2 Sprache und Wirklichkeit: Wilhelm von Humboldt Wilhelm von Humboldt (1767–1835) hat verschiedene empirische Sprachstudien als auch theoretische Äußerungen zur Sprache und Sprachwissenschaft vorgelegt. Insbesondere in den Schriften Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (1827–1829) und Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (1830–1835) äußert sich Humboldt zu sprachphilosophischen Fragen. Diese Schrift, eine Einleitung zum Kawi-Werk, hat im Hinblick auf sprachphilosophische Fragen programmatischen Charakter (vgl. Gipper/ Schmitter 21984, 77ff.). Humboldts Fragen in diesen Schriften sind anthropologischer, philosophischer Natur, insofern es ihm um die Bedeutung und Funktion der Sprache für die Menschheit geht.11 Seine sprachwissenschaftlichen Bemühungen konzentrieren sich auf drei Aufgaben. Zunächst geht es ihm um das Sammeln von Sprachmaterial; die zweite Aufgabe umfasst die Bearbeitung und Beschreibung dieses Materials. Die dritte Aufgabe besteht für Humboldt in der philosophischen Reflexion auf Sprache, die hier auch im Zentrum stehen soll. Dabei begreift er empirische und wissenschaftstheoretische bzw. sprachphilosophische Reflexionen als eine Einheit; empirische Arbeit bedarf sozusagen theoretischer Reflexion, während letztere auf empirische Erfahrung zurückgreifen kann12. Seine Reflexionen auf Sprache sind in das Zentrum der Anthropologie gestellt. Ihm geht es primär um den Menschen, dessen Wesen die Sprache und das Sprechen darstellt; Mensch und Sprache werden bei Humboldt zusammen gedacht, insofern Sprache „eine schöpferische Handlung des Geistes“ (H III: 605) darstellt.13 Sprache und Denken Die zentralen für diesen Kontext relevanten Fragen Humboldts in seinen Schriften zur Sprachphilosophie sind diejenigen nach dem Zusammenhang zwischen Sprache und Denken einerseits und zwischen Sprache und Ge-

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Hier muss angemerkt werden, dass es sich bei Humboldts Schriften zur Sprache und Sprachwissenschaft nicht um systematische Darstellungen handelt, dennoch „sind seine Ausführungen durchaus von sprachwissenschaftlicher Relevanz.“ Gipper/Schmitter (21984: 80). Vgl. Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprachphilosophie. Werke in fünf Bänden. Darmstadt 1963. Im Folgenden abgekürzt mit H und Bandzahl. Vgl. hier also H I: 509. Vgl. hier auch Kledzik (1992: 362ff.); vgl. Behler (1989: 12ff.); vgl. Ströker (21976: 14f.).

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sellschaft andererseits. Dabei unterteilt Humboldt zunächst die Sprache in drei Dimensionen: die Dimension des individuellen Sprechens als subjektive Dimension; die Dimension der Sprache der Gemeinschaft als objektive Dimension und die Dimension der Sprache als Idee einer Totalität. Diesen drei Dimensionen korrespondiert, so Kledzik, in der philosophischen Reflexion Humboldts das Individuum, die Sprachgemeinschaft und die Menschheit bzw. der Mensch als zur Sprache befähigtes Wesen (vgl. Kledzik 1992: 371). Basis und Ausgangspunkt der sprachphilosophischen Überlegungen Humboldts ist immer das individuelle Sprechen als Tätigkeit (vgl. H III: 418f., 439, 582). Von diesem konkreten Tun her lassen sich die anderen Dimensionen abstrahieren. Das Verhältnis von Sprache und Denken bestimmt Humboldt als eine Einheit, wobei „die Sprache [...] das Organ der Ineinsbildung von Anschauung und Begriff [ist].“ (Wohlfahrt 1984: 176) Sprache vereinigt also Sinnlichkeit und Verstand14, was Humboldt mit folgenden Worten beschreibt: Subjective Thätigkeit bildet im Denken ein Object. Denn keine Gattung der Vorstellungen kann als ein bloss empfangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet werden. Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reisst sich die Vorstellung los, wird, der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object und kehrt, als solches aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu ist Sprache unentbehrlich. (H III 428; vgl. H III: 195 sowie 607)

Erst durch die Sprache kann der Mensch die Welt erfahren; insofern stellt die Sprache die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis dar. Erkenntnis ist somit immer schon sprachvermittelt und zunächst subjektiv. Sprache und Denken sind damit untrennbar miteinander verbunden. Und da Sprache notwendig an Gesellschaft gebunden ist, wie weiter unten ausgeführt wird, so ist auch Denken an gesellschaftliches Dasein gebunden und von dialogischem Charakter. In die Bildung und in den Gebrauch der Sprache geht aber notwendig die ganze Art der subjectiven Wahrnehmung der Gegenstände über. Denn das Wort entsteht eben aus dieser Wahrnehmung, ist nicht ein Abdruck des Gegenstandes an sich, sondern des von diesem in der Seele erzeugten Bildes. (H III: 433)

Alle menschliche Erkenntnis vollzieht sich also sprachlich, insofern sich Sprechen und Denken gegenseitig bedingen und eine Einheit bilden (vgl. Droescher 1980: 120ff.). Welterfahrung ist demnach nur durch Sprache vermittelbar und ein Denken ohne Sprache nach Humboldt nicht möglich

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Durch die Tätigkeit dieser beiden Sinne, die nach Kant die beiden Quellen der Erkenntnis darstellen, kommt es zur Synthese der Einbildungskraft. (Vgl. hier Kants Kritik der Urteilskraft, KU) Sprache ist Humboldt zufolge eine Tätigkeit, die etwas erzeugt.

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(vgl. Wohlfahrt 1984: 183ff.). Erst durch die Sprache hat der Mensch die Möglichkeit auf Welt Bezug zu nehmen und Wirklichkeit durch Sprache zu konstituieren, indem er sich Dinge sprachlich aneignet, mittels Sprache kategorisiert und damit auch für seine Zwecke konstituiert (vgl. H III: 11; vgl. Droescher 1980: 124). So konstatiert Humboldt, dass „in die Bildung und den Gebrauch der Sprache [...] nothwendig die ganze Art der subjectiven Wahrnehmung der Gegenstände über[geht].“ (H III: 223) Gesellschaftlichkeit der Sprache Der Akt der subjektiven Wahrnehmung gerät damit in das Zentrum des Interesses. Zwar wird durch die subjektive Wahrnehmung der Gegenstände, die Welt sprachlich subjektiv konstituiert, doch bedarf es der intersubjektiven Vermittlung. Hier kommt die gesellschaftliche und soziale Dimension der Sprache in das Blickfeld, was für eine pragmatische Sprachtheorie unerlässlich ist. Der Mensch ist ein notwendig soziales Wesen und infolgedessen ist Sprache notwendig sozial bestimmt. Das Erzeugnis der Subjektivität bedarf der Intersubjektivität. Humboldt fasst das Subjekt selbst als ein gesellschaftlich und historisch bestimmtes auf, welches von den Normen – insbesondere den Sprachnormen – einer Gesellschaft respektive einer Gemeinschaft abhängig ist und beeinflusst wird. Humboldt betont die Wechselseitigkeit beziehungsweise die gegenseitige Bedingtheit von Subjekt und Gesellschaft (vgl. Gerhardt 1974). Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden, und der Mensch bedarf, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen, zum blossen Denken eines dem ich entsprechenden Du. [...] Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft. Er wird, wie wir im Vorigen sahen, erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und dem Subject gegenüber zum Object bildet. Es genügt jedoch nicht, dass diese Spaltung in dem Subjecte allein vorgeht, die Objectivität ist erst vollendet, wenn der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber ist die einzige Vermittlerin die Sprache, und so entsteht auch hier ihre Nothwendigkeit zur Vollendung des Gedanken. (H III 201)

In diesem Zusammenhang führt Liebrucks den Begriff der Dreistrahligkeit der Sprache ein; demnach stellt er eine Relation zwischen Subjekt – Subjekt und Objekt (Ich, Du, Gegenstand) durch die Sprache als Vermittlerin her. Hier wird das notwendig dialogische Moment der Sprache und des Sprechens betont, gleichzeitig aber die Dreidimensionalität von Sprache ins Spiel gebracht15. Ziel der Vermittlung zwischen Subjekt und Subjekt durch Sprache 15

Vgl. H III: 224f. und 429; vgl. Heintel (1975: 69–84); vgl. Di Cesare (1998: 45). Bühler

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ist das Verstehen. Infolgedessen ist auch das Verstehen als Ziel sprachlicher Handlungen dialogisch bestimmt. Bereits hier wird auf die wichtige und aktive Rolle der Rezipientenseite verwiesen, wenn Humboldt formuliert: „In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat.“ (H III: 196) Verstehen vollzieht sich erst durch Sprache und Sprache ist die Bedingung für Verstehen (vgl. Di Cesare 1998: 101). Sprache und Weltansicht Da Humboldt Sprache als das Gedanken bildende Organ begreift, muss auch die Sicht auf die Dinge und auf die Welt durch Sprache bestimmt sein und sich in der Sprache zeigen (vgl. H III: 159). Humboldt spricht in diesem Zusammenhang von der „Weltansicht“, die besagt, dass das Denken von der Einzelsprache nicht unabhängig ist. Der Mensch lebt in ‚seiner Welt‘ und diese Welt wird ihm durch Sprache eröffnet, gleichzeitig nimmt er seine Welt subjektiv wahr (vgl. H III: 223 ff.). Sprache vermittelt zwischen Ich und Welt, sie ist eine Tätigkeit des Gedankens. Die Sprache ist ein Mittel, durch welches der Mensch sich selbst und die Welt bildet (vgl. Humboldts Brief an Schiller vom September 1800, H V 195–200). Der Mensch erhebt sich mittels Sprache über seine Natur, bestimmt sich im Akt der Reflexion selbst als Subjekt und die Gegenstände als Objekte. Denn wenn die Welt sich nur mit und in der Sprache bildet, und diese nur in den verschiedenen Sprachen gegeben ist, hat man nicht eine Welt, sondern eine Vielfalt von Welten entsprechend der Vielheit von Perspektiven, die jede Sprache eröffnet. (Di Cesare 1996: 282)

Die Weltansicht ist demgemäß das Produkt der sprachlich-geistigen Arbeit einerseits, durch welches eine Sprachgemeinschaft ihre Welt erfasst und gliedert bzw. kategorisiert und die dem Individuum der Sprachgemeinschaft zu Grunde liegende Struktur andererseits, die dessen Wahrnehmung beeinflusst. Burkhardt (1985) spricht hier von der „objektiven Gegebenheit“ oder von „je sprachspezifischen grammatisch-begrifflichen Netzen“. (Burkhardt 1985: 135) Die Weltansicht bezieht sich auf „die Art des Gegenseins der Welt in den Kategorien der Sprache. [...] Es geht also [...] darum, in welcher Weise in einer bestimmten Sprache die Welt in den Gedanken überführt worden ist.“16 Dabei sind

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spricht später von den drei Relationsfundamenten des sprachlichen Zeichens: dem Sprecher ordnet er die Symptomfunktion zu, dem Hörer die Appellfunktion und dem Objekt die Symbolfunktion. Gipper/Schmitter (21984: 84). Die sprachliche Weltansicht hat apriorische Qualität, weil sie dem individuellen Denken vorausgeht. Der Mensch wird in seine sprachliche Weltansicht hineingeboren. Sie darf nicht verwechselt werden mit Weltbildern oder Weltan-

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die Grenzen der jeweiligen Weltsicht nicht an der jeweiligen Einzelsprache festzumachen, vielmehr konstatiert Humboldt, dass jedes Verstehen zugleich ein Akt des Nicht-Verstehens ist, insofern der Empfänger eines Wortes nicht genau das denken muss, was der Sprecher gerade denkt (vgl. H III 223–224, 228). Auf Grund dieser Auffassung darf Humboldt aber nicht ein strikter Sprachrelativismus17 unterstellt werden, denn er lässt die Verschiedenheit der Weltsichten bedingt durch die Verschiedenheit der Sprachen in der Universalität der Sprachfähigkeit des Menschen als eine angeborene Disposition gründen. Damit bedeutet Sprachfähigkeit eine nicht zu hintergehende anthropologische Grundkonstante menschlichen Daseins. Der jeweilige Kontext aber ist individuell zu bestimmen. Sprache – bezogen auf konkrete Sprechsituationen – ist individuell, kontextuell und damit kulturspezifisch zu beschreiben.18 Für Humboldt liegt das Wesen der Sprache im konkreten Sprechen. „Die wahre Sprache ist nur die in der Rede sich offenbarende.“ (H III: 485) Der Sprache misst Humboldt eine zentrale Funktion bei, insofern „sie Mensch und Welt dergestalt vermittelt, daß beide erst im Sprachprozeß miteinander und durch einander werden, was sie sind und sein können.“ (Ströker 21976: 14) Sprache als Tätigkeit Dem entspricht eine Auffassung von Sprache als Tätigkeit eines Individuums (als individuelles Sprechen), wie sie oben bereits angedeutet wurde. Für Humboldt bildet diese Sprachauffassung den Ausgangspunkt seiner sprachphilosophischen Überlegungen. Genauerhin bestimmt er Sprache als Arbeit des Geistes, als Energeia. Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie

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schauungen ideologischer, wissenschaftlicher, religiöser und politischer Art. Zwar wird der Mensch in seine Weltansicht hineingeboren, diese determiniert ihn aber nicht. Vgl. zur Diskussion um den Sprachrelativismus Gipper (1972). Gipper spricht von einem Relativitätsprinzip in einem eingeschränkten Sinne, insofern jedes menschliche Denken „relativ zu den Ausdrucksmöglichkeiten der verfügbaren Sprachsysteme und ihrer semantischen Strukturen [ist], als es nur Gestalt gewinnen kann, indem es sich diesen gegebenen Bedingungen fügt.“ Gipper (1972: 248). Verständigung ist nach Gipper möglich, jedoch als „wahres Verstehen [...] unmöglich, solange nicht die Bedingungen der Möglichkeit solchen Verstehens erkannt sind. Dazu gehört die Einsicht in die sprachlichen Voraussetzungen jedes Verstehens.“ Gipper (1972: 248); vgl. Kutschera (1972: 280–340). Vgl. Gerhardt (1974: 24ff.). Sprache als Tätigkeit wird beispielsweise von Weisgerber anders interpretiert. Er bringt damit nicht die konkrete Rede, den einzelnen Sprechakt in Verbindung, sondern vielmehr meint er, Humboldt beziehe sich auf die Arbeit des Geistes, auf die Sprachkraft. Vgl. Gipper/Schmitter (21984: 90). Allerdings bedarf die Arbeit des Geistes eines Äußerungsaktes.

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selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia) [...] sie ist nemlich die sich wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. (H III: 418; vgl. auch H III: 439)

Sprache wird von Humboldt als Verwirklichungsvorgang gefasst, womit auch die Vorrangigkeit des einzelnen Redeaktes zu erklären ist. Humboldt rezipiert den aristotelischen Ausdruck Energeia. Dieser wurzelt in der aristotelischen Lehre von Veränderung und Bewegung bzw. von Akt und Potenz und meint einen Verwirklichungsvorgang, der ein Seiendes von der Möglichkeit zur Wirklichkeit übergehen lässt und zwar in einem nie vollendeten Vollzug. Somit ist Sprache als aktuelle, konkrete Rede ein nie vollendetes oder fi xiertes Erzeugnis, sondern immer dynamisch.19 In diesem Zusammenhang geht Humboldt auch auf die umgestaltende Kraft der Sprache ein. Sprache als Tätigkeit ist immer schon auf Gegebenes/Vorhandenes bezogen, insofern sie das Vorhandene umgestaltet. Diese Umgestaltung findet in Analogien statt.20 Dadurch hat der Mensch die Möglichkeit, Wirklichkeit sprachlich zu konstituieren und zwar durch die Tätigkeit der Sprache als Arbeit des Geistes. Da jede schon einen Stoff von früheren Geschlechtern aus uns unbekannter Vorzeit empfangen hat, so ist die, nach der obigen Erklärung, den Gedankenausdruck hervorbringende geistige Thätigkeit immer zugleich auf etwas schon Gegebenes gerichtet, nicht rein erzeugend, sondern umgestaltend. (H III: 419)

Dies entspricht auch der Auffassung vom Menschen als einem historisch gebundenen und gesellschaftlichen Wesen und infolgedessen einer Sprachauf-

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Vgl. Di Cesare (1998: 90 ff.); vgl. Aristoteles (1995a, Bd. 5, Buch 1); Energeia bei Aristoteles meint weiterhin eine freie und zweckgerichtete Tätigkeit. In diesem Sinne ist es ein Handeln, denn Handeln bedarf immer eines Zieles bzw. Zweckes. Vgl. dazu auch Anzenbacher (92002: 62ff.). 20 Humboldt betrachtet die Sprache als organisches Ganzes, das durch ein Netz aus Analogien verknüpft ist. „Denn ihrer innersten Natur nach macht sie ein zusammenhängendes Gewebe von Analogien aus, in dem sie das fremde Element nur durch eigene Anknüpfung festhalten kann.“ (H III: 679) Die analogische Struktur der Sprache ist gleichsam ihr Strukturprinzip. Vgl. Di Cesare (1989: 68f.). Humboldt knüpft in der Verwendung des Analogiebegriffes an die philosophische Tradition an, insofern er die Erkenntnisfunktion der Analogie betont. Vgl. Di Cesare (1989: 69f.) „Die Sprache ist nichts anderes als die Kristallisierung solcher analogischen Organisation der Wirklichkeit. Die Struktur, die sie in ihrem Inneren enthüllt, erscheint als ein »zusammenhängendes Gewebe von Analogien« gerade deshalb, weil sie durch die wechselseitige Durchdringung von Denken und Sprechen, den analogischen Zusammenhang, den Mensch unter den Dingen erblickt hat, in sinnlicher Form in sich enthält. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Sprache sogar als das offenbare und untrügliche Zeugnis des Erkenntnisvorgangs, durch den die Welt sprachlich gestaltet wird.“ Di Cesare (1989: 71).

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fassung, die Sprache als historisch bestimmt und geworden ansieht. Auch hier können wieder die Pole Individualität und Gesellschaftlichkeit als sich gegenseitig bedingend angesehen werden, insofern auch das Bewusstsein des Individuums in Abhängigkeit von der Gesellschaft historisch geprägt ist. Die Wechselbeziehung zwischen Objektivität und Subjektivität, zwischen Gesellschaft und Individuum, zwischen Spracherzeugnis und Sprechhandlung wird nochmals durch folgende Aussage Humboldts hervorgehoben: Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reisst sich die Vorstellung los, wird der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object und kehrt, als solches aufs neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniss derselben zum eigenen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subject zurückkehrende Objectivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich. ( H III: 428)

Nur durch die Rückbindung an die Gesellschaft als objektives Moment kann Bedeutung geschaffen und auf bereits existierende anerkannte Bedeutungen zurückgegriffen werden21. Veränderungen, insbesondere Bedeutungswandel, vollziehen sich demnach in einem solchen Wechselverhältnis zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen bereits Bekanntem und Neuem. Hier wird deutlich, wie sehr die einzelnen Aspekte der Humboldtschen Sprachtheorie – Weltsicht, Sprache als Tätigkeit und Gesellschaftlichkeit der Sprache – zusammenhängen. Das Individuum nimmt im je konkreten Sprechakt immer schon Bezug auf bereits Vorhandenes, gleichzeitig konstituiert es auf dieser Basis des Vorhandenen mittels sprachlicher Praxis seine je eigene Welt in der Orientierung am Anderen (vgl. Musolff 1990: 45ff.; vgl. Di Cesare 1996: 281). Dabei fokussiert Humboldt immer die Existenzweise der konkreten menschlichen Rede als Kern der Sprachbetrachtung, ohne aber die Systemhaftigkeit der Sprache in Abrede zu stellen. Vielmehr betont er deren gegenseitige Bezüglichkeit. Durch die Konzentration auf die aktuellen Redeakte wird dem sozialen Moment der Sprache deutlich mehr Beachtung geschenkt als bei einer umgekehrten Schwerpunktsetzung, wie weiter oben schon erörtert wurde (vgl. Busse 2005: 28ff.). Betrachtet man abschließend die hier vorgestellten Aspekte der Humboldtschen Auffassung von Sprache, so wird deutlich, dass es sich um Motive und Aspekte von Sprache handelt, die die linguistische Pragmatik, insbeson-

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Vgl. hier auch den Vorgang der Musterbildung; vgl. dazu Fix (1998a und b), L. Jäger (2002: 30).

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dere die Diskurslinguistik aufnimmt22 bzw. integrieren sollte (vgl. insbesondere Kapitel 2 dieser Arbeit).

1.3 Sprechen als Tätigkeit: Karl Bühler und Valentin Vološinov Mit Karl Bühlers und Valentin Volosˇinovs Ausführungen zur Sprachtheorie und Sprachphilosophie liegen zwei Ansätze vor, die zwar keine fertige Sprechakttheorie darstellen, dennoch, ähnlich wie Wittgenstein (siehe Kapitel 1.4), setzen diese wichtige Impulse hinsichtlich basaler Grundannahmen, auf die sich eine pragmatisch ausgerichtete Linguistik zu beziehen hat: Situationalität, Kontextualität und Handlungspotenz von Sprache. Karl Bühler forderte in seinen Schriften23 der 30er Jahre eine Theorie der Sprechhandlungen (vgl. AS, KP, ST), ohne selbst eine umfassende Klassifizierung zu entwickeln.24 Gleichwohl ging er – wie auch Volosˇinov – über die Sprechakttheorie der ordinary language philosophy school, insbesondere der Theorie Searles, hinaus, insofern beide ihren Ausführungen einen kommunikations- und verstehensorientierten Ansatz zu Grunde legen und Sinnkonstituierung erst durch Gemeinschaftlichkeit ermöglicht sehen.25 Darüber hinaus definieren sowohl Bühler als auch Volosˇinov Sprechhandlungen situationsgebunden. Der russische Sprachphilosoph Valentin N. Vološinov26 entwickelte Ende der 20er Jahre innerhalb seiner semiotischen Zeichenkonzeption einen sprachhandlungstheoretischen Ansatz zur Erfassung konkreter Sprechakte, der in Teilen sehr an Wittgensteins Konzeption erinnert. Im Folgenden werden die Ansätze Bühlers und Volosˇinovs hinsichtlich ihrer

22 Vgl. Gerhardt (1974: 22); vgl. Busse (1987); vgl. Busse (2005). 23 Auf Bühlers Schriften Die Axiomatik der Sprachwissenschaft (AS), Krise der Psychologie (KP) und Sprachtheorie (ST) wird im Folgenden mit Siglen verwiesen. 24 Eine systematische Klassifi kation, die in einen handlungstheoretischen Rahmen gestellt wird, kann bei Bühler in seiner Untersuchung des Phänomens der Deixis ausgemacht werden. Vgl. ST. 25 In der Forschungsliteratur zu Bühler wird auf Grund seiner kommunikationstheoretischen Annahmen ein Einfluss Bühlers auf Wittgenstein diskutiert. Vgl. dazu Eschbach (1988). Eschbach betrachtet in diesem Zusammenhang „Wittgenstein also nicht als Bühlers Sprachrohr, sondern als Wegbereiter, der in der Nachkriegszeit ein Anknüpfen an und ein vertieftes Verständnis für die Bühlersche Sprachtheorie ermöglichte.“ Eschbach (1988: 400). 26 Hinsichtlich der Autorschaft von Marxismus und Sprachphilosophie besteht keine einheitliche Meinung in der Forschung. Dieses Werk wird Bachtin zugeschrieben, der unter Vološinovs Namen veröffentlicht haben soll. Sicher ist aber nur, dass Vološinov zum Bachtin-Kreis gehörte. Vgl. dazu auch SZ vom 11.08.2005. Aumüller, Matthias: Hinter der Maske. Rätsel Autorschaft: Wie viele Stimmen hatte Michail Bachtin?, S. 14.

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sprachhandlungstheoretischen Implikationen, die für einen linguistischen und pragmatisch fundierten Diskursbegriff relevant sind, vorgestellt. 1.3.1 Karl Bühler In den 20er und 30er Jahren beschäftigte sich der Psychologe Karl Bühler mit der Axiomatik der Sprachwissenschaft. Aus dieser Beschäftigung resultieren zwei wichtige Werke, Die Axiomatik der Sprachwissenschaft und Sprachtheorie. Letzteres greift Gedanken des ersten Buches wieder auf und präzisiert diese. In linguistischen Kontexten wird vornehmlich auf Bühler referiert, wenn es um die Konzeption sprachlicher Zeichen und deren Funktionen geht. Dass er aber in seiner Sprachtheorie auch Ansätze einer Sprechhandlungstheorie formulierte, wird dagegen seltener thematisiert. Vielmehr wird, wenn es um Sprechakte und Sprachhandlungen geht, in der Tradition der pragmatischen Linguistik immer auf die angelsächsische Richtung der ordinary language school Bezug genommen. Wenngleich Bühler keine fertige Theorie und keine Klassifikation der Sprechakte entwickelte, sind doch seine Gedanken zur Begründung einer pragmatischen Sprachauffassung erwähnens- und bedenkenswert. Zudem gilt er als derjenige, der in seinen Arbeiten die Handlungsorientierung der Sprache wieder entdeckte, nachdem lange Zeit das Paradigma von der Systemhaftigkeit der Sprache die Linguistik dominierte.27 Bühler geht in seiner Konzeption davon aus, dass Sprache nur in Gemeinschaft existieren kann und auch nur in Gemeinschaft ihren Sinn erfüllt.28 Bereits in seiner Schrift Die Krise der Psychologie (1927) beschreibt er den Gebrauch sprachlicher Zeichen als kommunikations- und verstehensorientierte Verwendung sprachlicher Zeichen. Darin liegt zugleich der wesentliche Sprachzweck, der sich durch die drei Dimensionen der Sprache – im Organonmodell als die drei Seiten des sprachlichen Zeichens konzipiert – konstituiert.29 Der Mensch ist darauf aus, innerhalb einer Gemeinschaft zu

27 Allerdings wurde Bühlers Sprachtheorie zu Anfang kaum rezipiert, was damit zusammenhängt, dass Bühler als Emigrant der späten 30er Jahren in den USA keine ihm adäquate Wirkungsstätte vorfand. Seine Sprachtheorie wurde dann später auch nur partiell rezipiert, und zwar hinsichtlich seines Zeichenmodells und hinsichtlich seines Konzeptes der Deixis, so dass die Äußerungen zur Handlungspotenz der Sprache relativ unbeachtet blieben. Das hatte auch zur Folge, dass in der Linguistik vornehmlich auf den angelsächsischen Zweig einer Theorie der sprachlichen Handlungen im Kontext der ordinary language philosophy Bezug genommen wurde. Vgl. Ehlich (1995: 958f.). 28 Vgl. hier das Privatsprachenargument bei Wittgenstein in Kapitel 1.4 dieser Arbeit. 29 Vgl. hierzu Musolff (1990: 12). Bereits 1918 in seinem Aufsatz Kritische Musterung der neuern Theorien des Satzes beschreibt Bühler die Leistung der menschlichen Sprache als eine dreifache: Kundgabe, Auslösung und Darstellung. Vgl. ST: 28; vgl. auch Musolff (1990: 5ff.). Seine Auffassung von der Dreidimensionalität der Sprache entwickelt Bühler kontinuierlich bis zur Konzeption des Organonmodells sprachlicher Zeichen weiter. In

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kommunizieren und verstanden zu werden. Insofern handelt es sich bei Bühler um eine sozial begründete Semantizität der Sprache; der Ursprung der Semantik liegt gleichsam in der Gemeinschaft (vgl. KP: 37ff.). Die Annahme der Gemeinschaftlichkeit als Existenzbedingung von Sprache bildet die Voraussetzung für alle weiteren Überlegungen30 und geht in dieser Hinsicht über die Sprechakttheorie der ordinary language philosophy hinaus. Dadurch dass Bühler die Dimension des Verstehens mit berücksichtigt, kann man hier von einem interaktiven Ansatz sprechen, der Sprechen immer im Kontext von Hörer und Sprecher als einem wechselseitigen Ereignis betrachtet, das in sozialen Bezügen stattfindet. Dementsprechend konzipiert Bühler das Organonmodell des sprachlichen Zeichens, das aus systematischen Gründen weiter unten (Kap 1.6.3) erläutert wird. 31 Hier soll zunächst Bühlers Sprachtheorie im Hinblick auf diejenigen Grundgedanken, die er bezüglich der Sprache als Handlungspotenzial entwickelte, von Relevanz sein. Das Vierfelderschema Um den Ansatz seiner Gedanken zu einer handlungstheoretischen Beschreibung von Sprache zu verstehen, bedarf es einer Erläuterung des Zusammenhangs, in dem Bühler auf die Handlungspotenz von Sprache und auf konkrete Sprechakte zu sprechen kommt. Grundlage seiner Erörterung ist die Anordnung unterschiedlicher sprachlicher Dimensionen in einem Vierfelderschema, das die Komplexität von Sprache zu erkennen geben soll. Zugleich stehen die Felder in einem bestimmten Relationsgefüge zueinander (vgl. ST: 49). Bühler spricht hier von einem sechsfachen Relationsgefüge. Die Felder Sprechakt und Sprachhandlung ordnet Bühler neben die Felder Sprachwerk und

Krise der Psychologie spricht er von den drei Sinndimensionen der Sprache, die Verstehen ermöglichen (vgl. KP: 94). Zur Entwicklung der drei Sprachdimensionen bei Bühler vgl. Musolff (1990). In der Sprachtheorie korrespondieren zudem die Ausdrücke Sinnbezüge und Sprachfunktion. Vgl. ST: 28–33. 30 Vgl. hierzu KP: 38f. Bühler sieht den Ursprung der Semantik in der Gemeinschaft, insofern ein sprachliches Zeichen immer schon Sender und Empfänger mit einbezieht. „Wir folgen einem aus intimer Kenntnis der Dinge oft ausgesprochenen aber niemals methodisch restlos fruktifi zierten Satz, wenn wir den Ursprung der Semantik nicht beim Individuum, sondern bei der Gemeinschaft suchen. Auch die logische Erkenntnis, daß Kundgabe und Kundnahme korrelative Begriffe sind, daß zum Zeichengeber ein Zeichenempfänger gehört, wenn anders Semantik einen Sinn haben soll, weist uns auf den gleichen Quellpunkt der Sprache hin. Wir machen also die ebenso einfache als weittragende Hypothese, daß die semantischen Einrichtungen von vornherein im Dienste eines geordneten Gemeinschaftslebens stehen [...].“ (KP: 38). 31 Um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, wird das Organonmodell nur im Kontext pragmatischer Aspekte von Zeichenmodellen näher vorgestellt (vgl. Kapitel 1.6.3). Trotzdem lassen sich einige Wiederholungen nicht umgehen. Diese ergeben sich aus der Gesamtkonzeption der Bühlerschen Sprachtheorie, insofern er das sprachliche Zeichen in einen jeweiligen sozialen Kontext eingebettet sieht.

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Sprachgebilde zu einem Vierfelderschema an. Um diese vier Felder näher zu charakterisieren, bedient er sich der Terminologien Saussures und Humboldts. Damit vereint diese Konzeption sowohl Humboldtsche als auch Saussuresche Aspekte der Sprachauffassung. Das Schema samt seiner Kriterien kann grafisch folgendermaßen veranschaulicht werden:

Energeia situationsgebunden

Ergon situationsentbunden

parole/geringere Komplexitätsstufe

Sprechhandlung

Sprachwerk

parole/geringere Komplexitätsstufe

langue/höhere Komplexitätsstufe

Sprechakt

Sprachgebilde

langue/höhere Komplexitätsstufe

Energeia situationsgebunden

Ergon situationsentbunden

Übersicht 1.3-1: Vierfelderschema nach Bühler 1999/1934, Auer 1999, Wunderlich 1969

Auf der vertikalen Achse umfasst das Schema die Unterscheidungskriterien langue und parole sowie die Eigenschaften niedere Komplexitätsstufe und höhere Komplexitätsstufe, auf der horizontalen Achse unterscheidet Bühler in energeia als den situationsgebundenen Akten der Hervorbringung von Sprache und in ergon als dem situationsentbundenen sprachlichen Produkt (ST: 49ff.). Mit dem Vierfelderschema unternimmt Bühler vor allem eine Differenzierung in die objektive Seite von Sprache als einer jedem Einzelnen vorgegebenen Struktur und in die subjektive Seite als vom Einzelnen hervorgebrachtes Sprechereignis; beide Seiten stehen in einem gewissen Wechselverhältnis miteinander, was durch die sechsfache Relationierung der vier Felder deutlich wird (vgl. hier auch Ströker 21976: 129–133). Bühler will mit diesem Schema und dem damit implizierten Wechselverhältnis einer Dichotomie von Sprachstruktur/Systemgedanke und Konkretion im Redeakt, wie sie etwa in der Folge Saussures von der Linguistik verfolgt wurde, entgegentreten, indem er betont, dass kein Feld dominiert und ohne das andere auskommen kann (vgl. AS: 50–52; vgl. ST: 69; Musolff 1990: 43, 49, 78). Hier kann der linguistische Diskursbegriff anschließen, insofern immer schon auf Muster zurückgegriffen wird, die dann durch die konkrete Sprachverwendung

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Veränderung erfahren können. Das wechselseitige Verhältnis von Dynamik und Statik wird mit dem Vierfelderschema in komplexer Weise thematisiert. Es interessieren nun vor allem die Sprechakte und Sprachhandlungen in der Konzeption Bühlers. Seine Erläuterungen dieser beiden Faktoren umfassen wichtige Momente, die später mit dem Rekurs auf die angelsächsische Tradition durch die Linguistik für eine pragmatische Fundierung wichtig werden. Zentral ist die Grundannahme, dass der Mensch handelt, wenn er redet. Unter Handeln versteht Bühler „alle zielgesteuerten Tätigkeiten des ganzen Menschen“32. (ST: 52) Das menschliche Sprechen ist eine Art, ein Modus des Handelns. [...] Wir verallgemeinern schon im täglichen Leben, wir nennen nicht nur die Manipulationen, worin die Hände tatsächlich im Spiele, am Werke sind, Handlungen, sondern auch andere, wir nennen a l le zielgesteuerten Tätigkeiten des ganzen Menschen Handlungen. (AS: 59, Hervorhebung im Text)

Bühler selbst entwickelt keine Sprechakttheorie, wenngleich er diese im Kontext der Erläuterung dieses Vierfelderschemas ausdrücklich fordert, vielmehr sind seine Ausführungen als noch weiterzuentwickelndes Programm zu verstehen (vgl. AS: 59, vgl. Ströker 21976: 133). Charakteristisch für Sprechhandlungen ist deren Prozessualität, die er mit „Creszenz“ (ST: 53) bezeichnet und als „redendes Lösen“ (ST: 53) von Problemen des Augenblicks definiert. In die Sprechhandlungen fließen die individuellen und biografisch bedingten Wissensbestände ein, die wesentlich für die Handlung sind (vgl. ST: 56). Bühler bezeichnet dieses Wissen als Aktgeschichte.33 Wesentlich für den Handlungsbegriff Bühlers sind zudem äußere und innere Faktoren des Aktionsfeldes der Situation, nämlich die Faktoren Bedürfnis und Gelegenheit 34. Aktgeschichte, innere und äußere Faktoren des Aktionsfeldes ergeben die Kriterien der Situationalität und Kontextualität sprachlicher Handlungen.

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Zielsteuerung ist für Bühler wohl das entscheidende Kriterium des Handlungsbegriffes. Handlung bestimmt er näher als ein Feld, welches sich aus zwei „Determinationsquellen“ speist – und zwar werden diese bestimmt als Bedürfnis und als Gelegenheit – und der Biografie des Handelnden. „Die Duplizität im Aktionsfeld und die Tatsache der nur historisch faßbaren Reaktions- und Aktionsbasis, das sind die zwei wichtigsten Einsichten [...]“ (ST: 56). Vgl. auch Ströker (21976: 132). 33 Hinsichtlich der individuellen und biografisch bedingten Wissensbestände kann ein Bezug zum Faktorenmodell der Kommunikation hergestellt werden, das auf die verschiedenen Wissensformen Bezug nimmt und diese Formen differenziert (beispielsweise in kulturelles Wissen, sprachliches Wissen, Situationswissen, Alltagswissen). In dem genannten Kommunikationsmodell wird die Kommunikation vom außersprachlichen und sprachlichen Wissen des Sprechers (und Hörers) beeinflusst, das sicherlich auch biografisch bedingt ist. Zur Erläuterung des Modells vgl. Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit. 34 Vgl. ST: 53, 56; vgl. Ströker (21976: 132); vgl. Musolff (1990: 34).

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Bühler hebt in seinen Erläuterungen immer wieder die Situationalität und Kontextualität menschlichen Sprachhandelns hervor (vgl. ST: 52). Die Akte der Hervorbringung von Sprache, Sprechakt und Sprechhandlung, werden von Bühler also nicht isoliert betrachtet, vielmehr spielen weitere Faktoren eine wichtige Rolle, die in der späteren Konzeption einer linguistischen Pragmatik zur Geltung gebracht werden und für die einzelnen Handlungen zentral sind: Sprechakte und Sprechhandlungen werden durch das jeweilige Umfeld näher bestimmt. Die Mitberück sichtigung des jeweiligen Umfeldes ist für Bühler notwendig, um Sprechhandlungen vollständig bestimmen zu können. Bühler spricht hier von drei Arten von Umfeldern, dem sympraktischen, dem symphysischen und dem synsemantischen Umfeld. Das sympraktische Umfeld umfasst die jeweils konkrete Situation, das symphysische Umfeld35 die den Dingen anhaftenden Eigennamen und das synsemantische Umfeld den jeweils gegebenen verbalen Kontext, der gleichwohl begleitende Gestik, Mimik und Intonation beinhalten kann. Das sprachliche Zeichen entwickelt demnach seine vollständige Bedeutung erst durch den Kontext, es steht nicht isoliert. Erst mit dieser Klassifizierung werden Sprechhandlungen vollständig charakterisiert. Bedeutungskonstitution ist somit als ein prozessuales und kontextbedingtes Geschehen zu begreifen. Insbesondere das sympraktische Umfeld als die Verflechtung sprachlicher Handlungen in nicht-sprachliche soziale Kontexte ist für das Verstehen von Äußerungen von großer Bedeutung; hier integriert Bühler bereits gebrauchstheoretische Aspekte der Bedeutungskonstitution und soziale Handlungszusammenhänge in seine Sprachtheorie36, die, wie Busse konstatiert, erst in allerneuesten Theorien etwa der ‚Szenen‘ oder ‚Handlungsrahmen‘ wieder aufgegriffen worden sind. Zugleich leistet Bühler damit einen Vorgriff auf den Begriff des ‚Sprachspiels‘ bei Wittgenstein, der gerade diese enge Vernetzung von sprachlichen Äußerungen und ihrer grammatischen Struktur mit sozialen Handlungssituationen (Interaktion zwischen mehreren Beteiligten) herausstellen sollte. (Busse 2005: 30f.)

Im Rahmen der Konzeption des Sprachzeichens, das weiter unten genauer vorgestellt wird, kommt der Interaktionscharakter des konkreten Sprechereignisses auf Grund der Einbeziehung von Sender und Empfänger sowie durch die Rückbindung des Verstehensprozesses an die Gemeinschaft zur Geltung37. Die Bedeutung des Kontextes zeigt sich auch bei synchytischen, also unbestimmten Begriffen, die je nach Kontext und Situation in ihrem Bedeu-

35 Das symphysische Umfeld ist für die hier verfolgten Zwecke nicht so sehr von Bedeutung. 36 Vgl. hier Busse (2005: 39); vgl. hierzu aber auch das Wittgensteinsche Sprachspielkonzept, das Ähnlichkeiten mit Bühlers sympraktischen Umfeld aufweist. 37 Vgl. KP: 33, 38, 91; vgl. ST: 28, 30, 32; vgl. auch Musolff (1990: 21); vgl. Fußnote 30.

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tungsgehalt unterschiedlich fixiert werden müssen, da sie ohne Kontext unbestimmt sind.38 (Vgl. ST: 221) Mit der Unbestimmtheit kann das Phänomen semantischer Vagheit in Verbindung gebracht werden, doch ist darunter auf keinen Fall Bedeutungsbeliebigkeit im Sinne von ‚man kann alles damit meinen‘ zu verstehen (vgl. ST: 231; vgl. Eschbach 1984; vgl. Musolff 1990: 79). Das Konzept der Deixis Im Kontext der Erörterung der Zweifeldertheorie, die von einem Symbolfeld und einem Zeigfeld sprachlicher Zeichen ausgeht, generiert Bühler in seiner Sprachtheorie das Konzept der Deixis, das gerade im Kontext der Handlungspotenz der Redeakte eine zentrale Rolle spielt. Die Auffassung vom sprachlichen Handeln sowie von der Situationalität und Kontextualität menschlichen Sprechens wird dann zentral, wenn er seine Lehre von der Origo des Sprechers im Zeigfeld entwickelt. Dazu unterscheidet Bühler zunächst in das Zeigfeld, dem die deiktischen Ausdrücke zuzuordnen sind und in das Symbolfeld, dem die Nennwörter angehören. Bühler nimmt eine Systematisierung des Handlungsbezuges von Sprache hinsichtlich deiktischer Phänomene vor39, insofern er zunächst von drei Modi des Zeigens spricht: das Verweisen im gemeinsamen Wahrnehmungsraum von Sprecher und Hörer (demonstratio ad oculos), Verweisen durch Vermittlung des Gedächtnisses (Deixis am Phantasma), Verweisen auf Vorerwähntes (Anaphora) (vgl. ST: 123). Letztere verknüpft Zeig- und Symbolfeld durch den Verweis auf den sprachlichen Kontext (vgl. Wunderlich 1969: 61; vgl. ST: 79–148). Je nach Situation und Sprecher erhält im Zeigfeld – bedingt durch die Origo des Sprechers als Ausgangspunkt des Zeigens – das sprachliche Zeichen eine andere Bedeutung und ist von der je konkreten Sprachhandlung des einzelnen Sprechers abhängig; die Referenz muss je nach Situation und Sprecherposition in einer „intersubjektiven Handlungssteuerung“ neu hergestellt werden. (Musolff 1990: 65; vgl. ST: 105ff. und 149) Bühler entwickelt hier entsprechend den o. g. Modi ein Konzept der Temporal-, Lokal- und Personaldeixis sowie der Deixis am Phantasma. Auf Grund der Tatsache, dass die Referenz von Situation zu Situation unterschiedlich ist, nämlich je nachdem wer wo und wann spricht, handelt es sich bei der Deixis um ein pragmatisches und extrem kontextabhängiges Phä-

38 Bühlers Auffassung die synchytischen Begriffe betreffend, nämlich bezüglich der Bedeutung solcher Begriffe, sich auf den Verwendungsbereich und nicht auf den semantischen Gehalt zu konzentrieren, lässt Ähnlichkeiten zu Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung und dessen Begriff der Familienähnlichkeit erkennen, wie Eschbach konstatiert. Vgl. Eschbach (1984: 180ff.). 39 Die Systematisierung deiktischer Phänomene in handlungstheoretischer Perspektive kann als elaborierteste Ausarbeitung innerhalb der Sprachtheorie Bühlers betrachtet werden. Vgl. Ehlich (1995: 958f.); vgl. Wunderlich (1969: 60f.).

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nomen. Dagegen sind im Symbolfeld die Wörter nur vom synsemantischen Umfeld beeinflusst und bleiben im Kern kontextinvariant. Zudem rechnet Bühler das Symbolfeld dem Feld der Sprachgebilde zu, so dass er mit dieser Konzeption der Zweifelderlehre zugleich die Wechselbeziehung zwischen konkreten Sprechakten und der Sprachstruktur begründet und die Bedeutung einer Wechselbeziehung zwischen subjektbezogenem Redeakt und objektivem Sprachsystem herausstellt.40 Bühler intendierte zwar nicht, mit seiner Sprachtheorie eine Sprachhandlungstheorie vorzulegen, doch fordert er darin eine solche. Seine Gedanken, die er in den oben genannten Schriften entwickelte, können aber als wichtige Bezugspunkte einer linguistischen Pragmatik geltend gemacht werden, wenngleich sie einer Weiterentwicklung, die u.a. in den Ausarbeitungen der ordinary language philosophy zur Theorie der Sprechakte gesehen werden kann, bedürfen. 1.3.2 Valentin N. Vološinov Im Kontext der pragmatisch ausgerichteten Sprache-und-Politik-Forschung bzw. der Politolinguistik wird auf Vološinov Bezug genommen, sobald es um den Begriff der Ideologie geht. Dabei setzt Vološinov dem Ideologiebegriff einen handlungsbezogenen Sprachbegriff voraus, der zudem die Faktoren Situationalität, Kontextualität und Bedeutungsvagheit bzw. Polysemie reflektiert. In Bezug auf seinen Ideologiebegriff soll nun hier sein vorausgesetzter handlungsbezogener Sprachbegriff, den er in seinem Werk Marxismus und Sprachphilosophie erörtert, expliziert werden.41 Vološinovs Grundannahmen stellen, ähnlich denen Bühlers, Referenzpunkte für die Begründung eines pragmatischen Sprachbegriffes dar. Es scheint, daß Marxismus und Sprachphilosophie in der Tat, hier und heute, eine gewisse Aktualität für sich beanspruchen kann. Einerseits für die Literaturwissenschaft, die zunehmend die Verbindung von soziohistorischer und formaler Analyse,

40 Vgl. Musolff (1990: 66); vgl. Pléh (1984: 288ff. ); vgl. dazu ST: 69; vgl. dazu Eschbach (1988: 398ff.). Eschbach stellt in diesem Artikel eine geistige Verbindung zwischen Bühler und Wittgenstein her, insofern Wittgenstein mit seiner Sprachkonzeption der mittleren und späten Phase dafür sorgte, die Gedanken Bühlers in der Nachkriegszeit weiter zu verbreiten. „Ich betrachte Wittgenstein also nicht als Bühlers Sprachrohr, sondern als den Wegbereiter, der in der Nachkriegszeit ein Anknüpfen an und ein vertieftes Verständnis für die Bühlersche Sprachtheorie ermöglichte.“ Eschbach (1988: 400). Das allerdings geschah nur implizit. Bei Wittgenstein ist kein expliziter Bezug auf Bühler zu finden. Beide, Wittgenstein und Bühler erachteten die Einbeziehung der sowohl subjektiven als auch objektiven Seite der Sprachbetrachtung als notwendig. 41 Im Folgenden wird aus diesem Werk mit der Abkürzung MS unter Hinzufügung der entsprechenden Seitenzahl zitiert.

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ob aus marxistischer oder rezeptionsästhetischer Sicht, als Desiderat anerkennt; und andererseits für kommunikationstheoretische und pragmatische Sprachtheorie, deren grundlegende Fragestellungen zu einem großen Teil schon von Vološinov formuliert worden sind. (Weber 1975: 11f.)

So Samuel Weber in seiner Einleitung zu Marxismus und Sprachphilosophie. Bereits 1929 liegt mit den Ausführungen Vološinovs in Marxismus und Sprachphilosophie ein Ansatz vor, der Sprache als kommunikativen Akt beschreibt, bisher aber in der linguistischen Rezeption und Tradition der Sprechakttheorie unberücksichtigt blieb. Auf Vološinov wird im Kontext der Sprechhandlungstheorie in der Linguistik so gut wie gar nicht Bezug genommen, obgleich er Ansätze einer handlungstheoretischen Fundierung von Sprache im Kontext seiner Auseinandersetzung mit seiner semiotischen Zeichenkonzeption und dem Ideologiebegriff geliefert hat, die den Handlungsaspekt und den Zeichenaspekt von Sprache zusammenbringt (vgl. Weber 1975: 12). Ähnlich dem Ansatz Bühlers fordert Vološinov den Einbezug der Situation und des Kontextes in die Sprachbetrachtungen konkreter Redeakte. Ebenso geht er von der Kommunikations- und Verstehensorientierung der Individuen aus. Sprechen als interaktives Geschehen kann sich demnach nur in Gesellschaft realisieren, es bedarf notwendigerweise eines Gegenübers. Faktoren der Dialogizität, der sprachlichen Interaktion und des Verstehens haben demnach in seiner Konzeption einen zentralen Stellenwert (vgl. MS: 157, 167). Aspekte einer primären Auffassung von Sprache als sprachliche Handlungen lassen sich innerhalb eines Kommunikationsmodells bei Vološinov herausarbeiten, obgleich er ebenso wie Bühler keine ausgearbeitete Theorie der Handlungen und Klassifikation von Sprechakten vorlegt. Vielmehr stellt er grundlegende Merkmale des Sprachgebrauchs sowie des sprachlichen Zeichens heraus (vgl. MS: 158, vgl. 66ff.). Als ein weiterer Vorläufer neben Bühler der heute in der Pragmalinguistik gängigen Auffassung vom Sprachhandeln oder von Sprache als Interaktion sollen im Folgenden die Gedanken Vološinovs kurz vorgestellt werden. Die zentralen für den hier behandelten Zusammenhang verwendeten Begriffe in seiner Schrift Marxismus und Sprachphilosophie sind Ideologie, Interaktion und Bedeutung. Alle diese Begriffe sind wiederum abhängig von den Faktoren der Kontextualität und Situationalität und stehen in einem gegenseitigen Wechselverhältnis. Ideologie Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist eine Zeichenkonzeption, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ideologiebegriff zu sehen ist. Vološinov entwickelt einen relativ allgemeinen Ideologiebegriff, der Ideologie und Zeichenbegriff als notwendigerweise zusammengehörig auffasst, insofern Ideologie jedem Zeichen als Eigenschaft anhaftet bzw. jedem sprachlichen Zeichen inhärent ist. Damit distanziert er sich zugleich von einer repräsentationalen

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Zeichenauffassung. Jedes Zeichen ist für Vološinov ideologisch und stellt Wirklichkeit unter je unterschiedlichen ideologischen Voraussetzungen dar. Im sprachlichen Zeichen ist die jeweilige Perspektive, aus der man die Welt betrachtet, immer schon enthalten. „Das Sein, das sich im Zeichen widerspiegelt, wird dort nicht einfach widergespiegelt, sondern gebrochen.“ (MS: 71) Damit kann bedeutungsvarianter Sprachgebrauch, bedingt beispielsweise durch ideologisch konkurrierende Sprachverwendungen, erklärt werden. Für Vološinov ist jedes Zeichen in gewisser Weise bedeutungsvariant, da sich in ihm der Widerstreit der gesellschaftlichen Basis durch das Konfligieren der Interessen in den Zeichen selbst widerspiegelt. Die Basis ist gekennzeichnet von der „Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen [...] in einer Zeichengemeinschaft.“ (MS: 71) Ideologie meint aber nicht einfachhin einen gesellschaftlichen Überbau, vielmehr handelt es sich dabei um die nicht hinterfragte Lebensform im Wittgensteinschen Sinne, die in jeden Sprachgebrauch eingeht (vgl. Auer 1999: Kap. 19; vgl. Girnth 2002: 4f.; vgl. Kapitel 1.4 dieser Arbeit). Jedes Zeichen entsteht, wie wir wissen, bei gesellschaftlich organisierten Menschen im Prozeß ihrer Wechselbeziehungen. Deswegen werden die Zeichenformen vor allem sowohl von der sozialen Organisation der jeweiligen Menschen als auch von den unmittelbaren Bedingungen ihrer Interaktion bestimmt. [...] Jedes ideologische Zeichen – und damit auch das Wort – das sich im Prozeß der sozialen Kommunikation realisiert, wird durch den gesellschaftlichen Gesichtskreis der jeweiligen Epoche und sozialen Gruppe bestimmt. (MS: 68–69, Hervorh. im Original)

Diese Zeichenkonzeption wird gerade für das Verhältnis von Sprache und Politik bzw. für den öffentlich-politischen Kommunikationsbereich von besonderer Bedeutung sein. Bereits Vološinov spricht von den später in der Politolinguistik beschriebenen Phänomenen der Bedeutungs- und Nominationskonkurrenz als von einem inneren Kampf des Wortes um die je nach sozialer Gruppe bzw. Klasse typische Bedeutungsfi xierung. Das Wort ist für ihn bestimmt durch den Klassenkampf, der sich innerhalb des Wortes durch dessen „Multiakzentuierung“ ereignet (vgl. MS: 71f.). Die „Multiakzentuierung“ ergibt sich aus den verschiedenen Kontexten und Situationen. Interaktion – Bedeutung – Sprachhandeln Sprache und Sprechen sind für Vološinov primär Interaktion. Im Zentrum seiner Erörterungen steht bei ihm demnach auch die immer in soziale Kontexte eingebundene sprachlich-kommunikative Praxis und nicht das starre situationsentbundene sprachliche System. Mit seiner mit dem Verständnis von Sprache als Interaktion verbundenen Bedeutungstheorie grenzt sich Vološinov vom sprachlichen Objektivismus aber auch vom individualistischen Subjektivismus der Sprachbetrachtung ab und versucht eine Synthese herzustellen, indem er die soziale Bedingtheit

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jedes Sprechens betont. Ihm geht es darum, das Subjekt als ein in der Gesellschaft eingebundenes Subjekt zum Ausgangspunkt sprachlichen Handelns zu machen. Verbunden mit dem Interaktionsbegriff ist Vološinovs Bedeutungskonzeption. Diese wird im Kontext des Wechselverhältnisses von Wirklichkeit und Ideologie bzw. Gesellschaft zentral, insofern sich die ganze Bedeutung eines Wortes erst durch den Kontext bestimmen lässt. Diese Veränderung der Wertakzentuierung eines Wortes in verschiedenen Kontexten wird von der Linguistik überhaupt nicht berücksichtigt und findet in der Lehre von der Einheit der Bedeutung keinerlei Widerhall. Die Akzentuiertheit entzieht sich der Substantialisierung am meisten, und genau diese Multiakzentuierung ist es, die dem Wort erst Leben gibt. Das Problem der vielfachen Akzentuiertheit muß eng mit dem Problem der Vieldeutigkeit verbunden werden. (MS :139–140)

Zudem wird das Wort erst in einem zweiseitigen Akt zwischen Sprecher und Zuhörer produziert. Dabei ist es immer auf den jeweiligen Gesprächspartner orientiert (vgl. MS 145f.). Die Bedeutung der Orientierung des Wortes auf einen Gesprächspartner ist ungeheuer groß. Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt. Es wird in gleicher Weise dadurch bestimmt, von wem es ist, als auch für wen es ist. Es ist, als Wort, genau das Produkt der Interaktion von Sprechenden und Zuhörenden. (MS: 146, Hervorh. im Original)

Wörter reflektieren die sozialen Gegebenheiten einerseits und die Wechselbeziehung der Sprechenden andererseits, ja Bedeutung konstituiert sich erst durch diese Wechselbeziehung im Prozess des Verstehens. Dieser Aspekt lässt wiederum auf die dialogische Ausrichtung der Sprache schließen: Erst durch die Ausrichtung auf den Anderen wird Verstehen, wird Kommunikation möglich. „Die Bedeutung ist die Wirkung der Interaktion zwischen Sprechendem und Hörendem im Material des gegebenen Lautkomplexes.“ (MS: 167f., 157) Die Bedeutung konstituiert sich somit durch Dialogizität. Dialog bei Vološinov bezieht sich sowohl auf das gesprochene als auch auf das geschriebene Wort. Das Buch stellt für Vološinov eine komplexe sprachliche Handlung dar, die dialogisch ausgerichtet ist, insofern es adressatenorientiert ist und bereits eine Reaktion auf etwas Gesagtes oder Geschriebenes sein kann42.

42 Bereits an dieser Stelle ist das Phänomen der Intertextualität, das im Rahmen der Erörterung des linguistischen Diskursbegriffes von Bedeutung sein wird (vgl. Kapitel 2.3.3.2 dieser Arbeit) durch das Prinzip der Dialogizität implizit thematisiert, wenn das Buch als Redeakt sich an vorhergehenden Redeakten orientiert und sich auf zukünftige Redeakte richtet. Zudem kann die Auffassung von einem Buch als komplexe sprachliche Handlung bereits hier bei Vološinov als Bezugspunkt für die pragmatisch orientierte Textlinguistik angeführt werden. Vgl. Vološinov (1975: 157ff.).

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Den kontextuell bestimmten und variablen Teil der Bedeutung eines Wortes bezeichnet Vološinov als Thema, den identisch bleibenden Teil als Bedeutung. Thema und Bedeutung gehören zwingend zusammen und ergeben das Ganze der Bedeutung. Hier lassen sich ganz offensichtlich Bezüge zu Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung sowie zu seinem Privatsprachenargument herstellen. Andererseits wird der Bezug zu Humboldts Weltsichtthese und seiner Auffassung von der Dialogizität der Sprache deutlich (vgl. Kap. 1.2 und 1.4). Hinzu kommt nun noch die Verbindung zum Ideologiebegriff. Die mit dem Ideologiebegriff verbundene inhärente Bewertung und Einstellungsbekundung beim Äußern von Wörtern bzw. beim Kommunizieren hat direkten Einfluss auf die Bedeutungskonstitution; die Bewertung ist als Teil des kontextuellen Faktors Thema Bestandteil der Bedeutung. Ein Bedeutungswandel käme damit einem Bewertungs- und Einstellungswandel gleich (vgl. MS: 168). Und auch hier spielen naturgemäß die Faktoren Kontextualität und Situationalität eine wichtige Rolle, was Volosˇinov am Beispiel der Intonation deutlich macht. Eigentlich ist dieses Wort nur eine Stütze für die Intonation. Das Gespräch wird hier mit Intonationen geführt, welche die Wertungen der Sprechenden ausdrücken. Diese Bewertungen und die ihnen entsprechenden Intonationen werden durch die unmittelbare soziale Situation des Gesprächs bestimmt, deswegen brauchen sie auch keinen gegenständlichen Halt. (MS: 169f.)

Diese Idee, dass Sprechakte erst im konkreten Situationszusammenhang eine ganz bestimmte von der sich aus den unterschiedlichsten Einflussfaktoren konstituierenden Situation (Mimik, Gestik, Intonation, außersprachliche Ereignisse) beeinflusste Bedeutung erhalten, arbeitet dann Austin in seiner Klassifikation der Sprechakte zu einer Theorie aus, die Sprechakte nach bestimmten Kriterien und Bedingungen klassifiziert (vgl. hier Kapitel 1.5.1). Deutliche Parallelen allerdings lassen sich, wie bereits erwähnt, im Hinblick der späten Sprachkonzeption Wittgensteins feststellen. Gemeinsame Aspekte sind beispielsweise: Gesellschaftlichkeit der Sprache, Einbettung in die soziale, nicht-sprachliche Praxis, der Gebrauchsaspekt, der Verstehensaspekt von sprachlichen Äußerungen und die Dialogizität als notwendige Existenzbedingung von Sprache. Trotz der potenziellen Vieldeutigkeit des Wortes spricht Vološinov von dessen Einheit, die dadurch gewährleistet bleibt, dass die Bedeutung eines Wortes nur als Ganzes gedacht werden kann. Garantiert wird die Einheit des Wortes von den kontextinvarianten Merkmalen bzw. Faktoren, sozusagen dem semantischen Kern. Zugleich ist es aber auf den jeweiligen Kontext angewiesen, damit die Bedeutung entsprechend fi xiert wird. Demnach besteht für Vološinov ein Wort immer aus kontextvarianten und kontextinvarianten Faktoren bzw. Merkmalen, die aber immer nur zusammen zur Geltung ge-

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bracht werden können (vgl. MS: 138f.). Vološinov spricht in diesem Zusammenhang von der dialektischen Synthese (MS: 142) beider Bestandteile43. Der Aspekt der Wirklichkeitskonstitution durch Sprache wird innerhalb der Sprachtheorie zur Geltung gebracht, wenn Vološinov konstatiert, dass sich die innere Welt des Menschen an die Sprache und deren Möglichkeiten, Welt auszudrücken, anpasse. Diese Aussage erinnert an Humboldts These von der Konstruktion der Wirklichkeit durch Sprache (vgl. MS: 152).

1.4 Sprachgebrauch und Sprachhandeln: Ludwig Wittgenstein Ludwig Wittgenstein (1889–1951) hat sich Zeit seines Lebens mit dem Problem der Sprache auseinandergesetzt, gleichwohl hat er keine systematische Sprachtheorie vorgelegt. Ziel seiner Auseinandersetzungen war sowohl in der Früh- als auch in seiner Spätphilosophie vielmehr Sprachkritik zu üben.44 In der Schrift seiner Frühphilosophie Tractatus logico-philosophicus geht es Wittgenstein um die Etablierung einer Idealsprache, die geprägt sein sollte von Klarheit und Genauigkeit. „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen“, erläutert Wittgenstein in seinem Vorwort zum Tractatus. (Tlp: 9) Grundlage für seine Ausführungen bildet hier eine realistische Bedeutungskonzeption45, die die vorgegebene Wirklichkeit getreu abzubilden trachtet. Seine Spätphilosophie, die erst posthum veröffentlicht wurde, basiert auf anderen Annahmen. Schon Anfang der 30er Jahre begann Wittgenstein, die Gedanken des Tractatus zu problematisieren und weiterzuentwickeln. Die Beschäftigung damit führte Wittgenstein weg von der Konzeption einer Idealsprache im Sinne einer „logisch geklärten Umgangssprache, die mit

43 In seinen Ausführungen zur Einheit des Wortes wird deutlich, dass Vološinov zu einer Synthese zwischen abstraktem Objektivismus, der das Sprachsystem verabsolutiert, und individualistischem Subjektivismus, der nur den individuellen Redeakt für wesentlich hält, gelangen möchte. Sprache darf nicht auf einen der beiden Teilbereiche reduziert werden, sondern muss immer beide Aspekte umfassen, die in einem gegenseitigen Bezug zueinander stehen. Vgl. Vološinov (1975: 138–142). Bühler vertritt mit seinem Vierfelderschema einerseits und seiner Zweifelderlehre von Zeig- und Symbolfeld andererseits eine ähnliche Auffassung. Auch er geht von einer Wechselbeziehung zwischen Akt und System aus. (Vgl. Kap. 1.3.2) 44 Aus den Werken Wittgensteins wird mit folgenden Abkürzungen zitiert: Tractatus = Tlp und Angabe des Satzes; Philosophische Untersuchungen = PU und Angabe des Paragraphen oder der Seitenzahl; Philosophische Grammatik = PG und Paragraph. 45 Die Abbildtheorie oder realistische Bedeutungskonzeption soll hier nicht diskutiert werden. Kutschera beschreibt, welche spezielle Form der Abbildtheorie Wittgenstein seinem Tractatus zu Grunde legt. Vgl. Kutschera (1972: 117–152); vgl. Majetschak (1996: 368–373).

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idealsprachlichen Mitteln dargestellt wird“ (Billing 1980: 58) hin zur Konzentration auf die Alltagssprache46, und zwar auf die konkrete Verwendung sprachlicher Ausdrücke. Ausgangspunkt bildet nun nicht mehr die vorgegebene Welt, nach deren Strukturen sich die Sprache richtet und diese danach abbildet. Vielmehr fungiert Sprache welterschließend. (Vgl. PG §29) Die Wirklichkeit ist immer nur in der jeweiligen sprachlichen Interpretation gegeben.47 Für den diese Arbeit betreffenden Zusammenhang sind Schriften aus Wittgensteins Spätphilosophie (Philosophische Untersuchungen)48 von Bedeutung, in geringerem Umfang auch Schriften aus den 30er Jahren (Philosophische Grammatik). Wie bereits erwähnt, wirkte diese Philosophie auf die Entwicklung der linguistischen Pragmatik nachhaltig49, so dass Wittgensteins Sprachauffassung einen nicht zu umgehenden theoretischen Hintergrund pragmatisch orientierter Arbeiten darstellt. Im Folgenden sollen zentrale Begriffe und Motive erläutert und in den Zusammenhang mit dem verfolgten Ziel der Arbeit gebracht werden. Sprache als regelgeleitete Praxis Wie bereits erwähnt, richtet sich Wittgensteins Spätphilosophie gegen eine Idealsprache im oben genannten Sinn, die als ein vom Gebrauch der Sprache unabhängiges System konzipiert wird. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet also die Alltagssprache als eine Form gemeinsamer menschlicher Praxis. In dieser Praxis erst konstituieren sich die Bedeutungen, indem regelgeleitet gehandelt wird. Sprache ist eine geleitete Praxis, eine sich an Regelmäßigkeiten ausrichtende Tätigkeit, die immer schon die Existenz mindestens zweier Subjekte, die miteinander Regeln folgen, voraussetzt. Denn nach Wittgenstein bedarf es, um Regeln überhaupt folgen zu können einer Gesellschaft. Wie aber charakterisiert Wittgenstein näherhin den Begriff Regeln? Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen

46 Damit verbunden war die Erkenntnis, dass es die allgemeine Sprache nicht gibt. Vgl. Majetschak (1996: 375). Vgl. zur Konzentration auf die Alltagssprache auch Schmitz (2002: 160ff.). 47 Hier kann an Humboldt angeschlossen werden. 48 Wittgenstein hat wohl in der Mitte der dreißiger Jahre damit begonnen, die Philosophischen Untersuchungen zu schreiben. Teil I war 1945 abgeschlossen, Teil zwei ist zwischen 1947 und 1949 entstanden. 49 Vgl. Kutschera (1972); vgl. Schlieben-Lange (1975); vgl. Wolff (1980); vgl. Habermas (1975).

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Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen). (PU § 199, Hervorh. im Original) Darum ist »der Regel folgen« eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel »privatim« folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen. (PU §202, Hervorh. im Original)

Regeln sind Wittgenstein zufolge Gepflogenheiten bzw. Konventionen, die durch „die praktische Wiederholung erlernter Muster [...] eine Übereinstimmung im Verhalten“ (Krämer 2001: 129) entstehen lassen. Das Erlernen von Regeln erfolgt durch deren Anwendung, also durch Praxis (vgl. PU § 166). Demzufolge wird Sprache als gesellschaftlich charakterisiert und Intersubjektivität wird vorausgesetzt, was auch durch das Ziel und den Zweck der Sprache – nämlich sich zu verständigen – deutlich wird (vgl. hierzu Demmerling 1994: 48ff.). Gemeinsam einer Regel folgen, bedeutet in Übereinstimmung der Handlungsweise und im Gebrauch mit vergangenen (Sprach) Handlungen handeln.50 Die Aufgabe der Regeln sieht Wittgenstein in der Beschreibung des Sprachgebrauchs. Dabei determinieren die Regeln nicht den Sprachgebrauch (vgl. PU § 85), vielmehr können auch neue Regeln durch die gemeinsame Praxis etabliert werden, indem alte Regeln verändert werden51. Das Erlernen der Regeln erfolgt durch die Praxis und den damit verbundenen Kontext52, der nicht weiter hinterfragt zu werden braucht. Die Regeln müssen von den Sprachteilhabern aber nicht bewusst gewusst werden. Wittgenstein konstatiert, „wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.“ (PU § 219) Jede Regel ist eingebettet in einen größeren, komplexen Zusammenhang: in ein Handlungsmuster53. Mit Wittgensteins Regelbegriff hängen alle weiteren zentralen Begriffe zusammen, die im Folgenden erläutert werden.

50 Vgl. PU § 199, § 224; vgl. Busse (1987: 194ff.); vgl. Beckmann (2001: 24ff.). 51 Hier kommt der wirklichkeitskonstituierende Aspekt von Sprache ins Blickfeld. Durch die Veränderung der Regeln wird die Praxis geändert und damit die Welt. Vgl. Habermas (1975). „Die Grammatik der Sprachspiele verändert sich im Verlaufe der kulturellen Überlieferung, die Sprecher formieren sich im Verlaufe ihrer Sozialisation, und beide Prozesse vollziehen sich im Medium der Sprache selber.“ Habermas (1995: 331). Wittgenstein schreibt in der Philosophischen Grammatik: „Ich weiß jetzt nur etwa wie Menschen dieses Wort gebrauchen. Aber das könnte auch ein Spiel sein, oder Formen des Anstands. Ich weiß nicht, warum sie so handeln, wie die Sprache in ihr Leben eingreift. Ist denn Bedeutung wirklich nur Gebrauch des Worts? Ist sie nicht die Art, wie dieser Gebrauch in das Leben eingreift? Aber ist denn sein Gebrauch nicht Teil unseres Lebens?!“ PG § 29. 52 Vgl. PU § 198 und § 199; vgl. Wolff (1980: 227); vgl. auch Schulte (1989: 159). 53 Der Musterbegriff wird hier nicht weiter diskutiert, da dies nicht zielführend ist. Vgl dazu u.a. Beckmann (2001: 29ff.); vgl. Fix (1998a und b).

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Lebensform und Sprachspiel Mit dem hier charakterisierten Regelbegriff ist notwendig Wittgensteins Begriff der Lebensform sowie der Begriff des Sprachspiels verbunden. Zunächst wird der Begriff der Lebensform erläutert, der in engem Zusammenhang mit dem Sprachspielbegriff steht und nicht unabhängig von diesem dargelegt werden kann. Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und Verneinung. Und unzählige Andere. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen. (PU § 19)

Sprechen ist, wie oben erläutert wurde, in gesellschaftliche Praxis eingebettet. Unter der Lebensform ist nach Wittgenstein nun die Gesamtheit der sozialen Praktiken einer Sprachgemeinschaft zu verstehen. Dabei stellt Wittgenstein den Zusammenhang zwischen dem Gebrauch sprachlicher Ausdrücke und den Sprechern selbstverständlichen Handlungsweisen her, wenn er sagt, dass „das Sprechen einer Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (PU § 23) Sprache steht also immer in einem Verhältnis zu anderen, nicht sprachlichen Formen menschlicher Praxis, die notwendig sind, um die Sprache zu verstehen. Demmerling präzisiert den Begriff der Lebensform als notwendige Bedingung des Verstehens einer Sprache, indem er auf die Notwendigkeit der Kenntnis von Lebensgewohnheiten, von kulturellen und sozialen Faktoren einer Gesellschaft hinweist, die das Gesamt der menschlichen Praxis einer Gesellschaft ausmachen. (Vgl. Demmerling 1994: 57) Die gesamte menschliche Praxis stellt somit ein Netz von Sprachspielen dar. Das einzelne Sprachspiel ist in die Lebensform eingebettet. Dabei konstituiert die Lebensform das Ensemble von Gewissheiten bzw. Selbstverständlichkeiten, auf dessen Hintergrund Sprachspiele statthaben. Die Lebensform stellt zugleich eine Begründungsgrenze für menschliches Handeln als auch einen dem Sprachspiel übergeordneten Zusammenhang dar.54 „Das Hinzunehmende, Gegebene – könnte man sagen – seien Lebensformen.“ (PU: 539) Die Eingebundenheit des Sprachspiels in eine Lebensform verlangt bei der Sprachanalyse die Einbeziehung des Kontextes, die Einbeziehung der gesellschaftlichen Praxis, der Kommunikationssituation. Der Sprachspielbegriff55 Wittgensteins kann im Zusammenhang mit der Gebrauchstheorie der Bedeutung, die weiter unten erläutert werden wird, als wichtige Voraussetzung linguistischer Pragmatik betrachtet werden, zumin-

54 Vgl. PU § 217; vgl. Wengeler (1992: 18f.); vgl. Krämer (2001: 119ff.). 55 Schmidt (21976) bezeichnet das Sprachspiel Wittgensteins als „kommunikatives Handlungsspiel“, um die Verwobenheit von sprachlicher und nicht-sprachlicher Praxis zu verdeutlichen. Vgl. Schmidt (21976: 45).

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dest gab Wittgenstein mit diesem Begriff wichtige Impulse für eine systematische Weiterentwicklung der linguistischen Pragmatik, insbesondere für die sich im Anschluss entwickelnde Sprechakttheorie Austins und Searles, die ein zentrales Konzept der linguistischen Pragmatik darstellt. Wie oben schon angedeutet, führt Wittgenstein sein Sprachspielkonzept nicht – wie lange Zeit angenommen – als radikale Gegenthese zu seiner Frühphilosophie ein, sondern vielmehr konnte, bedingt durch die Veröffentlichung des Nachlasses, eine kontinuierliche Entwicklung dieses Konzeptes nachgewiesen werden.56 Wie aber bestimmt Wittgenstein den Sprachspielbegriff? Wittgensteins Sprachspielkonzept stellt eine Kritik an der realistischen Bedeutungstheorie57 dar, insofern der Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen und deren Einbettung in einen allgemeinen Kontext als notwendig erachtet und mit diesem Konzept aufgezeigt werden soll. „[...] das Sprechen einer Sprache [ist] ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (PU § 23) Der mit diesem Konzept zunächst vollzogene Vergleich der Sprache mit einem Spiel soll verdeutlichen, dass der Gebrauch der Sprache regelgeleitet ist. Die Regeln konstituieren zusammen mit dem Kontext die Bedeutungen.58 Später fasst Wittgenstein sein Sprachspielkonzept als philosophische Methode auf. Wir können uns auch denken, dass der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in (2) einer jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele »Sprachspiele« nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden. (PU § 7, Hervorh. im Original) Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen. (PU § 7, Hervorh. im Original)

Sprachgebrauch findet also in verschiedenen Kontexten nach unterschiedlichen Regeln statt. Durch das Konzept des Sprachspiels stellt Wittgenstein zum einen den Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln auf der Basis einer Lebensform her und zum anderen wird durch diese Konzepti-

56 Vgl. Schmitz (2002: 153ff.). Wittgenstein entwickelte dieses Konzept zwischen den Jahren 1929 und 1932. Die Diskussion dieser Entwicklung soll hier aber nicht nachgezeichnet werden. Vgl. dazu auch Sedmak (1996: 37f.). Zu bemerken ist hier aber noch, dass Wittgenstein den Sprachspielbegriff mit vier verschiedenen Funktionen akzentuiert, und zwar versteht er unter Sprachspiel 1. ein „Verfahren zum Gebrauch von Zeichen“, 2. „hypothetische oder erfundene sprachliche Tätigkeiten“ als „Vergleichsobjekte“, 3. „wirkliche sprachliche Tätigkeiten“ und 4. das Gesamt der „Sprache als Spiel.“ Glock (2000: 325–330). 57 Die realistische Bedeutungstheorie wird auch Abbildtheorie der Sprache oder Gegenstandstheorie der Bedeutung genannt. Vgl. Billing (1980: 33) oder Busse (1987: 117). 58 Wittgenstein stellt in diesem Zusammenhang einen Vergleich von Bedeutungs- und Regelkonstitution innerhalb des Schachspiels an, um zu verdeutlichen, welchen Stellenwert die Regeln haben.

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on das Zusammenspiel von Sprache und Wirklichkeitskonstitution in das Blickfeld gerückt, insofern sich Sprachspiele durch Veränderung der Regeln ändern können. Durch die Veränderung der Regeln werden neue Sprachspiele und damit neue Zusammenhänge konstituiert. Sprache hat welterschließende Funktion; zum einen ist sie konstitutiv für die Welterfahrung des Menschen, zum anderen stellt sie eine Praxis dar, die strukturierend auf die Erkenntnis des Menschen einwirkt. Die gegenseitige Bedingtheit von Sprache und Wirklichkeit zeigt sich gerade im Begriff Sprachspiel, der durch die Einbettung in eine Lebensform beide Bereiche verbindet. Mit Hilfe des Praxisbegriffes kann [Wittgenstein] nun behaupten, daß eine Bedingung der Möglichkeit menschlicher Sprache darin besteht, daß sie immer in einem Kontext von Tätigkeiten stattfindet. Wir sehen also, daß der Kern des Praxisbegriffes gerade darin zu erblicken ist, daß er eine gleichzeitige Konstitution der Wirklichkeit in zwei Dimensionen bezeichnet: eine Praxis etablieren heißt, sowohl einen sozialen und intersubjektiven Handlungsraum als auch eine Relation zwischen sprachlichen Zeichen und einem gewissen Aspekt der Wirklichkeit zu konstituieren. (Johannessen 1986: 60)

Der Sprachspielgedanke Wittgensteins enthält verschiedene Aspekte, die für die linguistische Pragmatik im Allgemeinen und für die Diskurssemantik im Besonderen von Bedeutung sind. Es handelt sich um die Aspekte a) der Gebrauchstheorie der Bedeutung, b) der Kontextualität von Sprache und deren Vernetzung in einem größeren Zusammenhang, c) der Sprache als Tätigkeit, d) der Regelhaftigkeit des Sprachgebrauchs und e) der Zweckbestimmung sprachlichen Handelns.59 Hier müsste meines Erachtens noch der Aspekt der Gesellschaftlichkeit bzw. Intersubjektivität von Sprache hinzugefügt werden, insofern ein Sprachspiel immer nur zwischen Menschen stattfinden kann, die über die dem Sprachspiel zu Grunde liegenden Regeln übereinstimmen.60 Aus diesem Grund befindet Wittgenstein die Unmöglichkeit einer Privatsprache als einer Sprache, die nur von einer Person verstanden werden kann. Da sich Verstehen immer intersubjektiv durch Übereinstimmung bzw. durch die Überprüfung der Richtigkeit des Gebrauchs von Ausdrücken vollzieht, kann es keine Privatsprache geben (vgl. PU § 258). Sprachliches Handeln ist immer schon in einer Gesellschaft stattfindendes Handeln. Sprache an sich kann nur auf Grund der Existenz von Gesellschaft bestehen und umgekehrt. Es besteht folglich ein gegenseitiges Abhängigkeits- und Bedingungsverhältnis zwischen Sprache und Gesellschaft. 59 60

Vgl. Busse (1987: 205ff.); vgl. Habermas (1986: 357). Zu den verschiedenen Aspekten vgl. Wolff (1980: 226f.). In diesem Zusammenhang wendet sich Wittgenstein gegen die Auffassung von der Möglichkeit einer Privatsprache. Vgl. außerdem PU §§ 243, 248, 256, 259, 261, 265, 269, 272.

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Das Sprachspielkonzept stellt ein Schlüsselkonzept in Wittgensteins Spätphilosophie dar. Eine Sprache besteht aus einer großen Menge von Sprachspielen. Wittgenstein beschreibt sie als „Vergleichsobjekte, die durch die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache werfen sollen.“ (PU § 130) Das Sprachspiel als Maßstab kann „in unserm Wissen vom Gebrauch der Sprache eine Ordnung herstellen: eine Ordnung zu einem bestimmten Zweck; eine von vielen möglichen Ordnungen; nicht die Ordnung.“ (PU § 132) Das Spiel stellt somit eine Analogie dar für die Sprache. Denn, so Wittgenstein, alles, was Sprache genannt wird, ist nicht ein Merkmal gemeinsam, vielmehr muss hier von Ähnlichkeiten ausgegangen werden (vgl. PU §§ 65–71). Sprachliche Ausdrücke weisen in ihren unterschiedlichen Verwendungsarten nicht ein gemeinsames Merkmal auf, vielmehr handelt es sich um verwandtschaftliche Merkmale, die einander ähnlich sind; die verschiedenen Verwendungsweisen eines sprachlichen Ausdruckes charakterisiert Wittgenstein als Familienähnlichkeit. Damit will Wittgenstein einer Auffassung entgegentreten, die universale Eigenschaften von dem annimmt, was als Sprache bzw. als die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken bezeichnet wird (vgl. Krämer 2001: 116ff.). Und je nach Sprachspiel spielt das jeweilige Wort eine spezielle Rolle und ändert seine Bedeutung. Das Sprachspielkonzept wird der Vagheit der Sprache gerecht (vgl. PU § 71). Schulte fasst dies folgendermaßen zusammen: Er [Wittgenstein] zeigt, daß das herkömmliche Muster »gleicher Begriff, gleiche Merkmale« unzulänglich ist, und zwar gerade auf dem Gebiet der alltagssprachlichen Ausdrücke mit besonders umfassendem Anwendungsbereich, also auf dem Gebiet, dem die Philosophie ihre zentralen Begriffe entnimmt (»Raum«, »Zeit«, »Seele«, »Denken«, »Freiheit« usw.). (Schulte 1989: 152)

Gebrauchstheorie der Bedeutung Wittgensteins Konzept der Bedeutung hat zum Ausgangspunkt die Frage, wie denn die Bedeutung eines Wortes zu erklären und nicht was die Bedeutung eines Wortes sei. (Vgl. Hörmann 41994: 248f.) Wittgenstein versteht Bedeutung handlungsorientiert, d.h. die Frage nach dem Gebrauch eines Ausdruckes steht im Zentrum seiner Überlegungen zur Bedeutung. Wie schon zu erkennen war, steht mit dem Sprachspielbegriff und mit dem Konzept der Lebensform Wittgensteins Auffassung von Bedeutung in engem Konnex. Die Frage nach der Bedeutung von Wörtern kann nur mittels des Sprachspielkonzeptes beantwortet werden. Sprache als Tätigkeit ist immer auch mit nichtsprachlichen Tätigkeiten verwoben und in kulturelle und soziale Kontexte eingebettet, die den Gebrauch der sprachlichen Ausdrücke bestimmen.

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Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes »Bedeutung« – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (PU § 43) »Die Bedeutung des Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.« D. h.: willst du den Gebrauch des Worts »Bedeutung« verstehen, so sieh nach, was man »Erklärung der Bedeutung« nennt. (PU § 560)

Bedeutung ist also durch Gebrauch näher bestimmt. Und unter Gebrauch ist die Art und Weise der Verwendung der Wörter, ihre Grammatik, zu verstehen. Dabei bedeutet Grammatik die Anwendung sinnvoller Regeln.61 Dieses Verständnis wird der Sprachpraxis gerecht und betont den Aspekt der Bedeutungskonstitution durch gesellschaftliche Praxis (vgl. Demmerling 1994: 51). Beide Begriffe – Lebensform und Sprachspiel – sind konstitutiv für Wittgensteins Auffassung von Bedeutung. Sie spielen eine zentrale Rolle, insofern in ihnen sprachlich gehandelt wird und sie der Bedeutungsvielfalt sprachlicher Ausdrücke gerecht werden. Bedeutung wird im jeweiligen Sprachspiel konstituiert. Funktion und Zweck eines Wortes erschließen sich aus seinem Gebrauch in einem Sprachspiel. Demnach ist die Bedeutung eines Wortes etwas der Sprache Innewohnendes, etwas das sich je nach Sprachspiel und Rolle im Sprachspiel verändert. Bedeutungen lassen sich nur durch den Verweis auf den Gebrauch erklären und auch nur im Gebrauch herstellen. Dass hier ein deutlicher Schwerpunkt auf dem Kontext des jeweiligen Sprachhandelns gelegt wird, um die Bedeutung eines Ausdruckes zu verstehen, ist offensichtlich. Diese Bedeutungskonzeption wendet sich – wie oben schon erwähnt – gegen eine realistische Semantik (vgl. Kutschera 1972: 225ff.). Der Gebrauch der Sprache ist Teil der Lebensform. Somit braucht diese Tätigkeit nicht näher begründet zu werden (vgl. PU § 124). Wittgensteins Ziel besteht nicht in der Aufstellung einer systematischen Bedeutungstheorie, sein Ziel ist die Beschreibung des Gebrauchs als philosophische Methode. Wittgensteins Untersuchungen zum Begriff der Bedeutung haben gezeigt, dass Philosophie keine Erklärungen für die Bedeutung unserer sprachlichen Ausdrücke liefern kann [...]. Philosophie kann keine Begründung des grammatischen Systems durch eine ontologische Untersuchung geben, sondern sie kann die Grammatik sprachlicher Ausdrücke nur beschreiben, indem sie die Regeln des sinnvollen Gebrauchs darlegt. Inwiefern ein Zeichen bedeutungsvoll ist, wird durch eine Beschreibung der grammatischen Regeln geklärt. (Schmitz 2002: 161)

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Vgl. Schmitz (2002: 159f.). Er erläutert den Grammatikbegriff Wittgensteins folgendermaßen: „Diese in Definitionen beschriebenen Regeln des Gebrauchs sind Teil der Grammatik eines sprachlichen Ausdrucks. Die Grammatik beschreibt somit den Gebrauch des Wortes, das heißt, seinen Platz im sprachlichen System. Als die Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks versteht Wittgenstein daher die Stellung, den Platz, den Ort eines Wortes in der Grammatik.“ Schmitz (2002: 160).

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Dabei spielt, wie eingangs durch den Regelbegriff erläutert, die gemeinsame Übereinstimmung die Verwendungsweise von Ausdrücken betreffend eine bedeutende Rolle, die der Sprache das Kriterium der Gesellschaftlichkeit zuschreibt und damit auch das Ziel von Sprache und Sprechen bestimmt: das Verstehen (vgl. Hörmann 41994: 250f.). Betrachtet man nun Wittgensteins Ausführungen zur Sprache, stellt man fest, dass die hier erläuterten zentralen Begriffe der Wittgensteinschen Sprachauffassung in einem engen Zusammenhang stehen. Die Begriffe bedingen sich gegenseitig und sind nur schwer von einander getrennt zu erklären (vgl. auch Savigny 1999: 122). Folgt man Wittgensteins Auffassungen von Sprache als regelgeleiteter Praxis, von der Bedeutung als Gebrauch, von der Sprache als Teil einer Lebensform, vom Reden in Sprachspielen, so gibt es nach Wittgenstein nicht mehr eine Wirklichkeit an sich, die durch Sprache abgebildet wird. Vielmehr erschließt sich die Welt oder Wirklichkeit primär durch die Sprache, durch den Sprachgebrauch im jeweiligen Kontext. Sprache hat folglich welterschließende und -konstitutive Funktion und die Welt existiert immer nur als sprachliche Interpretation.

1.5 Systematisierungskonzepte von Sprechhandlungen: Austin, Searle und Grice Wittgenstein, Volosˇinov und Bühler haben mit ihren sprachhandlungstheoretischen Ausführungen keine fertigen Theorien zu Sprechakten entwickelt, vielmehr haben sie Voraussetzungen für eine Sprechakttheorie expliziert. In den Konzeptionen des Sprachspiels, der Lebensform, der Regel bei Wittgenstein, in den Konzeptionen der Begriffe Ideologie, Bedeutung und Interaktion bei Volosˇinov und in Bühlers sprachtheoretischem Programm des Zweifelderschemas, Vierfelderschemas und der Konzeption der Umfelder können vielmehr Anregungen und Ausgangspunkte für die Entwicklung einer linguistischen Pragmalinguistik gesehen werden, die hinsichtlich des Einbezugs des Gesprächspartners zum Teil über das Programm, das Austin und Searle entwickelten, hinausreichen und auf die Integration des einzelnen Redeaktes in ein umfassendes Kommunikations- und Interaktionsmodell verweisen.62

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Das Faktorenmodell der sprachlichen Interaktion (vgl. Hannappel/Melenk 21984, Volmert 1989, Herrgen 2000, Girnth 2002) umfasst die Faktoren Situationalität und Kontextualität, sprachliches und außersprachliches Wissen der Akteure, Sprecher und Hörer, die Orientierung am Partner (Partnerhypothesen) sowie die Faktoren Intention, Motivation und Konsequenz. Bezüglich der Faktoren und deren Bedeutung im Kommunikationsprozess können Bezüge zu Vološinov, Bühler und Wittgenstein hergestellt werden: Die Autoren beziehen sowohl Sprecher als auch Hörer mit ein, sie gehen von der Situations-

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Ein weiteres wichtiges Konzept stellt die Theorie der Sprechakte der angelsächsischen Tradition der ordinary language philosophy dar, das von zentraler Bedeutung für die europäische Sprachwissenschaft im Allgemeinen und für die Entwicklung einer linguistischen Pragmatik im Besonderen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Die Grundannahme der dieser philosophischen Richtung zugehörigen Konzepte ist zum einen die Handlungspotenz sprachlicher Äußerungen. Zum anderen konzentrierten sich die Philosophen Austin, Searle und Grice auf die Untersuchung der Alltagssprache und entwickelten daraus Systematisierungen und Klassifikationen von Sprechhandlungen. Allen drei gemeinsam ist die Grundfrage, die sich ihnen bezüglich der Alltagssprache stellt: Was tue ich, wenn ich spreche? Austin erweiterte die Ideen Wittgensteins hinsichtlich einer Systematisierung und Klassifizierung von Sprechhandlungen; er konzipierte eine Sprechakttheorie, die wiederum von Searle weiterentwickelt wurde.63 Die Theorie der Sprechhandlungen gilt als Basis einer pragmatischen Sprachauffassung, deren Wurzeln bis zu Humboldt reichen. Vom späten Wittgenstein wurde sie wesentlich beeinflusst und in Bühler und Vološinov können ihre geistigen Vorläufer ausgemacht werden, wenngleich letztere keinen tatsächlichen Einfluss auf die Entwicklung der Sprechakttheorie hatten. Die Bezugnahme auf die ordinary language philosophy, vertreten durch Austin, Searle und Grice evozierte in den 60/70er Jahren gleichsam eine Wende in der Linguistik. Diese Entwicklung beinhaltete eine Abwendung vom reinen Systemgedanken hin zu einer Konzentration auf die Analyse der Alltagssprache und deren Einbindung in soziale Kontexte und Situationen, wie bereits im Eingangskapitel erwähnt wurde. Dies hatte auf viele Bereiche der Linguistik Auswirkungen. So etablierte sich eine pragmatisch ausgerichtete Textlinguistik (vgl. Feilke 2000), eine Gesprächs- oder Kon-

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gebundenheit und Kontextualität des menschlichen Sprachhandelns aus; das sprachliche und außersprachliche Wissen sowie die Eingebundenheit in Situationen konstituieren im Akt die Bedeutung. Bedeutung ist demgemäß nichts Feststehendes, vielmehr sind Wörter nach Vološinov multiakzentuiert, für Bühler muss die Bedeutung eines Wortes mit Hilfe des Prinzips der abstraktiven Relevanz erschlossen werden, für Wittgenstein konstituiert sich die Bedeutung im Gebrauch. Bedeutung wird demnach an den Prozess der Interaktion gebunden. Allerdings haben weder Vološinov, Bühler noch Wittgenstein ein Kommunikationsmodell entwickelt. Ein Faktorenmodell der Kommunikation, das diese unterschiedlichen Aspekte integriert, wird in Kap. 2.3.5 dieser Arbeit vorgestellt. Bei Austin handelt es sich aber nicht um eine bewusste Bezugnahme auf Wittgenstein und Weiterentwicklung von dessen Gedanken, sondern eher um eine gewisse Parallelität oder Ähnlichkeit der Gedanken beider Philosophen hinsichtlich der Handlungspotenz von Sprache. Austin ging es anders als Wittgenstein um eine Klassifi kation von Sprechakten. Levinson konstatiert in diesem Zusammenhang, dass „Austin [...] Wittgensteins spätere Arbeiten jedoch kaum wahrgenommenn zu haben [scheint] und [...] von ihnen sicher nicht beeinflußt [wurde].“ Levinson (32000: 248f.).

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versationslinguistik oder eine an der Pragmatik und an Foucault orientierte Diskurslinguistik (vgl. beispielsweise Busse 1987 oder Warnke 2002a und b). Ebenso wirkte sich die Wende dahingehend aus, dass die Soziolinguistik als Teildisziplin entstand (vgl. Schlieben-Lange 21979: 112f.). Allerdings muss hier hinzugefügt werden, dass zwar der notwendige Impuls zu dieser Wende als Abkehr vom Systemgedanken der Sprache durch die Sprechakttheorie von Austin und Searle sowie durch die damit zusammenhängende Implikaturentheorie von Grice gegeben war, da sie sprachliche Äußerungen hinsichtlich ihrer Handlungspotenz betrachteten. Doch sowohl Searle als auch Grice (weniger Austin), konzentrierten sich in ihren Untersuchungen auf den einzelnen Satz, der zudem noch fiktiv und vom Kontext enthoben betrachtet wird, also keinesfalls der Alltagssprache entstammt. Das hat zur Folge, dass diese Konzepte recht begrenzt sind. So wurden zunehmend Stimmen laut, die eine Erweiterung der Sprechakttheorie hinsichtlich der für beispielsweise Bühler, Volosˇinov und Wittgenstein grundlegenden Faktoren der Situationalität, Kontextualität, Dialogizität, des gemeinsamen Hintergrundwissens, der Sozialität und Gesellschaftlichkeit von einzelnen Äußerungen forderten.64 Hier interessieren diejenigen basalen Ausführungen von Austin, Searle und Grice, die hinsichtlich der Handlungspotenz von Äußerungen im Hinblick auf die Zielstellung der Arbeit, einen linguistischen Diskursbegriff zu operationalisieren, von Bedeutung sind. 1.5.1 John L. Austin Austin65

gilt neben Wittgenstein und Ryle als einer der einflussreichsten Vertreter der ordinary language philosophy, insofern er die Analyse des normalen, alltäglichen Sprachgebrauchs in das Zentrum seiner Untersuchungen stellt, wenngleich Austin nicht alle der von der ordinary language philosophy vertretenen Thesen vertritt (vgl. Savigny 22002: 7–20). Den Grund für die Aus64 Vgl. beispielsweise Ehlich (21975: 122–126); vgl. Henne (1975: 70–76). Trotz der Problematik der Kontextenthobenheit und der Unidirektionalität der Sprechakttheorie wird diese als Referenzpunkt angeführt, da sie die Regelhaftigkeit und das Handlungspotenzial sprachlicher Äußerungen beschreibt. Hinsichtlich des zu explizierenden linguistischen Diskursbegriffes bedarf es natürlich der Einbeziehung des Kontextes und vor allem des tatsächlichen Sprachgebrauchs im Diskurs. Zudem liegt der empirischen Untersuchung ein Textkorpus tatsächlich erfolgter sprachlicher Äußerungen zu Grunde, die hinsichtlich ihrer Handlungspotenz bzw. ihrer Funktionalität im Diskurs untersucht werden. 65 Da die Konzeption der Sprechakttheorie vielfach diskutiert und dargestellt wurde, wird hier keine ausführliche Darstellung der Systematisierung Austins vorgenommen. Vielmehr sollen die Relevanz für einen diskusanalytischen Untersuchungsansatz sowie Bezugspunkte zu anderen Konzepten hinsichtlich zentraler Aspekte seiner Theorie zur Geltung gebracht werden.

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einandersetzung mit der Alltagssprache sieht Austin vor allem darin, dass der alltägliche Sprachgebrauch Hinweise auf die Vielfalt der wahrzunehmenden Phänomene gibt. In der normalen Sprache treten unterschiedliche Weltsichten zutage; selbst die unscheinbarsten Nuancen lassen auf eine unterschiedliche Wahrnehmung der Phänomene und damit auf unterschiedliche Bedeutungen schließen. (Vgl. Stemmer 1996: 411) Doch handelt es sich bei Austin nicht ausschließlich um bloße Analyse der normalen Sprache, vielmehr ist seine Analyse zugleich auch Methode, Philosophie zu betreiben, wenn man die Art und Weise seines Vorgehens mit in Betracht zieht. (Vgl. Stemmer 1996: 411; vgl. Krämer 2001: 150ff). Mit seinem Werk How to do things with words schließt Austin in gewisser Weise an Wittgenstein66 an, wenn er die Gedanken Wittgensteins zur Bedeutung als eines Gebrauchs von Sprache zu einer Systematik weiterentwickelt, die den Vollzug sprachlicher Handlungen in verschiedene Dimensionen differenziert (vgl. Kemmerling 1991b: 552). Es geht ihm also um die Nachzeichnung der Struktur des einzelnen Sprechaktes. Gleichzeitig schränkt er seine Frage aber dahingehend ein, „was ein Mensch mit einer einzelnen Äußerung tun kann: was ein Sprechakt ist.“ (Savigny 1974: 127) An diese zentrale Frage schließt sich die Systematisierung und Klassifizierung der Handlungsdimension des Sprechens an, die in eine Sprechakttheorie mündet, die später von Searle weiterentwickelt wurde. Die von ihm entwickelte Sprechakttheorie übte einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Linguistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der kommunikativ-pragmatischen Wende aus; das Konzept der Sprechakttheorie stellt somit einen der zentralen Gegenstände linguistischer Pragmatik dar. In der von Austin explizierten Sprechakttheorie sind die wesentlichen Grundannahmen die Situationalität des Sprechens und die Auffassung von Sprache als Geschehen in der Welt. Die erste Grundannahme impliziert, dass Wahrheit und Falschheit von Äußerungen situationsabhängig und Sprechen immer auch mit nicht-sprachlichen Handlungen und Faktoren verflochten ist; die zweite Grundannahme bezieht sich auf die Betrachtung des Sprechens als ein Handeln in der Welt und nicht einfachhin als Bezug auf Welt (vgl. Krämer 2001: 138). Dabei zielt bei Austin die Untersuchung des Sprechaktes auf die Untersuchung der gesamten Redesituation. „Letzten Endes gibt es nur ein wirkliches Ding, um dessen Klärung wir uns bemühen, und das ist der gesamte Sprechakt in der gesamten Redesituation.“ (Austin 22002: 166)

66 Ein direkter Einfluss von Wittgenstein auf Austin ist jedoch nicht nachgewiesen, zudem kritisiert Austin auch Wittgensteins Auffassung. Vgl. Auer (1999: 70); vgl. auch Ehlich (1995: 960); vgl. Mayer (1991: 41–49).

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Performative 67 und Konstative Austin geht es in seiner Sprachkonzeption nicht um eine Wahrheitssemantik, vielmehr setzt er dieser als Ausgangspunkt die Untersuchung des alltäglichen nicht immer auf der wahr-falsch-Dichotomie basierenden alltäglichen Sprachgebrauchs entgegen, um damit auch gängige philosophische Positionen zu kritisieren (vgl. Krämer 2001: 150ff.). In seiner Kritik an der Abbildtheorie, vor allem am Wahrheitsverständnis der Abbildtheorie, entwickelt Austin die Unterscheidung in performative und konstative Sprechakte. Kriterium für diese Differenzierung ist die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen, die Austin für Konstative gegeben sieht; für Performative jedoch ist die Scheidung in wahr und falsch nicht relevant (vgl. Austin 22002: 33, 35). Kriterium für Performative ist vielmehr das Glücken bzw. Gelingen des Sprechaktes durch die Erfüllung verschiedener Bedingungen. Dies nimmt Austin zum Anlass, seine Systematisierung anhand des Missglückens von Sprechhandlungen zu entwickeln, um anhand dieses Verfahrens zu Kriterien einer Klassifikation zu gelangen.68 (Vgl. Austin 22002: 36f.) Die missglückten Sprechhandlungen betrachtet Austin dabei als situations- und kontextabhängig. Für das Missglücken macht Austin eine falsche Einschätzung der Situation seitens des Sprechers verantwortlich, wie Heuft konstatiert. (Vgl. Heuft 2004: 336f.) Aus diesem Grund spricht er auch von Gelingensbedingungen. Wird gegen diese Gelingensbedingungen verstoßen, kann es nicht zum Vollzug des Sprechaktes kommen. Austin unterscheidet derartige Verletzungen von Bedingungen in Versager und in Missbräuche. Indirektheit Austin unterscheidet in primär Performative und explizit Performative, wobei erstere den Status von Implizitheit besitzen. Insofern böte es sich hier an, von impliziten Performativen zu sprechen. Um explizit performative Verben handelt es sich dann, wenn das Verb in der ersten Person durch die Äußerung den Sprechakt bereits vollzieht. Bei den primär bzw. implizit performativen Verben wird die Sprechhandlung durch Satzmodus, Adverbien, Betonung, Konjunktionen oder Umstände der Äußerungssituation vollzogen. (Vgl. Austin 22002, Vorlesung 5) Searle entwickelt diese Unterscheidung in seinem Konzept der indirekten Sprechakte weiter.

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Zur gegenwärtigen Diskussion um Performativität und Performanz vgl. Wirth (2002); vgl. Fischer-Lichte (2004); vgl. Krämer (2002); Krämer/Stahlhut (2001); vgl. Kertscher/ Mersch (2003). 68 Bei seiner Untersuchung missglückten Sprachgebrauchs gelangt Austin zu sechs Typen von Unglücksfällen, die er in die Gruppe der Versager und der Missbräuche einteilt. Vgl. Austin (22002: 43f.).

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Auf Grund gewisser Ähnlichkeiten, die Austin zwischen Performativen und Konstativen entdeckt, führt er in späteren Vorlesungen die Unterscheidung in eine lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Dimension einer Äußerung ein und hebt die Differenzierung in performativ und konstativ auf (vgl. Austin 22002, Vorlesung 7). Die Lokution besteht ihrerseits aus einem phonetischen, einem phatischen und einem rhetischen Akt. Schließlich gelangt Austin zu einer Klassifikation von fünf Sprechakttypen: Er unterscheidet in verdiktive, exerzitive, kommissive, konduktive und expositive Äußerungstypen.69 Mit dieser Klassifikation bestimmt er die je typische illokutionäre Rolle des Aktes, die auch für die Indirektheit von Sprechakten maßgeblich ist. Die illokutionäre Rolle ist das Kriterium für die Zuordnung zu einem der fünf Sprechakttypen. 1.5.2 John Searle70 Searle entwickelte die von Austin entworfenen Theorieansätze unter anderem in seinen Schriften Sprechakte und Ausdruck und Bedeutung zur eigentlichen Sprechakttheorie systematisch weiter. Dabei konzentriert sich seine Arbeit auf die von Austin benannte Dimension der Illokution. Sein Anliegen ist vor allen Dingen, Regeln zu isolieren, die Bedingungen für das Zustandekommen eines illokutionären Aktes beschreiben. Zwar konstatiert auch Searle, dass die jeweilige Sprechersituation für den Vollzug eines Sprechaktes von Bedeutung ist, allerdings löst Searle bei der Beschreibung der Sprechakte und Systematisierung seiner Theorie die einzelnen Äußerungen aus ihrer Situationalität und Kontextualität heraus (vgl. Schneider 1992: 774; Henne 1975: 70–76; vgl. Ehlich 21975: 122–126), insofern die Regeln für den geglückten Vollzug eines Sprechakts anhand virtueller Äußerungen herausgearbeitet und nicht an die Alltagssprache als empirischen Untersuchungsgegenstand gebunden werden. Ausgangspunkt seines Vorgehens stellt die Annahme dar, dass die Grundeinheit der sprachlichen Kommunikation [...] nicht, wie allgemein angenommen wurde, das Symbol, das Wort oder der Satz, oder auch das Symbol-, Wort- oder Satzzeichen, sondern die Produktion oder Hervorbringung des Symbols oder Wortes im Vollzug des Sprechaktes [ist]. (Searle 1983: 30)

Regeln Searle interessiert hier nicht die Sprache als ein System von Zeichen, vielmehr fokussiert er mit seinen Untersuchungen die Handlungsdimension des Spre-

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Zur näheren Erläuterung der Akttypen vgl. Austin (22002: 166–183). Aus systematischen Gründen wird Searle hier direkt nach Austin erörtert, auch wenn er zeitlich nach Grice einzuordnen ist.

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chens als ein Hervorbringen sprachlicher Zeichen.71 Dennoch ist sein Grundanliegen, hinter dem einzelnen Sprechakt stehende Regeln als Bedingung der Möglichkeit von Sprechakten herauszufinden72, die das Hervorbringen des Aktes garantieren. Bei der Erarbeitung der Theorie setzt Searle zunächst zwei Dinge voraus: erstens die Auffassung, „der Sprechakt ist die Grundeinheit der Kommunikation“ (Searle 1983: 36), insofern Sprechen ein regelgeleitetes intentionales Verhalten sei und zweitens das Prinzip der Ausdrückbarkeit, nach dem alles Gemeinte auch sagbar sei (vgl. Searle 1983: 29ff.; vgl. Krämer 2001: 57). Dementsprechend können zwei zentrale Begriffe in Searles Sprechakttheorie ausgemacht werden, nämlich der Begriff der Regel und der der Bedeutung (vgl. Searle 1983: 37). Daraus resultieren nach Searle Beziehungen zwischen Meinen und Bedeuten, zwischen Intention und Verstehen von Sprechakten sowie zwischen den für die einzelnen Sprechakte bestimmenden Regeln (vgl. Searle 1983: 37). Bezüglich seines Regelbegriffes unterscheidet Searle in zwei verschiedene Arten von Regeln, den regulativen und den konstitutiven Regeln. Die regulativen Regeln ergeben sich aus den drei Bedingungen – der Bedingung des propositionalen Gehaltes, der Einleitungsbedingung und der Aufrichtigkeitsbedingung. Regulative Regeln koordinieren bereits vorhandene und unabhängig von den Regeln existierende Verhaltensweisen, konstitutive Regeln dagegen bringen das, was sie regeln, nämlich neue Formen des Verhaltens bzw. neue Handlungen, erst hervor (vgl. Searle 1983: 54). „Konstitutive Regeln konstituieren (und regeln damit) eine Tätigkeit, deren Vorhandensein von den Regeln logisch abhängig ist.“ (Searle 1983: 55) Sprechakte werden somit in Korrespondenz mit konstitutiven Regeln vollzogen. Bedeutung Bei dem Prinzip der Ausdrückbarkeit handelt es sich um bedeutungstheoretische Überlegungen (vgl. Searle 1983: 68; vgl. Krämer 2001: 59). Dem Prinzip liegt folgende Frage zu Grunde, die auf die Bedeutungskonzeption von Grice, mit der sich Searle auseinandersetzt73, anspielt: „Aber was heißt das, daß

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Vgl. Searle (1983: 30); vgl. dazu auch Krämer (2001: 55). Searle begreift Sprachtheorie als Teil einer Handlungstheorie, insofern er Sprechen als eine regelgeleitete Form intentionalen Verhaltens auffasst. Vgl. Searle (1983: 31). Das hat, wie unter anderen Krämer konstatiert, wiederum zur Folge, dass Searle ein System hinter der aktuellen Sprechhandlung konstruiert. Vgl. Krämer (2001: 72f.); vgl. auch Schneider (1992: 774). Ehlich bezeichnet in diesem Sinne Searles Sprechaktklassifi kation als den „Versuch einer logifizierten Sprechakttypologie“, die sich auf den Beispielsatz konzentriert. Ehlich (1995: 961); vgl. ebenfalls Rehbein (1988: 1181). Searle setzt sich kritisch mit der Bedeutungstheorie von Grice auseinander. Er kritisiert daran zum einen, dass Bedeutung bei Grice bloß im Hinblick auf die Perlokution definiert wird, insofern Grice das Erkennen der Sprecherabsicht durch den Hörer in den

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jemand mit dem, was er sagt, etwas meint, oder daß etwas eine Bedeutung hat?“ (Searle 1983: 68) Die Bedeutung eines Satzes zu erkennen, heißt, die Regeln erkennen, die den Satz bestimmen. Bedeutung und Verstehen hängen bei Searle somit eng miteinander zusammen. (Vgl. hier Kapitel 1.5.3 dieser Arbeit) Das Verstehen der Äußerung auf seiten des Zuhörers fällt zusammen mit der Erreichung jener Absichten [Sprecherintentionen, Anm. C.S.]. Und die Absichten sind allgemein dann erreicht, wenn der Zuhörer den Satz versteht, d.h. dessen Bedeutung erkennt, d. h. die Regeln erkennt, die die Elemente des Satzes bestimmen. (Searle 1983: 76f.)

Damit entsteht Bedeutung im Vollzug des Sprechaktes, insofern sie vom Erkennen der bestimmenden Regeln, die die Sprecherabsicht zum Ausdruck bringen, durch den Hörer abhängig gemacht wird. Bedeutung wird bei Searle in den Sprecherabsichten einerseits und in den bestimmenden Regeln und Konventionen sprachlicher Praxis fundiert (vgl. auch Krämer 2001: 59). Der Intentionalität des Sprechaktes kommt hier eine besonders wichtige Rolle zu, insofern sie konstitutiv für Redehandlungen ist (vgl. Searle 41998, Searle 1983: 69f.). Illokutionäre Effekte hervorzurufen setzt immer voraus, daß der Hörer erkennt, daß der Sprecher die Intention hat, diesen Effekt bei ihm zu bewirken – soweit folgt Searle Grice. Jedoch – und darauf kommt es Searle mit dieser Bedingung an – daß auf die Intention zurückzuschließen ist, wird durch die sprachlichen Konventionen selbst sichergestellt, welche die Äußerung jeweils leiten: Die Bedeutung des Geäußerten wird durch die Konventionen mit der Erzeugung des illokutionären Effektes verbunden. (Krämer 2001: 65)

Im Unterschied zu Austin setzt sich der einzelne Sprechakt bei Searle durch vier, nur auf der analytischen Ebene zu unterscheidende Arten von Akten zusammen: dem Äußerungsakt der Lokution, dem seinerseits aus Referenz74 und Prädikation bestehenden propositionalen Akt, dem die Funktion beschreibenden illokutionären Akt und der Perlokution (vgl. Searle 1983: 40). Dem Teilakt der Perlokution misst Searle in seinen Untersuchungen kaum

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Vordergrund seines Bedeutungsbegriffes stellt. Zum anderen bemängelt er den fehlenden Bezug zu Konventionalität und Regularität sprachlicher Aussagen. Zu Grice vgl. folgendes Kapitel; vgl. Searle (1983: 69ff.). Searle korrigiert die Gricesche Theorie diesbezüglich, indem er die Notwendigkeit eines Bezugs zu den Regeln des Gebrauchs geäußerter Ausdrücke und deren Verbindung mit den Wirkungen betont. Zum anderen konstatiert er, dass der Sachverhalt des Gesagten und damit Gemeinten unter dem Gesichtspunkt „der Absicht, einen illokutionären Akt zu vollziehen, verstanden werden muß.“ Searle (1983: 73). Searle legt damit seinen Schwerpunkt auf die Sprecherperspektive, Grice bezieht die Hörerperspektive mit ein. Searle fasst den Akt der Referenz selbst wieder als Sprechakt auf, der innerhalb des propositionalen Aktes anzusiedeln ist. Vgl. Searle (1983: 46).

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Beachtung bei, so dass letztlich zwischen drei Teilakten unterschieden werden kann: Äußerungsakt, Proposition und Illokution. Das, was Austin mit Perlokution als der Wirkung von Akten beschrieben hat, subsumiert Searle allerdings unter den illokutionären Effekt als dem Verstehen der Äußerungsabsicht durch den Hörer. Verstehen wird der Illokution zugeordnet und als eine Realisierung jener Regeln betrachtet, die die Elemente des geäußerten Satzes regulieren (vgl. Searle 1983: 75–77). Mehrere notwendige Glückensbedingungen75 müssen zusammen erfüllt sein, damit man von einem erfolgreichen Sprechakt reden kann. Aus den notwendigen Bedingungen leitet Searle vier Regeln ab, die angeben, um welche Art von Sprechakt es sich handelt. In einem dritten Schritt entwickelt Searle dann seine Klassifikation von fünf Sprechakttypen, die sich im Hinblick auf die Kriterien Anpassungsrichtung von Wort und Welt, illokutionärer Zweck und psychischer Zustand differenzieren lassen. Daraus resultieren fünf Sprechaktklassen, die die Funktion von Äußerungen beschreiben: Repräsentativa, Direktiva, Kommissiva, Expressiva und Deklarativa. Aus den Bedingungen für das Gelingen von Sprechakten leitet Searle vier Regeltypen „für den Gebrauch des Indikators der illokutionären Rolle“ ab: 1.Regeln des propositionalen Gehalts, 2. Einleitungsregeln, 3. Aufrichtigkeitsregeln sowie 4. wesentliche Regeln. (Searle 1983: 96f.) Indirektheit Im Anschluss an die Arbeiten von Paul Grice, die im folgenden Kapitel vorgestellt werden, entwickelte Searle seine Theorie indirekter Sprechakte. Hierbei handelt es sich um illokutionäre Akte, die durch den Vollzug anderer illokutionärer Akte zustande kommen können. Dabei stimmen die wörtliche – von Searle sekundäre Illokution genannt – und die tatsächlich gemeinte Illokution – von Searle als primäre oder gemeinte Illokution bezeichnet – nicht überein. Von der wörtlichen Illokution zur gemeinten Illokution kommt man durch einen Schlussprozess, der zudem situationelle und kontextuelle Annahmen in diesen Prozess mit einbeziehen muss, um zur Erkenntnis der primären Illokution zu gelangen. Situationelle und kontextuelle Annahmen sind beispielsweise inhaltliches Hintergrundwissen, Kenntnis der Kommunikationsprinzipien

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Grob lassen sich sechs Glückensbedingungen benennen: 1. Normalitätsbedingung, 2. Bedingungen des propositionalen Gehalts, 3. Einleitungsbedingungen, 4. Aufrichtigkeitsbedingung, 5. wesentliche Bedingung, 6. Bedeutungstheoretische Bedingung/Kooperationsbedingung. Vgl. Meibauer (2001: 90ff.). Zur Unterteilung in sechs Bedingungen vgl. Krämer (2001: 63ff.). Searle selbst spricht von neun Glückensbedingungen, da er die Bedingungen des propositionalen Gehalts, die Einleitungsbedingungen und die bedeutungstheoretischen Bedingungen am Beispiel des Versprechens nochmals ausdifferenziert. Vgl. Searle (1983: 88–95).

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oder Annahmen über das Gespräch. (Vgl. Meibauer 2001: 103; vgl. Searle 41998: 51–69) Indirekte Sprechakte können wiederum in konventionalisierte indirekte Sprechakte und nicht-konventionelle Sprechakte unterschieden werden. Die Grenzen zur Bestimmung der Konventionalität und Nicht-Konventionalität bleiben fließend und werden von der Situation und dem jeweiligen Kontext mit beeinflusst. 1.5.3 Paul Grice Grice hat mit seinen Aufsätzen zur Bedeutungstheorie und Implikaturentheorie die linguistische Pragmatik maßgeblich beeinflusst. Bereits 1957 hat er die Untersuchungen Austins in sein Konzept der Bedeutungstheorie und Handlungsbeschreibung aufgenommen (vgl. Kemmerling 1991a: 199–204). 1967 stellte er dann in den William-James-Lectures in Harvard sein Konzept der Implikaturen vor, das zunächst nur als Anregung für weitere Arbeiten gedacht war, aber einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Pragmatik hatte (vgl. Levinson 32000: 111). Zwischen der Bedeutungstheorie und der Implikaturentheorie gibt es eine gewisse Verbindung und einen engen Zusammenhang, insofern die Implikaturentheorie einen Teil der im Aufsatz Meaning aus dem Jahr 1957 vorgestellten Bedeutungstheorie darstellt.76 So spielen einige grundlegende Aspekte seiner Bedeutungstheorie für die später entwickelte Implikaturentheorie eine nicht unwesentliche Rolle. Grice entwickelte die Implikaturentheorie im Kontext der Lösung und Klärung von Problemen, die das Konzept der nicht-natürlichen Bedeutung mit sich brachte. Dabei präzisiert er das Konzept der Bedeutung anhand des zentralen Begriffes des Meinens im Kontext seiner Implikaturentheorie, so dass man davon ausgehen muss, dass beide Konzepte in einem wichtigen Zusammenhang stehen. Aus diesem Grund

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Vgl. Grice (1968). Das Konzept der Implikaturen aus dem Aufsatz Logic and conversation wurde innerhalb der linguistischen Pragmatik oftmals ohne Bezug zur Bedeutungstheorie von Grice dargestellt, wie Rolf (1994) herausstellt und auch Levinson (32000) anmerkt. Rolf konstatiert aber gerade eine ausgesprochene Kontinuität der Themenbehandlung von der Bedeutungstheorie bis zur Implikaturentheorie, denn Aspekte aus Logic and conversation sind partiell bereits in seinem Aufsatz Meaning von 1957 enthalten. Vgl. Rolf (1994: 20). Weiterhin stellt er den engen Zusammenhang beider Konzepte heraus, wenn er sagt, „daß es keine unterschiedlichen, sondern eng beieinanderliegenden Probleme sind, mit denen man befaßt ist, wenn man sich auf der einen Seite mit dem in ‚Meaning‘ vorgestellten Bedeutungskonzept beschäftigt und auf der anderen mit der in ‚Logic and conversation‘ entwickelten Theorie der KonversationsImplikaturen, führt dazu, daß es für das Studium der letzteren vergleichsweise aufschlußreich ist, wenn es unter Berücksichtigung des Griceschen Bedeutungskonzeptes stattfindet. Auch eine Implikatur stellt einen Fall nicht-natürlicher Bedeutung dar.“ Rolf (1994: 20, Hervorh. im Original).

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wird zunächst auf die für die Implikaturentheorie wichtigen Aspekte der Bedeutungstheorie eingegangen. Bedeutungstheorie Grice geht von gewissen Vorannahmen bei der Klärung des Bedeutungsbegriffes aus. Grundannahme stellt für Grice das Vorhandensein unterschiedlicher Bedeutungsdimensionen dar: die zeitunabhängige Standardbedeutung und die Situationsbedeutung, die er in einem gegenseitigen Wechselbezug zueinander sieht. Beide Dimensionen sind wichtig für die Klärung der Bedeutung von Sätzen (vgl. Grice 1993c: 94; vgl. auch Busse 1987: 122–135). Grice stellt sein Bedeutungskonzept in den Rahmen handlungstheoretischer Implikationen, indem er davon ausgeht, dass sprachliches Handeln zugleich ein Meinen sei, das etwas bedeute (vgl. Grice 1993a: 2–15). Dabei unterscheidet er in natürliche und nicht-natürliche Bedeutungen. Die nicht-natürlichen Bedeutungen sind diejenigen, denen er sich vornehmlich widmet. Die natürlichen Bedeutungen, die Busse als Standardbedeutung bezeichnet, stellen für Grice Abstraktionen aus den jeweiligen situationsabhängigen Bedeutungen der Verwendungskontexte dar, wogegen die nicht-natürlichen Bedeutungen bzw. Äußerungsbedeutungen situationsabhängige, kontextuelle, konkrete Redeakte darstellen (vgl. Busse 1987: 129f.). Seine zentrale Frage ist bereits hier: Was meint jemand, wenn er etwas äußert? Eine wesentliche Rolle bei der Beantwortung der Frage spielt für Grice die Intentionalität bzw. die Absicht des Sprechers (vgl. Busse 1987: 123–129), die schon auf die Handlungspotenz des Sprechaktes hinweist, in dessen Rahmen Grice seine Theorie der nichtnatürlichen Bedeutung gestellt wissen möchte.77 Grice betrachtet die Situationsbedeutung, die für ihn die nicht-natürliche Bedeutung ist, in seiner Konzeption als vorrangig, was sich gerade im Hinblick auf die Konversationsimplikaturen als notwendig erweist (vgl. Grice 1993a: 2–15). Der explizierte sprachliche Bedeutungsbegriff nicht-natürlicher Bedeutungen ist eng an das Handlungskonzept von Sprechakten geknüpft, insofern die nicht-natürliche Bedeutung an die Faktoren Absicht, Intention, Wirkung und Ziel gebunden ist. Das Gemeinte ist demnach das, was ein Sprecher mit seiner Äußerung intendiert und vom Adressaten als dessen Absicht erkannt werden soll. Der Begriff des Meinens und die mit dem Begriff implizierte Sprecherabsicht sind somit bedeutungskonstitutiv.

77 Vgl. Rolf (1994: 35–44). Rolf arbeitet vier Momente heraus, die auf die handlungstheoretische Deutung des Griceschen Bedeutungskonzeptes schließen lassen: 1. die Bezugnahme auf ein Ziel, 2. die Erreichung des Ziels auf eine ganz bestimmte Art und Weise, 3. die Beschränkung des vom Sprecher intendierten Effektes auf die Erreichung des Zieles und 4. die Forderung, dass das Eintreten der vom Sprecher intendierten Wirkung der Kontrolle des Hörers unterliege. Vgl. Rolf (1994: 55f.).

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Theorie

In der vorliegenden Arbeit soll etwas Licht in die Verknüpfung zwischen (a) einem Bedeutungsbegriff, den ich als grundlegend betrachten möchte, dem Begriff nämlich, der involviert ist, wenn man von jemandem sagt, daß er mit dem Tun von dem-und-dem (bzw. als er das und das getan hat) das-und-das gemeint hat (wobei ich ein Meinen als einen Fall von >nicht-natürlicher Bedeutung< bezeichne) [...]. (Grice 1993c: 85, Hervorh. im Original)

Für Grice ist die Sprecherabsicht hinsichtlich seines Bedeutungsbegriffes und des Verstehens zentral. So muss der Hörer, um das Gemeinte zu verstehen, die Sprecherabsicht kennen. Somit ist in der mit einer Äußerung verfolgten Sprecherabsicht die Bedeutung fundiert (vgl. Krämer 2001: 59). Bedeutung ist demnach das Verstehen der Handlungsabsicht des Sprechers.78 Kern des Griceschen Bedeutungskonzeptes ist demnach die Erkenntnis der Sprecherabsicht durch den Hörer (vgl. Rolf 1994: 35–44). Dabei wird die nicht-natürliche Bedeutung bei Grice nicht auf lexikalische Bedeutungen bezogen, sondern auf den Gebrauch, auf den Handlungsaspekt von Äußerungen. Die Gricesche Auffassung von nicht-natürlicher Bedeutung führt direkt zur Implikaturentheorie79, die einen Teil der Exemplifizierung des Bedeutungskonzeptes von Grice darstellt (vgl. Rolf 1994: 11). Implikaturentheorie Mit der Entwicklung der Theorie der konversationalen Implikaturen sucht Grice die Rolle und Funktion seines zentralen Konzepts vom Meinen näher zu erläutern. Die Implikaturentheorie wurde von der linguistischen Pragmatik neben der Sprechakttheorie Austins und Searles als zentrales Konzept rezipiert, um die situationelle und kontextuelle Abhängigkeit sowie die Indirektheit sprachlicher Äußerungen zu erklären. Die Implikaturentheorie kann als ein weiteres Konzept angesehen werden, das über die Indirektheit und Implizitheit von Sprechhandlungen Aufschluss gibt; gleichsam kann es als Ergänzung zur Theorie der indirekten Sprechakte aufgefasst werden. Grice versucht damit Antworten auf diejenige Frage zu geben, die er bereits in der Erläuterung seiner Bedeutungstheorie als deren Ausgangspunkt gestellt hat: Was meint jemand mit dem, was er sagt? Unter einer Implikatur – ein Kunstwort von Grice zur Abgrenzung vom logischen Terminus des Implizierens (vgl. Busse 1987: 132) – versteht Grice einen Schlussprozess des Hörers, der die Absicht des vom Sprecher Gesagten plausibel interferiert und der erklären kann, was der Sprecher über die

78 79

Vgl. dazu Busse (1987: 130). Busse spricht hier von einem „rudimentären Konzept kommunikativen Handelns“; ähnlich Rolf (1994: 11). Zur Kritik an der intentionalen Semantik von Grice vgl. Habermas (1995, Bd. 1: 371). Habermas weist darauf hin, dass allein durch die Kenntnis der Sprecherabsicht bzw. der Intention, das Verstehen des Gemeinten durch den Hörer nicht garantiert sei.

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wörtliche Bedeutung des Gesagten hinaus meint. Grundvoraussetzung für die Implikaturentheorie bildet das Kooperationsprinzip, nach dem sich die Konversationsteilnehmer richten: Der jeweilige Gesprächsbeitrag soll so gestaltet sein, wie es die Zielsetzung des Gesprächs erfordert. „Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird.“ (Grice 1993d: 248) Als Voraussetzung jeglicher Kommunikation nimmt Grice die Kooperationsbereitschaft des Sich-Verständigen-Wollens – und zwar möglichst effizient, rational und kooperativ – an. Rationalität gilt als Voraussetzung sprachlicher Kommunikation. Ich würde die normale Konversationspraxis gerne nicht nur als etwas auffassen können, woran sich die meisten oder alle de facto halten, sondern als etwas, woran wir uns vernünftigerweise halten, was wir nicht aufgeben sollten. (Grice 1993d: 252–253, Hervorh. im Original)

Darauf basiert auch seine Theorie der Implikaturen. Diese Voraussetzungen fasst Grice dann in vier allgemeine, jedem Gespräch zu Grunde liegende Konversationsmaximen80 : Die Maxime der Quantität bezieht sich auf die für den jeweiligen Gesprächszweck adäquate Informativität der Aussage, also auf die Angemessenheit des Redebeitrages. Bei der Maxime der Qualität geht es um die Ausrichtung der Äußerung an Wahrheit oder Falschheit, es geht um die Verantwortbarkeit des Redebeitrages hinsichtlich des Gesprächszweckes. Die Maxime der Relevanz nimmt Bezug auf die Wichtigkeit der Aussage im Hinblick auf den Kommunikationszweck. Und schließlich rekurriert die Maxime der Modalität auf die dem Gesprächszweck angemessene Art und Weise der Äußerungen. Während die Maximen der Quantität, Qualität und Relevanz auf den Inhalt der Äußerung bezogen sind, rekurriert die Maxime der Modalität auf die Form der Äußerung (vgl. Grice 1993d: 249ff.). Indirektheit Gegen die Konversationsmaximen kann innerhalb kommunikativer Abläufe verstoßen werden, d.h. Maximen werden nicht beachtet, sie werden ausgebeutet, es gibt Kollisionen der Maximen untereinander oder sie werden verletzt. Um in den Fällen der Nichterfüllung, Verletzung etc. von Konversationsmaximen der einzelnen Äußerung dennoch Sinn zuzusprechen, wird der Aussage, eine implizite oder indirekte Bedeutung unterstellt. Die Indirektheit und die Implizitheit von Äußerungen jedoch liegen in der Grundannahme der Bewahrung des Kooperationsprinzips bei offensichtlicher Verletzung oder

80 Den Überlegungen der vier Konversationsmaximen liegt Kants Urteilstafel zu Grunde, auf die Grice jedoch nicht näher eingeht. Vgl. Kant KrV: A 95; vgl. Rolf (1994: 103f.).

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Ausbeutung einer der Maximen begründet (vgl. Grice 1993d: 253f.). Es stellt sich hier die für die Erörterung der Implikaturentheorie leitende Frage: Unter welchen Bedingungen ist es plausibel, anzunehmen, dass das Kooperationsprinzip bewahrt bleibt? Ergiebig zur Klärung dieser Frage ist vor allem die Form der konversationellen Implikatur81, die auf Grund des Kontextes und der Situation beim Hörer einen Schlussprozess in Gang setzt, um die Lücke zwischen dem wörtlich Geäußerten und dem tatsächlich Gemeinten sinnvoll zu erläutern. Das kann allerdings nur funktionieren, wenn das Kooperationsprinzip gewahrt bleibt, denn konversationelle Implikaturen resultieren oftmals aus Maximenverletzungen. Indirektheit ergibt sich somit aus der offensichtlichen Verletzung einer oder mehrerer der oben genannten Konversationsmaximen, damit der Hörer das vom Sprecher Intendierte, aber nicht wörtlich Gesagte, unter Wahrung des Kooperationsprinzips durch einen Schlussprozess rekonstruieren kann. Nur so ist das Verstehen der Sprecherabsicht gewährleistet. Die Wahrung des Kooperationsprinzips basiert wiederum auf der dem Prinzip innewohnenden Rationalität (vgl. Grice 1993d: 252–253). Verstehen als Rekonstruktionsleistung Implikaturen müssen, um verstanden zu werden, in einem Schlussprozess vom Hörer rekonstruiert werden. Zwar beschreibt Grice diesen vom Hörer zu tätigenden Schlussprozess, doch verbleibt bei ihm die Rezipientenrolle im Zusammenhang des Verstehens zu sehr am Rand seiner Erörterungen. Wichtig ist ihm dagegen der intentionale Akt des Sprechers. Zwar erweitert Grice den Verstehensbegriff innerhalb seiner Implikaturentheorie um die Notwendigkeit des Wissens situationeller und kontextueller Faktoren, doch beschreibt er den Akt des Verstehens nicht als ebenso intentionalen und zielgerichteten Akt, der sich auf den Sinn einer Aussage bezieht und die Aussage diesbezüglich deutet. Ausgehend von der Rolle des Rezipienten vervollständigt Hörmann (41994) das Gricesche Konzept der Kooperationsmaximen, indem er die Dimension des Verstehens und der Sinnkonstitution als Sinngerichtetheit des Menschen mit einbezieht – das haben im Übrigen bereits Volosˇinov und Bühler in ihren Konzeptionen angedeutet. Hörmann beschreibt die intentionale Ausrichtung auf Sinn als Sinnkonstanz; er versteht darunter eine sowohl vom Sprecher als

81

Grice unterscheidet zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Implikaturen, letztere sind konversationell; konversationelle Implikaturen können des Weiteren in partikularisierte, also vom Kontext abhängige Implikaturen und in generalisierte unterschieden werden. Darüber hinaus gibt es noch skalare und klausale Implikaturen, die beide konversationelle, aber generalisierte Implikaturen sind. Vgl. Levinson (32000: 144). Hier interessieren die stark vom Kontext und der Situation abhängigen partikularisierten konversationellen Implikaturen.

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auch vom Hörer zu erbringende Leistung (vgl. Hörmann 41994: 208). Seine Grundannahme besteht vor allem darin, dass Sprachprozesse immer von einer „Suche nach Sinn im Verstehenden“ (Busse 1987: 140) fundiert werden, auf die selbstverständlich auch der Hörer ausgerichtet ist. So spielen bei der Sprachproduktion Annahmen über die Situation und über die Zusammenhänge eine wesentliche Rolle; nicht zuletzt wird eine bestimmte Erwartung seitens des Sprechers an den Adressaten ins Spiel gebracht, insofern eine hypothetische Adressatenrolle angenommen wird82. Sowohl Sprecher als auch Hörer orientieren ihre Annahmen am jeweiligen lebensweltlichen Hintergrund (vgl. Hörmann 41994: 179- 212; vgl. Busse 1987: 141f.). Sinngerichtetheit seitens des Hörers bedeutet den Vollzug eines intentionalen Aktes, der sich aber auf das Verstehen der Sprecherabsicht bezieht, wobei eine sprachliche Äußerung dann als sinnvoll erachtet wird, wenn sie in den jeweiligen Wissens- und Handlungskontext als akzeptabel eingeordnet wird. Was durch die Sinnkonstanz konstant gehalten wird, ist also nicht das durch den Sender der Äußerung bestätigte Verstandenhaben dieser Äußerung, sondern das mit dem Gefühl des Verstehens einhergehende Sinnvollsein einer Äußerung, das nicht mehr identisch zu sein braucht mit dem vom Sprecher Gemeinten [...] (Hörmann 41994: 208) Der akzeptable Zustand ist gefunden, wenn die gehörte Äußerung so auf eine Welt bezogen werden kann, daß sie in ihr sinnvoll ist. (Hörmann 41994: 209)

Und das setzt immer auch interpretatives Vorgehen voraus.83

82 83

Vgl. hier auch das Konzept Wittgensteins, das von der Einbettung sprachlicher Äußerungen in eine nicht hinterfragte Lebensform handelt, die den Akteuren auf Grund gemeinsamer Praxis bekannt ist. Hermanns (2003) plädiert im Hinblick auf den Aspekt des Verstehens für eine hermeneutische Fundierung der Linguistik. Er sieht Interpretieren als genuine Aufgabe gerade auch der Linguistik, insofern „der Gegenstand der Linguistik – sprachliches Interagieren – über das Zusammenspiel von Zu-verstehen-Geben und Verstehen funktioniert, d.h. dadurch konstituiert ist; die Sprachwissenschaft benötigt eine Hermeneutik schon um ihres Gegenstandes willen.“ Hermanns (2003: 127). Hermanns konstatiert des Weiteren, dass Verstehen immer schon auf einem bestimmten Vorwissen basiert, das die jeweiligen Interessen, Einstellungen etc. des Akteurs/Sprechers umfasst. In diesem Zusammenhang fordert er die Integration sprachpragmatischer Untersuchungen in ein Kommunikationsmodell, das sprachliche Handlungen auch im Hinblick auf das Verstehen vollständig beschreibt. Den Faktoren handelnde Person, Zwecke und Motive, Situation und Kontext, Handlungstyp, Kommunikationsform etc. stellt er die Faktoren Sinnverstehen, Personenverstehen, Situationsverstehen, Form- und Funktionalitätsverstehen und Handlungstypverstehen gegenüber. Sprachverstehen ist demnach immer in den Gesamtkontext des Weltverstehens gestellt. Vgl. Hermanns (2003: 151–154). Diese von Hermanns angeführten Implikationen werden dann für einen linguistischen Diskursbegriff zentral. Vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit. Josef Klein reflektiert die Hermeneutik als Gelingensbedingung pragmatisch ausgerichteter Analysen, insofern sprachliches Handeln unmittelbar mit dem Verstehen dieser Handlung zusammenhängt. Vgl. Klein (2006: 22–24).

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1.6 Das sprachliche Zeichen im Kontext der Pragmalinguistik Jede linguistische Beschäftigung setzt einen Zeichenbegriff voraus, da Sprache als ein Zeichensystem aufgefasst wird. Wurde bislang von der einzelnen Sprechhandlung oder vom Sprachgebrauch ausgegangen, sollen hier nun wesentliche Aspekte der Grundlegung einer Pragmalinguistik aus zeichentheoretischer Perspektive expliziert werden. Es geht also um die Einbettung des sprachlichen Zeichens in Kontext und Situation sowie um dessen Funktion einerseits und dessen Konstitution im Zeichenprozess andererseits (vgl. dazu Schlieben-Lange 21979: 15). Dabei muss eine Theorie des sprachlichen Zeichens in pragmalinguistischer Hinsicht wie auch eine Theorie der Sprechakte immer im Kontext eines Kommunikationsmodells bzw. -begriffes betrachtet werden, da sprachliche Zeichen mittels Sprechhandlungen immer in bestimmte Kommunikationssituationen und -kontexte implementiert sind. (Vgl. Kap. 2.3.5 dieser Arbeit) Im Folgenden werden für pragmalinguistisch fundierte Arbeiten relevante Aspekte des sprachlichen Zeichens expliziert. In einem ersten Schritt wird die sprachliche Zeichenkonzeption des als Begründer des Strukturalismus geltenden Ferdinand de Saussure vorgestellt. Wenngleich er nicht als Vertreter der linguistischen Pragmatik gelten kann, soll es hier um bestimmte Implikationen seines Zeichenbegriffes gehen, die für die Pragmalinguistik unhintergehbar sind. In einem zweiten Schritt wird auf die Morrissche Semiose des sprachlichen Zeichens eingegangen. Morris hat durch sein Zeichenkonzept den Ausdruck und die wissenschaftliche Richtung Pragmatik wesentlich geprägt und somit die Entwicklung der Pragmalinguistik beeinflusst. In einem dritten Schritt wende ich mich dem Organonmodell von Bühler zu, das sich mit drei Sprachfunktionen auseinandersetzt, Sprecher und Hörer einbezieht und zudem auf die pragmatischen Faktoren der Kontextualität und Situationalität angewiesen ist. 1.6.1 Die Sozialität des sprachlichen Zeichens: Ferdinand de Saussure Das sprachliche Zeichen als Gegenstand der modernen Linguistik gelang insbesondere durch Saussure zu einer enormen Bedeutung. Seine zentralen Gedanken um die Systemhaftigkeit der Sprache im Cours de linguistique générale84 gelten als Begründung der modernen synchronischen Linguistik und

84 Im Folgenden wird dieses Werk mit CLG und der entsprechenden Seitenzahl der deutschsprachigen Ausgabe zitiert. Der Cours de linguistique générale resultiert aus einer Bearbeitung von Vorlesungsmitschriften dreier Vorlesungen Saussures durch Bally und Sechehaye nach seinem Tod. Saussure hat diese Gedanken also nicht selbst veröffentlicht und systematisiert. Saussures Gedanken in der Bearbeitung von Bally und Sechehaye wurden

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des Strukturalismus. Sprache wird hier in ein unabhängig vom konkreten Sprecher existierendes Zeichensystem (langue) einerseits und in den je konkreten Sprechakt (parole) unterschieden. Die Untersuchung der Sprache in ihrer Systemhaftigkeit, losgelöst von jeglichen Kontextfaktoren und ihrer tatsächlichen Verwendung, ist Gegenstand des linguistischen Strukturalismus. In diesem Kontext müssen die Aussagen Saussures im CLG gesehen werden.85 Zwar kann Saussure mit seiner sprachtheoretischen Konzeption nicht als Vertreter einer linguistischen Pragmatik gelten, doch hat er mit seiner Zeichenauffassung wesentliche Aspekte betont, die gerade für eine pragmatische Sprachauffassung unerlässlich sind und aus diesem Grund hier erwähnt werden sollten. So betrachtete er Sprache als eine soziale Angelegenheit, sein Schwerpunkt liegt jedoch auf der Beschreibung des Systemcharakters der Sprache. Eine solche Beschreibung konzentriert sich auf die Erforschung der Sprachstruktur, die alles der Sprache Äußere wie beispielsweise die Situation und kontextuelle Elemente außen vor lässt. Analysegegenstand stellt somit nicht der konkrete Sprechakt dar. Dieser gilt vielmehr als Vorstufe von Sprache als System und wird sorgfältig vom eigentlichen Sprachsystem getrennt. (Vgl. Ernst 2002: 65) Hier sollen nun diejenigen Aspekte der Sprachauffassung Saussures in den Vordergrund gestellt werden, die für die pragmatische Ausrichtung dieser Arbeit von Bedeutung sind86 : die Sozialität der Sprache sowie die Arbitrarität und Differenzialität des sprachlichen Zeichens. Nicht nur sind die beiden Gebiete, die durch die Tatsache der Sprache miteinander verbunden werden, unbestimmt und gestaltlos, sondern auch die Wahl, welche irgendeinem Abschnitt der Lautmasse irgendeiner Vorstellung entsprechen läßt, ist völlig beliebig. (CLG: 134.)

vorwiegend hinsichtlich der Systematizität der Sprache rezipiert; die Ausführungen um die Diachronie sowie um eine linguistique externe blieben weitgehend ausgespart. Das von Saussure im Sprachsystem selbst verankerte Moment der Sozialität von Sprache wird in der linguistischen Rezeption großteils nicht beachtet bzw. vernachlässigt, konstatiert Busse. Ebenso entzündete sich mit der Rekonstruktion der Saussureschen Originalquellen eine Diskussion darum, inwiefern Bally und Sechehaye Saussures theoretischen Ausführungen zur Sprache überhaupt gerecht werden oder inwiefern diese Saussure gar missverstanden haben, denn Notizen und Briefe Saussures zeichnen ein heterogeneres Sprachbild als im CLG dargestellt. Vgl. Busse (2005: 26f.); vgl. Krämer (2001: 19f.); vgl. Stork (42008: 641–643); vgl. Stetter (1996: 429f.). 85 Vgl. hier das Nachwort der deutschen Neuauflage des CLG von Peter Ernst aus dem Jahr 2001. Ernst gibt hier einen Überblick über die Wirkungs- und Entstehungsgeschichte des CLG, der hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann. 86 Gleichsam gelten diese Aspekte – Sozialität, Arbitrarität und Differenzialität – als grundlegend für den für öffentlich-politische Diskurse typischen heterogenen und konfligierenden Sprachgebrauch. Gemeint sind hier vor allem Bezeichnungs- und Lesartenkonkurrenzen bzw. Nominationskonkurrenzen. (Vgl. dazu auch Kapitel 2.4 und 3.2.1 dieser Arbeit).

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Das Arbiträritätsprinzip des sprachlichen Zeichens beinhaltet, dass keine natürliche Beziehung zwischen einer Vorstellung und einem Lautbild existiert. Zeichen werden beliebig gewählt. Die Bedeutung des Zeichens wird dann durch das Prinzip der Differenzialität hergestellt, insofern das Zeichen in Beziehung zu anderen Zeichen tritt. Es konstituiert seinen Wert als Teil der Bedeutung durch die jeweils abwesenden Zeichen, durch das, was es umgibt, denn „die Verschiedenheit zwischen den Zeichen [wird] zur Bedingung der Identität eines Zeichens.“ (Krämer 2001: 32) Die Bedeutung eines Zeichens muss also in der Differenzialität angesiedelt werden und nicht in den sprachlichen Zeichen an sich. Damit bringt Saussure auch den sprachlichen Kontext ins Spiel, wenn er selbst formuliert: „[...] die Sprache [ist] ein System, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen sich ergeben.“ (CLG: 136) Mit den Prinzipien der Arbitrarität und Differenzialität lassen sich Bezugspunkte zu Humboldt und Wittgenstein herstellen: durch sprachliche Zeichen/durch Sprache/durch Sprachgebrauch wird Wirklichkeit, wird Sinn konstituiert. Die soziale Natur des sprachlichen Zeichens begrenzt zugleich das Arbitraritätsprinzip; Arbitrarität meint nicht völlige Beliebigkeit, insofern dem einzelnen Sprachbenutzer die Menge an Bedeutungen sprachlicher Zeichen vorgegeben ist. Dieser beteiligt sich nämlich nur auf unbemerkbare Weise am Konstitutionsprozess neuer Zeichen. Hörmann (41994) gibt zu bedenken, dass Saussure selbst der Ebene der parole – entgegen der Rezeption – eine gewisse Bedeutung zugemessen haben musste, Zeichen werden durch andere Zeichen determiniert, was wiederum nur im Rückgriff auf den konkreten Redeakt beschrieben werden kann, damit kommt zwangsläufig die pragmatische Dimension der Sprachbetrachtung ins Spiel, ohne dass diese von Saussure so bezeichnet wurde.87 Die jeweiligen Unterschiede manifestieren sich auf Grund der unterschiedlichen Situationen, Sprecher und Zwecke (vgl. Hörmann 41994: 27). In diesem Zusammenhang wird Saussures Konzept vom Wert/valeur des Zeichens zentral. Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens wird somit durch dessen Zeichenkontext bestimmt.88 Die Bedeutung wird erst „im Gebrauch intersubjektiv austariert“, wobei die beiden Ebenen – langue und parole – in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Die parole ist dabei Basis für die Abstraktion der langue. (Vgl. Stetter 1996: 430; vgl. CLG: 164) Im Hinblick auf das Merkmal der Sozialität zeigen sich in Saussures Konzeption Berührungspunkte sowohl mit Humboldt als auch mit

87 Vgl. hierzu auch Vigener, der vom „pragmatischen Sinn [...] [der] differentiellen Wertbestimmung“ spricht. Vigener (1979: 83). 88 Saussure fasst den Aspekt des Wertes eines Zeichens als den Bestandteil der Bedeutung, wobei er gleichsam konstatiert, dass beide sich - Bedeutung und Wert - nur sehr schwer unterscheiden lassen. CLG: 135f.; vgl. auch CLG: 132–142; vgl. Krämer (2001: 34).

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Wittgenstein. Humboldt spricht von der notwendigen Prüfung des Gesagten durch andere Gesellschaftsglieder im Hinblick auf das Verstehen und das Verstandenwerden (vgl. Kapitel 1.2). Wittgenstein betont die Gesellschaftlichkeit der Sprache durch die gemeinsame Lebensform, die immer schon vorgegeben ist und in der das gegenseitige Verstehen durch den gemeinsamen Sprachgebrauch, die gemeinsame Praxis begründet liegt (vgl. Kapitel 1.4). Wengeler kommentiert den Aspekt der Sozialität am Beispiel der Veränderung des sprachlichen Zeichens bei Saussure folgendermaßen: Die theoretisch unbegrenzte Möglichkeit der Veränderung sprachlicher Zeichen ist durch die soziale Natur der sprachlichen Zeichen eingeschränkt. Durch die Geschichte der Sprachgemeinschaft ist die Masse der Bedeutungen und Bezeichnungen dem einzelnen Sprecher vorgegeben, wenn er verstanden werden will. Diese Bedeutungen sind aber nicht natürlich vorgegeben, sondern in sozialen Verständigungshandlungen gebildet, hervorgebracht worden. In jeder Sprachhandlung stehen diese sozial gebildeten Bedeutungen, in die Wertorientierungen, Weltinterpretationen einfließen, prinzipiell zur Disposition. (Wengeler 1992: 15; vgl. auch Krämer 2001)

Der Aspekt der Intersubjektivität als Beziehung zwischen einzelnen Subjekten einerseits und der Aspekt eines gegenseitigen Bedingungs- und Konstitutionsverhältnisses von Individuum und Gesellschaft andererseits können somit als konstitutive Elemente von Sprache aufgefasst werden. Im Kontext der Auseinandersetzung mit Saussure konstatiert Bühler hinsichtlich der Sozialität des sprachlichen Zeichens: Doch weiter: er [Saussure] hat [...] den intersubjektiven Charakter der Sprachgebilde und im Zusammenhang damit ihre Unabhängigkeit vom einzelnen Sprecher einer Sprachgemeinschaft scharf, in einigem vielleicht sogar überspitzt herausgearbeitet. (ST: 58, Hervorh. im Original)

Die Pragmatik beschreibt die konkrete Verwendung sprachlicher Zeichen innerhalb bestimmter Kontexte und sozialer Situationen im Hinblick auf verschiedene Funktionen, auf den Verwendungszusammenhang und vor allem im Hinblick auf die Zeichenbenutzer. Der Zeichenbegriff, der dieser Arbeit und damit einer linguistischen Pragmatik gerecht werden soll, muss also den Sprachbenutzer mit einbeziehen sowie die immer schon gegebene Sozialität des Zeichens und den Aspekt der Arbitrarität berücksichtigen. Charles W. Morris und Karl Bühler bringen die Relation zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer und damit auch den Gebrauchsaspekt von Sprache ins Spiel. Sie machen somit auf die pragmatische Dimension des sprachlichen Zeichens aufmerksam, insofern das sprachliche Zeichen in seinem Kontext analysiert wird. Im Folgenden soll nun zunächst die Zeichenkonzeption von Charles Morris interessieren und abschließend das Organonmodell Bühlers dargestellt werden.

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1.6.2 Die Semiose des sprachlichen Zeichens: Charles W. Morris Charles W. Morris gilt als Vertreter des amerikanischen Pragmatismus. Seine Studien zur Zeichentheorie bilden nur einen Teil seiner Arbeiten, doch begründeten diese seinen Erfolg und seine Bekanntheit (vgl. Eschbach 1981: 9). Ausgangspunkt der Überlegungen von Morris stellt der Gebrauch von Zeichen dar (vgl. Morris 21975: 17, 19). Für die Linguistik, die in ihren Untersuchungen immer schon einen Zeichenbegriff voraussetzt, stellen die zeichentheoretischen Bemühungen von Morris einen wichtigen Bezugspunkt dar, zumal diese den Beginn der neueren Pragmatik begründen (vgl. Rehbein 1988: 1181–1195). Wenngleich sein behavioristischer Ausgangspunkt in vielen Punkten zu kritisieren ist, etwa wenn Sprechen auf ein Reiz-Reaktions-Schema reduziert wird, sollen hier dennoch diejenigen Aspekte, die für die weitere Entwicklung der linguistischen Pragmatik von Relevanz waren und sind, vorgestellt werden.89 Wesentliche Anknüpfungspunkte und Bezugspunkte für die linguistische Pragmatik im Allgemeinen und für einen linguistischen Diskursbegriff im Besonderen stellen das Konzept der Semiose des Zeichens sowie die Signifikations- und Gebrauchsklassifikation dar. Semiose In Auseinandersetzung mit Charles Sanders Peirce90 und George Herbert Mead führte Morris in seinem Zeichenmodell die Pragmatik neben Syntaktik und Semantik als eigenständigen semiotischen Forschungszweig ein und etablierte damit den Begriff der Pragmatik als den Bezug zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer. Mit seiner Konzeption des Zeichens übte Morris einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Linguistik aus, insofern er die Relation zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer in seine Konzeption mit einbezog und damit einen Bereich schuf, der „zunächst alles das, was von der modernen Wissenschafts-»Logik« gemäß ihrem über Husserl hinaus auf Frege zurückgehenden »Psychologismus«-Verdikt aus der Philosophie qua Wissenschaftstheorie ausgeklammert und in die Psychologie [...] verwiesen wurde.“ (Apel 1981: 27) In diesen Bereich fielen dann beispielsweise die evaluativen oder präskriptiven Bedeutungsdimensionen von sprachlichen Zeichen sowie alle die Kontextfaktoren, die auf die Zeichenverwendung durch die Zeichenbenutzer zurückzuführen sind (vgl. Apel 1981: 27). Demnach kann etwas

89 Vgl. zur Kritik Kutschera (1972); vgl. Eschbach (1981); vgl. Wunderlich (1974). 90 Morris bezieht sich in der Schrift Grundlagen der Zeichentheorie ausdrücklich auf die Zeichentheorie von Peirce, insofern er die Peircesche Trias der Zeichenrelationen in seine Konzeption aufnimmt, sich damit aber zugleich von Peirce wegbewegt. Vgl. SchliebenLange (21979: 26ff.); vgl. Eschbach (1977); vgl. Apel (1981).

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nur zum Zeichen werden bzw. als Zeichen fungieren auf Grund des Gebundenseins an den Zeichenbenutzer (vgl. Morris 21975: 21 sowie 1973: 147). Hinzuzufügen ist jedoch, dass Morris von einem allgemeinen Zeichenbegriff ausging, der sich nicht ausschließlich auf sprachliche Zeichen zu beziehen hat, sondern auch Außersprachliches als Zeichen auffasst. In seinen Schriften91 Foundation of the Theory of Signs (1938) (dt. Grundlagen der Zeichentheorie und Ästhetik und Zeichentheorie 1972) entwickelt Morris sein semiotisches Konzept, das er in der Schrift Signs, Language and Behavior (1946) (dt. Zeichen, Sprache und Verhalten 1973) näherhin präzisiert. Im Kontext einer pragmatisch integrierten Semiotik als Wissenschaft, die er zugleich als Werkzeug und Methode der Wissenschaften beschreibt, entwickelt Morris seine recht allgemeine Konzeption des Zeichens als eine Semiose von Zeichen. Die Bezeichnung Semiose impliziert die Prozesshaftigkeit des Zeichengebrauchs, die nach Morris wie folgt zu charakterisieren ist: Die Beziehungen der Zeichenträger zu dem, was designiert oder denotiert wird, sollen semantische Dimensionen der Semiose heißen und die Untersuchung dieser Dimension Semantik; die Beziehung der Zeichenträger zu den Interpreten wollen wir pragmatische Dimension der Semiose und die Untersuchung dieser Dimension Pragmatik nennen; die semiotisch relevanten Beziehungen der Zeichenträger zu anderen Zeichenträgern bezeichnen wir als syntaktische Dimension der Semiose und ihre Untersuchung als Syntaktik. (Morris 21975: 93)

Der Zeichenbegriff wird als Relationalität dreier sprachlicher Dimensionen – Syntaktik, Semantik und Pragmatik – formuliert, die in einer Wechselbeziehung stehen. Jede Dimension nimmt Einfluss auf die andere. Die Dimension der Syntaktik untersucht die Relation der Zeichenträger zu anderen Zeichenträgern; die Dimension der Semantik die Relation zu dem, was designiert wird; die Dimension der Pragmatik die Relation zwischen Zeichenträger und Zeichenbenutzer. Innerhalb dieses Zeichenbegriffes steht die Beziehung zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer im Vordergrund, insofern die Zeichenkonstitution immer einen Interpretanten einschließen muss, der etwas überhaupt erst als Zeichen wahrnimmt92. Die beiden anderen Dimensionen der Semiose, die semantische und die syntaktische Dimension des sprachlichen Zeichens, stehen im Dienst der pragmatischen Dimension, insofern sie der pragmatischen Dimension vorausgesetzt sind. Damit erhält die Pragmatik hier eine übergeordnete Rolle (vgl. Morris 21975: 57). Die semantische Dimension ergibt sich aus einer Relation zwischen Zeichen und Zeicheninhalt, die syntaktische

91

Das Erscheinungsjahr in den Verweisen bezieht sich jeweils auf die deutsche Ausgabe der entsprechenden Auflage der Schrift. 92 Vgl. Morris (21975: 20); vgl. Morris (1973: 147); vgl. Hartig (1978: 111f.).

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Dimension aus der Beziehung der einzelnen Satzglieder zueinander. Beide Dimensionen können aber nicht unabhängig vom Sprachbenutzer betrachtet werden (vgl. Morris 21975: 50f.). Gleichwohl ist in „Zeichen, Sprache und Verhalten“ eine Veränderung der Morrisschen Zeichenkonzeption zu verzeichnen, insofern die drei Dimensionen der Semiose nun gleichberechtigt nebeneinander existieren. Die hier näher präzisierte pragmatische Dimension, die in der Schrift „Grundlagen der Zeichentheorie“ noch eine alle Prozesse fundierende Rolle innehatte, steht nun neben Syntaktik und Semantik als diejenige Dimension, die „[...] sich mit dem Ursprung, den Verwendungen und den Wirkungen der Zeichen im jeweiligen Verhalten beschäftigt [...].“ Allerdings erfährt im selben Kontext die Dimension der Semantik eine deutliche, pragmatische Erweiterung, wenn Morris von Semantik als dem Teil spricht, der „sich mit der Signifikation der Zeichen in allen Signifikationsmodi“ befasst und anhand dieser zusammen mit den Verwendungszwecken eine Klassifikation erstellt, die die verschiedenen Diskurstypen charakterisiert (Morris 1973: 326; Morris 21975: 57f.). Apel stellt diesbezüglich einen Zusammenhang bezüglich einer gewissen Ähnlichkeit der Diskurstypenklassifikation mit dem Sprachspielbegriff Wittgensteins her; er sieht bereits mit dieser Klassifikation (und nicht in der Austinschen Sprechaktklassifikation) das „szientifisch-systematische Gegenstück zu Wittgensteins sokratisch-platonischer Methode der Besinnung auf die Mannigfaltigkeit des Sprachgebrauchs“ gegeben. (Apel 1973: 21) Im Kontext dieses Modells fasst Morris Bedeutung als relationalen und funktionalen Prozess, der sich anhand der drei Dimensionen des sprachlichen Zeichens manifestiert. To specify the meaning of any symbol or symbol combination is to specify the three sets of relations. Meaning turns out to be a relational and functional process rather than an entity; as an objective process, all meaning is potentially intersubjective: theoretically what any sign means to anyone can be exhaustively determined by any other person. (Zitiert nach Eschbach 1981: 13) 93

Insofern Morris die Semiose des sprachlichen Zeichens als einen Gebrauch bzw. eine Verwendung von Zeichen beschreibt und damit die Handlungsdimension ins Spiel bringt, muss der Pragmatik eine besondere Stellung zugeschrieben werden, insofern alle drei Dimensionen der Semiose vom Gebrauch94 her unter Bezugnahme der jeweiligen Gebrauchsregeln bestimmt werden.

93

Desweiteren vgl. auch Morris (1973: 94). Hier lehnt Morris den Bedeutungsbegriff wegen seiner Ungenauigkeit ab, beschreibt ihn aber gleichzeitig als sich in allen Dimensionen konstituierenden Begriff; vgl. dazu auch Morris (21975: 72ff.). 94 Deutlich wird die Existenz der pragmatischen Komponente in allen Zeichendimensionen durch folgende Aussage: „Syntaktische Regeln determinieren die Zeichenbeziehungen zwischen Zeichenträgern; semantische Regeln korrelieren die Zeichenträger mit den übri-

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Nichts ist aus sich heraus Zeichen oder Zeichenträger, sondern es wird erst dazu, insofern es jemandem erlaubt, durch seine Vermittlung von etwas anderem Notiz zu nehmen. Bedeutungen lassen sich nicht als Existenzen an irgendeinem Punkt des Zeichenprozesses festmachen, sie sind nur durch den Zeichenprozeß als ganzen charakterisierbar. (Morris 21975: 71)

Als Funktion der Zeichenanalyse begreift Morris, die Analyse der drei Dimensionen als Feststellung der Gebrauchsregeln der Zeichenträger95. Explizit hat Morris zwar nicht von einer Fundierung der Dimensionen durch die Pragmatik gesprochen. Implizit lässt sich aber m. E. eine solche Fundierung ausmachen, denn der Bedeutungsbegriff wird von Morris vorwiegend durch den Begriff des Gebrauchs beschrieben und inhaltlich gefüllt. Zudem wird der Zeichenprozess im Hinblick auf das Verstehen als Zweck der Zeichenverwendung beschrieben. Damit wird die Handlungspotenz nochmals hervorgehoben. Ausgangspunkt seiner Gedanken ist, wie bereits angedeutet, allerdings ein behavioristischer Ansatz, der die menschliche Kommunikation als ReizReaktion-Schema beschreibt und Sprechen als Verhalten konzipiert. Als Behaviorist begreift Morris demnach die jeweilige sprachliche Handlung als Reaktion auf eine Reizkonstellation. Eine solche Auffassung berücksichtigt aber nicht die gesellschaftliche Praxis als eine aktive, kooperative, intentionale und notwendig intersubjektive Praxis, in die Sprechhandlungen eingebettet sind und die auf Verständigung aus ist.96 Signifikationsmodi – Gebrauchsmodi – Diskurstypen Einen wichtigen Anknüpfungspunkt sowohl für eine Diskurslinguistik als auch für eine Textlinguistik bietet Morris’ Konzeption der Diskurstypen und Signifikationsmodi von Zeichen (vgl. hier Posner 1981: 176–213). Morris differenziert seine Zeichenkonzeption in der Schrift „Zeichen, Sprache und Verhalten“ hinsichtlich unterschiedlicher Signifikationsmodi und Gebrauchsweisen, die dann in Kombination Diskurstypen differenzieren. Ausgangspunkt gen Objekten; pragmatische Regeln geben die Bedingungen an, die der Interpret erfüllen muß, um einen Zeichenträger als Zeichen von etwas verstehen zu können. Jede Regel erscheint im aktuellen Gebrauch als eine Verhaltensweise, und in diesem Sinn liegt in allen Regeln eine pragmatische Komponente.“ Morris (21975: 59). 95 Vgl. Morris (21975: 74f.). Ähnlichkeiten mit Wittgenstein sind unverkennbar, wenngleich auch Unterschiede hinsichtlich der Grundannahmen und Ausgangspunkte bestehen, wie Apel konstatiert. Vgl. Apel (1981: 37f.). 96 Vgl. Wunderlich (1974: 318). Georg Klaus erweitert das Modell von Morris um eine vierte Zeichenrelation, nämlich die sigmatische Relation, die etwas bezeichnet. Er hat in seiner Weiterentwicklung die pragmatische Dimension an den gesellschaftlichen Kontext rückgebunden, insofern Gesellschaft bzw. in der Gesellschaft existierende soziale Gruppen und Akteure den Gebrauch sprachlicher Zeichen beeinflussen. Damit entwickelt er ein Analysemodell gerade für politisches Sprechen. Vgl. Klaus (1971: 21).

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bildet hier eine pragmatische Erweiterung der semantischen Dimension; Morris spricht hier nicht mehr von Designation, sondern von Signifikation in verschiedenen Signifiationsmodi (vgl. Apel 1973: 19f.). Dies geschieht durch die Relativierung der noch 1938 als »die« semantische ZeichenRelation geltenden Funktion der »Designation« (und damit zugleich des deskriptivinformativen Sprachgebrauchs) zugunsten der umfassenden semantischen Funktion der »Signifikation«, die außer der »Designation« noch weitere »modes of signifying« bezeichnet[...]. (Apel 1973: 19, Hervorh. im Original)

Dabei entwickelt er eine Modus-Gebrauchs-Klassifi kation, um damit die einzelnen Sprachspezialisierungen mittels seiner Zeichentheorie zu beschreiben. Die Modus-Gebrauchs-Klassifikation charaktierisiert die jeweiligen Diskurstypen nach dem primären Signifikations- und Gebrauchsmodus von Zeichen. (Vgl. Morris 1973: 218) Die Signifikationsmodi unterscheidet er in designative, appreziative und präskriptive Askriptoren; darüber hinaus differenziert er in „Identifikatoren, Designatoren, Appreziatoren und Präskriptoren als Zeichen in den verschiedenen Signifikationsmodi.“ (Morris 1973: 143) Askriptoren sind Zeichenkomplexe oder Kombinationen von Zeichenkomplexen, die einen identifikativen Modus mit einem weiteren Signifikationsmodus in einem Zeichen verbinden.97 Signifikationsmodi geben an, auf welche Art und Weise Zeichen gebraucht werden. Dazu bringt Morris drei Möglichkeiten ins Spiel: designativ, appreziativ und präskripitv können die Modi der Zeichen sein. Dabei ist zu beachten, dass jeder Zeichenträger alle drei Komponenten in je unterschiedlichem Grad enthalten kann. Die im Vordergrund stehende Komponente gibt dann den Modus des Zeichens an.98 Ausgehend von und in Korrelation zur Meadschen Handlungstheorie, die von der Orientierungsphase, Bearbeitungsphase und der Erfüllungsphase des Handelns ausgeht, weisen nach Morris designative Zeichen auf Situationseigenschaften hin, präskriptive Zeichen fungieren als Anweisungen zu einem bestimmten Verhalten und appreziative Zeichen drücken die Wertschätzung und die jeweilige Einstellung gegenüber Gegenständen und Sach-

97 Hier wäre die Frage zu stellen, inwiefern in diesen Konzeptionen Vorläufer der Klassifikation von Textfunktionen zu sehen sind: zu denken wäre etwa an Texte als komplexe Zeichenkombinationen, denen ein bestimmter Modus eignet, beispielsweise der Text als Präskriptor oder Designator. Letzterer würde eine informative Funktion zugeschrieben bekommen. Vgl. Morris (1973: 157). 98 Hier kann ein Bezug zu den Sprachfunktionen Bühlers hergestellt werden: Analog zu den Modi des Zeichens bei Morris und ihren Verwendungen ist das Organonmodell Bühlers ein Modell der Zeichendimensionen und der Funktionen. Damit ergibt sich zwischen Morris und Bühler folgende Entsprechung: designativ, appreziativ, präskriptiv (Morris) = Gegenstände, Sender, Empfänger (Bühler); informativ, evaluativ, inzitiv (Morris) = Darstellungsfunktion, Ausdrucksfunktion, Appellfunktion (Bühler).

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verhalten aus. Demzufolge können Zeichen innerhalb von Zeichenprozessen bezeichnen, bewerten und vorschreiben (vgl. hier auch Klaus 1971: 25; vgl. Posner 1981: 192f.). Die Gebrauchsdimension beschreibt Zeichen hinsichtlich der Ziele und Zwecke, für die sie eingesetzt werden. Signifikationsmodi und Gebrauch von Zeichen dürfen allerdings nicht verwechselt werden, doch stehen beide Aspekte in einem gewissen Zusammenhang. Bestimmte Bezeichnungsarten implizieren m. E. bereits bestimmte Zwecke. Die Zwecke können mithin als Textfunktion aufgefasst werden. Die Klassifizierung stellt aber nur eine Anregung seitens Morris dar. Und sicherlich kann sie als Anknüpfungspunkt für die heutige Textsortenklassifikation oder die Typisierung von Kommunikationsbereichen innerhalb einer linguistischen Diskursanalyse in Anspruch genommen werden, insofern sie einen vagen Versuch darstellt Rede anhand bestimmter pragmatischer Kriterien (Zwecke und Ziele) zu typisieren und systematisieren.99 Die Klassifikation von Diskurstypen mittels der Modus-Gebrauchs-Klassifikation, in der unterschiedliche Gebrauchsweisen mit unterschiedlichen Bezeichnungsweisen verwoben sind, bietet Anknüpfungspunkte für einen linguistischen Diskursbegriff. Verschiedene Diskurse werden in diesem Kontext unterschiedlichen Kommunikationsbereichen zugeordnet. Apel stellt hier eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Diskurstypen von Morris und den Sprachspielen Wittgensteins heraus, ohne deren unterschiedliche Intentionen zu verleugnen. (Vgl. hier Apel 1973: 21) 1.6.3 Form, Funktion und Verwendung des sprachlichen Zeichens: Karl Bühler Sprachhandlungstheoretische Aspekte Bühlers wurden bereits im Kapitel 1.3 thematisiert, ohne aber auf Bühlers zentrales Konzept des sprachlichen Zeichens näher einzugehen. Das soll nun an dieser Stelle erfolgen. Zentraler Gegenstand der Überlegungen Bühlers war die Präzisierung des sprachlichen Zeichens im Hinblick auf seine Form, seine Funktion und seine Verwendung, was er in einer Axiomatik der Sprachwissenschaft näherhin darlegte (vgl. AS, ST). Die Zeichenkonzeption Bühlers stellt für die linguistische Pragmatik

99 Mit Signifi kationsmodi werden aus heutiger Sicht die unterschiedlichen Bedeutungskomponenten eines sprachlichen Zeichens in Verbindung gebracht: denotativ, deontisch und evaluativ. Insbesondere die Bewertungsdimension sprachlicher Äußerungen und sprachlicher Zeichen wird durch die deontische und evaluative Komponente zur Geltung gebracht. Vgl. hier auch Girnth (1993); vgl. Ripfel (1987); Fiehler (1990); vgl. hierzu auch weitere Semantikkonzepte der Sprache-und-Politik-Forschung, so beispielsweise Klein (1989) oder Strauß/Zifonun (1986).

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deswegen einen wichtigen Bezugspunkt dar, weil Bühler hier die pragmatische Dimension des Zeichenempfängers und Zeichenbenutzers in das Zeichen integriert. Das Organonmodell Die Dreistrahligkeit bzw. die Dreidimensionalität des sprachlichen Zeichens bildet den Ausgangspunkt für das Organonmodell. Dabei bestimmt Bühler drei Funktionen des sprachlichen Zeichens: Ausdruck, Appell und Darstellung bzw. Symptom, Signal und Symbol. Mit dieser Zeichenbestimmung bringt auch er die pragmatische Dimension sprachlicher Zeichen als eine wechselseitige Bezogenheit von Sprecher, Hörer sowie Gegenstände und Sachverhalte ins Spiel, insofern es sich um eine Beziehung zwischen Symptom (Sprecher) – Symbol (Gegenstand) – Signal (Empfänger) handelt (vgl. ST 24f.). Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen. (ST: 28)

Dabei findet die Funktionalität des sprachlichen Zeichens in zweifacher Hinsicht Beachtung, und zwar als Funktion im Sinne der Finalität, Sprache ist zweckgerichtet im Hinblick auf das Schaffen von Bedeutungen, und als relationelle Funktion im Sinne von Bezogenheit auf Sender, Empfänger und Gegenstand. (Vgl. Busse 1975: 215f., 233f.) Konstitutiv für das sprachliche Zeichen ist dessen Kontextualität und soziale Eingebundenheit. Die soziale Eingebundenheit einerseits und der Einbezug des Hörers in das Zeichenkonzept bedeuten zugleich, dass sprachliche Zeichen sich nur in intersubjektiver Auseinandersetzung und in Gesellschaft als sinnvoll bzw. bedeutungsvoll erweisen. Es ist nicht wahr, daß alles, wofür der Laut ein mediales Phänomen, ein Mittler zwischen Sprecher und Hörer ist, durch den Begriff »die Dinge« oder durch das adäquatere Begriffspaar ‚Gegenstände und Sachverhalte‘ getroffen wird. Sondern das andere ist wahr, daß im Aufbau der Sprechsituation sowohl der Sender als Täter der Tat des Sprechens, der Sender als Subjekt der Sprechhandlung, wie der Empfänger als Angesprochener, der Empfänger als Adressat der Sprechhandlung eigene Positionen innehaben. Sie sind nicht einfach ein Teil dessen, worüber die Mitteilung erfolgt, sondern sie sind die Austauschpartner, und darum letzten Endes ist es möglich, dass das mediale Produkt des Lautes je eine eigene Zeichenrelation zum einen und zum anderen aufweist. (ST: 30f.)

Mit dieser Bestimmung des sprachlichen Zeichens einerseits und des Sprechens als Handlung andererseits weist Bühler schon in den 30er Jahren auf eine pragmatische Fundierung der Sprachbetrachtung. Jedoch konstituiert sich die pragmatische Dimension für Bühler nicht nur in einer Relation zwischen Sprecher und Hörer, sondern gerade den Faktoren Kontextualität und Situati-

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onalität als Verschränkung mit nicht-sprachlicher Tätigkeit schenkt er besondere Beachtung für die unterschiedlichen Funktionen sprachlicher Zeichen. Es kann jedes geflügelte und nichtgeflügelte Wort sub specie einer menschlichen Handlung betrachtet werden. Denn jedes konkrete Sprechen steht im Lebensverbande mit dem übrigen sinnvollen Verhalten eines Menschen; es steht unter Handlungen und ist selbst eine Handlung. (ST: 51–52)

Durch die Charakterisierung des sprachlichen Zeichens als intersubjektiv integriert Bühler die soziale und dialogische Dimension von Sprache in die Sprachbetrachtung. Grundlage für Intersubjektivität wiederum ist die Sinnorientierung des Menschen. Sprachliche Zeichen dienen primär der Handlungskoordination und sollen bestimmte Zwecke erfüllen. Es geht Bühler hier vor allem um intersubjektives Verstehen, das durch Interaktion der Subjekte hergestellt wird.100 Die Verstehensleistungen der an der Kommunikation Beteiligten beschreibt Bühler mit dem Prinzip der abstraktiven Relevanz, das eine gewisse Offenheit des sprachlichen Zeichens kennzeichnet. „Sprachzeichen sind für Bühler in ihrer »Natur« wie in ihrer »Funktion« durch diese Interpretations-Bedürftigkeit und -Offenheit bestimmt.“ (Musolff 1990: 28) Um Zeichen zu bestimmen, bedarf es immer des situationalen Kontextes. Das Prinzip der abstraktiven Relevanz, welches aus der Phonologie stammt und von Bühler auf alles Zeichenhafte übertragen wird, besagt, dass bei der Entschlüsselung von Zeichen durch den Adressaten von diesem alles Bedeutungsirrelevante weggelassen und Bedeutungsrelevantes ergänzt wird. Die jeweilige apperzeptive Ergänzung oder das Weglassen von Bedeutungsfaktoren stellt eine Verstehensleistung des Hörers dar, die durch die Situation und den Kontext beeinflusst wird. Mit den Zeichen, die eine Bedeutung tragen, ist es also so bestellt, daß das Sinnending, dies wahrnehmbare Etwas hic et nunc nicht mit der ganzen Fülle seiner konkreten Eigenschaften in die semantische Funktion eingehen muß. Vielmehr kann es sein, daß nur dies oder jenes abstrakte Moment für seinen Beruf, als Zeichen zu fungieren, relevant wird. Das ist in einfache Worte gefaßt das Prinzip der abstraktiven Relevanz. (ST: 44)

Es müsste demnach auch möglich sein, dass sich das Bedeutungsrelevante und -irrelevante eines sprachlichen Zeichens je nach Kontext und Situation ändern kann. Bedeutungsvarianz könnte somit durch das Prinzip der abstraktiven Relevanz begründet werden. Hier ist jedoch die Frage zu stellen, inwiefern das Prinzip der abstraktiven Relevanz, von dem alle sprachlichen Zeichen bestimmt sind, auch pragmatisch fundiert ist, insofern durch dieses

100 Vgl. Bühler (ST: 32, 28; vgl. KP: 94); vgl. Musolff (1990: 21); vgl. auch Habermas (1995, Bd. 1: 373–375).

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Prinzip sprachliche Äußerungen unterschiedliche Funktionen und somit auch unterschiedliche Bedeutungsmomente haben können. Hier zeigt sich abermals die Bedeutung des Prinzips der abstraktiven Relevanz, das Bühler für sämtliche Zeichen geltend gemacht hatte. [...] Es dient jetzt als Erklärung dafür, daß wir dieselbe Sprachäußerung grundsätzlich sowohl als Darstellung wie als Ausdruck auffassen können, weil für beide Sinnrichtungen jeweils andere Momente des Gesprochenen relevant sind. (Ströker 21976: 149; vgl. AS; vgl. ST: 221ff.)

Zweifelderlehre Die Zweifelderlehre unterscheidet zwischen dem situationellen Kontext – dem Zeigfeld – und dem sprachlichen Kontext – dem Symbolfeld. Bühler bezeichnet das Zeigfeld der Sprache als das „hier-jetzt-ich-System der subjektiven Orientierung“. (ST 149) Im Kontext des Vierfelderschemas werden Sprachgebilde und Sprachwerke dem synsemantischen Umfeld zugeordnet und auf das Symbolfeld bezogen, Sprechakte und Sprachhandlungen dem sympraktischen Umfeld und damit dem Zeigfeld zugeordnet.101 Aus dieser ich-jetzt-hier-Orientierung des Sprechers werden die Handlungen verstanden. Im Zusammenhang von Situation und Kontext sind sprachliche Handlungen zu verstehen, zu erschließen oder zu interpretieren. Der Kontext allgemein umfasst das sympraktische, das symphysische und das synsemantische Umfeld der Sprachzeichen, das oben bereits erläutert wurde (vgl. dazu auch Kapitel 1.3). Innerhalb eines solchen Feldes erhalten die Zeichen je nach Sprechsituation ihren Feldwert (vgl. ST: 84). Das Zeigfeld der Sprache im direkten Sprechverkehr ist das hier-jetzt-ich-System der subjektiven Orientierung; Sender und Empfänger leben wachend stets in dieser Orientierung und verstehen aus ihr die Gesten und Leithilfen der demonstratio ad oculos.[...] Das sprachliche Symbolfeld im zusammengesetzten Sprachwerk stellt eine zweite Klasse von Konstruktions- und Verständnishilfen bereit, die man unter dem Namen Kontext zusammenfassen kann; Situation und Kontext sind also ganz grob gesagt die zwei Quellen, aus denen in jedem Fall die präzise Interpretation sprachlicher Äußerung gespeist wird. (ST: 149)

Auch diese beiden Felder stehen in einem gewissen Wechselverhältnis, das Einfluss auf die Bedeutungskonstitution hat: Das Symbolfeld ist offen für die deiktische Steuerung durch den Sprecher. Nennwörter des Symbolfeldes sind zugleich in eine „Sphärenordnung“ von gemeinsamen Wissen eingebettet, so dass die Vagheit mancher Ausdrücke auf der Basis des gemeinsamen Wissens (ST: 221) und der kulturellen Geprägtheit (ST: 222) zu einer Bedeutung,

101 Diese eindeutige Zuordnung ist sicherlich problematisch, kann hier aber nicht weiter diskutiert werden, da sie nicht zielführend ist. Zur Diskussion vgl. Auer (1999: 28f.).

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die durch den Kontext und durch die Situation bestimmt ist, festgelegt wird (vgl. dazu auch Bühlers Ausführungen zur Konnotation ST: 223–236). Das Wechselverhältnis manifestiert sich insbesondere darin, dass in jedem Feld Elemente des je anderen Feldes enthalten sind. Die Deixis weist ‚über sich‘ hinaus, indem in der demonstration ad oculos eine raum-zeitliche Ausdehnung „mitgetroffen“ wird (ST 373), die dann über Erweiterungen und Versetzungen zu einer allgemeinen Situationen-Ordnung ‚ausgebaut‘ werden kann. Schon das Zeigfeld ist also Produkt intersubjektiver Verständigungshandlungen und transzendiert die ‚rein‘ subjektive hier-jetzt-ich-Orientierung. (Musolff 1990: 87; Hervorh. im Original)

Diese gegenseitige Bedingtheit der beiden Felder expliziert nochmals Bühlers Auffassung vom Ganzheitlichkeitscharakter der Sprache. Kein Feld dominiert, jedes Feld ist auf das andere angewiesen. Weder dem System noch dem aktuellen Redeakt kommt bei Bühler eine bevorzugte Stellung zu (vgl. auch Gutterer 1984: 108; vgl. Pléh 1984: 288ff.). Modifiziert und weitergeführt hat das Organonmodell von Bühler Roman Jakobson (vgl. Jakobson 1979a). Er hat das Zeichenmodell um einige Elemente erweitert, deren Funktion innerhalb eines Kommunikationsprozesses in den Vordergrund gestellt und somit das Bühlersche Modell des sprachlichen Zeichens in ein Kommunikationsmodell integriert.102 Von daher empfiehlt es sich, Bühlers sprachtheoretische Äußerungen im Kontext von Kommunikationsprozessen zu betrachten, insofern Bühlers Organonmodell Funktions- und Gebrauchsaspekte des sprachlichen Zeichens ansatzweise thematisiert, zumal Bühler selbst von der Prozessualität der konkreten Sprechhandlungen redet (vgl. ST: 53). Dem entspricht auch Bühlers Auffassung von der Leistung des sprachlichen Zeichens, die er in den drei Funktionen des sprachlichen Zeichens und vor allem in der Koordination und Situierung von Handlungen begründet sieht (vgl. hier ST: 48). „Einstweilen aber kann man das Zeichenhafte, welches im intersubjektiven Verkehr verwendet wird, als ein Orientierungsgerät des Gemeinschaftslebens charakterisieren.“ (ST: 48, Hervorh. im Original) Zugleich wird hier die Verstehensorientierung in der Gemeinschaft impliziert und damit bereits der Weg für eine Integration des sprachlichen Zeichens in ein handlungstheoretisches Kommunikationsmodell gewiesen. Im Zusammenhang mit dem bereits weiter oben erläuterten Vierfelderschema, der Deixis und der Handlungspotenz von Sprache kann man Bühlers Überlegungen als einen Schritt auf dem Weg zur Begründung einer linguistischen Pragmatik sehen und damit als ein Bezugspunkt zur Begründung eines linguistischen Diskursbegriffes.

102 Hier sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Bühler selbst kein Kommunikationsmodell, sondern ein Zeichenmodell entwickelt hat.

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1.6.4 Abschließende Bemerkungen zum Zeichenbegriff Die Notwendigkeit eines funktionalen Zeichenbegriffes ergibt sich aus der Gegenstandskonstitution der linguistischen Pragmatik, insofern sie davon ausgeht, dass Sprache aus willkürlich festgelegten Zeichen besteht (Saussure), die unterschiedliche Funktionen haben (Bühler), in unterschiedlichen Handlungskontexten stehen und Teile von sprachlichen Handlungen sind (Bühler). Zentral ist dabei der Bezug zum Adressaten (Morris, Bühler). Dieser Bezug findet nie situationsentbunden statt (Morris, Bühler). Wie oben schon deutlich wurde, gibt es einen notwendigen und unmittelbaren Zusammenhang zwischen Sprache und Sprachbenutzer. Welt ohne Sprache ist für den Menschen nicht erschließbar. Und ohne Sprache kann Welt nicht gestaltet werden. Die pragmatische Betrachtung der Sprache unter dem Zeichenaspekt behandelt Zeichen nicht kontextabstrakt, sondern als konstitutive Elemente von Sprachhandlungen, die wiederum in nichtsprachliche Kontexte und Praktiken eingebettet sind. Der Handlungscharakter von Sprache und damit einhergehend die Einbindung der Äußerungen in konkrete soziale Situationen, außersprachliche Faktoren und Verwendungszusammenhänge stellt auch hier die Grundannahme dar. Sozialität und Arbitrarität, Situationalität und Kontextualität, Hörer und Sprecher sind konstitutive Elemente eines pragmatisch fundierten Zeichenbegriffes. Auf Grund des Einbezugs des Sprechers und Hörers in das Zeichenmodell wird Intersubjektivität vorausgesetzt. Sinn wird intersubjektiv durch Zeichenverwendung und Sprachgebrauch konstituiert.

1.7 Zusammenfassung Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze, zeigen sich deutlich die gemeinsamen Anknüpfungs- und Bezugspunkte, auf die eine pragmatisch ausgerichtete, diskurslinguistische Arbeit als Grundvoraussetzungen nicht verzichten kann. Es handelt sich dabei um folgende Aspekte: – – – – – – – – –

Gesellschaftlichkeit der Sprache Verstehen als gemeinsame und soziale Praxis dialogische Ausrichtung des Sprechens Einbettung der Sprache in Lebenskontexte (Sprachspiel und Weltsicht) Situativität und Kontextualität des Sprechens Bedeutungskonstitution durch den Sprachgebrauch Welterschließende und wirklichkeitskonstitutive Funktion von Sprache Handlungspotenzial des Sprechens Interaktionspotenzial der Sprache

Droescher weist in Bezug auf Humboldt auf den dialogischen Charakter von Sprache und Verstehen.

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Die Möglichkeit des Verstehens beruht auf einer gemeinsamen nichtsprachlichen Praxis, auf deren Grundlage über die ‚schon immer‘ gestaltete Praxis hinaus weitere Handlungsweisen als ‚Verständigungshandlung‘ aufgebaut werden können. (Droescher 1980: 128; vgl. auch H III :159).

Hintergrund für das Verstehen bei Wittgenstein ist die nicht hintergehbare gemeinsame regelgeleitete Praxis einerseits und das Privatsprachenargument andererseits. Eine Privatsprache könne es nicht geben, weil es niemanden gibt, der sie versteht und an den sie gerichtet sein könne. Damit zusammen hängt das Argument der Gesellschaftlichkeit von Sprache, des Angewiesenseins auf den je Anderen, was auch Humboldt, Vološinov und Bühler zur Grundvoraussetzung ihrer Ausführungen machen. Die Auffassung von der Gesellschaftlichkeit der Sprache stellt einen zentralen Aspekt der Überlegungen dar. Dialogizität der Sprache bei Humboldt und regelgeleiteter Sprachgebrauch auf der Basis einer gemeinsamen Praxis bei Wittgenstein sind dafür die zentralen Begriffe. Sowohl Humboldt als auch Wittgenstein sprechen von der Welt erschließenden und Wirklichkeit konstituierenden Funktion von Sprache. Bezugspunkte hinsichtlich der Gebrauchstheorie lassen sich in Ansätzen in der Auffassung vom dialogischen Charakter der Sprache sowie in der Weltansichtsthese finden, jedoch begründen Humboldt wie auch Wittgenstein keine Gebrauchstheorie der Bedeutung; beide schreiben überhaupt gar keine Bedeutungstheorie, vielmehr handelt es sich um Überlegungen, die die Auffassungen von Bedeutung von realistischen Bedeutungskonzeptionen abgrenzen wollen.103 Keller bringt die Ideen Humboldts und Wittgensteins folgendermaßen zusammen: Obwohl Begriffe nicht sprachunabhängig sind, ist es unangemessen, sie einfach mit Bedeutungen gleichzusetzen. Bedeutungen sind Gebrauchsregeln. Gebrauchsregeln erzeugen die Kategorien, nach denen wir unsere Welt klassifizieren, aber sie sind nicht mit ihnen identisch. Im Zuge des Spracherwerbs werden wir auf eine Sprache und die damit verwobene Lebensform »abgerichtet«, wie Wittgenstein sich auszudrücken pflegt. Indem wir den korrekten Gebrauch der Wörter erwerben, erwerben wir eine bestimmte Klassifikation der Welt. (Keller 1995a: 93f.)

Die Gebrauchstheorie Wittgensteins unterstreicht Humboldts Weltansichtsthese104 im Hinblick auf die je gemeinsam zu Grunde liegende Praxis als gemeinsamer Lebensform. Austin, Searle und Grice gehen zwar kontextent-

103 Vgl. Droescher (1980: 140); vgl. auch Kutschera (1972: 384). Droescher formuliert die Frage nach der Bedeutung bei Humboldt als „Frage nach dem Verständnis von Wörtern“. Droescher (1980: 141; vgl. ferner 138ff.). 104 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Habermas (1986: 332–336). Er interpretiert Humboldt dahingehend, dass Sprache zum einen einen grammatisch vorstrukturierten Raum eröffnet. Andererseits ist Sprache nicht nur das bildende Organ des Denkens, sondern vor allem auch das bildende Organ der gesellschaftlichen Praxis.

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hoben vor, bringen aber den Handlungsaspekt von Sprache in ihren Konzepten zur Geltung, den sie systematisieren und der wichtig für einen linguistischen Diskursbegriff wird, insofern innerhalb von Diskursen sprachliche Handlungsmuster realisiert werden, die an den Vollzug bestimmter Regeln geknüpft sind. Vološinov, Bühler und Saussure ist die Grundannahme der Sozialität von Sprache gemeinsam. Auf Grund der Annahme von der Sozialität der Sprache und sprachlichem Handeln, kann es kontextenthobene Bedeutungen und Versprachlichungen nicht geben. Das bedeutet zugleich aber auch, dass Sprachgebrauch nie neutral, objektiv oder nicht-wertend sein kann, da Sprachgebrauch immer schon in Kontexte eingebunden ist, wie die in diesem Kapitel dargelegten Positionen zuspitzen. Sprachgebrauch findet vielmehr immer schon in weltanschaulichen, kulturell-spezifischen Kontexten statt (vgl. Berger/Luckmann 202004; vgl. Fix 2006), die mehr oder weniger explizit sind. Sprachlich manifestieren sich weltanschauliche und kulturelle Kontexte in beispielsweise polysemen Bedeutungsstrukturen einzelner Lexeme oder Lexemverbände, in divergenten Bezeichnungspraktiken oder in der Verwendung spezifischer Argumentationsstrategien und -muster. Der öffentlichpolitische Bioethikdiskurs um humane embryonale Stammzellforschung stellt ein Beispiel für kulturell, gesellschaftlich und weltanschaulich gebundenen Sprachgebrauch dar, was sich in erster Linie im Streit um Positionen und damit um Sprachgebräuche expliziert. Die in diesem Kapitel herausgegriffenen und beschriebenen Aspekte von Sprache lassen sich alle in einem pragmatisch fundierten Diskursbegriff der Diskurslinguistik integrieren. Um diesen zu explizieren, bedarf es aber zunächst einer Auseinandersetzung mit der Diskurstheorie Foucaults.

2 Zur Explikation eines linguistischen Diskursbegriffes 2.1 Vorbemerkungen In den vorangegangenen Kapiteln ging es darum, die Traditionslinien aufzuzeigen, die einen handlungstheoretischen Sprachbegriff begründen können. Die zentralen Aussagen des ersten Kapitels stellen einen wichtigen Bezugsrahmen für den hier zu entwickelnden linguistischen Diskursbegriff dar, insofern Sprache als Handlung aufgefasst wird und sprachliche Äußerungen nun in den größeren Handlungsrahmen des Diskurses gestellt werden. Dabei dienen die in Kapitel 1 dargestellten Konzepte und Sprachauffassungen als Fundierung eines linguistischen Diskursbegriffes, der sowohl eine theoretische Erörterung als auch methodische Überlegungen1 umfassen soll. Bevor dieser jedoch präzisiert wird, soll das Diskurskonzept Foucaults, das den Ausgangspunkt für linguistische Überlegungen zur Konzeptionierung eines linguistischen Diskursbegriffes bildet, dargestellt werden, um diesen gleichsam in die linguistische Theoriebildung zu integrieren. Dabei kann das Konzept Foucaults jedoch nicht – auf Grund unterschiedlicher Zielsetzungen und „geistesgeschichtlicher Hintergründe“ (Busse 1987: 221) – einfach übernommen werden, vielmehr muss es im Hinblick auf linguistische Bedürfnisse modifiziert werden. Mit der Pragmatisierung der Sprachwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Abkehr von der ausschließlichen Orientierung am Strukturalismus eröffnete sich in der Linguistik ein Feld, welches über den einzelnen Satz als Analyseeinheit hinausging und zunehmend größere Einheiten in den Blick der Untersuchungen geraten ließ. So wurden beispielsweise mit der Etablierung der Textlinguistik Texte als komplexe Handlungseinheiten aufgefasst. Darüber hinaus wurde der Gegenstandsbereich insbesondere der Textlinguistik erweitert, insofern auch die Text übergreifende Dimension beispielsweise der Textvernetzungen und transtextuellen Bezüge, welche die Relationen der Texte untereinander untersucht, in den Analysekatalog mit aufgenommen wurde. Diese transtextuellen

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Aspekte und Überlegungen zur linguistischen Methodisierbarkeit des Konzeptes kommen in Kapitel 3 der Arbeit zur Sprache, werden aber bei den theoretischen Erörterungen hin und wieder angedeutet.

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Bezüge, häufig unter dem Namen Intertextualität gefasst, stellen heute eines von vielen Diskursmerkmalen dar.2 Mit dieser erweiterten Ausrichtung der Textlinguistik eröffnete sich ein Feld, das poststrukturalistische Textbegriffe und Analysekonzepte rezipierte und Elemente dieser Konzepte in die linguistische Theoriediskussion integrierte3. Dieser Entwicklung folgend und wichtige Impulse poststrukturalistischer Konzepte aufnehmend etablierte sich die Text übergreifende Dimension des Diskurses als Analysekategorie4 innerhalb der Linguistik, wobei hier der Diskursbegriff im Anschluss an die Arbeiten Foucaults rezipiert wird. (Vgl. Warnke 2002a: 7 und 2002b: 125ff.) Der Ausdruck Diskurs wird jedoch gegenwärtig inflationär und heterogen in unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht – sei es im wissenschaftlichen, im öffentlich-politischen oder im alltagssprachlichen Kontext –, so dass es notwendig erscheint, die theoretische Perspektive, aus welcher der Begriff gebraucht wird, offenzulegen. Dementsprechend existieren im wissenschaftlichen Kontext verschiedene sich auf zum Teil divergierende Diskurstheorien beziehende Bedeutungsdimensionen dieses Begriffes, was den Gebrauch des Ausdrucks im wissenschaftlichen Kontext äußerst schwierig gestaltet, soll er nicht zur Floskel oder Leerformel werden. (Vgl. hier Spitzmüller 2005: 31f.; vgl. Warnke 2007: 3–9) Der Ausdruck geht einerseits auf die französische Wurzel discours zurück; er wurde im 16. Jahrhundert mit der Bedeutung ‚Verkehr, Umgang, Gespräch‘ entlehnt und zunächst im Kontext des wissenschaftlichen Gesprächs gebraucht. Seit dem 17. Jahrhundert wurden dann damit Gespräche im Allgemeinen bezeichnet, der Ausdruck wurde mit den Bedeutungen ‚Rede‘, ‚Unterredung‘, ‚Gespräch‘, ‚Konversation‘ versehen. Seitdem unterlag dieser Ausdruck enormen Bedeutungsveränderungen (vgl. Warnke 2002b: 129–130). Eine andere Wurzel und Traditionslinie des Begriffes mit der Bedeutung ‚Rede‘ kann auf das Englische discourse zurückgeführt werden (vgl. Jung 1996: 453), worunter die Äußerung eines zusammenhängenden und zusammengehörigen Textes zu verstehen ist. 2 3

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Davon wird weiter unten noch die Rede sein. Vgl. hier zum Beispiel die Integration des poststrukturalistischen Intertextualitätskonzeptes. Vgl. dazu Linke/Nussbaumer (1997); vgl. Fix/Klein (1997); vgl. Spieß (2007). Hier muss jedoch zwischen Integration auf Theorieebene und Integration auf Anwendungsebene unterschieden werden. Vgl. Busse (1987). Busse legt darin sein Programm der Diskurssemantik vor, dabei orientiert er sich an Foucaults Diskursbegriff. In Busse/Teubert (1994) wird dieser Begriff noch einmal für die Linguistik präzisiert. Vgl. auch die weiteren Artikel Busses, die immer wieder Bezug auf Foucault nehmen und die linguistische Theoriediskussion um den Diskursbegriff weiter führen und weiter entwickeln. Vgl. Busse (1988, 1989, 1994, 1996, 1997, 2000a, 2000b, 2001, 2002, 2003a, 2003b, 2005 und 2007). Vgl. darüber hinaus auch Jung (1996, 2000) sowie Wengeler (2003); vgl. auch den Überblick bei Bluhm u.a. (2000).

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Zur Explikation eines linguistischen Diskursbegriffes

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Innerhalb der Sprachwissenschaft wird der Diskursbegriff auf zumindest drei sehr unterschiedliche Objekte angewandt. Zum einen umfasst der Begriff das Verständnis von Diskurs als gesprochene Sprache und kommt somit den o. g. Wurzeln sehr nahe. Dieser Begriff wird in der aus dem angelsächsischen Raum stammenden Konversations-, Dialog-, Kommunikations-, bzw. Gesprächsanalyse gebraucht, die sich auf die Untersuchung mündlicher Äußerungen in Gesprächen im Kontext institutioneller Bindung im Alltagsleben konzentriert.5 Ein zweites, philosophisches Verständnis bestimmt Diskurs als rationale, dialogische Auseinandersetzung, in der in einer herrschaftsfreien Kommunikationssituation problematisch gewordene Geltungsansprüche argumentativ verhandelt werden; dieser Diskursbegriff wird vor allem mit dem Namen Jürgen Habermas verbunden.6 Zum Dritten werden Diskurse im Anschluss an die Diskurstheorie Foucaults als auf ein Thema bezogene Text- oder Aussagenverbünde begriffen7. Der Diskurs bei Foucault stellt also keine Kommunikationsform dar, die eine Verfahrensweise gleichberechtigter

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Vgl. hierzu beispielsweise Brünner u.a. (1999); vgl. Ehlich (1994); vgl. Fritz/Hundsnurscher (1994); Henne/Rehbock (1982). Einen bibliographischen Überblick über Literatur zur Konversationsanalyse gibt die Online-Plattform GAIS http://hypermedia.ids-mannheim.de/pls/prag/bib.ansicht. (Zuletzt zugegriffen 31.12.2009). Habermas definiert Diskurs in seiner Theorie folgendermaßen: „Nur unter den Kommunikationsvoraussetzungen eines universell erweiterten Diskurses, an dem alle möglicherweise Betroffenen teilnehmen und in dem sie in hypothetischer Einstellung zu den jeweils problematisch gewordenen Geltungsansprüchen von Normen und Handlungsweisen mit Argumenten Stellung nehmen könnten, konstituiert sich die höherstufige Intersubjektivität einer Verschränkung der Perspektive eines jeden mit den Perspektiven aller. Dieser Standpunkt der Unparteilichkeit sprengt die Subjektivität der je eigenen Teilnehmerperspektive, ohne den Anschluß an die performative Einstellung der Teilnehmer zu verlieren. [...] Der moralisch-praktische Diskurs bedeutet die ideale Erweiterung je unserer Kommunikationsgemeinschaft aus der Innenperspektive. Vor diesem Forum können nur diejenigen Normvorschläge begründete Zustimmung finden, die ein gemeinsames Interesse aller Betroffenen ausdrücken.“ Habermas (1991: 113); vgl. auch Habermas (1995 Band 1: 37–40); vgl. hier auch Jung (1996: 453f.); vgl. Spitzmüller (2005: 31). So zum Beispiel Warnke (2000, 2002a und b), Girnth (1996), Busse/Teubert (1994), Hermanns (1994 und 1995), Jung (1996), Wengeler (2003). Einen Überblick über die verschiedenen linguistischen Schulen gibt Bluhm u.a. (2000). Allerdings etablierte sich dieses Verständnis von Diskurs in der germanistischen Linguistik erst seit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre durch theoretische Diskussionen des foucaultschen Konzeptes und dessen Integration in die linguistische Theoriediskussion vor allem durch Busse (1987), Busse/Teubert (1994) oder S. Jäger (42004). So verweisen auch erst neuere Fachlexika auf diese Bedeutungslinie von Diskurs. Vgl. Bußmann (2002) und Glück (2000). Seither erschienen gerade im Bereich der Politolinguistik verschiedene empirische Untersuchungen von Diskursen. Vgl. hier insbesondere die Düsseldorfer Schule, z. B. Böke (1991); vgl. Jung (1996); vgl. Niehr (2004); vgl. Wengeler (1992 und 2003). Vgl. auch Schöttler (1989: 102). In der germanistischen Linguistik verband man bis vor nicht allzu langer Zeit mit Diskurs die Gesprächs- und Konversationsanalyse oder die Diskursethik von Habermas. Vgl. hier Spitzmüller (2005: 31) oder Busch (2007).

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Kommunikation im Sinne der Diskursethik von Habermas beinhaltet. Vielmehr versteht Foucault unter Diskurs eine Menge von Aussagen, die einem gemeinsamen Formationssystem angehören, das nach bestimmten Regeln funktioniert8. Über die drei in der Sprachwissenschaft unterschiedlichen Diskursbegriffe hinaus wird in der gegenwärtigen Alltagssprache Diskurs zumeist mit Debatte oder Diskussion in Verbindung gebracht. Betrachtet man die uneinheitliche Verwendung des Diskursbegriffes schon allein in der Sprachwissenschaft, liegt es auf der Hand, dass die jeweiligen Merkmale von Diskursen oder die zu Grunde liegenden Textbegriffe stark divergieren9. Auf Grund der semantischen Vagheit dieses Ausdruckes und der damit in Verbindung stehenden je unterschiedlichen Diskurstheorien bedarf es also zunächst einer Klärung, in welchem Sinn und mit welchem Theoriebezug Diskurs im Kontext der linguistischen Diskursanalyse verwendet wird. Die oben genannten vielfältigen Bedeutungsmerkmale müssen sich nicht gegenseitig ausschließen, doch erscheint es angesichts dieser unterschiedlichen Auffassungen angebracht, den Begriff für die hier vorzunehmende Untersuchung anhand bestimmter Kriterien zu präzisieren. Dabei soll in einem ersten Schritt auf die für den hier zu Grunde gelegten Diskursbegriff wichtigen sozialphilosophischen Überlegungen Michel Foucaults eingegangen werden. Diese Überlegungen stellen wichtige Voraussetzungen und Anschlusspunkte für die hier zu entwickelnde Systematik eines linguistischen Diskursbegriffes dar, insofern der Diskursbegriff Foucaults im Hinblick auf die Betrachtung von Texten neue Akzente setzt, wenngleich das Konzept Foucaults nicht direkt übernommen wird, sondern vielmehr als Anregung für weitere Modifikationen verstanden werden sollte.

2.2 Die Diskurstheorie Michel Foucaults10 2.2.1 Vorbemerkungen Möchte man die Diskurstheorie Foucaults als methodologischen Ausgangspunkt für die Entwicklung eines linguistischen Diskursbegriffes heranziehen,

8 9 10

Vgl. dazu ausführlicher das folgende Kapitel. Vgl. zu den unterschiedlichen inhaltlichen Akzentsetzungen der Diskursanalyse im Anschluss an Foucault zusammenfassend Fraas/Klemm (2005a: 1–8) sowie auch Bluhm u.a. (2000) und Gardt (2007). Im Folgenden wird auf die Schriften Foucaults mit Siglen verwiesen. Ordnung des Diskurses (ODis), Archäologie des Wissens (AW), Ordnung der Dinge (OdD), Dispositive der Macht (DdM), das Subjekt der Macht (SM), Genealogie der Ethik (GdE); Gebrauch der Lüste (GdL), der Wille zum Wissen (WW), Was ist ein Autor (WA), Schriften Band 1 (S I), die Sorge um sich (Sus), Überwachen und Strafen (ÜS).

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ist es sinnvoll, zunächst die zentralen Grundmotive seines Schaffens zu benennen, vor deren Hintergrund Foucault seinen Diskursbegriff entwickelt. Grundanliegen seiner sozialphilosophischen Studien und Auseinandersetzungen ist eine Kritik an den Aporien der Aufklärung. Speziell entfaltet Foucault seine Kritik als Subjektkritik, insofern er das Subjekt nicht als eine kontextenthobene Natur menschlicher Wesen beschreibt11. Dementsprechend formuliert er seine Theorie12 als Kritik an der Kontinuität von Geschichte, als Kritik am Fortschrittsgedanken, als Kritik an der Tradition oder als Kritik an der Annahme universeller, kontextenthobener Wahrheit bzw. als Vernunftkritik13. Kögler beschreibt Foucaults Anliegen folgendermaßen: Statt sich als Universalphilosoph an der Zementierung bestimmter Vernunftstrukturen schuldig zu machen, analysiert der >Ontologe der Gegenwart< die uns konkret bestimmenden Vernunftregeln zum Zwecke ihrer kritischen Infragestellung. Vernunft, oder besser: die vielfältigen Vernunftformen werden als etwas historisch Entstandenes und somit auch historisch Veränderbares betrachtet. Vernunft wird statt einer das Subjekt normierenden Universalregel zu einer sich wandelnden, in die geschichtliche Bewegung selbst eingelassenen Aktivität. (Kögler 22004: 6; Hervorhebungen vom Autor)

11

12 13

Die Foucault zugeschriebene These vom „Tod des Subjekts“ (SI: 1002) trifft nur insofern zu, als Foucault sich von einer Subjektkonzeption verabschiedet, die in Subjekten die zentralen Gestalter von Geschichte einerseits und das kontextenthobene Wesen der menschlichen Natur andererseits sieht. Vom Subjekt verabschiedet sich Foucault ausdrücklich nicht, vielmehr spielen die unterschiedlichen Formen der Subjektkonstitution in all seinen Schaffensphasen eine zentrale Rolle. Foucault verschiebt in seiner Konzeption die Perspektive von einem allen Dingen vorgängigen Subjekt hin zu einem sich im Diskurs konstituierenden Subjekt. „Foucault bezeichnet dieses Gesamtunternehmen u. a. als eine komplexe Geschichte der Wahrheit, die das Ziel hat, die Entwicklung der Wahrheitsspiele zu untersuchen, anhand derer sich die menschlichen Subjekte ihr epistemisches, machtdyna misches und moralisches Sein zu denken geben – eine historische Ontologie unserer Selbst, wie Foucault auch sagt, in deren Rahmen wir uns in drei verschiedenen Hinsichten als Subjekte konstituieren – als Subjekte des Wissens, der Einwirkung seitens anderer Personen [=Macht, Erg. C.S.] und der moralischen Haltung.“ Detel (2003: 188, Hervorh. im Original); vgl. auch Daniel (52006: 173); vgl. auch Kögler (22004: 30, 58). In AW geht es Foucault also um die Kritik an der Annahme eines prädiskursiven Subjekts, das aller Erfahrung vorgängig ist. Vgl. AW: 9–30, 81f. Vgl. dazu auch Honneth (2003: 21ff.). Honneth betont nochmals, dass es Foucault keineswegs um die Bestreitung der Handlungsfähigkeit oder das Verschwinden der Subjekte geht, sondern um die das Subjekt bestimmenden sozialkonstitutiven Regeln, in denen und durch die das Subjekt erst seine Handlungsfreiheit entfalten kann. Wenn auch Foucault selbst seine Arbeiten nicht als Theorie bezeichnete, wird hier dennoch der Begriff gebraucht, da hier theoretische Aspekte seines Arbeitens im Vordergrund stehen und systematisiert werden sollen. Vgl. AW: 9–30, insbesondere 28f.; vgl. ODis: 12ff, 35ff. insbesondere 37; vgl. dazu auch Kögler (22004: 10–24).

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Entsprechend seiner Kritik setzt sich Foucault zum Ziel, das Subjekt als ein historisch gebundenes und gewordenes und immer schon in Kontexten lebendes empirisches Subjekt zu fassen und zu beschreiben, historische Entwicklungen als diskontinuierlich zu begreifen und dem Optimismus eines Fortschrittsglaubens entgegenzutreten sowie Wahrheit als kontextuell bedingtes, geschichtsimmanentes Denksystem/Epistem, in dem zu einer bestimmten Zeit nur etwas Bestimmtes gedacht und gesagt werden kann, zu konzipieren. (Vgl. hier AW: 9–30; vgl. z. B. Kögler 22004: 1–10,40, 48, 68) Im Zentrum steht hier nun die Vorstellung der Diskurskonzeption Foucaults in seinen Grundzügen. Foucault entwickelt und präzisiert sein Diskurskonzept unter je anderer Schwerpunktsetzung bis zu seinem Lebensende. So lassen sich innerhalb seines Werkes Veränderungen und Diskontinuitäten im Hinblick auf seine Konzeption des Diskurses und damit des Denkens feststellen. Während er in der ersten Hälfte seines Schaffens von der Autonomie der Diskurse spricht, wandelt sich seine Auffassung in der zweiten Hälfte14. In Die Ordnung des Diskurses (1970) präzisiert er seinen Diskursbegriff dahingehend, dass Diskurse nun nicht mehr autonom gedacht werden, vielmehr stellen sie reglementierte Machtstrukturen dar, die wiederum Abhängigkeiten erzeugen. Diskursive und nicht-diskursive Praktiken werden hier als sich gegenseitig bedingend angesehen. Insgesamt lässt sich Foucaults Schaffen im Rückblick in drei verschiedene Phasen einteilen: für die erste Phase hat sich die Bezeichnung Archäologie, für die zweite Phase Genealogie und für die dritte Phase Ethik etabliert15, thematisch lassen sich diese Phasen unter Wissen, Macht und Subjekt fassen. Ob es sich dabei um eine kontinuierliche oder diskontinuierliche Entwicklung des Denkens Foucaults handelt, wird kontrovers diskutiert16, kann hier aber nicht Gegenstand der Erörterung 14

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„Foucault war niemals im strengen Sinne Strukturalist oder Post-Strukturalist, und später rückt er auch von seinen starken Ansprüchen in der Archäologie ab, denen zufolge der Diskurs ein regelgeleitetes System, ähnlich dem von den verschiedenen Versionen des Strukturalismus behaupteten, ist, bzw. daß er, wie Post-Strukturalisten damals behaupteten, autonom und selbstreferentiell ist.“ Dreyfus/Rabinow (21994: 21). Vgl. Fink-Eitel (1990); vgl. Kögler (22004: 8f.); dazu Detel: „Archäologie, Genealogie und Ethik – also die Analyse der Diskursformationen, der Machtrelationen und der moralischen Selbstarbeit in ihren jeweiligen historischen Formen – sind für Foucault nicht einfach drei verschiedene Formen historischer Analyse. Zwar hat er sie nacheinander als »theoretische Verschiebungen« seines historischen Projekts eingeführt, aber er hat im Verlaufe seiner weiteren Arbeit immer stärker betont, daß in der historischen Arbeit alle drei Ebenen miteinander verschränkt und auf diese Weise zugleich im Spiel gehalten werden sollten.“ Detel (2003: 188). Honneth weist darauf hin, dass alle drei Begriffe (Wissen, Macht und Subjekt) in allen Schaffensphasen eine Rolle spielen, jedoch unterschiedlich gewichtet werden. Vgl. Honneth (2003: 21ff.) Fink-Eitel stellt in seinem Aufsatz zudem Forschungsliteratur vor, die er in „polemisches Pro und Contra“ Foucault sowie in „sachbezogen, distanzierte“ Auseinandersetzungen einteilt. Vgl. Fink-Eitel (1990: 377–389).

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sein. Hier wird lediglich versucht, auf alle seine Schaffensphasen einzugehen und schließlich auch vor dem Hintergrund seines gesamten Schaffens seinen Diskursbegriff zu skizzieren und zu verstehen. Der Ausgangspunkt von Foucaults Denken muss in der Verfassung einer Art Geschichte des Wissens bzw. von Wissenssystemen gesehen werden, die sich an Praktiken des Alltags orientiert und Entstehungsbedingungen analysiert. Diese Form der Untersuchung konzentriert sich nicht auf die Geschichte von isolierten Begriffen oder Theorien17, sondern auf deren kontextuelle und historische Bedingtheit als diskursive Praktiken. Foucault praktiziert seine Methode der Diskursanalyse und entwickelt seinen Diskursbegriff in verschiedenen frühen Untersuchungen18 ; so etwa in Die Ordnung der Dinge (1966), Überwachen und Strafen (1975), Sexualität und Wahrheit (1976), Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961) und Die Geburt der Klinik (1963). In diesen Schriften untersucht Foucault gewissermaßen Ordnungen des Denkens, gesellschaftliche Wissenssysteme oder Denkstrukturen einzelner Epochen, die Teil eines gesellschaftlichen Wissens sind, welches nach bestimmten Regeln in einem übergreifenden System funktioniert. Sein methodisches Vorgehen ist dadurch gekennzeichnet, dass er kein strenges theoretisches System entwirft, sondern stark auf die jeweiligen Untersuchungsziele der analysierten Bereiche Bezug nimmt. In seinem Werk Archäologie des Wissens (1969), das ebenso seiner frühen Schaffensphase zuzurechnen ist, unternimmt Foucault den Versuch, zuvor nicht offen gelegte zentrale theoretische Fragen seines methodischen Vorgehens zu explizieren (vgl. Waldenfels 1986: 38). Gleichzeitig formuliert er in dieser Schrift ein methodisches Programm, welches sich von seinen bisherigen methodischen Vorgehensweisen kritisch abhebt und Neuerungen einführt.19 Indem er sich von anderen Theorien (z. T. implizit) abgrenzt und diese in bestimmter Weise positioniert, formuliert er seine Diskurstheorie und beschreibt die Ziele und Vorgehensweisen seines methodischen Arbei-

17 18 19

Vgl. hier Busse (1987: 223). Busse setzt sich hier mit dem Foucaultschen Diskursbegriff aus linguistischer Perspektive auseinander. Die Jahreszahlen beziehen sich auf das Erscheinungsjahr der französischen Ausgabe. „[...] vor allem aber in der ‚Archäologie des Wissens‘ geht es ihm darum, die Diskursanalyse, wenn auch nicht als ‚Theorie‘ im strengen Sinne zu begründen, so doch im Rückblick auf seine frühen Arbeiten, im Seitenblick auf andere zeitgenössische theoretische Positionen und in der Vorausschau auf künftige Arbeitsvorhaben als ‚seinen Weg zu definieren‘ (AW: 29)“ Kammler (1986: 71). Foucault erläutert bereits in früheren Arbeiten verwendete Begriffl ichkeiten, ohne jedoch auf die Bedeutungsdifferenz zwischen der früheren und neuen Gebrauchsweise des jeweiligen Begriffes einzugehen. Vgl. Kammler (1986: 73). Kammler spricht hier auch von „Neuformierung der Diskursanalyse“. Kammler (1986: 74).

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tens, wovon weiter unten noch die Rede sein wird (vgl. Kammler 1986: 73ff.). Seine Antrittsvorlesung am Collège de France Die Ordnung des Diskurses (1970) leitet seine mittlere Schaffensphase ein, in der er sich mit dem Diskurskonzept im Hinblick auf Machtstrukturen und der Konzeptionierung von Macht befasst20. Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre, in Foucaults letzter Schaffensphase21, spielt dann für Foucault das Subjekt im Hinblick auf Macht und Diskurs eine besondere Rolle (vgl. Honneth 2003: 23f.). Entsprechend und entlang der drei, sein Schaffen prägenden Begriffe Wissen – Macht – Subjekt soll hier nun der Diskursbegriff in Grundzügen erläutert werden22 (Kapitel 2.2.2 bis 2.2.4). Als ein letzter, für die linguistische Beschäftigung mit Foucault nicht unerheblicher Punkt soll Foucaults Sprachbegriff expliziert werden (2.2.5), da dieser maßgeblich zum Verständnis seiner Theorie aus linguistischer Perspektive beiträgt. 2.2.2 Diskurs und Wissen Zu den wichtigsten Grundbegriffen der Diskurstheorie Foucaults können Aussage, Regel, Ereignis, Serie, Möglichkeitsbedingung sowie Positivität der Episteme angesehen werden, die Foucault in Bezug zu den sein gesamtes Schaffen durchziehenden Schlüsselbegriffen Wissen, Macht und Subjekt setzt. Diskurse sind für Foucault ganz allgemein Formationen gesellschaftlichen Wissens einer Zeit, in denen das Subjekt einen Teil der Ordnungsstrukturen solcher Episteme bzw. Wissensformationen darstellt. Entgegen der Annahme, das Ich sei als Subjekt prinzipiell autonom und besitze universelle Formen der Erkenntnis, sieht Foucault das Ich und das Objekt der Erkenntnis in ein historisches Raster gestellt. Die Geschichte wird mithin nicht als das Ergebnis der Handlungen autonomer Subjekte verstanden, und auch Wissenschaft nicht als fortschreitende Entwicklung der subjektiven Erkenntnis, vielmehr betrachtet Foucault die Geschichte als Ausprägung der Episteme, also der Totalität von zeitspezifischen Bedingungen, die sowohl die wissenschaftlichen Objekte als auch die Möglichkeiten ihrer Erkenntnis erst strukturieren. Das Subjekt ist folglich Teil der Ordnungsstrukturen und verliert damit seinen autonomen Status im Fortschrittsmodell der Erkenntnis. (Warnke 2002a: 8)

Die spezifischen, zeitabhängigen Ordnungen des Denkens zeigen sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Symbolformen einer Zeit; so20 Hierzu gehören u.a. auch folgende Schriften: DdM oder ÜS. 21 Hierzu gehören Schriften wie etwa: SM, WW, GdL, Sus, GdE. 22 Dabei stehen die jeweils zentralen Schriften im Zentrum des jeweiligen Kapitels. Kapitel 2.2.2 befasst sich mit dem Diskursbegriff der AW, der zugleich Ausgangspunkt für die folgenden Kapitel ist, zentral für die Erörterung des Machtbegriffes in Kapitel 2.2.3 sind ODis, DdM und SM, Kapitel 2.2.4 geht auf die Subjektkonzeption ein, die Foucault in den Schriften SM und GdE sowie GdL entwickelt und reflektiert.

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wohl sprachliche als auch außersprachliche Praktiken sind Gegenstand der Untersuchung23, wobei nicht-diskursive Praktiken von ihm erst durch die Konzeption seines Machtbegriffes zentral werden.24 Als zentralen Untersuchungsgegenstand der Diskurstheorie interessieren Foucault Aussagen. Sie stehen in einem bestimmten Kontext und folgen einem bestimmten Formationssystem, sie selbst wiederum werden durch andere Aussagen bestimmt. Die Aussagefunktion besteht also darin, dass „sie [...] nicht ohne Existenz eines assoziierten Gebiets ausgeübt werden [kann].“ (AW: 139) Kontextualisierung ist die Funktion des Anwendungsfeldes, in das die Aussagen eingebettet sind. Aussagen können je nach Gebrauch identisch oder nicht identisch sein.25 Das assoziierte Feld, das aus einem Satz oder einer Folge von Zeichen eine Aussage macht und ihnen gestattet, einen determinierten Kontext, einen spezifizierten repräsentativen Inhalt zu haben, bildet einen komplexen Raster. Es wird zunächst durch die Folge anderer Formulierungen konstituiert, in die die Aussage sich einschreibt und wovon sie ein Element bildet. [...] Es gibt keine Aussage im allgemeinen, keine freie, neutrale und unabhängige Aussage; sondern stets eine Aussage, die zu einer Folge oder einer Menge gehört, eine Rolle inmitten der anderen spielt, sich auf sie stützt und sich von ihnen unterscheidet; sie integriert sich stets in einen Aussagemechanismus, in dem sie ihren Anteil hat, und sei dieser auch noch so leicht und so unscheinbar. (AW: 143f.)

Dadurch dass Foucault Aussagen als Teile komplexer Aussagennetze bestimmt, fungieren Aussagen zugleich als Möglichkeitsbedingungen anderer Aussagen. Aussagen sind damit immer kontextuell eingebunden und stellen selbst den Kontext für weitere Aussagen. Bei der näheren Bestimmung der Aussage bleibt Foucault aber äußerst vage.26 Für ihn stellen Aussagen weder Sprechakte,

23 Auf Grund seines durch den Strukturalismus beeinflussten Sprachbegriffes, der Sprache nicht als Handeln auffasst, legt Foucault wohl einen deutlicheren Schwerpunkt auf die Untersuchung diskursiver Praktiken, die zwar sprachlich erscheinen, jedoch nicht in ihrer sprachlichen Eigentümlichkeit von ihm untersucht werden. Dazu führt er den Begriff Aussage ein. Auf die sich aus seinem Sprachbegriff für die Diskurstheorie ergebenden Probleme wird in Kap. 2.2.5 genauer eingegangen. Damit zusammen hängt schließlich auch seine Auffassung von Diskursen als weder auf der Seite des Denkens noch auf der Seite der Sprache anzusiedelnden Formationen. Vgl. dazu auch Daniel (52006: 356f.); vgl. Busse (1987: 225f.). 24 Vgl. Spitzmüller (2005: 37ff.). Die Notwendigkeit des Einbezugs nicht-diskursiver Praktiken in die Analyse ergibt sich, sobald Foucault die Entstehung von Diskursregeln sowie den historischen Kontext erklären will. 25 Hier wäre die Frage zu stellen, ob es sich dann bei Aussagen nicht um Bedeutung im Wittgensteinschen, gebrauchstheoretischen Sinne handelt. Vgl. dazu AW 152 und 153. 26 Diese Unbestimmtheit des Aussagenbegriffes sowie Foucaults Abgrenzung zu linguistischen Konzepten hängt mit seinem Sprachbegriff zusammen. Vgl. Busse (1987: 227–232 sowie 242–245), der ausführlich auf den foucaultschen Sprachbegriff eingeht. Vgl. auch Daniel (52006: 356f.).

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Propositionen oder Sätze dar. Linguistische Konzepte zur Beschreibung und Erfassung der Aussage reichen nicht hin, „da sie [die Aussagen] nicht auf eine Menge (kontextabstrakter) Zeichenbedeutungen reduzierbar seien.“27 Busse versteht im Anschluss an Foucault unter Aussagen Strukturen des Wissens, die „in Wissenssegmenten wirksam werden“28 und die sich aber immer auch sprachlich manifestieren. In diesem Zusammenhang kritisiert Busse Foucaults reduzierten Sprachbegriff, der es verhindert die Aussage mit den genannten linguistischen Kategorien gleichzusetzen (vgl. Busse 1987: 225, 240–246). Als Diskurs begreift Foucault eine Menge von Aussagen, die einem gemeinsamen Formationssystem angehören (vgl. AW: 156). Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. Er bildet keine rhetorische oder formale, unbeschränkt wiederholbare Einheit, deren Auftauchen oder Verwendung in der Geschichte man signalisieren (und gegebenenfalls erklären) könnte. Er wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. Der so verstandene Diskurs ist keine ideale und zeitlose Form [...]. (AW: 170)

Unter Formationssystemen versteht Foucault dabei die relationale und regelhafte Einbindung von Aussagen in ein komplexes Beziehungssystem. Unter Formationssystem muß man also ein komplexes Bündel von Beziehungen verstehen, die als Regel funktionieren: Es schreibt das vor, was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden mußte, damit diese sich auf dieses oder jenes Objekt bezieht, damit sie diese oder jene Äußerung zum Zuge bringt, damit sie diesen oder jenen Begriff benutzt, damit sie diese oder jene Strategie organisiert. Ein Formationssystem in seiner besonderen Individualität zu definieren, heißt also, einen Diskurs oder eine Gruppe von Aussagen durch die Regelmäßigkeit einer Praxis zu charakterisieren. (AW: 108)

Die erkenntnisleitende Frage der Untersuchung von Aussagen und deren Formationssystem formuliert Foucault mit der Frage „[...] wie [es] kommt [...], daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (AW: 42) Foucault bezeichnet Ereignis, Regel, Serie und Möglichkeitsbedingung als regulative Diskursprinzipien bzw. -kriterien, nach denen sich Aussagen zu Diskursen formieren (ODis: 37). Aussagen tauchen zunächst als Ereignisse auf bzw. sind Ereignisse, die sich durch wiederholtes Erscheinen zur Serie formieren. Das diskursive Formationssystem ergibt sich erst durch das regel-

27 Spitzmüller (2005: 34). Spitzmüller geht in diesem Zusammenhang auch auf den strukturalistischen Sprachbegriff Foucaults und dessen Defizite für eine handlungstheoretisch fundierte Diskursanalyse ein. 28 Busse (1987: 229); vgl. aber auch Busse (1987: 225f.). Gleiche Wissenssegmente lassen sich sprachlich äußerst unterschiedlich realisieren. Vgl. Busse (2000a: 40).

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mäßige Auftauchen von Ereignissen, die durch die Regelmäßigkeit zu Serien diskursiver Ereignisse werden, und zwar zu Serien von Aussagen innerhalb eines epistemischen Elements (vgl. Waldenfels 1986: 39f.). In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelationen, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat.[...] Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind (Gegenstände, Äußerungsmodalität, Begriffe, thematische Wahl). (AW: 58, Hervorh. im Original)

In diesem Zusammenhang fragt Foucault nach den geschichtsimmanenten und geschichtsspezifischen Möglichkeitsbedingungen von Ereignissen, Serien und infolgedessen auch von Aussagen. Da Foucault nicht nach den Ursprüngen, nach der Sinnhaftigkeit oder nach der Begründung von Diskursen fragt, stellen diese für ihn eine nicht zu hinterfragende Positivität dar (vgl. AW: 182). Sein Ziel besteht einzig und allein darin, Diskurse im Hinblick auf die Bedingungen der Möglichkeit des Gesagten zu beschreiben. Foucaults Diskursbegriff lässt sich nun weiter als eine bestimmte Praxis, als regelgeleitete Existenz von Aussagen, unter der „eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben,“ zu verstehen sind, präzisieren (AW: 171). Diesen Regeln und Mustern, nach denen der Diskurs funktioniert, kann sich das einzelne Subjekt nicht entziehen, vielmehr wird es von den Strukturen bestimmt und ist in seinen Handlungen und Entscheidungen keineswegs autonom zu denken.29 Das Subjekt unterwirft sich diesen Regeln, sobald es am Diskurs teilnimmt. Foucault konzipiert Subjekte demnach als immer schon an geschichtliche und gesellschaftliche Voraussetzungen gebundene Wesen, die die Handlungsweisen von Subjekten beeinflussen und bestimmen. (Vgl. Busse 1987: 246) Das Subjekt als originellen/originären Schöpfer gibt es bei Foucault nicht mehr, vielmehr ist das Subjekt zerstreut, es konstituiert sich als Subjekt von Aussagen, als „determinierter und leerer Platz“, die von verschiedenen Individuen ausgesagt werden können (AW: 139, vgl. auch AW: 289). Damit wird das Subjekt in der Archäologie des Wissens als eine Funktion innerhalb des Diskurses aufgefasst. 29 Erst durch die Einbindung in Strukturen und Regeln ist Handlungsfreiheit überhaupt möglich. Vgl. dazu Honneth (2003: 23f.). Foucault untersucht Diskurse nicht vom Standpunkt eines Individuums, sondern von den Diskurs konstituierenden Regeln aus, was er immer wieder betont. (Vgl. OD: 15).

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Diskurse sind Praktiken, die sich einerseits von nicht-diskursiven Praktiken unterscheiden, sich andererseits aber auf sie beziehen und in deren Kontext eingebettet sind bzw. stattfinden. Das Verhältnis zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken wird er später als wechselseitig charakterisieren.30 Foucaults Konzeption der Analyse der Diskursformationen innerhalb der Archäologie des Wissens zielt zunächst auf die Beschreibung der Beziehungen zwischen den diskursiven Praktiken (vgl. AW: 73, 89). Dabei geht Foucault von vier Ebenen zur Beschreibung von Diskursformationen31 und deren Regeln aus, denen vier Existenzweisen von Aussagen entsprechen. Die vier Diskursformationen sind die Formation der Gegenstände, der Begriffe, der Äußerungsmodalitäten und Strategien. Die Existenzweisen der Aussagen sind das Referential, das assoziierte Feld, die Subjektposition und die materielle Existenz (vgl. AW: 128–153). Mit diesem funktionalen Analyseraster32 beschreibt Foucault die Aussagefunktionen und gibt damit zugleich ein Analyseprogramm vor (siehe Übersicht 2.2-1). Die Ebene der Formation der Gegenstände umfasst dabei die Beschreibung der Beziehungen zwischen dem Auftauchen von Gegenständen an der Oberfläche, den Instanzen der Abgrenzung und die Beschreibung der Spezifikationsraster, nach denen innerhalb eines Formationssystems klassifiziert, gegenübergestellt oder geordnet wird. (Vgl. AW: 61–74) Die Beschreibung dieser Relationalität von Gegenständen begründet die diskursive Formation, in der sie auftauchen.

30 Erst mit der Entwicklung seines Machtbegriffes kann Foucault das Verhältnis zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken adäquat beschreiben. In der Archäologie des Wissens versucht er die nicht-diskursiven Praktiken strikt getrennt von den diskursiven Praktiken zu halten. Dementsprechend konzipiert er in dieser Phase Diskurse als autonome Formationssysteme. Doch wird eine gegenseitige Bedingtheit immer wieder angedeutet. (Vgl AW: 100 oder 234f.) „Mit anderen Worten, die archäologische Beschreibung der Diskurse entfaltet sich in der Dimension einer allgemeinen Geschichte; sie versucht jenes ganze Gebiet der Institutionen, ökonomischen Prozesse und gesellschaftlichen Beziehungen zu entdecken, über die sich eine diskursive Formation artikulieren kann; sie versucht zu zeigen, wie die Autonomie des Diskurses und seine Spezifität ihm dennoch kein Statut reiner Idealität und völliger historischer Unabhängigkeit geben; was sie ans Licht bringen will, ist die eigenartige Ebene, auf der die Geschichte begrenzte Diskurstypen verursachen kann, die ihren eigenen Typ von Historizität haben und mit einer Menge verschiedener Historizitäten in Beziehung stehen.“ (AW: 235) 31 Vgl. Dreyfus/Rabinow (21994: 86–99). Die vier Ebenen bilden formal einen Ausgangspunkt für eine linguistische Mehrebenenanalyse, die ebenfalls Diskurse und ihre heterogene Strukturiertheit aus linguistischer Perspektive erfasst. Vgl. Spieß (2008). Dieser Beitrag stellt eine methodische Skizze der hier detailliert beschriebenen und weiter entwickelten Mehrebenenanalyse dar. 32 Vgl. hierzu Hanke (1999: 110); vgl. Dreyfus/Rabinow (21994: 83–104).

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Kategorien/ Ebenen der Diskursformationen

Existenzweisen von Aussagen

Formation der Gegenstände

Referential 33

Formation der Äußerungsmodalitäten

Subjektposition

Formation der Begriffe

das assoziierte Feld

Formation der Strategien

materielle Existenz

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Übersicht 2.2-1: Kategorien der Diskursformationen und Existenzweisen der Aussagen Diese Gestaltung wird gewährleistet durch eine Gesamtheit von zwischen den Instanzen des Auftauchens, der Abgrenzung und der Spezifizierung aufgestellten Beziehungen. Man wird also sagen können, daß eine diskursive Formation sich abzeichnet (wenigstens hinsichtlich ihrer Gegenstände), wenn man eine solche Gesamtheit aufstellen kann; wenn man zeigen kann, wie irgendein Gegenstand des in Frage stehenden Diskurses darin seinen Platz und das Gesetz seines Erscheinens findet. (AW: 67) 33

Foucault differenziert hier die Beziehungen nochmals in primäre, sekundäre und diskursive Beziehungen, wobei nur letztere den Diskurs als Praxis charakterisieren und diesen erst ermöglichen. (Vgl. AW: 69f.) Primäre Beziehungen existieren beispielsweise zwischen Institutionen, Techniken oder Gesellschaftsformen und sind unabhängig von jedem Diskurs. Sekundäre Beziehungen sind zwar im Diskurs existent, sie stellen aber nicht diejenigen Beziehungen dar, die den Diskurs ermöglichen.34 Die Ebene der Äußerungsmodalitäten (vgl. AW: 75–82) bezieht sich auf die unterschiedlichen Subjektpositionen und Äußerungsorte innerhalb diskursiver Formationen. In dieser Kategorie geht es zum einen um die Beschreibung des Ortes von Aussagen mit seinen Merkpunkten, Grenzen und Entwicklungspotenzialen einerseits und um die Verkettung und Notwendigkeit von Aussagen andererseits (vgl. AW: 75). Das Subjekt wird dabei

33

„Sie [die Aussage, Erg. C.S.] ist vielmehr mit einem »Referential« verbunden, das nicht aus »Dingen«, »Fakten«, »Realitäten« oder »Wesen« konstituiert wird, sondern von Möglichkeitsgesetzen, von Existenzregeln für die Gegenstände, die darin genannt, bezeichnet oder beschrieben werden, für die Relationen, die darin bekräf tigt oder verneint werden. Das Referential der Aussage bildet den Ort, die Bedingung, das Feld des Auf tauchens, die Differenzierungsinstanz der Individuen oder der Gegenstände, der Zustände der Dinge und der Relationen, die durch die Aussage selbst ins Spiel gebracht werden; es definiert die Möglichkeiten des Auf tauchens und der Abgrenzung dessen, was dem Satz seinen Sinn, der Proposition ihren Wahrheitswert gibt.“(AW: 133) 34 Bereits hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken, die Foucault zwar andeutet. Dieser Problematik geht er hier aber nicht weiter nach. (Vgl. AW: 69, aber auch 80; vgl. auch Anmerkung 29).

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als diskontinuierliches, disperses Subjekt begriffen, welches unterschiedliche Funktionen, Positionen und Rollen innerhalb eines relationalen Gefüges einnehmen und innehaben kann.35 Es wird nicht mehr als Einheit betrachtet, in dem die divergenten Äußerungsmodalitäten gründen, vielmehr manifestieren die verschiedenen Modalitäten der Äußerung die Verstreuung des Subjekts (vgl. AW: 81f.). Es ist fragendes Subjekt mit einem bestimmten Raster von mehr oder weniger expliziten Fragestellungen und horchendes Subjekt gemäß einem bestimmten Informationsprogramm; es ist betrachtendes Subjekt mit einer Tafel von charakteristischen Zügen und notierendes Subjekt gemäß einem deskriptiven Typ. (AW: 78)

Das relationale Gefüge besteht in der Beziehung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, in der Beziehung zwischen unterschiedlichen Subjektpositionen, -funktionen und -rollen und den diversen Äußerungsorten. (Vgl. AW: 80) Die Ebene der Formation der Begriffe (vgl. AW: 83–93) behandelt die Organisation des Aussagenfeldes. Nach welchen Schemata sind die Aussagen miteinander verbunden? Welche Schemata herrschen vor? Wie ist das Aussagenfeld angeordnet? Die diskursive Formation wird bestimmt durch das Aussagenfeld und durch die regelhafte Verknüpfung von Aussagen. Ziel dieser Kategorie ist die Beschreibung von Abhängigkeitstypen und Anordnungen der Äußerungsfolgen im Äußerungsfeld, welches auch Formen der Koexistenz von Aussagen umfasst und durch Prozeduren der Intervention gekennzeichnet ist. Koexistenz kann als „Feld der Präsenz“, insofern man darunter auch bereits in anderen Formationen existierende und in diesem Diskurstyp wieder aufgenommene und als wahr akzeptierte Aussagen versteht, als „Feld der Begleitumstände“ und als „Erinnerungsgebiet“ aufgefasst werden. (AW: 85f.) Das Feld der Begleitumstände konstituiert sich aus solchen Aussagen, die zwar zu einem komplett anderen Diskurstypus zu zählen sind. Innerhalb der zu untersuchenden Formation werden sie aber durch Analogieverweise als allgemeine Prinzipien oder Modelle zitiert, um Wahrheiten und Gültigkeiten zu definieren. Das Feld der Erinnerungsgebiete dagegen umfasst Aussagen, die zwar nicht mehr zugelassen oder wahr sind, aber in der Formation wieder aufgenommen werden, jedoch nicht mit dem Anspruch, Gültigkeiten zu definieren, sondern vielmehr, um auf Entwicklungslinien, Traditionen,

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Diese Anmerkungen Foucaults erinnern an die verschiedenen Situationsrollen in den jeweiligen Situationstypen, die Subjekte in sozialen Kontexten einnehmen können und die beispielsweise Berger/Luckmann (202004) beschrieben haben. Den Bezug stellt auch Honneth (2003) her. Vgl. Berger/Luckmann (202000: 76–83); vgl. Honneth (2003: 20–23); vgl. auch Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit, in dem dem linguistischen Diskursbegriff ein Faktorenmodell kommunikativer Handlungen zu Grunde gelegt wird.

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Kontinuitäten oder Diskontinuitäten zu verweisen.36 (Vgl. AW: 86) Unter Prozeduren der Intervention versteht Foucault unter anderem Techniken der Neuschreibung oder die Art und Weise des Transfers von Aussagetypen von einem Anwendungsfeld zu einem anderen (vgl. AW: 87). Mit diesem Vorgehen will Foucault sich gegen herkömmliche systematisch orientierte Begriffsgeschichten wenden, indem er die Formen der Abfolge und deren Anordnungen im Äußerungsfeld beschreibt und die Beziehungen, in denen die Aussagen zueinander stehen, eruiert. Durch die genannten Strukturelemente des Aussagenfeldes lassen sich diskursive Relationen beschreiben und äußerst heterogene Aspekte erfassen. (Vgl. AW: 89) Innerhalb diskursiver Formationen der Strategien (vgl. AW: 94–103) geht es um die Beziehung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken sowie um Beziehungen zwischen diskursiven Formationen. Foucault fasst die Analyse der Wahl von Themen und Gegenständen als Analyse von Strategien, die sich auf bestimmte Art und Weise im Raum verteilen. Die Untersuchung dieser Strategien und Themen soll im Hinblick auf Brüche, Inkompatibilitäten, Äquivalenzen und Interventionen erfolgen, wobei hier die Diskurskohärenz in den Blick genommen wird. Existieren Alternativbegriffe? Haben sich ausgehend von Alternativbegriffen kohärente Serien gebildet? Brüche innerhalb von Diskursen zeigen sich beispielsweise durch Inkompatibilitäten zweier Äußerungstypen oder Gegenstände (vgl. AW: 96) oder deren Stellung zu Nachbardiskursen, was durch die Beschreibung der Rolle des Diskurses zu Nachbardiskursen offen gelegt werden soll (vgl. AW: 98). Hier geht es Foucault vor allem um die Abgrenzung des Diskurses von anderen Diskursen. Und es wird die Funktion des Diskurses im Hinblick auf die ihn umgebenden nicht-diskursiven Praktiken37 in den Blick genommen; fokussiert werden die Systeme und Prozesse der Aneignung des Diskurses (vgl. AW: 99). Allgemein kann konstatiert werden, dass die Formation der Strategien nach dem wie bzw. der Art und Weise der Anordnung von Aussagen, von Themen und Theorien fragt. Alle Strategien sind diskursimmanent, d. h. diskursbildende Elemente (vgl. AW: 100). Die vier Ebenen der Beschreibung sind voneinander nicht unabhängig, vielmehr üben sie aufeinander Einfluss aus und bedingen sich gegenseitig. Foucault spricht hier von einem Abhängigkeitssystem in zwei Richtungen:

36 Hier wäre ein Ansatzpunkt für sprachwissenschaftlich verstandene Intertextualität zu sehen, die beispielsweise durch Isotopieketten, Metaphern oder Argumentationstopoi konstituiert wird. 37 Die Problematik des Verhältnisses diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken wird auch hier bereits angedeutet. Vgl. AW: 99f., 235. Erst später, in Die Ordnung des Diskurses, geht Foucault deutlicher auf die gegenseitige Bedingtheit ein, wenn er seinen Machtbegriff entwickelt.

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Die Formation der Gegenstände impliziert bestimmte Subjektpositionen, die wiederum bestimmte Formen der Koexistenz von Aussagen hervorbringen. Aus der Anordnung divergierender Begriffe im Diskurs resultieren die strategischen Wahlen, die Formation der Strategien. Die Äußerungsmodalitäten wiederum können immer nur von der Position beschrieben werden, die das Subjekt zum Objekt einnimmt. Und strategische Wahlen können wiederum die Formation der Begriffe beeinflussen/bewirken usw. (Vgl. AW: 106–108) Foucault bezeichnet diese Vernetzung der Ebenen als ein vertikales Abhängigkeitssystem: Alle Positionen des Subjekts, alle Typen der Koexistenz zwischen Aussagen, alle diskursiven Strategien sind nicht gleichermaßen möglich, sondern nur diejenigen, die durch die vorhergehenden Ebenen autorisiert werden.38 (AW: 106).

Der zentrale Punkt ist also die Beschreibung der Relationalität verschiedener Formationskategorien als Verstreuung der jeweiligen Elemente. Die Verstreuung und Verteilung von Aussagen erfolgt nach bestimmten Regelmäßigkeiten, welche durch eine diskursive Praxis bestimmt werden (vgl. AW: 88). Demnach funktionieren die Relationen nach gewissen Regeln. Die Analyse diskursiver Formationen beschreibt Foucault als die Bestimmung der Regeln der diskursiven Ebenen und ihres Auftauchens. Die Regeln sind der jeweiligen diskursiven Praxis immanent, sie konstituieren mithin den Diskurs (vgl. AW: 58). Mit der Beschreibung der Formationen durch die Beschreibungskategorien sollen die Beziehungen aufgefunden werden, die typisch sind für eine diskursive Praxis (vgl. AW: 73). Ausgangspunkt ist dabei die Positivität des Diskurses. Damit gibt er zu verstehen, dass es ihm nicht um Hermeneutik, um Interpretation, um Sinnhaftigkeit oder um die Fassung einer Totalität und deren Verständnis geht, sondern lediglich um die Beschreibung einer Menge von Aussagen, ohne diese auf den Ursprung zurückzuführen oder zu begründen. Mit Positivität umschreibt Foucault die Eigengesetzlichkeit und Ordnung von Diskursen durch Setzung des Gesagten. „Beschreibung der gesagten Dinge, genau insoweit sie gesagt worden sind.“ (AW: 159; vgl. auch AW: 296f.) Foucault entwickelt mit seiner Diskurstheorie gleichsam eine Theorie der Wissensformationen, da es ihm um die Anordnung und Hervorbringung von Wissen bzw. um die Anordnung einer kollektiv geteilten Wissensstruktur im historischen Kontext geht; er geht davon aus, dass Wissen wesentlich sozial bestimmt ist. Von Anfang an steht der Begriff des Wissens bei Foucault im Zentrum seiner Analysen, wobei es ihm nicht um Wissen im wissenschaftli-

38 Die Bezeichnung vertikales Abhängigkeitssystem ist meines Erachtens irreführend. Vielmehr müsste es sich um ein gegenseitiges Bedingungs- und Abhängigkeitsgefüge handeln, was Foucault letztlich auch so beschreibt. Vgl. hier AW: 107.

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chen Sinne geht. Vielmehr stellt für ihn Wissen jegliche epistemische Praxis dar (vgl. Honneth 2003: 22). Dabei sind Diskurse Strukturen, die dieses Wissen ordnen und strukturieren, gleichsam aber vom Wissen von den Existenzweisen der Aussagen erzeugt und geordnet werden. Damit enthält der Diskurs sowohl statische, bewahrende als auch dynamische, verändernde Elemente39. „Die diskursive Praxis formiert im Bereich des Wissens, sie gestaltet die Ordnung des Wissens.“ (Diaz-Bone 1999: 124f.) Diskurse konstituieren demnach Wissen. 2.2.3 Diskurs und Macht Es stellt sich nun die Frage, wie Wissen innerhalb von Diskursen produziert wird und welche weiteren Faktoren dabei eine Rolle spielen. Allein anhand der diskursiven Praktiken kann Foucault nicht die Entstehung von Diskursen erklären, wie Spitzmüller anmerkt (vgl. Spitzmüller 2005: 37). Ebenso beschreibt Diaz-Bone die Notwendigkeit der Einbeziehung nicht-diskursiver Praktiken in die Analyse. Die gesellschaftliche Wissensordnung wird diskursiv in sozialen Prozessen hergestellt und die so konstituierten Diskurse wirken über ihre Anbindung an Institutionen (wie Sozialisationsinstitutionen, Medien) auf individueller und kollektiver Ebene wahrnehmungs- und handlungsleitend. (Diaz-Bone 1999: 126)

In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France L’ordre du discours/Die Ordnung des Diskurses geht Foucault diesem Problem nach. Er befasst sich mit der Frage der Einbindung diskursiver Praktiken in historische und soziale Kontexte. Dabei geht es ihm zunächst vor allem um gesellschaftliche Kontroll-, Selektions- und Organisationsmechanismen über Diskurse. Dass Wissen und Wissensformationen in Zusammenhang mit Machtmechanismen gesehen werden müssen, liegt insofern auf der Hand, als konstitutive Regeln diskursiver Formationen immer schon Bestimmungen enthalten, was als Wissen gelten kann und in welcher Weise es gewusst wird. Wissen bedeutet jede im Diskurs auftauchende Praktik, Wissen ist demnach „immanenter Bestandteil jener sozial eingeübten Regeln [...], die insgesamt den Typ der gesellschaftlichen Machtordnung festlegen.“ (Honneth 2003: 22) In Die Ordnung des Diskurses entwickelt Foucault seinen Diskursbegriff dahingehend weiter, dass er Diskurse nunmehr als Formationen von Machtpraktiken auffasst; die diskursiven Formationen sind vor dem Hintergrund nicht-diskursiver Praktiken zu sehen, von denen sie abhängig sind. Galten

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Warnke weist hier auf die analoge Struktur von Sprachwandel, der sowohl dynamische als auch statische Momente umfasst. Vgl. dazu Warnke (2000: 219f.); vgl. Diaz-Bone (1999: 123); vgl. Bublitz u.a. (1999: 12).

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bislang Diskurse als autonom, steht nun die Macht als Kontrollmechanismus von Diskursen und als deren Konstitutionsprinzip im Vordergrund. Dabei geht Foucault von vier Prinzipien aus, die den Diskurs steuern und kontrollieren: a) Ereignisse und Serien, b) Regelhaftigkeit von Aussagen, c) Möglichkeitsbedingungen des Diskurses, d) Diskontinuität von Geschichte. Die Auflösung des Subjekts wird jetzt im Hinblick auf Machtstrukturen konzipiert, insofern sich die Subjekte den Machtmechanismen vollkommen unterwerfen und von diesen wiederum gelenkt werden; andererseits geht es Foucault um „die Unterwerfung des Diskurses unter die Gruppe der sprechenden Individuen“ (ODis: 30). In der Archäologie des Wissens war das Subjekt den diskursiven Praktiken, dem Diskurs als Wissenskomplex unterworfen. An die Stelle des Wissens tritt nun in dieser Phase die Macht. Detel (2003) beschreibt die Macht innerhalb der Diskurse bei Foucault als regulativen Typus von Macht, der als Ergebnis von Sozialisation zu begreifen ist. Der Mensch wird demnach in gesellschaftliche Praktiken hineingeboren und muss sich diesen annehmen (vgl. Detel 2003: 186ff., vgl. Berger/Luckmann 202004, Kapitel 2) bzw. unterwerfen. Honneth (2003) bringt diesen Machttypus mit Wittgensteins Lebensform in Verbindung. Von dem Modell regulativer Macht, wie es Foucault implizit entwickelt hat, läßt sich vielmehr mit einigem Recht behaupten, daß es den Versuch einer »materialistischen« Transformation jener Vorstellungen über soziale Lebensformen darstellt, die sich in der Spätphilosophie Wittgensteins finden: Die Etablierung und Ausübung von sozialer Macht besteht in der »mikrophysischen« Aufzwingung einer Lebensform, die durch ein ganzes Netz von sozialen Regeln bestimmt ist, durch die wir zur Entwicklung einer bestimmten Selbstbeziehung, einer bestimmten Art der Herrschaftsbereitschaft und einer bestimmten Form des Sozialkontaktes angehalten werden. (Honneth 2003: 21)

Mit der Konzeption des Machtbegriffes will Foucault nicht zuletzt die nichtdiskursiven Praktiken in seine Analyse und Theorie einbinden, um die Entstehung diskursiver Regeln erklären zu können.40 Es geht Foucault in einer ersten Konzeption des Machtbegriffes um drei Mechanismen: a) um Ausschließungsmechanismen, die er in drei Formen der Ausschließung differenziert: erlaubt-verboten, vernünftig-unvernünftig, wahr-falsch (ODis: 7), b) um Verknappungsmechanismen, die er in drei Prinzipien unterscheidet: in das Prinzip des Autors, des Kommentars und der wissenschaftlichen Disziplin (ODis: 19) sowie um c) Mechanismen der Unterwerfung „der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen.“ (ODis: 30, vgl. 25–30) Während Foucault in Die Ordnung des Diskurses Macht als Kontroll-, Selektions- und Ord-

40 Vgl. hier Spitzmüller (2005: 37f.); vgl. Honneth (2003: 20); vgl. Daniel (52006: 176).

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nungsinstanz (als juridische Instanz, die sich an Gesetzen orientiert) betrachtet und sie damit vorwiegend als etwas Negatives beschreibt, entwickelt er in seinen weiteren Erläuterungen die Theorie der Macht dahingehend weiter41, dass er unter Macht verschiedene Aspekte subsumiert und den Aspekt der Negativität, des Verbotes und der Kontrolle etc. in den Hintergrund treten lässt. Macht ist für ihn vielmehr ein produktives Relationsgefüge, das Subjekte und Diskurse erst hervorbringt (vgl. DdM: 104f.; vgl. auch Spitzmüller 2005: 37ff.) und die Beziehungen der Subjekte und diskursiven Relationen untereinander regelt42 bzw. ein „mehr oder weniger (und ohne Zweifel schlecht) koordiniertes Bündel von Beziehungen ist [...].“ (DdM: 126) Damit ist Macht ein notwendiges Moment im gesellschaftlichen Zusammenleben. Die Macht gibt es damit für Foucault nicht, vielmehr geht er von einer dezentralen Struktur eines Machtgefüges als Beziehungsgefüge aus. Vor allem in seiner letzten Schaffensphase im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung seiner Subjektkonzeption geht Foucault nochmals auf den Machtbegriff ein (vgl. hier auch folgendes Kapitel 2.2.4 dieser Arbeit). Hier spielt vor allem der Aspekt der Produktivität moderner Macht, der Aspekt der Beziehung sowie die Vorstellung von Macht als „eine Form handelnder Einwirkung auf andere“ (SM: 255) bzw. „die Wirkungsweise gewisser Handlungen, die andere verändern“ (SM: 254) eine Rolle. Machtbeziehungen beruhen dagegen auf zwei Elementen, die unerlässlich sind, damit man von Machtbeziehungen sprechen kann: Der »Andere« (auf den Macht ausgeübt wird) muss durchgängig und bis ans Ende als handelndes Subjekt aner-

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Weil er immer wieder auf Missverständnisse bezüglich seines Machtbegriffes gestoßen ist, ersetzte er schließlich den Begriff Macht durch Gouvernement. Vgl. dazu Spitzmüller (2005: 40); Kögler (22004: 91). Foucaults Machtbegriff unterlag – wie alle seine Begriffe – einem Entwicklungsprozess. Zu Beginn der Beschäftigung mit seiner Machtkonzeption, also zur Zeit seiner Antrittsvorlesung ODis verfolgte Foucault selbst einen Machtbegriff, der vor allem ein restriktives Moment beinhaltete. „Ich glaube, daß ich in jener ‚Ordnung des Diskurses‘ zwei Konzeptionen vermischt habe oder vielmehr auf eine Frage, die mir legitim scheint (die Verknüpfung der Diskurstatsachen mit den Machtverhältnissen), eine inadäquate Antwort vorgeschlagen habe. Es ist ein Text, den ich in einer Übergangssituation geschrieben habe. Bis dahin, scheint mir, akzeptierte ich die traditionelle Konzeption der Macht als eines im wesentlichen juridischen Mechanismus, als das, was das Gesetz sagt, was untersagt, was nein sagt, mit einer ganzen Litanei negativer Wirkungen: Ausschließung, Verwerfung, Versperrung, Verneinungen, Verschleierungen usw.“ (DdM: 104f.); vgl. auch Fink-Eitel (1990: 385). Diese unterschied lichen Machtkonzeptionen der mittleren und späten Schaffensphase Foucaults rechtfertigen es dann auch, von seiner späten Schaffensphase als einer „Wende zum Subjekt“ zu sprechen. Mit der Erweiterung seines Machtbegriffes tritt nämlich auch das Subjekt als ein in gewissen Freiheitsspielräumen handlungsfähiges Subjekt zum Vorschein, was seine Diskurskonzeption der frühen Schaffensphase (zur Zeit der Archäologie des Wissens) zunächst nicht unbedingt vermuten lässt. Vgl. hier Kap. 2.2.4 weiter unten. 42 Vgl. Kögler (22004: 83–91); vgl. Spitzmüller (2005: 37–40); vgl. Honneth (1989: 168ff.).

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kannt werden. Und vor den Machtbeziehungen muss sich ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen öffnen. [...] Sie [die Macht] ist ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. (SM: 255)

Entsprechend der mit der Machtkonzeption Foucaults in Zusammenhang stehenden Erweiterung des Diskursverständnisses stehen diskursive und nicht-diskursive Praktiken in einem gegenseitigen Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis, Diskurse sind nicht mehr autonom. Diese wechselseitige Bedingtheit bzw. die Verschränkung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken beschreibt Foucault Ende der 70er Jahre dann als Dispositiv, das Machtstrategien und Wissensformationen verbindet (vgl. DdM: 123). Unter Dispositiv versteht er ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesag tes ebensowohl wie Ungesagtes [...]. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. (DdM: 119f.)

Foucault deutet in AW diese Verschränkung bereits mehrfach an. Da er die Problematik um das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken aber nicht löst, muss die Konzeption der Diskursanalyse mit dem Machtbegriff zusammengedacht werden, um so die Entstehungsbedingungen von Diskursen erklären zu können.43 2.2.4 Diskurs und Subjekt Wenn auch Foucault immer wieder mit der Aussage vom „Tod des Subjekts“ in Verbindung gebracht wird, so muss man ihm aber bescheinigen, dass das Subjekt in all seinen Schaffensphasen aus je unterschiedlicher Perspektive eine gewisse Rolle spielte. Insbesondere ging es ihm um die Formulierung einer poststrukturalistischen Subjekttheorie.44

43 Dieser so genannte machtkritische Zusammenhang zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ist m. E. für die linguistische Diskursanalyse insofern bedeutsam, als hier die Einbeziehung der Faktoren Kontextualität und Situationalität, von denen weiter unten ausführlich die Rede sein wird, in die Analyse angelegt ist. 44 Vgl. Honneth (2003: 23); vgl. Kögler (22004). Um den Tod des Subjekts geht es Foucault insofern, als er sich von einer universalistischen Theorie des Subjekts abwendet und dieses dekonstruiert, um eine Neubegründung des Subjekts zu formulieren. Dabei führt Foucault drei Argumente an, die seine Abkehr von einer universa listischen Theorie begründen: a) das Subjekt ist immer schon von diskursiven Praktiken abhängig b) auch universale Theorien sind immer im Kontext historischer Gegebenheiten entstanden c)

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Es kommt also auf die von Foucault je eingenommene Perspektive an, die ein je unterschiedliches Licht auf den Subjektbegriff wirft und das Subjekt mehr oder weniger in den Vordergrund treten lässt. Da es sich bei der Untersuchung von Diskursen (in der Konzeption der Archäologie des Wissens) um allgemeine und grundlegende Strukturen handelt, die Foucault in verschiedenen Wissenschaftsbereichen bestimmter Epochen sucht, bietet es sich nach Detel (2003) nicht an, nach den Subjekten zu fragen, die für diese Strukturen verantwortlich zeichnen. Für die archäologische Beschreibung dieser Strukturen im Sinne Foucaults spielen Subjekte keinerlei explanatorische Rolle. Es handelt sich also im wesentlichen um den methodologischen oder explanatorischen Tod des Subjekts. [...] Aber es wäre schwierig nachzuweisen, daß eine neue Episteme oder Diskursformation durch Aktivitäten historischer Subjekte ins Spiel gekommen ist. Historisch können wir nach Foucault nur im nachhinein konstatieren, daß sich eine Episteme oder Diskursformation in verschiedenen Texten einer Epoche manifestiert. (Detel 2003: 184f., Hervorh. im Original)

Foucault selbst nimmt jedoch in all seinen Schaffensphasen Bezug auf den Subjektbegriff, und immer wieder entzündete sich an seiner Subjektkonzeption Kritik45, so dass es sinnvoll erscheint hier auf den von ihm konzipierten Subjektbegriff etwas näher einzugehen. Einige Aspekte wurden ja bereits in den vorangegangenen Kapiteln erörtert. Zentrales Anliegen Foucaults ist es, eine Theorie des Subjekts zu konzipieren, die von geschichtsimmanenten und kontextuell gebundenen Subjekten ausgeht. Damit möchte er der Auffassung von einem kontextenthobenen, ahistorischen und universalen Wesen der menschlichen Natur entgegentreten. Foucaults Subjektkritik zielt also darauf ab, das Subjekt als Urheber wahrer Erkenntnisse und Handlungen in Frage zu stellen, jedoch nicht darauf, die Kategorie Subjekt gänzlich abzuschaffen. (Vgl. AW: 81; vgl. auch Kögler 22004: 30f.) Dieses Kernanliegen verfolgt Foucault von Beginn an unter je unterschiedlicher Perspektive. Beschreibt Foucault in der Phase der Archäologie des Wissens – wie bereits oben dargestellt – das Subjekt als eine verstreute Position innerhalb von Diskursen oder in der Phase von Die Ordnung des Diskurses als ein unter Machtmechanismen unterworfenes und von diesen abhängiges Objekt, so ändert

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die universale Theorie des Subjekts erklärt bestimmte Identitätsschemata zur universalen Norm. Vgl. AW: 9–30; vgl. Kögler (22004: 185). Honneth spricht – ähnlich wie Detel (2003) – die unterschiedlichen Perspektiven an, von der aus man den Subjektbegriff bei Foucault betrachten kann. „Sobald einmal durchschaut ist, daß Foucault in all seinen Analysen auf sozialkonstitutive Regeln hinaus will, stellt sich auch das Problem der menschlichen Handlungsfreiheit in veränderter Weise; dann nämlich wird deutlich, daß es nur eine Frage der methodischen Perspektive ist, ob innerhalb eines gegebenen Systems sozialer Regeln das Subjekt eher in seiner Objekt- oder in seiner Subjektrolle untersucht wird.“ Honneth (2003: 23).

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sich die Perspektive der Betrachtung in seiner letzten Schaffensphase. Mit dem Erscheinen des Interviews Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten (GdE) sowie der Schriften Das Subjekt und die Macht (SM) und Der Gebrauch der Lüste (GdL) vollzog Foucault im Hinblick auf die Rolle des Subjekts einen Perspektiv wechsel46, insofern nun die Subjektkonstitution an sich eine zentrale Rolle spielt. (Vgl. hierzu auch Honneth 2003: 24) Subjektivität wird von ihm als ein Sich-zu-sich-Verhalten aufgefasst. (Vgl. hierzu auch Detel 2003: 187ff.) Der Begriff der Freiheit spielt dabei im Zusammenhang mit Subjektivität eine wichtige Rolle. Freiheit bedeutet, dass ein Subjekt sich zu den diversen Arten der Machtpraktiken und Unterwerfungsformen verhalten und auch eine sich der Unter werfungspraktiken entgegenstellende Position einnehmen bzw. sich gegen Machtpraktiken auflehnen kann. Dieses Sich-zu-sich-Verhalten wird von Foucault auch Selbstpraktik genannt. Zugleich ist es aber immer in Machtpraktiken als Unterwerfungspraktiken verstrickt, insofern es durch Unterwerfung hervorgebracht wird. Damit sind die Begriffe Macht und Subjekt47 aufs Engste miteinander verbunden. Mit der subjekttheoretischen Wende kommt somit ein weiterer Aspekt des Machtbegriffes Foucaults ins Spiel. Macht wird nicht als das die Wirklichkeit fundierende Prinzip schlechthin gefasst, sondern als soziale Relation bzw. als eine Wirkungsweise neben anderen, wie etwa der Kommunikation, dem instrumentellen Handeln oder der Arbeit (vgl. SM: 251ff.), die die Ein-

46 In seiner letzten Schaffensphase wendet sich Foucault dem Subjekt zu. „Er versucht nicht, das Subjekt zu dekonstruieren, sondern vielmehr das tiefe Selbst vollständig zu historisieren, um so die Möglichkeit zu schaf fen, daß ein neues ethisches Subjekt hervortritt.“ Dreyfus/Rabinow (21994: 296, 307). Zwar wird bezüglich der Kritik Foucaults an einem überzeitlichen, entkontextualisierten Vernunftsubjekt von der Destruktion des Subjekts gesprochen, doch bezieht sich Destruktion nur auf die Entkontextualisierung und Enthistorisierung. Sowohl die Konzeption eines freien Subjekts in seiner letzten Schaffensphase als auch die Auffassung, Foucault dekonstruiere auf radikale Art und Weise das Subjekt, wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich beurteilt und bewertet. So konstatiert Fink-Eitel: „Seit ‚Der Gebrauch der Lüste‘ steht die Diagnose wieder auf dem Kopf. Nun ist die Sexualität Inhalt autonom zu strukturierender, existentieller Selbstverhältnisse und nicht mehr deren Auflösung in die Bewegungsgesetze objektiver Macht. [...] Foucaults subjekttheoretische Wende bricht sowohl mit dem ‚postmodernen‘ Programm einer Auflösung von Subjektivität, Sinn und Geschichte, an dessen Stelle sie das ethische Programm einer Formierung souveräner Subjektivität und des durchgängigen Sinns ihrer Lebensgeschichte setzt, als auch mit dem poststrukturalistischen Programm diversifizierender Dezentrierung, an dessen Stelle sie die einheitliche (wie auch immer inhaltlich auszufüllende) Struktur setzt, als die das Individuum seine Existenz zu vollziehen hat.“ Fink-Eitel (1990: 375f., Hervorh. im Original) Waldenfels sieht dagegen keinen Bruch. „Manch einer wird aufatmend feststellen, daß nun auch Foucault das Subjekt wiederentdeckt hat. Ich warne vor dieser übereilten Vorfreude.“ Waldenfels (1986: 46). 47 Deutlich wird dies anhand des von Foucault gebrauchten Begriffs Subjektivation. Dieser umfasst zwei Bedeutungen: ‚sich unterwerfen‘ und ‚sich konstituieren‘. Vgl. Butler (2001: 81f.); vgl. Butler (2003b: 61f.)

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übung in soziale Praktiken und Regeln und den souveränen Umgang mit diesen überhaupt erst ermöglichen (vgl. Honneth 2003: 25). Damit bringt nun Foucault doch handlungstheoretische Aspekte ins Spiel, ohne jedoch ein Subjekt zu konstruieren, das er in der Archäologie dekonstruiert hat. Subjekte bleiben auch in dieser Phase für ihn kontextuell gebundene empirische Subjekte, also „Kinder ihrer Zeit“48. Dies ist einerseits für die Konzeption eines linguistischen Diskursbegriffes von Bedeutung, insofern die nun in dieser Phase von Foucault beschriebene Subjektivität als ein Sich-zu-sich-Verhalten von freien Subjekten die Annahme einer gewissen Intentionalität innerhalb bestimmter Handlungsspielräume und einer Motiviertheit von Handlungen erlaubt49. Macht wird nur auf »freie Subjekte« ausgeübt und nur sofern diese »frei« sind. Hierunter wollen wir individuelle oder kollektive Subjekte verstehen, vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem mehrere »Führungen«, mehrere Reaktionen und verschiedene Verhaltensweisen statthaben können. [...] Macht und Freiheit stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit), sondern innerhalb eines sehr viel komplexeren Spiels: in diesem Spiel erscheint die Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung von Macht (sowohl als ihre Voraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht ausgeübt werden kann, wie auch als ihr ständiger Träger, denn wenn sie sich völlig der Macht, die auf sie ausgeübt wird, entzöge, würde auch diese verschwinden und dem schlichten und einfachen Zwang der Gewalt weichen); aber sie erscheint auch als das, was sich nur einer Ausübung von Macht entgegenstellen kann, die letztendlich darauf ausgeht, sie vollkommen zu bestimmen. (SM: 255f., 259)

Hier stellt sich nun die Frage, inwiefern das frühe Subjektkonzept der Archäologie des Wissens mit der Subjektkonzeption der letzten Schaffensphase von Das Subjekt und die Macht, Zur Genealogie der Ethik oder von Gebrauch der Lüste in Verbindung gebracht werden kann und sollte50. M. E. stellt die

48 Eine vorgängige Natur bzw. ein kontextenthobenes univerales Wesen des Subjekts konzipiert er somit auch in seiner letzten Schaffensphase ausdrücklich nicht, vielmehr begründet er eine neue Subjekttheorie. Vgl. SM; vgl. Kögler (22004: 184ff.). 49 Damit entgegnet er auch der Kritik, dass Subjekte Diskurse nicht mit konstituierten und diesen bloß ausgeliefert seien. Dadurch dass Subjekte Widerstand gegen Machtpraktiken leisten können, konstituieren sie immer auch neue Machtpraktiken und damit auch Diskurse in einem gewissen Handlungsspielraum mit. Vgl. hier SM; vgl. Kögler (22004: 192); vgl. Sloterdijk in Busse (1987: 248). 50 Implikationen eines pragmatischen Sprach- und Textbegriffes sowie die Vereinbarkeit poststrukturalistischer Annahmen mit sprachpragmatischen Theoremen werden in Kapitel 2.3.3.2 und 2.3.4 erläutert. Die poststrukturalistische Theoretikerin Judith Butler geht ebenfalls auf die Problematik verantwortlichen Handelns durch Subjekte ein, indem sie in ihrer Subjektkonzeption von postsouveränen Subjekten spricht und deren kontextuelle Eingebundenheit sowie deren diskursive Konstituiertheit durch bereits vorhandene Strukturen betont. Vgl. Butler (2006). Mit diesem Subjektbegriff wendet sich Butler – wie auch Foucault – vor allem gegen ein Ursprünglichkeits- und Originalitätsdenken.

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Konzeption des Subjekts der Archäologie keinen Widerspruch zur Konzeption der mittleren und letzten Schaffensphase dar, insofern das Subjekt aus je unterschiedlicher Perspektive betrachtet wird und sich die Grundannahmen bezüglich dessen nicht geändert haben. Foucault ging es vielmehr von Beginn an bis zum Ende seines Schaffens um die Kontextualisierung und historische Verortung der Subjekte. Aus diesem Grund muss das Diskurskonzept der Archäologie aber vor dem Hintergrund und in Zusammenhang des gesamten Schaffens Foucaults gesehen werden. Bezüglich der Etablierung eines linguistischen Diskursbegriffes wird man ein solches Vorgehen sicherlich favorisieren müssen, insofern ein dem linguistischen Diskursbegriff zu Grunde gelegter pragmatischer Sprachbegriff so besser an die Diskurstheorie Foucaults anschlussfähig ist. 2.2.5 Foucaults Sprach- und Zeichenbegriff Die Untersuchung der sprachlichen Manifestationen innerhalb eines Diskurses spielt für Foucault eine nur marginale Rolle, was mit seinem Sprachbegriff zusammenhängt. Foucault legt seinen Untersuchungen einen strukturalistischen Sprachbegriff zu Grunde, der Sprache nicht als Praxis bzw. als Handeln und Bedeutungen nicht als Gebrauchsweisen, sondern als System bzw. Bedeutung als Differenz im Hinblick auf andere Zeichen auffasst, obgleich er sich dem strukturalistischen Denken gegenüber kritisch äußert51. Sprachliche Zeichenbedeutungen sind für ihn demnach kontextenthoben und Diskurse sind Praktiken, die ein strukturalistischer Sprachbegriff auf Grund der Kontextgebundenheit von Diskursen nicht umfassen kann; folglich konzentriert sich seine Methode nicht auf die sprachliche Ebene. (Vgl. Busse 1987: 242f.; vgl. Sloterdijk 1972) „Gleichwohl kann die Diskursanalyse nicht auf die Untersuchung der sprachlichen Einheiten verzichten.“ (Busse 1987: 226) Denn diskursive Praktiken manifestieren sich sprachlich. Auf welche Probleme Foucault mit dem seiner Theorie zu Grunde liegenden Sprachbegriff gestoßen ist, zeigt seine anfängliche Diskurskonzeption, die nicht-diskursive Praktiken aus der Analyse ausspart. Foucault postulierte, bei der Analyse die diskursiven Praktiken (zur Zeit der Archäologie des Wissens ) von den nicht-diskursiven Praktiken zu trennen, da dieser Hintergrund der nicht-diskursiven Praktiken für den von außen herangehenden Beobachter keinerlei Bedeutung hat, inso-

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Vgl. Busse (1987: 242). Busse beschreibt eine merkwürdige Ambivalenz Foucaults hinsichtlich seines Sprachbegriffes. Einerseits verabschiedet sich Foucault von strukturalistischen Begrifflichkeiten und bekundet ein Defizit des Strukturalismus hinsichtlich der Analyse komplexer Wissensstrukturen, andererseits bezieht er die für eine solche Analyse der Bedingungen von diskursivem Wissen notwendige handlungstheoretische Fundierung und die situationelle Kontextualisierung nicht auf Sprache. Vgl. Busse (1987: 242f.)

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fern dieser nicht nach dem Sinn fragt.52 Erst in seinem mittleren und späteren Schaffen, als es ihm um den Machtbegriff ging, stellt er die gegenseitige Bedingtheit von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken heraus, ohne jedoch auf Sprache einzugehen. Auf ein weiteres Problem, das in seinem Sprachbegriff gründet, stößt er bei der Beschreibung der Aussagen und der Aussagenfunktionen. Insofern er Sprechakte als mögliche Realisierungen von Aussagen ausschließt, stehen diese nicht mehr zur Verfügung die Unterschiedlichkeit von Aussagen trotz identischer Wortfolge zu erklären. Praxis und Sprache schließen sich für Foucault somit einander aus. Busse spricht hier auch davon, dass „Foucault die zentrale Einheit der ‚Aussage‘ [...] radikal ‚entsprachlichen‘ will.“ (Busse 1987: 244) Insgesamt steht Foucault linguistischen Konzepten als Möglichkeit der Erfassung und Beschreibung von Aussagen skeptisch gegenüber, da er davon ausgeht, dass Aussagen nicht auf kontextabstrakte Zeichenbedeutungen reduziert werden können. Wenn Foucault davon spricht, „die Diskurse [nicht] als Gesamtheiten von Zeichen (bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (AW: 74; vgl. auch AW 73), und er weiterhin an einem strukturalistischen Sprachbegriff festhält, muss er zwangsläufig der sprachlichen Ebene weniger Aufmerksamkeit zubilligen, um seiner Auf fassung von Diskursen gerecht zu werden. Dies wird deutlich, wenn er formuliert: Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben. (AW: 74)

An dieser Stelle hätte eine Erweiterung seines Zeichen- und Sprachbegriffes erfolgen müssen, damit Diskursanalyse auch die sprachliche Ebene erfassen kann und vor allem dem Anliegen Foucaults entspräche. (Vgl. Busse 1987: 242ff.) Mit einem Sprachbegriff, wie er dieser Arbeit zu Grunde liegt, können sprachliche Manifestationen diskursiver Praktiken aber durchaus erfasst werden. Wird der Diskursanalyse nämlich ein pragmatischer Sprachbegriff zu Grunde gelegt, so wird damit Sprache als soziale Praxis aufgefasst, die in einen weiteren außersprachlichen Kontext eingebettet und situiert ist und

52

Vgl. Dreyfus/Rabinow (21994: 82f.) „Der Archäologe kann also das Geflecht diskursiver Praktiken untersuchen und es als Ensemble untereinander verbundener Elemente behandeln, während er das ausklammert, was Foucault später das >dicke Gewebe< der nichtdiskursiven Verhältnisse nennt, das den Verstehenshintergrund für die wirklich Sprechenden bildet.“ Dreyfus/Rabinow (21994: 82f.).

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von diesem Kontext beeinflusst wird. Dies fordert aber Foucault selbst, wenn er sagt, dass es „[...] keine Aussage im allgemeinen, keine freie, neutrale und unabhängige Aussage [gibt]; sondern stets eine Aussage, die zu einer Folge oder einer Menge gehört, eine Rolle inmitten der anderen spielt.“ (AW: 144) Obgleich einige Aussagen Foucaults die sprachliche Konstruktion von Diskursen und von Wirklichkeit hervorheben, bezieht er seine Analyse nicht auf die Sprache.53 Der Diskurs ist weder auf der Seite des Denkens noch auf der Seite der Sprache angesiedelt, vielmehr sieht Foucault den Diskurs als eigene Realität. Wie nah jedoch Foucault an einem pragmatischen bzw. handlungstheoretischen Sprachbegriff ist, zeigt folgende Aussage: Es handelt sich darum, die diskursiven Praktiken in ihrer Komplexität und in ihrer Dichte erscheinen zu lassen, zu zeigen, daß Sprechen etwas tun heißt – etwas anderes, als das auszudrücken, was man denkt, das zu übersetzen, was man weiß, etwas anderes auch, als die Strukturen einer Sprache spielen zu lassen [...]. (AW: 298)

Aus Sicht der Linguistik manifestieren sich wesentliche diskursive Praktiken durch und in Sprache, durch und in Sprachgebrauch und Verwendungsweisen. Damit wird Sprache aber zu einer wichtigen Analysekategorie von Diskursanalyse, denn Sprache konstruiert Wirklichkeit, die Wirklichkeit wird wesentlich durch Sprache und Sprachhandeln bestimmt, wie bereits oben bei der Beschäftigung mit Humboldt, Wittgenstein und weiteren Positionen in Kapitel 1 dieser Arbeit erörtert wurde. Zugleich ist Sprache bzw. Sprachhandeln wesentlich von außersprachlichen Faktoren abhängig. Ausgangspunkt und Zugriffsobjekt linguistischer Diskursanalyse bildet also das sprachfundierte Material in Form von Texten. Linguistische Diskursanalyse bezieht sich

53

Vgl. dazu auch Dreyfus/Rabinow (21994: 77ff.). Die Autoren erläutern, inwiefern sich Foucault vom Struktura lismus abgrenzt, insofern der atomistische Strukturalismus gemeint ist und inwiefern sich Foucault zum Teil auf den Strukturalismus in der Spielart des holistischen Strukturalismus bezieht, in dem die Bedeutung der Elemente von assoziierten Feldern abhängt. Dabei kommen die Autoren zu dem Schluss, dass sich die Methode der AW in zwei Hinsichten dem Strukturalismus ähnelt: beide Ansätze verwerfen den Rückgriff auf ein bedeutungsstiftendes Subjekt einerseits; beide Ansätze suchen nicht nach dem Sinn der von ihnen untersuchten Strukturen. Vgl. Dreyfus/Rabinow (21994: 81f.). Zur sprachlichen Konstruktion von Diskursen – hier der Diskurs über den Wahnsinn – schreibt Foucault: „Die Geisteskrankheit ist durch die Gesamtheit dessen konstituiert worden, was in der Gruppe all der Aussagen gesagt worden ist, die sie benannten, sie zerlegten, sie beschrieben, sie explizierten, ihre Entwick lungen erzählten, ihre verschiedenen Korrelationen anzeigten, sie beurteilten und ihr eventuell die Sprache verliehen, indem sie in ihrem Namen Diskurse artikulierten, die als die ihren gelten sollten.“ (AW: 49) Vgl. des Weiteren AW: 74; hier spricht er explizit vom repräsentativen Zeichen, welches Bedeutung trägt und stellt dieses seinem Begriff der Praxis gegenüber; Praxis bringt permanent Gegenstände hervor.

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somit auf einen Teilaspekt von Diskursanalyse.54 Der Sprache kommt damit eine andere Rolle zu als ihr Foucault in seiner Diskursanalyse zuschrieb. So können sprachliche Strukturen und Verwendungsmuster Hinweise sein für gesellschaftlich typische Denk- und Handlungsweisen, andererseits können sie als Möglichkeitsbedingungen von Wissen bzw. von Wissensstrukturen angesehen werden. Texte wiederum sind Möglichkeitsbedingungen für Nachfolgetexte. Sie bewahren und generieren Wissenssegmente und sind demnach statisch und dynamisch zugleich. Ein linguistischer Diskursbegriff wird demnach Ergänzungen und Erweiterungen des foucaultschen Diskursbegriffes vornehmen, denn Situativität und Kontextualität sind Bedingungen eines pragmatischen Sprachbegriffes, der sich zwar nicht in der Hauptsache auf außersprachliche Praktiken konzentriert, diese aber notwendigerweise zur Kenntnis nimmt (bzw. nehmen muss) und in die Analyse einbezieht.55 2.2.6 Abschließende Bemerkungen Hier wurde der Versuch unternommen, das Diskurskonzept Foucaults mit den für die Linguistik relevanten Aspekten in aller Kürze vorzustellen. Dabei wurden zum einen wesentliche Grundbegriffe herausgestellt sowie Eigenschaften und Ziele der Diskursanalyse besprochen. Als Schlüsselbegriffe können Wissen – Macht – Subjekt ausgemacht werden, die in dieser Abfolge von Foucault in seinen unterschiedlichen Schaffensphasen unterschiedlich gewichtet, bearbeitet und erläutert wurden. Die Eigenheit der Foucaultschen Konzeption besteht vor allem darin, begrifflich zum Teil sehr vage zu bleiben oder Widersprüchlichkeiten nicht zu klären. Bei der Operationalisierung des Diskursbegriffes durch die Linguistik bedarf es also Präzisierungen und Modifikationen, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Linguistik sich auf das Sprachmaterial zu konzentrieren hat. Gewisse Bezugspunkte zu bereits oben dargestellten sprachtheoretischen Grundlagen, die für einen pragmatisch orientierten Sprachbegriff Relevanz besitzen, lassen sich bei Humboldt und Wittgenstein herausfiltern. Foucaults gesellschaftliche Auffassung nicht-diskursiver Praktiken, welche die diskursiven Praktiken umgeben, erinnert an die Konzeption der Lebensform bei Wittgenstein. Wohl hat er diesen aber nicht rezipiert und zur Kenntnis genommen. (Vgl. AW: 224; vgl. Dreyfus/Rabinow 21994: 94, 103) Allerdings

54 Der linguistische Zugriff auf Diskurse in ihrer sprachlichen Materialität stellt somit einen Teilaspekt von Diskursanalyse dar. Andere Fachdisziplinen – wie etwa die Soziologie oder Geschichtswissenschaft – fokussieren naturgemäß andere Teilaspekte. 55 Vgl. das modifizierte Faktorenmodell der Kommunikation in dieser Arbeit im Kapitel 2.3.5 weiter unten.

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wird nicht ganz deutlich, was er genau unter nicht-diskursiven Praktiken versteht, was naturgemäß vielen untereinander divergenten Interpretationen Raum gegeben hat. Foucault bleibt hier in seinen Bestimmungen des NichtDiskursiven wiederum vage. Mit Humboldt stimmt er in der Auffassung überein, dass Wirklichkeit konstruiert wird. Sind es bei Foucault die diskursiven Formationen und damit einhergehend die anonymen Regeln, die Wirklichkeit entstehen lassen und beeinflussen, so spricht Humboldt von der Sprache als wirklichkeitskonstitutivem Moment. In der Archäologie des Wissens legt Foucault ein Programm seiner Analyse als eine Mehrebenenanalyse vor. Eine Verbindung zwischen der konkreten Ausgestaltung der Analyse bei Foucault und linguistischer Diskursanalyse kann methodisch in der Konzeption einer Mehrebenenanalyse gesehen werden, da diese in der Lage ist, die vielfältigen und heterogenen Praktiken, die sprachlichen und außersprachlichen Faktoren zu beschreiben. Bevor ein solches Modell in Kapitel 3 dieser Arbeit konzipiert wird, soll es im folgenden Kapitel um die Konzeption eines linguistischen Diskursbegriffes gehen.

2.3 Kriterien eines Linguistischen Diskursbegriffes 2.3.1 Linguistische Diskursbegriffe im Anschluss an Foucault Seit dem Ende der 80er Jahre lässt sich eine zunehmende Beschäftigung mit dem Diskurskonzept Foucaults auch in der Linguistik feststellen. Dass jedoch das Konzept Foucaults einiger Modifizierungen speziell für die Linguistik bedarf, ergibt sich schon aus dem genuinen Erkenntnisinteresse der Linguistik, denn anders als bei Foucault, stellt das sprachfundierte Material den zentralen Analysegegenstand. Dabei wird Diskursanalyse im Anschluss an Foucault innerhalb der Linguistik mit unterschiedlichen Akzentsetzungen betrieben. Um die Vielfalt der unterschiedlichen Herangehensweisen zu verdeutlichen, sollen hier exemplarisch drei unterschiedliche Haupttendenzen linguistischer Diskursanalyse, unter die sich weitere einzelne Schulen und Ausprägungen subsumieren lassen, kurz vorgestellt werden, bevor der dieser Arbeit zu Grunde gelegte Diskursbegriff näher erläutert wird.56 Neben der Linguistik haben sich noch andere Disziplinen mit dem diskursanalytischen Vorgehen im Anschluss an Foucault in empirischer und methodischer Hinsicht befasst57. So stehen

56 Vgl. hier vor allem Bluhm u.a. (2000) sowie Fraas/Klemm (2005a und b); vgl. Gardt (2007). 57 Vgl. aus historischer Perspektive unter anderen Landwehr (22004); vgl. Sarasin (2003); vgl. Reichardt (1989); vgl. aus sozialwissenschaftlicher Perspektive beispielsweise Keller

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beispielsweise einige historische, philosophische und zahlreiche sozialwissenschaftliche Untersuchungen und Arbeiten in diesem Kontext. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit bzw. unterschiedlichen Konzeptionierung gründen die verschiedenen linguistischen Ansätze letztlich in einem gemeinsamen Merkmal von Diskursen als einer Ansammlung von Texten bzw. Aussagen zu einem gesellschaftlich verhandelten Thema. Diskursanalyse als Ideologiekritik58 Die kritische Diskursanalyse bezeichnet zwar eine Schule linguistischer Diskursanalyse, kann in sich aber nochmals in verschiedene Ausprägungen differenziert werden. Unter die kritische Diskursanalyse werden Arbeiten von Norman Fairclough59, Teun van Dijk60, Utz Maas (1984), die »Kritische Wiener Schule«61 sowie die »Duisburger Schule«62 gefasst. In der germanistischen Linguistik trugen vor allem die »Duisburger Schule« und die »Wiener Schule« dazu bei, diese Form der Diskursanalyse zu etablieren. Maas, S. Jäger und Fairclough nehmen in ihren Arbeiten ausdrücklich Bezug auf die Diskurstheorie Foucaults. Zugleich steht die kritische Diskursanalyse aber in der Tradition der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule und der Kritischen Linguistik. Den weiteren theoretischen Hintergrund bildet hier der Neomarxismus. (Vgl. Titscher u.a. 1998: 179f.) Die kritische Diskursanalyse um Siegfried Jäger schließt vor allem an den Diskursbegriff Foucaults an, den dieser in Die Ordnung des Diskurses formulierte. Im Zentrum dieser Diskursauffassung steht somit der Machtbegriff Foucaults, demzufolge Diskurse Machtpraktiken darstellen. Jäger stellt im Hinblick auf das Verhältnis von Macht und Diskurs zwei Aspekte heraus. Ihm geht es zum einen um die Macht über den Diskurs, zum anderen um die Macht im Diskurs. Beide Aspekte sollen mittels der kritischen Diskursanalyse offengelegt werden, wobei die Analyse nicht nur sprachliche Manifestationen

u.a. (2003) oder Diaz-Bone (1999, 2002); vgl. aus philosophischer Perspektive z. B. Bührmann (2009). Vgl. zum Überblick auch Wengeler (2003). 58 Wenn hier von Ideologiekritik die Rede ist, dann folgt diese Schule der Diskurslinguistik nicht dem Ideologiebegriff Vološinovs. 59 Fairclough spricht für die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse und plädiert für die Beachtung der Textanalyse in der Sozialwissenschaft, denn Texte sind wesentliche Formen sozialer Aktivitäten. Fairclough zielt also auf die Analyse des Sprachgebrauchs und dessen Beziehung zu sozialen und kulturellen Strukturen. Vgl. Titscher u.a. (1998: 184); vgl. Fairclough (2003: 21ff.) 60 Vgl. beispielsweise van Dijk (2001). In diesem Aufsatz geht van Dijk auf das Verhältnis von Ideologie und Diskurs vor dem Hintergrund eines kognitiven Zugangs ein. 61 Diese wird beispielsweise von Wodak und Matouschek vertreten. Vgl. exemplarisch Matouschek u.a. (1995) oder Wodak (1998, 2001a und b). 62 Vertreter der Duisburger Schule sind Jürgen Link und Siegfried Jäger. Vgl. exemplarisch Link/Link-Heer (1990); vgl. S Jäger (42004, 2005).

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umfasst, sondern als Gesellschaftsanalyse betrieben werden sollte.63 Fairclough orientiert sich dagegen am Machtbegriff Antonio Gramscis, der Macht innerhalb des Diskurses als „Kampf um die Vorherrschaft über die Ordnungen der Diskurse“ auffasst. (Titscher u.a. 1998: 186) Auch Fairclough zielt auf die Analyse sprachlicher und sozialer Praktiken. Sprechen stellt für ihn eine soziale Aktivität dar. (Vgl. Fairclough 2003: 21ff.) Linguistische Diskursanalyse in diesem Sinne versteht sich als gegenüber vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen kritische Instanz und verfolgt oft auch politische Ziele, insofern sie mit einer moralisch-ethischen Bewertung der diskursiven Sachverhalte abschließt oder Diskursanalyse mit gesellschaftsveränderndem Handeln verbindet64. (Vgl. S. Jäger 42004: 225) Bereits die Auswahl des Themenbereiches, die Erstellung des Textkorpus stellen für Jäger (ideologie)kritische Momente dar.65 Aus der theoretischen Annahme einer wechselseitigen Konstituierung von Diskursen und sozialer Wirklichkeit ergibt sich für die Kritische Diskursanalyse die Aufgabe, einerseits den Zusammenhang zwischen sprachlichen Mitteln und konkreten diskursiven Handlungen und andererseits die Wechselwirkung zwischen diskursiver Praxis und politischer, sozialer und institutioneller Wirklichkeit darzulegen.(Bluhm u.a. 2000: 4; vgl. auch S. Jäger 42004 und 2005)

Geht es der »Duisburger Schule« um den Interdiskurs als ein Netz von kollektiven Symbolen, das sich über die einzelnen Diskursstränge, Diskursfragmente66 spannt und einen Zusammenhang zwischen Handeln, Sprechen und

63

Vgl. hier Wengeler (2003: 151). Wengeler konstatiert in diesem Zusammenhang, dass kritische Diskursanalyse im Anschluss an Link und S. Jäger immer schon dem je eigenen „gesellschaftspolitischen Verständnis verpflichtet ist. Dadurch werden in den konkreten Analysen oft schon vor der als Zentrum der Arbeit apostrophierten ‚sprachwissenschaftliche[n] Materialaufbereitung‘ die Analyseergebnisse vorherbestimmt, so dass z. B. wenige selektive Belege aus dem öffentlichen Diskurs ausreichen, um diesen insgesamt als ‚rassistisch‘ oder ‚sexistisch‘ zu kennzeichnen.“ Wengeler (2003: 151). 64 „Basically, ‚critical‘ is to be understood as having distance to the data, embedding the data in the social, taking a political stance explicitly, and a focus on self-reflection as scholars doing research.“ Wodak (2001a: 9). 65 Natürlich wird auch in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die Zusammenstellung des Textkorpus nicht unabhängig von der jeweiligen Forscherperspektive und der zu Grunde liegenden Weltanschauung stattfindet, vielmehr wird bereits hier das interpretative Moment einer diskursanalytischen Zugriffsweise deutlich. Jedoch wird in dieser Arbeit bei der Analyse eine deskriptive Vorgehensweise präferiert. S. Jägers Interessen liegen diesbezüglich aber auf einem wertenden Moment kritischer Diskursanalyse. Vgl. Jäger (42004, Kap. 4). 66 Link spricht im Zusammenhang seiner in der Literaturwissenschaft angesiedelten Konzeption von Kollektivsymbolik. Auch er geht insbesondere auf den Machtaspekt von Diskursen ein. Unter Kollektivsymbolen versteht er Hervorbringungsmechanismen von Weltbildern oder Objektbereichen. Unter sie fallen Metaphern, Metonymien, Synekdochen, Analogien etc. Vgl. Wengeler (2003:152ff.); vgl. S. Jäger (42004: 134–142). Zur Analyse

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Denken, das kritische Diskursanalyse offenlegen soll, verkörpert, so stellt die »Kritische Wiener Diskursanalyse« die Verwobenheit der Analysedimensionen Inhalt, Argumente und sprachliche Realisierungsmittel dar, wobei hier alle möglichen Hintergrundinformationen mündlicher und schriftlicher Art in die Analyse mit einbezogen werden sollen. (Vgl. hier Titscher u.a. 1998: 192) Gegenstand ist eine qualitative Analyse einzelner, aus einem großen Textkorpus ausgewählter Texte. Hauptziel dieser Richtung innerhalb der Kritischen Diskursanalyse ist die Aufdeckung von Diskriminierungen.67 Fairclough zielt in seiner Ausformung von Diskursanalyse auf den Wandel von Diskursen im Zusammenhang mit soziokulturellem Wandel. Als Indikator von Diskurswandel sieht er Überschneidungen unterschiedlicher Diskurse durch Überschneidungen in Texten. Fairclough unterscheidet dabei zwischen drei gesellschaftlichen Domänen, die ineinander greifen und sich gegenseitig beeinflussen: die Domäne der Glaubens- und Wissenssysteme, die Ebene der sozialen Beziehungen und die Ebene der sozialen und personalen Identitäten. In jeder sprachlichen Äußerung sind alle drei Dimensionen vorhanden, so Fairclough. (Vgl. Titscher u.a. 1998: 183–187; vgl. Fairclough 1995: 55) Entsprechend sind diskursive Ereignisse hinsichtlich dreier Dimensionen zu beschreiben: a) die textuelle Dimension b) die Dimension der diskursiven Praxis und c) die Dimension der sozialen Praxis.68 Durch sprachliche Äußerungen wird somit nicht nur Wissen konstruiert, sondern auch soziale Beziehung. Erst alle drei Dimensionen konstituieren Wirklichkeit. Diskursanalyse als Analyse vertikaler Strukturen Diese Ausrichtung linguistischer Diskursanalyse befasst sich mit der vertikalen Strukturiertheit, d. h. mit der Binnendifferenzierung von Diskursen im Hinblick auf gesellschaftliche Wissensverteilung und nimmt somit das diskursive Kriterium der Wissensformation auf. Wichter und Busch als Vertreter dieser Richtung verstehen unter einem Diskurs zunächst ganz allgemein in Analogie zum Gespräch ein prototypisches Gesellschaftsgespräch69, das aus einer von Diskurssträngen und -fragmenten vgl. S. Jäger (42004: 188–214); vgl. S. Jäger (2001: 46–61) und (2005: 59–69). 67 Vgl. Wodak (2001a, b). Wodak gibt hier einen Überblick über die Entstehungsgeschichte, wichtige Konzepte und Schulen sowie Entwicklungslinien und Ziele der kritischen Diskursanalyse (=CDA). Vgl. zum inhaltlichen Gegenstand beispielsweise Matouschek u.a. (1995). 68 Vgl. Titscher u.a. (1998: 183–187); vgl. Fairclough (1995); vgl. Fairclough (2001: 122– 127). 69 Vgl. Wichter (2001, 1999a, b) sowie Busch (2004). Der Unterschied zum Gespräch besteht freilich u.a. in der Sukzessivität des Diskurses über einen längeren Zeitraum hinweg, die sich durch die Zeitversetzung der Entstehung der Texte ergibt. Vgl. dazu Warnke (2002) sowie Wichter (1999b: 275). Darüber hinaus hat der Diskurs keinen festgesetzten Anfang und kein Ende wie es etwa ein Gespräch hat.

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Serie von Texten und damit verbunden von Texthandlungen besteht bzw. als Äußerungsensemble aufgefasst wird und ein gesellschaftlich relevantes und verhandeltes Thema beinhaltet (vgl. Wichter 1999b: 275). Der Diskurs stellt demnach ein Textgeflecht dar, dessen Texte durch textoberflächenstrukturelle und texttiefensemantische Relationen aufeinander Bezug nehmen.70 Dabei stellen sie die Kommunikation und Kommunikativität der Sprache innerhalb von Diskursen in das Zentrum ihres Interesses. Die Frage ist nur, ob – wenn man die Kommunikation als Gegenstand der Linguistik prinzipiell akzeptiert – man bereit ist, sie auch in ihrer ganzen Komplexität zu verfolgen. Tut man dies, gelangt man notwendigerweise auch zum Diskurs. (Wichter 2001: 252)71

Als eine Grundbedingung von Kommunikation wird die Ungleichheit hinsichtlich der Verteilung von Wissen innerhalb einer Gesellschaft herausgestellt. Die einzelne Person ist nicht mehr in der Lage das gesamte Wissen ihrer Zeit in Erfahrung zu bringen, was in der zunehmenden Ausdifferenzierung der einzelnen gesellschaftlichen Bereiche und der jeweiligen Systeme seinen Grund hat. Wichter konstatiert, dass diese Diskrepanz zwischen kollektiv Verfügbarem und individueller Kompetenz [...] im Laufe der Entwicklung noch größer werden [dürfte], auch deshalb, weil die Akkumulierung des Wissens immer weniger auf die Größenordnung einer einzigen Gesellschaft zugeschnitten ist als vielmehr auf die Größenordnung ganzer Gesellschaftsgruppen. (Wichter 2001: 257f., Hervorh. im Original)

Aus der Ungleichheit der Wissensverteilung resultieren unterschiedliche Wissensniveaus, die sich sprachlich manifestieren und mit der Vertikalitätstheorie linguistisch beschreibbar sind. Dabei fassen sie Diskursvertikalität neben Diskursprogression, Diskurspersuasion und Diskurswortschatz als eine Diskursdimension, die über die Wissensverteilung innerhalb des Diskurses Aufschluss gibt (vgl. Busch 2007). Dabei werden die einzelnen Wissensniveaus beispielsweise auf lexikalischer Ebene sowohl diachronisch als auch synchronisch miteinander verglichen; Bezugspunkt bildet die höchste Wissensstufe des Expertenwissens. Die Unterschiede im Hinblick auf die höchste Stufe werden dann in bestimmten Besetzungstypen gefasst und je nach Abstufungsgrad eher dem Laien- oder dem Expertenwissen zugeordnet.72 Die Abstufung kann nicht nur 70

71 72

Hier schließen sie an Busse (1987) und Busse/Teubert (1994) an. Deren Konzept einer Diskurssemantik wird im folgenden Abschnitt erläutert. Wichter und Busch setzen aber insofern eigene Akzente als sie die Vertikalität von Wissen innerhalb von Diskursen betonen. Vgl. dazu auch Busch (2004:126). Busch verweist an dieser Stelle auf die Notwendigkeit einer Integration des Diskursbegriffes in ein kommunikatives Handlungsmodell. Wichter spricht hier von Gleichbesetzung, Näherungsbesetzung, Falschbesetzung und Nullbesetzung. Wichter (2001: 258). Vgl. hier auch Busch (2004, 2007).

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die Sache betreffen, sondern auch die Person, deren Wissen sich über einen gewissen Zeitraum wandeln kann. So können Diskurse vielfach gegliedert sein. Während sich aber die Verteilung der Abstufung auf der Makroebene, also auf Diskursebene nicht ändert, kann dies hinsichtlich der Mikroebene schon der Fall sein, insofern einzelne Gespräche oder die Rezeption einzelner Texte zur Gleichverteilung führen können (vgl. Wichter 2001: 262). Mit ihrer Konzeption von Diskursanalyse und der Binnendifferenzierung von Diskursen nach Vertikalitätstypen plädieren sie explizit für die interdisziplinäre Ausrichtung der Linguistik, was schon allein durch den Gegenstand der Diskursanalyse und der damit verbundenen Inhalte gegeben ist. Sie sind sich aber auch bewusst, dass ihr Ansatz nur einer von vielen ist und die Einteilung der Kommunikation nach den von ihnen vorgenommenen Kategorien ebenso aus anderer Perspektive erfolgen kann.73 Diskursanalyse als historische Semantik oder linguistische Diskursgeschichte Die durch die Historiker Koselleck und Reichardt favorisierten Methoden und Forschungsziele einer historischen Semantik fanden in der Linguistik zunehmend Resonanz und wurden in auf linguistische Fragestellungen spezifizierter Weise rezipiert.74 So legte Busse (1987) mit seiner Schrift Historische Semantik eine theoretische Begründung eines Programms vor, welches neben der Bedeutungs- und Sprachtheorie des späten Wittgensteins, der Theorie des Meinens von Grice, der Theorie des Verstehens von Hörmann oder der Theorie der Konvention von Lewis vor allem den Diskursbegriff Foucaults in Anspruch nimmt, um die Generierung von Bedeutung, Sinn und Wissen innerhalb von Diskursen anhand eines Kommunikationsmodells zu erklären.75 Dabei orientiert sich Busse zugleich sozialwissenschaftlich, insofern „Sprachwissenschaft letztlich stets eine Wissenschaft von Aspekten sozialer Interaktion darstellt.“ (Busse 2003a: 178) Sobald „Serien diskursiver Ereignisse sich zu Regelmäßigkeiten verdichtet haben“ (Busse 2003a: 180), gilt ein Diskurs als etabliert. Diskurs wird damit in den Kontext kommunikativer In73 74

75

Diese Sichtweise unterstreicht nochmals die Komplexität von Diskursen. Aus forschungspraktischen Gründen ist man immer darauf angewiesen, eine bestimmte Perspektive einzunehmen, die allerdings offengelegt werden sollte. Vgl. dazu auch Busse/Teubert (1994). Insbesondere das Ungenügen an der im deutschen Forschungsraum dominierenden Begriffsgeschichte führte dazu, diese kritisch zu beleuchten und Alternativkonzepte vorzuschlagen. Vgl. hier Busse (1987: 11–14, 43–77) und Wengeler (2003: 11–24); vgl. auch Bödeker (2002: 12ff.). In zahlreichen Aufsätzen befasst sich Busse mit der Implementierung des foucaultschen Diskursbegriffes in die linguistische Theoriebildung. Dabei entwickelte und etablierte er unter dem Begriff Diskurssemantik eine Form der linguistischen Diskursanalyse. Mit seinen Schriften trug er wesentlich zur Etablierung der foucaultschen Position innerhalb der Linguistik bei. Vgl. Busse (1987, 1989, 1993, 1994, 1996, 1997, 2000a, 2000b, 2001, 2002, 2003a, 2003b, 2005 und 2007).

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teraktionen gestellt und Sprechen als Handeln aufgefasst. Mit dieser Ausrichtung linguistischer Diskursanalyse sind (neben Busse) Arbeiten von Teubert oder Hermanns (»Heidelberger/Mannheimer Schule«) oder der »Düsseldorfer Schule« um Stötzel, Böke, Jung und Wengeler in Verbindung zu bringen76. Die Wurzeln der historischen Semantik sind in der Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte zu sehen. Doch wendet sich Busse mit dem Konzept der historischen Semantik nicht gegen Begriffsgeschichte, vielmehr begreift er sein Projekt als Ergänzung derselben, insofern der Untersuchungsgegenstand auf alltagssprachliche Texte ausgeweitet und nicht mehr nur wissenschaftlich-philosophische Literatur zur Grundlage von Untersuchungen erklärt wird, anhand derer Begriffe kontextenthoben beschrieben werden. (Vgl. Bluhm u.a. 2000: 7) Das Ziel der historischen Semantik Busses besteht in der Schreibung einer Sprachgeschichte als Bewusstseins- und Mentalitätsgeschichte durch die Beschreibung der „begrifflichen Konstruktion der Wirklichkeit“ einerseits und die Offenlegung impliziter Bewusstseins- und Wissensstrukturen einer Gesellschaft andererseits, die sich unbewusst in Texten sprachlich manifestieren oder als selbstverständlich vorausgesetzt werden und durch Sprachanalyse aufgedeckt werden können. Dabei betrachten sie das sprachliche Zeichen als ein grundsätzlich in Kontexten und bestimmten Situationen eingebettetes und davon abhängiges Zeichen. Gegenstände, Entwicklungen des Denkens etc. werden dabei nicht einfachhin als der Sprache vorgegeben betrachtet, vielmehr werden sie durch sprachliches Handeln, durch den Gebrauch bestimmter lexikalischer Mittel und Argumentationsweisen in Diskursen erst konstituiert. (Vgl. Wengeler 2003: 137ff.) Diskursanalyse muss immer im Kontext von gesellschaftlicher Sinnkonstitution betrachtet werden, zugleich ist sie kulturwissenschaftlich verankert.77 Busse formuliert das Anliegen der Diskurssemantik als von Beginn an sowohl diachron als auch epistemologisch orientiert, d. h. sozial- und kulturhistorisch motiviert. Kurz: Sie zielten und zielen auf eine historische Epistemologie, eine Wissens- und Bewusstseingeschichte, die die Repräsentation des gesellschaftlichen Wissens einer Zeit in ihrem sprachlichen Niederschlag aufspürt und sie in ihrer Genese, ihren Konstitutionsbedingungen, ihren kulturhistorischen Traditionslinien und ihren epistemischen Tiefenströmungen offenlegt. (Busse 2003a: 177)

Die Basis für die Diskurssemantik stellt ein Textkorpus als Zugriffsobjekt dar, das thematisch bestimmt ist und aus Einzeltexten besteht. Die Diskursivität ergibt sich durch den intertextuellen Bezug der Texte untereinander. 76

Vgl. u.a. Busse (1987), Busse/Teubert (1994), Hermanns (1994, 1995) (Heidelberger/ Mannheimer Gruppe) sowie Stötzel/Wengeler (1995), Böke (1996a und b), Jung (1996) und Wengeler (1997) (Düsseldorfer Schule). 77 Vgl. dazu die Ausführungen von Warnke (2002a: 15f.); vgl. Busse (2003a: 176, 184) sowie Gardt (2003).

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Eine sprachtheoretische Grundlegung der historischen Semantik, die – wie es ihre unabdingbare theoretische Voraussetzung ist – die Prozesse der Bedeutungskonstitution, der Bedeutungskonstanz oder –tradierung und des Bedeutungswandels erklären können soll, muss erklären können, in welcher Weise gesellschaftliches Wissen in die Konstitution und den Wandel von Wort- und Textbedeutungen eingreift. (Busse 2003a: 182)

Die »Düsseldorfer Schule« schließt direkt an die theoretische Konzeption der historischen Semantik von Busse, Teubert und Hermanns an. Kennzeichnend für die »Düsseldorfer Schule« ist vor allem die empirische Umsetzung des von Busse, Teubert und Hermanns formulierten theoretischen Programms sowie die Weiterentwicklung linguistischer Diskurstheorie. Jung (1996, 2000) beispielsweise fasst Diskurse nicht als Textkorpora, sondern als Aussagengeflechte, da dadurch große Textmengen in die Analyse mit einbezogen werden können. Texte werden demnach nicht vollständig analysiert, sondern bilden vielmehr den Rahmen für die relevanten Aussagen. (Vgl. Jung 1996: 455–459; vgl. Jung 2000: 21–25) Untersucht werden vor allem der Diskurswortschatz und dessen Kontext, sowie Metaphorik oder Argumentationsmuster.78 Die einzelnen Untersuchungsebenen der Diskurse müssen jeweils entsprechend dem Forschungsziel festgelegt werden. Prinzipiell ist aber die Untersuchung eines Diskurses auf allen sprachlichen Ebenen möglich. Im Gegensatz zur kritischen Variante der Diskursanalyse geht diese Ausrichtung der Diskursanalyse deskriptiv-analytisch vor. Busse beschreibt historisch-semantische Diskursanalyse als eine „deskriptiv und analytisch zugleich verfahrende Wissensanalyse“, die in erster Linie Relationen beschreibt und Dispositionen expliziert.79 Ausgangspunkt einer derartig verfassten Sprachgeschichtsschreibung bilden Texte. Linguistische Diskursanalyse wird hier also als Textanalyse begriffen.80

78

Vgl. hier u.a. die empirischen Arbeiten von Jung (1996), Wengeler (2003, 2006), Böke (1991, 1996a u. b) oder Niehr (2004, 2006). 79 Busse (2003a: 181). Vgl. auch Busse (2007). Hier befasst sich Busse mit der Rahmenanalyse als eine Methode, die geeignet scheint, Bedingungen der Möglichkeit von Wissensformationen freizulegen, z. B. durch semantische Grundfiguren. 80 Weitere theoretische Auseinandersetzungen mit dem poststrukturalistischen Diskurskonzept finden sich im Kontext der Erweiterung der Textlinguistik bei Warnke (2002a und b, 2007), Warnke/Spitzmüller (2008), Spieß (2008), Stenschke (2004), Heinemann/ Heinemann (2002), Adamzik (2004) oder auch Fraas (2004, 2006) oder Fraas/Klemm (2005a und b). Sowohl Aspekte der historischen Semantik als auch der kritischen Diskursanalyse nimmt Spitzmüller (2005) in seine Konzeption der Diskursanalyse auf. Vgl. Spitzmüller (2005: 43).

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2.3.2 Foucault: Übernahmen, Modifikationen und Abgrenzungen Der Diskursbegriff Foucaults ist – wie bereits angedeutet – für die Linguistik nur bedingt brauchbar. Es bedarf also einer Modifizierung des Foucaultschen Diskursbegriffes und der diesbezüglichen diskurslinguistischen Kriterien sowohl in theoretischer als auch in methodologischer Hinsicht. Zwar hat Foucault selbst davon gesprochen, seine Schriften als „Werk zeugkiste“ zu gebrauchen. Hier sollen jedoch konkrete Anknüpfungspunkte an seine Theorie und Vorgehensweise herausgestellt werden. Dabei schließt die vorliegende Arbeit an Überlegungen an, die in den oben dargestellten Tendenzen linguistischer Diskursanalyse bisher angestellt wurden. Die theoretischen Modifikationen werden innerhalb dieses Kapitels vorgestellt. Überlegungen zur Methode erfolgen dann in Kapitel 3 dieser Arbeit. Betrachtet man die Implikationen des foucaultschen Diskursbegriffes und die spezifischen Erkenntnisinteressen einer linguistischen Pragmatik, so ergeben sich auf den ersten Blick einige Differenzen: So kann ein linguistischer Diskursbegriff nicht von einem strukturalistischen Sprachbegriff ausgehen, denn Untersuchungsgegenstand sind ja konkrete Sprechhandlungen; insofern bietet es sich an, den linguistischen Diskursbegriff in ein handlungstheoretisch fundiertes Kommunikationsmodell zu integrieren, das heterogene Aspekte der Sprache, insbesondere deren Handlungspotenzial umfasst, um die interaktive Generierung von Sinn und Bedeutung beschreiben zu können. Dementsprechend muss der Ebene der sprachlichen Manifestationen eine andere Bedeutung zugewiesen werden als Foucault dies tat, denn Aussagen lassen sich in erster Linie auf der sprachlichen Ebene erfassen, da sie dort erscheinen.81 Des Weiteren muss das linguistische Erkenntnisziel erweitert werden. [...] es geht [auch, Erg. C. S.] darum, die in den Texten konstruierten Wirklichkeiten bzw. Wirklichkeitssichten zu analysieren. Insofern geht es aber gerade um das im Text Gesagte und nicht um die Voraussetzungen, die das im Text Gegebene möglich gemacht haben. (Wengeler 2003: 83)

Wobei das im Text Gesagte wiederum Voraussetzung für das in Folgetexten Gegebene sein kann. Linguistischer Diskursanalyse geht es also um zwei Dinge: Auf Grund der Einbeziehung der Faktoren Situation und Kontext um 81

Vgl. Busse (1987: 227). Busse konstatiert hier nochmals das Ungenügen des foucaultschen Sprachbegriffes. „Mit einem solchen [Sprach]Konzept kann nicht mehr erklärt werden, weshalb in sprachlichen Sequenzen Wissensstrukturen zum Ausdruck kommen, die verschieden sein können, obwohl die Worte identisch sind. Indem er Sprache auf die Beziehung eines Zeichens zu einer systematisch angebbaren ‚Bedeutung‘ reduziert, muß er die epistemisch relevanten Momente sprachlicher Äußerungen hinter die Sprache selbst verlegen und mit einem fragwürdigen eigenen Status (als ‚Aussagen‘) versehen.“ Busse (1987: 243).

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die Möglichkeitsbedingungen des in den Texten Gesagten und um die in den Texten konstruierten Wirklichkeiten selbst. Die Ausblendung der Sinnkonstitution durch das Gesagte, wie es Foucault anstrebt, ist für den linguistischen Diskursbegriff problematisch, weil es bei Sprechakten immer um Sinnkonstitution geht.82 Da es immer auch um Sinn und Verstehen geht83, darf die Hermeneutik nicht ausgeblendet werden, wie Busse konstatiert. Diskursanalyse, als Offenlegen von Feldern, Konnexen von Sinn, kann sich nicht, wie Foucault es darstellt, als Aufzeigen quasi-objektiver ‚Positivitäten‘ vollziehen. Sie verbleibt, ihm entgegen, im Bereich der Interpretation, d. h. des Verstehens von Zusammenhängen. (Busse 1987: 250, Hervorh. im Original)

Zudem muss mit der Orientierung am Diskurskonzept Foucaults eine Erweiterung des linguistischen Textbegriffes erfolgen, der nicht mehr nur den singulären Text im Blick hat, sondern den Text im Kontext anderer Texte begreift. Im Zuge der Erweiterungstendenzen der Textlinguistik stellen Warnke (2002a, b) und Wichter (1999a, 1999b, 2001) die Notwendigkeit eines textübergreifenden Textbegriffes heraus; als Text übergreifende Ebene und Größe wird damit die Ebene des Diskurses in Anspruch genommen. Texte werden zwar immer noch als singuläre und funktionale Handlungseinheiten mit einem relativen Subjektbezug betrachtet, zugleich aber in einen größeren Handlungskontext, den Diskurs, verortet.84 Hier schließt sich direkt die Ent wicklung eines Analyseverfahrens an, das diesen verschiedenen Aspekten möglichst gerecht werden soll85. Um das Diskurskonzept Foucaults für linguistische Untersuchungen zu operationalisieren, muss es meines Erachtens mit dem bereits oben vorgestellten pragmatischen Sprachbegriff verbunden werden. Das bedeutet aber auch, dass dem Subjekt einerseits und sprach-/textexternen situationellen und kontextuellen Faktoren andererseits gleichermaßen eine wichtige Stellung zukommt. Die Einbeziehung der sozialen Situation und des aktuellen Kontextes stellt eine Bedingungsmöglichkeit von Diskursen in der Konzeption Foucaults dar, so konzipiert Foucault Subjekte als geschichtsimmanent und kontextuell

82 Vgl. dazu Wengeler (2003: 84). Hörmann spricht von der Sinnkonstanz. Demzufolge kann der Mensch nicht nicht-hermeneutisch vorgehen, da er allem eine Bedeutung beimessen möchte. Vgl. dazu Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit, in dem der Aspekt des Verstehens innerhalb des Faktorenmodells kommunikativer Handlungen näher erläutert wird. Vgl. Hörmann (41994). 83 Vgl. Busse (1987: 250); vgl. hier auch Dreyfus/Rabinow (21994), die Foucaults Schaffen in den 70er Jahren von einer interpretativen Vorgehensweise geprägt sehen. Foucaults Methode bezeichnen sie dann auch als „interpretative Analytik“. Dreyfus/Rabinow (21994: 12, 133–155). 84 Mit Subjektbezug wird eine Subjektrolle, die entsprechend der Situation und des Kontextes eingenommen wird, in Verbindung gebracht. Vgl. dazu auch Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit. 85 Zur Methode vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit.

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gebunden. Subjekte sind zwar nicht die originären Schöpfer von Diskursen, vielmehr liegt diese in einem „anonymen Feld“ (AW: 177) von Praktiken, dennoch beeinflussen Subjekte (unbewusst) diskursive Formationen durch einzelne intentionale Sprechakte etwa im Sinne von Kellers Invisible-handTheorie.86 Die Linguistik muss demnach intentionales Sprachhandeln für die einzelnen Sprechakte innerhalb ihres Diskursbegriffes annehmen und voraussetzen, gleichzeitig aber deren Abhängigkeit von außersprachlichen Faktoren annehmen. Das Subjekt im pragmatischen Kontext ist somit ein von gesellschaftlichen und sozialen Praktiken abhängiges, geschichtsimmanentes und kontextuell gebundenes Subjekt, das dennoch genügend Freiräume hat, sprachlich zu handeln87. Vor dem Hintergrund der hier angedeuteten Modifikationen am Diskurskonzept Foucaults aus linguistischer Perspektive werden im Folgenden zentrale Merkmale eines linguistischen Diskursbegriffes herausgestellt, denn Diskurse lassen sich im Anschluss an die Diskurstheorie Foucaults mit bestimmten Merkmalen als Merkmalbündel beschreiben. 2.3.3 Merkmale eines linguistischen Diskursbegriffes Busse und Teubert fassen in ihrer methodischen Diskurskonzeption Diskurse folgendermaßen: Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/ oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen, den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen in Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen, und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch erschließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden. (Busse/Teubert 1994: 14)

Das konkrete Diskurskorpus repräsentiert als Teilkorpus sozusagen das virtuelle Korpus, das letztlich nie abgeschlossen sein kann und stellt eine gewisse

86 Vgl. Warnke (2000), der einen Zusammenhang zwischen Invisible-hand-Theorie und diskursiver Praxis herstellt; vgl. auch Foucaults letzte Schaffensphase, die die Wechselwirkung von Diskurs und Subjekt thematisiert. Vgl. dazu Kapitel 2.2.4. 87 Vgl. hier Spieß (2007). Formen von Handlungsspielräumen hat Foucault in seinem späteren Schaf fen selbst herausgestellt. Butler, die sich explizit auf Foucaults Diskurskonzept bezieht, hat ebenfalls die Möglichkeit von Handlungsspielräumen gesehen und in das Konzept eingebaut. Davon wird in Kapitel 2.3.4 ausführlicher die Rede sein.

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forschungspraktisch begründete Einheit dar, insofern die Texte thematisch aufeinander verweisen. Mit der Erstellung des Textkorpus ist der Forscher zudem an der Konstitution des Diskurses beteiligt. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass das, was als Diskurs gilt immer auch durch die Voraussetzungen des Analysierenden und dessen eigene Perspektivität beeinflusst und konstruiert wird bzw. ist. Die Auswahl stellt sozusagen einen interpretativen Akt dar, der bei der Analyse bewusst bleiben muss. (Vgl. Busse/Teubert 1994: 14–18; vgl. Jung 2000: 22f.) In der vorliegenden Arbeit wird insofern dem Diskursbegriff von Busse/Teubert gefolgt, als der Untersuchung ein Textkorpus zu Grunde liegt, das durch ein gemeinsames Thema konstituiert ist. Die Analyse selbst setzt – wie noch zu zeigen sein wird – unterhalb der Textebene an und umfasst in Texte eingebettete Aussagenkomplexe, Argumentationsmuster, Metaphern und lexikalische Einheiten, die thematisch dem Diskurs zuzuordnen sind. Die Diskursebene kommt schließlich im Zusammenspiel der miteinander in Bezug stehenden Texte und Einzelaussagen zur Geltung. Bevor jedoch auf die Methode näher eingegangen wird, soll zunächst an dieser Stelle eine theoretische Explikation des hier zu Grunde liegenden und entwickelten Diskursbegriffes erfolgen. Im Anschluss an Foucault und die linguistische Bearbeitung des Diskursbegriffes durch Busse, Busse/Teubert und Warnke88 lassen sich auf theoretischer Ebene Diskurse als ein Bündel von Merkmalen beschreiben, wobei einige der Merkmale vor allem auf Diskurse im öffentlichen Raum zu beziehen sind (siehe Übersicht 2.3-1). Da die einzelnen Diskursmerkmale unterschiedlich komplex sind und zum Teil aufeinander aufbauen, ergibt sich in der Darstellung und Erläuterung der Merkmale eine unterschiedliche Gewichtung. Relevant für die Gewichtung der Merkmale ist die Perspektive, unter der der jeweilige Diskurs und die den Diskurs konstituierenden Texte betrachtet werden. Zu den komplexen Merkmalen zählen Massenmedialität und Öffentlichkeit sowie Dialogizität und Intertextualität, da hier auch theoretische Hintergründe der Begriffe expliziert werden. Die Merkmale Massenmedialität und Öffentlichkeit treffen natürlich nur dann zu, wenn es sich um in der Öffentlichkeit stattfindende Diskurse handelt; aber auch bei Diskursen, die einem relativ eingeschränkten Kreis zugänglich sind, kann zumindest von Teilöffentlichkeiten gesprochen werden. Öffentlichkeit/Teilöffentlichkeit als Merkmal von Diskursen trifft also insofern zu, als Diskurse sprachliche Handlungsräume darstellen, in denen unterschiedliche Diskursakteure öffentlich agieren und den Diskurs durch serielle und diskursive Ereignisse erst konstituieren (vgl. Busch 2004: 12; vgl. Busse 1996). Es müssen demnach nicht alle Merkmale auf einmal zu-

88 Vgl. Busse (1987), Busse/Teubert (1994) sowie Warnke (2002a und b).

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Diskursmerkmale

Erläuterungen

Thematisch gebundener Textverband Diskursivität

bestehend aus Texten verschiedener Teildiskurse und Diskursbereiche, was zu Diskursverschränkungen führt

Serialität und Ereignishaftigkeit

die Serialität von Ereignissen konstituiert das Thema des Diskurses

Prozessualität und Sukzessivität

Nacheinander und polyphones Nebeneinander von Texten

Intertextualität und Dialogizität

Konstituierung von Texten durch Texte, Diskursivität durch Intertextualität, gegenseitiger Bezug der Texte aufeinander

Gesellschaftlichkeit und soziale Praxis

gegenseitige Bedingtheit von Sprache und Gesellschaft, Einbettung des Diskurses in soziale, außersprachliche Praktiken

Öffentlichkeit und Massenmedialität

Grundlage und Bedingung öffentlichpolitischer Diskurse

Übersicht 2.3-1: Diskursmerkmale

treffen und gleichermaßen ausgeprägt sein, um von einem Diskurs zu sprechen. Als konstitutiv für einen Diskurs können aber die Merkmale Serialität, Sukzessivität, Prozessualität, gemeinsames Thema und Diskursivität ausgemacht werden. 2.3.3.1 Serialität, Prozessualität, Sukzessivität und Diskursivität thematischer Textverbünde Wichtige Merkmale von Diskursen, die die Konstitution eines thematisch gebundenen Textverbandes überhaupt erst ermöglichen stellen Serialität, Prozessualität, Sukzessivität und Diskursivität dar. Wie bereits bei Foucault erörtert, wird die Einheit des Diskurses durch die Zugehörigkeit der verschiedenen Texte und Aussagen zu einem gemeinsamen Thema konstituiert. Die Entstehung von Diskursen erfolgt dabei nicht homogen und gleichzeitig. Vielmehr entsteht der Diskurs innerhalb eines bestimmten – oftmals auch recht langen – Zeitraumes durch prozessuales und sukzessives Erscheinen der als Ereignis aufgefassten Texte, die aufeinander Bezug nehmen, so dass innerhalb eines Diskurses ein polyphones Nebeneinander von Texten zu verzeichnen ist. Dabei grenzen sich die unterschiedlichen Diskurse nicht strikt von einander ab. Es kommt sozusagen zu gewissen Diskursverschränkungen durch Textver-

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netzungen, da die einzelnen Texte zu verschiedenen Diskursen gleichzeitig gehören können. Die Serialität des Erscheinens von Texten und Aussagen ist neben dem gemeinsamen Thema als zentrales Kriterium für die Zugehörigkeit zu einem Diskurs zu nennen und kann zugleich als typische Eigenschaft von Texten betrachtet werden. Seriell sind Vertextungen immer dann, wenn der Transfer von Mustern bzw. die Tradierung von Inhalten und formalen Texteigenschaften neue Texte generiert. Wir können dies als Prinzip der Reproduktion bezeichnen. Jeder Einzeltext muss vor einem solchen Reproduktionshintergrund betrachtet werden, er steht immer im Spannungsfeld von Einmaligkeit und wiederholter Vielheit, jeder historische Text ist Teil einer Serie. (Warnke 2002b: 133)

Texte sind somit keineswegs singuläre Ereignisse, vielmehr basiert gerade auch die Musterhaftigkeit und Zugehörigkeit zu bestimmten Textsorten auf Serialität und diskursiver Einbettung in einen größeren Zusammenhang. (Vgl. dazu auch Derrida 2001b: 32; vgl. Warnke 2002b: 132ff.) Serialität, Prozessualität und damit verbunden Sukzessivität sind Bedingungen für die Text übergreifende Extension von Diskursen und die damit einhergehende Konstitution bzw. Erweiterung des Textbegriffes (vgl. Jung 2000: 23ff.). Warnke plädiert für die Integration des Diskurses in die Textlinguistik, insofern der Textbegriff im Hinblick auf Text übergreifende Strukturen konzipiert werden muss.89 Diskurse sind also als serielle Verbünde textueller Ereignisse mit dialogischer Kommunikationsausrichtung zu begreifen90, die in sich regelhaft sind. Das Merkmal der Sukzessivität von Diskursen erlaubt eine diachrone Betrachtungsweise, was vor allem im Hinblick auf Sprach- und Bedeutungswandel relevant ist und von der linguistischen Diskurssemantik favorisiert wird. (Vgl. Busse 1987; vgl. Warnke 2000) Dass Texte keine singulären Ereignisse sind, bedeutet aber nicht, dass der Subjektbezug nicht vorhanden ist. Für einen linguistischen Diskurs- und Textbegriff muss der Text an subjektives, intentionales Handeln und damit an eine Textfunktion gebunden sein. Auch die funktionale Betrachtung von Texten erfolgt kontextuell, d. h. innerhalb von Diskursen. Oftmals ergeben sich Textfunktion und Diskursivität der Texte erst aus der Stellung des Einzeltextes im Verbund. Girnth (1996) hat hierfür eine Klassifikation vorgelegt, die die Stellung und Funktion der Texte innerhalb des komplexen diskursiven Handlungsgefüges erfasst. Anhand bestimmter Merkmale wie initial, prozessual und terminal kann die Funktion des Textes hinsichtlich des 89

Vgl. Warnke (2002a: 10). Diese Formulierung des Textbegriffes wird durch das Merkmal und Konzept der Intertextualität näher beschrieben, was weiter unten erfolgt. Warnke spricht diesbezüglich auch von der „Entgrenzung des Textbegriffs“. Komplementär dazu könnte man auch von der Integration der Textlinguistik in die Diskurslinguistik sprechen. 90 Vgl. Wichter (1999a: 255ff.; 1999b: 265ff.); vgl. auch Jung (2000: 25ff.)

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Diskursverlaufs beschrieben werden. Variable Texte können an verschiedenen Stellen des Diskurses erscheinen, so gibt es Texte mit hoher Variabilität und sehr geringer Variabilität (z. B. Gesetzesantrag). Wie stark ein Text im Diskurs verankert ist und welche Relationen zu anderen Diskursen gegeben sind, lässt sich mit den Eigenschaften diskursimmanent, diskurstranszendent, diskursperipher und intradiskursiv beschreiben. Die Merk male metadiskursiv und meta-metadiskursiv geben Aufschluss über die Reflexionsebene der Texte. Die mit dem Merkmal diskursdominierend bezeichneten Texte nehmen eine herausragende Stellung im Diskurs ein, sie beeinflussen den Diskursverlauf sehr stark. Darüber hinaus können die Texte in Primärtexte und Sekundärtexte klassifiziert werden, wobei Sekundärtexte auch als Metatexte bezeichnet werden, die auf den Primärtexten basieren (z. B. Kommentare, Leitartikel). (Vgl. Girnth 1996: 71–74) Unter Diskursivität kann demnach ein „kommunikativer Zusammenhalt“ (Warnke 2002b: 136) oder eine kommunikative Relationalität von Texten innerhalb eines seriell strukturierten Textverbundes verstanden werden. (Vgl. hierzu auch Girnth 1996: 68) Zudem ist Diskursivität als ein Merkmal von Texten einerseits und von Diskursen als der Bedingungsmöglichkeit der Existenz von Texten andererseits aufzufassen. Die Existenz der Einzeltexte ist also unmittelbar auf Handlungsintentionen im Rahmen von anonymen Regulativen zu sehen. [...] Es ist davon auszugehen, dass die Entstehung von Textmustern und damit die Okkurrenz von Texten den zeittypischen Diskursregeln folgt. Texten kommt damit das Merkmal der Diskursivität zu. (Warnke 2002b: 136)

Textmusterhaftigkeit ergibt sich somit durch das wiederholte Auftauchen im Diskurs, welches an bestimmte Regeln gebunden ist (vgl. AW: 42). Die einzelnen thematisch gebundenen Diskurse wiederum bestehen aus unterschiedlichen Teilbereichen des Diskurses, die auch wieder mit anderen Diskursen verschränkt sind, so dass sich die Strukturen von Diskursen als Textnetze bzw. als Textvernetzungen beschreiben lassen. Texte sind also Teile von Diskursen; innerhalb der linguistischen Diskursanalyse werden sie nicht isoliert, sondern im „Verbund koexistierender Texte“ betrachtet. (Warnke 2002b: 131) Da ein einzelner Text nicht ausschließlich einem Diskurs zuzuordnen ist, sondern zumeist verschiedene Diskursbereiche thematisiert, kommt es innerhalb von Texten bereits zu Diskursverschränkungen. Die verschiedenen Diskursbereiche können bestimmten Kommunikationsbereichen und Handlungsfeldern zugeordnet werden91. Als Kommunikationsbereiche können zunächst grob unterschieden werden: Politik, öffentliche Rede/Öf-

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Vgl. hier Kapitel 2.4 dieser Arbeit, in dem auf Handlungsfelder im Kommunikationsbereich Politik eingegangen wird.

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fentlichkeit, Wissenschaft, Presse und Publizistik, Alltag, Literatur92 ; diese Kommunikationsbereiche lassen sich entsprechend weiter differenzieren und können unterschiedlichen Handlungsfeldern zugeordnet werden. Für den Kommunikationsbereich Politik schlägt Girnth die Unterteilung in die Handlungsfelder der öffentlichen Meinungsbildung, der Meinungs- und Willensbildung in Institutionen, der Politischen Werbung und der innerparteilichen Meinungsbildung vor. (Vgl. Girnth 2002: 37f.) Tatsächlich lassen sich die einzelnen Bereiche und Handlungsfelder nur schwer klar abgrenzen, Überschneidungen sind üblich. So können in der Praxis nicht einfachhin einzelne Textsorten ausschließlich einem Kommunikationsbereich zugeordnet werden, die Übergänge sind hier fließend. Zum anderen können einzelne Textsorten – bedingt durch ihre Polyfunktionalität – schon innerhalb eines Kommunikationsbereiches verschiedenen Handlungsfeldern zugeordnet werden und erst recht in unterschiedlichen Kommunikationsbereichen vorkommen, so dass die analytische Trennung der Bereiche zur Systematisierung zwar sinnvoll ist, freilich aber im Bewusstsein bleiben sollte, dass dies nur auf theoretischer Ebene möglich und bedeutungsvoll ist. Auch diesbezüglich zeigt sich die starke Vernetzung und Verschränkung von Texten. Die thematische Zusammengehörigkeit lässt sich mit den Worten Foucaults auch als Wissensformation beschreiben. Wissen wird innerhalb von Diskursen mittels Sprache konstituiert und transformiert. Für die linguistische Diskursanalyse stellt das ausgewählte Textkorpus die Basis für alle weiteren Untersuchungen dar. Die hier beschriebenen Merkmale stehen in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Intertextualität, der im Folgenden erörtert wird. 2.3.3.2 Intertextualität und Dialogizität als sprachliche Realisation von Diskursivität In engem Zusammenhang mit den Merkmalen der Prozessualität, Sukzessivität, Diskursivität und dem gemeinsamen Thema steht das Diskursmerkmal Intertextualität 93, das durch die genannten Merkmale bedingt ist. Das Merkmal Diskursivität wird auf der Textebene durch Intertextualität realisiert. Intertextualität stellt eines der wesentlichen Kriterien für Diskurse dar, da Intertextu92 Vgl. hier Adamzik (2004: 72f.); vgl. Brinker u.a. (2000/2001). Das Handbuch geht auf unterschiedliche Kommunikationsbereiche ein. 93 Hier geht es nur darum, das Merkmal der Intertextualität mit den für linguistische Diskursanalyse relevanten Kriterien darzustellen. Eine Erarbeitung einer bis ins Detail ausdifferenzierten Theorie der Intertextualität kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Die methodische Zugriffsweise auf diskurskonstituierende intertextuelle Bezüge wird im zweiten Teil der Arbeit (‚Methode‘) durch die Vorstellung des Isotopiekonzepts Greimas vorgestellt (Kap. 3.2.4).

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alität den Zusammenhalt des Diskurses garantiert. Da der Intertextualitätsbegriff durch seine häufige Verwendung in den unterschiedlichsten Kontexten in seiner Bedeutung polysem und vage ist, muss zunächst sein theoretischer Hintergrund, seine Bedeutung und Gebrauchsweise für den hier verwendeten, linguistisch-diskursanalytischen Zweck geklärt werden. Bachtin und Kristeva Eingeführt wurde der Begriff Intertextualität von der bulgarischen Semiotikerin, Psychoana lytikerin, Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva in ihrer Auseinandersetzung mit dem Philosophen und Literaturtheoretiker Bachtin, der den neuzeitlichen Roman als einen mehrstimmigen Roman etikettiert und damit das Prinzip der Dialogizität in die Literaturtheorie einführt.94 Ausgangspunkt Bachtins ist die Frage nach dem Zusammenhang von Gesellschaft, Sprache und Literatur. Dabei unterscheidet Bachtin zunächst die zwei Prinzipien der Monologizität und Dialogizität, die in ihrer Gegensätzlichkeit sowohl Literatur, Gesellschaft als auch Sprache bestimmen.95 Mit dem Prinzip der Dialogizität zielt Bachtin auf eine Kritik des zur Vereinheitlichung neigenden Sozialistischen Realismus; dieses Prinzip steht nach Bachtin für den neuzeitlichen, dialogischen und polyphonen Roman sowie für eine Selbstreflexivität und Bereitschaft zum Dialog mit anderen als eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen. Der polyphone Roman lässt viele unterschiedliche Stimmen zur Geltung kommen. Das monologische Prinzip dagegen steht für Autorität, Vereinheitlichung und Unbeweglichkeit (vgl. Bachtin 1979: 290). Diese Aspekte lassen Bachtins Auffassung einer engen Verbindung zwischen Sprache und außersprachlichem Kontext, zwischen Sprache und Gesellschaft deutlich werden, insofern der polyphone „Text [...] zum Ort des Dialogs der Stimmen einer Epoche [wird].“ (Jakobs 1999: 14) Im Vordergrund der Ausführungen Bachtins stehen also die Kontextualität der Aussagen sowie die Auffassung von Kommunikation als einem dynami-

94 Bereits in den 20er Jahren während der Kulturrevolution entwickelte und verfasste Bachtin seine Literaturtheorie der Dialogizität, die aber erst in den 60er Jahren der russischen Öffentlichkeit und den westlichen Ländern zugänglich gemacht wurde. Vgl. Pfister (1985: 1). 95 Lachmann weist darauf hin, dass Bachtin das Dialogizitätsprinzip ausgehend von der Nichtfestgelegtheit der Bedeutung von Wörtern konzipiert. „Gegen das vereindeutigende, identifi zierende Wort, das auf der Basis eines binären Zeichenprozesses (signifiant/ signifié) funktioniert, das heißt gegen das monologische Wort, das nicht auch ‚Antwort‘ ist, gegen eine Setzung, die nicht auch ‚Übersetzung‘ ist, stellt Bachtin das dialogische, durch die Berührung mit dem ‚fremden‘ entstehende Wort, das den Zeichenbinarismus stärkt, indem es die jeweilige Abschließbarkeit des Zeichenprozesses, die Endgültigkeit der bestätigten Beziehung zwischen signifiant und signifié durch die Unabschließbarkeit eines dialogischen Zeichenprozesses dementiert.“ Lachmann (1982: 51).

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schen Prozess, der immer auch auf andere gerichtet ist96 sowie die Vielstimmigkeit und Relativität von Positionen. Dabei steht die aktuelle Rede, der Sprechakt im Vordergrund der Untersuchungen. (Vgl. Bachtin 1979: 120, 169, 213) Dialog meint also eine offene Auseinandersetzung divergierender Standpunkte, wobei sich das Prinzip der Dialogizität in der „Zweistimmigkeit des Wortes“ zeigt (Bachtin 1979: 213). Diese Zweistimmigkeit als das Koexistieren mehrerer Bedeutungen97 kann somit als Polysemie des Wortes aufgefasst werden, insofern das Wort nicht auf eine Bedeutung festzulegen ist, vielmehr koexistieren in ihm die fremde Rede und die Rede des Autors. Bezogen auf das Dialogizitätsprinzip als Romantheorie dominiert bei ihm zunächst die intratextuelle Perspektive. Allerdings bringt auch schon Bachtin die über den Text hinausweisende Relation des Zeichens ins Spiel, wenn er das sprachliche Zeichen als ein auf bereits frühere Bedeutungen Verweisendes konzipiert, das zugleich selbst zum Referenzpunkt späterer Aussagen werden kann. Auch Vološinov beschreibt Ende der 20er Jahre dieses Phänomen zum einen als Dia log, wie in Kapitel 1.3.2 der Arbeit beschrieben. Sprache an sich ist für ihn dialogisch ausgerichtet, insofern Äußerungen immer schon Reaktionen sind. Zum anderen bezeichnet er das Phänomen der Bezugnahme von Äußerungen auf bereits existente Äußerungen als „Überschneidungen“ oder „fremde Rede“.98 Weber schreibt in seinem Kommentar zu Vološinovs Marxismus und Sprachphilosophie dazu Folgendes: Die lebendige Identität der Äußerung, ihre unmittelbare Gegenwart und Aktualität spaltet sich, nicht als nachträglicher Effekt, sondern vielmehr als Effekt der Nachträglichkeit, als Reaktion und Erwiderung auf andere, fremde, frühere und spätere Äußerungen. Diese aber sind ihrerseits ebensosehr vorausgesetzt als vorläufig: vorausgesetzt weil jede Äußerung immer andere Äußerungen voraussetzen muß, aus denen sie hervorgeht; vorläufig, weil jede Äußerung, auch künf tige Äußerungen

96 Vgl. Bachtin (1979: 169ff.) Auch die ehemaligen Kontextbedeutungen, die ein Wort geprägt haben, spielen immer eine Rolle, auch wenn das Wort in neuem und gegensätzlichem Kontext gebraucht wird. Entsprechend diesen Aussagen vertritt Bachtin eine Auffassung von Sprache als soziales und interaktives Ereignis. Vgl. dazu Lachmann (1982: 53); vgl. auch Bachtin (1979: 168–191). 97 Bachtin spricht hier davon, dass das zweistimmige Wort „innerlich dialogisiert“ ist, insofern in ihm „ein potentieller, unentwickelter und konzentrierter Dialog zweier Stimmen, zweier Weltanschauungen, zweier Sprachen angelegt“ ist. Bachtin (1979: 213). 98 Darüber hinaus spricht Vološinov von der fremden Rede in der Rede. Vološinov (1975: 177f.). Vgl. dazu auch Weber (1975: 36f.) „Die Formen der Redewiedergabe, hebt Vološinov hervor, sind die Artikulation einer dynamischen Beziehung und Interaktion von übertragendem und übertragenem Kontext.“ Weber (1975: 37). Weber spricht im Kontext seiner Kommentierung der Diskussion um die Redewiedergabe und das Autorwort bei Vološinov von der „Dekonstruktion des Subjekts als Herr und Eigentum über seine Äußerungen“. Weber (1975: 42; vgl. 45).

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und Erwiderungen voraussetzt, und sich als Antwort auf diese konstituiert.“ (Weber 1975: 29; Hervorh. im Original) 99

Vor allem der politisch-ideologische Gehalt des bachtinschen Konzeptes zog das Interesse durch Kristeva auf sich, insofern Bachtin gegen erstarrte literarische Formen anschrieb, in denen das Monologizitätsprinzip dominierte. In ihrer Auseinandersetzung mit Bachtin referiert Kristeva auf das Dialogizitätsprinzip Bachtins, setzt aber freilich neue Akzente vor allem im Hinblick auf die Inanspruchnahme dieses Konzeptes für ihren Kampf gegen die „bürgerliche Ideologie der Autonomie und Identität individuellen Bewußtseins“ (Pfister 1985: 6). Beim Phänomen Intertextualität handelt es sich also nicht um etwas von Kristeva neu entdecktes, sondern vielmehr um ein schon immer praktiziertes Phänomen, das bereits seit der Antike thematisiert wird100. Neu allerdings ist die von Kristeva dafür eingeführte Bezeichnung Intertextualität101 sowie die von ihr daraus gezogenen Konsequenzen und Akzentuierungen. Kristeva betrachtet Bachtin als einen „Überwinder eines statischen Strukturalismus der klassifikatorischen Schemata.“ (Pfister 1985: 5; vgl. auch Kristeva 1972: 346) Das Intertextualitätskonzept entwickelt Kristeva für literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen, insbesondere als Kritik am Strukturalismus, der Sprache vorrangig als von konkreten Kontexten und Sprechakten enthobenes System auf fasst.102 Es wird von ihr auf ästhetische Texte bezogen und ist recht allgemein gehalten. Im Anschluss an Bachtin und Kristeva fand somit vor allem in der Literaturwissenschaft der Intertextualitätsbegriff Verbreitung und wurde in diesem Bereich auch weiterentwickelt und zu einer wichtigen 99 Hier sind Bezüge zu Bachtin deutlich zu erkennen, was nicht verwundern mag, denn beide arbeiteten eng zusammen. Gleichwohl ist umstritten, ob nicht Bachtin auch unter dem Namen Vološinovs veröffentlichte. Vgl. dazu auch Aumüller (2005: 14). 100 „Schon seit der Antike haben sich Texte nicht nur in einer imitatio vitae unmittelbar auf Wirklichkeit, sondern in einer imitatio veterum auch aufeinander bezogen, und die Rhetorik und die aus ihr gespeiste Poetik brachten solche Bezüge von Texten auf Texte mit zunehmender Detailliertheit, wenn auch ohne Sinn für den Gesamtzusammenhang, auf den Begriff.“ Pfister (1985: 1); vgl. auch Jakobs (1999: 6–15). 101 Vgl. dazu Holthuis (1993: 2ff.). Sie erwähnt, dass unter anderer Begrifflichkeit dieses Phänomen bereits die Rhetorik und Poetik lange thematisieren. Vgl. auch Heinemann (1997: 22f.) Heinemann betont, dass Kristeva mit dem Begriff Intertextualität einen Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft evozierte, insofern sie mit ihrem Konzept gegen ein statisches Verständnis literarischer Texte im Sinne werkimmanenter Interpretationen vorging und für ein „dynamisches Verständnis von Textualität (oder von ‚Intertextualität‘), das sich anlehnt an Prozeßabläufe beim Kommunizieren mit ästhetisch geprägten Texten“, plädiert. Heinemann (1997: 23). 102 Vgl. Linke/Nussbaumer (1997: 112). Kristevas Kritik zielt darauf ab, Texte als geschichtlich, kulturell und kontextuell bedingt zu betrachten. Vgl. Kristeva (1972: 351), (1977a, b); vgl. Heinemann (1997: 22f.); vgl. Linke/Nussbaumer (1997: 109f.); vgl. Fix (2000: 449ff.); vgl. Dosse (1997, Bd. 2: 74–77).

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Kategorie der Literaturtheorie.103 Erst viel später beginnen die Rezeption und die damit verbundene Präzisierung dieses Begriffes innerhalb linguistischer Theoriediskussionen.104 In Auseinandersetzung mit Bachtin fasst Kristeva Intertextualität zunächst als die Nichtfestgelegtheit sprachlicher Zeichen bzw. die Vagheit oder Polysemie sprachlicher Zeichen105. Das sprachliche Zeichen stellt eine Schnittstelle mehrerer Sinnebenen dar; Wörter und Texte erfahren demnach in den je spezifischen Kontexten unterschiedliche Sinndeutungen106, wobei die Rezipientenperspektive als Ort der Sinnerzeugung eine besondere Rolle spielt. Texte und Wörter verweisen durch ihren Gebrauch immer schon auf andere Kontexte und auf die ihnen inhärente Dialogizität. [...] das Wort (der Text) ist Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen läßt. Diese beiden Achsen, die Bachtin Dialog und Ambivalenz nennt, werden von ihm nicht immer klar voneinander unterschieden. Dieser Mangel an Strenge ist jedoch eher eine Entdeckung, die Bachtin als erster in die Theorie der Literatur einführt: jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen. (Kristeva 1972: 347f.; Hervorh. im Original)

Der Text als autonomes Sinngebilde eines einzelnen Autors existiert für Kristeva nicht mehr, vielmehr bedeutet Text nun eine Schnittstelle intertextueller Bezüge, die immer schon auf etwas anderes verweisen. Der Autor als Subjekt und intentionale Instanz verschwindet hinter den Überschneidungen intertextueller Bezüge. Damit unterzieht Kristeva zugleich die traditionellen Kategorien Autor/Subjekt und Werk als abgeschlossene Einheit einer kritischen Reflexion. Diese Dynamisierung des Strukturalismus wird erst durch eine Auffassung möglich, nach der das >literarische Wort< nicht ein Punkt (nicht ein feststehender Sinn) ist,

103 Vgl. Lachmann (1982); vgl. Broich/Pfister (1985); vgl. Tegtmeyer (1997). 104 Vgl. Fix/Klein (1997); vgl. Linke/Nussbaumer (1997); vgl. Fix (2000). 105 In späteren Arbeiten, in denen sie ihr Intertextualitätskonzept weiterentwickelt, ersetzt Kristeva den Begriff der Intertextualität durch Transposition, um auch Missverständnissen aus dem Weg zu gehen. „Der Terminus Intertextualität bezeichnet eine solche Transposition eines Zeichensystems (oder mehrerer) in ein anderes; doch wurde der Terminus häufig in dem banalen Sinne von »Quellenkritik« verstanden, weswegen wir ihm den der Transposition vorziehen; [...] Wenn man einmal davon ausgeht, daß jede signifi kante Praxis das Transpositionsfeld verschiedener Zeichensysteme (Intertextualität) ist, dann versteht man auch, daß ihr Aussage»ort« und ihr denotierter »Gegenstand« nie einzig, erfüllt und identisch mit sich selbst sind, sondern pluralisch, aufgesplittert und Tabellenmodellen zugänglich. Die Polysemie erscheint so auch als Folge semiotischer Polyvalenz, d. h. der Zugehörigkeit zu verschiedenen semiotischen Systemen.“ Kristeva (1978:69). 106 Hier zeigen sich Parallelen zu Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung.

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sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten (oder auch der Person), der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes. (Kristeva 1972: 346, Hervorh. im Original)

Intertextualität ist demzufolge das genuine Kriterium für Textualität. Der Text gilt als potenziell unabgeschlossene und nicht abschließbare, dynamische und polydimensionale, subjektlose Einheit107, insofern in ihnen vergangenes Textmaterial zu neuen Sinneinheiten transformiert wird. Texte werden so zur sinngebenden Praxis oder Produktivität selbst108 . Damit kommen ihnen die Merkmale Dynamik und Prozessualität zu. Es gibt keinen autonomen Autor109 mehr, der sich für einen Text verantwortlich zeichnet, dieser wird nun in einer voneinander abhängigen Dreierkonstellation – Autor – Adressat – Text/Kontext – verortet, die die Grenzen zwischen rezipierendem und schreibendem Subjekt ver wischen lässt. (Vgl. Kristeva 1972: 351) Der Text wird dementsprechend als eine Schnittstelle intertextueller Bezüge konzeptualisiert, insofern Kristeva – ausgehend von ihrer Kritik am erstarrten, kanonisierten Umgang mit ästhetischen Texten – den Text in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, der immer schon auf etwas anderes verweist, einbettet.110 Allerdings führt ihre Definition von Textualität letztendlich zur Auflösung des traditionellen Textbegriffes und damit zur Beseitigung der Kategorie Text,

107 Heinemann charakterisiert Intertextualität im Sinne Kristevas als „die weiteste und allgemeinste Form von Relationen zwischen Texten [...], das Faktum der universellen Vernetztheit von Texten schlechthin.“ Heinemann (1997: 32). Dadurch, dass der Begriff bei Kristeva derart allgemein gehalten ist, bedarf es einer Präzisierung für die Linguistisk, die Heinemann in der Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffes sieht, insofern nur noch die wechselseitige Beziehung zwischen konkreten Texten als Intertextualität gefasst werden sollte. Heinemann (1997: 32f.). Subjektlosigkeit bezieht sich bei Kristeva auf die Kritik der traditionellen Subjektphilosophie, die von der Einheitlichkeit und Vorgängigkeit des Subjekts ausgeht. 108 Vgl. Kristeva (1977c: 194ff., 1978: 30). Die Beschreibung des Textes als sinngebende Praxis oder Produktivität soll den Prozess der Sinngenerierung durch den Text selbst veranschaulichen. 109 Entsprechend ihrer Auffassung von Intertextualität konzipiert sie das Subjekt als offen, unabschließbar und prozessual. Die Subjektbildung geht mit dem Spracherwerb einher und wird erst durch diesen ermöglicht. Subjektwerdung konzeptualisiert sie dabei als einen Prozess der Sinngebung, wobei Subjekt und Sinn Effekte von diskursiven Prozessen sind. Da sich Sinn immer erst prozessual konstituiert und nicht auf etwas Bestimmtes festgelegt werden kann, ist das Subjekt prinzipiell mehrdeutig und offen. Damit wird es nicht als ein autonomes, einheitliches, intertextuellen Prozessen vorgelagertes Subjekt aufgefasst, das intentional im Sinne eines originären Schöpfers handelt, sondern als eine Schnittstelle im Diskurs, die erst durch intertextuelle Bezüge konstituiert bzw. produziert wird. Vgl. Kristeva (1978: 38; 1972: 358). Zur Diskussion um den poststrukturalistischen Subjektbegriff vgl. Foucault (AW, GdE, SM, WA); vgl. Butler (2003a und b) sowie Hauskeller (2000). 110 Kristeva spricht hier vom „Eindringen der Geschichte (der Gesellschaft) in den Text und des Textes in die Geschichte.“ Kristeva (1972: 351).

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denn ihre Textkonzeption umfasst nicht mehr nur sprachlich Verfasstes, sondern sämtliche Formen kultureller Codes. Ein derartig weiter Textbegriff gründet in der Dezentrierung des Subjekts, welches als „Projektionsraum des intertextuellen Spiels“ begriffen wird. (Pfister 1985: 8) Die »Dezentrierung« des Subjekts, die Entgrenzung des Textbegriffes und Texts zusammen mit Derridas Kupierung des Zeichens um sein referentielles Signifikat, die die Kommunikation zu einem freien Spiel der Signifikanten reduziert, läßt das Bild eines »Universums der Texte« entstehen, in dem die einzelnen subjektlosen Texte in einem regressus ad infinitum nur immer wieder auf andere und prinzipiell auf alle anderen verweisen, da sie ja alle nur Teil eines »texte général« sind, der mit der Wirklichkeit und Geschichte, die immer schon »vertextete« sind, zusammenfällt. (Pfister 1985: 9)

In der Konsequenz ihres Textualitätsbegriffes muss demnach auch die Kontextualisierung und Einbettung aufgehoben werden. Wenn alles Text ist, kann nicht mehr zwischen Kontext und Text geschieden werden. Mit dieser Bestimmung von Intertextualität radikalisiert Kristeva Bachtins Auffassung, insofern sie den Textbegriff entgrenzt und „Text als ‚Gesellschaft‘ oder ‚historio-kulturelles‘ Paradigma erfaßt und [den] Textbegriff [...] als ‚transsemiotisches Universum‘ bzw. als Konglomerat aller Sinnsysteme und kulturellen Codes [denkt]“. (Holthuis 1993: 144) Der nurmehr noch als Intertext aufzufassende Text wird nicht mehr von einem originären, einzigen Subjekt produziert, sondern er reproduziert sich ständig selbst. Für eine linguistische Rezeption des Begriffes ergeben sich daraus allerdings Probleme, die weiter unten thematisiert werden. Diese Probleme resultieren sicherlich auch daraus, dass es Kristeva nie um eine Methodisierbarkeit ihres Konzeptes ging. Die Methodisierbarkeit allerdings ist eines der Hauptanliegen einer linguistischen Implementierung dieses Konzeptes. Text – Intertextualität – Diskurs Verschiedene philosophische, semiotische, literaturtheoretische, poetologische oder poststrukturalistische Auseinandersetzungen111 mit dem Phänomen der

111 Unter anderen hat beispielsweise Genette dieses Phänomen von Tex-Text-Relationen als Transtextualität beschrieben und ausführlich erörtert. Er fasst verschiedene Formen darunter, wobei auch Genette sein Konzept ausschließlich auf ästhetische Texte bezieht. Genette (1993: 10). So spricht Genette von der „Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, d. h. in den meisten Fällen, eidetisch gesprochen, als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“ als Zitat, Plagiat oder Anspielung. Ein zweiter Typus ist der Paratext, ein dritter Typus die Metatextualität, der vierte Typus ist die Hypertextualität und der fünfte die Architextualität, unter der Intertextualität als Textsortenzugehörigkeit gefassst wird. Hypertextualität umfasst dabei jegliche Beziehung von Text A zu Text B. Vgl. Genette (1993: 9–18). In poststrukturalistischen Theorien wird immer wieder mehr oder weniger explizit Intertextualität thematisiert. Foucault sieht in diesem Phänomen – bei

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Intertextualität haben – bedingt durch die unterschiedliche Verwendungsweise des Begriffes – bewirkt, dass es sich um einen äußerst vielschichtigen Begriff handelt, der in der Wissenschaft heterogen verwendet wird. Anders allerdings als beim Diskursbegriff bezieht sich Intertextualität in den verschiedenen Verwendungsweisen immer auf irgendeine Form von Textbezug bei unterschiedlicher Extension des Begriffes Text, während Diskurs in der linguistischen Verwendung von vornherein auf unterschiedliche Gegenstände referiert. Im Gegensatz zur Literaturwissenschaft wurde Kristevas Konzept der Intertextualität in der Sprachwissenschaft zunächst nur zögerlich rezipiert, was unter anderem mit der weiten und recht allgemeinen Fassung sowie mit der Bedeutungsbreite und vielschichtigen Verwendungsweise dieses Begriffes in Verbindung gebracht wurde (und wird). (Vgl. Linke/Nussbaumer 1997: 111; vgl. Fix 2000: 450f.) Innerhalb der Sprachwissenschaft setzte somit erst in jüngerer Zeit eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Intertextualität ein, die zugleich unterschiedliche Konzeptionen und Operationalisierungen evozierte. Orientierten sich die diversen Operationalisierungen zunächst vor allem am Konzept von Beaugrande/Dressler112, die Intertextualität in eine Reihe anderer Textualitätskriterien stellen, so ist bei jüngeren Auseinandersetzungen eine Orientierung am poststrukturalistischen Konzept Kristevas im Zusammenhang mit der Diskussion um den foucaultschen Diskursbegriff festzustellen.113 Dabei plädieren sie, das Intertextualitätskonzept Kristevas kritisch zu übernehmen und auf konkrete Texte und Diskurse anzuwenden, was zum Teil auch eingelöst wurde.114 Als gemeinsamer Bedeu-

ihm beschrieben durch den Tod des Autors als wiederkehrende Spuren in Texten – ein Strukturprinzip von Diskursen. Ursprünglichkeit und Originalität existieren für Foucault nicht, insofern sie nicht erfassbar sind, da alles Gesagte auf bereits Gesagtem beruhe. Vgl. Foucault AW: 36, 39. Daneben beschreibt auch Derrida Formen von Intertextualität als „die Heraufkunft der Schrift [als] die Heraufkunft des Spiels [...]“ Derrida (1983: 17). Derrida versteht unter Spiel die Relationen der Texte untereinander bzw. transtextuelle Bezüge. Dabei spielt das Prinzip der Reproduktion eine zentrale Rolle als Kriterium für Intertextualität. Butler geht ebenso auf das Phänomen ein, insofern sie den immer schon vorhandenen Zitatcharakter performativer Äußerungen herausstellt. Vgl. Butler (2006: 139). 112 Beaugrande/Dressler (1981: 188). Unter Intertextualität verstehen sie „die Abhängigkeiten zwischen Produktion bzw. Rezeption eines gegebenen Textes und dem Wissen der Kommunikationsteilnehmer über andere Texte.“ Diese recht allgemeine Fassung von Intertextualität wird dann allerdings hauptsächlich auf die Generierung von Textmustern bezogen. 113 Vgl. Warnke (2002 a, b); vgl. Busse (1994, 1996, 2003a und b). 114 Vgl. Warnke (2000, 2001, 2002a). Warnke (2000) ergänzt die Invisible-hand-Theorie Kellers um die Dimension des Diskurses und stellt in diesem Zusammenhang Intertextualität als sprachliche Realisierung von Diskursivität als eine notwendige Bedingung für Sprachwandel im Allgemeinen heraus. „Wir können in der Referentialität von Texten auf andere Texte heute den funktionsgeschichtlich wesentlichen kommunikativen Zusam-

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tungskern aller linguistischen Konzepte kann die sehr allgemeine Auffassung von Intertextualität gelten, dass Texte sich immer auf Texte beziehen. Darüber hinaus entnehmen auch Konzepte, die sich einem engeren Textbegriff verpflichtet wissen, einen Grundgedanken Kristevas, den Günter Weise folgendermaßen formuliert: Indem Texte auf vielerlei Weise einander bedingen und miteinander verzahnt sind, wird deutlich, daß ein Text niemals ganz autonom sein kann, sondern immer in ein Geflecht von Beziehungen zu anderen Texten eingebunden, immer selbst Intertext ist. (Weise 1997: 41)

Zwei grobe Unterscheidungen können in der literaturwissenschaftlichen und linguistischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen beobachtet werden: a) die typologische Intertextualität als Beziehungen zwischen Texten innerhalb einer Textsorte bzw. Intertextualität als Textmuster wisssen und b) die spezielle Intertextualität als Beziehung zwischen konkreten Texten. Die Beziehungen können dabei direkt oder indirekt bzw. explizit oder implizit und unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Hier kommt es auch auf die Rolle des Rezipienten an, ob Intertextualität überhaupt wahrgenommen wird.115

menhalt sprachgeschichtlicher Quellen erkennen. Diskursivität wird also durch das Netz der Bezüge zwischen Einzeltexten hergestellt. Da Texte funktionsgeschichtlich und im Hinblick auf pragmatische Bedingungen der Standardisierung des Nhd. nicht isoliert zu betrachten sind, kommt der Analyse von Intertextualität insofern ein hoher Stellenwert zu.“ Warnke (2000: 220); vgl. dazu auch Warnke (2001: 340ff.). Warnke (2002a) fordert die Erweiterung des Textbegriffes und plädiert auf der Basis von Einzeltexten und den sieben Textualitätsmerkmalen von Beaugrande/Dressler (1981), die immer schon in diskursiven Bezügen stehen, für die Einbettung des Textes in die übergeordnete Ebene des Diskurses. So interpretiert auch Adamzik Warnkes Textbegriff. Vgl. Adamzik (2002a: 163–182). Linke/Nussbaumer (1997) sprechen sich für eine kritische Übernahme poststrukturalistischer Intertextualitätskonzepte aus. In diesem Zusammenhang setzen sie sich für die Orientierung an einem dynamischen, sich an kognitiven Prozessen orientierenden Textbegriff ein. Zur konkreten Analyse intertextueller Strukturen vgl. Steyer (1997) und Fraas (1997) sowie Spieß (2007). 115 Eine Rolle bei der Wahrnehmung intertextueller Relationen spielt auch die Intensität bzw. Gradualität der jeweiligen Relation. Hierzu wurden verschiedene Klassifizierungsvorschläge gemacht. Im Bereich literatur wissenschaftlicher Taxonomien haben beispielsweise Helbig (1996), Holthuis (1993), Pfister (1985) und Weise (1997) die Markierung der Intensität von Intertextualität mitbedacht. Pfister hat zur Skalierung der Intensität intertextueller Bezüge einen Kriterienkatalog vorgeschlagen, der die Parameter Referenzialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität umfasst. Vgl. Pfister (1985: 27ff.) Weise schlägt eine Systematisierung der unterschiedlichen Formen intertextueller Bezüge hinsichtlich der Kriterien Quantität der Referenztexte, Bewertung des Referenztextes, Deutlichkeit der Referenz sowie Modalität der intertextuellen Beziehung vor. Vgl. Weise (1997: 79). Holthuis verfolgt ebenfalls das Konzept der Skalierbarkeit von Intertextualität, wenn sie von einem „Kontinuum [ausgeht], das sich über (quasi) explizit markierte, nicht explizit markierte zu explizit nicht markierten Referenzen erstreckt.“ Holthuis (1993: 108). Helbig klassifiziert die unterschied lichen

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Insofern sich Diskurse aus Texten konstituieren und gleichzeitig als Analyseebene über die Textgrenze hinaus reichen, stellt Intertextualität ein genuines Merkmal von Diskursen dar. Neben der allgemeinen Bezugnahme von Texten auf Texte geht es der Linguistik vor allem auch um die Erfassung spezifischerer Formen von Intertextualität. So können intertextuelle Strukturen und damit Sinnkonstitution zum einen durch textoberflächenstrukturelle Bezüge wie beispielsweise explizite Bezugnahmen oder zum anderen durch texttiefensemantische Verweise – beispielsweise durch Aufgreifen inhaltlicher Aspekte vorangegangener Texte hergestellt werden. Linke/Nussbaumer (1997) setzen sich hinsichtlich theoretischer Grundannahmen, die für einen pragmatischen Sprachbegriff wesentlich sind, mit dem poststrukturalistischen Intertextualitätskonzept auseinander. Ihnen geht es prinzipiell um die Rezeption des Konzeptes und nicht um eine Klassifizierung von intertextuellen Bezügen in verschiedene Formen oder Untersuchungsperspektiven. Eine linguistische Auffassung von Intertextualität kann demnach nicht die Intentionalität, die Funktionalität, den Handlungsaspekt von Texten und die Sinnkonstitution durch Texte ausblenden, da diese Merkmale zentrale Grundannahmen der Text- und Pragmalinguistik darstellen116. Ebenso nimmt ein linguistisches Konzept von Intertextualität die versprachlichte Bezugnahme auf Objekte in den Blick, da Sprache genuines Erkenntnisobjekt der Linguistik ist, insofern kann und soll der weite Textbegriff Kristevas nicht rezipiert werden.117 Mithin wesentlich ist die Feststellung,

Deutlichkeitsgrade intertextueller Bezüge in Nullstufe, Reduktionsstufe, Vollstufe und Potenzierungsstufe. Vgl. Helbig (1996: 87–136). 116 Der auf den ersten Blick erscheinende Gegensatz zwischen sprachpragmatischen und poststrukturalistischen Theorien stellt zunächst ein Problem dar. Auf den zweiten Blick jedoch können Parallelen der Konzeptionen mindestens in dreierlei Hinsicht festgestellt werden und es eröffnen sich so Anknüpfungspunkte. 1. Es handelt sich um einen heterogenen Text- und Autorbegriff. Situationalität und Kontextualität sind zentrale Faktoren, von denen Text und Autor abhängig sind. So sind die Textemittenten immer schon auf konventionalisierte Sprechakte und Textmuster angewiesen, um überhaupt verstanden zu werden. 2. Das Subjekt wird nicht als Einheit konzeptualisiert, vielmehr wird von verschiedenen Sprecherrollen, die je nach Situation und Kontext eingenommen werden, ausgegangen. Zudem kann bei bestimmten Textsorten ein originärer Autor nicht mehr ausgemacht werden. (Vgl. z. B. dpa-Meldungen) 3. Es geht um konkrete Sprechhandlungen, die in einen größeren gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang eingebettet sind und nicht um kontextabstrakte Wahrheitsbedingungen. 117 Steyer spricht in diesem Zusammenhang vom „Kernbereich für einen linguistischen Zugang.“ Steyer (1997: 86). Sie plädiert dafür, dass „sprachproduktbezogene Referenzen, die über den Einzeltext hinausgehen, [...] somit primär im Analysefokus sprachwissenschaftlicher Intertextualitätsforschung stehen [müssen].“ Steyer (1997: 86). Allerdings gibt es innerhalb der Linguistik zunehmend Bestrebungen einen weiteren, nicht nur auf sprachliche Manifestationen bezogenen Textbegriff zu verwenden. Unter dem Stichwort Multimodalität werden zunehmend auch visuelle Faktoren auf Texthaftigkeit hin un-

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dass es sich bei Intertextualität um ein sowohl sprecherseitiges als auch rezipientenseitiges Phänomen handelt. So liegt es oftmals am Rezipienten, intertextuelle Bezüge aufzudecken oder diese gar nicht in Erwägung zu ziehen118. Intertextualität kann als wesentliches Merkmal von Diskursen angesehen werden, insofern Texte schon allein durch die thematische Zugehörigkeit und die Einbettung in einen Diskurs in einem wechselseitigen Beziehungsgefüge stehen. Ihre kommunikative Funktion zeigt sich erst durch die diskursive Vernetzung. (Vgl. hier auch Girnth 1996 sowie Kapitel 2.3.3.1 dieser Arbeit) Schon allein aus der Tatsache der Sprachlichkeit von Texten und der damit zu Grunde liegenden Annahme der dialogischen Ausrichtung von Sprache muss sich dieses Kriterium zwangsläufig auch auf Texte beziehen. Zwar können Texte monologisch strukturiert sein, im Zusammenspiel des Diskurses stehen sie aber in Bezug zu anderen Texten und reagieren auf andere Texte. Daraus ergibt sich das Merkmal der Dialogizität als offene und polyphone Struktur von Texten im Diskurs; ein Text bedarf immer anderer Texte, um existieren zu können und ist potenziell unabgeschlossen, wie auch Diskurse immer unabgeschlossen sind. Dass mit der Diskussion um Intertextualitätskonzepte in der Sprachwissenschaft auch direkt Auswirkungen auf zentrale Fragen der Textlinguistik verbunden sind, nämlich Konsequenzen hinsichtlich der Kriterien und Konzeptionen des Textbegriffes, liegt auf der Hand. Diesem Problem widmet sich der Abschnitt 2.3.4. 2.3.3.3 Gesellschaftlichkeit und soziale Praxis als Merkmale von Diskursen Diskurse sind gesellschaftliche Praktiken, die sich sprachlich manifestieren und außersprachlich bedingt sind. In dieser Arbeit steht naturgemäß die Untersuchung der sprachlichen Manifestation des Diskurses im Vordergrund, wobei außersprachliche Faktoren bei der Entstehung und Entwicklung von Diskursen eine wichtige Rolle spielen und – soweit möglich –, auch in sprachwissenschaftlicher Perspektive Beachtung finden sollten. Ausgangspunkt für tersucht, insbesondere im Bereich der Medienforschung. Vgl. hier Burger (2001b); vgl. Fraas/Klemm (2005a und b). 118 Dabei spielt die Funktion der Sinnkonstitution durch Intertextualität eine bedeutende Rolle, die ganze Diskurse erst entstehen lässt. Allerdings ist auf der Analyseebene die Rezipientenseite nur schwer nachzuvollziehen. Hier muss vielmehr mit Annahmen und Erwartungen gearbeitet werden. Einen rezeptionsorientierten Ansatz von Intertextualität, der sich verschiedenen Disziplinen verpflichtet weiß und die diversen Funktionen von Intertextualität im Hinblick auf Adressatenerwartungen und -verhalten untersucht und auch die linguistische Diskussion um Intertextualität beeinflusste, verfolgt beispielsweise Holthuis, die ihre Untersuchungen an ästhetischen Texten vornimmt. Vgl. Holthuis (1993); vgl. dazu den Sammelband von Fix/Klein (1997) sowie Linke/Nussbaumer (1997); vgl. Jakobs (1991, 1999); vgl. Steyer (1994); vgl. dazu Tegtmeyer (1997); vgl. Heinemann (1997).

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die Auffassung der Gesellschaftlichkeit von Diskursen stellt die soziale Verfasstheit der Sprache dar: Sprachliches Handeln ist Grundvoraussetzung für gesellschaftliches Handeln, für menschliche Kooperation (vgl. Straßner 1991: 124); es kann als Teil der sozialen Handlungen aufgefasst werden. Andererseits sind sprachliche Handlungen gesellschaftlich bedingt.119 Sprache vergegenständlicht gemeinsame Erfahrungen und macht sie allen zugänglich, die einer Sprachgemeinschaft angehören. Sie wird zugleich Fundament und Instrument eines kollektiven Wissensbestandes. Darüber hinaus stellt sie Mittel zur Verfügung und ermöglicht deren Eingliederung in bereits vorhandenen Wissensbestand. (Berger/Luckmann 202004: 72f.)

Dementsprechend sind auch Diskurse gesellschaftlich bedingt. Durch die Analyse sprachlich manifester Diskursstrukturen wird zugleich eine gesellschaftliche Dimension menschlichen Handelns erschlossen. Als gesellschaftliche Praxis ist der Diskurs der Ort der Vermittlung von Individualität und Intersubjektivität. Seine Analyse bringt das soziale Sein der Sprache und des sprachlich vermittelten Wissens historisch zum Ausdruck. (Busse 1987: 271)

Eine pragmatisch orientierte Ausrichtung legt solch eine Annahme auch nahe. Wichter charakterisiert Diskurse näherhin als Gesellschaftsgespräche, in denen die „Inhalte der gesellschaftlichen Kommunikation in den Vordergrund“ (Wichter 2001: 252) treten und Texte dialogisch konstituiert sind, insofern durch sie aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein Thema und damit auf die Texte des Diskurses Bezug genommen wird. Busse beschreibt die kommunikative Interaktion als einen sozialen Prozess, insofern Akteure, Kommunikationspartner miteinander in Beziehung treten und agieren. In Diskursen interagiert die Handlungseinheit Text miteinander.120 Die Gesellschaft mit ihren Akteuren ist Träger und Austragungsort von Diskursen. Schon die dialogische Bedingtheit der Sprache impliziert die Angewiesenheit der Diskurse auf Gesellschaft. Gesellschaft konstituiert Wirklichkeit und damit auch Diskurse, Diskurse wiederum wirken auf die Gesellschaft. Einzelne sprachliche Handlungen sind immer im Kontext größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge verortet und durch diese bedingt.121 Somit kann hier von einem gegenseitigen Abhängigkeits- und Bedingungs-

119 Vgl. Busse (1987: 256ff.); vgl. Busse (2005); vgl. Berger/Luckmann (202004: 24ff., 72f.). 120 Vgl. Busse (1987: 272); vgl. auch Busse (2005). Hier geht Busse auf die grundsätzlich soziale Verfasstheit von Sprache ein. In diesem Zusammenhang plädiert er für eine engere Zusammenarbeit der Sprachwissenschaft mit den Sozialwissenschaften als dies bisher der Fall gewesen ist. Vgl. Busse (2005: 32–43). 121 Vgl. Busse (2005: 37ff.) und Berger/Luckmann (202004: 36–48). In diesem Zusammenhang steht auch das Anliegen Foucaults, Diskurse kontextuell, geschichtsimmanent und im Kontext sozialer Praktiken zu verorten.

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verhältnis gesprochen werden122. Hinsichtlich der Diskursmerkmale Gesellschaftlichkeit und soziale Praxis sind für einen linguistischen Diskursbegriff sowohl die oben skizzierten Überlegungen Foucaults grundlegend als auch die in Kapitel 1 hergestellten Bezüge zu sprachpragmatischen Konzepten relevant. Die Auffassung von Diskursen als gesellschaftliche Praktiken transzendiert damit zum einen die Sprachhandlungskonzepte Austins, Searles und Grices, insofern der relevante gesellschaftliche Kontext und die Situation in ihren Auswirkungen auf die einzelnen Diskurshandlungen mit bedacht und in einen satz- und textübergreifenden Rahmen gestellt werden. Andererseits kann hier Wittgensteins Konzept der Lebensform herangezogen werden, nach dem alle Tätigkeiten in einen übergreifenden Zusammenhang gestellt werden, ja deren Sinn nur sozial und gesellschaftlich begründet werden kann.123 Ebenso gehen Humboldt, Bühler und Vološinov von der sozialen Einbettung sprachlicher Handlungen aus und konzipieren soziale Modelle von Sprache, insofern bei ihnen „die Verortung der Sprache im Sprachgebrauch und damit in der stets sozialen Verständigungssituation, an zentraler Stelle“ steht. (Busse 2005: 31) Regeln ergeben erst einen Sinn, wenn sie in einem gesellschaftlichen Zusammenspiel konstituiert werden. Fasst man Diskurse mit Foucault als regelgeleitete Praxis, so ist das Merk mal der Gesellschaftlichkeit und Sozialität für die Existenz von Diskursen konstitutiv. Diskurse können sich demnach nur gesellschaftlich formieren. Zum dritten wird hier der Gedanke des mittleren und späten Foucaults aufgenommen, diskursive und nicht-diskursive Praktiken als sich gegenseitig bedingend aufzufassen124. Mit Sprache orientiert sich der Mensch in und über die Wirklichkeit. Er registriert seine Erfahrungen, verbalisiert und objektiviert sie, und mit Sprache wirkt er aktiv auf die Wirklichkeit, auf seine natürliche und gesellschaftliche Umwelt ein, organisiert er soziales Zusammenleben. Sprache ist deshalb zugleich Instrument wie Spiegel der Gesellschaft. Ein Individuum denkt und spricht also ‚gesellschaftlich‘, d. h. die Gesellschaft im allgemeinen und die gesellschaftlichen Gruppen/Schichten/ Klassen üben bestimmenden Einfluß auf das Individuum aus, und zwar im Sinne unmittelbar/aktueller gesellschaftlicher Einflüsse wie im Sinne der tradierten und kodifizierten Erfahrung. (Straßner 1987: 17f.)

122 Mit dieser Auffassung eines interdependenten Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit wird eine vermittelnde Position zweier konträrer sprachphilosophischer Auffassungen von Sprache vertreten. Die sprachidealistische Position geht davon aus, dass Sprache als System den Menschen und dessen Bewusstsein determiniere. Materialistische Positionen dagegen sind der Meinung, dass das Bewusstsein und das Sprechen des Menschen durch die Gesellschaft, durch die Lebensbedingungen bestimmt werde. Vgl. Herrgen (2000: 31f.); vgl. Girnth (2002: 5f.); vgl. S. Jäger (1988: 1790–1795). 123 Vgl. Honneth (2003: 20ff.) Honneth bringt an dieser Stelle Foucaults Überlegungen zum Machtbegriff mit der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins zusammen. 124 Vgl. hier vor allem Foucaults ODis, SM und DdM. Der Begriff des Dispositivs umfasst die Verwobenheit diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken.

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Diese Aussage Straßners über das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft kann direkt auf Diskurse als aus Texten konstituierte, Themen gebundene Einheiten/Formationssysteme übertragen werden und korrespondiert mit der Aussage Foucaults, dass Diskurse regelgeleitete Wissensformationen seien. Demnach lässt die Struktur eines Diskurses als die Art und Weise des Redens über eine bestimmte Sache Schlüsse auf die Struktur der Gesellschaft zu, denn sprachliche Wirklichkeit ist immer eine gesellschaftlich bedingte und konstituierte Wirk lichkeit. Soziale Aspekte der Wirklichkeit sind demnach untrennbar verbunden mit sprachlicher Interaktion, insofern liegt es nahe, einen linguistischen Diskursbegriff innerhalb eines umfassenden Kommunikationsmodells zu verorten, das Kommunikation als Interaktion begreift und als gesellschaftliche und soziale Prozesse beschreibt. Fraas/Klemm konstatieren, dass Diskurse „auf der Ebene der gesellschaftlichen Interaktion anzusiedeln sind“ und sich „als Aussagenensembles, in denen auf gesellschaftlicher Ebene ein Thema verhandelt wird [manifestieren].“125 2.3.3.4 Öffentlichkeit und Massenmedialität als Bedingungen von Diskursen126 Unmittelbar in Zusammenhang mit dem Merkmal der Gesellschaftlichkeit von Diskursen stehen die Merkmale Öffentlichkeit und Massenmedialität, die es ohne soziale Praxis und Gesellschaft nicht gäbe. Die gesellschaftliche Dimension von Diskursen impliziert geradezu, dass Diskurse des Raumes der Öffentlichkeit als Plattform und der Medien als Vermittlungsinstanzen bedürfen. Insbesondere für öffentlich-politische Diskurse ist dieses Merkmal zentral.127 Öffentlichkeit ist der soziale Raum, in dem die Akteure vor einem

125 Fraas/Klemm (2005a: 4). Mit einem Modell kommunikativer Interaktion, das sprachliche Äußerungen in ihrer Ver flechtung mit dem gesellschaftlichen Wissen erfasst, können möglichst viele verstehensrelevante Aspekte wie Situationswissen, Rollenwissen, Partnerund Kontextwissen etc. als Faktoren kommunikativer Diskurshand lungen erfasst und Diskurse als sozial konstituiert beschrieben werden. Vgl. Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit. 126 An dieser Stelle sei bereits auf Kapitel 2.4 dieser Arbeit verwiesen, das sich speziell mit dem Kommunikationsbereich Politik befasst und in dem Öffentlichkeit auch als ein Merkmal politischen Sprachgebrauchs beschrieben wird. Beide Kapitel sind in Ergänzung zueinander zu lesen, da das Merkmal Öffentlichkeit in unterschiedlichen Bezügen behandelt wird, wenngleich Wiederholungen bestimmter Aspekte nicht zu vermeiden sind. 127 Vgl. dazu auch Fraas/Klemm (2005a: 5). Sie bestimmen Diskurse „immer auch [als] Mediendiskurse.“ Da aber nicht alle Diskurse gleichermaßen öffentlich sind – zu denken wäre hier beispielsweise an Diskurse, die nur Teilöffentlichkeiten betreffen (z. B. Expertendiskurse etc.) – ist dieses Merkmal je nach Diskurs mehr oder weniger zentral. Da diese Arbeit im Rahmen der Politolinguistik den öffentlich-politischen Stammzelldiskurs untersucht und die Merkmale der Öffentlichkeit und Massenmedialität für öffentlichpolitische Diskurse mithin konstitutiv sind, werden diese hier eingehender besprochen.

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prinzipiell unabgeschlossenen Publikum mittels Massenmedien agieren. Busse bezeichnet „Öffentlichkeit als Raum der Diskurse“128. Soziale Praxis spielt sich demnach im Raum der Öffentlichkeit ab und übt Einfluss auf Öffentlichkeit und öffentliche Meinung. Andererseits beeinflusst Öffentlichkeit soziale Praxis und Gesellschaft in hohem Maße. Diskurse, vor allem öffentlich-politische Diskurse, konstituieren sich in diesem Raum. Um aber überhaupt in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, sind Diskurse auf Öffentlichkeit und auf Massenmedialität angewiesen, sie sind gleichsam Diskursmerkmale (für öffentlich-politische Diskurse) und Diskursvoraussetzungen. Massenmedien sind nach der klassischen Definition von Maletzke (1963) technische Verbreitungsmedien im Kontext von Öffentlichkeit, die ein heterogenes und disperses Publikum erreichen und an der öffentlichen Meinungsbildung aktiv teilhaben129. Zwar ist Massenmedialität durch Öffentlichkeit bedingt, doch geht Öffentlichkeit nicht in Massenmedialität auf. Indem Öffentlichkeit einen Raum der Rede entfaltete, entfaltete sie die Rede selbst: sie ist also eigentlich Möglichkeitsbedingung jeder gesamtgesellschaftlichen Kommunikation und damit auch des unmittelbaren gesamtgesellschaftlichen Wirksamwerdens semantischer Entwick lungen. (Busse 1996: 347)

Öffentlichkeit stellt demnach eine wichtige Bedingung und einen wichtigen Kommunikationsraum von Diskursen innerhalb demokratisch strukturierter Gesellschaften dar (vgl. Busse 1996: 347). [...] Öffentliche, massenmedial geführte und gelenkte Diskurse sind in einer Demokratie der wohl bedeutendste und umfassendste Kommunikationsraum, in dem umfangreiche Produzenten- und Rezipientenkreise miteinander kommunizieren, obgleich sie ggf. über sehr unterschied liches Wissen zu einem Diskursgegenstand verfügen. (Busch 2004: 15)

In bisherigen sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die sich auf Analyse des öffentlichen Sprachgebrauches und öffentlich-politischer Diskurse konzentrieren, wird zwar auf Öffentlichkeit als Bedingung und Voraussetzung eines solchen Sprachgebrauchs referiert, doch die Bedeutung und Struktur von Öffentlichkeit/massenmedialer Öffentlichkeit bislang nur selten ausführlich

128 So der Titel des Aufsatzes von Busse 1996. 129 An dieser Stelle kann nicht genauer auf die Kriterien und Merkmale von Massenmedialität eingegangen werden, da eine solche Erörterung vom Thema wegführen würde, wenngleich sie ein notwendiges Desiderat darstellt. Denn hinsichtlich der als massenmedial bezeichneten Medien ist hier die Frage zu stellen, nach welchen Kriterien ein Medium als Massenmedium klassifiziert wird. In diesem Zusammenhang spielt auch die Definition von Massenkommunikation (vgl. Maletzke 1963) eine zentrale Rolle, die einer genaueren und aktuellen Erörterung bzw. Kriteriologie bedürfte, was hier aber nicht geleistet werden kann.

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erörtert130. Diesbezüglich bedarf es einer Präzisierung des Öffentlichkeitsbegriffes für die Diskurslinguistik. Beobachtet man die Verwendung dieses Begriffes, so lassen sich mindestens drei verschiedene Bedeutungsdimensionen von Öffentlichkeit beschreiben. In einer ersten Bedeutung ist unter Öffentlichkeit bzw. öffentlich ganz allgemein der Gegensatz zu privat zu verstehen. Im zweiten Fall wird unter Öffentlichkeit der Zugang zu Kommunikation oder Öffentlichkeit als Kommunikationsforum für alle verstanden. (Vgl. Neidhardt 1994b: 7) Im dritten Fall, der emphatischen Bedeutungsdimension, meint Öffentlichkeit und öffentlich ein Raum gesamtgesellschaftlicher Meinungs- und Willensbildung, an der alle beteiligt sein können und sollen, wobei es sich bei Öffentlichkeit in diesem idealen Sinne um eine zweckfreie und interesselose Form handelt, die die Artikulation von Interessen ermöglicht (vgl. Busse 1996: 348). Öffentlichkeit in diesem emphatischen und durchaus normativen Sinne ist ein zentraler Grundbestandteil eines demokratischen Verfassungsstaates und Bedingung öffentlicher Meinungs- und Willensbildung, dem sich vor allem die politische Öffentlichkeit verpflichtet weiß, insofern Öffentlichkeit ein wichtiger Handlungsbereich von Politik ist und Politik auf Öffentlichkeit innerhalb eines demokratischen Rechtsstaates unbedingt angewiesen ist. In der Öffentlichkeitssoziologie wird Öffentlichkeit als normative Instanz mit normativen Ansprüchen folgendermaßen beschrieben (vgl. Neidhardt 1994b: 8.): Öffentlichkeit bedeutet die Offenheit der Kommunikation vor einem prinzipiell unabgeschlossenen Publikum. Dabei kommen der Öffentlichkeit unterschiedliche Funktionen zu. Zum einen muss Öffentlichkeit, um als solche gelten zu können, für alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen und Themen offen sein; sie muss Transparenzfunktion erfüllen. Zum anderen soll Öffentlichkeit die Möglichkeit gewähren, dass die Akteure ihre Meinungen und Urteile argumentativ verhandeln. Damit kommt Öffentlichkeit eine Validitätsfunktion zu. Als dritte wesentliche Funktion kann die Orientierungsfunktion betrachtet werden. Öffentlichkeit muss demnach die Möglichkeit einer öffentlichen Meinungs- und Willensbildung durch die beteiligten Akteure gewährleisten. (Vgl. Neidhardt 1994b: 8–10) Dabei ist festzuhalten, dass Öffentlichkeit ein Phänomen der Neuzeit ist, welches in engem Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums

130 Vgl. hier Busse (1996), der insofern eine Ausnahme darstellt, als er sich ausführlicher mit der Thematik befasst. Ebenso auch Schiewe (2004). Im Vorwort des Sammelbandes Öffentlicher Sprachgebrauch gehen die Herausgeber kurz auf die unterschied lichen Bedeutungen von Öffentlichkeit ein. Vgl. Böke u.a. (1996: 10–12); vgl. auch Pohl (2002: 9–16) oder Fraas/Klemm (2005a), die ebenfalls im Vorwort theoretische Aspekte von Öffentlichkeit und deren Bedeutung für die Linguistik andeuten bzw. streifen.

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seit dem 17. Jahrhundert131 steht und sich im 18. Jahrhundert zunächst innerhalb privilegierter, bürgerlicher und gebildeter Zirkel etablieren konnte. Bedingungen der Herausbildung einer Öffentlichkeit sind einerseits die mit der Moderne erfolgte Wende zum Subjekt, zum anderen die Dialektik zwischen öffentlich und privat sowie zum dritten die Nicht-Organisation der Meinungs- und Willensbildung.132 Durch die französische Revolution erhielt die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit eine politische Richtung, was schließlich eine Änderung der Gesellschaftsordnung zur Folge hatte, insofern sich eine Meinungspresse entwickelte, die gegen Zensur und für Meinungsfreiheit einstand, sich selbst aber auch zu einer produzierten, manipulativen Publizität entwickelte. (Vgl. Habermas 1990: 326–332) Zudem bildeten sich auf Grund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Wissens (und damit einhergehend auch einer Ausdifferenzierung des Mediensystems) zunehmend Teilöffentlichkeiten heraus. Hinsichtlich dieser Entwicklungen musste sich auch die politische und gesellschaftliche Kommunikation ändern. Indem infolge der Verbreitung räsonierender Diskurse zunehmend Machtfragen gestellt wurden (und zwar solche jeglicher Art: politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, theologische), mußten Mechanismen der Ausgrenzung wiederhergestellt (wie im Falle der Wissenschaften) oder neu geschaffen werden. Die ehemals ganzheitliche bürgerliche Öffentlichkeit zerfällt in Teil-Öffentlichkeiten (in denen die alten Regeln und Ideen z.T. noch fortwirken: Wissenschaft einerseits und eine gelenkte produzierte Öffentlichkeit der Massenkommunikation andererseits. (Busse 1996: 350)133

Neidhardt beschreibt den Prozess der Ausdifferenzierung der Mediensysteme, die die politische Öffentlichkeit auf Gesellschaft insgesamt ausweiten und damit eine große öffentlichkeitsbestimmende Rolle spielen, mit folgenden Merkmalen: a) Autonomie der Massenmedien b) Professionalisierung der Medienproduktion und c) Konkurrenz auf dem Medienmarkt. ( Vgl. Neidhardt 1994b: 11f.) Habermas bezeichnet die Entwicklung von einer bürgerlichen Öffentlichkeit bis zur gegenwärtigen Situation als „Strukturwandel der Öffentlichkeit selbst“, insofern die Professionalisierung der Medien hin zu massenmedialen Unternehmen Einfluss auf die Struktur der Öf fentlichkeit hat.

131 Im Zuge der allmählichen Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich im 13. Jahrhundert auf Grund der Ausbreitung des frühen Finanz- und Handelskapitalismus von Italien aus zu entwickeln begann, entstand im 17. Jahrhundert auch eine öffentliche Presse. Vgl. Habermas (1990: 69–85). 132 Vgl. Habermas (1990: 54ff., 69ff.); vgl. Busse (1996: 347f.); vgl. Neidhardt (1994b: 15). 133 Vgl. dazu auch Busse (1996: 350); vgl. auch Habermas (1990: 312ff.).

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Die Infrastruktur der Öffentlichkeit veränderte sich mit den Formen der Organisation, des Vertriebs und des Konsums einer erweiterten, professionalisierten, auf neue Leserschichten eingestellten Buchproduktion und einer auch in den Inhalten veränderten Zeitungs- und Zeitschriftenpresse; sie veränderte sich noch einmal mit dem Aufstieg der elektronischen Massenmedien. [...] Mit der Kommerzialisierung und der Verdichtung des Kommunikationsnetzes, mit dem wachsenden Kapitalaufwand für und dem steigenden Organisationsgrad von publizistischen Einrichtungen wurden die Kommunikationswege stärker kanalisiert und die Zugangschancen zur öffentlichen Kommunikation immer stärkerem Selektionsdruck ausgesetzt. Damit entstand eine neue Kategorie von Einfluß, nämlich eine Medienmacht, die, manipulativ eingesetzt, dem Prinzip der Publizität seine Unschuld raubte.134 (Habermas 1990: 27f.)

Es geht hinsichtlich der Massenmedien nun nicht mehr nur um Verständigung oder Öffentlichkeit im emphatischen Sinne, vielmehr hält mit der Professionalisierung auch Kommerzialisierung Einzug und damit das persuasive Werben um Zuhörer-, Zuschauer- und Leserschaft. Macht und Durchsetzungsvermögen der Öffentlichkeitsakteure Massenmedien spielen zunehmend eine wichtige Rolle, soll doch beim Adressatenkreis Interesse und Aufmerksamkeit geweckt werden. So stehen die Öffentlichkeitsakteure unter enormem Konkurrenzdruck, wenn sie ihre Beiträge einem möglichst großen Publikum unterbreiten wollen.135 Sie müssen im Hinblick darauf mit ihren Beiträgen sowohl interessanter und wichtiger als auch kompetenter und glaubwürdiger erscheinen als ihre Mitkonkurrenten. Das gelingt nur in dem Maße, in dem sie sich den Gesetzmäßigkeiten öffentlicher Kommunikation anpassen Gesetzmäßigkeiten, die bestimmt sind durch die Kontingenz, die Heterogenität und den Laienstatus des Publikums, die Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien und die um Aufmerksamkeit und Zustimmung konkurrierenden Beiträge einer mehr oder weniger großen Zahl von Mitspielern. (Neidhardt 1994b: 17)

Aus diesen den Medienmarkt bestimmenden Faktoren resultieren bestimmte von den Akteuren bei der Beitragsvermittlung verfolgte Thematisierungs- und Überzeugungsstrategien, die dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit des Publikums geweckt wird. Beiträgen kommt besonders viel Aufmerksamkeit zu, wenn Informationen einen Neuigkeitswert, einen Konfliktwert, einen Prominenz- bzw. Prestigewert aufweisen und zudem noch Betroffenheit suggerieren. Sprachlich manifestiert sich dies beispielsweise in komplexen Handlungen wie etwa DRAMATISIEREN, BEWERTEN, SKANDALISIEREN etc. (vgl. Neidhardt

134 Habermas bringt hier einen Aspekt ins Spiel, den Foucault in ODis wohl unter den Begriff Ausschließungsmechanismus fassen würde. 135 Vgl. Neidhardt (1994b: 15ff.). Neidhardt geht in diesem Zusammenhang auf Thematisierungs- und Überzeugungsstrategien der Massenmedien ein, deren Zweck darin besteht, um das Publikum zu buhlen. Vgl. dazu auch Kapitel 2.4 in dieser Arbeit.

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1994b: 19). Die Funktionen von Öffentlichkeit (Transparenzfunktion, Validierungsfunktion und Meinungsbildungs- bzw. Orientierungsfunktion) können im System der Massenmedien unterschiedlich anspruchsvoll eingelöst werden. Die die Massenmedien derzeit dominierende und von der Öffentlichkeitssoziologie bezeichnete Theorie des Spiegelmodells136 von Öffentlichkeit erfüllt diese Funktionen nur zum Teil und anders als die Theorie des Diskursmodells137 von Öffentlichkeit. Diskurse nehmen hier insofern eine prominente Rolle ein, als in ihnen die genannten Funktionen zur Geltung kommen. Das bedeutet unter anderem, dass unterschiedliche Kommunikationsstile die Diskurse prägen. Die Merkmale Öffentlichkeit und Massenmedialität haben sowohl Auswirkungen auf den Sprachgebrauch und die jeweiligen sprachlichen Manifestationen, auf die Wahrnehmung dessen, was massenmedial vermittelt und konstruiert wird, als auch auf die Produktion des Diskurses selbst. Denn der Diskurs generiert sich in der Öffentlichkeit und ist – wie das Publikum – unabgeschlossen und offen. Die Massenmedien stellen somit neben Publikum (Adressaten) und Sprecher (Textemittenten) die dritte wesentliche Größe im sozialen Feld von Öffentlichkeit dar und sind auf das Engste mit diesem Feld verbunden. (Vgl. Neidhardt 1994b: 10) Je nach Öffentlichkeitsform treten unterschiedliche Aspekte des Diskurses in den Vorder- bzw. in den Hintergrund. So spricht Habermas von zwei Tendenzen, durch die politische Öffentlichkeit geprägt ist. Als Zerfallsgestalt bürgerlicher Öffentlichkeit gibt sie einer, von Organisationen über die Köpfe des mediatisierten Publikums entfalteten, demonstrativen und manipulativen Publizität Raum. Andererseits hält der Sozialstaat, soweit er die Kontinuität mit dem liberalen Rechtsstaat wahrt, am Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit fest, demzufolge das von Organisationen mediatisierte Publikum, durch diese selbst hindurch, einen kritischen Prozeß öffentlicher Kommunikation in Gang setzen soll. (Habermas 1990: 337f., Hervorh. im Original)138

136 Dem Spiegelmodell zufolge, das derzeit die Massenmedien bzw. die massenmediale Öffentlichkeit dominiert, besteht die primäre Funktion von massenmedialer Öffentlichkeit in der Ermöglichung der Selbstbeobachtung der Gesellschaft, also in der Transparenzfunktion. Nachrichten werden in diesem Teilsystem nach dem binären Code Aufmerksamkeit/Nichtaufmerksamkeit selegiert. Selektionskriterien, die der Steigerung von Aufmerksamkeit dienen, sind a) der Neuigkeitswert von Informationen, b) der Konfliktwert von Nachrichten, c) der Prominenz- und Prestigewert von Sprechern und Akteuren sowie d) der Betroffenheitswert. Vgl. Luhmann (1970: 10–13). Luhmann spricht hier von vier Aufmerksamkeitsregeln. Vgl. dazu auch Gabriel (2000: 22); vgl. auch Kapitel 2.4 dieser Arbeit. 137 Unter dem Diskursmodell von Öffentlichkeit fällt die emphatische Bedeutungsdimension von Öffentlichkeit; zudem ist es normativ anspruchvoller als das Spiegelmodell, da es zusätzlich zur Transparenzfunktion noch die Validierungs- und Orientierungsfunktion von Öffentlichkeit umfasst. 138 Vgl. auch Habermas (1990: 343). Ähnlich auch Busse (1996: 350).

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Dem entsprechen verschiedene Kommunikationsformen bzw. -stile. Neidhardt unterscheidet zwischen dem Stil der Verlautbarung, in dem es kaum kommunikative, verständigungsorientierte Elemente gibt, dem der Agitation, in welchem die Sprecher zwar aufeinander Bezug nehmen, dies aber in gewollt polemischer und nicht verständigungsorientierter Art und Weise und dem des Diskurses139, in dem eine argumentative auf Konsens zielende Auseinandersetzung stattfindet (vgl. Neidhardt 1994b: 20). Neidhardt konstatiert in diesem Zusammenhang, dass „die empirische Beobachtung [...] vor allem Material für Verlautbarungs- und Agitationsmuster öffentlicher Kommunikation [liefert].“ (Neidhardt 1994b: 20) Der Grund dafür liegt Neidhardt zufolge in der Struktur der massenmedialen Öffentlichkeit und massenmedialer, öffentlicher Kommunikation selbst.140 Die unterschiedlichen öffentlichen Kommunikationsstile treten innerhalb eines Diskurses allesamt auf. So können Texte des Diskurses der Agitationsebene zugerechnet werden, andere Diskursausschnitte der Ebene der argumentativen Verständigung. Zuweilen lassen sich beide Stile innerhalb eines Textes finden. Massenmedialität als Kennzeichen gegenwärtiger Öffentlichkeit nimmt insbesondere Einfluss auf die Sinnkonstitution innerhalb von Diskursen. So steht es in der Macht der Medien, Inhalte und Themen zu selektieren und für ein disperses, heterogenes Laienpublikum aufzubereiten (vgl. hier Kapitel 2.4 dieser Arbeit). Damit stellt sich allerdings die Frage, inwiefern der einzelne Laie abhängig ist von Medien bezüglich korrekter Wissensvermittlung und umfassender Information. Busse (1996) spricht in diesem Zusammenhang auch die Mechanismen der Ausgrenzung einerseits sowie den Zerfall der ganzheitlichen bürgerlichen Öffentlichkeit in verschiedene Teilöffentlichkeiten als von den Massenmedien produzierte und gelenkte Öffentlichkeiten an und konstatiert die damit einhergehende Auswirkung auf Kommunikationsstrukturen und den öffentlichen Sprachgebrauch. (Vgl. Busse 1996: 350–355) Hier spielt die von Foucault thematisierte Rolle seines frühen Machtbegriffes (ODis) eine wichtige Rolle.141

139 Diskurs bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht auf den hier im Anschluss an Foucault operationalisierten Diskursbegriff, sondern auf den Kommunikationsstil, den die Diskursethik von Jürgen Habermas favorisiert und der geprägt ist von der zwanglosen Geltung des besseren Argumentes sowie der Herrschaftsfreiheit innerhalb der Kommunikationssituation. Demzufolge ist hierunter die argumentative und rationale Verhand lung von Geltungsansprüchen zu verstehen. 140 Vgl. Neidhardt (1994b: 25). Busse konstatiert diesbezüglich: „Kultur als Ware ist sowohl Bedingung der weiteren Verbreitung [...] als auch der Einschränkung des verkauften (Ideen-)Guts [...]. Indem die Gesetze des Marktes in die Öffentlichkeit eindringen und – aus ökonomischen Gründen wohlgemerkt – auf eine Massenproduktion der Waren-Werke zusteuern, zerstören sie die Grundlage des öffentlichen Räsonnements und seiner Wirksamkeit.“ Busse (1996: 350). 141 Dabei handelt es sich um Ausschließungsmechanismen, die auf überindividueller Ebene durch den Diskurs selbst erzeugt werden. Die Prinzipien des frühen Machtbegriffes

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Soweit zu den Merkmalen von Diskursen aus linguistischer Perspektive. Zusammenfassend lässt sich anhand der dargestellten Merkmale nun folgender linguistischer Diskursbegriff festhalten: 1. Diskurse sind Textverbünde, die sich durch das gemeinsame Thema und durch die diskursive Vernetzung konstituieren. 2. Die Texte erscheinen seriell als Ereignisse. 3. Die Texte erscheinen sukzessive und sind von einer gewissen Dynamik und Prozessualität gekennzeichnet. 4. Der kommunikative Zusammenhalt des Diskurses wird durch die dialogische Ausrichtung der Texte und durch intertextuelle Relationen gewährleistet. 5. Die Diskurstexte sind dabei immer schon bestimmt vom jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Horizont. Gleichzeitig sind die Texte beteiligt an der Konstruktion von Wirklichkeit. 6. Grundlage und Bedingung für das Entstehen von Diskursen liegt zumeist in der massenmedialen Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund dieses Merkmalbündels sind die Diskurse hinsichtlich ihrer sprachlichen Phänomene zu beschreiben. 2.3.4 Diskurs und Text – Anmerkungen zum Textbegriff 2.3.4.1 Textualität Die primäre Analyseeinheit des hier zu Grunde gelegten Diskursbegriffes ist die Handlungseinheit Text. Bereits die Thematisierung von Intertextualität impliziert den viel diskutierten Begriff der Textualität. Aus diesem Grund soll hier nun kurz auf die texttheoretischen Implikationen des Intertextualitätskonzeptes und die damit verbundene Auffassung eines Textbegriffes, der hier zu Grunde gelegt wird, eingegangen werden. Einige Aspekte wurden im vorangegangenen Kapitel schon kurz angesprochen, sie sollen hier genauer beschrieben werden. Die nähere Bestimmung von Intertextualität als Merkmal von Diskursen hat, wie bereits erwähnt, direkt Auswirkungen auf die Konzeption des Textbegriffes. Folgt man dem radikalen Konzept Kristevas ergeben sich Konsequenzen, die Konstanten einer pragmatischen Sprachauffassung in Frage stellen: die Intentionalität von Texten bzw. des Sprachgebrauchs, die damit verbundene und in einem bestimmten Rahmen mögliche Kontrollierbarkeit

Foucaults (Ausschließungsmechanismen, Verknappungen, Unterwerfungsmechanismen) kommen in diesem Teilsystem deutlich zur Geltung.

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und Regulierbarkeit des Sprachgebrauchs, der Handlungsaspekt von Sprache sowie die je nach Auffassung unterschiedliche Begrenzung des Textbegriffes auf bestimmte Textualitätskriterien. Diese Faktoren sind konstitutiv für einen pragmatischen Sprachbegriff. Aus diesem Grund bedarf es einer anderen Akzentuierung des Intertextualitätsbegriffes142, denn gerade in pragmatisch und diskursanalytisch orientierten Arbeiten, die sich vorwiegend mit Texten befassen, wird man ohne die Kategorie Intertextualität nicht auskommen, zumal der Faktor der Kontextualität eine zentrale Rolle spielt. So können auch intertextuelle Strukturen aufgezeigt werden, wenn die oben erwähnten Faktoren nicht verworfen oder aufgelöst werden oder ein enger Textbegriff vorausgesetzt wird. (Vgl. Linke/Nussbaumer 1997: 120ff., 124) Ausgehend von dem hier zu Grunde gelegten Diskursbegriff, werden Texte als Handlungseinheiten aufgefasst, die in einem diskursiven Verhältnis zueinander stehen und notwendige Konstituenten von Diskursen sind. Dabei impliziert der Handlungsbegriff143 bereits die von Kristeva in Frage gestellte Kategorie der Intentionalität. Ebenso spielen Textualitätskriterien und linguistische Textbeschreibungsdimensionen bei der Konzeptionierung des Textbegriffes eine Rolle, wie weiter unten ausgeführt wird. Diskursanalyse wird somit in den Kontext der Textlinguistik gestellt. Damit wird der Textbegriff zum Ausgangspunkt der Bestimmung des Diskursmerkmales Intertextualität. Betrachtet man sich die mannigfaltigen Definitionen von Text144, muss man konstatieren, dass es sich auch bei diesem Begriff um einen vagen, vielschichtigen und äußerst umstrittenen Begriff handelt. Knobloch beschreibt diese Situation jedoch nicht als defizitär, sondern als zwingend. Text gehört heute mit Wort, Satz und Zeichen zu den aspektheterogenen und offenen Grundbedingungen der Sprach- und Literaturwissenschaften, die nicht abschließend definiert werden können, weil ihre theoretische Produktivität vorwiegend heuristischer Natur ist und sich nur innerhalb bestehender Axiomatisierungen entfaltet. Der alltagssprachliche Ausdruck ‚Text‘ dient dabei als Ausgangs- und

142 Vgl. Linke/Nussbaumer (1997: 122f.). M. E. liegen dabei die postrukturalistischen Konzeptionen von Text und Intertextualität nicht allzu weit weg von sprachpragmatisch fundierten Textkonzepten. Vgl. hier Spieß (2007); vgl. Kap. 2.3.3.2 sowie die Ausführungen weiter unten. 143 Zur Diskussion um den Handlungsbegriff vgl. Holly/Kühn/Püschel (1984), die in ihrem Aufsatz die unterschied lichen Ansätze diskutieren und eine Systematisierung des Handlungsbegriffes aufstellen. Vgl. zum Handlungsbegriff auch Rehbein (1979). 144 Klemm listet die verschiedenen linguistischen Textdefinitionen auf und plädiert auf Grund dieser Vielfalt in einem weiteren Aufsatz nicht dafür, sich auf einen einzigen zu einigen. Stattdessen favorisiert er die Auffassung, Text als prototypisches Konzept aufzufassen, was mehr Spielraum und Offenheit bezüglich der anzusetzenden Textualitätskriterien zulässt. Zum Text als Prototyp vgl. Klemm (2002b: 150); zu den zahlreichen Textdefinitionen vgl. Klemm (2002a).

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Anschlußpunkt. Er bezeichnet wertungsfrei ein materiell abgeschlossenes und schriftlich niedergelegtes Sprachwerk. (Knobloch 1990: 68f.)

Vielmehr geht er von verschiedenen Bezügen aus, in dem der Textbegriff wissenschaftlich entfaltet wird: Produzentenbezug, Rezipientenbezug, Sach- und Zeitbezug, Sprachbezug, Sinnbezug, Handlungsbezug, Selbstbezug und intertextuelle Bezüge. (Vgl. Knobloch 1990: 69) In der Textlinguistik gibt es demnach kein einheitliches Konzept der Textualität145 ; es existieren verschiedene Konzeptualisierungen nebeneinander, die je nach Forschungsperspektive im Rahmen dieser Bezüge unterschiedliche Aspekte von Texteigenschaften fokussieren und unterschiedliche Zugriffsweisen auf Texte praktizieren. So konstatiert Adamzik, dass „eine bündige Definition von Text [...]nur Teilaspekte erfassen [kann] und die Vielzahl von Definitionen [...] wesentlich darauf zurückzuführen [ist], dass man jeweils unterschiedliche (Kombinationen von) Teilaspekte(n) fokussiert.“ (Adamzik 2004: 39, Hervorh. im Original) Wurde mit der Entwicklung der Textlinguistik in den 60er Jahren der Schwerpunkt auf einzelne, den Text konstituierende Aspekte146 gelegt bzw. eine Textbeschreibungsdimension – zumeist die grammatische – fokussiert, so tritt seit den 80er Jahren die Bemühung um die Ent wick lung integrativer Analyseansätze und Textdefinitionen in den Vordergrund, die die heterogenen Dimensionen und Eigenschaften von Texten im Rahmen einer pragma linguistisch orientierten Textlinguistik zu verbinden versuchen147. Im Vordergrund steht dabei die Differenzierung in und die Verbindung von Beschreibungsdimensionen, Eigenschaften und Textebenen, wobei Texte im Kontext der linguistischen Wende zunehmend als kommunikative Handlungseinheiten aufgefasst werden, die immer schon in interaktionalen Zusammenhängen stehen.148 Diese Auffassung wirkt sich auch auf die Textualitätsmerkmale aus (vgl. Feilke 2000). Die unterschiedlichen Zugriffsweisen auf Texte sind der grammatische, der semantische, der pragmatisch-funktionale und der kognitive Zugriff; diese umfassen jeweils noch weitere Kategorien und Merkmale von Texten. Diese Beschreibungsdimensionen bzw. Zugriffs-

145 Wenngleich von einer gewissen Dominanz der Textualitätskriterien Beaugrandes/Dresslers 1981 ausgegangen werden kann. 146 Vgl. beispielsweise Harweg (1968), der die Verknüpfung von Sätzen zu einem Text durch Pronominalisierungsketten gegeben sieht; vgl. Isenberg (1971), der den kohäsiven Zusammenhang zwischen Sätzen zu einem Text durch generalisierbare Regeln als realisiert betrachtet und in seinem Modell auf die Generative Transformationsgrammatik zurückgreift. 147 Vgl. hier Adamzik (2004); vgl. Brinker (62005); vgl. Gansel/Jürgens (2002); vgl. Heinemann/Heinemann (2002); Heinemann/ Viehweger (1991); vgl. Klemm (2002b); vgl. Sandig (2000). 148 Man spricht diesbezüglich auch von Mehrebenenmodellen oder holistischen Ansätzen.

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weisen können anhand unterschiedlicher linguistischer Methoden erfasst werden.149 Einen festgelegten Merkmalskatalog von Textualitätskriterien kann es also nicht geben, sobald ein dynamischer, flexibler und für neue Entwicklungen offener Textbegriff favorisiert wird.150 Vielmehr bietet es sich an von einem Textbegriff auszugehen, der einem prototypischen Textualitätskonzept entspricht, denn dieses versammelt die unterschiedlichsten Textualitätsmerkmale. Zudem reagiert es flexibel auf kulturelle und kontextuelle Differenzen, insofern Kriterien nicht einfachhin ausgeschlossen, sondern vielmehr – je nach (kulturellem) Kontext – zentral oder peripher gestellt werden. 2.3.4.2 Prototypentheorie Die Prototypentheorie wurde von Rosch als Forschungsrichtung begründet. Sie zielt auf die Analyse interner Strukturen von Kategorien, wobei die erste Entstehungsphase des Konzeptes der Prototypentheorie bei Rosch noch deutlich von „psychologischen Testvariablen“ geprägt ist. (Mangasser-Wahl 2000c: 19) Erst in der zweiten Entwicklungsphase des Konzeptes, Mitte der 70er Jahre, setzt sich Rosch mit semantischen Kategorien und deren Strukturprinzipien151 auseinander, so dass das Konzept der Prototypentheorie in den vergangenen Jahren vorwiegend von der Semantik rezipiert und diskutiert und neben die beispielsweise dominante, strukturalistische Merkmalssemantik als ein sie ergänzendes Konzept gestellt wurde. In einer dritten Phase (Ende der 70er bis Ende der 80er Jahre) präzisiert Rosch schließlich ihre Prototypentheorie. Ausgangspunkt Roschs war die Erfahrung, dass semantische Merkmale nicht immer als ein entweder oder, sondern auch als ein mehr oder weniger innerhalb von Kategorien zutreffen können.152

149 Vgl. dazu Kapitel 3 dieser Arbeit, das eine Auswahl an Methoden zur Beschreibung der unterschiedlichen Dimensionen vorstellt. 150 Notwendig ist ein flexibler und dynamischer Textbegriff gerade insofern, als neue Entwicklungen von Kommunikationsformen damit nicht aus der Analyse herausfallen. Zu nennen wären hier insbesondere Kommunikationsformen, die durch das Medium Internet entstanden sind: E-Mail, Chat, Rapid Response, Blog, Twitter etc. 151 Mangasser-Wahl weist darauf hin, dass die Existenz mehrerer unterschiedlicher semantischer Beschreibungsmodelle äußerst begrüßenswert sei, da je nach Kategorie und Perspektive das ein oder das andere Modell besser geeignet sei. Vgl. Mangasser-Wahl (2000c: 25f.) Eine ähnliche Situation liegt innerhalb der Text linguistik vor, wie in diesem Kapitel bereits angedeutet wurde. Dass es mehrere Alternativen hinsichtlich der Beschreibungsmodelle gibt, zeigt nur, dass komplexe Gegenstände unterschiedliche Herangehensweisen erfordern. 152 Vgl. Mangasser-Wahl (2000c: 15). Hier werden die Kernthesen der Prototypentheorie zusammengefasst. „1. Kategorien werden nicht immer durch die Verbindung von ‚notwendigen und hinreichenden‘ Merkmalen definiert. 2. Merkmale sind nicht grundsätzlich

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Die Prototypentheorie ist eine empirisch fundierte Theorie (vgl. Mangasser-Wahl 2000c: 16), deren Untersuchungsgegenstand die Struktur von Kategorien hinsichtlich eines im Zentrum der Kategorie stehenden Prototyps darstellt. Dieser Prototyp ist der beste Vertreter der Kategorie, der auf Grund bestimmter Eigenschaften eindeutig der Kategorie zuzuordnen ist, wobei der Grad seiner Prototypikalität sowie der Grad der Zugehörigkeit zur Kategorie maßgeblich sind. Die Zugehörigkeit zu einer Kategorie wird nun nicht mehr binär entschieden, sondern durch die Kriterien der Prototypikalität, der Ähnlichkeit und der Vorhersagekraft hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer Kategorie, die sich aus der Vorkommenshäufigkeit von zentralen Merk malen berechnen lässt, bestimmt. Als kognitive Grundlage nennt Rosch erstmals das Prinzip der Ähnlichkeitsrelationen, wobei Prototypen als Zentrum der Kategorienorganisation dienen. Mit diesem bereits von Wittgenstein propagierten Konzept der Fa milienähnlichkeit bieten Rosch/Mervis 1975c eine konkrete Alternative zu Merkmalsmodellen der Kategorisierung an. [...] Kategorienmitglieder teilen sich ein überlappendes Netz an ähnlichen Merkmalen, wobei nicht jedes Mitglied alle Merkmale aufweisen muss. (Mangasser-Wahl 2000c: 20)153

So können die Kategorie strukturierende und bestimmende Merkmale mehr oder weniger zutreffen und vor allem kulturell differieren. Die Eigenschaften, die mehr oder weniger Maß gebend für die Zugehörigkeit zu einer Kategorie sind, sind unterschiedlich gradiert. Die unterschiedliche Gewichtung der Merkmale untereinander gibt über deren Wichtigkeit für die jeweilige Kategorie Aufschluss und darüber hinaus auch Hinweise auf die Bedeutung des Merkmals in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften. Die Kategorien lassen sich über diese Merkmale beschreiben, aber nicht jeder Vertreter der Kategorie muss alle die zur Kategorie gehörenden Merkmale aufweisen.154 Prototypische Vertreter vereinen in sich die größte Anzahl kategorienspezifischer Eigenschaften, d. h. Eigenschaften, die nur für eine Kategorie relevant sind. Diese Eigenschaftsbündelung unterscheidet prototypische von peripheren Mitgliedern, die nicht über entsprechende (qualitative oder quantitative) Bündelung von Eigenschaften verfügen. (Mangasser-Wahl 2000c: 21)

binär, d. h. sie treffen nicht immer ‚entweder-oder‘ zu, sondern manchmal auch ‚mehroder-weniger‘. 3. Kategorien verfügen nicht immer über klar definierte Grenzen. 4. Nicht alle Mitglieder einer Kategorie verfügen über den gleichen Stellenwert [...] 5. Kategorien werden nicht immer arbiträr gebildet. 6. Es gibt eine ausgezeichnete Abstraktionsebene bei der Kategorisierung: die Basisebene.“ Mangasser-Wahl (2000c: 15). 153 Mit dem Begriff der Familienähnlichkeit wird direkt an die Spätphilosophie Wittgensteins angeknüpft. Vgl. Wittgenstein PU § 66. Zugleich ist hier aber die Inanspruchnahme der Merkmalssemantik zu verzeichnen, da semantische Merkmale doch auch eine Rolle spielen. Das hebt den sich ergänzenden Aspekt beider Theorien nochmals hervor. 154 Vgl. hier Mangasser-Wahl (2000c: 15); vgl. Sandig (2000: 93f.); vgl. Rosch (1978).

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Die Ränder zwischen den Kategorien sind unscharf und überlappen sich; bei Vertretern, die sich am Rande einer Kategorie befinden, kann es auch zur Zuordnung zu mehreren Kategorien kommen. 2.3.4.3 Text als Prototyp Sandig adaptiert die Prototypentheorie für die Textlinguistik und schlägt eine Beschreibung von Texten und ihren Merkmalen mittels dieses Konzeptes vor, da es sich beim Text um ein vielfältiges und variables Phänomen handelt, das nur unzureichend mit einem starren Merkmalskatalog erfasst werden kann. (Vgl. Sandig 2000: 93; vgl. Klemm 2002b: 150) Protoypische Textualitätsmerkmale sind für sie Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität und Textfunktion, Situationalität sowie das Thema, wobei die Textfunktion den prototypischen Kern ausmacht. Dabei sind die prototypischen Merkmale stark voneinander abhängig und beeinflussen sich gegenseitig. Es muss auch nicht immer das prototypische Kernmerkmal (Textfunktion) dominant sein. Ein für die aktuelle Textlinguistik aktuelles Konzept, das sich auf wenige Grundkategorien konzentriert und dennoch umfassend ist, muss dabei von der funktionalen, der thematisch-inhaltlichen, der situationalen-kontextuellen und sprachlichstrukturellen Dimension der Texte als Beschreibungsdimensionen ausgehen, die nicht immer streng voneinander abgegrenzt werden können. Aus diesem Grund bietet es sich m. E. an, die vier Beschreibungsdimensionen – Situation und Kontext, Funktion, Textthema und sprachliche Gestalt – in das Zentrum der Kategorie Text zu stellen, da Kategorien auch mehrere prototypische Vertreter (hier Textbeschreibungsdimensionen) beinhalten können. Je nach Forschungsperspektive oder Text würde eine dieser Beschreibungsdimensionen dominant sein. Sandig konstatiert in diesem Zusammenhang, dass konfligierende Auseinandersetzungen den Textbegriff betreffend mit einem solchen Konzept nicht [mehr] notwendig [sind], weil Text nicht für alle Fälle von Text-Kommunikation und für alle Beschreibungs-Interessen dasselbe ist. Ein ‚einheitlicher Textbegriff ‘ (Tietz 227) ist also ein prototypischer und dadurch gekennzeichnet, daß er nicht ‚einheitlich‘ ist! Dies entspricht der Vielfalt der gesellschaftlich relevanten Textmuster und der noch größeren Vielfalt individueller Text-Realisierungen. (Sandig 2000: 109)

Der Prototypentheorie zufolge müssen nicht immer alle Textualitätskriterien realisiert sein, damit von einem Text gesprochen werden kann. (Vgl. dazu Adamzik 2004; vgl. Klemm 2002b) Erfüllt ein Text zentrale Kritierien, kann von einem Prototyp gesprochen werden. Grundlegende Textbeschreibungsdimensionen bilden in einem derartigen Konzept das Zentrum; diese können jeweils noch ausdifferenziert werden. Ebenso können Merkmale je nach Forschungsfokus hinzugefügt oder nicht betont werden. (Vgl. hier Sandig 2000: 109; vgl. Klemm 2002b: 150)

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Die pragmatische Beschreibungsdimension erfasst zum einen diese situationalen-kontextuellen Aspekte, zum anderen die Funktionalität von Texten, die von Situation und Kontext zu einem nicht unwesentlichen Teil bestimmt werden. Der thematisch-inhaltliche Zugriff erfolgt durch die Beschreibung der Art und Weise der Themenentfaltung, der Kohärenzstiftung auf semantischer Ebene. Sowohl Funktion als auch Inhalt manifestieren sich in der sprachlichen Gestalt und Struktur, sie beeinflussen sich gegenseitig oder hängen stark von Situation und Kontext ab, so dass ein diese Dimensionen betreffendes starkes gegenseitiges Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis auszumachen ist. Eine eingehende Beschreibung dieser Dimensionen sowie der favorisierten Textebenen und Analysemethoden wird in Kapitel 3 dieser Arbeit erfolgen. 2.3.4.4 Anmerkungen zur Vereinbarkeit von pragmatischen und poststrukturalistischen Grundannahmen hinsichtlich des Textbegriffes M. E. können zwischen poststrukturalistischen Konzeptionen und einer sprachpragmatischen Ausgangsbasis Parallelen hinsichtlich der Autor/Subjekt- und Textkonzeption aufgezeigt werden.155 Wie bereits in Kap. 2.3.3.2 erwähnt, geht ein sprachpragmatischer Textbegriff auch von der Heterogeni-

155 Insbesondere der Subjekt- und Autorbegriff gaben immer wieder Anlass zur Kritik an poststrukturalistischen Konzepten und galten als Gründe für deren Unvereinbarkeit gerade im Hinblick auf pragmatische Grundvoraussetzungen. Vgl. hier beispielsweise Linke/ Nussbaumer (1997), die ihre Kritik (hier am poststrukturalistischen Intertextualitätsdiskurs, insbesondere an der Metaphorik von Macht, Gewalt und Tod) folgendermaßen anbringen: „[…], denn zu unserem Begriff von Gesellschaftlichkeit – und so haben wir auch Saussures ‚fait social‘ immer gelesen – gehört nicht die schlichte Unterwerfung unter Bedingungen, an denen das Individuum nichts ändern kann, sondern in erster Linie das Moment der Aushandelbarkeit – und damit auch die Potenz der Veränderung. Dazu gehört ausserdem immer auch die Möglichkeit der Wahl, d. h. die Freiheit, aus einem zugegebenermassen beschränkten Set sprachlicher Mittel bewusst oder unbewusst auszuwählen – weder der strategische noch der spielerische Charakter sprachlichen Handelns sind denkbar ohne diese Möglichkeit (manchmal auch: Notwendigkeit) der Wahl. Um es noch einmal zu sagen: Wenn ich spreche, spricht nicht (nur) die Sprache – und auch wenn die symbolische Ordnung der Sprache dem Individuum in der Ontogenese als eine gegebene immer schon vorausgeht, ist damit noch nichts ausgesagt über die Bedingungen und Möglichkeiten, Sprache in der Aneignung und im Gebrauch durch das Individuum intentional einzusetzen und allenfalls auch zu ändern.“ Linke/Nussbaumer (1997: 124, Hervorh. im Original); vgl. auch zur Kritik am Tod des Autors S. 121f. Im Zusammenhang der Kritik wurde vor allem angemerkt, dass auf der Basis unbegründeter und inkohärenter Subjekte Verant wortlichkeit nicht mehr begründet werden könne. Im Folgenden sei auf Butler verwiesen, die sich ausführlich mit Foucaults Diskurstheorie auseinandersetzt, diesen zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten macht, sich zudem explizit dem Problem der subjektiven Handlungsmacht und -fähigkeit im Anschluss an Foucaults späte Schriften stellt und dies direkt auf politischen Sprachgebrauch anwendet. Vgl. Butler

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tät des Autors und des Textes aus, Kontextualisierung und Situationalisierung spielen eine zentrale Rolle, Texte werden als Handlungen bzw. Tätigkeit (Kristeva) betrachtet, es besteht ein Gesellschafts-, Sender- und Adressatenbezug, der Autor/der Textemittent ist damit immer schon an vorgegebene Strukturen (Sprechhandlungen, Textmuster etc.) gebunden156 und hat bloß innerhalb vorgegebener Strukturen gewisse Handlungsspielräume. Die für Sprechakte notwendige Intentionalität und Verantwortbarkeit wird auch von poststrukturalistischen Konzeptionen m. E. nur bedingt in Frage gestellt157, vor allem wird sie dann in Frage gestellt, wenn von einem autonomen und allen Kontexten vorgängigen Subjekt ausgegangen wird, wovon in der sprachpragmatischen Theorie aber insofern abgesehen wird, als Textemittenten/Autoren immer abhängig vom Kontext gedacht werden. Subjekte/Textemittenten sind zudem nicht einheitlich gedacht, vielmehr wird von Subjektrollen/ Sprecherrollen ausgegangen, die erst durch die Kontexte und den Diskurs hervorgebracht bzw. produziert werden. (Vgl. Berger/Luckmann 202004: 76–83; vgl. Hannappel/Melenk 21984: 64–68) Der Autor, das Subjekt ist zudem heterogen, insofern es, um verstanden zu werden, sich vorgegebener Muster und Sprechakte bedienen muss. Erwähnt sei hier nur die Wahl einer bestimmten Textsorte zu einem bestimmten Anlass. Im Rahmen dieser Festgelegtheit besitzt das Subjekt allerdings Handlungsspielräume, denn der konkrete Gebrauch von Sprache erfolgt durch die Subjekte und nur so ist auch Sprachwandel erklärbar.158 Butler sieht eine gewisse Verantwortlichkeit gegenüber dem Gesagten nicht in der Originalität oder Ursprünglichkeit des Gesagten, sondern im Gebrauch der Wiederholung; die Handlungsmacht des postsouveränen Subjekts besteht also im „Zwischenraum zwischen Redundanz und Wiederholung“159. Intentionalität wird nicht ausgeblendet, sondern viel-

156 157

158 159

(2003a, 2006, 2007). Meines Erachtens werden mit ihrer Konzeption des postsouveränen Subjekts und Derridas Intentionalitätsbegriff einige Einwände ausgeräumt. Hier sei insbesondere die Sprache erwähnt, in die jedes Individuum hineingeboren wird. „Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine »codierte« oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als »Zitat« identifizierbar wäre? [...] In dieser Typologie wird die Kategorie der Intention nicht verschwinden, sie wird ihren Platz haben, aber von diesem Platz aus wird sie nicht mehr den ganzen Schauplatz und das ganze System der Äußerung beherrschen können.“ Derrida (2001b: 40). Vgl. hier Butler (2006: 221–251); vgl. zum Verhältnis von Diskurs und Sprachwandel Warnke (2000). Butler (2006: 201) sowie (1997: 35ff.). Für Derrida besteht Handlungsmacht gerade in der Iterierbarkeit sprachlicher Zeichen. Denn darin liegt für ihn die Möglichkeit eines Bruches mit bereits bestehenden Kontexten. Das sprachliche Zeichen ist für ihn jederzeit in neue Kontexte überführbar und durch Kontextualität bedingt. Vgl. Derrida (2001b:

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mehr relativiert. Vor allem geht es ihr mit der Konzeption des postsouveränen Subjektes darum, dass einzelne Individuen nie Urheber von Diskursen sein können, die Ursprünglichkeit von Diskursen liegt vielmehr im Ungewissen, als Sprecher aber tragen sie sehr wohl Verantwortung für das Gesagte. Die Verwiesenheit auf bereits Gesagtes im Kontext der Handlungsmacht und -fähigkeit von Subjekten gibt zugleich Aufschluss über die gleichzeitige Statik und Dynamik von Diskursen. Ausgehend von einem mehrdimensionalen, heterogenen und prototypischen Textualitätsbegriff, der die Text übergreifende Ebene des Diskurses mit berücksichtigt, ist jeder Text intertextuell konzipiert, d. h. zunächst allgemein, „daß Texte miteinander interagieren, daß sie miteinander in Beziehung stehen“ und in ein textuelles Beziehungsgeflecht eingebettet sind. (Heinemann 1997: 22) Dabei wird der Textbegriff nicht aufgelöst, wie etwa bei der Konzeption Kristevas. Vielmehr handelt es sich um eine erweiterte Form des Textbegriffes, der Texte in ihrer Kontextualität, Situationalität und Historizität erfasst und damit die Einzeltextebene übergreift, aber auf das sprachliche Material festgelegt bleibt. (Vgl. Warnke 2000, 2001, 2002a, 2000b; vgl. Fix/ Klein 1997) Dabei bedingen sich die Texte gegenseitig, nehmen aufeinander Bezug oder sind Voraussetzung für neue Texte. Ein solcher Textbegriff ist auch dynamisch genug, um auf neue Entwicklungen zu reagieren und neue Formen von Texten zu erfassen. Texte als kommunikative Handlungseinheiten160 sind interaktional ausgerichtet und können somit vor dem Hintergrund eines interaktionalen Kommunikationsmodells erfasst werden, das im Folgenden vorgestellt wird. 2.3.5 Das kommunikative Handlungsmodell als Fundierung des linguistischen Diskursbegriffes Wie aus den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, umfasst der linguistische Diskursbegriff mannigfaltige Faktoren, die für die Bedeutungsgenerierung von Relevanz sind. Der Diskurs wird dabei als Handlungs- und

32); vgl. auch Foucaults Subjektbegriff seiner letzten Schaffensphase, SM sowie Kap. 2.2.4 dieser Arbeit. 160 Kognitive Aspekte der Textproduktion- und -rezeption stehen immer im Hintergrund einer kommunikationsorientierten Auffassung von Texten. Dieser Zugriff soll hier dementsprechend nicht im Vordergrund stehen, da sich die Arbeit primär mit semantischen und funktionalen Aspekten von Texten auseinandersetzt. Dennoch zielen methodische Zugriffsweisen, die die semantische Kohärenz oder aber auch die pragmatische Kraft erfassen immer zugleich auf das Textverständnis, welches prozedural abläuft. Texte werden innerhalb der kognitiven Beschreibungsdimension als Resultat mentaler Prozesse aufgefasst.

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Interaktionsrahmen aufgefasst, in dem Bedeutungen erst erzeugt oder hervorgebracht werden. Die Berücksichtigung des Diskurses soll über die konkreten, situativen, textuellen und Handlungszusammenhänge hinaus das »gesammelte, jeweils relevante Wissen« und die »Modalitäten der Wissensstrukturierung«, die bei der einzelnen Bedeutungskonstitution im kommunikativen Akt eine Rolle spielen, in die Analyse einbeziehen. Sie soll gewährleisten, dass sämtliche kommunikationsrelevanten und damit bedeutungskonstitutiven Faktoren in die Analyse eingehen. (Wengeler 2003: 159)

Die sprachtheoretischen Grundlagen lassen sich in einem Kommunikationsmodell zusammenführen, das die Erzeugung von Bedeutung näher erklären und den heterogenen Faktoren der Bedeutungserzeugung gerecht werden soll. Die im ersten Teil der Arbeit vorgestellten Konzeptionen (Humboldt, Wittgenstein, Bühler, Vološinov, Grice, Austin, Searle, Morris, Saussure) gehen davon aus, dass menschliche Kommunikation eine Art soziale Interaktion darstellt bzw. dass sprachliche Zeichen von ihrer Sozialität her begriffen werden müssen. Demnach stellt Kommunikation eine Art Handeln dar, das wesentlich von situationalen und kontextuellen Faktoren abhängt und immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Prozesse gesehen werden muss. Kommunikation wird dementsprechend als Prozess aufgefasst. Das im Folgenden vorzustellende Modell wird dem prozessualen und dynamischen als auch dem statischen Charakter von Sprache/Sprachhandlungen gerecht, insofern davon ausgegangen wird, dass Bedeutung interaktional hervorgebracht und zugleich dabei auf bestehendes Bedeutungswissen zurückgegriffen wird. Diskurse werden dabei als Sprachhandlungsräume begriffen, die die Konstitution von Bedeutungswissen ermöglichen. (Vgl. Busse 1987: 145, 165f.) [...] sprachliche ‚Bedeutung‘ stellt sich dann nämlich nicht als in sich abgeschlossene und statische Entität dar, sondern als situations- und kontextgebundenes Ergebnis konkreter kommunikativer Anstrengung zwischen Kommunikationspartnern, sich durch regelhafte Verwendung sprachlicher Zeichen miteinander zu verständigen. (Busse 1988: 251)

Auf der Grundlage der bis hier angestellten Überlegungen und vorgestellten Konzeptionen finden im Faktorenmodell kommunikativen Handelns die Produzenten- und Rezipientenseite, die Situationalität und Kontextualität (die Intentionen und Strategien sprachlicher Äußerungen in sozialen Situationen umfasst und demzufolge im Stande ist, diskursive Texte und deren Sinngenerierung auf allen sprachstrukturellen Ebenen zu beschreiben) gleichermaßen Beachtung. Damit wird Kommunikation als sprachliche Interaktion und gesellschaftliche Praxis beschrieben und im Gefolge dessen Texte als komplexe kommunikative Handlungen behandelt, in denen sich Wissen manifestiert. Letztlich wollen sie [kommunikationsorientierte Textmodelle] ausweisen, dass Texte immer nur in bestimmten sozialen Zusammenhängen geäußert werden; d. h. dass

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ihnen immer nicht nur eine kommunikative, sondern auch eine bestimmte soziale Funktion zukommt, und dass Kommunikation als kommunikative Tätigkeit eingebettet ist in ein Geflecht von Tätigkeiten, die unter bestimmten gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen vollzogen werden und so das praktische Leben der Individuen in der Gesellschaft weitgehend prägen. (Heinemann/Heinemann 2002: 86) Texte fungieren also in einem Interaktionsrahmen der wechselseitigen Einflussnahme der Partner aufeinander. Sie sind aus dieser Sicht nur noch Teile von übergreifenden Kommunikationsakten, die weit über den Text selbst hinausreichen. (Heinemann/Heinemann 2002: 88)

Das Faktorenmodell kommunikativen Handelns zielt darauf ab, komplexe sprachliche Handlungen im Kontext pragmalinguistischer Annahmen auf überindividueller, gesellschaftlicher Ebene adäquat zu beschreiben161 sowie die gesellschaftliche Eingebundenheit, die sich durch das Vorhandensein allgemein gesellschaftlicher Handlungsmuster zeigt, zu verdeutlichen. Die kontextuelle und situationelle Gebundenheit, also das gesellschaftlich bedingte und konstituierte verstehensrelevante Wissen, bedingt die Bedeutungsgenerierung in kommunikativen Handlungen und Diskursen und ist somit Voraussetzung kommunikativer Handlungen. Auf der Basis der gesellschaftlichen Gebundenheit wird im Diskurs/in den kommunikativen Handlungen Wissen produziert, verändert oder erweitert. Die Beschreibungsdimensionen von Texten (Funktionalität, Thematizität, Situationalität und Kontext sowie die sprachliche Struktur) lassen sich somit innerhalb dieses interaktiven Kommunikationsmodells verorten. Texte als Teilereignisse komplexer Interaktionen haben eine besondere Relevanz innerhalb von Interaktionsprozessen. Insofern sie „als Instrumente kommunikativen Handelns zur Durchsetzung bestimmter Ziele der Agierenden [fungieren]“(Heinemann/Heinemann 2002: 60), bietet es sich an, sie vor diesem Hintergrund zu betrachten. Erst durch die das Ambiente einer kommunikativen Handlungssituation gegebenen epistemischen und kognitiven Momente ermöglichen es dem einzelnen Zeichen, seine Funktion in der kommunikativen Realisierung von Sinn zu erfüllen. Erst in der kommunikativen Handlung wird das Zeichen zum bedeutungsvollen Zeichen und damit erst zum Zeichen. (Busse 1988: 253)

Bedeutungen werden performativ hervorgebracht. In Anlehnung an Hannappel/Melenk (21984), Busse (1987, 1988, 1989), Volmert (1989), Wengeler (1992), Herrgen (2000), Fix (2006) sowie Girnth (2002) lassen sich folgende konstitutive Faktoren kommunikativer Handlungen formulieren:

161 Vgl. hier auch Wengeler (2003: 157ff.). Wengeler geht hier auf die Einbindung des Diskursbegriffes in ein Kommunikationsmodell ein; vgl. dazu auch Busch (2004: 126); vgl. Herrgen (2000: 37f.).

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1. Kontextfaktoren a) Situation (Relevanz- bzw. Kommunikationsbereich, Thema, Handlungsbereich, Situationsrollen und -typen) b) Annahmen über die Situation und den Kontext (textueller Ko- und Kontext [Intertextualität], Vorgeschichte, kulturelle Konstanten etc.) c) Partnerhypothesen (Situationsrollen, Erwartungen und Annahmen, die auf gesellschaftlichem Wissen und Handlungsmustern basieren und überindividuell sind) d) verstehensrelevantes Wissen (Gesellschafts- und Weltwissen, Wissen um Handlungsmuster und Situationstypen) Diese Faktoren beziehen sich sowohl auf die Emittenten- als auch auf die Rezipientenseite und umfassen zudem unterschiedliche Ebenen.162 2. Handlungsfaktoren des Emittenten e) Intentionen (Handlungsziele) f) Strategien (Handlungsmittel) 3. Faktoren auf Seite der Rezipienten g) Verständnis h) Konsequenz Die Kontextfaktoren bilden die Voraussetzung für die kommunikative Handlung, wie der nachstehenden Übersicht 2.3-2 zu entnehmen ist. Die kommunikative Handlung hat sowohl statischen als auch dynamischen Charakter, insofern an vorhandene Wort-/Sprachverwendungsmuster angeknüpft wird, zugleich aber auch neue Bedeutungen bzw. Verwendungsmuster generiert werden und Wirklichkeit somit erst konstruiert wird.163 In einem weiteren Schritt werden die einzelnen Faktoren des Modells näher erläutert.

162 Gemeint ist hier z. B. der sprachliche und außersprachliche Kontext. Diese beiden Typen lassen sich wiederum in unterschiedliche Formen ausdifferenzieren. 163 Straßner beschreibt das Wechselverhältnis folgendermaßen: „Mit Sprache orientiert sich der Mensch in und über die Wirklichkeit. Er registriert seine Erfahrungen, verbalisiert und objektiviert sie, und mit Sprache wirkt er aktiv auf die Wirklichkeit, auf seine natürliche und gesellschaftliche Umwelt ein, organisiert er soziales Zusammenleben.“ Straßner (1987: 17f.) Dieses Wechselverhältnis wird in Übersicht 2.3-2 durch die Doppelpfeile verdeutlicht.

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außersprachliches und sprachliches verstehensrelevantes, gesellschaftliches Wissen

Sprecher

Intention

Hörer

Strategie

Äußerung

Verständnis

Konsequenz

Partnerhypothesen Annahmen über die Situation, Situationserwartungen

Situation (Relevanzbereich, Kommunikations- und Handlungsbereich, Thema, Situationsrolle, Situationstypen…)

Übersicht 2.3-2: Faktorenmodell der Kommunikation164

2.3.5.1 Die Kontextfaktoren Bei der Analyse sprachlichen Handelns spielen Situation und Kontext eine fundamentale Rolle, da diese Faktoren entscheidend für die Funktionen sprachlichen Handelns und der Bedeutungskonstitution sind. Innerhalb des Kommunikationsmodells kommt diesen Faktoren eine sprachhandlungsba-

164 Das Faktorenmodell wurde modifiziert nach Hannappel/Melenk (21984: 12–22, insbesondere 21); Volmert (1989: 28–40, insbesondere 33); Herrgen (2000: 37–39, insbesondere 38); Girnth (2002: 31f., insbesondere 32). Zudem sind Aspekte aus Busse (1987: 145–166), Busse (1988: 253–257), Busse (1989: 84–87), Wengeler (1992: 19–23), Wengeler (2003: 159) sowie Fix (2008b: 254–276) eingeflossen.

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sierende Funktion im Kommunikationsprozess zu, wie anhand Übersicht 2.3-2 zu erkennen ist. Die Faktoren Situation und Kontext umfassen äußerst vielfältige und heterogene Aspekte, die im Folgenden etwas näher zu spezifizieren sind. Dabei wird auf Ausführungen von Auer (1986), Berger/ Luckmann (202004), Volmert (1989), Busse (1987, 1988, 1989 und 2007), Blommaert (2005) und Hannappel/Melenk (21984) zurückgegriffen. Beide Begriffe hängen eng miteinander zusammen, insofern die Situation als kontextuell relevanter Aspekt aufgefasst wird und den Kontext näher spezifiziert (Situationskontext). Kontext bzw. Kontextualität sind Relationsbegriffe, die die kommunikative Handlung in Bezug zu anderen Handlungen, sprachlichen und außersprachlichen Elementen setzen und sich in den sprachlichen und den außersprachlichen Kontext differenzieren lassen. Unter Kontext lassen sich alle Elemente kommunikativen Handelns fassen, die die sprachlichen Handlungen beeinflussen, steuern oder in irgendeiner Weise näher bestimmen, d. h. hier fallen sämtliche Formen von Wissen (Alltagswissen, sprachliches Wissen und kulturelles Wissen)165 hinein. Der sprachliche Kontext umfasst dabei unterschiedliche Sprachebenen – wie beispielsweise den unmittelbaren Wortkontext, den Wortfeldkontext, den Satzkontext, den textuellen Kontext und textübergreifenden/intertextuellen Kontext.166 Die sprachlichen Kontextebenen sind somit entsprechend den sprachlichen Ebenen des Diskurses festzulegen und beziehen immer auch außersprachliche Elemente mit ein.167 Wie weit der Kontext bei der jeweiligen Analyse gefasst wird, hängt von der spezifischen Forscherperspektive und unter anderem auch von der Realisierbarkeit der Analyse ab. Der außersprachliche Kontext umfasst den situativen und kulturellen Kontext168, wobei auch hier sprachliche Elemente eine Rolle spielen. Darüber hinaus spielt auch die prozessuale Rolle des Kontexts eine zentrale Rolle, die im Anschluss an Gumperz (1982), Auer (1986) und Blommaert (2005) als Kontextualisierung beschrieben werden kann. So wird durch die sprachliche Äußerung der Kontext erst hervorgebracht bzw. wer-

165 Vgl. zur Differenzierung dieser Wissensformen Fix (2006, 2008b). 166 Auch hier wird deutlich, dass sich diese Differenzierung nur auf der analytischen Ebene aufrecht halten lässt. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass der außersprachliche und der sprachliche Kontext miteinander stark verschränkt sind, was beispielsweise durch den Bezug auf Handlungsmuster oder Situationstypen deutlich wird. 167 Vgl. hier vgl. Busse (2007), der in Kontextualisierungstypen und -ebenen differenziert. 168 Vgl. hier Franck (1996: 1329). Franck unterscheidet hier in endogenen Kontext und exogenen Kontext. Der endogene Kontext bezieht sich stark auf den textuellen Kontext. Der exogene dagegen umfasst alle nicht direkt vom Text abhängigen Kontextfaktoren wie situationelle und kulturelle Bedingungen, von denen der Text zwar nicht direkt Auskunft gibt, die aber den Text in seiner Gestalt bedingen. Eine solche Trennung ist m.E. jedoch nicht immer möglich.

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den sprachliche Äußerungen durch die Kontextualisierung eine entsprechende Bedeutung erlangen. Die Situation, in die sprachliche Handlungen eingebettet sind, besteht aus einem subjektiven und einem intersubjektiven bzw. objektiven Moment. Auf der subjektiven Seite stehen jeweils bestimmte Einschätzungen – etwa Partnerhypothesen, sprachliches und außersprachliches Wissen, Erwartungen etc. – , die die Akteure hinsichtlich der jeweiligen Kommunikationssituation – bewusst oder unbewusst – vornehmen und demgemäß sie die Situation definieren.169 Auf der intersubjektiven Seite geht es um gesellschaftliche Dispositionen, Obligationen, Konventionen etc., von denen die Beteiligten bis zu einem gewissen Grad in ihrer Handlungsfreiheit begrenzt bzw. bestimmt werden170. Sie stellen sozusagen den Handlungsrahmen, von dem die Akteure maßgeblich beeinflusst werden und die zugleich als Orientierungsrahmen dienen.171 Vor diesem Hintergrund findet letztlich auch die Situationsdefinition, die angenommenen Partnerhypothesen und damit verbunden Handlungs- bzw. Verstehenser wartungen des handelnden Akteurs statt. Begriffe wie Situationsdefinition, Situationstyp und Situationsrolle sind demnach zur Präzisierung des Situationsfaktors heranzuziehen. Jede Situation wird von den beteiligten Akteuren unbewusst definiert, insofern sie einem Situationstyp zugeordnet wird. Bei der Zuordnung von Situationen zu Typen werden die einen Fakten/Aspekte der Situation als mehr und andere als weniger relevant betrachtet. Voraussetzung für die Zuordnung von Situationen zu Typen sind überindividuelle, gesellschaftliche Klassifizierungen und Regelungen, in die jeder Mensch hineingeboren wird und die jeder Mensch während des Sozialisationsprozesses erlernt.172 Inner-

169 Vgl. hier auch Bayer (1977: 90–101). Bayer stellt heraus, dass sich die Situationsdefinition in Kommunikationsprozessen permanent als Prozess ereignet. Vgl. Bayer (1977: 94f.). 170 Vgl. hier auch Bayer (1977: 95f.) „Eine erste vorläufige und allgemeine Antwort auf die oben formulierte Frage besteht daher in der Feststellung, daß die Definition der Situation durch ein Netzwerk größtenteils gruppen-, kultur- und gesellschaftsspezifischer Typisierungen, d. h. normativer und kognitiver Schemata determiniert ist, daß also der individuelle Situationsdefinitionsprozeß zumindest teilweise erklärbar wird auf der Grund lage einer Annahme sozialer Interpretationsschemata und sozialer Muster der Handlungsorientierung.“ Bayer (1977: 95f.); vgl. auch zusammenfassend Bayer (1977: 98). Die Situation kann unterschiedlich eng oder weit definiert werden, insofern es „eine je unterschiedliche Toleranzbreite in der individuellen Sinnbestimmung jeder sprachlichen Handlung gibt“. Volmert (1989: 32). 171 Vgl. Wunderlich (1974: 311); vgl. Berger/Luckmann (202004: 49–98); vgl. Volmert (1989: 35). 172 Vgl. hier Berger/Luckmann (202004: 24f.) „Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Alltagswelt wird also als ein kohärentes und dynamisches Gebilde von Typisierungen wahrgenommen, welche umso anonymer werden, je mehr sie sich vom »jetzt und Hier« der Visà-vis-Situation entfernen.“ Berger/Luckmann (202004: 36, vgl. auch die Seiten 33–35). Hannappel/Melenk beschreiben diesen Prozess folgendermaßen: „Mit anderen Worten:

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halb von Situationen folgen die Akteure bestimmten Situationsrollen und -mustern. Dieses Wissen um Situationsrollen und Situationsmustern ist ein gemeinsam geteiltes, gesellschaftliches und kulturell bedingtes Wissen, welches vorausgesetzt ist und nicht mehr hinterfragt zu werden braucht. Auf diesem Hintergrund finden Diskursaktivitäten statt und werden von dieser Seite strukturiert.173 Bestimmt werden die jeweiligen Situationstypen von den Situationsrollen. Berger/Luckmann formulieren den prozessualen Zusammenhang zwischen Individuum und Rollenverhalten folgendermaßen: Der Handelnde identifiziert sich in actu mit den gesellschaftlich objektivierten Verhaltenstypisierungen und stellt die Distanz zu ihnen wieder her, wenn er später über sein Verhalten nachdenkt. Diese Distanz zwischen dem Akteur und der Aktion kann das Bewußtsein bewahren und auf künftige Wiederholungen der Aktion projizieren. Das handelnde Selbst und der handelnde Andere werden so nicht als einzigartig, sondern als Typen empfunden. Diese Typen sind per definitionem austauschbar. Von Rollen können wir erst dann sprechen, wenn die Form der Typisierung sich innerhalb der Zusammenhänge eines objektivierten Wissensbestandes ereignet, der einer Mehrheit von Handelnden gemeinsam zu eigen ist. In solchem Kontext sind Typen von Handelnden Rollenträger. [...] als Träger einer Rolle – oder einiger Rollen hat der Einzelne Anteil an einer gesellschaftlichen Welt, die subjektiv dadurch für ihn wirklich wird, daß er seine Rollen internalisiert. Im allgemeinen Wissensvorrat gibt es standardisierte Formen von Rollenspiel, zu denen alle Mitglieder einer Gesellschaft Zugang haben. Diese Allgemeinzugänglichkeit ist als solche Teil des Wissensvorrates. Man weiß nicht nur allgemein, was zur Rolle gehört, sondern man weiß auch daß das allgemein gewußt wird. (Berger/ Luckmann 202004: 78)

Entsprechend der Situationsrolle174, die je nach Situation eingenommen wird, werden Verhaltenserwartungen an die Situationsrolle gestellt. Es gilt also bestimmte Verhaltensvorgaben einzuhalten. Vor diesem Hintergrund sind die Partnerhypothesen zu sehen. Partnerhypothesen knüpfen direkt an das Wis-

die Klassifi zierungen sind gesellschaftlich, und gesellschaftliche Klassifzierungen nennen wir Typisierungen.“ Hannappel/Melenk (21984: 62); vgl. auch Bayer (1977: 90–101). Vgl. hier auch Wittgensteins Konzept der Lebensform, Kapitel 1.4 dieser Arbeit. 173 Vgl. Berger/Luckmann (202004: 57, 76ff.) Nur durch die Habitualisierung von Tätigkeiten ist es möglich, Situationen einzuschätzen und Partnerhypothesen vorzunehmen. „Eingefahrene Bedeutungen, die der Mensch seiner Tätigkeit verliehen hat, erübrigen es, daß jede Situation Schritt für Schritt neu bestimmt werden muß.“ Berger/Luckmann (202004: 57); vgl. auch Straßner (1987: 18ff.). 174 Hannappel/Melenk unterscheiden den Begriff Situationsrolle nochmals in situationsüberdauernde Rolle, situationsbezogene Rolle und ereignisbezogene Rolle. Vgl. Hannappel/ Melenk (21984: 68); vgl. Volmert (1989: 36). Meines Erachtens lässt sich hier ein Zusammenhang zwischen dem rollensoziologischen Begriff der Situationsrolle und dem von Foucault favorisierten Begriff der Subjektpositionen, die ein Subjekt innerhalb von Diskursen einnehmen kann, herstellen. Vgl. AW: 82, und 78. An dieser Stelle stellt Foucault den Konnex zwischen Subjektposition und Situationsdefinition her.

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sen um Situationsrollen an.175 Tatsächlich spielen zahlreiche konkrete Faktoren für die Konstitution der Situation eine entscheidende Rolle176. Neben der Situation sind also das gesellschaftliche, verstehensrelevante Wissen, die mit der Situation zusammenhängenden Annahmen über die Situation und der Kommunikationspartner (Partnerhypothesen) zu den Kontextfaktoren zu zählen. Die aktuelle Erfahrung des Kontextes und der Situation wird kontrastiert auf den Sinnhorizont allgemeiner Handlungserfahrungen. Diese sind als Handlungsmuster und Interpretationsmuster spezieller Teil des allgemeinen Wissens, und damit Teil des konkreten Handlungswissens. Hand lungsmuster sind Erfahrungen mit Handlungsweisen, die als Abstraktion aus vergangenen Handlungsvollzügen Anleitungscharakter für künftiges Handeln haben. (Sie werden auch als ‚Konventionen‘ bezeichnet.) Interpretationsmuster sind Abstraktionen aus Weisen der Welt-Erfahrung, die als thematische kulturelle Konstanten Wahrnehmung und Interpretation von Welt und sozialer Interaktion steuern. Handlungs- und Interpretationsmuster stehen in engem Bezug zu sozialen Regeln. (Busse 1987: 156)

Die Situation177, der sprachliche und außersprachliche Kontext von Aussagen, Texten und kommunikativen Handlungen sind die Basis der anderen Faktoren, da sie starken Einfluss auf die Strategien und Intentionen und damit auf die Funktionalität nehmen. Der Zusammenhang zwischen den situativen und kontextuellen Konstanten wird in diesem Kommunikationsmodell deutlich. Es beschreibt die intersubjektive Sinnrealisation als sozialen, überindividuellen Vorgang und kann von daher einer pragmatisch ausgerichteten Diskursanalyse im Anschluss an Foucault zu Grunde gelegt werden. Situation und Kontext bestimmen nicht nur die kommunikative Handlung, vielmehr wirkt die kommunikative Handlung auch wieder zurück und nimmt Einfluss auf die Situation und den Kontext, insofern durch sie der außersprachliche und sprachliche Kontext modifiziert wird. Entscheidend ist die Feststellung, daß die kommunikative Funktion von Sprechhandlungen in der durch sie ausgelösten Modifikation der Situationen der Kommunikationspartner und damit der Sozialsituation besteht. (Bayer 1977: 111)178

175 Vgl. dazu auch Berger/Luckmann (202004: 76–83) und Volmert (1989: 36f.). Zu den Partnerhypothesen als relevante Situationsfaktoren vgl. Bayer (1977: 104–109). 176 Diese konkreten Faktoren müssen für die je spezifische Situation neu formuliert werden. Hier können zunächst nur die abstrakteren Elemente benannt werden. Vgl. zu den Situationsfaktoren bei Bayer (1977: 104–109). 177 Im nachfolgenden Kapitel 2.4 wird die Situation als politische Situation spezifiziert. 178 Unter Sozialsituation versteht Bayer das System der einzelnen Situationen und ihrer Relationen. Vgl. Bayer (1977: 101, 110). Der zugleich dynamisch-modifizierende Charakter als auch der statische Charakter des Handlungsmodells wird in der Übersicht 2.3-2 durch die doppelseitigen Pfeile zum Ausdruck gebracht.

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2.3.5.2 Faktoren der Emittentenseite: Intention und Strategie Damit es überhaupt zu einer Äußerung kommt, muss man dem Emittenten Intentionalität unterstellen. Aus den vorangegangenen Kapiteln dürfte jedoch deutlich geworden sein, dass der Begriff der Intentionalität einer Relativierung bedarf, insofern die Realisation von Sprecherintentionen immer schon eine kontextuelle Gebundenheit an gesellschaftliche Handlungsmuster und -normen impliziert, wie aus dem Modell deutlich wird. Daraus folgt m. E., dass nurmehr von relativer Intentionalität gesprochen werden kann.179 Diese begriffliche Präzisierung wird auch den Erfordernissen eines Diskursbegriffes gerecht, dem es nicht um individuelle kommunikative Akte geht, sondern der die gesellschaftliche, überindividuelle Ebene fokussiert. Das Faktorenmodell kommunikativen Handelns schließt sowohl die individuelle als auch die überindividuelle Ebene in seine Erklärung von Bedeutungsgenerierung ein. (Vgl. Busse 1987: 254–256; vgl. Wengeler 2003: 159) Die Situation hat unmittelbar Auswirkungen auf die Äußerung. Dabei nimmt der situative Kontext zunächst auf die Intention und auf die gewählte Strategie des Sprechers Einfluss, was sich schließlich in einer der Intention entsprechenden Äußerung manifestiert. Intentionen von Sprechern im politischen Kontext sind beispielsweise das Erlangen von Macht und Zustimmungsbereitschaft. Dabei geht es darum, die Vorstellungen der Eigengruppe durchzusetzen, Einfluss auszuüben oder Handlungsdispositionen beispielsweise von Wählerinnen und Wählern zu verändern. Intention und Situation stellen also wesentliche Faktoren dar, die Einfluss auf die anderen Faktoren des Modells haben. Die Situation bedingt die Intention, welche unmittelbare Auswirkung auf die verfolgte Strategie sprachlichen Handelns hat. Die Strategie steht dabei in einer Mittel-Zweck-Relation zur Intention, insofern sie die Umsetzung des Handlungszieles regelt. Der durch das Handlungsfeld 179 Wunderlich (21978) konstatiert in diesem Zusammenhang ebenfalls die kontextuelle Gebundenheit, wenn er formuliert: „Ich verstehe Intentionen als besondere Einstellungen des Sprechers, und zwar Einstellungen darauf, was er mit seiner Handlung (speziell mit seinem Sprechakt) erreichen will; in einer Interaktionssituation will der Sprecher bestimmte Änderungen in den Einstellungen des Adressaten, und vermittels dessen evtl. in dem Verhalten des Adressaten erreichen. Man kann aber nur solche Intentionen bei einer Handlung haben, die auf Grund des Handlungsschemas zulässig oder möglich sind.“ Wunderlich (21978: 96f.) Ähnlicher Auffassung ist Volmert: „»Willen« und »Absicht« sollen in unserem Konzept allerdings von ihrer Bedeutung so weit gefaßt sein, daß auch die gerade noch bewußten Antriebe eines Sprechers in den Begriffen enthalten sind; zu »Willen« und »Absicht« sollen die unreflektierten, aber bewußt zu machenden und u.U. erfragbaren Impulse der Alltagskommunikation ebenso gehören wie die routinierte Normerfüllung vorgegebener bzw. »vorgeschriebener« Zielsetzungen in institutionalisierten oder ritualisierten Sprachhandlungssituationen.“ Volmert (1989: 31). Vgl. hier auch Butler (2006: 219–221) und Derrida (2001a und b) bzw. die Ausführungen zur relativen Intentionalität im vorangehenden Kapitel.

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bestimmte Situationstyp manifestiert sich in der Wahl der Textsorte und somit in der Textfunktion. Letztere ist Ausdruck der Sprecherintention und an bestimmte Textsorten gebunden. Erst durch Strategien als Umsetzung der von den Emittenten verfolgten Ziele und Intentionen können Äußerungen manifestiert werden. Um sich zu äußern, bedarf es also notwendigerweise einer Strategie. 2.3.5.3 Faktoren der Rezipientenseite: Verständnis und Konsequenz Die Faktoren auf Rezipientenseite sind gleichwohl schwieriger zu erfassen. Generell jedoch kommen auch auf dieser Seite die Kontext- und Situationsfaktoren zur Geltung, insofern der Hörer eine Situationsdefinition vornimmt, über verstehensrelevantes Wissen verfügt (z. B. Handlungsmuster), Annahmen über den Emittenten und dessen Rolle macht etc. Kommunikatives Handeln ist, als soziale Interaktion, nur möglich durch Anwendung gesellschaftlich verbreiteter Handlungsmuster. Die kommunikativen Handlungsmuster bilden in jeder vollzogenen Handlung eine Matrix, die sprachliche, kommunikative und soziale Konventionen, Sinn- und Funktionszusammenhänge, kognitive und epistemische Voraussetzungen so zusammenfaßt, daß sie ein Sinnganzes ergeben, welches dem Hörer im Nachvollzug des Handlungskalküls des Sprechers ermöglicht, den von diesem intendierten Sinn zu realisieren. (Busse 1988: 256)

Sowohl Emittent als auch Adressat verfügen also über ein verstehensrelevantes Wissen, definieren die Situation, nehmen Partnerhypothesen vor etc., um entsprechend ihren Vorannahmen die Aussage zu formulieren bzw. zu verstehen. Auf Hörerseite spielen all die genannten Faktoren für das Verständnis und der sich daraus ergebenden Konsequenz eine zentrale Rolle. Aus den Partnerhypothesen und der Situationsdefinition etc. ergeben sich somit bestimmte Erwartungen (Rollenerwartungen) an den Sprecher. Der Faktor Verständnis des kommunikativen Prozesses kann somit als Interpretationsprozess, der den Faktor Konsequenz nach sich zieht, betrachtet werden. (Vgl. Hannappel/Melenk 21984: 22) Ob der Sprechakt mit dem vom Emittenten intendierten perlokutionärem Effekt auch eintritt, hängt nicht zuletzt von der Disposition und der fokussierten Intention des Hörers ab (vgl. Herrgen 2000: 39). Mit Hörmann kann man davon ausgehen, dass jeder kommunikative Akt von Hörern/Rezipienten nach dessen Sinn befragt und damit verstehensorientiert interpretiert wird. Hörmann spricht hier von der „Sinnkonstanz“, die er von der „Verstehenskonstanz“ unterscheidet180, da für das Verstehen der Hand180 „Da der Hörer jedoch auf der Basis des von ihm Wahrgenommenen handeln muß und dies nur tun kann, wenn er das Wahrgenommene (z. B. die gehörte Äußerung) sinnvoll in die ihn umgebende Welt einordnen kann, muß das Gefühl des Verstandenhabens auch

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lung wiederum der Sprecher nach dem von ihm Gemeinten befragt werden müsste. Sprechakttheoretisch ist eine kommunikative Handlung dann geglückt, wenn sie verstanden wurde. Zum erfolgreichen Verstehen kann der Sprecher eine Menge dazu beitragen, wenn dieser bestimmte Voraussetzungen für das Gelingen des Sprechakts beachtet.181 Wengeler formuliert als für das Gelingen der kommunikativen Handlung wesentliche Voraussetzungen das Vorhandensein gesellschaftlich allgemeiner Handlungsmuster, einer Lebenspraxis, die zumindest in vielen Komponenten übereinstimmt. Das Eingebundensein in von der sozialen Gemeinschaft (vor)gegebene Handlungsmuster bedingt, dass Bedeutungs- bzw. Sinnkonstitution in kommunikativen Akten sich nicht allein aus den verwendeten sprachlichen Zeichen ergibt und rekonstruieren lässt, sondern dass kollektives Weltwissen, sprachliche, kommunikative und sozia le Konventionen in die sprachliche Handlung einfließen und zu berück sichtigen sind. (Wengeler 2003: 158)

Allerdings geht es bei kommunikativen Akten nicht immer nur um das Gelingen von Sprechhandlungen. Das Modell ist ebenso offen, nicht geglückte Akte zu beschreiben. So können das verstehensrelevante, außersprachliche und sprachliche Wissen, die Interpretation der Situation, die Annahmen über den Partner bei den Kommunikationspartnern differieren. Insbesondere wenn politisch oder gesellschaftlich differente Gruppen miteinander kommunizieren, die zudem ihre Äußerungen entsprechend der favorisierten Adressierten so kodieren, dass diese mehrere Bedeutungen haben und deren Strategie vor allem in der Abgrenzung zur Fremdgruppe besteht, kann von einer solchen nicht unbedingt verständigungsorientierten Kommunikationssituation ausgegangen werden.182 Zusammenfassend lässt sich mit Wengeler festhalten: Im kommunikativen Akt wird gleichzeitig Wissen über die Welt intersubjektiv konstituiert, das vorhandene Wissen wird erneuert und bestätigt, aber auch erweitert. Die Konstitution unserer Wirklichkeitserfahrung geschieht also in kommunikativen Handlungen, und deshalb erlaubt deren Analyse in einer gegebenen Epoche unter Berücksichtigung der von den Kommunikationspartnern zu beachtenden

autonom, ohne Zustimmung des Senders der Äußerung zustandekommen können. Was durch die Sinnkonstanz konstantgehalten wird, ist also nicht das durch den Sender der Äußerung bestätigte Verstandenhaben dieser Äußerung, sondern das mit dem Gefühl des Verstehens einhergehende Sinnvollsein einer Äußerung, das nicht mehr identisch zu sein braucht mit dem vom Sprecher Gemeinten; aus diesem Grunde ist der Begriff der Sinnkonstanz besser als etwa der der Verstehenskonstanz.“ Hörmann (41994: 208). 181 Letztlich wird immer eine Differenz zwischen dem vom Sprecher Gemeinten und dem vom Hörer für sinnvoll akzeptierten bestehen bleiben, da sich die Erfahrungen der Kommunikationsakteure und die sie bestimmenden Faktoren nie ganz decken werden. 182 Vgl. folgendes Kapitel Sprache und Politik; vgl. hier auch Wengeler (1992: 21f.).

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Voraussetzungen auch Rückschlüsse auf die Wirklichkeitserfahrung, die Bewußseinslage, die Mentalität der Handelnden und damit der Zeit. (Wengler 1992: 21)

2.4 Sprache und Politik im Kontext der Diskurslinguistik Da mit dem Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung ein öffentlich-politischer Diskurs als Untersuchungsgegenstand vorliegt und der öffentlich-politische Kommunikationsbereich mit seinen Besonderheiten für die Untersuchung des Diskurses relevant wird, soll hier nun eine Verbindung zwischen der Sprache- und Politik-Forschung und der Diskurslinguistik hergestellt werden. Im Folgenden geht es also um die Einbindung von Diskursen in öffentlich-politische Kontexte und in dem Zusammenhang um eine Differenzierung des öffentlich-politischen Kommunikationsbereichs. 2.4.1 Sprachliches Handeln in der Politik Der Themenkomplex Sprache und Politik stellt mittlerweile in der Linguistik einen eigenständigen Forschungsteilbereich183 dar, der als Politolinguistik oder Sprache-und-Politik-Forschung bezeichnet wird und der den Kommunikationsbereich Politik bzw. politisches Sprechen in seinen vielfältigen Ausprägungen beschreibt. Ausgangspunkt und Legitimationsgrund für die Politolinguistik ist dabei die Annahme, dass Sprachhandeln einen zentralen und konstitutiven Aspekt politischen Handelns darstellt, wenngleich politisches Handeln nicht im Sprachhandeln aufgeht. Dies konvergiert mit der Auffassung vom wirklichkeitskonstitutiven Potenzial der Sprache, was bereits in Kapitel 1 dieser Arbeit als theoretische Grundannahme erörtert wurde und bei der Erörterung des linguistischen Diskursbegriffes eine zentrale Rolle spielte (vgl. Kap. 2.2 und 2.3). Insbesondere das pragmatische Faktorenmodell der

183 Eingehendere Studien über das Verhältnis von Sprache und Politik reichen erst bis in die 50er Jahre zurück. Genau genommen entstand die linguistische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sprache und Politik mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem durch die Auseinandersetzung mit der Sprache der Nationalsozialisten. Vgl. Burkhardt (1988: 331); vgl. Girnth (2002: 13). Damit entstand auch ein eigenständiger linguistischer Gegenstandsbereich Sprache und Politik. Die Auseinandersetzungen im Bereich Sprache und Politik erfolgten sowohl auf empirischer Ebene, als auch auf theoretischer Ebene. Latniak (1986) geht genauer auf die einzelnen frühen Phasen der Politolinguistik ein. Insbesondere stellt er die Entwicklung von der kontextent hobenen, lexikonorientierten Vorgehensweis hin zu einer unter handlungstheoretischen Aspekten und kontextuell verfahrenden Analyse heraus. Vgl. Latniak (1986: 29–39). Vgl. hier auch Burkhardt (1988: 333); vgl. Schröter (2006: 17–20). Zur Genese der politolinguistischen Forschung vgl. auch Holly (1990: 39ff.).

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Kommunikation kann hier als Ausgangspunkt dienen, den Sprachgebrauch im Kommunikationsbereich Politik adäquat zu beschreiben, da es die für diesen Kommunikationsbereich relevanten sprachlichen und außersprachlichen Faktoren in die Analyse mit einbezieht und auf die wirklichkeitskonstitutiven Ziele im Sinne der jeweiligen intendierten Durchsetzung von Wirklichkeitsdeutungen durch politische Akteure mittels politischen Sprachgebrauchs eingeht. In Übereinstimmung mit der genannten Grundannahme beschreibt Lübbe Politik sprachhandlungstheoretisch als „die Kunst, im Medium der Öffentlichkeit Zustimmungsbereitschaft zu erzeugen.“ (Lübbe 1975: 107) Diese Auffassung von Politik ist an Öffentlichkeit gebunden und setzt ein demokratisches Rechtssystem voraus. Zudem wird hier bereits auf die persuasive Funktion184 sowie auf die Erfolgsorientierung politischen Sprachhandelns hingewiesen, was zwar nur eine Facette politischer Sprache und politischen Sprachhandelns – aber eine zentrale – ist. Sprache und Politik stehen in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis, das sich mit Grünert folgendermaßen beschreiben lässt: Politisches Handeln wird durch (mit) Sprache entworfen, vorbereitet, ausgelöst, von Sprache begleitet, beeinflußt, gesteuert, geregelt, durch Sprache beschrieben, erläutert, motiviert, gerechtfertigt, verantwortet, kontrolliert, kritisiert, be- und verurteilt. Politisches Handeln ist mit sprachlichem Handeln, ist mit Kommunikationsprozessen verbunden. Politisches Handeln geht nicht im sprachlichen Handeln auf, aber es ist grundsätzlich angewiesen auf den Austausch von Signalen. (Grünert 1984: 43)

Was allerdings unter Politik zu verstehen ist, ist äußerst umstritten. In der jüngeren Politikwissenschaft hat sich ein Politikbegriff durchgesetzt, der dem heterogenen Bereich gerecht werden möchte. Politik wird dabei dreidimensional beschrieben und aufgefasst als politiy, politics und policy. Polity umfasst die formale Dimension bzw. den Rahmen von Politik als Institutionen- und Normengefüge. Politics stellt Politik als politischen Prozess dar und kann als verfahrensmäßige Dimension charakterisiert werden. Im Vordergrund stehen hier Prozesse der Konfliktaustragung, der Meinungsfindung, der Frage nach der Durchsetzung von Zielen und Interessen. Policy schließlich meint die inhaltliche Dimension von Politik und umfasst die Art und Weise der Verarbeitung konkreter Probleme in politischen Konfliktfeldern. Zwar gibt es zahlreiche Probleme, die gesellschaftlich existieren, aber nicht alle werden po-

184 Vgl. hier auch Klein (1995b: 71, 92f.) Klein geht hinsichtlich der persuasiven Funktion in politischen Reden auf heutige Verhältnisse (im Gegensatz zur antiken Rhetorik) ein und modifiziert diese Funktion entsprechend. Klein schlägt vor, zusätzlich zur persuasiven Funktion von Erfolgsorientierung politischer Kommunikation zu sprechen. Vgl. diesbezüglich auch Schröter (2006: 46f.).

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litisch relevant, d. h. nicht alle müssen politisch bearbeitet oder gelöst werden. (Vgl. Kaase 1998) Dass diese drei Dimensionen stark miteinander vernetzt und nicht immer leicht zu trennen sind, liegt auf der Hand. Entsprechend der Heterogenität und Vielfältigkeit des politischen Gegenstandsbereiches entfaltet sich politische Kommunikation also in verschiedenen Dimensionen: Politisches Sprachhandeln findet in Institutionen, in öffentlich-politischen Meinungsbildungsprozessen, in politischen Prozessen der Akzeptanzschaffung und Zustimmungswerbung und in jeglichen gesellschaftlichen Bereichen, die politischer Gestaltung bedürfen, statt. (Vgl. hier Girnth/Spieß 2006: 8; vgl. Klein 1998a: 194–199) Das heißt, dass die Analyse des Sprachhandelns im öffentlich-politischen Kommunikationsbereich nicht auf den Politiker fokussiert bleibt, sondern alle möglichen Akteure und Kommunikationsformen umfassen kann. Ein solch weiter, nicht ausschließlich auf staatliches bzw. auf den Staat bezogenes sprachliches Handeln umfassender Politikbegriff bietet zudem den Vorteil, dass das, was politisch ist, nicht von vornherein festgelegt ist. (Vgl. Burkhardt 1996: 79; vgl. auch Sarcinelli 2005: 15–18) Vielmehr können die unterschiedlichsten Inhalte und Sachverhalte zum Gegenstand der Politik und damit der Politolinguistik werden, sofern diese für gesamtgesellschaftliche Entscheidungen und Meinungsbildungsprozesse relevant sind (vgl. Herrgen 2000: 41; vgl. Holly 1990: 20). Aufgaben und Ziele der Politolinguistik bestehen in der deskriptiven Beschreibung der sprachlichen Strukturiertheit und Besonderheit des Kommunikationsbereiches Politik. Die Ana lyse kann sich dabei auf alle sprachstrukturellen Ebenen erstrecken. Die meisten politolinguistischen Untersuchungen folgen dabei mehr oder weniger explizit bzw. mehr oder weniger selbstverständlich einem pragmatischen Sprachbegriff, der immer auch das Handlungspotenzial von Sprache und die Kontextualität sprachlicher Manifestationen in die Analyse mit einbezieht.185 Neuere Arbeiten favorisieren dabei einen an Foucault orientierten diskursana lytischen Ansatz.

185 Vgl. hier beispielsweise Herrgen (2000: 40). Insbesondere Untersuchungen der lexikalischen Ebene fokussieren seit der kommunikativ-pragmatischen Wende in den 70er Jahren die Spezifität des Sprachgebrauchs und stellen die Gebundenheit der lexikalischen Sprachebene an die anderen Sprachebenen – wie etwa Satz, Text, Diskurs – heraus. Erkenntnisleitend ist seither die Auffassung von Sprache als einer Form sozialen Handelns, die kontextuell und situationsgebunden ist. Vgl. Cherubim (1980: 7); vgl. Girnth (2002: 10). In den vergangenen Jahren nehmen Untersuchungen, die sich mit der Handlungsgröße des Diskurses befassen, zunehmend Raum in der politolinguistischen Forschungslandschaft ein. Vgl. hier u.a. die Düsseldorfer Schule v.a. Wengeler (1992: 2003) sowie Niehr/ Böke (2000) und Niehr (2004); vgl. auch Fraas (2004) und (2005a und b); vgl. Musolff (2005a).

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2.4.2 Der Kommunikationsbereich Politik Kennzeichnend für den Kommunikationsbereich Politik ist dessen spezifische politische Situationalität, die den Rahmen für diesen Bereich absteckt. Die politische Situation lässt sich näherhin durch typische Merkmale/Eigenschaften politischer Kommunikation, durch verschiedene Handlungsfelder, die nochmals eine Binnendifferenzierung des Kommunikationsbereiches zulassen sowie durch die mit den Handlungsfeldern in Zusammenhang stehenden typischen Grundfunktionen politischen Sprechens charakterisieren. Diese Faktoren strukturieren und differenzieren die politische Situation auf unterschiedlichen Ebenen. 2.4.2.1 Merkmale politischer Kommunikation Einige typische Merkmale politischer Sprachverwendung186 – Interdisziplinarität, Prozessualität, Massenmedialität, Öffentlichkeit, Mehrfachadressiertheit, Inszeniertheit, Gruppenbezogenheit, Konsens- und Dissensorientiertheit sowie Repräsentationalität – sind charakteristisch für die politische Situation und ermöglichen eine Differenzierung von anderen Kommunikationsbereichen.187 Einerseits resultieren diese Merkmale aus den Strukturelementen der politischen Situation, den Handlungsfeldern und Sprachfunktionen, andererseits können sie als Bedingungsmöglichkeit politischen Sprachgebrauchs aufgefasst werden. Politisches Sprechen zeichnet sich durch das Merkmal der Interdisziplinarität aus. Interdisziplinarität wird innerhalb politischer Kommunikation durch Themen gebundene Ereignisse und Sachverhalte ins Spiel gebracht und resultiert aus einem weiten Politikbegriff und Gegenstandsbereich. Alles, was gesellschaftlich relevant ist, kann politisch werden und somit auch

186 In der Forschung wird eine Vielzahl von Differenzierungsmerkmalen zur Beschreibung politischer Kommunikation vorgeschlagen. Die hier genannten Eigenschaften und Aspekte stellen zentrale und konstitutive Merkmale des Kommunikationsbereiches Politik in demokratischen Gesellschaften dar. Vgl. Burkhardt (1988: 334) und (1998: 98f.); vgl. Dieckmann (2005: 21ff.); vgl. Girnth (2002: 33–35); vgl. Holly (1990: 29–44); vgl. Klein (1995b: 71–97); vgl. Schröter (2006: 45–52); vgl. Strauß (1986a: 3–66); vgl. Kaase (1998). 187 Allerdings ist eine klare Abtrennung von anderen Kommunikationsbereichen nicht möglich, denn mit diesen Merk malen lassen sich auch andere Kommunikationsbereiche beschreiben. Kein Merkmal kann demnach ausschließlich auf den politischen Kommunikationsbereich bezogen werden. In ihrem Zusammenspiel aber stellen sie typische Eigenschaften dieses Bereiches dar. Dieses Phänomen macht wiederum deutlich, dass es sich beim Kommunikationsbereich Politik um einen äußerst dynamischen, für unterschiedliche Themen offenen und veränderbaren Kommunikationsbereich handelt. Dies wird bei der Beschreibung der einzelnen Merkmale noch deutlicher. Vgl. hierzu Girnth/ Spieß (2006: 8f.); vgl. Strauß (1986b: 192); vgl. Kaase (1998).

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Gegenstand der politischen Situation und der Politolinguistik sein. Die politische Situation ist demnach nicht statisch, sondern von vielen wandelbaren Faktoren, Bedingungen und dem jeweiligen Kontext abhängig. Damit verweist der Gegenstandsbereich der Politik geradezu auf die Notwendigkeit von Interdisziplinarität. Die inhaltlichen Gegenstände, welche Politik verhandelt und behandelt, stammen immer aus einem bestimmten Fachgebiet.188 Im öffentlich-politischen Diskurs können je nach inhaltlichem Gegenstand zudem unterschiedliche Wissenskomplexe verschiedener Fachgebiete aufeinander treffen189. Kennzeichnend ist hier der prozessuale Charakter politischer Kommunikation, der sich insbesondere in der Generierung von Diskursen immer wieder zeigt.190 Prozessualität ist mithin durch die Uneinheitlichkeit von Raum, Zeit, Publikum/Adressatenkreis und Ziel hinsichtlich der Rezeption und Textproduktion bedingt.191 Vor dem Hintergrund der pragmalinguistischen Ausrichtung der Politolinguistik findet auch eine Öffnung in Hinblick auf Methoden anderer Disziplinen statt, die als Analyseinstrumentarium herangezogen werden, wie anhand des im vorigen Kapitel eingeführten Kommunikationsmodells exemplarisch deutlich wird.192 In methodischer Hinsicht erweist es sich bei einem so komplexen Gegenstandsbereich als notwendig, Erkenntnisse und Methoden anderer Fachdisziplinen in das linguistische Methodenspektrum zu integrieren sowie auf Theorien anderer Fachdisziplinen – wie beispielsweise der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Medien- und Kommunikationswissenschaften oder der Literaturwissenschaft – zu rekurrieren, um politi-

188 Vgl. zum Rüstungsdiskurs Wengeler (1992); vgl. zum Migrationsdiskurs unter anderen Niehr/Böke (2000); vgl. Niehr (2004) oder Wengeler (2003); vgl. zum Diskurs um den § 218 Böke (1991); vgl.zum Diskurs über die Atomenergie Jung (1994); vgl. zum Rassismus-Diskurs Matouschek u.a. (1995). Vgl. nicht zuletzt den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, den Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung. Vgl. dazu Spieß (2007, 2009). 189 Vgl. hier exemplarisch den Stammzelldiskurs, der sich aus dem juristischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen, theologischen, ethischen, ökonomischen, medizinischen Fachbereichen konstituiert. 190 Vgl. hier auch Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 191 Vgl. hier Klein (1995b: 71f.) Klein stellt in diesem Zusammenhang die klassische rhetorische Rede der modernen politischen Kommunikation gegenüber und arbeitet so zentrale Merkmale/Eigenschaften/Besonderheiten politischen Sprechens in modernen parlamentarischen Demokratien heraus. Hinsichtlich des Merkmals Prozessualität konstatiert Klein, dass heute politische Entscheidungen Resultate von Verfahren – insbesondere Gesetzgebungsverfahren – sind, die im Kontext massenmedial vermittelter Diskurse stehen. Vgl. Klein (1995b: 72). Die Uneinheitlichkeit hinsichtlich der Ziele politischer Kommunikation hängt unmittelbar mit dem Merkmal der Mehrfachadressierung zusammen, wovon weiter unten die Rede sein wird. 192 Dieses Modell ist vor allem hinsichtlich der Faktoren Situation, Situationstypen, Situationsrollen in der Soziologie zu verorten.

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sche Kommunikation adäquat beschreiben zu können.193 Ein pragmatischer Sprachbegriff impliziert bereits den Einbezug anderer Fachdisziplinen, da er gesellschaftliche Aspekte und außersprachliche Faktoren (wie beispielsweise das verstehensrelevante Wissen für die Kommunikationssituation), die notwendige Bedingungsverhältnisse für die Textproduktion darstellen, in seine Konzeption mit einbezieht. So findet eine diskursive Vernetzung mit anderen Disziplinen auf zwei Ebenen statt: Auf methodischer Ebene und auf inhaltlicher, den Gegenstandsbereich betreffender Ebene. Durch das Merkmal der Prozessualität wird nochmals deutlich, dass politisches Sprechen bzw. politische Kommunikation in größere Zusammenhänge eingebettet und interaktional ausgerichtet ist194, hier wird der Begriff des Diskurses und der Diskursivität einzelner Aussagen und Ereignisse zentral. Massenmedialität kann als ein weiteres zentrales Merkmal moderner demokratischer Gesellschaften angesehen werden, das eng in Verbindung mit den Merkmalen der Öffentlichkeit und der Mehrfachadressierung steht und Prozessualität erst bedingt. Mit der Herausbildung einer Öffentlichkeit bedurfte es einer Vermittlungsinstanz, die nicht nur kleine Gruppen, sondern ein möglichst großes Publikum erreichte195, wodurch ein gegenseitiges Be193 Im Zusammenhang mit der linguistischen Diskursanalyse beispielsweise kann konstatiert werden, dass das literaturwissenschaftliche Konzept der Intertextualität in den Analysekatalog der Sprachwissenschaft aufgenommen und für politolinguistische Untersuchungen operationalisiert wurde. Vgl. Linke/Nussbaumer (1997) oder Fix/Klein (1997). Bei der Operationalisierung des aus der französischen Philosophie Foucaults stammenden Diskursbegriffes speziell für die Sprachpragmatik spielen sozialwissenschaftliche Aspekte des Rollenverhaltens, des gesellschaftlichen Wissens und des sozialen Handelns eine bedeutende Rolle und müssen – um dem Konzept aus pragmatischer Sicht gerecht zu werden – aus diesem Grund in den linguistischen Diskursbegriff integriert werden, was u.a. durch das zu Grunde gelegte Kommunikationsmodell geleistet wird. Vgl. dazu Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit. 194 Die interaktionale Ausrichtung bezieht sich auf Text-Text-Interaktionen, insofern Texte auf andere Texte reagieren bzw. zur Voraussetzung für die Produktion neuer Texte werden, aber sie bezieht sich auch auf die intersubjektive Ebene, die allerdings für den Zusammenhang der Arbeit weniger interessant ist. 195 Vgl. hier auch Kapitel 2.3.3.4 dieser Arbeit. Da es sich bei der Entwicklung von Öffentlichkeit und Massenmedia lität um sehr komplexe, wechselseitige Prozesse handelt, die zudem von äußerst unterschiedlichen Faktoren abhängen, können diese hier nicht diskutiert werden, vielmehr soll bloß auf die gegenseitige Bedingt heit der Entwicklung von Öffentlichkeit und Massenmedialität hingewiesen werden. Zur Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit vgl. Habermas (1990: 69–122). Zur Entwicklung politischer Funktionen der Öffentlichkeit vgl. Habermas (1990: 122–160). Habermas geht ebenso auf den Zusammenhang und das Wechselspiel von Öffentlichkeitsentstehung und Medienentwicklung ein und stellt die durch sie in Gang gesetzte Änderung der Struktur sowohl der Massenmedien wie auch der Öffentlichkeit heraus. Vgl. dazu Habermas (1990: 293–342). Vgl. auch Gerhards/Neidhardt (1991: 31–41). Zur Entwicklung von Öffentlichkeit über direkte Interaktionen, über Versammlungen bis hin zur medialen Öffentlichkeit vgl. die soziologischen Ausführungen von Gerhards/Neidhardt (1991: 49–56)

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dingungs- und Abhängigkeitsverhältnis von Öffentlichkeit und Massenmedialität zu konstatieren ist. Öffentlichkeit wird mit der Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der Massenmedien als Teilsystem der Gesellschaft institutionalisiert und auf Dauer gestellt. [...] Die zentrale Funktion von Öffentlichkeit besteht in der Ermöglichung der Beobachtung der Gesamtgesellschaft durch die Gesellschaft, in der Ermöglichung von Selbstbeobachtung [...]. Massenmedien stellen das Beobachtungssystem der Gesellschaft insgesamt dar, indem sie ein nach ihrer Rationalität selektiertes Bild der Gesellschaft zeichnen und dieses der Gesellschaft zur Selbstbeobachtung zurück funken. In der medialen Kommunikation spiegelt sich die Gesellschaft selbst. (Gerhards 1994: 87)

Die Herausbildung einer Öffentlichkeit und damit zusammenhängend der Massenmedialität196 beeinflusst(e) den Kommunikationsbereich Politik auf Grund wechselseitiger Abhängigkeit und Bedingtheit der Bereiche immens197; so muss politische Kommunikation sich den Mechanismen massenmedialer Öffentlichkeit anpassen, um Gehör zu finden, das Mediensystem wiederum ist auf Neuigkeiten aus dem politischen Bereich angewiesen, um die Frequenz steigern zu können. Durch die Massenmedien kann politisches Sprachhandeln ein sehr großes, heterogenes, unüberschaubares und disperses Publikum

oder Gerhards (1994: 84). Hier wird auf den direkten Zusammenhang zwischen der Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit und der Entwicklung von Massenmedialität hingewiesen. „In historischer Perspektive hat sich die Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit von der strukturell wenig verfaßten Interaktionsöffentlichkeit über örtlich zentrierte Öffentlichkeiten wie Salons, Kaffeehäuser und Lesegesellschaften und politische Veranstaltungen hin zur medial vermittelten Öffentlichkeit entwickelt. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit waren und sind die semantischen Korrelate der drei verschiedenen Öffentlichkeitsebenen, die mit ihrer rechtlichen Kodifizierung wiederum zur Institutionalisierung der Ebenen von Öffentlichkeit beigetragen haben.“ Gerhards (1994: 84). Massenmedialität bildet dabei die Grundlage für das ausdifferenzierte Teilsystem Öffentlichkeit. Vgl. Gerhards (1994: 84–87). 196 Zur Entwicklung von Massenmedialität und Ausdifferenzierung des Mediensystems vgl. Gerhards (1994: 85). Zur Entwicklung der Massenmedialität vgl. auch Burger (32005: 32–63). Im Zusammenhang der zunehmenden Entwicklung der Massenmedien durch die Nutzung neuer Techniken werden auch Befürchtungen laut, dass es ein massenmediales, politisch interessiertes Publikum bald nicht mehr in der Form geben werde, denn durch die Diversifi kation der Medien fragmentiere sich das Publikum in die unterschiedlichsten Teilöffentlichkeiten, die nicht mehr durch klassische Massenmedien wie Presse oder Fernsehen erreicht werden könnten, da sich diese Teilöffentlichkeiten spezieller Medienformen bedienten. Vgl. Kübler (2000: 12). Ob sich das tatsächlich so verhält, wie hier behauptet, müsste einer genaueren Überprüfung unterzogen werden. 197 Eine Richtung in der soziologischen Öffentlichkeitsforschung spricht hier von einer Wechselwirkung des politischen Systems und des Mediensystems. Vgl. Schmitt-Beck/ Pfetsch (1994: 115). Andere Richtungen sprechen entweder dem System der medialen Öffentlichkeit oder dem politischen System jeweils die Dominanz über das andere System zu.

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erreichen. Der Kommunikationsbereich Politik wird durch diese Konstellation auf besondere Weise beeinflusst und bestimmt. Auf der einen Seite muss sich die politische Kommunikation diesem heterogenen Adressatenkreis anpassen, um möglichst viel Zustimmungsbereitschaft zu erlangen. Auf der anderen Seite muss politische Kommunikation, will sie die Kanäle der Massenmedien benutzen, sich den Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien unterordnen.198 Da die Massenmedien miteinander in Wettbewerb stehen und um Einschaltquoten, Verkaufszahlen etc. konkurrieren, sind diese bemüht darum, einen möglichst großen Adressatenkreis anzusprechen. Diesen erreichen sie, wenn sie bestimmte Kriterien bei der Produktion von Information beachten, die vor allem der Frequenzsteigerung (Einschaltquoten, Verkaufszahlen etc.) dienen.199 Als primäres Kriterium der Massenmedien200 gilt die Erzeugung von Aufmerksamkeit, das sich näherhin in die Zeitdimension, Sozialdimension und Sachdimension differenzieren lässt.201 Die Zeitdimension umfasst dabei den Aspekt der Neuigkeit und Aktualität von Nachrichten, mit dem die Verknappung von Nachrichten einhergeht, die Sozialdimension zielt auf das Konfliktpotenzial ab und die Sachdimension fokussiert quantitative Aspekte mit aufmerk samkeitssteigernder Funktion.202 Aus dem Grund, dass politisches Sprachhandeln in den meisten Fällen mehrfachadressiert ist, spielt strategisches Handeln, das in spezieller Weise inszeniert wird/werden muss, eine entscheidende Rolle. Mehrfachadressierung

198 Zur gegenseitigen Beeinflussung und Wechselwirkung von politischem Kommunikationsprozess, Öffentlichkeit und politischem System vgl. Luhmann (1970: 16). Zum Verhältnis von Massenmedien und Politik vgl. Luhmann (1990: 180–182). 199 Vgl. hier Luhmann (1981: 317–320); vgl. Gerhards (1994: 90–91). „Da die Rezeptionsmotivation des Publikums nicht per se gegeben ist, muß die Aufmerksamkeit für die von einem Medium verbreiteten Informationen vor allem unter Konkurrenzbedingungen erst erzeugt werden. Dies geschieht durch Anreize, die Auf fälligkeiten sichern und beim Publikum Aufmerksamkeit auslösen.“ Gerhards (1994: 91). Vgl. auch Habermas (1990: 275–292). Habermas geht hier auf die Entwicklung der Massenmedien hin zu Dienstleistungsunternehmen ein. 200 Teilsysteme, zu denen auch das Mediensystem oder das System der Öffentlichkeit zählt, sind nach Luhmann durch binäre Codes strukturiert. Für das Mediensystem gilt der binäre Code Aufmerksamkeit/Nicht-Aufmerksamkeit. Vgl. hier (Gerhards 1994: 88–89); vgl. Luhmann (1981: 315). Vgl. Kapitel 2.3.3.4 dieser Arbeit. 201 Vgl. Luhmann (1970: 10–13). Hier geht er auf die unterschiedlichen Aufmerksamkeitsregeln näher ein, unter denen Aufmerksamkeit und Themen verteilt werden. Unter die Aufmerksamkeitsregeln fasst er a) die Priorität bestimmter Werte, b) Krisen und Krisensymptome (Konfliktpotenzial), c) Status des Absenders (Autorität und Prestige), d) Symptome politischen Erfolgs, e) Neuheit der Ereignisse sowie f) Schmerzen oder zivilisatorische Schmerzsurrogate (wie z. B. Bedrohungen von Beziehungen, Verlust von Geld und Ansehen). 202 Vgl. hier auch Schmitt-Beck/Pfetsch (1994: 113). Vgl. zu den einzelnen Dimensionen auch Luhmann (1990: 176–180) sowie Gerhards (1994: 89–91); vgl. auch Luhmann (1970: 10–13).

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resultiert nach Edelman (1964) und Strauß (1986) aus der „Doppelung der Realität“. Edelman (1976) geht aus von der Tatsache, daß politisches Handeln potentiell immer in der Öffentlichkeit (im Sinne von Massenöffentlichkeit) oder in den Teilöffentlichkeiten einzelner Institutionen (Parteien, Fraktionen, Verbände usw.) situiert ist und entwickelt daran die These von der ‚Doppelung der Realität des Politischen‘. Die politische Realität sei durch eine ‚Brechung in zwei Realitätsebenen: Machtkampf und Täuschung über diesen Machtkampf, Nachricht und Deutung, strategische Rationalität und symbolische Mystifikation‘ [...] gekennzeichnet. (Strauß 1986a: 14)203

Der Inszenierungscharakter 204 politischer Kommunikation kommt insbesondere vor dem Hintergrund der Mehrfachadressierung und der Selektionskriterien der Massenmedien zur Geltung. So kann zwischen direkt beteiligten Adressierten und indirekt beteiligten Adressierten unterschieden werden (vgl. Strauß 1986a: 14–27). Ein Ziel politischen Sprechens besteht darin, den intendierten, verschiedenen Adressatengruppen gerecht zu werden. Die entsprechenden Handlungen und Texte müssen so inszeniert sein, dass sie die unterschiedlichen Adressatenkreise gleichermaßen ansprechen, was durch Polyfunktionalität der Texte erreicht werden kann. (Vgl. Kühn 1995; vgl. Kapitel 2.3.3.4 dieser Arbeit) Holly definiert in diesem Zusammenhang Inszenierung als das Aufzeigen unterschiedlicher Interpretationsebenen (vgl. Holly 1990: 54- 59). In Anlehnung an Edelman (1964) spricht Dieckmann hier von „trialogischer Kommunikation“, innerhalb dieser kommunikative Verfahren zwischen zwei Akteuren zum Zwecke eines dritten Akteurs geradezu inszeniert werden205. Man könnte auch sagen, dass sprachliches Handeln im Kommuni-

203 Strauß entwickelt zum Phänomen der Mehrfachadressierung bzw. der Doppelung der Realität in Anlehnung an Edelman und Dieckmann eine Dreiecksstruktur der Kommunikation und unterscheidet in direkt und indirekt Adressierte/Angesprochene sowie in primär und sekundär Gemeinte. Dabei stimmen der direkt Adressierte und primär gemeinte Adressat nicht überein. Vielmehr wird die Kommunikation mit dem direkt Angesprochenen, aber indirekt Adressierten zum Zwecke der primär gemeinten Adressaten, aber indirekt Angesprochenen inszeniert. Die von den Akteuren intendierten sprachlichen Handlungen sind demnach auf der Kommunikationsebene der sekundär Adressierten, aber primär Gemeinten zentral. Vgl. Strauß (1986a: 16ff.) Ein gutes Beispiel für eine derartige Inszenierungskonstellation stellen Polit-Talks dar, wobei die Inszenierung gerade bei Polit-Talks nicht nur die sprachlichen Aspekte, sondern in hohem Maße auch die außersprachlichen Modalitäten betrifft. Schultz spricht in diesem Zusammenhang von (audio)visueller Inszenierung. Vgl. Schultz (2006, 2003); vgl. darüber hinaus auch Holly (2005) oder Luginbühl (1999). 204 Vgl. Dieckmann (1981); vgl. Strauß (1986a: 14ff.); vgl. Holly (1990: 54ff.). 205 Dieckmann (1980: 268). Dabei vollzieht sich „die Beeinflussung der öffentlichen Meinung [...] nicht in direktem Zusammentreffen von Propagandist und Bürger bzw. Massenöffentlichkeit in der großen Versammlung, sondern in nicht-kooperativen Kommunikationsverbindungen über die Massenmedien; der Einweg-Charakter dieser asymmetrischen

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kationsbereich Politik häufig bewusst vage bleibt, um den unterschiedlichen Adressatengruppen gerecht zu werden. Der Inszenierungscharakter kommt insbesondere vor dem Hintergrund des Öffentlichkeitsbezugs zur Geltung.206 In der Analyse kommt nicht systematisch zur Geltung, daß der Öffentlichkeitsbezug ein konstitutiver Faktor für das Ereignis selbst ist. Nicht nur, daß viele Ereignisse – politische oder nicht politische, kommunikative oder nicht kommunikative – nicht so stattfänden, wie sie stattfinden, wenn sie nicht übertragen würden; viele würden überhaupt nicht stattfinden. (Dieckmann 1980: 269)207

Durch die zunehmende Medialität ist die Politik zudem darum bemüht, neue Öffentlichkeitsbereiche bzw. –formen208 zu erschließen, um weitere Adressatenkreise zu erreichen. Politische Kommunikation ist gekennzeichnet durch Gruppenbezogenheit. Die einzelnen Akteure sind zumeist Repräsentanten einer bestimmten (sozialen) Gruppe. Grob lassen sich zunächst die Eigengruppe und die Fremdgruppe unterscheiden, wobei die Eigengruppe und alles, was diese betrifft, positiv und die Fremdgruppe zumeist negativ bewertet wird. (Vgl. Girnth 2002: 33) Die jeweiligen Gruppen wirken identitätsstiftend, insofern sich

Kommunikation läßt eine Rückkoppelung in der Regel nicht zu.“ Strauß (1986b: 170). Vgl. hier auch die Ausführungen zur parlamentarischen Debattenrede bei Dieckmann (21975: 100f.); vgl. Burkhardt zuletzt (2005: 85–88) oder Strauß (1986b: 190). Die Autoren betonen, dass die parlamentarische Debattenrede sich an unterschiedliche Adressaten richtet und demnach polyfunktional ist. Auf der einen Seite werden die Parlamentarier adressiert, jedoch nicht mit dem Ziel, diese zu überzeugen. Die relevanten Entscheidungen wurden hinsichtlich der meisten zu verhandelnden Sachverhalte bereits in vorher stattgefundenen, nicht-öffentlichen Sitzungen der Fraktionen vollzogen. Der eigentliche Adressat ist das heterogene Publikum außerhalb des Parlaments. Aus diesem Grund spricht Dieckmann auch davon, dass der redende Abgeordnete zum Fenster hinausredet. Vgl. Dieckmann (21975: 101); vgl. Strauß (1986a: 24). Vgl. hierzu auch Habermas (1990: 306f.) Anders verhält es sich natürlich in denjenigen Debatten, die vom Fraktionszwang enthoben sind und in denen es tatsächlich um noch nicht bereits feststehende Entscheidungen geht, was zweifellos relativ selten vorkommt. Beispiele hierfür wären zum einen die Hauptstadtdebatte vom 20. Juni 1991, in der es darum ging zwischen Bonn oder Berlin als Hauptstadt zu entscheiden oder die Debatte zum Stammzellgesetz vom 30. Januar 2002, die sich mit drei Anträgen den Import embryonaler Stammzellen betreffend, befasste. 206 Vgl. hier beispielsweise politische Interviews oder Polit-Talks, die geradezu auf Öffentlichkeit angewiesen sind. 207 Schmitt-Beck/Pfetsch sprechen hier von der Inszenierung von „Pseudoereignissen“. Vgl. Schmitt-Beck/Pfetsch (1994: 118ff.). 208 Vgl. insbesondere Öffentlichkeitsarenen, die sich mit der Etablierung des Mediums Internet neu konstituiert haben und sich in relativ jungen Kommunikationsformen wie Rapid Response, Chat, Blog, E-Mail etc. zeigen. Vgl. Girnth/Michel (2006) zur Kommunikationsform des Rapid Response; vgl. zur Chat-Kommunikation Dorta (2005) oder Beißwenger (2001); zur Weblog-Kommunikation vgl. Schlobinski/Siever (2005); vgl. Fraas/ Barczok (2006).

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die je einzelne Gruppe auf gemeinsame Werte, Handlungen und Ziele, gruppenspezifische Deutungs- und Interpretationsmuster festlegt.209 Dabei wird die identitätsstiftende Funktion der Gruppen zumeist diskursiv und über die Massenmedien in öffentlich-politischen Diskursen erzeugt210. Um überhaupt von einer Eigengruppe sprechen zu können, bedarf es notwendigerweise einer Fremdgruppe, die der Abgrenzung dient und Werte, Einstellungen sowie Handlungen und Ziele verfolgt, von denen die Eigengruppe sich abgegrenzt wissen möchte. Identität mit der Gruppe ist dabei durch mehrere Faktoren bedingt: Gruppengefühl (Wir-Gefühl), Bewusstsein von Zugehörigkeit, Formen von Vergemeinschaftung, gemeinschaftsbildende Handlungsorientierungen, kollektive Deutungsleistung von Zugehörigkeit, gemeinsame Werthaltungen, Ausbildung gemeinsamer Werthaltung, dynamisch-prozessuale Aushandlung von Gemeinsamkeiten, Selbst- und Fremddefinitionen sowie eine komplexe Wechselwirkung von Selbst- und Fremddefinitionen, Ausgrenzung von Nicht-Dazugehörigen, Abgrenzungen zu Fremden und die gleichzeitige Integration ‚Gleichgesinnter‘, Kampf- und Konkurrenzsituationen, wechselseitige Zuschreibungsakte, funktionale Beziehung für die individuelle Identitätsbildung.211 Kollektive Gruppenidentitäten werden dabei in einem dynamischen Prozess zwischen Selbstzuschreibung der Gruppe und Fremdbildern konstruiert. Es bedarf also einerseits einer Bindung nach innen und einer Abgrenzung nach außen durch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Bezugsgruppen. Referenzpunkt bilden dabei die Selbstbilder einer Gruppe. Ein Abgleich zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung stellt somit eine Notwendigkeit für die Konstitution der Gruppenidentität dar. Der Kern eines solchen Abgleichs ist die Unterscheidung in ein kollektives Wir und in die Gruppe der Anderen bzw. des Sie. Die kollektive Größe ist prinzipiell dynamisch und substanziell (durch Aushandlungsprozesse) veränderbar.212 Der Ort der Identitätsbildung

209 Hier werden an alle möglichen Formen der politisch relevanten und für öffentlich-politische Diskurse relevanten Gruppenbildungen gedacht. Vgl. hier Themenheft „Soziale Bewegungen und kollektive Identität“ der Zeitschrift Neue Soziale Bewegungen (1/1995). 210 Insbesondere bei der Entstehung von Diskursen ist eine solche Gruppenbildung über die Massenmedien festzustellen. Es gibt aber auch andere Formen der Gruppenbildung, beispielsweise durch interpersonelle Kontakte (Parteiwerbung auf Wahlveranstaltungen, Mitgliederwerbung an ‚Ständen‘ etc .) Doch sind auch solche Formen auf massenmediale Vermittlung von Botschaften, die der Identitätsstiftung dienen, angewiesen. 211 Vgl. dazu Bader (1995: 35–37); vgl. Hellmann u.a. (1995: 2–6) ; vgl. Rucht (1995: 10); vgl. Schmidtke (1995: 24–27). 212 Die Gruppenbezogenheit im politischen Kommunikationsbereich umfasst zum einen die klassischen Formationen politischer Parteien, Interessengruppen, Verbände, Soziale Bewegungen. Zum anderen können sich im öffentlichen Diskurs je nach Thema und Situation diskursiv spontan Gruppen bilden. Insbesondere seien hier nochmals die Möglichkeiten neuer massenmedialer Öffentlichkeitsarenen erwähnt, wie beispielsweise das Internet mit

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innerhalb öffentlicher Diskurse ist die Sphäre der Öffentlichkeit. Hier treten diskursive Verfahren an die Stelle interaktiver-interpersonaler Prozesse. Die Selbstbilder einer Gruppe werden durch den Diskurs erst hervorgebracht, kollektive Identitäten sind somit immer Ergebnis von Diskursen. Ort dieser Identitätsbildung ist nicht ein spezifisches face-to-face setting, in dem Gemeinsamkeit durch die konkrete Interaktion der individuellen Akteure geschaffen wird, sondern die öffentliche Sphäre. In dieser über lokale Gegebenheiten hinausgehenden Form der kollektiven Identität formulieren Menschen eine Basis für eine gemeinsame Handlungsperspektive, die sich im Regelfall niemals persönlich treffen, noch direkt miteinander kommunizieren. Spezifische diskursive Verfahren treten an die Stelle von interaktiven Prozessen. (Schmidtke 1995: 26)

Mit dem Merkmal der Gruppenzugehörigkeit hängen auch die Merkmale der Konsens- und Dissensorientiertheit zusammen, wobei die Konsensorientiertheit politischer Kommunikation hinsichtlich zentraler Faktoren und Bedingungen des Zusammenlebens oftmals über die Konsensbildung in der Eigengruppe hinausreicht und gruppenübergreifend zu beschreiben ist. So dürfte in demokratisch verfassten Gesellschaften weitgehend Konsens über gewisse demokratische Grundkonstanten bestehen.213 Um Dissensorientiertheit geht es vor allem dann, wenn das Profil der Eigengruppe hinsichtlich der Abgrenzung von der Fremdgruppe im Vordergrund steht. Dementsprechend wird häufig gleichzeitig Dissens nach außen, im Hinblick auf das adressierte, heterogene und disperse Publikum, inszeniert und Konsens nach innen, hinsichtlich der eigenen zu stabilisierenden Gruppe, fokussiert, was mit der speziellen Situation der Mehrfachadressierung politischer Kommunikation zu tun hat. Die Dissensorientierung nach außen soll auf die Geschlossenheit und Festigkeit der Eigengruppe schließen lassen und zugleich zustimmungswerbend (beim heterogenen Adressatenkreis) eingesetzt werden. Dissensorientierte Sprechhandlungen werden aber auch oftmals dahingehend strategisch eingesetzt, dass Diskurse in eine andere Richtung gelenkt werden. Hier geht es weniger um das explizite Aufzeigen von Gruppenbezogenheit, als um gezielte thematische Verschiebungen innerhalb von Diskursen, die nur indirekt mit der Gruppenbezogenheit in Zusammenhang stehen. Vielmehr sind sie primär den Machtaspekten (Machtsicherung und Machterreichung) politischer Kommunikation zuzuschreiben. Bezogen auf das Sprachhandeln von Politikern muss vor diesem Hintergrund hervorgehoben werden, dass diese sich in erster Linie als Repräsentanten ihrer Partei oder des Staates äußern. Das Merkmal der Repräsentationalität

seinen zahlreichen Kommunikationsmöglichkeiten. (Chat, Blog, ICQ, Facebook, StudiVZ, etc.) 213 Beispielsweise Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Wahlfreiheit.

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steht insofern mit der Gruppenbezogenheit und Dissens-/Konsensorientierung in Zusammenhang, als der Politiker einen deutlichen Gruppenbezug zu seiner Partei zu erkennen gibt, die durch eine Konsensorientierung nach innen und eine Dissensorientierung nach außen manifest wird. Hier geht es also nicht um persönliche Meinungen, sondern um die Repräsentation von Gruppenmeinungen, was direkt Auswirkungen auf den Sprachgebrauch hat: Es wird sich einer spezifischen Parteien- bzw. Gruppenbegrifflichkeit bedient, dabei wird auf vage Formulierungen zurückgegriffen, wenn die Partei/Gruppe sich noch nicht auf eine Linie festgelegt hat.214 2.4.2.2 Handlungsfelder und Sprachfunktionen des Kommunikationsbereichs Politik Der Kommunikationsbereich Politik lässt sich, wie bereits erwähnt, nochmals in Einzelbereiche differenzieren. In der Forschung wurden bisher verschiedene Unterteilungen und Klassifikationen des Kommunikationsbereichs Politik vorgenommen.215 In Anlehnung an die mehrere Ebenen und heterogene

214 Vgl. Klein (1995b: 77f.), Schröter (2006: 51f.) und Girnth (2002: 33ff.). Insbesondere die Sprachstrategie des semantischen Kampfes kann hier verortet werden. 215 Aus politikwissenschaftlicher Sicht gliedert Edelman (1964) den Kommunikationsbereich Politik in vier charakteristische, politische Sprachformen: in die Sprache der Überredung, die Sprache der Verwaltung, die Sprache der Verhandlung und die Sprache des Gesetzes. Dieckmann (21975: 81ff.) nimmt in Anlehnung an Edelman eine Differenzierung in vier Sprachstile vor, dem Sprachstil der Überredung, der Verhandlung, der Verwaltung und des Gesetzes. Diese vier Kategorien ordnet er der Funktionssprache zu, die er wiederum der Meinungssprache gegenüberstellt, was m.E. in den Ausführungen Dieckmanns etwas missverständlich ist. Unter Meinungssprache versteht Dieckmann den auf Öffentlichkeit bezogenen Teil politischer Kommunikation, in der es um Deutungen und Vermittlung von Weltanschauungen bzw. politischer Ideologien geht, was sich wiederum an bestimmtem Vokabular zeigt. (Vgl. Dieckmann 21975: 80–113) Die strikte Trennung in Meinungs- und Funktionssprache und vor allem die Zuordnung der Teilbereiche ist meines Erachtens nicht ganz zu rechtfertigen, insofern jeder Sprachgebrauch weltanschauliche Momente enthält. Gerade auch die Bereiche, die Dieckmann unter die von ihm als „rational“ eingestufte Funktionssprache (S. 81) subsumiert, bedienen sich wertenden Sprachmaterials. Vielleicht sollte man hier eher eine Unterteilung in öffentlichkeitsbezogenen und teilöffentlichkeitsbezogenen/institutionsbezogenen Sprachgebrauch differenzieren und die in den Sprachgebräuchen liegenden Bewertungen unter graduellen Kriterien (mehr oder weniger wertend, implizit oder explizit wertend etc.) betrachten, zumal Dieckmann selbst davon spricht, dass die Meinungssprache informative Elemente ent halten kann (85) und die Funktionssprache sich zum Teil „affektischer“ Mittel bedient und meinungssprachliche Elemente einfließen (99, 101). Bergsdorf (1983) gliedert in die Felder Gesetzgebung, Verwaltung, Verhandlung sowie Erziehung und Propaganda. Grünert (1974) teilt in fünf verschiedene Realisationsmöglichkeiten politischer Kommunikation ein: Sprache der Administration (Verwaltung), Sprache der Diplomatie (Verhandlung), Sprache der Legislation (Gesetzgebung), Sprache der Deliberation (Beratung), Sprache der Opinion. Vgl. Grünert (1974: 16).

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Aspekte umfassende Konzeption politischer Sprachspiele bei Strauß formuliert Girnth (2002) die Teilbereiche des Kommunikationsbereichs Politik als Handlungsfelder, und zwar als a) Handlungsfeld der öffentlich-politischen Meinungsbildung, b) Handlungsfeld der Innerparteilichen Willensbildung, c) Handlungsfeld der politischen Werbung und d) Handlungsfeld der Gesetzgebungsverfahren bzw. der parteilichen Meinungs- und Willensbildung. Die Handlungsfelder werden dabei als Handlungszusammenhänge, Interaktionsrahmen oder Handlungsrahmen aufgefasst216 und nochmals in sich nach verschiedenen Aspekten differenziert. Die einzelnen Handlungsfelder verzeichnen je für sich eine spezifische Konstellation, die sich aus der spezifischen Situation, den Handlungsbeteiligten, dem Situationswissen, Aufgaben und Handlungszielen, den kommunikativen Strategien und den beteiligten Institutionen sowie aus bestimmten Situationstypen zusammensetzt. Für die einzelnen Handlungsfelder ergeben sich aus den spezifischen Handlungsfeldkonstellationen bestimmte Situationstypen, die sich aus überindividuellen Regularitäten ableiten. Textsorten beispielsweise, die per definitionem eine bestimmte Musterhaftigkeit aufweisen, weil sie an bestimmte Situationen gebunden sind und sozusagen zum Bestand kollektiven Wissens einer Gesellschaft bzw. Kultur gehören, bestimmte Ziele verfolgen, sich aus bestimmten kommunikativen Verfahren und Sprechhandlungstypen konstituieren, können demnach zu den Situationstypen gerechnet werden. Mittels dieses, von Strauß aufgeführten Ensembles von Konstellationsfaktoren können die Handlungsfelder in ihrer heterogenen Struktur umfassend auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden. Neben den Handlungsfeldern sind bestimmte Grundfunktionen politischen Sprachhandelns für den Kommunikationsbereich Politik konstitutiv, sie bilden einen weiteren Baustein der spezifischen politischen Situation. Sprachhandeln in der Politik ist u. a. auf die Machtfrage zentriert. Es geht um den Gewinn von sozialem Einfluss, was sich konkret als Herrschaft zeigt. „Sprache gewinnt im politischen Zusammenhang instrumentelle Funktion: Als Mittel zum Machtgewinn, zur Machtausübung, zur Machtsicherung und zur Machtkontrolle.“ (Herrgen 2000: 42) Demzufolge stellt die in der politischen Sprache dominante Sprachfunktion im Anschluss an die Sprachzeichenkonzeption Bühlers die Appellfunktion dar, da es in der Politik immer zugleich auch um Machterhalt einerseits und um das Durchsetzen von Interessen andererseits geht. Das schließt natürlich nicht aus, dass andere Sprachfunktionen wie etwa die Ausdrucksfunktion auch vorkommen, doch ist sie nicht so dominant. Die Appellfunktion muss aber noch weiter ausdifferenziert werden. Grünert nimmt hier eine Unterteilung in die pos-

216 Vgl. Girnth (2002: 36–38); vgl. Klein (1991a: 47); vgl. Strauß (1986a: 33f.).

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kative, regulative, integrative und informativ-persuasive Funktion vor. (Vgl. Grünert 1984: 29–37) Unter diesen speziellen Funktionen ist für den Bereich der Öffentlichkeit vor allem die informativ-persuasive Sprachfunktion217 von Bedeutung, was mit den Besonderheiten der Merk male Öf fentlichkeit und Massenmedialität in Zusammenhang steht, insofern die jeweiligen Sprechergruppen in der Öffentlichkeit und durch den Gebrauch der Massenmedien unter anderem für ihre Auffassung werben, überzeugen oder überreden wollen. Die informativ-persuasive Sprachfunktion zielt auf Meinungslenkung, Meinungsbildung und Bewusstseinsbildung der Adressaten. Grünert fasst dies folgendermaßen zusammen: Das informativ-persuasive Sprachspiel [...] ist nicht wie das regulative und instrumentale Sprachspiel unmittelbar in politisches Handeln verflochten, sondern zielt ab, auf Bewußtseinsbildung und der Begründung, Motivation und Vorbereitung, der Analyse, Kritik und Rechtfertigung politischen Handelns, es dient der Politischen Werbung. (Grünert 1984: 36)218

Diese Funktion ist angewiesen auf Öffentlichkeit und hängt unmittelbar mit dem Begriff der öffentlichen Meinung zusammen.219 Meinungslenkung durch sprachliches Handeln geschieht einerseits durch argumentative Begründungen und Legitimation des Handelns, andererseits

217 Ortak geht in seiner Dissertationsschrift auf die lange Tradition des Persuasionsbegriffes und dessen komplexe Struktur ein. Dabei konstatiert er eine äußerst heterogene Verwendungsweise des Persuasionskonzeptes in der linguistischen Rezeption. Das stellt einen Rückgriff auf diesen Begriff natürlich vor gewisse Schwierigkeiten, zumal eine eingehende Diskussion der diversen Implikationen und Ver wendungszusammenhänge von Persuasion hier nicht erfolgen kann und soll. Andererseits stellt der Rückgriff auf ein Persuasionskonzept gerade hinsichtlich politischer Kommunikation eine gewisse Notwendigkeit dar, um das Funktionieren politischer Kommunikation zu erklären. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit im Anschluss an Grünert unter der persuasiven Sprachfunktion vor allen Dingen die Informations-, Meinungs- und Bewusstseinsbildung bzw. -steuerung verstanden. Vgl. Grünert (1974: 8, 1983: 55f., 1984: S. 36). Käge vertritt ebenso einen recht umfassenden Persuasionsbegriff. „Persuasion bezieht sich demgegenüber wertungsneutral auf alle Versuche, mit sprachlichen Mitteln Meinungen, Einstellungen und Verhalten zu beeinflussen, von der vorsichtigen, überzeugenden Argumentation bis zur täuschenden Überredung.“ Käge (1980: 63). Zur ausführlichen Diskussion des Persua sionsbegriffes vgl. Ortak (2004). 218 M. E. handelt es sich dabei aber sehr wohl um politisches Handeln, nur auf einer anderen Ebene. 219 Grünert unterteilt Persuasion in eine informative und eine affektive Vollzugsweise. Die Affektion besteht wiederum aus der emotiven, präskriptiven und evokativen sowie der ästimativen Sprachfunktion. Alle Teilfunktionen der Persuasion sind stark voneinander abhängig. „In der sprachlichen Realität sind die Funktionen nicht nur eng miteinander verbunden, sie bedingen teilweise einander. Ich habe schon darauf verwiesen, daß jedes Mitteilen, jedes Informieren in der politischen Sprache zugleich ein Bewirken ist. Informationen können gegenüber Wertaussagen oder Direktiven, die an sie gebunden sind, völlig in den Hintergrund treten.“ Grünert (1984: 9).

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zielt diese Sprachfunktion gerade auch auf die Bewusstseinsbildung und kann sich suggestiver Methoden und Strategien bedienen. Derzeit dominiert diese Funktion das Sprechen in öffentlich-politischen Diskursen. Die informativpersuasive Sprachfunktion beinhaltet den verbalen Kampf um Macht. Mittels persuasiver Strategien soll bei den Wählern um Zustimmungsbereitschaft und Akzeptanz geworben werden. Dabei bedient sich die Politik klassischer Werbetechniken, die dafür sorgen, dass politische Themen und Positionen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. (Vgl. Straßner 1987: 36ff.) Präsentieren politische Gruppen nicht ihre Meinung in dieser Öffentlichkeit und liest und hört man nichts von ihnen, so existieren sie nur für ihre Funktionäre und Mitglieder. Aus diesem Öffentlichkeitsgrundsatz, aus diesem Öffentlichkeitsanspruch entwickelt sich der Werbegrundsatz, die Werbenotwendigkeit. In die Öffentlichkeit wirken, heißt noch lange nicht, den Willen des Bürgers bewegen wollen. (Straßner 1987: 37)

Neben der zentralen informativ-persuasiven Sprachfunktion kommen auch die anderen Sprachfunktionen, wenn auch nicht in der Dominanz wie die informativ-persuasive Funktion, zur Geltung. Deutlich wird dies vor allem in den einzelnen Handlungsfeldern. Die poskative Funktion ist orientiert von ‚unten‘ nach ‚oben‘, d. h. Gruppen, Verbände, soziale Bewegungen, Organisationen etc. richten ihre Forderungen, Wünsche, Bitten an die institutionelle Macht. Die regulative Funktion dagegen ist von ‚oben‘ nach ‚unten‘ gerichtet, es geht um die Beziehung zwischen Regierenden und Regierten und um die Umsetzung von Machtstrukturen, Entscheidungen, Erlassen etc. Die integrative Funktion dient vor allem der Definition und Stabilisierung von Gruppen. Diese Funktion stützt die Identifikationsfunktion von Gruppen, zugleich impliziert die integrative Funktion eine Abgrenzung nach außen. Die für politisches Sprechen typischen bzw. dominanten Sprechhandlungsmuster bzw. kommunikativen Verfahren lassen sich den jeweiligen Sprachfunktionen unterordnen. Die kommunikativen Verfahren realisieren demnach die jeweilige Sprachfunktion. Auch sind sie vielfältiger und die Zuordnung betreffend dynamischer. So kann beispielsweise der Verfahrenstyp PROFILIEREN im Dienste unterschiedlicher Grundfunktionen stehen. Vor dem Hintergrund der Konstellationsfaktoren von Handlungsfeldern sowie der Grundfunktionen politischen Sprachhandelns lassen sich die Handlungsfelder nun konkreter beschreiben: Das Handlungsfeld der öffentlich-politischen Meinungsbildung ist gekennzeichnet durch seinen Bezug zur massenmedialen Öffentlichkeit. Die massenmediale Vermittlung politischer Inhalte und Interessen ist geradezu typisch für diesen Handlungsbereich. Aus diesem Grund spielen vor allem Pressetextsorten eine wichtige Rolle, wie beispielsweise Leitartikel, Bericht, Dokumentation, Kommentar etc., deren Grundfunktion als informativ-persuasiv bezeichnet werden kann. Die

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übergeordneten Handlungsziele sind nach Strauß informieren und kommentieren. Diese Ziele werden durch kommunikative Verfahren wie INFORMIEREN, DARSTELLEN, INTERPRETIEREN, BEWERTEN, A RGUMENTIEREN, ÜBERZEUGEN realisiert. Als Handlungsbeteiligte können die Akteure des Mediensystems sowie das die Medien konsumierende Publikum ausgemacht werden. Das Situationswissen umfasst alles für diesen Bereich verstehensrelevante Wissen, das bei den einzelnen Handlungsbeteiligten aber dif ferieren kann.220 Das Handlungsfeld der Innerparteilichen Meinungs- und Willensbildung, das als Teilbereich des Handlungsfeldes der öffentlich-politischen Meinungsund Willensbildung zu sehen ist, ist gekennzeichnet durch einen ausgesprochenen Gruppenbezug. Man kann hier auch von den Zugehörigen zur Gruppe als einer Teilöffentlichkeit sprechen. Der Gruppenbezug ist konstitutiv für dieses Handlungsfeld. Typische Textsorten sind Parteiprogramme, Grundsatzpapiere, Parteitagsbeschlüsse, Parteitagsreden etc. Die übergeordneten Handlungsziele sind stabilisieren, integrieren und Konsens herstellen. Die Gruppe legt sich auf gemeinsame Werte und Ziele fest. Die Grundfunktion der Textsorten lässt sich als integrativ beschreiben, wobei diese integrative Funktion zugleich eine abgrenzende Funktion nach außen bzw. zu anderen Gruppierungen mit sich bringt und zur Beschreibung der Gruppenbezogenheit auch not wendig ist. Die übergeordneten Handlungsziele werden durch kommunikative Verfahren wie SOLIDARISIEREN, WERTE ETABLIEREN, H ANDLUNGSZIELE FESTSCHREIBEN, EINSTELLUNGEN BEKUNDEN realisiert. Handlungsbeteiligte sind die Angehörigen der jeweiligen Gruppe sowie die sekundär adressierte Öffentlichkeit. (Vgl. Strauß 1986a: 46; vgl. Girnth 2007: 13) Das Handlungsfeld Politische Werbung ist gekennzeichnet durch eine ausgesprochene Fokussierung auf die Machtsicherung und den Machtgewinn durch Beeinflussung von Meinungen. Folglich ist ein deutlicher Öffentlichkeitsbezug auszumachen, die Massenmedien spielen dementsprechend eine zentrale Rolle (s.o.) und werden hinsichtlich der Verbreitung von Erfolg versprechenden Informationen sowie der Verbreitung Erfolg versprechender politischer Handlungen gern in Anspruch genommen. Typische Textsorten sind das Wahlprogramm, Wahlplattformen, Wahlreden, Slogans, Wahlchats, Wahlblogs etc. Die übergeordneten Handlungsziele lassen sich mit überzeugen, überreden oder werben beschreiben. Die Grundfunktion der Textsorten ist somit informativ-persuasiv. Zentrale kommunikative Verfahren sind A KTIVIEREN, NORMEN /WERTE BESETZEN oder ETABLIEREN, LEGITIMIEREN, BEWERTEN. Handlungsbeteiligte sind zum einen die politischen Akteure, die 220 Vgl. Strauß (1986a: 44); vgl. Girnth (2007: 12). Hinsichtlich der genannten Funktionsmechanismen des massenmedialen Systems und massenmedialer Öffentlichkeit differiert das Situationswissen zumindest zwischen aktiven Beteiligten wie Akteuren der Politik oder des Mediensystems und dem rezipierenden Adressatenkreis.

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Akteure des Mediensystems und zum anderen das die Medienöffentlichkeit konsumierende Publikum. (Vgl. Strauß 1986a: 45; Girnth 2007: 13) Auch hier lässt sich eine Verbindung zum Handlungsfeld der öffentlich-politischen Meinungsbildung herstellen. Das Handlungsfeld der Meinungs- und Willensbildung in (staatlichen) Institutionen umfasst die Kommunikation zwischen den Staatsgewalten sowie Kommunikation zwischen den Institutionen und der Öffentlichkeit. Auch hier ist ein Öffentlichkeitsbezug vorhanden. Strauß unterscheidet diesbezüglich zwischen nicht-öffentlicher, interner politischer Kommunikation (Binnenkommunikation) und institutionsexterner Außenkommunikation. Typisch für beide Bereiche ist ein relativ sachneutraler, institutioneller und fachsprachlich orientierter Sprachgebrauch. Typische Textorten des institutionsexternen Bereiches sind Gesetz, Erlass, Sofortprogramm, Urteil, Formulare, Verordnung etc. für den Bereich der Binnenkommunikation Protokoll, Dienstanweisung, Aktennotiz, Bericht, Urkunde etc. Übergeordnete Handlungsziele sind regulieren, verhandeln, beraten oder legitimieren (vgl. Strauß 1986b: 202f., 205f.). Die Grundfunktion der Textsorten, die das Verhältnis von Regierenden und Regierten regelt, lässt sich als regulativ beschreiben. Realisiert wird diese Grundfunktion durch kommunikative Verfahren wie AUFFORDERN, ANWEISEN, VORSCHREIBEN, ERLASSEN, GESETZE VERABSCHIEDEN, VERHANDELN, NORMIERN, PROTESTIEREN. Handlungsbeteiligte sind die Akteure der drei Institutionen sowie die von den kommunikativen Verfahren und Textsorten betroffene Bevölkerung. (Vgl. Strauß 1986b: 166–194; vgl. Girnth 2007: 13f.) Eine klare Trennung der einzelnen Handlungsfelder sowie die eindeutige Zuordnung von Textsorten und kommunikativen Verfahren zu den Handlungsfeldern kann nur auf der analytischen Ebene geschehen. Am konkreten Sprachmaterial zeigt sich, dass sich die Handlungsfelder und mit ihnen die Textsorten und kommunikativen Verfahren überschneiden221, was beispielsweise durch das Merkmal der Mehrfachadressierung und damit zusammenhängend der Poly funktionalität politischer Kommunikation bedingt ist. Zwar kann ein Gesetz etc. als Text, in dem sich die regulative Sprachfunktion manifestiert, angesehen werden, doch der Prozess bis zur Entstehung des Gesetzes wird zum großen Teil von der informativ-persuasiven sowie von der integrativen Sprachfunktion dominiert. Versucht man nun die einzelnen Handlungsfelder der Politik mit den Sprachfunktionen in Verbindung zu bringen, zeigt sich, dass es hier zu Überschneidungen kommt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Übergänge zwischen den einzelnen Sprachfunktionen, Handlungsfeldern und zugeordneten Textsorten fließend

221 Vgl. hier Holly (1990: 36ff.); vgl. auch Spieß (2006: 151); vgl. Girnth (2007: 14); vgl. Strauß (1986b: 166–194).

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und diskutabel sein können.222 Das entspricht auch dem oben vorgestellten dynamischen Diskursbegriff. Strauß und Girnth legen mit ihren Differenzierungsvorschlägen des Kommunikationsbereiches Politik eine Klassifizierung vor, die den bisher erörterten pragmatischen Grundkonstanten gerecht wird, möglichst viele, heterogene sowie relevante Aspekte einbezieht und damit die Vorgehensweise politolinguistischer Analyse als Diskursanalyse stützt. Mit Grünert (1974, 1983, 1984) lassen sich die Grundfunktionen innerhalb der Handlungsfelder entsprechend beschreiben. Politische Situation Situationstypen Situationsrolle Funktionen und kommunikative Verfahren politischen Sprechens

Handlungsfelder der Politik

themengebundene Ereignisse

typische Merkmale des Kommunikationsbereichs Politik Übersicht 2.4-1: Differenzierung der politischen Situation 223

Wie in Übersicht 2.4-1 zu sehen ist, stehen die erläuterten Strukturelemente und zentralen Merkmale politischer Kommunikation in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis. Die Merkmale des Kommunikationsbereichs Politik

222 Vgl. beispielsweise die Textsorten Parteiprogramm oder Debattenrede. Die Debattenrede spielt in verschiedenen Handlungsfeldern (z. B. in den Handlungsfeldern öffentlichpolitische Meinungs- und Willensbildung und Politische Werbung) eine Rolle und erfüllt somit verschiedene Funktionen. Vgl. hierzu Strauß (1986a: 22) und Dieckmann (21975: 100f.) sowie Burkhardt zuletzt (2005: 85–88). Ebenso erfüllt das Parteiprogramm mehrere Funktionen in unterschiedlichen Handlungsfeldern. So soll es integrativ und stabilisierend hinsichtlich der parteiinternen Meinungs- und Willensbildung wirken, zugleich aber ist es an ein öffentliches, disperses Publikum gerichtet, um dessen Zustimmungsbereitschaft und Akzeptanz mit dem Programm geworben wird. Vgl. hierzu Klein (2000a: 745) und Ballnuß (1996: 37ff.). 223 Vgl. Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit. Das Modell wurde im Hinblick auf die Politische Situation modifiziert, insofern hier die Besonderheiten politischen Sprechens und politischer Sprachverwendung Beachtung finden und als Bausteine der politischen Situation präzisierend in das Modell integriert werden.

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resultieren zum einen aus den Situationsfaktoren, gleichzeitig nehmen sie aber auf sie Einfluss. Die je spezifische politische Situation wird durch das Interesse der Handelnden bestimmt. Als Oberziel politischen Sprachhandelns und Handelns ist die bereits genannte Erreichung von Zustimmungsbereitschaft und letztlich die Erlangung oder der Erhalt von Macht anzusehen. Dies zeigt sich in den Situationstypen (Textsorten) und Situationsrollen. Die themengebundenen Ereignisse werden je nach politischem Interesse eingebracht und ändern sich laufend. Die Politische Situation ist zugleich Interaktionsrahmen und Ausgangsbedingung für Äußerungen im politischen Kontext. Dieser Interaktionsrahmen besteht auf der einen Seite aus objektiven außersprachlichen Faktoren und andererseits aus der je subjektiven Wahrnehmung und Interpretation der Lage und kann in diverse Situationstypen, in denen der einzelne Akteur nach festgelegten Situationsrollen handelt, unterteilt werden. Die Situationstypen im öffentlich-politischen Diskurs sind begrenzt und folgen bestimmten regelhaften Mustern, so dass sie als Handlungsrahmen fungieren, der nicht hinterfragt zu werden braucht, und zum Alltagswissen (als Musterwissen) der Akteure gehören. Situationstypen sind abhängig vom jeweiligen Handlungsfeld und manifestieren sich als oder korrelieren mit bestimmten Textsorten. Sie bestimmen das Sprecherverhalten, z. B. bei der Wahl der Textsorte. Situationsrollen bestimmen die Situationstypen näher. Sie umfassen bestimmte von den Akteuren bzw. Textemittenten einzuhaltende Handlungsbedingungen, die von bestimmten Verpflichtungen und Erwartungen geprägt sind. Werden diese verletzt, wie beispielsweise bei einem Skandal, kommt es zu Irritationen oder Entrüstungen, was sich ebenso sprachlich manifestiert (vgl. Beckmann 2006). Das Wissen um die Situationsrollen und Situationstypen gehört ebenso zum Alltagswissen und gilt als Voraussetzung für Handlungen kommunikativer Akte. (Vgl. Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit) Dem Handlungsinteresse der Akteure dieses speziellen sozialen Raumes entsprechend können typische kommunikative Verfahren ausgemacht werden, die aus den Besonderheiten politischen Sprechens resultieren, diese aber auch beeinflussen. Das Handlungsfeld bestimmt die Wahl des Situationstyps, die Einnahme der Situationsrolle sowie auch die Thematik. Andererseits konstituiert sich das Handlungsfeld aus den einzelnen Faktoren, zwischen ihnen besteht ein Wechselverhältnis. Zu bemerken ist aber, dass sich die einzelnen Faktoren nur analytisch scharf trennen und beschreiben lassen. In der konkreten Situation gehen die Faktoren unbewusst in das Sprachhandeln der Akteure ein. Sie können als von den Akteuren weitgehend geteilter Wissensgrund bzw. als weitgehend geteilte Normen gelten.

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2.4.3 Öffentlich-politische Kommunikation und wertendes Sprechen Wertendes Sprechen ist ein zentraler Faktor innerhalb des Kommunikationsbereiches Politik, gerade wenn es um Mehrfachadressierung oder Gruppenbezogenheit geht oder wenn die zentralen Handlungsziele der Erzeugung von Zustimmungsbereitschaft und Akzeptanz erreicht werden wollen/sollen. Bewertendes Sprechen im Kommunikationsbereich Politik ist vor allem durch den Öffentlichkeitsbezug bedingt. Dabei kann die Bewertung selbst eine sprachliche Handlung sein und durch bestimmte kommunikative Verfahren explizit realisiert werden, oder aber Bewertungen spielen innerhalb der Bedeutungsaspekte und -dimensionen von Wortgebräuchen und Lexemen eine Rolle, die sozusagen nebenbei mitgeäußert werden. (Vgl. hier Girnth 1993: 76f., 103f.; 2002: 57; Strauß/Zifonun 1986: 68–147) Letzteres spielt bei der politischen Lexik, bei Schlag- und Schlüsselwörtern, Hochwert- und Stigmawörter, Miranda und Antimiranda, Euphemismen, Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenzen etc. eine Rolle. Dass Bewertungen mit Ideologien zu tun haben, hat nicht erst Dieckmann (1975) mit dem Begriff ideologischer Polysemie herausgestellt. Diese Feststellung ist auch schon bei Vološinov oder Mannheim zu finden.224 Aus diesem Grund bietet es sich an, zunächst den Ideologiebegriff in der Sprachwissenschaft, der Voraussetzung für sprachlich manifeste Bewertungen und Einstellungsbekundungen ist, zu klären und den Zusammenhang zwischen Ideologie, Bewertung und Persuasion herauszustellen. Im Kontext des Bewertungspotenzials der Sprachverwendung in der Politik kommt man also nicht umhin auch von ideologischem Sprachgebrauch und von Ideologien zu sprechen. Hier muss zunächst der Ideologiebegriff präzisiert werden, da verschiedene Gebrauchsweisen des Ausdrucks existieren225. So wird unter anderem Ideologie als Stigmawort im Sinne von falscher oder verzerrter Wirklichkeitswahrnehmung durch die gegnerische Partei verwendet, zum anderen wird damit im nicht wertenden, neutralen Sinne ein generelles Wechselverhältnis zwischen Sprachgebrauch und einer Gesellschaft zu Grunde liegender, sich sprachlich manifestierender Werte, Einstellungen und Denkmuster, also dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bezeichnet, ohne damit Aussagen über Wahrheit und Falschheit politischer Konzepte zu machen. Ein in diesem letzteren Sinne verwendeter Ideologiebegriff sollte einer pragmatischen Linguistik zu Grunde liegen226. So konstatiert auch Straßner:

224 Vgl. Vološinov (1975: 142–163); vgl. Mannheim (81995); vgl. auch Kapitel 1.3.2 dieser Arbeit. 225 Zu den diversen Gebrauchsweisen des Ausdrucks Ideologie vgl. auch Dieckmann (1988: 1780f.). 226 Vgl. hierzu Vološinov (1975); vgl. Weber (1975: 34f.); vgl. Straßner (1987: 16).

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In die Beschreibung der Wirklichkeit, in die Darstellung der Realität im sprachlichen Ausdruck gehen aber immer eigene Sichtweisen, Wertungen des Individuums mit ein. Eine >objektive< Festlegung für bestimmte Realitäten ist nicht möglich. [...] Indem ein Individuum Realität sprachlich darstellt, drückt es aus, wie aus seiner Sichtweise die Realität beschaffen sein soll. Schon in die Auswahl der Gesprächsgegenstände geht eine Wertbestimmung ein, umso mehr dann in die eigentliche Aussage. (Straßner 1987: 59)

Weltanschauungen und damit verbunden moralische Einstellungen und Werte werden durch Sprachgebrauch, durch Wortwahl und Argumentationsweise impliziert. Es gibt keinen Sprachgebrauch ohne weltanschauliche Voraussetzungen, insofern ist Sprache immer wertend. Versteht man unter Ideologie ganz allgemein „das jeweilige Ensemble der Annahmen und Voraussetzungen, die von den Menschen mit verstanden werden, wenn sie kommunizieren, die also normalerweise nicht explizit gemacht werden müssen und auch nicht explizit gemacht werden“, dann gibt es keinen ideologiefreien Sprachgebrauch. (Auer 1999: 213) Ideologie ist dann identisch mit der Lebensform, mit Kultur und von der Gesellschaft abhängig. (Vgl. Vološinov 1975: 162f.) Die sprachlichen Manifestationen sind demnach stark kontextuell gebunden. Bezogen auf politischen Sprachgebrauch bedeutet Ideologie dann die gruppenspezifische, kontextuelle Verwendung von Wörtern sowie gruppenspezifische, sprachstrategische Operationen hinsichtlich Integration, Legitimation, Orientierung, Solidarisierung und Abgrenzung der Sprechergruppe gegenüber der Fremdgruppe. Das wird auch in den Ausführungen Straßners deutlich sowie in der Konzeption der Meinungssprache bei Dieckmann. Grünert stellt die persuasive Sprachfunktion mit dem Bewertungspotenzial bzw. dem ideologischen Potenzial von Sprache in einen Zusammenhang. Persuasion kann sich auf zweierlei Weise vollziehen. Ich bezeichne die beiden Weisen als Information und als Affektion. Sprache (in der Politik) hat zunächst einmal die Funktion, Tatsachen mitzuteilen über Personen, Dinge, Ereignisse Sachverhalte usw. Ich nenne das die informative Funktion oder Information. Das entspricht der Symbolfunktion Bühlers oder der designativen Funktion bei Morris. Damit wird konstatiert, daß Information nicht wertfrei verstanden wird, denn in der politischen Sprache ist schon ein bloßes Mitteilen ein Bewirken. (Grünert 1974: 8)

Die informativ-persuasive Sprachfunktion, die auf Meinungssteuerung, Bewusstseinsbeeinflussung oder Beeinflussung allgemein zielt, kommt hinsichtlich des Aspekts der Bewertung durch sprachliches Handeln besonders zur Geltung. Persuasives Sprachhandeln in diesem Sinne hängt unmittelbar mit Bewertungshandeln oder der Verwendung bewertender Lexik zusammen. In der Differenzierung der persuasiven Sprachfunktion bringt Grünert diesen Zusammenhang zum Ausdruck. Die bewertende (auch appraisive oder ästimative) Funktion von Sprache ist damit ein wesentlicher Teilaspekt der Persuasion und somit ideologischem Sprachgebrauch inhärent.

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Insofern sprachliches Handeln innerhalb des Kommunikationsbereichs Politik von zahlreichen Faktoren abhängt, zu denen – wie zu sehen war – selbstverständlich auch Bewertungen von Sachverhalten und Einstellungen der einzelnen Akteure zu zählen sind, bedarf es einer näheren Erläuterung, was unter Bewertungen einerseits und Einstellungen bzw. Einstellungsbekundungen andererseits zu verstehen ist und welche Rolle diese in der politischen Kommunikation einnehmen. Einstellungen sind Ergebnisse von Bewertungen. Hier geht es jedoch nicht um die tatsächlichen Einstellungen, die ein Sprecher auf Grund von Bewertungen vornimmt, sondern vielmehr stehen die sprachlichen Manifestationen von Einstellungen, also die Einstellungsbekundungen und deren Funktion im Kommunikationszusammenhang, im Vordergrund sprachwissenschaftlicher Analyse. Einstellungen als Ergebnisse von Bewertungen gegenüber einem Gegenstand oder Sachverhalt können sprachlich auf verschiedenen Ebenen realisiert werden. Sie bestehen immer aus zwei Komponenten, einer sich auf den Wahrheitswert einer Proposition beziehenden, validativen und einer den Gegenstand/Sachverhalt/Hörer positiv oder negativ wertenden, evaluativen Komponente. Die evaluative Komponente lässt sich des Weiteren hinsichtlich affektiver oder kognitiver Einstellungen differenzieren, wobei der kognitiven Einstellung ästhetische, moralische oder faktischadaptive Bewertungsbasen zu Grunde liegen, während die affektive Einstellung auf einer sensitiv-expressiven Bewertungsbasis gründet. (Vgl. Girnth 1993: 61f., 64ff.) Bezüglich der Einstellungsbekundungen ist generell zu unterscheiden, ob zusätzlich ein wertender Bezug zu dem in der Proposition dargestellten Gegenstand hergestellt wird oder ob die bewertende Stellungnahme selbst im Referenzbereich liegt, d. h. ob die Einstellung selbst Thema der Einstellungsbekundung ist. Bewertungen werden auf Grund von Bewertungsbasen, die im gesellschaftlichen Wissen als kollektive Wissensbestände vorhanden sind, vorgenommen und können auf einer Bewertungsskala nach bestimmten Bewertungsaspekten eingeordnet werden227. Die Bewertungsskala hängt in ihrer Beschaffenheit naturgemäß von den Bewertungsaspekten ab. Bewertungsaspekte sind Merkmale des zu bewertenden Gegenstands oder Sachverhalts, 227 Vgl. Sandig (1991: 228); Sandig (1993: 160). Sandig beschreibt den Vorgang des Bewertens folgendermaßen: „Bewertungen werden von Bewertungssubjekten vorgenommen; diese ‚messen‘ mental einen gegebenen Bewertungsgegenstand (bg) an einem für die zugehörige Gegenstandsklasse (BG) vorhandenen Bewertungsmaßstab. Dabei werden die Eigenschaften des Gegenstandes (bg) mental mit den für den Bewertungszweck relevanten Bewertungsaspekten und Wertkriterien des Bewertungsmaßstabs verglichen und der Gegenstand diesbezüglich eingestuft. Das Einstufungsergebnis wird mit einem Bewertungsausdruck über den Bewertungsgegenstand (bg) prädiziert.“ Sandig (1993: 161). Ähnlich auch Ripfel (1987: 155).

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die als Kriterium für die Bewertung herangezogen werden. Den Bewertungsaspekten wird dabei eine Einordnungsskala zu Grunde gelegt, auf der das Einordnungsergebnis abgelesen werden kann. (Vgl. Girnth 1993: 63; vgl. Ripfel 1987: 156–161) Grundlage von Bewertungen sind die in einer Gesellschaft gängigen Normen und Werte, auf deren Basis bestimmte Erwartungen bezüglich menschlichen Verhaltens und Handelns bestehen und die als Vergleichsbasis für Wertentscheidungen fungieren. (Vgl. Ripfel 1987: 155f.) Schwierig wird es in Situationen, in denen entweder Normen und Werte strittig (geworden) sind oder unterschiedliche Perspektiven den Bewertungsgegenstand betreffend bestehen. Bewertungen kommen auf allen linguistisch zu untersuchenden Ebenen zum Tragen. Im Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen können diese einerseits unterschiedlich stark sein, andererseits können sie unterschiedliche Funktionen zugesprochen bekommen. Sie spielen vor allem im Handlungsfeld der ‚öffentlichen Meinungs- und Willensbildung‘ eine entscheidende Rolle. Verschiedene sprachliche Verfahren, die explizit bewertend sind, wurden bereits bei der Vorstellung der Handlungsfelder des Kommunikationsbereichs Politik angesprochen. Entsprechend der einzelnen sprachstrukturellen Ebenen, die für eine Diskursanalyse von Interesse sind, lassen sich wertende Stellungnahmen als ganze Texte (Leitartikel, Kommentare, Glossen), komplexe sprachliche Handlungen wie Argumentationen, einzelne kommunikative Verfahren228 wie LOBEN, ABWERTEN, HERVORHEBEN, DIFFAMIEREN, POLARISIEREN etc. oder auf der lexikalischen Ebene realisieren. Meinungsbetonte bzw. wertende Einzeltexte sind dabei auf die sich unterhalb der Einzeltextebene befindlichen, wertenden Sprachphänomene angewiesen. Insbesondere die Lexik nimmt im Kommunikationsbereich Politik hinsichtlich ihres Bewertungspotenzials eine zentrale Stellung ein, wobei die lexikalische Ebene immer vor dem Hintergrund und in Abhängigkeit der anderen Ebenen betrachtet wird. Hier spielen Analysekonzepte wie Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenzen, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungen, Euphemisierungen, Nominationen oder das Besetzen von Begriffen zur Erfassung des wertenden Vokabulars eine wichtige Rolle.229 2.4.4 Resümee: Diskurs und Politolinguistik In den vorgehenden Ausführungen wurde deutlich, dass politische Kommunikation stark kontextuell gebunden ist und von einer Menge heterogener, 228 Vgl. zu bewertenden Sprechhandlungen Zillig (1982). 229 Zu den Analysekonzepten im Einzelnen vgl. u.a. Klein (1989); vgl. Bellmann (1989, 1996); vgl. Girnth (1993); vgl. Herrgen (2000); vgl. Wengeler (1992); vgl. Böke/Jung/ Wengeler (1996); vgl. Strauß (1986); vgl. Strauß/Haß/Harras (1989) sowie Felder (2006).

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außersprachlicher Faktoren abhängt. Vor dem Hintergrund der Differenzierung des Kommunikationsbereichs Politik in typische Merkmale politischer Kommunikation, in konstituierende Handlungsfelder sowie in kommunikative Funktionen und Verfahren politischen Sprechens legt sich eine diskursanalytische Herangehens- und Beschreibungsweise politischer Kommunikation nahe.230 Diskurse als komplexe, aus Texten bestehende Handlungsgefüge stellen einen wesentlichen Untersuchungsgegenstand der Sprache-und-PolitikForschung dar, wie auch am Beispiel des Bioethikdiskurses um Stammzellforschung festzustellen ist. Die Diskursanalyse im Anschluss an Foucault ist somit gerade im Forschungsbereich der Politolinguistik als Methode zur Analyse komplexer öffentlich-politischer Kommunikation von großer Bedeutung. Dass sich die Diskursanalyse in der Politolinguistik etabliert hat, hängt neben einer allgemeinen Hinwendung pragmatischer Arbeiten zur textübergreifenden Zugriffsweise auf sprachliche Objekte auch mit dem skizzierten weiten Politikbegriff zusammen. Diskurse konstituieren sich oftmals im öffentlichpolitischen Bereich, sie bedürfen geradezu der Öffentlichkeit, um als solche wahrgenommen zu werden. Dass Diskursanalyse in einer pragmalinguistischen Perspektive vorzunehmen ist, sollte der vorangegangene theoretische Kontext deutlich gemacht haben. Schon allein die Klassifikation des Diskurses als öffentlich-politisch, legt eine pragmalinguistische Vorgehensweise nahe, da Sprachhandeln konstitutiv für den Bereich der Politik und der Öffentlichkeit ist. Die hier in ihren vielfältigen Facetten geschilderte politische Situation muss als Ausgangsbedingung und als Handlungsrahmen von Diskursen betrachtet werden, innerhalb derer öffentlich-politische Diskurse statthaben.

2.5 Aufgaben und Ziele einer Diskurslinguistik Foucault selbst beschrieb sein Analyseverfahren als Genealogie, als Genese und Beschreibung der Genesebedingungen gesellschaftlichen Wissens, das sich in diskursiven Formationen zeigt, ohne dabei auf Begriffe wie Tradition, Evolution, Kontinuität, Ursprünglichkeit etc. zu rekurrieren. (Vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit) Ihm geht es vielmehr darum, die diskursiven Regelmäßigkeiten und die Bedingungen der Möglichkeiten ihrer Existenz bzw. die Formation in ihrer Diskontinuität offenzulegen und zu beschreiben, wie sie erscheinen.231 Im Anschluss an die Zielstellung Foucaults kann als Haupt-

230 Vgl. hier Klein (1995b: 73ff., 75). Dies belegen auch zahlreiche empirische Studien im Bereich der Politolinguistik, die einen diskursanalytischen Ansatz zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen gemacht haben. Vgl. hier Fußnote 188 in diesem Kapitel. 231 Vgl. AW: 33ff.; vgl. auch Marti (21999: 39ff.). „Hat man sich von diesen Begriffen einmal gelöst – wobei durchaus nicht auszuschließen ist, daß einige von ihnen nach kritischer

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ziel der Diskursanalyse im Allgemeinen das Aufzeigen der Bedingungen der Möglichkeit von Wissens- und Diskursformationen formuliert werden. Hier ist nun die Frage zu stellen, welche Ziele und Aufgaben für eine linguistische Perspektivierung der Diskursanalyse daraus und aus den vorangegangenen theoretischen Erörterungen konkret abgeleitet werden können. Grundvoraussetzung für eine linguistische Diskursana lyse ist die Orientierung am Sprachmaterial. Anhand des vorhandenen Sprachmaterials, also der zum Diskurs gehörenden Texte, verfolgt eine linguistische Diskursanalyse die Beschreibung sprachlicher Manifestationen bestimmter Wissens- und Denkstrukturen einer Gesellschaft. Als erkenntnisleitende Ziele können grob zwei Formen unterschieden werden: Zum einen geht es darum, anhand des Sprachmaterials die sprachliche Konstruktion der Wirk lichkeit ana lytisch zu beschreiben. Hier spielt das in den Texten Geäußerte eine zentrale Rolle. Zum anderen geht es um die Offenlegung semantischer Tiefenstrukturen, d. h. um selbst verständliche aber nicht explizierte Voraussetzungen des in den Texten Gesagten. Linguistische Diskursanalyse ist zugleich Theorie und Methode. Wie oben bereits dargestellt, sind Diskurse soziale Praktiken, die zugleich als Teil einer Gesellschaftstheorie aufzufassen sind. Demnach kann linguistische Diskursanalyse im Rahmen einer Gesellschaftsanalyse die sprachlichen Aspekte, die ja einen wesentlichen Anteil an Gesellschaft haben, beleuchten. Diskurs als gesellschaftliche Praxis verstanden verweist darauf, dass Diskursanalyse mehr als eine Methode ist. Sie ist, als sozialwissenschaftliche Methode verstanden, elementarer Bestandteil einer Gesellschaftstheorie, in deren Zentrum die historisch-systematische Analyse von Wissens- und Rationalitätsstrukturen steht, und als solche methodischer Ausdruck einer allgemeinen (Wissens-)Konstitution von Gegenständen. ( Bublitz 1999: 27)232

Insbesondere sprachliche Phänomene wie Schlüsselwörter und Bedeutungskonzepte sowie Metaphern und Argumentationsmuster stellen wichtige Indikatoren für die Wissensformation und -distribution im Diskurs dar. (Vgl. Busch 2004: 13ff.) Welche Wissensaspekte, Themen und Argumentationsfolgen innerhalb eines Diskurses eine besonders markante Rolle spielen oder

Prüfung wieder eingeführt werden können – findet sich ein neues Gebiet befreit, das durch die Gesamtheit aller gesprochenen und geschriebenen Aussagen, aller ‚diskursiven Ereignisse‘ gebildet wird. Diese – ich bin versucht zu sagen: kathartische – Anstrengung eröffnet einen Raum, in welchem unterschiedslos alle Aussagen von Belang sind und in dem die Zuordnung zu überlieferten Bezugssystemen zunächst einmal verboten ist. [...] Es gilt, jede einzelne Aussage in ihrer historischen Einmaligkeit anzutreffen. Jetzt erst kann der Archäologe seine Ordnungstätigkeit aufnehmen und neue Beziehungen zwischen Aussagen, Gruppen von Aussagen und Ereignissen sozialer Art herstellen.“ Marti (21999: 40). 232 Bublitz (1999: 27). Vgl. zur gesellschaftlichen Wissenskonstitution auch Berger/Luckmann (202004).

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überhaupt nicht thematisiert werden, welche Wort-, Metaphern- und Argumentationsmustergebräuche zunehmen, umstritten sind, vermieden werden oder in Konkurrenz zueinander treten, gibt somit Aufschluss über die Struktur des Diskurses, die jeweiligen Machtdispositionen und damit auch über dominante Mentalitäten und Denkstrukturen (vgl. Wengeler 2007), die wiederum als Bedingungsmöglichkeit von weiteren Aussagen begriffen werden können. Busse formuliert das Ziel folgendermaßen: Ihr konkretes Ziel besteht in der Sichtbarmachung der diskursiven Elemente, Strömungen und Relationen, welche das in einer gegebenen Epoche (einem gegebenen diskursiven Rahmen) zu denken und zu sagen Mögliche prädeterminieren und begrenzen. Ihr Ansatz ist analytisch-deskriptiv (wobei Analyse und Deskription nicht voneinander getrennt werden können), weil nur eine sorgfältige, analytische Beschreibung diskursiv-epistemischer Verhältnisse eine Erklä rung gegebener Zustände, der zu beschreibenden Episteme in ihren Konstitutionsbedingungen zu leisten vermag. (Busse 2003a: 181f.)

Konkret geht es linguistischer Diskursanalyse also um das Beschreiben von Bedeutungskonstitutionen im Diskurs, um die Beschreibung der Veränderung von Bedeutungen, um die Beschreibung von typischen Handlungs-, Denkmustern und Handlungsstrategien, um die Konstanz, die Tradierung, den Wandel und die Verhandlung von Bedeutungen. (Vgl. Busse 2000a: 42) Ziel einer Diskurslinguistik ist es also ebenfalls, den Handlungscharakter/die Performativität von Diskursen herauszufinden: Welches Wissen, welche Strukturen etc. produziert der Diskurs und wie wird Wissen performativ hervorgebracht? Wie kann es dadurch wieder die Bedingung weiterer Diskursproduktionen stellen? Dabei wird favorisiert, eine möglichst große Menge kontextueller und situativer Faktoren in die Analyse einzubeziehen und Alltagstexte als Quellenbasis der Untersuchungen zu Grunde zu legen. Dieses Vorgehen impliziert aber keine Neuausrichtung linguistischer Analyse auf der semantisch-pragmatischen Mikroebene, denn es geht nicht darum, bewährte semantisch-pragmatische Analysemethoden zu ersetzen; vielmehr zielt linguistische Diskursanalyse darauf ab, den Blick zu erweitern und die Bedeutung der makrosemantischen Ebene des Diskurses deutlicher zu artikulieren und in die Analyse mit einzubeziehen. Darüber hinaus geht es auch um neue Zugänge zu traditionellen linguistischen Forschungsfragen: Fragen zum Sprachwandel, zur Sprachgeschichte, zur Pressesprache, zur politischen Kommunikation, zur Experten- und Laienkommunikation beispielsweise werden nun im Kontext eines größeren Zusammenhangs, dem Diskurs, betrachtet. Es geht also um das Erfassen von Zusammenhängen, die sowohl Einzeläußerungen als auch Einzeltexte übergreifen, gleichwohl bilden Einzeläußerungen und Einzeltexte die Ausgangsbasis der Untersuchungen. (Vgl. Wengeler 2003: 162) Das hat sowohl Auswirkungen auf das Forschungsdesign, als auch auf die sich daran anschließenden Ergebnisse. Daraus ergibt sich notwendiger-

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weise eine interdisziplinäre und multidisziplinäre Ausrichtung diskursanalytischer Arbeiten. Eine Eigentümlichkeit bzw. Problematik diskursanalytischer Vorgehensweise, die nicht unreflektiert bleiben sollte, besteht darin, dass durch die Zusammenstellung eines Korpus als Grundlage der Analyse zugleich der Diskurs durch den Forscher und dessen Perspektive in gewisser Weise mit konstituiert wird. Bublitz beschreibt dieses Dilemma wie folgt: Sind Diskurse das Ergebnis der Diskursanalyse oder sind sie (und wenn ja, in welcher Form) der Analyse vorgängig? Auf welche Weise rückt die Analysetätigkeit selbst ins Blickfeld: Werden Diskurse >beschrieben< oder erst in der analytischen Arbeit konstruiert? ( Bublitz u.a. 1999: 15)233

Zu bedenken ist weiterhin, dass aus forschungspraktischen Gründen nicht das Maximum sprachlicher und außersprachlicher Faktoren234 in die Analyse mit einbezogen werden kann; vielmehr bedarf es einer Konzentration auf bestimmte Aspekte des Gegenstandes sowie auf ausgewählte methodische Beschreibungsmöglichkeiten. Hinsichtlich der genannten Ziele wurde für diese Arbeit der Untersuchungszeitraum eingegrenzt sowie die Beschreibung der unterschiedlichen sprachstrukturellen Ebenen auf die Erfassung bestimmter sprachlicher Phänomene konzentriert. (Vgl. auch Kapitel 3 dieser Arbeit) So ergänzen sich die Analysen auf lexikalischer Ebene, die Metaphernanalyse und die Argumentationstoposanalyse. Ihnen kommt realitätskonstituierende Relevanz zu. Auf textübergreifender Ebene lassen sich die einzelnen Diskursthemen und -stränge anhand der Isotopienanalyse zusammenführen, wobei die sprachlichen Phänomene – lexika lische Einheiten, Metaphern und Argumentationsmuster – die Isotopien konstituieren. Somit kann anhand des analysierten Sprachmaterials ein Einblick in diskursdominierende und überindividuelle Strukturen gewährleistet werden. Es geht also darum, in dieser Arbeit neben einer theoretischen und methodischen Begründung des diskurslinguistischen Ansatzes durch die praktische Anwendung der Diskursanalyse ein wichtiges gesellschaftliches und öffentlich-politisches Diskussionsfeld – den Diskurs um die humane embryonale Stammzellforschung – in seiner Struktur und Entwicklung mittels unterschiedlicher linguistischer Methoden auf unterschiedlichen Ebenen nachzuzeichnen und zu analysieren, um dominante Denk- und Argumentationsmuster, weltanschauliche Positionen sowie die Konfliktträchtigkeit des 233 Foucault beschreibt dieses Abhängigkeitsverhältnis ähnlich „[...], aber es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert.“ AW: 260. Die diskursive Praxis wird also durch den Forscher mit beeinflusst. Vgl. AW: 41; vgl. Diaz-Bone (1999: 129). 234 Ein solches Maximalprogramm formuliert Busse (1987), wohl wissend, dass dieses immer nur partiell eingelöst werden kann.

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Diskurses anhand des sprachlichen Materials aufzuzeigen. Es werden dementsprechend Argumentationsmuster, Metaphern und lexikalische Einheiten im Hinblick auf ihre Funktionen im Diskurs analysiert.

II Methode 3 Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode 3.1 Methodologische Überlegungen und methodische Ausrichtung: Diskursanalyse als Mehrebenenanalyse Während es in den vorangegangenen Kapiteln darum ging, Diskurslinguistik sprachtheoretisch zu verorten und theoretisch zu explizieren bzw. zu begründen, soll es hier um die Entwicklung eines Methodenkonzeptes gehen, das Diskurse in linguistischer Hinsicht adäquat erfassen kann. Entsprechend der Vorgehensweise Foucaults, Diskurse hinsichtlich mehrerer Ebenen zu ana lysieren (vgl. Kap. 2.2 dieser Arbeit), bietet es sich gerade vor dem Hintergrund des dargestellten linguistischen Diskursbegriffes an, Diskursanalyse als eine Mehrebenenanalyse1, die unterschiedliche sprachstrukturelle Ebenen und verschiedene Beschreibungsdimensionen umfasst, zu konzipieren. Dadurch ist garantiert, dass möglichst viele und vor allem heterogene Aspekte erfasst werden. Das primäre Zugriffsobjekt für Diskurse stellt aus linguistischer Perspektivierung die Handlungseinheit des Textes dar. Diskursanalyse ist damit Textanalyse, die sowohl den Text übergreifenden, trans- bzw. intertextuellen als auch den intratextuellen Zusammenhang erfassen sollte. Dieser textanalytische Zugriff wird hier zunächst vorgestellt, um ihn dann auf die größere Analyseeinheit des Diskurses zu beziehen. Die Mehrebenenanalyse unterscheidet in Textdimensionen, nach denen die Texte beschrieben werden, in sprachstrukturelle Ebenen, aus denen sich Texte und letztlich auch Diskurse konstituieren sowie im Hinblick auf die Analyseeinheit Diskurs in Mikro- und Makroebene des Diskurses. Die Makroebene beschreibt den Diskurs in seinem Gesamtverlauf, seiner Gesamtkonstitution, als abgrenzbares Gebilde und bezieht sich vor allem auch auf Situations- und Kontextfaktoren. Während die Makroebene den Diskurszusammenhang im Blick hat, befasst sich die Mikroebene mit den Einzeltexten 1

Vgl. auch Spieß (2008). Spieß (2008) stellt eine erste Vorskizze der Mehrebenenanalyse dar, die in diesem Kapitel der Arbeit eine Ausdifferenzierung erfährt.

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Methode

bzw. mit unterhalb der Textebene anzusiedelnden sprachlichen Phänomenen. Mikro- und Makroebene des Diskurses sind nur ana lytisch strikt zu trennen. Am Sprachmaterial zeigt sich, dass die beiden Ebenen stark ineinander greifen und sich gegenseitig beeinflussen. Im Zusammenhang der Mikroebene des Diskurses spielen dann sowohl die Textdimensionen als auch die sprachstrukturellen Ebenen eine zentrale Rolle. Im Anschluss an die Vorstellung der Ebenen werden die in dieser Arbeit favorisierten methodischen Analyseansätze, die sich je auf unterschiedliche sprachstrukturelle Ebenen beziehen, vorgestellt und in das Gesamtkonzept integriert. 3.1.1 Zur Makroebene des Diskurses Unter der Makroebene des Diskurses sind in erster Linie die Erscheinungsformen des Diskurses als ein zusammengehöriges Textensemble inklusive der Erscheinungszusammenhänge und -bedingungen der Texte zu fassen. Ein solcher Diskursausschnitt kann zunächst auf einer situativ-kontextuellen Ebene in sich differenziert und zugleich von anderen Diskursen abgegrenzt werden, wohl wissend dass Diskursgrenzen immer unscharf sind und Diskurse ineinander übergehen. Die Makroebene umfasst demnach die Rahmenbedingungen als Möglichkeitsbedingungen der Erscheinungsweisen von Diskursen. In diesem Zusammenhang konstatiert Busse: Diskursanalyse muss im Rahmen einer historisch-semantisch verfahrenden Epistemologie nicht so sehr eine völlige Neuorientierung auf der mikro-semantischen Ebene der Korpusanalyse bedeuten, als vielmehr eine makro-semantische Neuausrichtung des Blicks, der Korpuswahl und der epistemisch-semantischen Analyse. Vielleicht besteht ihr methodischer Wert und ihre Eigenständigkeit vorwiegend in der Ausarbeitung einer makro-semantischen und tiefensemantischen zugleich verfahrenden Forschungsstrategie, die nicht halt macht da, wo das ohnehin Gewusste oder unbemerkt als selbstverständlich Unterstellte gewöhnlich als für die semantische Analyse irrelevant übergangen und ignoriert wird, sondern die mit der Analyse gerade erst bei den epistemischen Rahmenbedingungen sprachlicher Bedeutungskonstitution anfängt und ihr Interesse verstärkt auf die Voraussetzungen lenkt, die das in einem gegebenen Zeitpunkt Sagbare und Denkbare überhaupt erst möglich machen. (Busse 2000a:43)

Auf dieser Ebene spielen in erster Linie Situations- und Kontextfaktoren eine bedeutende Rolle, insofern durch sie der Diskurs auf der Oberfläche greifbar wird. So ist der Diskurs zunächst hinsichtlich der Handlungsfelder und Kommunikationsbereiche, der Teildiskurse, der Diskursakteure und Adressaten, der Medien, der Textsorten, der jeweiligen Textposition und der Zeitdimension zu differenzieren und einzuordnen. Es ist zu fragen, mit welchen Diskursen er sich überschneidet, welche Teildiskurse den Diskurs bilden, wer am Diskurs teilnimmt und welche Rolle den jeweiligen Sprechern zukommt, wer die Adressaten sind, in welchen Medien er geführt, durch welche Medien

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Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode

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er verbreitet wird, welche Kommunikationsform dominiert, welche Textsorten den Diskurs konstituieren und welche Stellung und Rolle die Einzeltexte im Gesamtgefüge des Diskurses einnehmen, beispielsweise ob Texte diskursdominant oder diskursperipher, diskursimmanent oder diskurstranszendent sind, ob es sich um einen Initialtext, einen Primär- oder einen Sekundärtext handelt. Girnth (1996) hat diesbezüglich einen Strukturierungsvorschlag von Diskursen gemacht. Den verschiedenen Diskurstexten werden dabei bestimmte Funktionen im Diskurs zugeschrieben, die sich aus der Zusammenschau der Texte eruieren lassen. Bereits bei der Analyse der Makroebene, insbesondere der Differenzierung der Teildiskurse und Diskursakteure lassen sich erste thematische Stränge und Themenverläufe des Diskurses entdecken. Deutlich wird an dieser Stelle, dass die Analyse der Makroebene auf die Mikroebene angewiesen ist, wenn es um die Beschreibung der einzelnen Makroelemente geht. Zugleich fließen Faktoren der Makroebene in die Ebene des Einzeltextes mit ein, insbesondere die situationelle und kontextuelle Verortung des Einzeltextes ist auf Elemente der Makroebene verwiesen. Hier zeigt sich einmal mehr die Verschränkung der Ebenen. Zudem kommen gerade hier auch außersprachliche Faktoren zur Geltung. Eine solche erste Grobstrukturierung des Diskurses ist Gegenstand von Kapitel 4.1. 3.1.2 Zur Mikroebene des Diskurses: Der Einzeltext und seine Dimensionen Die Mikroebene des Diskurses ist der Einzeltext, der als solcher in seinen Bezügen zum Diskurs untersucht werden soll. Aus diesem Grund bietet sich eine Unterscheidung in die intratextuelle und intertextuelle Perspektive der je einzelnen Dimension an. Voraussetzung einer auf Texte bezogenen Mehrebenenanalyse ist die Auffassung von der Polydimensionalität von Texten. Damit wird natürlich auch ein bestimmter Textbegriff zu Grunde gelegt, der die Untersuchungen bestimmt. Ich konzentriere mich auf die Beschreibung vier wesentlicher Textdimensionen – wie bereits in Kapitel 2.3.4 herausgestellt –, die einen sprachpragmatischen Textbegriff begründen und die Dimension der Situationalität und Kontextualität, die Dimension der Funktionalität, die Dimension der Thematizität sowie die Dimension der sprachlichen Struktur umfassen. 3.1.2.1 Situationalität und Kontextualität Diese Dimension umfasst die textexternen Elemente der Makroebene, aber auch alle weiteren, für die entsprechenden Sprachhandlungen verstehensrelevanten Faktoren2 (z. B. auch Bedingungsmöglichkeiten von Öffentlichkeit, 2

Vgl. zur Situationalität und Kontextualität auch die Ausführungen in den Kapiteln 2.3.5 dieser Arbeit.

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Funktionen von Öffentlichkeit, Öffentlichkeitstypen, Codes, nach denen Öffentlichkeit funktioniert, allgemeines Wissen3 um Texte und Textsorten). Je nachdem wie weit der Rahmen der Kontextanalyse durch den jeweiligen Forscher bzw. das Forschungsdesign gesteckt wird, spielen mehr oder weniger Faktoren eine Rolle. Da Kontextualität und Situationalität im Zusammenhang der Darstellung des Faktorenmodells und der Beschreibung des Kommunikationsbereichs Politik ausführlich beschrieben wurden, werden hier nurmehr noch wesentliche Aspekte zusammengefasst. Der Faktor der Kontextualität spielt, wie schon erwähnt wurde, eine entscheidende Rolle für die Analyse von Texten und Diskursen. Dabei ist innerhalb dieses integrativen Analysemodells von einem Kontextbegriff auszugehen, der mehrere Ebenen und unterschiedliche Funktionen umfasst: den unmittelbaren Kontext des Textes, den situativen sowie den kulturellen Kontext. In einer anderen Formulierung kann unterschieden werden zwischen lokalem, institutionellem und gesellschaftlich-strukturellem Kontext. Mit Franck kann der exogene, außersprachliche Kontext als eine der wichtigen Bedingungen für das Verständnis des Textes betrachtet werden. (Vgl. Franck 1996: 1329) Diese Vielschichtigkeit des Kontextbegriffes expliziert zugleich den Zusammenhang zwischen den Untersuchungsdimensionen. So nimmt der textuelle Kontext Einfluss auf die semantische Funktion der Themenentfaltung (Aspekt der Kohärenz). Der situative Kontext lässt auf die Adressaten, den Kommunikationsbereich, den Situationstyp, die Situationsrolle, das Medium und die Kommunikationsform schließen und bringt damit bereits die Funktion des Textes ins Spiel. Der kulturelle Kontext bildet das allen an der Kommunikation Beteiligten vorgegebene und nicht hinterfragte Hintergrund- bzw. Vorwissen4, das der Kommunikation zu Grunde liegt. Damit ist überhaupt erst Verstehen möglich. Konzepte zur Einbeziehung des Kontextes liegen mit den im theoretischen Teil erörterten Positionen und der Konzeption des linguistischen Diskursbegriffes vor. Hinzuzufügen ist hier noch, dass der Kontextbegriff auch als ein dynamischer konzeptualisiert werden muss. Die Texte selbst bringen Kontext hervor, so dass hier gerade auch im

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Einschätzungen von Situationen und Kontexten basieren immer auf kulturell geprägten und kulturspezifischen Wissensstrukturen. Insofern wird mit jedem Referenzakt auch kontextualisiert, insofern Lexeme nur vor dem Hintergrund vernetzter Wissensstrukturen verstanden werden können und selbst wiederum auf komplexe Strukturen, auf eingeübte soziale Praktiken, Handlungsmuster und Organisationsformen im Akt ihrer Verwendung verweisen und dementsprechend erst Kontext hervorbringen. Hier werden die Begriffe der Spätphilosophie Wittgensteins, Sprachspiel und Lebensform zentral. Das Sprachspiel meint jegliche Verwobenheit des Sprechens mit nicht-sprachlichen Praxen und Voraussetzungen; die Lebensform meint den Zusammenhang der Lebenswelt, der den Hintergrund für Sprachspiele bildet. Vgl. hier auch Berger/Luckmann (202004: Kapitel 1); vgl. auch Kapitel 1.4 dieser Arbeit.

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Hinblick auf Bedeutungsfi xierungen, Metaphorisierungen und den Einsatz von Argumentationsstrategien von Kontextualisierung gesprochen werden muss.5 Die Dimension der Situation und des Kontextes umfasst sämtliche Situations- und Kontextfaktoren, die im Faktorenmodell kommunikativen Handelns erfasst sind (Situation: Relevanzbereich, Handlungs- und Kommunikationsbereiche, Situationstypen, Situationsrollen, Verfahrenstypen, Themen und Ereignisse; Partnerhypothesen; sprachliches und außersprachliches, verstehensrelevantes Wissen). Da diese bereits in Kapitel 2.3.5 dieser Arbeit eingehend erläutert wurden, sei an dieser Stelle auf dieses Kapitel verwiesen. 3.1.2.2 Funktionalität Die Dimension der Funktionaliät beschreibt die Texthauptfunktion, kommunikative Verfahrensweisen, den strategischen Einsatz sprachlicher Mittel (beispielsweise Lexik) sowie Ziele und Zwecke. Sie ist insofern zentral, als sie die Intention des Textemittenten darstellt, von der schließlich die Dimension der Thematizität sowie die Dimension der sprachlichen Gestaltung/Struktur des Einzeltextes in starkem Maße abhängen. Zudem ist diese Dimension diejenige, die Texte als primäre Handlungseinheiten bestimmt und diese im Zusammenhang kommunikativer Interaktionen verortet. Um die Texthauptfunktion zu ermitteln, haben sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Verfahren etabliert. So gibt es zum einen quantitative Vorgehensweisen; zentrales Kriterium ist die Vorkommenshäufigkeit bestimmter Funktionen im Text. Anhand der Dominanz der jeweiligen Funktion wird dann die Texthauptfunktion bestimmt.6 Zum anderen existieren Ansätze, die qualitativ vorgehen; d. h. die Gesamtfunktion des Textes steht im Zentrum des Interesses, die durch bestimmte textinterne und textexterne (kontextuelle und situative) Faktoren angezeigt wird. Brinker unterscheidet in drei Aspekte, die es bei der Bestimmung der Textfunktion zu beachten gilt: a) die expliziten sprachlichen Formen, mit denen die Art des kommunikativen Aktes zur Geltung gebracht wird; b) die sprachlichen Formen, anhand derer man (explizit oder implizit) die Einstellung des Emittenten erkennen kann und c) der kontex-

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Der Kontextualisierungsbegriff stammt aus der Gesprächsanalyse, kann m. E, aber auch auf Diskurse bezogen werden, insofern die Bestandteile von Diskursen den Kontext erst hervorbringen und Diskurse als dynamische und prozessual entstehende Einheiten aufgefasst werden. Vgl. dazu Auer (1986); vgl. Gumperz (1982). Busse schärft den Begriff der Kontextualisierung im Hinblick auf diskurslinguistische Fragestellungen. Er verweist darauf, dass situatives Wissen immer schon ein Aspekt des Kontextualisierungsbegriffes ist. Vgl. Busse (2005: 54) und Busse (2007); vgl. auch Blommaert (2005: 39–67). Vgl. beispielsweise Große (1976). Die illokutiven Rollen einzelner Sätze werden in diesen Fällen additiv ermittelt.

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Methode

tuelle und situative Handlungsrahmen des Textes.7 Die funktionale Dimension wird also von der jeweiligen Situation und dem kontextuellen Rahmen bestimmt. Texte können ganz unterschiedliche Funktionen haben. Realisiert werden die Grundfunktionen durch spezifische kommunikative Verfahren bzw. Sprechhandlungen, die sich wiederum aus lexikalischen Einheiten konstituieren. Die funktionale Dimension kann sowohl über die Textfunktion hinaus komplexe sprachliche Handlungen wie Argumentationen und Argumentationsmuster als auch Einzellexeme in ihrer funktionalen Bedeutung erfassen. Bei allen ihr zugeordneten sprachlichen Manifestationen bleibt diese Dimension auf die anderen Dimensionen angewiesen. In intertextueller Perspektive kommt die Funktion der Texte durch deren Stellung im Diskurs in den Blick, die mit den Merkmalen initial, prozessual, terminal, diskursimmanent, diskurstranszendent, diskursperipher, metatextuell oder metadiskursiv beschrieben werden können (vgl. Girnth 1996). Die sprachlichen Phänomene unterhalb der Textebene haben ebenfalls bestimmte Fuktionen inne wie u.a. durch Strategien der Gegnerabwertung oder der Aufwertung der Eigenposition zur Stützung der eigenen Argumentationsziele deutlich wird. 3.1.2.3 Thematizität Die Dimension der Thematizität setzt sich ganz allgemein gesprochen mit der inhaltlichen Gestaltung, mit der semantischen Kohärenz eines Textes auseinander.8 Die Frage nach dem Thema eines Textes entzündet sich daran, was ein Emittent zum Gegenstand seines Textes macht und auf welchen Ausschnitt der Wirklichkeit mittels des Textes Bezug genommen wird.9 Entsprechend 7 8

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Vgl. Brinker ( 62005: 100–107). Diese Vorgehensweise orientiert sich am sprachlichen Material, nimmt aber zugleich den Rezipienten und sein vorhandenes, verstehensrelevantes Wissen ernst, insofern ihm ein gewisser Interpretationsspielraum zugemessen wird. Ganz selbstverständlich wird davon ausgegangen, dass Texte Themen haben und dass die Themen die semantische Kohärenz des Textes gewährleisten. Vgl. Adamzik (2004: 118f.) In der Forschungsliteratur existiert zwar eine Diskussion darüber, was genau unter dem Thema eines Textes zu verstehen sei, jedoch wird Untersuchungen oftmals einfach auch ein Alltagsverständnis von Thema zu Grunde gelegt, ohne den Themabegriff näher zu explizieren. Zum Alltagsverständnis vgl. Lötscher (1987: 56ff.) Das soll hier nicht geschehen. Wenn auch der Themabegriff nicht weiter diskutiert werden wird, so soll wenigstens der zu Grunde liegende Themabegriff kurz deutlich gemacht werden. Ein viel und kontrovers diskutierter Themabegriff stellt beispielsweise das Thema-RhemaKonzept der Prager Schule dar. Dieses zunächst satzbezogene Konzept überträgt Daneš (1970) auf ganze Texte, wobei die Satzbezogenheit im Zentrum stehen bleibt, insofern Texte als Satzfolgen aufgefasst werden. Dabei wird der Satz in zwei Teile gegliedert: in Thema und Rhema. Das Thema ist nach Daneš das, worüber etwas ausgesagt wird. Unter Rhema wird der Aussagekern verstanden, also das, was über das Thema ausgesagt wird. Das Thema gilt als Ausgangspunkt einer Aussage, während das Rhema den jeweils neu-

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der gesamten Ausrichtung der Arbeit liegt hier ein handlungstheoretisch fundierter Themabegriff nahe. Bei dieser Themakonzeption kommt die Funktionalität von Themen zur Geltung. Ihnen wird, so Lötscher, die Aufgabe zuteil, „irgendeinen Mangel eines kognitiven Objektes mittels des Textes als Handlung zu beseitigen.“ (Lötscher 1987: 125, vgl. 84) Thema eines Textes ist somit der zentrale im Text behandelte Gegenstand, der einen Mangel beseitigt. (Vgl. Girnth 1993: 46–50) Dabei kann die semantische Kohärenz eines Textes, die die Einheitlichkeit des zentralen im Text behandelten Gegenstandes garantiert, auf verschiedene Weise hergestellt werden. Man spricht hier von verschiedenen Themenentfaltungstypen. Erschließen lässt sich die Form der Themenentfaltung in erster Linie durch den Rückbezug auf die Dimensionen der Funktionalität sowie Situationalität und Kontextualität. Zur Beschreibung der inhaltlichen Dimension der Texte/des inhaltlichen Zusammenhangs haben sich vier Grundformen von Themenentfaltungstypen herauskristallisiert: die deskriptive, argumentative, explikative oder narrative Themenentfaltung (vgl. hier Brinker 62005: 65–87). Der jeweilige dominierende Themenentfaltungstyp eines Textes setzt sich wiederum aus verschiedenen, den Text konstituierenden Subthemen zusammen. Während die Frage nach dem Typ der Themenentfaltung auf die funktionale Perspektive der Themengestaltung abzielt, also nach dem Wie und der Art und Weise der Ausführung des Themas im Text fragt, muss die semantische Kohärenz von Texten auch auf der Merkmalsebene geklärt

en Aspekt der Information einführt. Von Satz zu Satz werden also Thema und Rhema verbunden, so dass ein Komplex von thematischen Relationen entsteht, den Daneš „thematische Progression“ nennt. Vgl. hier auch Brinker (62005: 49ff.). Dieses Konzept ist in der textlinguistischen Forschung allerdings umstritten und wird u.a. auf Grund seiner Satzbezogenheit und der fehlenden Kriterien zur Abgrenzung von Thema und Rhema abgelehnt. Vgl. Adamzik (2004: 119f.). Ein weiterer Themabegriff wird von Teun van Dijk mit seinem Konzept der Makro- und Superstrukturen diskutiert. Van Dijks Konzept liegt die Annahme zu Grunde, dass aus den Propositionen eines Textes auf eine Makroproposition, die van Dijk als semantische Tiefenstruktur des Textes begreift, geschlossen werden kann, die dann das Thema als „globale Bedeutung“ des Textes darstellt. Aus den Einzelpropositionen des Textes wird anhand bestimmter Makroregeln auf die Makroproposition geschlossen. Vgl. Brinker (62005: 52ff.). Vgl. aber auch Adamzik (2004: 129), die die Makrostrukturen eher zu dem Wie von Textthemen zählt. Zu kritisieren an diesem Konzept sind verschiedene Dinge. Zum einen wird nicht ganz deutlich, wie die Makroregeln konkret anzuwenden sind, zum anderen gestaltet sich die Ableitung hin zu einem Globalthema bei komplexen Texten als äußerst schwierig; m.E. ist dies nicht immer zu bewerkstelligen, drittens kann im Text Implizites nicht erfasst werden und viertens wird auch dieses Verfahren – entgegen der Intention van Dijks – immer ein interpretatives Verfahren bleiben, man gelangt mithilfe der Makroregeln nicht automatisch zu einem einzigen, richtigen Textthema. Vgl. zur Kritik Brinker (62005: 52–55) und Adamzik (2004: 130f.). Zu weiteren Themabegriffen vgl. Lötscher (1987: 6–56, 76–98).

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Methode

werden. Dazu eignet sich m.E. die Methode der Isotopienanalyse nach Greimas und Rastier, von der weiter unten noch ausführlicher die Rede sein wird. (Vgl. Greimas 1971, Rastier 1974 sowie Kap. 5.2 dieser Arbeit) Anhand dieser Methode wird der Text nach semantischen Merkmalen strukturiert. Dadurch können die einzelnen Themenstränge des Textes erschlossen und in Zusammenhang mit dem Typ der Entfaltung dieser Themenstränge gebracht werden. Allerdings ist die Kohärenz eines Textes allein durch Isotopien und Themenentfaltungstypen noch nicht gewährleistet. Auch hier bedarf es der anderen Dimensionen. In intertextueller Perspektive spielt dann die semantische Kohärenz des Diskurses durch textübergreifende Isotopieketten eine Rolle, die sich beispielsweise in der textübergreifenden Rekurrenz von Wortfeldern, Metaphernbereichen und Argumentationslinien niederschlägt und den Diskurszusammenhang auf einer tiefensemantischen Ebene herstellt. 3.1.2.4 Strukturalität und sprachliche Gestalt Der Dimension der sprachlichen Struktur/Textgestalt geht es um grammatische Kohärenz, um sprachliche und strukturelle Eigenheiten des Textes beispielsweise durch markante oder typische Lexik und Metaphorik sowie um zentrale und konstitutive Textbausteine10. Einerseits stellt sie in gewisser Weise die basale Dimension dar, da auf der sprachlichen Verfasstheit alle anderen Dimensionen sozusagen gründen.11 Andererseits sind die Bausteine der strukturellen Ebene, etwa die Lexik, die grammatische Struktur oder allgemeiner ausgedrückt die sprachliche Erscheinungsweise, wiederum auf die funktionale, situationelle/kontextuelle und thematische Dimension angewiesen. Die oberflächenstrukturelle, grammatische Kohärenz wird durch Wiederaufnahmestrukturen gewährleistet. (Vgl. Brinker 62005: 27–44) Allerdings ist durch grammatische Kohärenz allein noch nicht der Textzusammenhang garantiert, dazu bedarf es der thematischen, also semantischen und der funktionalen Dimension der Textbeschreibung. So reicht die grammatische Kohärenz eines Textes nicht hin, um den Text als semantisch kohärent zu bezeichnen. Auch muss grammatische Kohärenz nicht in jedem Fall vorhanden sein, um

10 Hierunter fallen zahlreiche sprachliche Erscheinungen, die den Text strukturieren, darunter auch formale Mittel der Textgestalt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Erwartung, die man an die Texthaftigkeit stellt und die nach Adamzik auf vier Ebenen erhoben wird: auf der Ebene der langage, der parole, der langue und der Norm. Vgl. Adamzik (2004: 147). 11 Hier soll nicht von einer Hierarchie der Dimensionen die Rede sein. Zwar ist die Dimension der sprachlichen Gestalt die Basis, doch ist diese von den anderen Dimensionen abhängig und ohne diese nicht zu beschreiben. Vgl. zur sprachlichen Gestalt und den Bezugsebenen auch Adamzik (2004: 144–159).

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von einem unter semantischen und funktionellen Gesichtspunkten sinnvollen Text sprechen zu können. In intertextueller Perspektive bekommen Bedeutungsaushandlungen im Diskurs durch diskursive Bezüge der Einzeltexte untereinander eine besondere Relevanz. Auf dieser Ebene können ebenso Wiederaufnahmestrukturen zur Geltung kommen, die unterschiedliche Komplexitätsgrade annehmen können (einzelne Ausdrücke, Phrasen bis hin zu komplexeren Argumentationsmustern oder Sprechhandlungssequenzen). Hinsichtlich der Bedeutungsaushandlungen, die durch Wiederaufnahmestrukturen manifest werden, bleibt diese Dimension aber vor allem auf die semantische Textbeschreibungsdimension angewiesen. Die vier genannten Dimensionen der Textbeschreibung stehen, wie bereits in Kap. 2.3.4 angedeutet, in einem gegenseitigen Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis; die je einzelne Dimension kann ohne die anderen nicht adäquat beschrieben werden. Die Dimensionen sind in einer Weise verschränkt und voneinander abhängig, die es nicht erlaubt die einzelnen Dimensionen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander zu denken; vielmehr wird jede Dimension von der je anderen Dimension beeinflusst oder ergänzt bzw. übt jede auf die jeweils andere Dimension Einfluss aus. Es handelt sich also um vier für die Textkonstitution zentrale Dimensionen, die ohne einander nicht existieren können. Deutlich wird dieses Verhältnis bei der Analyse des sprachlichen Materials. Hier greifen immer alle Dimensionen ineinander. Letztlich können sie nur analytisch getrennt dargestellt werden. Dass die unterschiedlichen sprachstrukturellen Beschreibungsebenen ebenso ineinander greifen und voneinander abhängen, also nur auf der analytischen Ebene zu trennen sind, zeigt sich direkt am Untersuchungsmaterial. Das Zusammenspiel der einzelnen Dimensionen einerseits und der sprachstrukturellen Ebenen andererseits verdeutlicht unten stehende Übersicht 3.1-1. Die jeweils höhere sprachstrukturelle Ebene ist auf die unter ihr liegende angewiesen, zugleich erhält die je kleinere sprachstrukturelle Ebene erst im Kontext der nächst höheren Ebenen ihre Bedeutung und Funktion. 3.1.3 Zur diskursanalytischen Erweiterung des Analysemodells Bei der Darstellung der vier Textbeschreibungsdimensionen wurde bislang immer vom Einzeltext ausgegangen. Diese vier vorgestellten Textbeschreibungsdimensionen können aber ebenso textübergreifend auf den Diskurs angewendet werden. Im Zentrum steht damit nicht mehr der Einzeltext und seine Konstitution, vielmehr geht es bei der Betrachtung von Diskursen und der Anwendung dieser vier Dimensionen auf textübergreifende Strukturen um die Beschreibung diskursiver Zusammenhänge. Für die konkrete Analyse liegen zwar einzelne Texte zu Grunde, es werden aber Einheiten unterhalb des

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Methode

situativ-kontextuelle Dimension

funktionale Dimension

Handlungsfelder, Situationstyp, -rolle Kommunikationsform, Medium, Adressatenkreis, Sprecher, Ereignisse, Lokalität, Kommunikationsbereich

Textfunktion, Realisation durch bestimmte kommunikative Verfahren und Sprechandlungen Zwecke

thematische Dimension

strukturelle Dimension

semantische Kohärenz Themenentfaltung Realisation der Themenentfaltung Isotopieketten

grammatische Kohärenz, sprachl. Struktur durch Lexik, Metaphorik Argumentationsmuster, Formulierungsmuster etc.

Übersicht 3.1–1: Textbeschreibungsdimensionen12 12

Textes zur Analyse ausgewählt, die jedoch ohne den Bezug auf ihre Einbettung in ganze Texte nicht adäquat erfasst werden können. Es geht also darum, die sprachlichen Phänomene in ihrer seriellen Erscheinungsweise im Hinblick auf ihr diskursives Potenzial zu untersuchen, was immer nur vom Einzeltext ausgehend geschehen kann. Vor dem Hintergrund dieser vier Beschreibungsdimensionen können die verschiedenen, text- und diskurskonstituierenden, sprachstrukturellen Ebenen13 im Diskurszusammenhang erschlossen werden: a) die lexikalische Ebene, die sowohl das Einzelwort als auch Wortgruppen umfasst b) die Ebene der Einzelaussage und kommunikativen Handlung c) die Einzeltextebene d) die Text übergreifende Ebene e) die Ebene der Epoche14

12 13 14

Modifiziert im Anschluss an Adamzik (2004), Bachmann-Stein (2004), Brinker (62005), Heinemann/Viehweger (1991), Heinemann/Heinemann (2002), Stein (2004). Vgl. hierzu auch Busse (1987: 300ff., 1988: 264f.); vgl. auch Klein (1998b). Diese Ebene bleibt in der vorliegenden Arbeit ausgespart, da der gesteckte Zeitrahmen des Diskurses zu kurz ist.

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Das serielle Erscheinen sprachlicher Phänomene gibt somit Aufschluss über die den Diskurs konstituierenden transtextuellen Strukturen. Erst auf dieser Ebene ist es möglich Aussagen über die Relevanz, die Funktion und Bedeutung sprachlicher Phänomene in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu machen. Diese Ebene kann als die diskursive Dimension beschrieben werden. Für die Analyse des Diskurses werden drei unterschiedlich komplexe sprachliche Phänomene Gegenstand sein: Die Analyse von Einzellexemen, die Analyse von Metaphorik und die Analyse von Argumentationsmustern. Diese Phänomene werden hinsichtlich ihrer Bedeutung und Funktion im Diskurs auf der Basis des vorgestellten Mehrebenenmodells analysiert.

3.2 Analyseansätze Zur Erschließung typischer, sprachlicher Manifestationen der verschiedenen sprachstrukturellen Ebenen bieten sich verschiedene Methoden an, die für die Untersuchung des Stammzelldiskurses ausgewählt wurden und den Diskurs in seiner Heterogenität adäquat beschreiben und erfasssen sollen. Diese werden hier nun im Einzelnen vorgestellt. Es handelt sich dabei um sprachliche Erscheinungsweisen diskurstypischer Lexik, Metaphorik und Argumentationsmuster. Diese werden zum einen vor dem Hintergrund der Beschreibungsdimensionen betrachtet, da sie Teile von Texten sind und nur im Gesamtzusammenhang des Textes und Kontextes ihre volle Bedeutung entfalten können. Aus diesem Grund kommen die unterschiedlichen sprachstrukturellen Ebenen hier zur Geltung. Ausgangspunkt bleibt zunächst der Einzeltext. 3.2.1 Die lexikalische Ebene: Analyse semantischer Kämpfe Dem Lexikon kommt eine zentrale Funktion hinsichtlich sprachlichen Handelns zu, insofern es einen wesentlichen Teil des öffentlich-politischen Kommunikationsbereiches konstituiert. Denn lexikalische Einheiten als Sprachinventar einer Sprechergemeinschaft stellen die elementaren Mittel dar, mit denen sprachlich gehandelt wird. Diese Feststellung impliziert bereits eine Differenzierung in lexikalisches Inventar (Lexikon oder Wortschatz) einerseits und in den Gebrauch dieses Inventars andererseits. Diese Unterscheidung von Sprachinventar und Sprachhandlung, die im folgenden als Lexikon und Nomination terminologisiert werden soll, ist gerade dann notwendig, wenn beide Bereiche als interdependent in dem Sinne angesehen werden, daß jede kommunikative Nutzung das Inventar sowohl voraussetzt als auch potentiell modifiziert. (Herrgen 2000: 134)15

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Eine solche Differenzierung bzw. die Annahme der Interdependenz von Lexikon und

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Mit Hilfe lexikalischer Einheiten wird auf unterschiedliche Bezugsobjekte, Gegenstände, Handlungen, Sachverhalte etc. referiert. Dabei wird Referenz als von Sprechern ausgeführte sprachliche Handlung aufgefasst, die die Bestimmung von Gegenständen, über die kommuniziert wird, sichert. (Vgl. Herrgen 2000: 135; vgl. Girnth 1993: 76) In einer Kommunikationssituation ist ein Referenzakt dann geglückt, wenn die Beteiligten wissen, wovon die Rede ist, d. h. auf was referiert bzw. über was gesprochen wird.16 Dabei ist gerade für den öffentlich-politischen Großbereich der Kommunikation, zu dem auch der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung gezählt werden muss, meinungsgebundener Sprachgebrauch typisch. Das bedeutet, dass gerade innerhalb dieses Kommunikationsbereichs Deutungen und Bewertungen von Wirklichkeit, weltanschauliche Positionen und Sichtweisen mittels lexikalischer Einheiten realisiert werden. Die Nomination erfasst demgegenüber gerade solche Aspekte des Referierens, die über das bloße Referieren auf Objekte, Gegenstände, Handlungen, Sachverhalte etc. hinausgehen, insofern der Akt des Nominierens auch die Sprechereinstellung zu den Objekten, Gegenständen, Handlungen, Sachverhalten etc. umfasst.17 Konkret wird also

16

17

Gebrauch wird auch durch den erörterten Diskursbegriff gestützt, der davon ausgeht, dass an der Konstitution von Bedeutung bzw. am Sprachwandel sowohl statische als auch dynamische Faktoren beteiligt sind. Nicht bei allen Referenzakten kann man zwischen der Konzeptualisierung einerseits und der Referenz auf außersprachliche Gegenstände andererseits differenzieren, wie dies problemlos für Konkreta nachzuvollziehen ist. Insbesondere bei Abstrakta fallen Konzeptualisierung und Referenz zusammen, insofern diese erst durch die Konzeptualisierung konstituiert werden. Das wird beispielsweise bei Abstrakta wie Menschenwürde oder Lebensschutz deutlich. Vgl. dazu auch Kapitel 4.2 dieser Arbeit. Volmert schreibt bereits dem Referenzakt Handlungspotenzial zu und konstatiert, dass „schon die Zuordnung von Nomina zu (konkret gemeinten) Objekten als kommunikative und soziale Handlung [betrachtet werden kann], die unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen stattfindet. Nur unter Berücksichtigung der (gesellschaftlichen oder auch gruppenspezifischen) Konventionen und Normen ist die Anwendung eines nominalen Ausdrucks auf ein Objekt für den Sprecher als ‚zulässig‘, ‚geeignet‘, ‚treffend‘ usw. zu beurteilen.“ Volmert (1989: 43). Diese Form sprachlichen Handelns bezeichnet Volmert mit dem Terminus Etikettierungsakt. Auf Grund peijorativer Bedeutungsaspekte lehnen sowohl Herrgen als auch Girnth den Terminus Etikettierung bzw. Etikettierungsakt ab. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass für den Akt des wertenden Referierens unterschiedliche Bezeichnungskonventionen bestehen, so zum Beispiel Benennung, Prädizierendes Bezugnehmen, Nomination. Vgl. dazu Herrgen (2000: 136). Girnth plädiert dafür, dass die Bezeichnung Benennung nur im Sinne einer Erstbenennung verwendet wird und den Phänomenen des wertenden Referierens der Terminus Nomination vorbehalten bleibt. Bellmann ist ebenfalls der Meinung, dass „für die erste Stufe, die Stufe der Ausdrucksbildung, [...] im heutigen terminologischen Gebrauch nicht von Nomination [gesprochen werden sollte], obwohl es gelegentlich in der Literatur geschieht. Eher käme Benennung in Frage, das in der fachsprachlichen Terminologielehre der Sprachnormenausschüsse, aber auch in der Onomastik dafür eingeführt ist.“ Bellmann (1996: 13); vgl. Girnth (1993: 77–79).

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mit Bellmann (1996) unter dem Nominationskonzept ein Handlungskonzept verstanden, das sich auch auf die bewertende Komponente von Bedeutungen und Äußerungen bezieht, die mit dem Akt des Nominierens durch den Sprecher erst vollzogen wird und gerade dem Anliegen sprachlichen Handelns im öffentlich-politischen Kommunikationsbereich gerecht wird. Ich schlage vor, wenn es um die kommunikative Verwendung von Wortschatzeinheiten geht, zwischen Referenz und Nomination zu unterscheiden. Referenz ist und bleibt die mit lexikalischen (und/oder gestischen) Mitteln ausgedrückte Bezugnahme auf ein Objekt, von dem die Rede sein soll. Der Referenzakt ist geglückt, wenn der Partner versteht, von welchem Objekt ich rede. Nomination hingegen ist gegenüber der Referenz auf einer nächsten und höheren Stufe die präzisierende, zumeist auch stellungbeziehende, wertende Form der Ausdrucksverwendung. [...] Nomination ist Referenz plus – vor allem – Wertungspragmatik. Ein Nominationsakt ist geglückt, wenn der Zuhörer nicht nur versteht, wovon die Rede ist, sondern wenn er darüber hinaus dem Redebeitrag entnehmen kann, welches die Einstellung des Sprechers gegenüber dem persönlichen oder unpersönlichen Referenzobjekt ist [...]. (Bellmann 1996: 10–11)

Die Wahl bestimmter nominationsfähiger Ausdrücke18 durch den Sprecher impliziert somit bereits eine Einstellungsbekundung bzw. eine Bewertung. Dabei erfolgt die Nomination auf Grund bestimmter situativer und kontextueller Faktoren sowie auf Grund der Einstellung des Sprechers. (Vgl. hierzu auch Bellmann 1996: 13f.) Ein solches analytisches Vorgehen, das von den Bezeichnungen ausgeht, wird in semantischer Hinsicht als onomasiologisches Vorgehen bezeichnet. Wenn mehrere Bezeichnungsalternativen für einen Sachverhalt verwendet werden, spricht man auch von Nominations- oder Bezeichnungskonkurrenzen. In semasiologischer Hinsicht spielt die Fixierung von Bedeutung eine entscheidende Rolle. Dasselbe Lexem wird von unterschiedlichen Parteiungen mit verschiedenen Bedeutungen versehen. Auch hier spielen Einstellungen, die sich auf der Seite der Bedeutungsaspekte niederschlagen, eine Rolle. Denn es ist nicht unerheblich in welcher Weise ein Ausdruck semantisch fi xiert wird, um ihn argumentationsstrategisch einzusetzen und für die eigene Position in Anspruch zu nehmen. Einstellungen werden demnach durch die je spezifische Bedeutungsfestlegung kundgegeben, was im Diskurs zum Beispiel am Lexem Menschenwürde nachzuweisen ist (vgl. Kap. 4.2.4). Man spricht hier auch von Bedeutungskonkurrenzen oder denotativer bzw. evaluativer Lesartenkonkurrenz. Während aber im Fall der Betrachtung von Bezeichnungen, die Einstellungsbekundung bzw. das Bewertungspotenzial direkt am Ausdruck und den damit verbundenen evaluativen Bedeutungsaspekten festgemacht werden kann, ist dies im zweiten Fall – dem gleichen Ausdruck 18

Zur Nominationsfähigkeit von Ausdrücken vgl. Girnth (1993: 79–83).

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mit unterschiedlichen Bedeutungen – nicht so einfach zu erschließen, da erst eine genaue Analyse der Bedeutungsaspekte die Bewertung des Sachverhalts offenlegt. Insofern kann man auch sagen, dass im zweiten Fall die Bewertung und Einstellungsbekundung eher indirekt bzw. implizit verläuft. In beiden Fällen handelt es sich um die in öffentlich-politischen Diskursen weit verbreitete Strategie des Semantischen Kampfes, die – allgemein gesprochen – Formen lexikalischer Ambiguität darstellt (vgl. auch Felder 2006a). Die Bezeichnungskonkurrenzen können zugleich auch als Bedeutungskonkurrenzen aufgefasst werden, da sie nur partiell synonym sind. Partiell synonym sind die unterschiedlichen Ausdrücke, da sie nicht alle die gleichen semantischen Merkmale realisieren. Insbesondere evaluative Bedeutungsmerkmale und Konnotationen können je nach Lexem äußerst unterschiedlich ausfallen. Gleich bleibt nur das Referenzobjekt, auf das Bezug genommen wird. Es können drei Ziele bzw. Intentionen von Nominationsakten im Hinblick auf intendierte Hörerreaktionen seitens der Sprecher ausgemacht werden (vgl. Girnth 1993: 95). Es handelt sich dabei zum einen um die Einstellungsmodifizierung, die auf die Veränderung der Einstellung beim Adressaten gegenüber dem Gegenstand oder Sachverhalt abzielt. Hier geht es in erster Linie um die Veränderung bereits vorhandener Einstellungsstrukturen. Die Einstellungsaffirmation als weitere Intention von Nominationsakten bestätigt bzw. bekräftigt die beim Adressaten bereits vorhandene Einstellung gegenüber einem Gegenstand oder Sachverhalt. Sie ist mit der Einstellung des Sprechers konform. Schließlich wird bei der Einstellungspolarisierung vor allem eine Gegenüberstellung der zum Ausdruck gebrachten Sprechereinstellung gegenüber einem Gegenstand oder Sachverhalt im Hinblick auf die nicht mit der Sprechereinstellung übereinstimmende Einstellung des Hörers/Adressaten intendiert. (Vgl. Girnth 1993: 96f.) Dabei wird eine Einstellungsmodifizierung nicht angestrebt. Betrachtet man die drei Ziele bzw. Intentionen von Nominationsakten, so kann konstatiert werden, dass Nominationen insbesondere für persuasive Sprechakte geeignet scheinen. Der Nominationsakt stellt somit ein wesentliches Mittel der Persuasion dar19 und ist demnach zentral für sprachliches Handeln im öffentlich-politischen Kommunikationsbereich. Neben den drei Zielen von Nominationsakten kann der Nominationsakt des Weiteren differenziert werden in drei verschiedene Typen der Einstellungswiedergabe. Während es also bei den Zielen um die Funktion des Aktes geht, steht bei der Differenzierung in Typen der Wiedergabe die Art und Weise des Nominierens im Vordergrund. Girnth unterscheidet zunächst in Einstellungsbekundung und in Einstellungswiedergabe. Bei letzterer kann

19

Zum Persuasionsbegriff vgl. Kapitel 2.4.2.2 und 2.4.3; vgl. Käge (1980: 62f.).

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es sich auch um indirekte Bekundungen von Einstellungen durch den Sprecher handeln. Bezüglich der Einstellungswiedergabe wird in zitierende Einstellungswiedergabe, metasprachliche Einstellungswiedergabe und epistemische Einstellungswiedergabe differenziert (vgl. Girnth 1993: 103). Das zitierende Nominieren beinhaltet die Anführung eines Nominationsausdrucks, der durch den Gebrauch durch einen Dritten gekennzeichnet ist. Der Sprecher bedient sich dabei der direkten oder indirekten Redewiedergabe, des indirekten oder wörtlichen Zitats. Dabei kann das Zitat als Bestätigung der Sprechereinstellung aber auch zur Distanzierung vom Gesagten durch den Sprecher eingesetzt werden. Die metasprachliche Nomination ist vor allem dadurch charakterisiert, dass der Sprecher sich vom Gebrauch eines Nominationsausdruckes distanzieren möchte. Dies kann durch Anführungszeichen oder durch den Gebrauch des Partizipialattributs so genannt geschehen. Die epistemische Nomination ist die Wiedergabe von Einstellungen, wie sie sich für den Sprecher aus seiner Sicht darstellen, ohne sich vom Gebrauch zu distanzieren. (Vgl. Girnth 1993: 104) Das Nominationskonzept erfasst verschiedene sprachliche Phänomene und bezieht sich dabei auf verschiedene Handlungsfelder und Wirklichkeitsausschnitte, die es jeweils repräsentiert: So auf Bezeichnungen der Eigen- und Fremdgruppe, Handlungen der Eigen- und Fremdgruppe, Interessen und Ziele der Eigen- und Fremdgruppe, Gegenstände und Begriffe der Eigen- und Fremdgruppe oder Vorgänge. Dabei ist es hilfreich, den zu analysierenden Wortschatz nach Nominationssektoren zu differenzieren, um damit der funktional-pragmatischen Orientierung der Arbeit gerecht zu werden. Folgende Nominationssektoren bzw. Handlungsfelder können im Anschluss an Girnth auch für den Stammzelldiskurs, der zu den öffentlich-politischen Diskursen zählt, geltend gemacht werden. (Vgl. Girnth 1993: 107ff. und 2002: 59f.) 1. Nomination von Sprechergruppen und Personen, Autoritäten oder Akteuren 2. Nomination relevanter Aktivitäten und Handlungen 3. Nomination relevanter Eigenschaften 4. Nomination relevanter Intentionen und Interessen, Werte und Normen (Nomination objektiver Intentionen und Interessen, Werte und Normen in abstrakter Form, in konkreter Form, in scheinbar subjektiver Form) 5. Nomination relevanter Systeme und Institutionen/Formen von Verfahrensweisen von Herrschaft 6. Nomination relevanter Ereignisse und Sachverhalte Mit einer solchen Gliederung wird zudem die grundsätzliche Offenheit öffentlich-politischer Diskurse unterstrichen, jedes Thema kann öffentlich-politisch relevant werden, wobei in der Analyse nicht alle Nominationsbereiche gleichermaßen Beachtung finden werden.

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Methode

Der Akt des Nominierens kann sich auf unterschiedliche lexikalische Phänomene beziehen, die auf Grund ihrer semantischen Struktur zum ‚meinungssprachlichen Vokabular‘ gezählt werden.20 Zur Beschreibung der sprachlichen Phänomene und ihrer Funktion haben sich im öffentlich-politischen Kommunikationsbereich bestimmte Termini herausgebildet, wobei sich hier auch die einzelnen Definitionen und Funktionsbestimmungen überschneiden können und viele Alternativbezeichnungen existieren, was nicht immer der Übersichtlichkeit dient. Dennoch sollen hier im Hinblick auf die Untersuchung des Stammzelldiskurses einige typische Formen des öffentlich-politischen Vokabulars und ihrer je spezifischen Funktion skizziert werden. Die Analyse der Semantik dieser lexikalischen Einheiten ermöglicht Rückschlüsse auf das Denken und Handeln einer Sprachgemeinschaft/Sprechergruppe. Den Kernbestand des im öffentlich-politischen Kommunikationsbereich zentralen meinungssprachlichen Vokabulars kann man zunächst in Symbolwörter oder Schlagwörter unterscheiden.21

20 Meinungssprachlich gebundenes bzw. ideologiegebundenes Vokabular ist dadurch gekennzeichnet, dass es aus verschiedenen Bedeutungskomponenten besteht: die denotative, evaluative und deontische Bedeutungskomponente. Die wertenden Aspekte spielen bei der Klassifizierung in ideologiegebundenes Vokabular die zentrale Rolle, da es mit dem Gebrauch dieser Vokabeln um Deutungen und Wertungen gesellschaftlicher und sozialer Prozesse, Sachverhalte und Tatsachen geht. In Kapitel 2.4 wurde aber bereits angemerkt, dass im Prinzip jeder Wortgebrauch mehr oder weniger ideologisch geprägt ist, da Sprechen und Sprache immer in bestimmte gesellschaftliche Konstellationen eingebunden ist. Die wertende Komponente ist dabei unterschiedlich deutlich. Bei der Analyse wertenden Vokabulars geht es um das Aufdecken der unterschiedlichen Wertungen und graduellen Unterschiede. Die Unterteilung in denotative, evaluative und deontische Aspekte lehnt sich an die Bedeutungsstruktur und -funktion von Darstellung-Bewertung-Appell, wie sie Klein in Anlehnung an Bühler (Darstellung-Ausdruck-Appell) konzipiert. Vgl. Klein (1989: 12f.); vgl. dazu auch Hermanns (1986) oder vgl. Burkhardt (1988: 340); vgl. Bühler (1934). 21 Daneben existieren noch Alternativbezeichnungen wie Grundwerte-Lexem, hochaggregierte Symbole oder auch Hochwertwörter. Bei dem Terminus Hochwertwort kursieren unterschiedliche Funktionszuschreibungen. Während Girnth (2002) Hochwertwörter als immer positiv konnotiert beschreibt, aber nicht zum Ideologievokabular gehörend betrachtet, versteht Burkhardt (1988) unter Hochwertwörtern „ideologische Schibboleths einer Gruppe, z. B. einer Partei“. Burkhardt (1988: 341); vgl. Girnth (2002: 52). Die Unterscheidung bei Burkhardt zwischen Hochwertwörtern einerseits und Schlagwörtern andererseits ist mir allerdings nicht ganz plausibel. Unter einem Schlagwort versteht er im Anschluss an Dieckmann Lexeme, die „Programme kondensieren“ und „Relatives zu Absolutem erheben“ und als „parteipolitische Schibboleths fungieren“. Burkhardt (1988: 341). Allerdings muss auch konstatiert werden, dass es in der Forschung keine einheitlichen Definitionen der einzelnen Phänomene gibt. Zum Teil überschneiden sich die Definitionen und Funktionszuschreibungen bei unterschiedlichen Autorinnen und Autoren, was hier nicht ausführlich diskutiert werden kann. Vgl. hierzu beispielsweise Böke (1996b); vgl. Burkhardt (1988); vgl. Girnth (2002); vgl. Hermanns (1994); vgl. Klein (1989); vgl. Strauß/Haß/ Harras (1989).

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Unter beiden Begriffen sollen diejenigen Ausdrücke oder Ausdruckskomplexe verstanden werden, die uns den Zugang zur politischen Problem- und Bewußtseinsgeschichte einer Sprachgemeinschaft eröffnen, wie sie sich innerhalb der ausgewählten Diskursbereiche präsentiert. Dabei sind auch Wörter und Fügungen gemeint, die von der untersuchten Kommunikationsgemeinschaft selbst als ‚bedeutsam‘ erachtet wurden. (Böke 1996b: 33)

Diese lassen sich nochmals nach funktionsspezifischen Aspekten sowie hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Strategien präzisieren und im Hinblick auf gruppenübergreifenden und gruppeninternen Gebrauch differenzieren. Dabei können diese beiden Formen auf einer allgemeineren Ebene als Schlüsselwörter oder Leitvokabeln bezeichnet werden, da sie innerhalb von öffentlich-politischen Diskursen frequent gebraucht werden und somit durch ihren Gebrauch den jeweiligen Diskurs entscheidend strukturieren. Kriterien zur Erfassung von Schlüsselwörtern, Leitvokabeln, Symbolwörtern und Schlag wörtern können metasprachliche Äußerungen, d. h. explizite oder implizite Thematisierungen des Sprachgebrauchs, Bedeutungs- und Bezeichnungskonkurrenzen, Neologismen und Neubedeutungen, die Strittigkeit bzw. Konflikthaftigkeit des jeweiligen Vokabulars sowie auch die Vorkommenshäufigkeit (auch von Ad-hoc-Komposita zu einem bestimmten Thema) in Diskursen sein.22 Bei der Klassifizierung von Schlüsselwörtern sind immer auch interpretative Momente seitens des Forschers beteiligt. Die Funktion von Schlüsselwörtern, Leitvokabeln, Symbolwörtern oder Schlagwörtern kann vor allem darin gesehen werden, dass sie zur verdichtenden und vereinfachenden Darstellung von Sachverhalten neigen. In ihnen kondensieren ganze Programme, Weltanschauungen, Überzeugungen und Werthaltungen. (Vgl. Girnth 2002: 52) Dementsprechend können sie bestimmte Funktionen in komplexen Argumentationen oder innerhalb von Argumentationsmustern, in Metaphern oder diversen Sprechakten einnehmen. Die bewertende Bedeutungsdimension ist ihnen neben der deontischen und denotativen Bedeutungsdimension eigen, mit ihnen wird wertend Bezug auf etwas genommen, insofern spielen sie in Nominationsakten eine zentrale Rolle. Zudem wird durch die Dreidimensionalität der Bedeutung – der denotativen, deontischen und evaluativen Dimension – deutlich, dass es sich bei Leitvokabeln, Schlüsselwörtern, Symbolwörtern oder Schlagwörtern immer auch um komprimierte Argumentationen handeln kann. Das logische Verhältnis der deskriptiven und der deontischen Bedeutungskomponenten zueinander weist hier – wie häufig in Schlagwörtern – eine rudimentäre, in

22 Vgl. hierzu Niehr (2002); vgl. Hermanns (1989); vgl. Stötzel (1986); vgl. Wengeler (1996: 418); vgl. Wimmer (1996: 404–409).

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Methode

einem Wort komprimierte argumentative Struktur auf. (Klein 1989: 13; Hervorh. im Original)23

Symbolwörter sind gekennzeichnet durch gruppenübergreifenden Gebrauch, d. h. die positive oder negative Evaluation wird gruppenübergreifend geteilt, jedoch werden sie von den je spezifischen Sprechergruppen unterschiedlich denotiert. Bezüglich ihres je nach Sprechergruppe unterschiedlich favorisierten Denotats spricht man auch von Bedeutungskonkurrenz oder Lesartenkonkurrenz. Typische Symbolwörter sind beispielsweise Solidarität, Freiheit, Menschenwürde oder Gerechtigkeit. Sie beziehen sich auf in einer Gesellschaft gängige und weithin anerkannte Werthaltungen und Überzeugungen. Je nachdem, ob Symbolwörtern eine positive Evaluation oder eine negative Evaluation eigen ist, werden sie als Miranda oder als Anti-Miranda bezeichnet. Im Gegensatz zu Schlagwörtern sind Symbolwörter beständiger bzw. langlebiger im Gebrauch, wobei hier die Grenzen fließend sind. (Vgl. Girnth 2002: 53) Schlagwörter sind im Gegensatz zu Symbolwörtern kurzlebig. Ihr charakteristisches Kennzeichen ist aber ebenfalls wie bei den Symbolwörtern die Reduktion komplexer Wirklichkeit. Doch sind sie weit abhängiger von der politischen Aktualität des Sachverhalts, auf den das Schlag wort sich bezieht, als dies Symbolwörter sind. Klein konstatiert, dass als ‚politische Schlagwörter‘ [...] Wörter dann bezeichnet [werden], wenn sie in öffentlichen Auseinandersetzungen häufig, oft inflatorisch, verwendet werden und wenn sie in komprimierter Form politische Einstellungen ausdrücken oder provozieren. Schlagwörter dienen als Instrumente der politischen Beeinflussung. Mit ihnen wird versucht, Denken, Gefühle und Verha lten zu steuern, soweit sie politisch relevant sind. (Klein 1989: 11)24

Entsprechend dem in Kapitel 2.4 skizzierten weiten Politik-Begriff können Schlagwörter (wie auch andere Leitvokabeln oder Symbolwörter) aus den unterschiedlichsten Sachbereichen stammen. (Vgl. Wengeler 1992: 63) Die Grenzen zwischen Symbol- und Schlagwort sind – wie bereits gesagt – fließend, d. h. Schlagwörter können zu Symbolwörtern werden und Symbolwör-

23 Dabei stehen die deskriptive bzw. denotative und die deontische Komponente zumeist in einem strukturellen Verhältnis von Argument und Konklusion, wie weiter unten skizziert wird. Vgl. Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit. 24 Dieckmann definiert das politische Schlagwort folgendermaßen: „Es bezeichnet in stilistisch komprimierter und einprägsamer Form als Einzelwort oder Wortverband das gemeinsame Bewußtsein oder Wollen, eine bestimmte Tendenz, ein Ziel oder Programm einer Gruppe gegenüber einer anderen oder einer Mehrzahl von anderen, bewegt sich meist auf einer höheren Abstraktionsebene und vereinfacht die Wirklichkeit gemäß den Erfordernissen kollektiven Handelns, hat die Aufgabe, Anhänger zu werben und zu sammeln oder den Gegner zu bekämpfen und zu diffamieren, ist in seiner appellativen Funktion hörerorientiert und zieht seine Wirkungen vornehmlich aus den angelagerten Gefühlswerten.“ Dieckmann (1964: 79f.)

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ter können als Schlagwörter gebraucht werden. Ob es sich innerhalb von Diskursen um Schlagwörter oder um Symbolwörter handelt, kann also erst durch einen Vergleich größerer Mengen von Analysematerial größerer Zeiträume entschieden werden. Zum bewertenden Vokabular gehören ebenso Euphemismen. Bei Euphemismen handelt es sich um beschönigende, verschleiernde oder verharmlosende Verwendungen von Ausdrücken. Dabei werden die positiven Bedeutungsaspekte hervorgehoben, die negativen entweder in den Hintergrund gedrängt oder ganz ausgeblendet und durch positive semantische Merkmale ersetzt. Um Sachverhalte beschönigend zu beschreiben, können einerseits eigens Wortneuschöpfungen, Neologismen, eingeführt werden (z. B. Entsorgungspark) oder andererseits ein bereits vorhandenes Lexem verharmlosend verwendet werden (z. B. Verbrauch für Töten). (Vgl. Burkhardt 1988: 342) Wie bereits angedeutet, kann zwischen gruppeninternem bzw. ideologieinternem Gebrauch und gruppenübergreifendem Gebrauch ideologiegebundenen Vokabulars unterschieden werden. Für den gruppeninternen Gebrauch haben sich die Termini Fahnenwort und Stigmawort etabliert, wobei Fahnenwörter vornehmlich der Eigengruppenreferenz bzw. der Aufwertung der Eigengruppe dienen und semantisch positiv konnotierte Sachverhalte, Gegenstände, Handlungen etc. umfassen. Die im Gegensatz dazu negativ konnotierten Stigmawörter betreffen die gegnerische Partei/Position sowie deren Handlungen, Einstellungen oder von der Eigengruppe negativ bewertete Sachverhalte und Gegenstände der Fremdgruppe.25 Lexikalische Innovationen können unterschiedliche Formen umfassen und auf Grund unterschiedlicher Intentionen entstehen. So können lexikalische Innovationen auf Grund neu entstandener Sachverhalte (z. B. Bezeichnungen neuer Technologien oder Verfahrensweisen in der Biotechnologie oder in der Medizin etc.) nötig sein. Genauso gut kann es sich aber auch um Abgrenzungsstrategien handeln: Da ein Ausdruck von einer Sprechergruppe bereits besetzt ist, wird nach einem neuen, anderen Ausdruck für den entsprechenden Sachverhalt bei der anderen Sprechergruppe gesucht. Hierbei ergeben sich naturgemäß auch Verschiebungen in der Bedeutung, sei es in der evaluativen oder auch in der denotativen Dimension wie z. B. bei den lexikalischen Einheiten therapeutisches Klonen oder Forschungsklonen. (Vgl. Herrgen 2000: 138f.) Zusammenfassend lässt sich für die lexikalische Ebene Folgendes festhalten: Im Hinblick auf die Vermeidung bestimmter Ausdrücke durch Sprechergruppen und der Etablierung neuer Ausdrücke, die sich beispielsweise

25

Vgl. Girnth (2002: 54); vgl. Böke (1996b: 39f.); vgl. Strauß/Haß/Harras (1989: 35ff.).

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auf das gleiche Referenzobjekt beziehen, es aber anders bewerten, haben sich die Termini Bezeichnungskonkurrenz bzw. Nominationskonkurrenz etabliert. Bezüglich der Beschreibung des Phänomens der Vermeidung von Lesarten von Ausdrücken bzw. des innovativen Gebrauchs einer bestimmten Lesart eines Ausdrucks kann der Terminus Bedeutungskonkurrenz geltend gemacht werden.26 Bei der Bedeutungskonkurrenz kann nochmals in deontische und denotative Bedeutungskonkurrenz unterschieden werden. Während es sich bei Symbolwörtern zumeist um denotative Unterschiede der Bedeutung handelt, stehen bei den Fahnen- und Stigmawörtern Unterschiede der deontischen und bewertenden Bedeutungsdimension im Vordergrund. Im Analyseteil werden derartige sprachliche Phänomene auf der lexikalischen Ebene von Bedeutung sein. Um zu analysieren, welche Bedeutungsaspekte jeweils fi xiert werden, muss geschaut werden, wie das jeweilige Lexem kontextualisiert wird. Das lässt sich zum einen aus dem näheren Kontext, aber auch aus der entsprechenden Situation, dem Wissen um Vortexte etc. eruieren. 3.2.2 Die metaphorische Ebene: Metaphernanalyse Es dürfte mittlerweile Konsens in der Linguistik darüber bestehen, dass Metaphern nicht mehr nur als rhetorische Mittel bzw. als Redeschmuck aufzufassen sind, sondern wesentlich unser Denken, Reden und Handeln strukturieren, wie Lakoff/Johnson gleich zu Beginn ihres Buches Metaphors we live by konstatieren und damit dem tradierten Metaphernverständnis27 entgegentreten: The concepts that govern our thought are not just matters of the intellect. They also govern our everyday functioning, down to the most mundane details. Our concepts structure what we perceive, how we get around in the world, and how we relate to other people. Our conceptual system is largely metaphorical, then the way we think, what we experience, and what we do every day is very much a matter of metaphor. (Lakoff/Johnson 1980: 3)

Mit ihrem Ansatz, der die kognitive Funktion von Metaphern klären will, haben die Autoren maßgeblich zum ‚Aufschwung‘ einer kognitiven Auffassung von Metaphern als Konzepte, die unseren Alltag, unser Denken und Handeln, unsere Kommunikation strukturieren, beigetragen und eine breite Diskussion in Gang gesetzt sowie das zunehmende Interesse an dieser Theorie in der Semantik- und Pragmatikforschung begründet.28 Allerdings kann 26 Vgl. Girnth (2002: 62–69); vgl. Klein (1989: 17–28); vgl. Herrgen (2000: 138). 27 Unter tradiertem Metaphernverständnis wird hier die Auffassung von Metaphern als stilistische, rhetorische oder poetische Mittel bzw. Redeschmuck gefasst. Vgl. hier auch Lakoff/Johnson (1980: 3). 28 Vgl. hierzu Spitzmüller (2005: 191f.); vgl. Böke (1996a: 431).

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ihnen nicht die Entdeckung dieser These zugeschrieben werden, wie Hülzer konstatiert. Vielmehr haben schon vor Lakoff und Johnson verschiedene Forscher ähnliche Auffassungen zur Konzeption der Metapher vertreten.29 Zentral für Lakoffs und Johnsons Metapherntheorie ist die Frage nach der Bedeutung, die im Rahmen der kognitiven Semantik mit dem Begriff der Konzeptualisierung erfasst wird.30 Ausgangspunkt von Lakoff und Johnson ist die Gestaltpsychologie und deren Grundannahme, dass menschliches Denken und Handeln grundsätzlich in Form von Gestalten strukturiert sei, die als Ganzes wahrgenommen werden31 und zwar als Figur vor einem Grund, von dem die Figur sich abhebt.32 Grundbegriffe ihrer Theorie sind im Anschluss an die Gestalttheorie Erfahrung und Gestalt. Ausgangspunkt der Gestalttheorie ist die Annahme, dass jede Erfahrung, jedes Wahrnehmen und Erkennen perspektivisch ist. (Vgl. Liebert 1992: 25) Die grundlegenden Begriffe der Metapherntheorie Lakoffs und Johnsons werden also von gestalttheoretischen Begriffen abgeleitet: Auch Begriffe/Konzepte stellen demnach für Lakoff/Johnson Gestalten dar33, die durch die Menschen perspektivisch wahrgenommen werden. Das menschliche Konzeptsystem gründet dabei in der menschlichen Erfahrung. (Vgl. dazu Lakoff und Johnson 1980: Kapitel 4) Und dementsprechend sind für sie metaphorisch strukturierte Konzepte Gestalten, die teilweise durch andere Gestalten strukturiert sind.34 Metaphorische Konzepte bieten demnach die Möglichkeit, Erfahrungen des einen Bereiches partiell mit Hilfe von Begriffen von Erfahrungen eines anderen Bereiches verständlich zu machen bzw. zu strukturieren. So konstatieren Lakoff/Johnson: „There are also

29

„Vergleicht man ihre Aussagen mit denen von Mauthner, Wegener oder denen des noch früheren Laubert, so verflüchtigt sich das besondere Flair, welches um Lakoff/Johnson gesponnen wurde. Es bleibt dennoch das Verdienst der beiden die »alten« Ideen wiederaufgenommen zu haben; aufgeben müssen Lakoff/Johnson jedoch ihre Auffassung, Urheber dieser Ideen zu sein.“ Hülzer (1987: 219). 30 „Gemäß dem holistischen Prinzip wird Bedeutung als ‚mentales Phänomen‘ verstanden, das in Bezug zu allgemeinen kognitiven Strukturen und Prozessen beschrieben werden muß und mit Konzeptualisierung gleichgesetzt wird. Unter Konzeptualisierung ist dabei die Verarbeitung der Welt durch den Menschen zu verstehen, die Konzeptbildung in Abhängigkeit von der Funktion des Menschen und seiner Interaktion mit seinem Umfeld.“ (Baldauf 1997: 35) Und im Hinblick auf das Verhältnis von Bedeutung und Metapher konstatiert Baldauf, dass sich „Metaphorik [...] aus der spezifischen Art der Konzeptualisierung bestimmter Konstellationen [ergibt] und [...] selbstverständlicher Teil des menschlichen Denkens und der Sprache [ist].“ (Baldauf 1997: 47) 31 Vgl. Lakoff/Johnson (1980: Kapitel 15 und 18) sowie die Ausführungen von Liebert (1992: 22–28). 32 Vgl. zur ausführlichen Darstellung der Gestalttheorie Liebert (1992: 12–28). 33 Vgl. dazu ausführlich Liebert (1992: 22–30, insbesondere 29). 34 Dieses Prinzip wird in der Gestalttheorie Mapping genannt. Lakoff macht dieses Prinzip später zur Grundlage seiner Metapherntheorie, so Liebert. Vgl. Liebert (1992: 25).

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complex gestalts, which are structured partially in terms of other gestalts. These are what we have been calling metaphorically structured concepts.“ (Lakoff/Johnson 1980: 85). Hierbei spielt vor allem das gestalttheoretische Prinzip der Übersummativität eine entscheidende Rolle, das davon ausgeht, dass Gestalten in ihrer Ganzheit Eigenschaften besitzen, die über die Summe der einzelnen Eigenschaften hinausreichen. Ein weiteres Prinzip der Gestalttheorie ist das Gesetz der Transponierbarkeit. Dieses besagt, dass Gestalten unabhängig vom Material, d. h. trotz unterschiedlicher Realisation dennoch identifizierbar sind; die Gestalt fungiert demnach als Ordnungsmuster, das vom materialen Gehalt abstrahiert wird (vgl. hier Liebert 1992: 16f). Ein drittes, von der Gestaltpsychologie reflektiertes Prinzip ist das der Übertragbarkeit von Eigenschaften der einen Gestalt auf die einer anderen Gestalt. Es wird von Lakoff und Johnson auf Metaphern angewendet. Das Prinzip der Übersummativität steht damit in engem Zusammenhang mit dem Prinzip der Übertragbarkeit (vgl. Liebert 1992: 25). Auf Grund ihres Strukturierungspotenzials hinsichtlich des menschlichen Denkens, Handelns und Kommunizierens wird Metaphern also eine grundlegende Bedeutung zugeschrieben. Lakoff/Johnson (1980) folgen mit ihrer Metapherntheorie weiteren Grundannahmen, von denen auch eine linguistische Diskursanalyse nach Foucault, wie sie hier beschrieben wurde, ausgeht: Zum einen vertreten sie eine Auffassung von „Sprache als Medium der Reflexion, Strukturierung und Organisation sowie der Handlungsorientierung und damit auch der Konstituierung sozio-kultureller Wirklichkeit [...].“ (Böke 1996a: 439) Insofern ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere diskursanalytische Ansätze auf Lakoffs und Johnsons kognitionstheoretisch begründete Metapherntheorie zurückgreifen, wenn es darum geht, Wissensformationen innerhalb von Diskursen zu beschreiben und aufzudecken und deren sozio-kulturelle und gesellschaftliche Einbettung zu beschreiben (vgl. hier v.a. Böke 1996a: 431; vgl. Pielenz 1993: 170). Metaphern werden in diskursanalytischen Ansätzen demnach als „Sedimente kollektiven Wissens, die dem Linguisten die Strukturen des Diskurses wahrhaft bildlich vor Augen führen“ betrachtet (Spitzmüller 2005: 191). Sie sind kulturell und sozial verankert. Pielenz charakterisiert Metaphern als den „Fundus der Tradition und auch der Innovation einer Sprachgemeinschaft“ (Pielenz 1993: 132), der Leitvorstellungen, sozial-historische Erfahrungen etc. einer Gesellschaft bzw. Kultur einerseits bewahrt und auf Grund des Gebrauchs zugleich auch wieder modifiziert.35 Das Anliegen

35

Vgl. Pielenz (1993: 132f.). In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass Lakoff und Johnson in Metaphors we live by ihrer Metapherntheorie keinen absoluten Wahrheitsbegriff zu Grunde legen, damit sind Metaphern auch nicht universell gültig. Zwar basieren Metaphern auf der menschlichen Erfahrung, diese ist aber kulturell überformt. Vgl. Lakoff/ Johnson (1980: 67, 159–184). Anders Spitzmüller (2005), der in der Metapherntheorie

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der Metapherntheorie Lakoffs und Johnsons besteht also darin, zu zeigen, dass der Mensch konzeptuell strukturiert ist, der Mensch also von diesem konzeptuellen System in seinem Denken, Sprechen und Handeln bestimmt wird. Denken, Sprechen und Handeln ist demzufolge wesentlich metaphorischer Natur (vgl. hier Lakoff/Johnson 1980: 3; vgl. auch Pielenz 1993: 66). Kennzeichen und Grundlage der konzeptuellen Strukturiertheit ist eine prototypische Wahrnehmung von Erfahrungen. Konzepte werden prototypisch verstanden und kategorisiert, Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Konzepten werden auf Grund der Kategorien, in denen das menschliche Konzeptsystem Erfahrungen ordnet und auf Grund dieser Erfahrungen hergestellt. Dabei basieren viele Ähnlichkeiten auf konventionalisierten Metaphern, die wiederum auf unser Konzeptsystem zurück zuführen sind (vgl. Lakoff/Johnson 1980: 147). On our account, individual concepts are not defined solely in terms of inherent properties; instead, they are defined primarily in terms of interactional properties. [...] concepts are defined by prototypes and by types of relations to prototypes. Rather than being rigidly defined, concepts arising from our experience are openended. Metaphors and hedges are systematic devices for further defining a concept and for changing its range of applicability. (Lakoff/Johnson 1980: 125)

Bei der Herstellung von Ähnlichkeiten zwischen Konzepten sind interaktionelle Eigenschaften – also Eigenschaften, die Objekten nicht inhärent sind, sondern sich aus der Interaktion von kultureller und physischer Umgebung

Lakoffs und Johnsons einen universalen Anspruch der Gültigkeit von Metaphern auf Grund des Bezugs auf Körpererfahrungen gegeben sieht und diesen universalen Anspruch kritisiert. Vgl. Spitzmüller (2005: 194). Während Lakoff und Johnson m.E. in Metaphors we live by noch von der Dominanz des kulturellen Kontextes ausgehen und Metaphern als kulturell verankert bzw. kulturell überformt betrachten – wenngleich diese auch in körperlichen Erfahrungen gründen (vgl. Lakoff/Johnson 1980: 57; vgl. Kapitel 4, 5, 12, 13 oder 24.) – wird diese Vorstellung in ihrer Schrift Philosophy in the flesh insofern revidiert, als sie ihren Ausführungen eine neurowissenschaftliche Sichtweise zu Grunde legen, die davon ausgeht, „that reason is fundamentally embodied.“ Lakoff/Johnson (1999: 17). Letztlich geht es ihnen um die Dominanz des Körpers und insbesondere der neuronalen Effekte, die den Menschen determinieren. „Reason and conceptual structure are shaped by our bodies, brains, and modes of functioning in the world. Reason and concepts are therefore not transcendent, that is, not utterly independent of the body.“ Lakoff/Johnson (1999: 128). Kulturelle Aspekte werden zwar nicht völlig ausgeblendet, kommen aber nur ganz am Rande als mögliche Einflussfaktoren zur Geltung. Vgl. Lakoff/Johnson (1999: 25, 102 oder 128). Für eine Inanspruchnahme des Metaphernkonzepts für diskursanalytische Untersuchungen scheint mir aber die Annahme der kulturellen Differenz sowie der sozialen Konstruiertheit bzw. der sozialen und historischen Eingebundenheit von Metaphern wesentlich zu sein. Mit der von Lakoff und Johnson aufgestellten These hängen darüber hinaus philosophische Konsequenzen (z.B. die Diskussion um die Willensfreiheit, Handlungsfreiheit, Verantwortung etc.) zusammen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht diskutiert werden können.

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ergeben – Ausschlag gebend für deren Bestimmung.36 Die Kategorien sind prinzipiell offen, kontextuell gebunden und flexibel und können demnach erweitert werden.37 Lakoff und Johnson orientieren sich hier an der Prototypentheorie Roschs. (Vgl. Kapitel 2.3.4 dieser Arbeit) Hintergrund der Metapherntheorie stellt eine kognitive Auffassung von Bedeutung dar, die von einer prototypischen Struktur von Kategorien ausgeht. In diesem Zusammenhang wird unter Konzeptualisierung eine kognitive Leistung verstanden, die davon ausgeht, dass die alltäglichen Erfahrungen und Wahrnehmungen kategorisiert werden müssen. Konzepte bilden nach Lakoff/Johnson (1980) die Struktur, innerhalb derer Kategorisierung möglich ist und die die Kategorisierungen im Einzelnen steuern. In diesem Zusammenhang müssen auch weitere Begriffe aus der kognitiven Semantik herangezogen werden, um vor allem die Bedeutung des Hintergrundwissens für die Entschlüsselung von Metaphorik beschreiben zu können. So orientiert sich Lakoff (1987) in seiner Publikation Women, Fire and dangerous things an Langackers Begriff des kognitiven Bereichs sowie an Fillmores Frametheorie, um Bedeutung kognitiv zu erfassen (vgl. Langacker 1988; vgl. Fillmore 1985; vgl. Baldauf 1997). Er bringt somit die Prototypentheorie, die Theorie kognitiver Bereiche und die Frametheorie in seiner Konzeption der Idealisierten Kognitiven Modelle (Lakoff 1987) zusammen und erweitert somit seine mit Johnson zusammen entwickelte gestaltbasierte Prototypentheorie der Bedeutung aus dem Jahre 1980. Seine Theorie der Idealisierten Kognitiven Modelle (IKM) kann dementsprechend als eine Erweiterung der Erfassung von Realität als eine gestalthafte Erfahrung aufgefasst werden, wobei IKMs die Grundeinheiten menschlichen Denkens darstellen, wie Lakoff konstatiert. IKMs definieren bzw. strukturieren das relevante Kategorienwissen.

36 Lakoff und Johnson gehen davon aus, dass Objekte keine ihnen inhärenten Eigenschaften besitzen, sondern diese durch Gebrauch zugeschrieben werden. Sie knüpfen hier direkt an die Spätphilosophie Wittgensteins an. „Our view also accords with some of the key elements of Wittgenstein’s later philosophy: the family-resemblance account of categorization, the rejection of the picture theory of meaning, the rejection of a building-block theory of meaning, and the emphasis on meaning as relative to context and to one’s own conceptual system.“ Lakoff/Johnson (1980: 182). 37 Zur Kontextualität im Zusammenhang mit der Kategorisierung und Herstellung von Ähnlichkeiten äußern sich Lakoff und Johnson folgendermaßen: „Such categories are not fi xed but may be narrowed, expanded, or adjusted relative to our purposes and other contextual factors. Since the truth of a statement depends on whether the categories employed in the statement fit, the truth of a statement will always be relative to the way the category is understood for our purposes in a given context.“ Lakoff/Johnson (1980: 164; vgl. auch Kapitel 19 und 24).

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The main thesis of this book is that we organize our knowledge by means of structures called idealized cognition models or ICMs, and that category structures and prototype effects are by-products of that organization. (Lakoff 1987: 68; Hervorhebung im Original)

Lakoff unterscheidet fünf Typen von IKMs: a) bildschematische IKMs, b) propositionale IKMs, c) metaphorische IKMs, d) metonymische IKMs und e) symbolische IKMs. Die Theorie der IKMs wird von Lakoff schließlich auch auf den Bereich der Metaphorisierung angewendet, insofern metaphorische IKMs Modelle der metaphorischen Übertragung sowohl propositionaler (skriptartiger bzw. szenarischer) als auch bildschematischer Strukturen auf andere Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereiche darstellen (vgl. hier Baldauf 1997: 73; vgl. Musolff 2003, 2004; vgl. Lakoff 1987). IKMs bilden ein gestalthaftes Hintergrundwissen (ähnlich den kognitiven Bereichen Langackers [Kap. 5.2.2.3]), welches aus physischen und sozialen Erfahrungen hervorgeht. Sie werden als Grundeinheit menschlichen Denkens und damit als Grundgröße kognitiver Semantik verstanden. (Baldauf 1997: 72)

Die drei genannten Begriffe – kognitive Bereiche, Frames und IKMs – beschreiben in je unterschiedlicher Fokussierung, was damit gemeint ist, wenn wir von Wissensbereichen sprechen, die für die Bedeutungskonstruktion wichtig sind. Kognitive Bereiche, IKMs und Frames stellen Bezugsrahmen dar, die aus Weltwissen, Vorwissen und Präsuppositionen bestehen und die den Hintergrund für die Bedeutungsfi xierung einzelner lexikalischer Einheiten und Aussagen bilden. Solche Bezugsrahmen „sind als holistische Gestalten zu verstehen, aus denen das Bezeichnete als Profil hervortritt, während der Rest der Gestalt als Basis, bestehend aus dem nötigen Hintergrundwissen, das Verständnis sichert.“ (Baldauf 1997: 39) Metaphern werden verschiedene Funktionen zugeschrieben, die zugleich die Notwendigkeit der metaphorischen Strukturiertheit menschlichen Denkens, Handelns und Sprechens begründen. Zentrale Funktionen sind die Hervorhebung von Bedeutungsaspekten, der Veranschaulichungseffekt komplexer Sachverhalte und damit einhergehend die Tendenz zur Vereinfachung und Vergröberung komplexer Sachverhalte. Durch die Hervorhebung von bestimmten Bedeutungsaspekten durch den Prozess der Metaphorisierung – bei der Projektion von Herkunfts- auf den Zielbereich werden nie sämtliche Eigenschaften übertragen, sondern immer nur diejenigen, die der Veranschaulichung dienlich sind – kann man der Metapher ein persuasives Potenzial zuschreiben, insofern sie mittels der projizierten Eigenschaften zu überzeugen oder zu überreden im Stande ist. Ebenso damit verbunden sind die Neigung zur Übertreibung oder Überspitzung sowie die Tendenz zur Schwarz-Weiß-Malerei. Der Metapher kommt damit eine Filterfunktion zu, denn nur bestimmte Bedeutungsaspekte eines Bereiches/Konzeptes tre-

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ten in den Vordergrund (highlighting), andere kommen überhaupt nicht zur Geltung (hiding)38. Der metaphorisierende Teil der Aussage legt dabei zum einen Teil fest, welche Bedeutungsaspekte des metaphorisierten Kontextes hervortreten.39 Neben den in die Metapherntheorie einfließenden Theorien muss noch eine weitere Theorie angeführt werden, die das Metaphernkonzept Lakoffs und Johnsons (1980) sowie Lakoffs (1987) und Johnsons (1997) erweitert. Es handelt sich um die von Fauconnier und Turner entwickelte blending theory (Fauconnier/Turner 1998 und 2003), die einen weiteren Aspekt hervorhebt, dem bislang in der linguistischen Auseinandersetzung mit Lakoffs und Johnsons Metapherntheorie wenig Beachtung geschenkt wurde. Fauconnier und Turner (1998) gehen davon aus, dass nicht nur Bedeutungsaspekte des Herkunftsbereiches, die auf den Zielbereich übertragen werden eine Rolle bei der Bedeutungskonstitution durch Metaphorisierung spielen, sondern dass es vielmehr zu einer Vermischung von Bedeutungsaspekten sowohl des Herkunfts- als auch des Zielbereiches kommen kann. Bedeutungsaspekte beider Bereiche werden in die neu hervorgebrachte Bedeutung integriert bzw. ergeben zusammen die neue Bedeutung. So kann man bei Fauconnier/Turner lesen: The argumentation often takes the following specific form: a particular process of meaning construction has particular input representations; during the process, inferences, emotions and event-integrations emerge which cannot reside in any of the inputs; they have been constructed dynamically in a new mental space – the blended space – linked to the inputs in systematic ways. (Fauconnier/Turner 1998: 135)

Diese kognitiven Operationen finden nach Fauconnier/Turner in „mental spaces“ statt, die partielle, emergente kognitive Repräsentationseinheiten darstellen und durch Frames oder kognitive Modelle strukturiert werden, die sich aber erst im Prozess der Bedeutungserzeugung aufbauen (Fauconnier/Turner

38 Lakoff/Johnson (1980) sprechen hinsichtlich der Hervorhebung von Aspekten von highlighting und hinsichtlich des Verbergens von Aspekten von hiding. 39 Böke (1996a) macht hier auf die Parallelen der Theorie Lakoffs und Johnsons mit der Interaktionstheorie der Metapher Max Blacks aufmerksam. Dieser unterteilt die Metapher in Fokus und Rahmen. Der Fokus ist der metaphorisierende Teil, der in den metaphorisierten Rahmen eingebettet ist. Dadurch wird Metaphorizität erst durch die Beziehung zwischen Fokus und Rahmen interaktiv hergestellt, insofern haben Metaphern für Black per se Hand lungspotenzial. Vgl. hier Black (1983a: 58). Anders jedoch die Terminologie Spitzmüllers im Zusammenhang mit Blacks Interaktionstheorie. Dieser bezeichnet Fokus als metaphorisierten Teil der Metapher, der in den (nicht metaphorisierten) Rahmen eingebettet ist. M. E. scheint Spitzmüller eher metaphorisch als metaphorisiert zu meinen. Black selbst spricht vom metaphorischen Fokus. Vgl. Spitzmüller (2005: 198); vgl. dagegen Black (1983a: 58ff., 72 und 1983b) sowie Böke (1996a: 440f.).

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1998: 137). Sie sind keine feststehenden Einheiten, sondern dynamisch und kurzlebig (vgl. Ziem 2008: 378–379). Sowohl Musolff als auch Ziem betonen die komplexe Bedeutungsstruktur von Metaphern, die sich nicht nur aus einer Richtung – nämlich vom Herkunftsbereich her – ergibt40, sondern aus zwei Bereichen gespeist wird (Ziel- und Herkunftsbereich). So konstatiert Musolff (2007): A particular characteristic of blending theory is that in the ‚mental space‘ model, semantic ‚material is projected from both the source and target spaces to the blend‘ (Grady, Oakley an Coulson 1999: 103); in other words, it allows metaphor theory to account for the construction of new meaning that incorporates aspects of both input and target spaces without being ontologically compatible with either of them. (Musolff 2007: 68) In the terminology of blending theory this conclusion could be reformulated as an assertion that the knowledge ‚schemas‘ that are made accessible by the target input inform the access to schemas for the source input and, if necessary, override their ‚cognitive topology.‘ (Musolff 2007: 69)

Die blended spaces, in die Bedeutungsaspekte sowohl aus dem Herkunfts- als auch aus dem Zielbereich eingehen, können zudem nur vor dem diskursiven Hintergrund, in dem die Metapher verwendet wird, adäquat gedeutet bzw. beschrieben und verstanden werden, da das diskursive Gefüge das entsprechende Kontext- und Situationswissen darstellt (vgl. dazu Fauconnier/Turner 1998: 142–144.) Zudem sind diese blended spaces untereinander wiederum stark vernetzt, wie sich an der Verschränkung der Metaphernkonzepte veranschaulichen lässt (vgl. Fauconnier/Turner 1998: 183; vgl. Kapitel 4.3 dieser Arbeit). Darüber hinaus kann die Hervorhebung von Bedeutungselementen des Zielbereiches auch zu Änderungen der Bedeutungsstruktur im Herkunftsbereich führen, wie Ziem konstatiert (vgl. Ziem 2008: 379). Eine weitere wichtige Funktion von Metaphern, die Pielenz (1993) herausstellt, ist deren Inferenzpotenzial, d. h. deren argumentative Kraft. Durch ihre Struktur sind Metaphern in der Lage, bestimmte Schlussprozesse in Gang zu setzen. Dazu bezieht Pielenz die Strukturmerk male des Toposbegriffes41 auf die Metapher und stellt heraus, dass die Strukturmerkmale der Habitualität, Potenzialität, Intentionalität und Symbolizität auch auf Metaphern 40 Hier ist jetzt nicht der Raum die kognitionswissenschaftliche Diskussion um die Bestimmung der Begriffe Skript, Frame, IKM etc. zu führen, vielmehr soll hier zur Geltung kommen, dass – um Metaphern verstehen zu können – Wissen aus verschiedenen Bereichen aufgerufen und miteinander in Verbindung gebracht wird und dass dadurch neue Bedeutungen emergieren. Sowohl Skripte, Frames als auch IKMs stellen kognitive Modelle dar, dieses Wissen greifbar zu machen. Vgl. hier auch die Diskussion der verschiedenen kognitionswissenschaftlichen Zugänge bei Ziem (2008: 25ff.). 41 Pielenz orientiert sich dabei am Toposbegriff Bornscheuers, der im Kap. 3.2.3 dieser Arbeit näher erläutert wird.

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II

Methode

zutreffen, insofern Metaphern „geronnene Ausdrücke herrschender Meinung“ sein können, fallweise einsetzbar bzw. unbeschränkt verfügbar und im konkreten Vollzug zu entfalten sind sowie als Merkformeln auftauchen (Pielenz 1993: 130ff.). Dabei spielt gerade die semantische Vagheit der Metapher eine entscheidende Rolle, die sowohl eine Bedeutungserweiterung als auch eine Bedeutungsverengung ermöglichen kann. Konzeptuelle Metaphern verkörpern zentrale, kulturelle Einstellungen und Werte eines Kommunikationsgefüges (vgl. hierzu Wagner 1997: 217ff.; vgl. Pielenz 1993: 160). Jede Metapher stellt somit ein Bündel kollektiver Überzeugungen und Annahmen dar, die kulturell gebunden sind und demnach nur im spezifischen kulturellen Kontext zur Geltung kommen, plausibel und unproblematisch sind. Pielenz betont in diesem Zusammenhang insbesondere den sozialen und konstruktiven Charakter von Metaphern, wenn er schreibt: „Die Menschen einer gegebenen Gemeinschaft sind es, die mit ihrer kognitiven Ausstattung ihre Wirklichkeit klassifzieren, sie definieren und so kulturelle Bedeutung konstruieren.“ (Pielenz 1993: 162) Auf Grund der genannten Funktionen eignen sich Metaphern besonders gut zu strategischen Operationen in öffentlich-politischer Kommunikation. Wie bereits angedeutet, ist Metaphorik dadurch gekennzeichnet, dass Eigenschaften eines Bereiches (Erfahrungsbereiches) auf einen anderen Bereich partiell übertragen werden, um diesen Bereich näher zu erläutern. Mit der Metapher werden somit zwei Erfahrungsbereiche zueinander in Beziehung gesetzt. Aus dieser Inbezugsetzung ergibt sich die neue Bedeutung. Dabei muss unterschieden werden in den Herkunftsbereich metaphorischer Lexeme und den Zielbereich, in dem die Lexeme metaphorisch Verwendung finden. Lexeme des Herkunftsbereiches werden also auf den Zielbereich projiziert. Böke spricht hier von Metaphernlexemen (vgl. Böke 1997: 166), die bestimmten Metaphernbereichen angehören. Zwischen der Ebene des Metaphernlexems und des Metaphernbereiches setzt Liebert eine weitere Ebene an, die Ebene des Metaphernkonzeptes (vgl. Liebert 1992: 5). Die Abstufung zwischen den Ebenen erfolgt vom Abstrakten zum Konkreten. Während es sich bei Metaphernlexemen um konkrete Metaphern handelt, stellen Metaphernbereiche und Metaphernkonzepte die abstrakte Stufe dar; so können einem Metaphernbereich und einem Metaphernkonzept mehrere unterschiedlich realisierte Metaphernlexeme angehören. Der Metaphernbereich und das Metaphernkonzept sind demnach der type-Ebene, das Metaphernlexem der tokenEbene zuzuordnen, so dass man hier von einer type-token-Relation sprechen kann. Mit Liebert sind unter Metaphernkonzepten Schemata42 zu verstehen,

42 Liebert orientiert sich hier an Fillmores Frame-Theorie. Vgl. Liebert (1992: 6); vgl. Spitzmüller (2005: 199).

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Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode

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die vom Herkunftsbereich auf den Zielbereich projiziert werden. Dabei werden nicht nur einzelne Lexeme metaphorisiert, sondern ganze Schemata/ Frames bzw. Rahmen oder kognitive Bereiche bzw. IKMs. Böke spricht in diesem Zusammenhang von Metaphernkonzepten als Strukturfolie. Jeder metaphorisierende Ausdruck ist demnach in eine Struktur, die er reflektiert, eingebunden (vgl Böke 1996a: 444). In der Terminologie Lakoffs (1987) und Johnsons (1987) enthalten metaphorische IKMs je nach ihrer Komplexität bildschematische oder propositionale IKMs bzw. scenarios (oder beides) als strukturelle Elemente, die auf andere Erfahrungsbereiche projiziert werden. (Vgl. Lakoff 1987: 285–286; vgl. Johnson 1987) Zudem ist von einer Vernetzung der einzelnen Metapherntypen untereinander auszugehen. So existieren Vernetzungen zwischen unterschiedlichen Herkunftsbereichen hinsichtlich des gleichen Zielbereiches. Das ist, betrachtet man den dynamischen und vor allem kreativen Aspekt der Metapher, auch nicht verwunderlich, denn mit dem Strukturmerkmal der Potenzialität kommt der Metapher die Eigenschaft der prinzipiell unbegrenzt möglichen Kombinierbarkeit der Bildbereiche zu. Pielenz spricht hier von Metaphernnetzen (vgl. Pielenz 1993: 97ff.). Darüber hinaus sind die einzelnen Metaphernbereiche durch verschiedene Formen der Subkategorisierung gekennzeichnet, die vom Abstrakten zum Konkreten verlaufen. Subkategorisierungen sind folglich innerhalb eines Metaphernbereiches auszumachen (vgl. Böke 1996a: 445f.), Vernetzungen dagegen zwischen verschiedenen Herkunftsbereichen. Das menschliche Konzeptsystem ist demnach vertikal von der token zur type-Ebene durch Subkategorisierungen und horizontal auf der type-Ebene durch Vernetzungen strukturiert. Schließlich muss noch die Unterscheidung in Ad-hoc-Metaphern und konventionalisierte Metaphern eingeführt werden. Metaphern, die über einen längeren Zeitraum in Gebrauch sind und nicht mehr unmittelbar als solche wahrgenommen werden, haben den Prozess der Usualisierung bzw. Konventionalisierung bereits durchlaufen. Sie können als in einer Sprachgemeinschaft konventionalisiertes Inventar bezeichnet werden, deren metaphorisches Potenzial als kreatives und innovatives Potenzial auf Grund ihrer Usualität allerdings abgeschwächt ist. Solche stark usualisierten Metaphern sind zumeist auch lexikalisiert. Demgegenüber bedeutet die Ad-hoc-Metapher die Einführung einer neuen Metapher, die gerade durch ihre Unüblichkeit auffällt und im Hinblick auf ihre Ungewöhnlichkeit ein besonderes Handlungs- und Aufmerksamkeitspotenzial besitzt. Sie ist zumeist nur auf Grund des Kontextes, in dem sie gebraucht wird bzw. entstanden ist, zu verstehen. Böke unterscheidet hier nochmals in zwei Formen von Ad-hoc-Metaphern: in originäre Neuschöpfungen und in kreative Erweiterungen eines bereits bekannten bzw. konventionalisierten Metaphernbereiches. Originäre Neuschöpfungen lassen ein ganzes Bildfeld neu entstehen. Sie sind gleichwohl

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Methode

seltener als die Form der kreativen Erweiterung usualisierter Metaphern. Kreative Erweiterungen dagegen beziehen sich auf bereits konventionalisierte Metaphernbereiche, bringen aber in ihrer konkreten Realisierung neue Aspekte ins Spiel (vgl. Böke 1996a: 446ff.). In ihrer Fähigkeit, Konzeptbereiche unendlich zu verbinden, besteht das innovativ-kreative Potenzial von Metaphern. Dabei haben sowohl konventionalisierte Metaphern als auch Adhoc-Metaphern realitätskonstituierende Kraft. 3.2.3 Die argumentative Ebene: Argumentationstoposanalyse Ein weiteres wesentliches Ziel linguistischer Diskursanalyse, auf das in Kapitel 2.5 der Arbeit kurz hingewiesen wurde, ist die Herausarbeitung gängiger Argumente und Argumentationsmuster und deren Verteilung nach Sprechergruppen. Dabei steht die Plausibilität alltagssprachlicher Argumente im Vordergrund und nicht deren formal-logische Schließbarkeit. Ausgangspunkt bildet nicht die logische Herleitung von Schlussprozessen aus Prämissen und Konklusionen, sondern die Strittigkeit einer These und deren plausible Begründung als Anführen von Gründen für oder gegen strittig Behauptetes. Mit einem solchen Verständnis von alltagspraktischer Argumentation begibt man sich sogleich auf die Ebene der Sprachhandlungen. Argumentieren erscheint hier als komplexes sprachliches Handeln, in dessen Dienst konklusive Sprechhandlungen wie BEGRÜNDEN, ERKLÄREN-WARUM, FOLGERN, RECHTFERTIGEN, WIDERLEGEN oder BEWEISEN stehen. (Vgl. dazu Klein 1987) Diese Sprechhandlungen können nochmals durch andere Sprechhandlungen realisiert werden. Insofern liegt es nahe, hier von Verfahrenstypen des Argumentierens zu sprechen. Der Verfahrenstyp rechtfertigen lässt sich beispielsweise durch Sprechhandlungen wie ABWERTEN, DIFFAMIEREN, LOBEN etc. verwirklichen. Die Grundstruktur von Argumentationen lässt sich anhand des von Toulmin entwickelten Argumentationsschemas als ein Dreischritt von Argument, Schlussregel und Konklusion beschreiben, wie folgende Übersicht deutlich macht. (Vgl. Toulmin 1958)

Argument

Konklusion

Schlussregel

Übersicht 3.2-2: Argumentationsschema (Grundstruktur)

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Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode

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Diese Grundstruktur kann noch um die Faktoren der Stützung, der Ausnahmebedingung und des Operators ergänzt werden und lässt sich dann folgendermaßen veranschaulichen:

Argument

Operator

Konklusion

Ausnahmebedingungen Schlussregel

Stützung

Übersicht 3.2-3: vollständiges Argumentationsschema nach Toulmin (1958)

Bei der Analyse von Argumentationsmustern bzw. -topoi stehen aber nicht vollständige Argumentationen im Zentrum des Interesses, da diese oftmals nicht vollständig realisiert sind. Zwar liegt einerseits dem Argumentationstopos die komplexe Sprechhandlung des A RGUMENTIERENS zu Grunde bzw. bezieht sich der Topos auf die komplette Argumentation, auch wenn nur Teile der Argumentation realisiert sind. Um die Musterhaf tigkeit zu klären, bedarf es aber andererseits der Erläuterung des Muster- bzw. Toposbegriffes. Der Terminus Topos wird in vielfältigen Bedeutungsdimensionen gebraucht.43 Für die Zwecke dieser Arbeit bietet es sich an, den Toposbegriff Bornscheuers zur Be43 Zur ausführlichen Erörterung des Toposbegriffes vgl. Wengeler (2003: 188–284). Von terminologischen Auseinandersetzungen um den Toposbegriff wird hier jedoch abgesehen. Die Arbeit orientiert sich bezüglich der Verwendung des Argumentationsmuster- bzw. Toposbegriffs an Bornscheuer (1976), Pielenz (1993), Wengeler (2003) und an Kienpointner (1992). Kienpointner geht es in seiner Typologie der abstrakten Argumentationsmuster in erster Linie um eine „möglichst vollständige Erfassung aller Klassen von plausiblen Mustern der Alltagsargumentation“, während Wengeler von kontextspezifischen Mustern ausgeht, die nie vollständig erfasst werden können. Kienpointner (1992: 232). „Vollständigkeit ist aber nur auf der Ebene der maximal kontextabstrakten Versionen von Argumentationsschemata möglich.“ Kienpointner (1992: 232). Doch können kontextspezifische Muster immer auf die von Kienpointner eruierten kontextabstrakten Muster zurückgeführt werden. Pielenz (1993) setzt sich mit Bornscheuers Toposbegriff auseinander und wendet ihn auf Metaphern an. Ebenso geht Wengeler (2003) auf Bornscheuer ein und arbeitet den Toposbegriff in seine Methode ein. Wengeler (2003), Pielenz (1993) und Kienpointner (1992) bringen den Toposbegriff Bornscheuers mit dem Argumentationsschema Toulmins in Verbindung. In zahlreichen empirischen Analysen hat sich ein solches Vorgehen als fruchtbar erwiesen. Aus diesem Grund wird einem solchen Vorgehen auch in dieser Arbeit gefolgt.

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Methode

schreibung der Strukturmerkmale von Topoi als Ausgangspunkt zu nehmen und diesen schließlich mit Kienpointners Verwendungsweisen in Verbindung zu bringen. Bornscheuer entwickelt in Rekurs auf die antiken Toposbegriffe von Aristoteles und Cicero vier Strukturmerkmale eines allgemeinen Toposbegriffes: Habitualität, Potenzialität, Intentionalität und Symbolizität. Als zentrales Strukturmerkmal arbeitet Bornscheuer (1976) das Merkmal der Habitualität heraus.44 Dabei fasst er in Anlehnung an den Habitus-Begriff Bourdieus das Merkmal der Habitualität als gesellschaftlich verinnerlichte und verankerte, zum Teil implizite, kollektive Muster, die sowohl produktiv als auch offen sind. Das Merkmal beschreibt die prinzipielle Unbegrenzbarkeit der Verwendungsfunktionen von Topoi sowie deren Interpretationsbedürftigkeit. Da er [der Habitus] ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über diesen Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind. (Bourdieu 1993: 102f.)

Der Habitus ist demnach „ein Strukturelement des sprachlich-sozialen Kommunikationsgefüges, eine Determinante des in einer Gesellschaft jeweils herrschenden Selbstverständnisses [...].“ (Bornscheuer 1976: 96) Hier können Parallelen zu Foucaults Diskursbegriff herausgestellt werden, insofern es Foucault um Wissensformationen als Strukturelemente einer Epoche geht, die allem Denken, Handeln und Sprechen zu Grunde liegen (vgl. Foucault AW: 24). In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Strukturmerkmal der Habitualität steht das der Potenzialität. Dieses Merkmal beschreibt die variierende Einsetzbarkeit von Topoi in unterschiedliche situative Zusammenhänge, also die Polyvalenz der Topoi. Topoi sind ihrer Form nach allgemein, in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch auf einen materialen Gehalt angewie-

44 Dabei lehnt er sich an den Habitus-Begriff Bourdieus an. Bourdieus Habitus-Konzept erläutert die wechselseitige Abhängigkeit von subjektiven und überindividuellen Momenten und wird hier zur Erläuterung dieses Wechselverhältnisses herangezogen. „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen.“ Bourdieu (1993: 101). Im Rahmen dieser Dispositionen können die Akteure bzw. Textemittenten frei handeln, so dass zwar von einer gewissen sozialen Determination des Menschen ausgegangen werden muss, der Mensch aber nicht vollständig davon bestimmt wird. Vgl. auch Bourdieu (1993: 112–121).

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sen, d. h. sie müssen auf den jeweiligen Argumentationsgegenstand appliziert werden. Pielenz spricht hier von der kreativen Leistungsfähigkeit des Topos (vgl. Pielenz 1993: 127). Während die ‚Habitualität‘ die Topik als eine im Denkkollektiv wirksame generationsmächtige Grammatik verfaßt, differenziert das Moment der ‚Potentialität‘ deren kreative Leitstungsbereitschaft, sich jedem beliebigen Argumentationsanlaß mit der Perspektive auf Urteilsfindung öffnen zu können. (Pielenz 1993: 127) Aus jedem einzelnen [Topos] lassen sich verschiedenartige und sogar völlig gegensätzliche Argumente gewinnen, derselbe Topos kann bei derselben Problemfrage beiden Kontrahenten nützlich sein. [...] Ausschlaggebend ist stets, in welchem Sinne ein Topos jeweils ins Spiel gebracht und interpretiert wird. (Bornscheuer 1976: 98)

Topoi können demnach auf unterschiedliche Gegenstände angewendet und von unterschiedlichen Sprechergruppen in je unterschiedlicher Intention verwendet werden. Topoi beziehen sich auf im Denkkollektiv Verankertes, können aber durch Gebrauch auch Veränderung erfahren (vgl. Bornscheuer 1976: 101). Der Topos wird somit von zwei Seiten geprägt: Zum einen ist er vorgegeben durch die Tradition und Konvention, zum anderen ist er auf intentionalen Gebrauch der Sprechergemeinschaft angewiesen, er ist zugleich Orientierung als auch sinnkonstitutiv im Sinne von der Erschaffung neuer Bedeutungen durch handelnde Sprecher/Sprechergruppen. Damit kommt ihm das Merkmal der Intentionalität zu. Wirklichkeit wird zum einen vom Topos her bestimmt, zum anderen aber durch den Gebrauch verändert. Das Überzeugungspotenzial von Topoi wird nur durch den kontextuellen Vollzug plausibel und wirksam. Das Intentionale des Topos benennt demnach seine potentielle auslegungsheischende Dimension im situativen Vollzug. Erst konkreter Argumentationsbedarf gepaart mit individuellem Wirkungsvorsatz bringen seinen innovativen Impetus – wesentliches Merkmal seiner anarchischen Veranlagung – voll zur Geltung. (Pielenz 1993: 130)

Das Merkmal der Symbolizität beinhaltet, dass das jeweils kollektiv Geltende in Merkformeln zu Tage tritt und somit für die Sprechergemeinschaft verfügbar und kommunikabel ist. Damit wird der jeweilige Topos abgrenzbar zu anderen Topoi, er ist wiederholbar und erkennbar. (Vgl. Bornscheuer 1976: 103) Topoi lassen sich in knappen Regeln, Kurzsätzen, zusammengesetzten Ausdrücken oder bloßen Stichworten formulieren. Und zwar kann derselbe Topos verschiedene Grade sowohl der verbalen wie der semantischen Konzentration annehmen. (Bornscheuer 1976: 103)

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Der Topos ist allgemein und situationsbezogen zugleich, er nimmt Bezug auf ein kollektives Erbe, das unbewusst in der Gesellschaft vorhanden ist und zugleich nimmt er performativ

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Methode

teil an Kommunikationsprozessen, er rekurriert auf die Traditionen und ist zugleich innovativ. Ihm sind demnach statische wie auch dynamische Elemente zu eigen. Den Umriß eines Topos bzw. einer Topik bestimmen vier verschiedenartige Hauptmomente: die kollektiv-habituelle Vorprägung (Habitualität), die polyvalente Interpretierbarkeit (Potentia lität), die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft (Intentionalität) sowie die sich gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (Symbolizitiät). (Bornscheuer 1976: 105)

Vor dem Hintergrund der vier Strukturmerkmale kann der Toposbegriff auf den Diskursbegriff Foucaults bezogen werden, wie er im vorigen Kapitel für die Linguistik operationalisiert und systematisiert wurde. Gegen Wengeler (2003) kann jedoch angeführt werden, dass auch das Merkmal der Intentionalität des Toposbegriffes nicht dem Anliegen Foucaults widerspricht, sofern von relativer Intentionalität – wie sie in den vorangegangenen Kapiteln konzeptualisiert wurde – ausgegangen wird.45 Letztlich geht es ja um überindividuelle, musterhafte Strukturen, wenngleich sie auf individueller Ebene konkretisiert werden. Im Anschluss an die vier Struktur- und Funktionsmerkmale von Topoi lässt sich nun der Begriff des Argumentationstopos verstehen, insofern die Strukturmerkmale mit dem Argumentationsschema Toulmins, insbesondere dem Element der Schlussregeln, zusammengebracht werden.46 Wengeler und Jung merken dazu an: Zu ihrer Analyse eignet sich der rhetorische Topos-Begriff, nicht in dem auf Curtius beruhenden bildungssprachlichen Verständnis als zu einem sprachlichen Klischee geronnener Gemeinplatz oder als eine Art literarisches Motiv, sondern als vielseitig verwendbarer, für den Argumentierenden bereitliegender Sachverhaltszusammenhang, der zur argumentativen Begründung konkreter zur Diskussion stehender Positionen herangezogen wird. (Wengeler/Jung 1999: 154)

Die Eigenheit von Argumentationstopoi im hier verwendeten Sinne liegt vor allem darin, dass die im Argumentationsschema Toulmins dargestellte Schlussregel zumeist nicht expliziert wird, die konkreten Realisationen von Topoi sind nicht immer vollständig als Zusammenspiel von Argument, Konklusion und Schlussregel existent, vielmehr ist die komplette logische Struktur der Argumentationen in den Texten oftmals nur implizit vorhanden und nur ein Teil der Gesamtstruktur ist realisiert. Topoi erfassen dementsprechend die 45

Vgl. Wengeler (2003: 195f.). Wenn man Foucaults Diskurskonzept vor dem Hintergrund seines gesamten Schaffens betrachtet, so wird deutlich, dass Subjekte auch bei ihm Handlungsspielräume haben und nicht vollständig vom Diskurs bestimmt bzw. determiniert werden. Vgl. dazu Kapitel 2.2.3 und 2.2.4 dieser Arbeit. 46 Vgl. hier Spitzmüller (2005: 273); vgl. Pielenz (1993); vgl. Kienpointner (1992); vgl. Wengeler (2003).

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musterhafte Ausprägung der Schlussregel, mit der ein Schlussprozess zwischen der strittigen These und den angeführten Argumenten, die die These in eine unstrittige überführen sollen, in Gang gesetzt wird. Pielenz (1993) macht in diesem Zusammenhang auf die parallele Struktur zwischen Topos und Metapher aufmerksam: Metaphern sind im Denkkollektiv verankert, sie bewahren historische Erfahrungen und können als Sedimente des gesellschaftlichen Selbstverständnisses betrachtet werden. Damit kommt ihnen das Merkmal der Habitualität zu (vgl. Pielenz 1993: 133). Metaphern entsprechen auch dem Merkmal der Potenzialität, sie können fallweise gebraucht werden und sind potenziell unbeschränkt verfügbar und konfigurierbar. Darin besteht letztlich ihre Leistungsfähigkeit. Das Merkmal der Intentionalität besagt, dass jede Metapher erst im konkreten Vollzug zu entfalten ist. Ihre Symbolizität erhalten sie auf Grund des ihnen zu Grunde liegenden Metaphernkonzeptes. Einen Unterschied zwischen Topos und Metapher sieht er jedoch in den unterschiedlichen primären Zwecken von Topoi und Metaphern sowie in der unbegrenzten Anwendbar- und Erweiterbarkeit der Metapher. Jeder Begriff kann metaphorisiert werden, während es eine begrenzte, aber höchst abstrakte Anzahl von Topoi gibt, die jedoch auf jeden möglichen argumentativen Zweck eingesetzt werden können (vgl. Pielenz 1993: 137). Sowohl Topoi als auch Metaphern bedienen unsere argumentative Redepraxis und können innerhalb dieser auf ihre soziale Verteilung hin betrachtet werden gemäß der Leitfrage ‚Wessen Metaphern und Topoi in wessen Denken?‘ (Pielenz 1993: 138)

Kienpointner (1992) unterscheidet in kontextabstrakte und kontextspezifische Argumentationsmuster. Für den Zweck dieser Arbeit bietet es sich an, kontextspezifische Muster zu definieren, da diese den Diskurs auch inhaltlich abbilden. Kontextspezifische Argumentationsmuster sind immer an bestimmte Diskurse und damit an bestimmte Themen gebunden, wenngleich es vorkommt, dass diverse kontextspezifische Muster in verschiedenen Diskursen anzutreffen sind.47 Die Definition der einzelnen kontextspezifischen Muster einerseits und die Zuweisung konkreter Argumentationen zu diesen definierten Mustern bleibt dabei notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad immer Interpretation. Die einzelnen, im Diskurs verwendeten Muster/Topoi weisen einen relativ hohen Abstraktionsgrad auf und haben dennoch eine inhaltlich-kontextspezifische Ausprägung. Wengeler beschreibt „die kontextspezifischen Topoi [als] ein Teil des sozialen Wissens öffentlich handelnder Gruppen“ zu einem bestimmten Themenbereich (Wengeler 2000: 60). Durch ihren

47

So kommt der Gefahren-Topos in verschiedenen Diskursen vor, so zum Beispiel im Migrationsdiskurs, im Stammzelldiskurs, im Gentechnikdiskurs oder im Aufrüstungsdiskurs.

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Abstraktionsgrad können unterschiedliche, konkrete Realisierungen von Argumenten im Diskurs, die auf verschiedene Fragestellungen bezogen und von verschiedenen Sprechergruppen eingesetzt werden, als unterschiedliche Ausprägungen eines Musters diagnostiziert werden. Während sie zum einen die Funktion haben, die Sprechergruppenposition zu begründen, können sie von der gegnerischen Position in kritischer Absicht oder in umgekehrter Funktion verwendet werden. 3.2.4 Die diskursive Ebene: Das Isotopiekonzept als Möglichkeit der Erfassung diskursiver Strukturen Es ist nun sinnvoll die bisher erläuterten Analyseansätze auf den Diskurs als übergreifenden Zusammenhang zu beziehen. Dazu bietet sich meines Erachtens die Herausarbeitung Text übergreifender Isotopien an, da diese zum einen die genannten Phänomene Lexik, Metaphorik und Argumentationsmuster als semantische Elemente bzw. Einheiten enthalten, zum anderen können dadurch die thematischen Linien des Diskurses herausgearbeitet werden. Basis dafür ist jedoch wieder der Einzeltext. Ausgangspunkt für die Erstellung von Isotopien bildet das Konzept der Isotopie, wie es zunächst Algirdas Julien Greimas im Zusammenhang seiner Strukturalen Semantik im Kontext eines Textanalysemodells entwickelte (vgl. Greimas 1971). Die Isotopieanalyse stellt den in der Linguistik häufiger rezipierten und bekannteren Teil seiner Konzeption dar, wenngleich die Rezeption in der Linguistik insgesamt sehr zögerlich war und auch immer noch ist.48 Auf Gebrauchstextsorten wurde es demnach bislang äußerst selten angewendet und dementsprechend auch nicht auf ganze Diskurse bezogen. In den 70er Jahren wurde dieses Konzept vor allem von der Literatur wissenschaft rezipiert. (Vgl. Dosse 1996, Bd. 1: 105 und Dosse 1997, Bd. 2: 237ff.) Das weitere Textanalysemodell Greimas’ wird hier aber außen vor gelassen, da eine Darstellung der weiteren Einheiten nicht zielführend wäre und dem hier zu Grunde liegenden Textbegriff nicht entspräche.49 Hier geht es also

48 Zwar hat Busse in seinen methodischen Vorschlägen zur linguistischen Diskursanalyse immer wieder auf die Methode der Isotopienanalyse hingewiesen, doch wurde eine solche Methode meines Wissens bisher in diskursana lytischen Untersuchungen noch nicht ausreichend integriert. Vgl. Busse (1987) oder (1994a); vgl. aber den Ansatz einer Umsetzung bei Spieß (2007). 49 Da Greimas einen strukturalistischen Ansatz vertritt, misst er auch außersprachlichen Faktoren und vor allem dem Handlungscharakter von Sprache kaum Bedeutung bei, was aber im Falle der vorliegenden Arbeit eine Grundprämisse darstellt. Auch das Konzept der Isotopieanalyse wendet er im streng strukturalistischen Sinne an, insofern er eine möglichst objektive, von der „humanistischen Perspektive“ abgelöste, formalisierte und ahistorische Herausarbeitung homogener semantischer Ebenen anstrebt. Vgl. dazu

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Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode

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ausschließlich um die Inanspruchnahme der Isotopienanalyse für diskurslinguistische Zwecke. Isotopien dienen der Abbildung der semantischen Kohärenz eines Textes. In der Erweiterung durch Francois Rastier50 basiert das Isotopiekonzept auf zwei verschiedenen Prinzipien, dem Prinzip der semantischen Äquivalenz zwischen mindestens zwei Textsegmenten und dem Prinzip der Iterativität semantischer Merkmale, wobei die semantische Äquivalenz mitunter wesentlich von sozio-kulturellen Faktoren und Wissenskomponenten der Sprachbenutzer bestimmt ist und auch Veränderungen unterliegt bzw. interpretationsabhängig ist51. Unter einer Isotopie versteht man das wiederholte Vorkommen von sprachlichen Einheiten. (Vgl. Rastier 1974: 157) Seme bzw. semische Einheiten sind semantische Merkmale bzw. die Merkmalsausprägung der Lexeme. Das Semem (bzw. Lexem) besteht innerhalb eines Textes aus einem invarianten Teil, dem Sem-Kern (= Sem-Minimum), und einem varianten, kontextuellen Teil, dem Klassem. Beim Sem-Kern kann es sich natürlich auch um ein feststehendes Merkmalbündel handeln. Das Klassem garantiert und konstituiert die Kohärenz des Textes, insofern es durch die Prinzipien der Iterativität und der Äquivalenz gekennzeichnet ist und die verschiedenen Einheiten miteinander verbindet. Eine Isotopie besteht demzufolge aus mindestens zwei semischen Einheiten, die ein Klassem gemeinsam haben. Darüber hinaus können sich (im Anschluss an Rastier) im Text Einheiten zu Isotopien formieren, deren kontextuelles Merkmal oder Merkmalbündel sich aus den sozio-kulturellen Aspekten ableiten und so ein Sememfeld organisieren, an dem sich die Isotopien orientieren. Sie werden von Rastier semiologische Isotopien genannt und stehen hier bei der Untersuchung im Vordergrund (vgl. Rastier 1974: 160). Die semiologischen Isotopien unterscheiden sich nochmals in horizontale und vertikale Isotopien. Bei den semiologischen Isotopien geht es um die Zusammenstellung der Sememe zu einer Isotopie, die einem semischen Feld angehören. Z. B. gehören die Sememe Bundesminister, Gesetzgebung und entscheiden dem semischen Feld an. Die Zugehörigkeit zu einem Semfeld entscheidet sich an einem Bündel gemeinsamer kontextueller Seme. Der sozio-kulturelle und kontextuelle Rahmen

Dosse (1996, Bd.1: 311). Wie bereits erwähnt, stellt aber die Zuordnung der Lexeme zu den einzelnen Isotopien bereits einen interpretativen, keineswegs objektiven Akt dar, der von vielfältigen (außersprachlichen) Faktoren abhängt. Insofern kann die Isotopieanalyse ohne Bedenken für pragmatisch-semantische Zwecke eingesetzt werden. 50 Vgl. Rastier (1974); vgl. Kallmeyer (1974); vgl. Heinemann (2000: 56f.). 51 Spätestens an dieser Stelle spielen pragmatische Faktoren der Konstitution von Isotopien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vgl. dazu auch Rastier (1974: 161).

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spielt dementsprechend eine wesentliche Rolle bei der Identifizierung von horizontalen Isotopien52. So konstatiert Rastier: Vermutlich wird die Sememfeldtheorie keine Universalien postulieren können, sondern diese Felder geleichzeitig mit den axiologischen und ideologischen Systemen der Gesellschaft beschreiben müssen, in der die untersuchten Texte produziert werden. (Rastier 1974: 161)

Marx (1998) hat im Anschluss an Kallmeyer (1974) und Rastier (1974) die vielfältigen Formen von Isotopien systematisiert53. Für den Fall der vorliegenden Arbeit interessieren die Inhaltsisotopien, die sich in klassematische, semiologische und lexematische Isotopien differenzieren lassen. (Vgl. Marx 1998: 36–51; vgl. Rastier 1974: 159ff.) Die klassematische Isotopie bedeutet die Iterativität einer einzigen semischen Einheit und ist im Umfang geringer als die semiologische Isotopie, die im Anschluss an Rastier jedes wiederholte Vorkommen einer sprachlichen Einheit umfasst und sich nochmals in die horizontale und vertikale Isotopie differenzieren lässt. Lexematische Isotopien bestehen auf Grund von Wort wiederholungen, sie können sowohl den Inhaltsisotopien als auch den Ausdrucksisotopien zugeordnet werden. Horizontal meint die syntagmatische Verknüpfung semantischer Einheiten zunächst zu einer Isotopie, diese wiederum können sich ebenfalls syntagmatisch zu einer Metasemie verbinden. Je größer die Anzahl ihrer Sememe, umso dominanter tritt die Isotopie in Erscheinung. Von vertikalen Isotopien, auch komplexe Isotopien genannt, spricht man dann, wenn sich zwei horizontale Isotopien überschneiden, so zum Beispiel wenn ein Semem zwei Isotopien zugeordnet werden kann, was insbesondere bei Metaphern oder mehrdeutigen Ausdrücken auftritt. Die vertikale Isotopie verweist demnach auf ein Verhältnis zwischen mindestens zwei horizontalen Isotopien. (Vgl. Eco 1987: 120ff.; vgl. Kallmeyer 1974: 155) Die Funktion von Isotopien sowohl auf der intra- wie auch auf der textübergreifenden Ebene besteht zum einen im Monosemieren polysemer bzw. bedeutungsvarianter Ausdrücke. Der Text wird auf eine Lesart festgelegt. Damit einhergehend dienen Isotopien zur Herstellung semantischer Kohä52

53

So können bestimmte Bedeutungsdimensionen eines Lexems nur innerhalb bestimmter Kontexte und Situationen Dominanz erlangen. Vgl. hier beispielsweise die Fixierung auf unterschiedliche Bedeutungsdimensionen bei Symbolwörtern wie Gerechtigkeit, Menschenwürde oder Solidarität. Die jeweils favorisierte Bedeutungsdimension lässt sich nur über den Einbezug des Kontextes und der Situation adäquat erfassen. Entsprechend funktioniert die Zuordnung von Lexemen und lexikalischen Einheiten zu Isotopien. In der Systematisierung wird zunächst zwischen Inhalts- und Ausdrucksisotopien unterschieden. Die Ausdrucksisotopien spielen hier keine Rolle, sie werden differenziert in lexematische, phonetische, metrische und graphische Isotopien. Die lexematischen Isotopien können sowohl zu den Inhalts- als auch zu den Ausdrucksisotopien gezählt werden. Sie bestehen in Wortwiederholungen. Vgl. Marx (1998: 38).

3

Das Konzept der Diskursanalyse als linguistische Methode

223

renz. Zum anderen kann aber die Funktion von Isotopien darin bestehen, polyvalente Ausdrücke gerade nicht zu monosemieren, um so verschiedene Lesarten des Textes zu evozieren. Werden Sememe nicht auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt, sondern in ihrer Mehrdeutigkeit belassen, überlagert sich in ihnen eine doppelte Bedeutungsstruktur. Solche Sememe können dann mehreren Isotopien angehören, ihre Funktion besteht dann in der Verknüpfung zweier sich interferierender horizontaler Isotopien zu einer vertikalen bzw. komplexen Isotopie.54 Diese Vertextungsstrategie ist vor allem ästhetischen Texten eigen, lässt sich aber auch an Gebrauchstextsorten feststellen und kann hier insbesondere für den öffentlich-politischen Kommunikationsbereich geltend gemacht werden, insofern es hier immer auch um Mehrfachadressierungen geht, die auf Grund der heterogenen Adressaten häufig einer gewissen Mehrdeutigkeit bzw. semantischen Offenheit bedürfen, um alle adressierten, heterogenen Gruppen gleichermaßen zu erreichen. Das Isotopiekonzept Greimas, insbesondere in seiner Weiterentwicklung durch Francois Rastier, zielt zunächst darauf, die semantische Kohärenz von Einzeltexten zu erfassen. Es bietet sich m. E. an, dieses Konzept textübergreifend innerhalb größerer Korpora anzuwenden, so dass damit semantische Bezüge über den Einzeltext hinaus systematisiert werden können. Mit dem Aufzeigen referenzieller Vernetzungen von Texten über Isotopien kann ein Aspekt der Diskursivität analytisch verfolgt werden, und zwar das Phänomen der Intertextualität auf tiefenstruktureller bzw. tiefensemantischer Ebene55. Damit können die diskursiven Relationen deutlich gemacht werden, in die die Diskurstexte verstrickt sind und die die Diskurstexte selbst wiederum hervorbringen. Durch die Konstitution von Isotopieketten auf transtextueller Ebene wird die Einheit des Diskurses im Sinne einer thematischen Zusammengehörigkeit garantiert. Ebenso kann mittels Isotopieketten nachgewiesen werden, dass der Diskurs immer auch mit anderen Diskursen vernetzt ist. Zudem werden dominante Diskursstrukturen deutlich, die sich anhand dominant wiederkehrender Lexik, Metaphorik und Argumentationstopoi aufzeigen lassen. Auf der Basis der dargestellten methodischen Zugangsweisen und der ausgewählten Analyseansätze werden im folgenden Kapitel Schlüsselwörter, Metaphern und Argumentationsmuster analysiert. In einem ersten Schritt wird dabei zunächst auf den inhaltlichen Gegenstand, also auf den Diskurs um embryonale Stammzellforschung, in seiner Genese auf der Makroebene eingegangen werden.

54 Vgl. Rastier (1974: 166ff.), Kallmeyer (1974: 149), Marx (1998: 46–50). 55 Bei Konzepten wurde dies von Fraas (1997) schon untersucht.

III Anwendung 4 Analyse des öffentlich-politischen Bioethikdiskurses um humane embryonale Stammzellforschung 4.1 Zur Makroebene1 des Diskurses 4.1.1 Ausgangspunkt: Gegenstand und Diskursdimensionen Der Diskurs um die humane embryonale Stammzellforschung gehört in den Bereich der bioethischen Auseinandersetzungen. Dabei umfasst die mit dem Begriff Bioethik bezeichnete Disziplin unter anderem Diskussionsfelder und Fragestellungen, die sich mit moralischen Problemen beschäftigen, die auf Grund von Handlungsoptionen durch beispielsweise Transplantationsmedizin (Hirntod), Fertilisationstechniken, Gentechnik, Embryonenforschung, Intensivmedizin, Sterbehilfe etc. entstehen und zugleich im öffentlichen und politischen Bereich handlungsrelevant sind (vgl. Ach/Runtenberg 2002: 41; vgl. Reiter 2002: 9). Bioethik als Disziplin reflektiert somit die sich aus diesen Bereichen ergebenden moralischen Probleme und nimmt zugleich am gesellschaftlichen bzw. öffentlichen Prozess der Problemlösung teil (vgl. Ach/Runtenberg 2002: 17). Reiter definiert Bioethik wie folgt: Bioethik ist keine Sonderethik mit eigenen Prinzipien oder Regeln und auch keine bestimmte Richtung der Ethik, wie etwa eine utilitaristische oder gar biologistische Ethik. Bioethik ist auch keine Spezialethik für Biologen und Mediziner, sondern »der Versuch, generelle moralische Prinzipien in einem besonderen Bereich anzuwenden und zur Geltung zu bringen. Ihr Thema ist die begründete Stellungnahme zu und die moralische Bewertung von Eingriffen aller Art in menschliches, tierisches wie pflanzliches Leben«. Zur Bioethik zählen daher neben der biomedizini-

1

Unter Makroebene wird hier alles das gefasst, was den Aufbau und den Inhalt des Diskurses auf einer sehr allgemeinen Ebene betrifft. Hier kommen vor allem die Faktoren, die die Beschreibungsdimension Situation und Kontext beinhalten, zur Geltung. Aussagen der Feinanalyse der Einzeltexte fallen somit nicht unter die Makro-, sondern vielmehr unter die Mikroebene, wobei beide Ebenen immer auch ineinander greifen und sich gegenseitig bedingen.

226

III

Anwendung

schen Ethik auch die Tierethik, Teile der Umwelt- oder ökologischen Ethik und ebenso die auf diese Bereiche bezogene Forschung. (Reiter 2002: 9)2

Bioethik als Disziplin etablierte sich zuerst im angelsächsischen Raum, bevor sie auch in Deutschland als Teilbereich der angewandten Ethik ihren Platz einnahm. Bioethische Diskussionen und Debatten sowie ein gestärktes Bewusstsein für bioethische Themen entstanden in Deutschland verstärkt in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Dies ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: Gründe für die Etablierung bioethischer Diskussionen liegen zum einen im geänderten Arzt-Patienten-Verhältnis, näherhin in der Anonymisierung auf Grund von Spezialisierung der Ärzte, zum anderen in der Juridifizierung der Medizin und zum dritten in einer zunehmend präventiv ausgerichteten medizinischen Versorgung (vgl. Ach/Runtenberg 2002: 41; vgl. Düwell/Steigleder 2003a: 21–23). Bioethik ist ein äußerst vielschichtiger, viel in Anspruch genommener und umstrittener Begriff3, der Anfang der siebziger Jahre in den USA geprägt wurde.4 Ausschlaggebend für die Etablierung der Bioethik in Deutschland sind die technischen und medizinischen Innovationen bzw. Entwicklungen (vgl. dazu ausführlicher Düwell/Steigleder 2003a: 15–20) und die damit in Zusammenhang stehenden Debatten um Gentechnik und Reproduktionsmedizin der 80er Jahre, die zur Einsetzung einer Enquete-Kommission des

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Der Begriff Bioethik umfasst eine weite und eine enge Definition. Unter Bioethik im weiten Sinne wird „die ethische Reflexion jener Sachverhalte verstanden, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben betreffen.“ Korff (1998: 7) Dem Begriff Bioethik wird demnach eine recht weite Extension zu Grunde gelegt. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Ach/Runtenberg (2002: 14). Ach/Runtenberg konstatieren, dass diesem weiten Begriff ein enger gegenübersteht, der ausschließlich medizinethische Fragen hinsichtlich der neueren Entwicklung biotechnologischer und biomedizinischer Forschung und Therapie umfasst. „Der Ausdruck bioethics wird hier als Kurzbezeichnung für biomedical ethics verwendet.“ Ach/Runtenberg (2002: 15). Vgl. Reiter (2002: 9ff.); vgl. Ach/Runtenberg (2002: 17); vgl. Düwell/Steigleder (2003a: 12, 21–35). Düwell/Steigleder beschreiben die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen von Bioethik. Dabei gehen sie ausführlich darauf ein, was Bioethik meint und welche Probleme mit der Bestimmung des Umfangs und der Aufgaben von Bioethik verbunden sind. Vgl. Düwell/Steigleder (2003a: 24ff.). Zum einen führte Potter 1971 diesen Begriff ein als Vorschlag, eine neue Disziplin zu etablieren, die sich mit naturwissenschaftlichen und moralphilosophischen Sachverhalten auseinandersetzt. Zum anderen wurde der Begriff von André Hellegers 1971 am Kennedy Institute of Ethics (Georgetown-University, Washington) eingeführt, um konkrete, moralische Probleme, die sich beispielsweise aus naturwissenschaftlichen bzw. biomedizinischen Innovationen ergeben, zu lösen. Während der Begriff bei Potters recht allgemein auf Bioethik als eine Überlebenswissenschaft abzielt und „auf das Überleben und Wohlergehen der gesamten Menschheit in Harmonie mit der natürlichen Umwelt ausgerichtet ist“ (Reiter 2002: 10), wird der Begriff bei Hellegers in einem engeren Verständnis im Sinne einer biomedizinischen Ethik gebraucht, die auf konkrete Problemlösungen abzielt. Vgl. dazu Ach/Runtenberg (2002: 13f.); vgl. Reiter (2002: 10).

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

227

Deutschen Bundestages zu Fragen der Gentechnik und zur Konstitution der Benda-Kommission führten5. Die Diskussionen dieser Themenbereiche in den 80er Jahren führten zum einen zur Entstehung des Gentechnikgesetzes und zum anderen zur Entstehung des Embryonenschutzgesetzes. Neben öffentlich-politischen Diskussionen bioethischer Themen, kam es auch im wissenschaftlichen Bereich zur Institutionalisierung der Bioethik als Disziplin.6 Der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung stellt einen Teilbereich aus dem Großbereich der Bioethik dar. Stammzellforschung und der Diskurs um Stammzellforschung entstanden aus bereits etablierten Forschungsfeldern und Diskursen über diese Forschungsfelder.7 Seine Anfänge nahm der Diskurs mit der ersten gelungenen Isolierung von menschlichen embryonalen Stammzellen durch die Forscher Thomson et. al. in den USA. Zur selben Zeit wurde auch berichtet, dass die Gewinnung von ES-Zellen aus abgetriebenen Embryonen und Föten möglich ist. (Vgl. Shamblott et.al. 1998) In seiner Entwicklung wurde der Diskurs durch zahlreiche außersprachliche Ereignisse in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit etc. beeinflusst. Auf Grund der in diesem öffentlich-politischen Diskurs aufeinandertreffenden wissenschaftlichen Disziplinen, der unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursakteure und deren verschiedene Wissenshintergründe sowie weltanschaulichen Voraussetzungen kommt es zu Konflikten, die sich vor allem auch sprachlich manifestieren und auf Grund der Brisanz der Thematik in der Öffentlichkeit8 ausgetragen werden. Die Konflikthaftigkeit der Etablierung neuer Techniken bzw. medizinischer Verfahrensweisen und Forschungsinteressen stellt kein Phänomen der Gegenwart und damit auch kein genuines Merkmal pluraler Gesellschaften dar. Vielmehr hat es schon immer Konflikte um die Akzeptanz neuer Techniken und medizinischer Verfahrensweisen gegeben.9

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6 7

8 9

Die eingesetzte Arbeitsgruppe „In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie“, die von Ernst Benda angeführt wurde, wurde schnell unter dem Namen Benda-Kommission bekannt. Vgl. Heinemann (2005: 255–286) Das 1990 verabschiedete Embryonenschutzgesetz geht auf die Arbeit dieser Kommission zurück, die 1984 eingesetzt wurde. Vgl. hier Düwell/Steigleder (2003a: 22); vgl. Ach/Runtenberg (2002: 38–53, insbesondere 39); vgl. Heinemann (2005: 255–286). Vgl. hierzu Böke (1991), die in diesem Aufsatz den Sprachgebrauch innerhalb des Abtreibungsdiskurses untersucht. Betrachtet man den Sprachgebrauch, so sind parallele Phänomene zwischen Abtreibungsdiskurs und Stammzelldiskurs zu konstatieren, da zum Teil ähnliche Probleme diskutiert wurden, wie beispielsweise der Status von Embryonen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr ein Diskurs aus einem anderen hervorgehen kann bzw. wie sehr sich Diskurse überlagern können. Zum Öffentlichkeitsbegriff vgl. die Kapitel 2.3.3.4 und 2.4.3 dieser Arbeit. Beispielsweise stießen anatomische Untersuchungen an menschlichen Leichen auf gesellschaftlichen Widerspruch. Der Widerspruch entzündete sich vor allem an der Instrumen-

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III

Anwendung

Der gesamte Bereich der Gentechnik stellt seit den 80er Jahren einen äußerst umstrittenen Technologiebereich dar. Dieser Bereich rief auf Grund verschiedener Konfliktlagen bioethische Diskussionen hervor (vgl. Hampel/ Renn 1999 und Ach/Runtenberg 2002: 41) und bedurfte bzw. bedarf auf Grund technischer Innovationen rechtlicher Regelungen. Relevanz für den Stammzelldiskurs hat der Diskurs um Gentechnik insofern, als zum einen durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms die Stammzelldebatte intensiviert wurde (vgl. Hauskeller 2006) und zum anderen mögliche Therapien mit Stammzellen eine Bearbeitung des genetischen Materials der Stammzellen voraussetzt. Die Verbindung der Forschungsbereiche Gentechnik und Stammzellforschung kommt insbesondere hinsichtlich der Keimbahntherapie zur Geltung, insofern die Möglichkeit diskutiert wird, bei bestimmten Krankheiten Veränderungen am Erbgut der Stammzellen vorzunehmen und diese dann in die Keimbahn des Patienten einzuführen. Eine solche Änderung des Erbguts wirkt sich auf das Erbgut der Nachkommen aus und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. (Vgl. Heinemann 2005: 408) Zudem ist die Diskussion um Stammzellforschung eng mit der Debatte um die Methode der genetischen Diagnostik an extrakorporal erzeugten Embryonen (Präimplantationsdiagnostik = PID) verknüpft, insofern vorgeschlagen wird, die für die PID erzeugten überzähligen Embryonen für die Stammzellforschung zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus wird die Diskussion beider Verfahren auf die zentrale Frage nach dem moralischen Status von Embryonen fokussiert10.

10

talisierung der Leichen zu wissenschaftlichen Zwecken (Leichenöffnungen, öffentliche Leichenöffnungen etc.). Groß beschreibt die Situation um 300 nach Christus im Hinblick auf Sektionen folgendermaßen: „Nachdem das Christentum im Jahr 313 durch Konstantin den Großen zur Staatsreligion erhoben worden war, büßte die Sektion den letzten Rest ihrer ehemaligen Bedeutung ein. Der abendländische Kirchenvater Augustinus (354–430 n. Chr., ‚De Civitate Dei‘) sah in der menschlichen Leiche ein unantastbares Gut; ihre Öffnung galt als barbarisch und inhuman.“ Groß (2002: 16) Und Becker konstatiert: „Aber nicht nur der blinde Glaube an die Lehren Galens und das geringe Interesse an anatomischer Forschung verhinderten die Entwicklung der Anatomie: durch die Arbeit der Anatomen war die Unantastbarkeit der Leiche in der vorchristlichen und vor allem in der christlichen Zeit gefährdet. So bestand beim frühen Christentum eine ausgeprägte Scheu vor der Leichenöffnung, gegen die sich insbesondere die Kirchenväter Tertullian (155–222) und Augustinus (354–430) wandten. Die Gerüchte über Vivisektionen in Alexandria ließen Tertullian die Anatomen als ‚Metzger‘ verdammen.“ Becker (2002: 6). Im 13. Jahrhundert wurde die anatomische Sektion jedoch wiedereingeführt. Ausdrücklich gestattet wurde sie erst von Papst Pius IV. im 15. Jahrhundert. Vgl. hierzu Groß (2002: 14–21); vgl. auch Pethes/Griesecke/Krause/Sabisch (2008), die sich der Geschichte des Menschenversuchs von 1750–2000 widmen sowie darüber hinaus Ach/ Runtenberg (2002). Vgl. hier Domasch (2007); vgl. Graumann (2003); vgl. Hauskeller (2001 und 2006).

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

229

Der wissenschaftliche Fortschritt in der Biomedizin hat Techniken hervorgebracht, die bis vor einigen Jahren noch nicht möglich waren. Anzuführen ist hier beispielsweise die In-vitro Fertilisation (IVF), die erstmals Ende der 70er Jahre in Großbritannien durchgeführt wurde. 1979 wurde das erste durch IVF gezeugte Kind geboren. Ebenso ist das diagnostische Verfahren der PID, das in Deutschland nicht erlaubt ist, eine sehr neue Technik. Das Ende der 80er Jahre entwickelte Verfahren der PID, das eine IVF voraussetzt, wird seit 1990 in Großbritannien praktiziert und ist mittlerweile in vielen europäischen Ländern, den USA und Australien gängige Praxis, um Erbkrankheiten zu diagnostizieren. Mit dem Vorhandensein dieser neuen biotechnologischen Verfahren kam zugleich eine heftige Diskussion über die Zulässigkeit, die Grenzen, den Nutzen und die Gefahren dieser Techniken in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht in Gang. Der mit der seit 1998 gegebenen Möglichkeit der Herstellung embryonaler Stammzellen einhergehende Diskurs um die Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit dieser Technik ist charakterisiert durch einen quer zu den politischen Lagern verlaufenden Meinungsstreit, der in unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen gründet. Für politisches Handeln im Allgemeinen stellt das zunächst eine untypische Situation dar. Die Aufteilung in die typischen politischen Lager mit je festen zugehörigen Meinungen kann gerade für diesen Diskurs nicht konstatiert werden.11 Diese spezielle Situation führt mithin dazu, dass die Diskurssituation als äußerst komplex und verwirrend wahrgenommen wird, zumal am Diskurs nicht nur parteipolitische Akteure teilnehmen und sich der Diskurs nicht ausschließlich aus den öffentlich-politischen Handlungsfeldern konstituiert, sondern auch aus Handlungsfeldern der Fachdisziplinen gespeist wird. Der Diskurs konstituiert sich folglich aus unterschiedlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kommunikationsbereichen und den mit den Kommunikationsbereichen in Verbindung stehenden Handlungsfeldern (vgl. hierzu auch Geyer 2001: 9–19). Mit der technischen Möglichkeit der Herstellung von humanen, embryonalen ES-Zellen seit November 1998 etablierte sich ein neuer Forschungszweig bzw. eine neue wissenschaftliche Disziplin – die humane embryonale Stammzellforschung –, die Forschungsprojekte aus Biologie und Medizin vereint und somit an der Schnittstelle von Biowissenschaften und Medizin anzusiedeln ist. Als neue Disziplin übt sie deutlichen Einfluss auf den öffentlich-politischen Diskurs aus.12 Als wichtige technische Voraussetzun11

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Das wurde auch bei der Bundestagsdebatte im Januar 2002 deutlich, hier wurde der Fraktionszwang aufgehoben, was bisher nur sehr selten getan wurde, u.a. in der Hauptstadtdebatte oder in der Debatte vom 5.4.2000 um Hans Haackes Kunstprojekt „Der Bevölkerung“ im Lichthof des Reichstagsgebäudes in Berlin. Vgl. Hauskeller (2006: 1f.); vgl. dazu Äußerungen einzelner Vertreter dieser Disziplin im öffentlich-politischen Diskurs, beispielsweise von Oliver Brüstle oder John Gearhart. Vgl. Brüstle (FAZ v. 18.8.00), Gearhart (Die Zeit 43/2000).

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III

Anwendung

gen für die Entwicklung des Forschungszweiges der humanen embryonalen Stammzellforschung gelten die IVF beim Menschen und die Entwicklung des Klonverfahrens von Säugetieren13, die Stammzelltherapie bei Blutkrebs sowie Methoden der Isolierung von Stammzellen aus Tierversuchen an Mäusen.14 Die Komplexität des Diskurses um Stammzellforschung und Stammzellmedizin resultiert also auch daraus, dass die Stammzellforschung im Kontext anderer medizinischer Forschungsfelder sowie ethischer und rechtlicher Diskussionen anzusiedeln ist, die stark miteinander verschränkt sind. Insbesondere die medizinischen und biowissenschaftlichen Forschungs- und Anwendungsfelder um PID, IVF, Organallokation und Transplantationsmedizin, Diagnostik, Selektion, Tissue Engineering oder Klonen werden immer wieder mit der Stammzellmedizin in Verbindung gebracht. Hinsichtlich der Lösung ethischer Probleme/Konflikte und juristischer Fragen wird innerhalb des Diskurses häufig auf die Regelung der Abtreibung sowie auf die Regelungen in der Transplantationsmedizin (Hirntod) verwiesen. Dem entsprechend sind auch gewisse Parallelen in der Argumentation und der Verwendung von Bezeichnungen für die befruchtete Eizelle zwischen den verschiedenen Diskursen zu konstatieren.15 Insbesondere die gesellschaftlich geführten Diskussionen um die IVF, die Debatten um das Embryonenschutzgesetz und um die rechtliche Regelung der Abtreibung teilen mit dem Stammzelldiskurs die zentralen Fragen nach der Ausprägung und Reichweite des Menschenwürdekonzeptes, nach dem Status von und dem Umgang mit Embryonen,

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15

Klonexperimente bei Tieren finden schon seit den 50er Jahren statt, wobei die Anwendung bei Säugetieren (Maus) erst 1983 mit aus frühen Embryonalstadien isolierten Blastomeren als Spenderzellen erfolgte. Die theoretischen Grundlagen für die Klonexperimente waren bereits in den 40er Jahren bekannt. Aufsehen erregte die Geburt des Klonschafs Dolly im Jahr 1997. Bei dem dort angewandten Verfahren wurde ein Zellkern, der aus einer bereits differenzierten, somatischen Zelle stammte, in eine entkernte Eizelle transferiert. Vgl. Wolf (2002: 55). Solche Methoden zur Etablierung von ES-Zelllinien sind seit den 80er Jahren in Tierversuchen an Mäusen erprobt worden. Zahlreiche Erkenntnisse der Stammzellforschung, die in den Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung eingebracht werden, rekurrieren auf Ergebnisse der Mäusestammzellforschung. Vgl. hierzu den Enquete-Bericht der Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin. „In den frühen 1990er-Jahren wurden Zellen mit Eigenschaften embryonaler Stammzellen auch in Ratten, Schafen, Kühen, Schweinen und nichtmenschlichen Primaten gefunden. Alle oben genannten Kriterien konnten aber bisher nur bei der Maus nachgewiesen werden.“ Deutscher Bundestag (=BT) (2002: 25). Vgl. Hauskeller (2006). Die Stammzelltherapie bei Blutkrebs wird mit adulten Stammzellen durchgeführt, gängig ist hier die Transplantation von Knochenmark. Vgl. hier beispielsweise den Sprachgebrauch in der Abtreibungsdebatte, den Böke (1991) untersucht hat.

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

231

nach den Kriterien des menschlichen Lebensbeginns sowie der Frage nach der Instrumentalisierung menschlichen Lebens. Hier wird deutlich, dass der Diskurs um die embryonale Stammzellforschung mit diesen Diskursen in enger Verbindung steht und zum Teil aus ihnen hervorgeht. 4.1.1.1 Sachstand Das Forschungsfeld Stammzellforschung umfasst verschiedene Formen der Forschung, die hier nochmals unterschieden werden in die Forschung an und mit adulten und in die Forschung an und mit embryonalen Stammzellen sowie die Forschung an und mit Stammzellen von abgetriebenen Föten oder aus der Nabelschnur. In der Zwischenzeit wird auch die Möglichkeit diskutiert, embryonale Stammzellen aus dem Fruchtwasser zu isolieren, ohne dass dabei der Embryo bzw. der Fötus geschädigt wird (vgl. SZ vom 9.1.2007). Bei Stammzellen handelt es sich um Zellen, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnen: a) Stammzellen können sich unter bestimmten Voraussetzungen zu unterschiedlichen Zelltypen differenzieren, sie selbst sind noch nicht ausdifferenziert. „Mit dem Begriff der Stammzelle wird jede noch nicht ausdifferenzierte Zelle bezeichnet, die Teilungs- und spezifische Entwicklungsfähigkeit besitzt. Auf dem Weg der Spezialisierung nimmt das Differenzierungspotenzial dieser Zellen immer weiter ab.“16 b) Stammzellen haben das Potenzial der „fortgesetzten Selbsterneuerung“ (TA: 5). Durch Zellteilung können sich Stammzellen unter bestimmten Bedingungen in undifferenziertem Zustand erneuern bzw. vermehren. (Vgl. Schöler 2003: 529; vgl. DFG 2001: 7) Stammzellen werden nach den beiden Kriterien Herkunft und Entwicklungspotenzial differenziert. Bezüglich der Herkunft ist in embryonale und in adulte17 Stammzellen zu unterscheiden. Embryonale Stammzellen lassen sich aus Embryonen im Blastozystenstadium gewinnen. Beim Vorgang der Isolierung der Stammzellen wird der Embryo zerstört. Die verwendeten Embryonen können entweder aus In-vitro-Befruchtung stammen oder durch einen Zellkerntransfer in eine zuvor entkernte Eizelle entstanden sein (= therapeutisches Klonen). Des Weiteren lassen sich embryonale Stammzellen aus primordialen Keimzellen (Vorläuferzellen von Ei- und Samenzelle) gewinnen. Sie können nach einem Schwangerschaftsabbruch bzw. einem Spontanabort aus den abgegangenen Embryonen bzw. Feten isoliert werden (vgl. BT 2002) oder aber aus dem Fruchtwasser. Für adulte Stammzellen gibt es drei Quel-

16 17

Beier (1999: 194); vgl. auch DFG (2001: 7); vgl. Schöler (2003: 529f.); vgl. BT (2002: 23ff.). Für adulte Stammzelle hat sich auch der genauere Ausdruck gewebespezifische Stammzelle etabliert. Vgl. hier auch http://www.drze.de/themen/blickpunkt/Stammzellen.(Zuletzt abgerufen am 30.12.2009)

232

III

Anwendung

len. Zum einen können sie ebenfalls aus dem Gewebe abgetriebener oder spontan abgegangener Embryonen oder Feten gewonnen werden, zum anderen stellt das Nabelschnurblut eine wichtige Quelle für adulte Stammzellen dar, und zum dritten finden sich in den Geweben Geborener diese Form von Stammzellen.18 Ein weiteres Unterscheidungskriterium stellt das Entwicklungspotenzial der Zelle dar. Hier wird in Totipotenz, Pluripotenz, Multipotenz und Unipotenz unterschieden. Bezüglich des Kriteriums der Totipotenz19 wird differenziert in drei verschiedene Bedeutungsdimensionen20, und zwar in die Totipotenz eines Zellkerns, einer einzelnen Zelle und die eines zusammenhängenden Zell- bzw. Gewebeverbandes. Die Totipotenz eines Zellkerns zeigt sich nur durch Transfer des Zellkerns in eine entkernte Eizelle, die sich dann zum Individuum entwickelt.21 Unter der Totipotenz einer Zelle wird die Fähigkeit einer Zelle verstanden, sich zu einem kompletten Individuum zu entwickeln. Dies gilt in der Forschung bis zum 8-Zellstadium.22 Die dritte Bedeutungsdimension von Totipotenz meint die Fähigkeit eines zusammenhängenden Zellverbands, eine Organogenese und Entwicklung zu einem Individuum zu verwirklichen, nachdem die Gesamtgröße oder die Gesamtzellzahl dieses Gewebes reduziert wurde. (Beier 1999: 193)

Pluripotente Stammzellen besitzen nicht mehr die Fähigkeit, sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie sich in alle Zelltypen des Organismus differenzieren können. Wenn Zellen nur noch das Potenzial besitzen, sich in eine begrenzte Anzahl von Gewebetypen/Zelltypen zu entwickeln, spricht Beier von Multipotenz. Bringen

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Vgl. DFG (2001); vgl. Wobus (2006: 72–75); vgl. Zentrum für Technologiefolgeabschätzung (=TA) (2003: 33–55); vgl. BT (2002: 24–34). 19 Vgl. hierzu TA: 29; Beier (1999) und z. T. identisch (2002: 191ff.); vgl. Schöler (2003) und identisch Schöler (2005); vgl. Denker (2002). 20 Vgl. hier ESchG § 8 Absatz 1. Die Bedeutung der Begriffe Totipotenz und Pluripotenz ist innerhalb der Natur wissenschaften äußerst umstritten. Vgl. dazu Beier (2002) und Denker (2002); vgl. dazu auch Hauskeller (2005a und b). Weiter unten in diesem Kapitel werden Bedeutung und Problematik dieser Ausdrücke kurz erläutert. Da die Ausdrücke Totipotenz und Pluripotenz auf Grund ihrer Umstrittenheit zu den Schlüsselwörtern des Diskurses gezählt werden können, wird sich mit den einzelnen unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen und Sprachgebräuchen sowie den jeweils hinter den unterschiedlichen Gebräuchen stehenden Interessen zudem Kapitel 4.2.5 der Arbeit im Kontext des Lexems Stammzelle genauer und ausführlicher befassen. 21 Vgl. Beier (1999: 191f.). Dieses Verfahren ist unter dem Namen Klonen bekannt. 22 Die Forschung kann sich hier aber nur auf Experimente bei Tieren beziehen. Da Experimente mit Embryonen laut ESchG in Deutschland untersagt sind, können hier nur Vermutungen angestellt werden. Man geht davon aus, dass das Stadium der Totipotenz im 16-Zellstadium aber nicht mehr gegeben ist.

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

233

Zellen schließlich nur noch einen einzigen Zelltyp hervor, bezeichnet man sie als unipotent.23 Um Stammzellen zu gewinnen, können verschiedene Verfahren angewendet werden: a) (therapeutisches) Klonen, b) Erzeugung von Embryonen in vitro zu Forschungszwecken durch das Verfahren der IVF, c) Gebrauch von überzähligen Embryonen, die bei IVF übrig geblieben sind, d) Gebrauch von kryokonservierten Vorkernstadien, die sich zu Embryonen entwickeln.24 Wenn innerhalb des Diskurses von Klonen oder Klonieren gesprochen wird, so wird zunächst unterschieden in therapeutisches und in reproduktives Klonen, wobei sich das Verfahren an sich nicht unterscheidet, sondern die jeweilige Intention den Bedeutungs- und Bezeichnungsunterschied bestimmt (Vgl. Kap. 4.2.6 dieser Arbeit). Da es der Stammzellforschung darum geht, Stammzellen zu therapeutischen Zwecken zu gewinnen, wird das therapeutische Klonen als Stammzellgewinnungsverfahren favorisiert. Das Verfahren des Klonens zur Gewinnung von Stammzellen muss darüber hinaus nochmals differenziert werden in die Teilung eines bereits existierenden Embryos in zwei bzw. mehrere Embryonen durch embryo splitting und in das Verfahren des Zellkerntransfers, bei dem ein Zellkern in eine entkernte Eizelle übertragen wird (vgl. Heinemann/Kersten 2007: 54f.). Im frühen Stadium der Embryonalentwicklung ist es möglich, durch künstliche Teilung eines Embryos – embryo splitting – Zwillinge zu bilden. Beim Verfahren des Zellkerntransfers wird entweder durch Mikroinjektion die Zellmembran der Eizellen mit einer Glaspipette punktiert, die Chromosomen bzw. der Zellkern aspiriert und der neue Kern direkt in das Zytoplasma der Eizelle injiziert. [...] Bei dem Verfahren der Zellfusion wird eine Eizelle durch Aspiration entkernt und die intakte Spenderzelle in den perivittelinen Spalt zwischen der die Eizelle umgebenden Hülle der Zona pellucida und der Zellmembran der Eizelle injiziert. (Heinemann/Kersten 2007: 56)

23 Pluripotente Zellen sind in der Lage, „alles, was in der Embryonalentwicklung und Organogenese abläuft, mit[zu]machen, jedoch nicht selbst [zu] machen. Dieser Unterschied in der Entwicklungspotenz stellt semantisch klar, daß ES-Zellen nicht allein eine Entwicklung zum Ganzen realisieren können, sich jedoch bei der Entwicklung zum Ganzen total integrativ beteiligen.“ Beier (1999: 195). Denker schlägt auf Grund einer anderen Bedeutungsakzentuierung eine andere Bezeichnungspraxis vor. Er spricht von Pluripotenz, Omnipotenz und Totipotenz, wobei er die Bedeutung von Totipotenz als Totipotenz von Zellkernen außen vor lässt und sich nur auf die Bedeutungsbeschreibung der Totipotenz von Zellen konzentriert. Unter Pluripotenz fasst er die Potenzialität somatischer, also adulter Stammzellen. Die Fähigkeit embryonaler Stammzellen, sich in alle Zelltypen zu differenzieren bezeichnet er als Omnipotenz. Vgl. Denker (2002: 23ff.); vgl. zur Definition auch TA: 43. Hier wird Pluripotenz wie bei Beier (1999) definiert. Vgl. darüber hinaus auch BT (2002: 37–39). Hier wird nochmals die vielschichtige Bedeutung von Totipotenz betont. Vgl. Kapitel 4.2.5 dieser Arbeit. 24 Vgl. TA: 33–60; vgl. BT (2002: 23–34); vgl. DFG (2001: 8–19); vgl. auch Rapp (2002).

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III

Anwendung

Das Verfahren des Zellkerntransfers mit unterschiedlicher Herkunft von Eizelle und Zellkern bringt keine hundertprozentig genetisch identischen Klone hervor, da sich in der entkernten Eizelle immer noch mitochondriale DNA befindet (vgl. hierzu genauer Heinemann/Kersten 2007: 57). Beim in der Stammzellforschung favorisierten therapeutischen Klonen geht es um die Herstellung von Stammzellen durch die Erzeugung eines embryonalen Klons, der aber nicht zur Weiterentwicklung/zur Geburt gebracht wird. Vielmehr zielt dieses Verfahren darauf ab, aus solchen Embryonen individualspezifische, immunkompatible Stammzellen für therapeutische Zwecke zu gewinnen bzw. herzustellen. Der klonierte Embryo wird nicht in eine Gebärmutter übertragen, sondern bei der Gewinnung der Stammzellen zerstört. Beim reproduktiven Klonen dagegen wird die Entwicklung und Geburt eines genetisch fast identischen Lebewesens intendiert. Der Vorteil von durch therapeutisches Klonen gewonnenen Stammzellen besteht darin, dass es sich um autologe Zelltransplantate handelt, die die Immunabwehr nicht aktivieren. Überzählige Embryonen entstehen im Rahmen reproduktionsmedizinischer Behandlungen. Dabei werden Embryonen im Reagenzglas zum Zwecke der Übertragung in die Gebärmutter gezeugt. Während es in vielen europäischen Ländern erlaubt ist, mehr Embryonen zu erzeugen als pro Behandlungszyklus in die Gebärmutter der Frau übertragen werden können, dürfen in Deutschland nur so viele Embryonen erzeugt werden, wie pro Behandlungszyklus übertragen werden können (vgl. Heinemann/Kersten 2007: 53). Überzählige Embryonen gibt es in Deutschland daher nur auf Grund unvorhersehbarer, die Mutter betreffende Ereignisse bzw. Umstände, die eine Übertragung in die Gebärmutter nicht mehr möglich machen wie beispielsweise Krankheit oder Tod der Mutter sowie der Verzicht auf eine Übertragung in die Gebärmutter. Prinzipiell gibt es vier Möglichkeiten des Umgangs mit überzähligen Embryonen: 1. Die nicht mehr benötigten Embryonen werden kryokonserviert, um sie eventuell zu einem späteren Zeitpunkt einzupflanzen.25 2. Man lässt die Embryonen absterben.

25

In Deutschland wird die Kryokonservierung von Embryonen nur in Ausnahmefällen praktiziert. Aus rechtlicher Perspektive darf es in Deutschland eigentlich keine überzähligen Embryonen geben, da nur so viel Embryonen künstlich erzeugt werden, wie pro Behandlungszyklus in den Uterus der Frau implantiert werden dürfen. Bei der Regelung der IVF hat sich der Gesetzgeber auf die Anzahl von drei Embryonen geeinigt, da man theoretisch davon ausgehen muss, dass sich jeder der drei erzeugten Embryonen zu einem Zwillingspaar entwickeln kann. Eine Frau, deren Fortpflanzungsprobleme durch IVF behandelt werden, würde dann maximal sechs Kinder austragen, was noch im Bereich des körperlich Möglichen stünde.

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

235

3. Man überlässt sie der Forschung, wobei sie hier ebenfalls absterben. 4. Man gibt sie zur Adoption frei.26 Während bei kryokonservierten Embryonen von bereits verschmolzenen Zellkernen der Ei- und Samenzelle auszugehen ist, gibt es noch Eizellen im Vorkernstadium, die ebenfalls kryokonserviert werden. Hierbei handelt es sich aber um Ei- und Samenzellen, deren Zellkerne noch nicht verschmolzen sind. Der Befruchtungsprozess ist hier somit noch nicht abgeschlossen. Definitorisch wird demnach noch nicht von einem Embryo ausgegangen. Diese Unterscheidung hat rechtliche Relevanz, denn da es sich noch nicht um einen Embryo im rechtlichen Sinne handelt, werden Zellen im Vorkernstadium rechtlich auch anders behandelt. (Vgl. ESchG) Aus diesem Grund existieren in Deutschland auch viel mehr kryokonservierte Vorkernstadien als Embryonen. Die Ziele der Stammzellenforschung lassen sich zum einen in auf Grundlagenforschung bezogene Ziele und zum anderen in auf anwendungsbezogene Ziele unterscheiden. Unter anwendungsbezogenen Zielen lassen sich mögliche Therapien derzeit noch nicht heilbarer, neurodegenerativer Krankheiten wie etwa Morbus Alzheimer, Morbus Parkinson oder degenerativer Herzkrankheiten sowie Diabetes mellitus fassen.27 Dabei kann aber eine genaue Trennung in Grundlagenforschung und anwendungsbezogene Forschung nicht vorgenommen werden. Die therapeutische Anwendung basiert vielmehr immer schon auf Grundlagenforschung, da aus deren Ergebnissen bzw. Erkenntnissen therapeutische Anwendungen entwickelt werden; ohne Grundlagenforschung gäbe es somit keine therapeutische Anwendung (vgl. BT 2002). Bei der Grundlagenforschung geht es in erster Linie um die Erkenntnis bislang noch nicht aufgeklärter entwicklungsbiologischer Zusammenhänge wie beispielsweise die Reprogrammierung von Zellkernen nach dem Transfer in eine entkernte Eizelle oder um die Untersuchung komplexer Zellprozesse, die sich bei der Differenzierung in unterschiedliche Gewebetypen vollziehen (vgl. dazu genauer Beier 1999: 195). 4.1.1.2 Die rechtliche Situation Da die Rechtmäßigkeit des Imports embryonaler Stammzellen mit dem bestehenden Embryonenschutzgesetz von 1990 nicht zufriedenstellend geklärt wer-

26 Die Freigabe durch IVF entstandener und nicht mehr benötigter Embryonen zur Adoption wird innerhalb Deutschlands nicht praktiziert, sondern bislang nur kontrovers diskutiert. Es gibt diesbezüglich auch keine rechtlichen Regelungen. 27 Zur Diskussion um mögliche Anwendungsgebiete und Ziele embryonaler Stammzellforschung siehe TA: 79–121.

236

III

Anwendung

den konnte, entstand politischer Handlungsbedarf. Mit der Isolierung humaner embryonaler Stammzellen und der damit seitens der Forscher fokussierten therapeutischen Ziele traten Fragen auf, die das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz, das zur rechtlichen Beurteilung der Embryonenforschung maßgeblich ist28, nicht mehr beantworten und regulieren konnte. Intention des Gesetzgebers war es, mit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes neue Entwicklungen im Bereich der Reproduktionsmedizin zu regeln. Es zielte vor allem darauf ab, die extrakorporale Befruchtung (IVF) zu regeln und diese unter Beachtung bestimmter Vorgaben zu erlauben, vor allem aber einem mit der Technik der IVF möglichen Missbrauch von Embryonen entgegenzutreten. Damit sollte der Schutz menschlicher Embryonen gewährleistet werden. Denn durch die Etablierung der IVF ist es nämlich prinzipiell auch möglich, extrakorporal erzeugte Embryonen zu anderen Zwecken als dem der Einpflanzung in den weiblichen Uterus zu verwenden. Das ESchG zielt also darauf ab, die Forschung an und mit menschlichen Embryonen zu verbieten. Dabei kommt es nun darauf an, was im Gesetz als Embryo definiert wird. Als Embryo nach dem Embryonenschutzgesetz gilt: bereits die einzelne befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag. (§8 Abs. 1 ESchG)

Mit der Entstehung des Embryonenschutzgesetzes verfolgte der Gesetzgeber also das Ziel, Embryonen von ihrer frühesten Entwicklung an vor fremdnützigen Verwendungen und vor Manipulation zu schützen (vgl. Schroth 2002). Zur Zeit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes wurde die Möglichkeit des Umgangs mit embryonalen Stammzellen noch nicht bedacht, da das technische Verfahren zur Isolierung humaner embryonaler Stammzellen noch nicht entwickelt war. Das Embryonenschutzgesetz regelt zwar die Forschung an Embryonen und damit auch die Forschung an totipotenten Zellen, aus denen sich noch ein kompletter Embryo entwickeln kann, jedoch nicht den Umgang mit humanen embryonalen Stammzellen, die sich nicht mehr zu Individuen entwickeln können. Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Gewinnung von Stammzellen aus vorhandenen, überzähligen Embryonen sowie die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, da bei der Herstellung und Gewinnung die Embryonen vernichtet werden.29 Weil es sich 28 Bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Stammzellgesetz in Kraft trat (1. Juli 2002) war auch für die Gewinnung von Stammzellen und die Etablierung von Stammzelllinien das ESchG maßgeblich. 29 Das Verbot gilt für die Herstellung von Embryonen sowie für den Verbrauch überzähliger Embryonen in Deutschland, aber auch für den Import von im Ausland hergestellten Embryonen. Huwe (2006: 213).

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

237

bei embryonalen Stammzellen um pluripotente Zellen handelt, die sich nicht mehr zu einem kompletten Individuum entwickeln können, fallen diese nicht unter das ESchG. Was das ESchG also nicht regelt, ist der Import30 embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken aus dem Ausland. Das Verbot erstreckt sich gem. §8 Abs. 1 ESchG auch auf einzelne, einem Embryo entnommene totipotente Zellen. Nicht mehr erfasst vom Erwerbsverbot ist hingegen die Einfuhr von Zellen im Pluripotenzstadium, da diese keine Embryonen i.S.d ESchG mehr sind und folglich nicht dem Anwendungsbereich des Gesetzes unterfallen. Das betrifft auch embryonale Stammzellen, die sich nach heutigem wissenschaftlichen Kenntnisstand zwar in die verschiedenen Gewebetypen differenzieren können, jedoch nicht mehr die Fähigkeit besitzen, sich zu einem Menschen zu entwickeln. Das ESchG steht ihrem Import und ihrer anschließenden Verwendung im Inland somit nicht entgegen. (Huwe 2006: 214)

Die für die ES-Forschung benötigten ES-Zellen stellen keine im Sinne des ESchG totipotenten Zellen dar, aus denen sich noch komplette Embryonen entwickeln können. Damit fallen sie eigentlich auch nicht unter das ESchG. Da die Gewinnung solcher Zellen aber in Deutschland äußerst umstritten ist – um Stammzellen zu gewinnen, muss die Blastozyste (der Embryo) zerstört werden – und sich zudem auf Grund des Brüstle-Antrags ein gesellschaftlicher Diskurs über die ethische Problematik der Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen entspannte, sah man die Notwendigkeit, die Forschung an und mit embryonalen Stammzellen, gesetzlich zu regeln. Mit der Verabschiedung des Stammzellgesetzes31 im April 2002 und seinem Inkrafttreten am 1. Juli 2002 existiert nun ein Gesetz, das den

30 Der Import pluripotenter Zellen war Schroth zufolge bis zum Inkrafttreten des StZG nicht verboten. Vgl. Schroth (2002: 252). Bezüglich dieser rechtlichen Situation wird häufig von einer „Schutzlücke“ im ESchG gesprochen, die allerdings unterschiedlich interpretiert wird. Vgl. Huwe (2006: 213ff.); vgl. Schroth (2002: 252f.). Vgl. auch das Rechtsgutachten von Eser/Koch (2003: 40), das die DFG in Auftrag gegeben hat. „Nicht – oder jedenfalls nicht mit letzter Klarheit – ausgeschlossen war hingegen die in den 90er Jahren aufkommende Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen (HES), soweit diese außerhalb des deutschen Geltungsbereichs des ESchG gewonnen worden waren und nach Import im Inland verwendet wurden. Je nach der grundsätzlichen Einstellung zugunsten eines umfassenden Embryonenschutzes einerseits oder zugunsten von Forschungsfreiheit zur Gewinnung neuer medizinischer Erkenntnisse andererseits wurde in dieser Lückenhaftigkeit des ESchG ein zu beseitigendes Schutzdefizit oder ein offen zu haltender Forschungsfreiraum gesehen und dementsprechend ein Tätigwerden des Gesetzgebers im Sinne von Lückenschließung oder umgekehrt zur klarstellenden Absicherung des gewünschten straffreien Raums gefordert.“ Eser/Koch (2003: 40). Ein gesellschaftlicher Diskussionsbedarf ergab sich wie bereits erwähnt unter anderem auf Grund des Antrags von Oliver Brüstle, embryonale Stammzellen zu importieren, und den Stellungnahmen der DFG. 31 Die Verabschiedung und das Inkrafttreten des StZG fallen nicht mehr in den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit. Als Schluss wurde hier die Abstimmung über drei Geset-

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III

Anwendung

Import von humanen embryonalen Stammzellen regelt. Der Import embryonaler Stammzellen wurde vom Gesetzgeber unter einen strafbewehrten Genehmigungsvorbehalt gestellt, der die Einfuhr und die Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen grundsätzlich verbietet, jedoch unter bestimmten Voraussetzungen (und abweichend vom Verbot) die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen ausnahmsweise genehmigt. Voraussetzung ist hier zum einen die Stichtagsregelung, es dürfen nur Stammzellen importiert werden, die aus Stammzelllinien generiert wurden, die vor dem 1. Januar 2002 etabliert worden sind. Diese Stichtagsregelung wurde mittlerweile einmalig auf den 1.5.2007 verschoben.32 Zum anderen muss es sich um Stammzellen aus Embryonen, die bei einer IVF übrig geblieben sind, handeln, die zudem unentgeltlich der Forschung zur Verfügung gestellt wurden (vgl. Huwe 2006: 244). Zum dritten muss es sich um hochrangige Forschungsziele handeln, die mit der Forschung mit und an humanen embryonalen Stammzellen verfolgt werden. Und schließlich muss für jedes Forschungsprojekt vom Robert-Koch-Institut eine Genehmigung vorliegen, zu der die Behörde eine Stellungnahme der Zentralen Ethik-Kommisssion für Stammzellforschung einholen muss. (Vgl. TA: 246). 4.1.1.3 Die ethische Konfliktlage Ethische Themen um die Embryonenforschung wurden in Deutschland bereits Ende der 80er Jahre im Kontext reproduktionsmedizinischer Fragen – speziell der Frage nach der Zulässigkeit der IVF – sowie im Kontext gentechnologischer Fragen heftig diskutiert. Auf politischer Ebene befassten sich vor allem die Enquete-Kommission Chancen und Risiken der Gentechnologie sowie die Arbeitsgruppe des Bundesministers für Forschung und Technologie und des Bundesministers für Justiz In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie (Benda-Kommission) mit den Problemstellungen dieser Thematik. Die öffentlich-politischen Auseinandersetzungen um das Embryonenschutzgesetz, darunter auch mehrere Bundestagsdebatten, sowie die Diskussionen zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs stehen mit den Fragen nach dem moralischen Status von Embryonen in direktem und zum Teil indirektem

32

zesanträge zur Regelung des Imports von Stammzellen im Bundestag am 30. Januar 2002 gewählt. Dass die Rechtslage nach Inkrafttreten des StZG immer noch uneindeutig ist, darauf wird in der rechtlichen Stellungnahme der DFG verwiesen. Vgl. DFG (2003b: VII). Dem Bundestag lagen in der Debatte vom 14.2.08 vier Anträge zum Stammzellgesetz vor, über die debattiert und abgestimmt wurde. Die vier Anträge deckten das Spektrum von einer vollständigen Liberalisierung bis zum Verbot der embryonalen Stammzellforschung ab. Am 11.4.2008 entschied sich der Bundestag den Stichtag einmalig auf den 1.5.2007 zu verschieben.

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Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

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Zusammenhang und können wie oben bereits erwähnt als Vorläuferdiskurse zum Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung gesehen werden. Unter den diskutierten Themen des Bioethikdiskurses erlangte im Zeitraum 1999–2002 auf Grund technischer Innovationen die humane embryonale Stammzellforschung bezüglich ihres potenziellen Nutzens, ihrer ethischen Umstrittenheit und der damit verbundenen politischen Entscheidungsfindung zentrale Bedeutung. Die mit dem neuen Forschungsfeld der humanen embryonalen Stammzellforschung verbundenen Handlungen lassen sich ethisch zunächst hinsichtlich der mit der neuen Technologie verfolgten Ziele einerseits und der zur Erreichung der Ziele eingesetzten Mittel andererseits differenzieren. Im Zentrum der ethischen Konfliktlage des Stammzelldiskurses stehen unterschiedliche ethische Beurteilungen der mit der Stammzellforschung intendierten Ziele sowie der zu diesen Zwecken eingesetzten Mittel. Während die Ziele an sich – Grundlagenforschung und Therapiechancen – als hochrangig eingestuft werden, ist die Akzeptanz der eingesetzten Mittel äußerst umstritten. Das für die Forschung eingesetzte Mittel – der menschliche Embryo – wird dabei unterschiedlich bewertet, so dass sich der Grund für die Konfliktlage auf den moralischen Status des Embryos rückführen lässt. Der Hauptkonflikt innerhalb des Diskurses kann darin gesehen werden, dass zwei Grundrechte aufeinanderprallen: Da bei der Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen aus Embryonen der menschliche Embryo zerstört wird, geht es vor allem um die Frage, ob die in Artikel 1 des Grundgesetzes verankerte und mit dem Embryo in Verbindung gebrachte Menschenwürde33 sowie das damit zusammenhängende Recht auf Leben mit dem Recht auf Forschungsfreiheit einerseits und dem potenziellen Nutzen durch Heilungschancen andererseits aufgewogen werden kann bzw. werden darf oder nicht und vor allem auch darum, in welcher Weise das Menschenwürdekonzept auf den menschlichen Embryo bezogen wird. Es geht hier also um die Beurteilung der für die Forschung eingesetzten Mittel. Entsprechend der jeweiligen Deutung des Menschenwürdekonzeptes fällt die Beurteilung der humanen embryonalen Stammzellforschung aus.34 Die Beurteilung der Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen aus Embryonen ist demzufolge mit der Einschätzung der Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos in seiner frühesten Entwicklungsphase verbunden.

33

Hier geht es um die zentrale Diskursfrage nach dem moralischen Status von Embryonen, die im Hintergrund solcher Abwägungsprozesse steht und vor allem darum, inwiefern das Menschenwürdekonzept auf Embryonen angewandt werden kann. Vgl. beispielsweise Vossenkuhl (2002: 163). 34 Vgl. hier das Kapitel 4.2.4 dieser Arbeit, in dem auf die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen des Begriffes Menschenwürde näher eingegangen wird.

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III

Anwendung

Der Konflikt um die Zulassung/Nicht-Zulassung humaner embryonaler Stammzellforschung wurde und wird mitsamt den ethischen, rechtlichen, politischen und naturwissenschaftlichen Implikationen in den Medien ausgetragen, die Öffentlichkeit konstituieren, in gewisser Weise Gesellschaft widerspiegeln und erst im Raum der Öffentlichkeit zur Geltung kommen (vgl. Kap. 2.3.3.4). Konflikte werden hier zunächst recht allgemein als Auseinandersetzungen zwischen Gegnern verstanden. Sie machen einen Hauptbestandteil der Medienberichterstattung aus. So sind Konflikte einerseits der Anlass für die Textproduktion, andererseits stellen bereits produzierte Texte die Möglichkeitsbedingung für weitere Texte zur Konfliktthematik. Damit beteiligen sich die Medien und die in ihnen erscheinenden textuellen Ereignisse an der Konstruktion und der Struktur des Konflikts, so auch im bioethischen Diskurs um Stammzellforschung. Der öffentlich-politische Stammzelldiskurs ist den Konfliktfeldern und den ihn konstituierenden Wissensbereichen zufolge an der Schnittstelle von Naturwissenschaft, Ethik und Recht zu verorten. Dabei ist der Diskurs um Stammzellforschung eingebunden in historische, soziale und kulturelle Kontexte der jeweiligen Gesellschaft, in dem der Diskurs geführt wird.35 Diese haben naturgemäß Auswirkungen auf Form und Inhalt des Diskurses. Die Konflikthaftigkeit der Stammzellforschung – also die Frage nach der Schutzwürdigkeit des Embryos – ist auf den moralischen und rechtlichen Status von Embryonen zurückzuführen. Unter der Frage nach dem moralischen Status von menschlichen Zellen oder menschlichen Embryonen wird die Frage verstanden, als welches Gut diese Entitäten gelten müssen. Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, welche Schutzwürdigkeit ihnen zukommt und in welchem Verhältnis diese Schutzwürdigkeit zu den Zielsetzungen der Verwendung der Embryonen bzw. Zellen steht. In der Bestimmung des moralischen Status kommt somit ein Werturteil zum Ausdruck, das einerseits »moralisch«, d. h. mit Blick auf das Handeln des Menschen von Belang ist. Ein solches Werturteil erlaubt zwei Möglichkeiten des Verständnisses: Zum einen kann ein bestehendes Gut als ein intrinsisches Gut anerkannt werden, zum anderen kann ihm der Charakter eines Guts extrinsisch zuerkannt werden. In beiden Fällen wird durch das getroffene Werturteil die normative Grundlage für gesetzliche und standesrechtliche Regelungen bereitet. (Heinemann/Kersten 2007: 191)

35

Aus diesen Kontexten resultieren auch die unterschiedlichen Umgangsweisen mit technischem Fortschritt und Regelungen der Embryonenforschung in den verschiedenen Ländern. Vgl. dazu BT (2002). Hier sind die Regelungen der europäischen Länder, den USA, Kanada, der Schweiz, Japan, Israel, der Russischen Föderation sowie Australien im Einzelnen aufgeführt. Deutschland hat 1990 mit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes als eines der ersten Länder den Bereich der Embryonenforschung geregelt. Es verfolgt dabei ein Schutzkonzept, das den Embryo mit der Verschmelzung der Ei- und Samenzelle schützt. Vgl. Catenhusen (2002: 12f.).

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Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

241

Die Frage nach dem Status von Embryonen umfasst dabei den Grund, den Umfang sowie den Beginn der Schutzwürdigkeit. An den Fragen nach dem moralischen Status von Embryonen, an der damit in Verbindung gebrachten Frage nach der Hochrangigkeit der mit der Stammzellforschung verfolgten Ziele und der Verhältnismäßigkeit der zum Zwecke der Erreichung der Ziele eingesetzten bzw. einzusetzenden Mittel entzündete sich der öffentlich-politische Meinungsstreit um die Zulassung bzw. Nichtzulassung von Forschung an humanen embryonalen Stammzellen (vgl. hierzu auch Heinemann/Kersten 2007: 189f.). Der bei der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes erzielte Konsens bezüglich des Menschenwürdeschutzes von Embryonen ist angesichts der durch Stammzellforschung in Aussicht gestellten Therapien in der Gesellschaft und der breiten Öffentlichkeit nicht mehr gegeben. Vielmehr zeigt sich ein Bild, das gekennzeichnet ist von einer gewissen Fragmentierung und Pluralität bezüglich moralischer Überzeugungen. Hinsichtlich des Würdeschutzes von Embryonen lassen sich zunächst grob zwei einander gegenüberstehende Grundpositionen unterscheiden, die je für sich noch weiter differenziert werden können: Es handelt sich zum einen um die Position des absoluten Würdeschutzes und zum anderen um gradualistische Auffassungen von Würdeschutz (vgl. BT 2002). Bei der ersten Position wird dem Embryo von Beginn an, also von der Verschmelzung der Zellkerne der männlichen Samen- und der weiblichen Eizelle an, der vollständige Würdeschutz zugedacht. Bei der zweiten Grundposition, dem Konzept der abgestuften Schutzwürdigkeit, kommt dem Embryo erst nach Erreichung einer bestimmten Entwicklungsstufe die volle Schutzwürdigkeit zu. Vertreter dieser Position setzen unterschiedliche Entwicklungsstufen als Kriterien an, beispielsweise die Einnistung in die Gebärmutter, die Ausbildung des Primitivstreifens, die Entwicklung des Gehirns, Schmerzempfinden oder die Fähigkeit Interessen zu bekunden.36 Auf Grund der durch IVF vorhandenen überzähligen Embryonen wird die Frage aufgeworfen, was mit derartigen Embryonen geschehen soll. Befürworter der humanen embryonalen Stammzellforschung37 plädieren dafür, die

36 Der Zeitpunkt des Erreichens einiger dieser Entwicklungsstufen ist wiederum umstritten, so zum Beispiel die Einnistung in die Gebärmutter (diskutiert wird hier eine Zeitspanne vom 6. bis zum 14. Tag nach der Befruchtung), die Ausbildung des Schmerzempfindens oder die Entwicklung der Interessensfähigkeit. Vgl. hier Singer (1994); vgl. Hoerster (2002). 37 Es ist jedoch nicht generell davon auszugehen, dass Vertreter gradualistischer Würdeschutzkonzepte zugleich Befürworter der Forschung sind. Es gibt weitaus mehr Gründe, gegen Stammzellforschung zu sein als dies die hier angeführte Zuspitzung auf die Frage nach dem Status von Embryonen zu implizieren scheint. Vgl. beispielsweise Habermas (2002) oder Hauskeller (2004). Habermas, als Vertreter einer gradualistischen Würdeschutzkonzeption argumentiert gegen Stammzellforschung mit eugenischen Argumenten,

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III

Anwendung

überzähligen Embryonen zu hochrangigen Forschungszwecken zu verwenden, da diese Embryonen sich nicht mehr zu Individuen entwickelten und somit die Verwendung dieser Embryonen keine Instrumentalisierung darstelle. Gegner der Stammzellforschung verweisen jedoch auf die Möglichkeit der Embryonenadoption, wodurch sich ihrer Meinung nach eine Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken verhindern ließe. Im Hinblick auf die rechtliche und ethische Dimension des Diskurses lässt sich zusammenfassend festhalten: Die Themen des Diskurses konzentrieren sich auf moralische und rechtliche Fragen hinsichtlich des Status von Embryonen. Der Status des Embryos wird je nach weltanschaulicher Voraussetzung unterschiedlich beurteilt. Die sich aus diesen jeweils unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen bezüglich der diskutierten Fragestellungen ergebenden Folgen für die Gesellschaft38 werden kontrovers diskutiert. Dabei liegt die Konflikthaftigkeit des Diskurses in der Methode der Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen und der entsprechenden Bewertung des moralischen Status von Embryonen begründet. Die sich daran anschließenden bzw. daraus ergebenden Fragen beziehen sich auf die Grenzen der Forschung sowie auf das Potenzial von humanen embryonalen Stammzellen. Die Polydimensionalität und Komplexität des Diskurses gründet im Aufeinandertreffen unterschiedlicher weltanschaulicher Positionen und Wissensdomänen sowie in dem Bedürfnis nach einer politischen und rechtlichen Regelung des Bereiches der embryonalen Stammzellforschung. Diese komplexe Diskurskonstellation macht eine breite öffentliche Auseinandersetzung, in der die unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen diskutiert und verhandelt werden, notwendig. Sie ist geradezu Kennzeichen und notwendige Bedingung für demokratisch verfasste, plurale Staaten. 4.1.1.4 Diskursstrukturierende und diskursive Ereignisse Der öffentlich-politische Diskurs wurde von verschiedenen Ereignissen belebt, beeinflusst und strukturiert. Neben der ersten gelungenen Isolierung humaner embryonaler Stammzellen im November 1998 durch Thompson et. al. und Gearhart oder dem Antrag Brüstles39 auf Import embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken nach Deutschland im August 2000

38 39

Hauskeller mit der Rolle der Frau oder sozialen Folgen der Forschung. Vgl. Hauskeller (2004: 145–172). Die debattierten Folgen der Stammzellforschung werden unterschieden in positive Folgen, wie beispielsweise therapeutischen Nutzen und in negative Folgen, die als Gefahren oder Risiken konzeptualisiert werden. Brüstle stellte diesen Antrag im Sommer 2000. Eine kurze Zusammenfassung des mittlerweile von der DFG geförderten Projekts findet sich online unter der Person Brüstles in der DFG-Datenbank http://www.dfg.de/gepris/. (Zuletzt zugegriffen am 30.12.2009).

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

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gibt es weitere zentrale Ereignisse, die den Diskurs stark beeinflussten und ihn erst konstituierten. So spielten etwa die Stellungnahmen der DFG oder die Bundestagsdebatten eine wesentliche Rolle für die Konstitution und die Form des Diskurses. Die DFG sah in ihrer ersten publizierten Stellungnahme zur humanen embryonalen Stammzellproblematik von 1999 hinsichtlich der Möglichkeit der humanen embryonalen Stammzellforschung keinen Handlungsbedarf und sprach sich demzufolge zunächst nicht für eine Änderung der Gesetzeslage, dafür aber für einen breiten, gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess aus40, während die Stellungnahme von 2001 Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Forschung mit menschlichen Stammzellen diese Sichtweise revidierte und für die Forschung an und mit humanen embryonalen Stammzellen plädierte, insofern die DFG sich zunächst für einen Import menschlicher embryonaler Stammzellen unter bestimmten Auflagen aussprach, um so deutschen Forschern den Anschluss an internationale Entwicklungen nicht zu verwehren. Sollten sich die importierten Stammzellen als ungeeignet erweisen, sollte der Gesetzgeber in einem zweiten Schritt, so DFG, überlegen, ob sich deutsche Forscher in Deutschland nicht auch aktiv an der Gewinnung humaner embryonaler Stammzellen beteiligen könnten. Dafür sollten überzählige Embryonen Verwendung finden. Diese von der DFG angestellten Überlegungen würden jedoch eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes nach sich ziehen. Als ersten Schritt empfehlen wir dem Gesetzgeber, den Import von im Ausland hergestellten pluripotenten Stammzellenlinien, der nach geltendem Recht gestattet ist, da diese Zellen ja nicht toti- sondern nur pluripotent sind, in der Tat zu gestatten, allerdings mit Einschränkungen. [...] Wenn all dies nicht machbar sein sollte, weil sich die in Deutschland zur Verfügung gestellten Zelllinien als objektiv nicht

40 „Gegen die Eröffnung der Forschung an und mit embryonalen Stammzellen aus Blastozysten, welche durch in-vitro-Fertilisation oder durch Zellkerntransfer in eine enukleierte Eizelle erhalten wurden, spricht allerdings, daß diese Wege über totipotente Zellen erfolgen, welche das Entwicklungspotential zu einem Menschen in sich tragen. Die DFG sieht aus verschiedenen Gründen im Hinblick auf die Forschung mit humanen pluripotenten Stammzellen derzeit keinen Handlungsbedarf für eine Änderung der deutschen Rechtslage. [...] Des weiteren steht nach Ansicht der DFG der Meinungsbildungsprozeß über ethische und embryologische Fragen im Zusammenhang mit der Forschung an Stammzellen in Deutschland wie im Ausland noch am Anfang. Die DFG schlägt vor, daß dieser Meinungsbildungsprozeß auf breiter Basis geführt wird, und wird sich an ihm beteiligen. Gleichzeitig wird sich die DFG bemühen, in dieser Frage auf die Entwicklung einheitlicher europäischer Standards hinzuwirken, die auch die gebotenen Risikoabschätzungen gegenüber fundamentalen und grundgesetzlich garantierten Lebenswerten wie der Menschenwürde und der Gesundheit einschließen. Die DFG wird zudem gezielt Forschungsvorhaben fördern, die darauf abzielen, pluripotente Zellen zu nutzen, ohne den Weg über totipotente Zellen zu gehen. Diese Forschungsförderung soll im Verbund mit einer Auseinandersetzung mit den sich stellenden ethischen Fragen erfolgen.“ DFG (1999: 6).

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III

Anwendung

geeignet erweisen, dann schlagen wir als zweiten Schritt dem Gesetzgeber vor, in Überlegungen einzutreten, Wissenschaftlern in Deutschland - unter bestimmten Konditionen - aktiv die Arbeit an der Gewinnung embryonaler Stammzelllinien zu ermöglichen. Zu diesen Konditionen gehört, daß es sich nur um „überzählige“ Embryonen handeln darf, Embryonen also, die zum Zwecke der künstlichen Befruchtung hergestellt wurden und aus irgendeinem Grund nicht Verwendung finden konnten. Von diesen soll es in Deutschland an die hundert geben. Die DFG lehnt eine Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken ab. (DFG 2001)

Die genannten Ereignisse evozierten zahlreiche Kommentare und Berichte, Stellungnahmen gesellschaftlicher Gruppierungen und der Kirchen. Der Diskurs verdichtete sich in der Mitte des Jahres 2001 auf Grund der Einsetzung der Enquete-Kommission, der Stellungnahme der DFG, der Einsetzung des nationalen Ethikrates, der Bundestagdebatte vom 31.05.2001 sowie aufmerksamkeitserregende Handlungen des Politikers Wolfgang Clement im Hinblick auf die Forcierung von Stammzellforschung. Das lässt sich durch den Anstieg der zum Thema gehörigen Presseartikel belegen.41 Im März 2000 setzte der Bundestag die Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin ein, um dem für eine angestrebte politische Entscheidung notwendigen Informations- und Diskussionsbedarf des Parlaments nachzukommen. In ihrer Stellungnahme vom November 2001 nahm die Enquete eine Position ein, die sich gegen die Nutzung und Herstellung embryonaler Stammzelllinien aussprach. Der Anfang Mai 2001 von Bundeskanzler Schröder eingesetzte Nationale Ethikrat sprach sich Ende November 2001 zwar nicht für eine generelle Erlaubnis der Stammzellforschung aus, er plädierte aber für eine streng geregelte und streng beurteilte Forschung mit importierten embryonalen Stammzellen. Zudem hielt der damalige Bundespräsident Johannes Rau eine für den Verlauf des Diskurses entscheidende Rede (Berliner Rede vom 18. Mai 2001), die sozusagen eine Schlüsselrolle im Diskurs einnimmt. Im Kontext dieser Rede kam es zu einer Vielzahl von Stellungnahmen und Reaktionen42, die gerade die von Rau aufgeworfenen Fragen und Probleme biotechnologischer Entwicklungen zum Gegenstand der Auseinandersetzung machten. Im Verlaufe des Diskurses wurde immer wieder auf Raus Rede Bezug genommen und die von ihm gebrauchte RUBIKON-METAPHER43 wurde seither im Kontext des Stammzelldiskurses immer wieder verwendet. Am 31. Mai 2001 fand im deutschen Bundestag eine ausführliche Debatte mit dem Titel Recht und

41

Vgl. hier die unten aufgeführten Grafi ken, die die Diskursentwicklung verdeutlichen sollen. 42 Hubert Markl, der damalige Präsident des Max-Planck-Instituts, hielt im Juni 2001 eine Rede zur Thematik mit direktem Bezug auf die Rede Raus, in der er die Gegenposition vertritt. Vgl. Geyer (2001: 177ff.). 43 Zur Rolle und Funktion der RUBIKON-METAPHER im Stammzelldiskurs vgl. Kap. 4.3.3.2 dieser Arbeit.

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

245

Ethik der modernen Medizin und Biotechnologie statt44, die zahlreiche Stellungnahmen und Meinungsbekundungen zur Folge hatte. Im Vorfeld dieser und im Hinblick auf diese Bundestagsdebatte erlangten die Themen humane embryonale Stammzellforschung, Klonen und PID in den Medien erneut besondere Aufmerksamkeit. Die Grundaussage der Debatte bestand vor allem darin, sich nicht von den Forschungsbefürwortern unter Zeitdruck setzen zu lassen, sondern stattdessen in Ruhe in einem gesellschaftlich breit angelegten Meinungsbildungsprozess die ethischen und rechtlichen Herausforderungen der Biomedizin zu bedenken und gemeinsam zu diskutieren. Auf Grund eines Vorstoßes des ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und des Stammzellforschers Oliver Brüstle, die sich für die humane embryonale Stammzellforschung medienwirksam aussprachen und zugleich eine Reise zum israelischen Stammzellforscher Itzkovitz-Eldor zwecks zukünftiger Kooperation nach Haifa unternahmen, spitzte sich die Debatte auf die Frage nach der Genehmigung eines Imports embryonaler Stammzellen nach Deutschland zu. Ein weiterer Höhepunkt des Diskurses stellt schließlich die zweite Bundestagsdebatte am 30. Januar 2002 dar, in der drei parteiübergreifende Gesetzesanträge zur Regelung des Imports humaner embryonaler Stammzellen zur Debatte gestellt wurden. Einem ersten Antrag45 zufolge sollte der Import humaner embryonaler Stammzellen verboten werden; der zweite Antrag46 sah vor, den Import embryonaler Stammzellen zwar generell zu untersagen, in Ausnahmefällen jedoch unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen zu erlauben; der dritte Antrag47 zielte darauf ab, den Import vollständig zu erlauben. Es setzte sich der zweite Antrag als Kompromissantrag durch. Dem Forschungsantrag Brüstles48, der maßgeblich zur Konstitution des Diskurses beigetragen hatte und die Bundestagsdebatten mit bedingte, wurde am 31. Januar durch die DFG stattgegeben. Schließlich wurde am 25. April 2002 das deutsche Stammzellgesetz durch den Bundestag verabschiedet; es trat am 1. Juli 2002 in Kraft und wurde mittlerweile geändert.

44 Die Texte der Debatte sind unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/14214.pdf und http://dip21.bundestag.de/ dip21/btp/14/14173.pdf online zu finden (Zuletzt zugegriffen am 30.12.2009). 45 Antrag 1: Schutz der Menschenwürde angesichts der biomedizinischen Möglichkeiten – Kein Import embryonaler Stammzellen. 46 Antrag 2: Keine verbrauchende Embryonenforschung – Import humaner embryonaler Stammzellen grundsätzlich verbieten und nur unter engen Voraussetzungen zulassen. 47 Antrag 3: Verantwortungsbewusste Forschung an embryonalen Stammzellen für eine ethisch hochwertige Medizin. 48 Die Entscheidung über den Antrag Brüstles wurde von der DFG mehrfach verschoben, unter anderem auf Bitte des Bundestages.

246

III

Anwendung

Einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Diskurs um Stammzellforschung in Deutschland brachten die Ereignisse in Großbritannien mit sich. Im Dezember 2000 entschied sich das britische Unterhaus für die humane embryonale Stammzellforschung und für das therapeutische Klonen, was eine enorme Diskussion nach sich zog. In Großbritannien darf seit dem Fertilisation and Embryology Act von 1990 an Embryonen geforscht werden. Ebenso ist es unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, Embryonen mittels des Verfahrens des therapeutischen Klonens zu Forschungszwecken herzustellen, was durch die am 31. Januar 2001 in Kraft getretenen Human Fertilisation and Embryology (Research Purposes) Regulations geregelt wird. Voraussetzung dafür aber ist eine Zustimmung der genetischen Eltern, darüber hinaus darf der für Forschungszwecke erzeugte Embryo nicht älter als 14 Tage sein.49 In diesem Zusammenhang sprach sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen „ideologische Scheuklappen“ aus und belebte durch seine deutliche Positionierung den deutschen Diskurs (vgl. Die Woche vom 20.12.2000). Die in Übersicht 4.1-1 und 4.1-2 aufgeführten diskursiven Ereignisse und Dokumente geben einen Überblick, wie sich der Diskurs generierte, wobei deutlich wird, dass einzelne diskursive Ereignisse Möglichkeitsbedingungen für Folgeereignisse darstellen. Ein Ereignis, das zwar nicht direkt zum Stammzelldiskurs gezählt werden kann, aber auf Grund zum Teil ähnlicher Thematisierungen die Öffentlichkeit für ethische Fragestellungen im Kontext der Rolle der Biotechnologie und deren gesellschaftliche Auswirkungen sensibilisierte und somit auch indirekt Einfluss auf den Diskurs um Stammzellforschung hinsichtlich allgemeiner ethischer Fragestellungen zum Menschenbild nahm, stellt die Sloterdijk-Debatte vom Sommer/Herbst 1999 dar50, die in einer philosophischen Auseinandersetzung zwischen den Philosophen Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas gründete und zentrale Themen mit dem Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung gemeinsam hat (vgl. dazu Graumann 2003).

49

„Mit dem Human Fertilisation and Embryology Act von 1990 und der Ergänzung zum therapeutischen Klonen im Jahr 2001 wurde eine umfassende gesetzliche Regelung getroffen, die weitgehend auf verfahrensrechtlichen Sicherungen durch eine Behörde (Human Fertilisation and Embryology Authority, HFEA) beruht, welche in einem Genehmigungsverfahren fallweise über die Forschungsvorhaben entscheidet und diese kontrolliert. Dies gilt sowohl für den öffentlichen als auch für den privaten Bereich.“ BT (2002: 73f.). 50 Anlass dieser Debatte war eine von Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau gehaltene Rede mit dem Titel Regeln für den Menschenpark. Eine – deutlich die Debatte als journalistische Inszenierung bewertende – Übersicht über die Ereignisse der Sloterdijk-Debatte bietet Nennen (2003: 59–86).

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

247

Zeitpunkt

Ereignis

November 1998

erste gelungene Isolierung von ES-Zellen durch J.A. Thomson

März 1999

Stellungnahme der DFG

August 1999

Sloterdijk-Debatte

Juni 2000

Bekanntgabe der Sequenzierung des menschlichen Genoms

August 2000

Forschungsantrag an die DFG durch Oliver Brüstle

Dezember 2000

Britische Entscheidung für ES-Forschung und therapeutisches Klonen Kanzlerwort gegen „ideologische Scheuklappen“

Januar 2001

Rücktritt der Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer

Februar 2001

endgültige Entschlüsselung des menschlichen Genoms, Erscheinung des wiss. Berichts und Repräsentation der Ergebnisse

März 2000:

Einsatz der Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin«

Mai 2001

Einsatz des Nationalen Ethikrats (=NE) Stellungnahme der DFG Berliner Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau (18.5.) Bundestagsdebatte zu biomedizinischen Themen (31.5.)

Juni 2001

Nationaler Ethikrat bittet DFG um Vertagung der Antragsentscheidung Grundsatzrede Hubert Markls (25.6.)

Juli 2001

Vertagung der Antragsentscheidung der DFG auf Dezember 2001

Herbst 2001

Zwischenbericht der Enquete-Kommission Voten des NE zur ES-Forschung

November 2001

Empfehlung des NE Mehrheit des NE für ES-Forschung

Dezember 2001

Bekanntgabe des Wortlauts der Positionen des NE Vertagung der Entscheidung der DFG auf den 31.1.02

Januar 2002

Bundestagsdebatte über ES-Forschung (30.1.02) Entscheidung für den Kompromissantrag Beschluss der DFG zur Förderung eines Projektes mit importierten ES-Zellen

Juli 2002

Inkrafttreten des Stammzellgesetzes

Übersicht 4.1-1: Zentrale Diskursereignisse

248

III

Anwendung

zentrale Diskursdokumente Embryonenschutzgesetz Stellungnahme zum Problemkreis ‚Humane embryonale Stammzellen‘ der DFG, 19. März 1999 Donaldson Report, Großbritannien 2000 Empfehlungen der DFG zur Forschung mit embryonalen Stammzellen, 3. Mai 2001 Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission zur Stammzellforschung der Bundesärztekammer 2001 Zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen. Stellungnahme des Nationalen Ethikrats 2001 Stellungnahme zu Fragen der Biomedizin ‚Der Mensch, sein eigener Schöpfer?‘ der Deutschen Bischofskonferenz 2001 Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission ‚Recht und Ethik der modernen Medizin. Teilbericht Stammzellforschung.‘ Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzgesetzes in Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG, in Kraft seit 1. Juli 2002) Übersicht 4.1-2: Zentrale diskursbeeinflussende Dokumente

4.1.1.5 Diskursverschränkungen51, Diskursakteure und Kommunikationsbereiche Charakteristisch für den Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung – wie bereits aus der Nachzeichnung des biomedizinischen Sachstandes sowie der juristischen und ethischen Konfliktlage hervorgegangen sein dürfte – ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wissensdomänen bzw. Kommunikationsbereiche innerhalb des Diskurses, die zugleich die Komplexität des Diskurses begründen. Die am Stammzelldiskurs teilnehmenden Diskursakteure gehören unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen und öffentlich-politischen sowie medialen Handlungsfeldern an. So lässt sich der Diskurs nicht nur hinsichtlich des Themen- und Konfliktverlaufs, sondern auch hinsichtlich der Herkunft der Diskursakteure, die die Themen des Diskurses beeinflussen und Diskursverschränkungen konstituieren, differenzieren. Die Komplexität des 51

Bezüglich der Vernetzung von Diskursen mit anderen Diskursen spricht Spitzmüller (2005) von Diskursüberlagerungen, hier soll der Terminus Diskursverschränkung gebraucht werden.

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

249

Diskurses gründet also vor allem darin, dass er sich aus unterschiedlichen Teildiskursen zusammensetzt und sich demzufolge aus unterschiedlichen Kommunikationsbereichen und damit verbundenen Handlungsfeldern konstituiert. Eine klare Trennung zwischen fachlicher Disziplin und öffentlich-politischem Bereich kann innerhalb dieses speziellen Diskurses nicht vorgenommen werden, denn die fachlichen Disziplinen sind hier immer auch öffentlich relevant. Wenn auch nicht der gesamte Fachdiskurs eines Faches mit dem öffentlich-politischen Diskurs gleichzusetzen ist, so ist doch in diesem Zusammenhang zu konstatieren, dass große Teile des jeweils fachwissenschaftlichen Diskurses bestimmter Einzeldisziplinen, vor allem der ethischen und philosophischen Fachdisziplinen, auf Grund der Brisanz des Themas in der (medialen) Öffentlichkeit stattfanden. Bei den aufeinander treffenden Wissensdomänen handelt es sich hier um die Ethik, die Philosophie, die Naturwissenschaften, die Theologie, die Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, die Jurisprudenz, die Medizin, die im öffentlich-politischen Großkommunikationsbereich zusammentreffen. Die Diskursakteure der verschiedenen Disziplinen treten geradezu in der Sphäre der Öffentlichkeit miteinander in Kontakt; der öffentlich-politische Kommunikationsbereich stellt somit den Raum und die Bedingungsmöglichkeit des Diskurses dar. In der Austragung von Teilen des vor allem philosophisch-ethischen Fachdiskurses in der öffentlichen Presse besteht eine gewisse Besonderheit, insofern sich das Handlungsfeld dieser Fachdomäne in Handlungsfelder des öffentlich-politischen Kommunikationsbereichs verlagerte, insbesondere in das Handlungsfeld öffentlich-politischer Meinungs- und Willensbildung. Exemplarisch kann hierfür die Auseinandersetzung in der Wochenzeitung Die Zeit angeführt werden. Namhafte Philosophen, Theologen, Ethiker, Juristen und Naturwissenschaftler haben an der Auseinandersetzung teilgenommen und Texte produziert, in denen sie Stellung zur Thematik aus ihrer je fachspezifischen Perspektive bezogen. Die Grenzen zwischen Wissenschaftsdiskurs und öffentlichem Diskurs sind nicht eindeutig zu ziehen (vgl. Graumann 2003). Entsprechend der hier dargestellten, komplexen Diskurskonstellation spielt sich auch der öffentlich-politische Diskurs in unterschiedlichen Handlungsfeldern ab, von denen die vier öffentlich-politischen Handlungsfelder – das Handlungsfeld der öffentlich-politischen Meinungsbildung, das Handlungsfeld innerparteilicher Meinungs- und Willensbildung, das Handlungsfeld der politischen Werbung sowie das Handlungsfeld der Meinungs- und Willensbildung in Institutionen52 – von besonderer Relevanz sind. Darüber hinaus sind natürlich die Handlungsfelder der einzelnen Fachdomänen – insbesondere das Handlungsfeld der disziplinären Theorienbildung, der fach-

52

Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.4 dieser Arbeit.

250

III

Anwendung

wissenschaftlichen Meinungsbildung und Theorienbildung – von Bedeutung für diesen Diskurs. Sie stehen hier aber vielmehr im Hintergrund und stellen somit die Basis dar, von der aus sich der öffentlich-politische Diskurs ereignet und von der aus dieser Diskurs mit den je spezifischen Anliegen des Faches gespeist wird. Sowohl die Handlungsfelder der Fachdomänen als auch die Handlungsfelder des öffentlich-politischen Kommunikationsbereichs lassen sich nicht klar voneinander trennen, vielmehr ist von einer starken Vernetzung der einzelnen Felder auszugehen.53 Die Diskussionen um IVF, Embryonenschutz und um das Klonen sind wie bereits erläutert für den Stammzelldiskurs Voraussetzungen bzw. Vorläuferdiskurse. Parallelen bezüglich der debattierten Themen ergeben sich vor allem auch zum Diskurs um den §218 und zur Organtransplantation.54 Diese thematischen Bezüge tauchen vor allem als Nebendiskurse auf und bilden je für sich wieder eigenständige Diskurse. Hier wird deutlich, dass Diskurse keine festen Grenzen haben. Vielmehr geht ein Diskurs in einen anderen über und ist immer durch bereits existierende Diskurse bedingt. Relevante, mit der Stammzellforschung verwandte biomedizinische und naturwissenschaftliche Themen, die innerhalb des Diskurses um humane embryonale Stammzellforschung im Textkorpus auftauchen und gesellschaftlich zumeist umstritten sind, sind folgende Diskursthemen: – – – – – – – – –

53

Präimplantationsdiagnostik Transplantationsmedizin, Organallokation Reproduktionsmedizin (IVF) Klonen Tissue Engineering Adulte Stammzellen Abtreibung künstliche Befruchtung Patentierungsdebatte55

Vgl. hierzu auch Ach/Runtenberg (2002); vgl. Döring/Nerlich (2004); vgl. Domasch (2006); vgl. Düwell/Steigleder (2003a und b); vgl. BT (2002); vgl. Geyer (2001); vgl. Hampel/Renn (1999); vgl. Nerlich (2005); vgl. Nerlich/Johnson/Clarke (2003); vgl. van den Daele (2005); vgl. Zimmer (2006). 54 Bezüglich des § 218 ist vor allem auf die Thematisierung des moralischen und rechtlichen Status von Embryonen hinzuweisen; bezüglich der Transplantationsdebatte auf die Bedeutung von Lebensbeginn und Lebensende, wobei im Stammzelldiskurs der Lebensbeginn diskutiert wird, jedoch auf Parallelen bezüglich der Festlegung des Hirntodkriteriums hingewiesen wird. Vertretern des absoluten Würde- und Lebensschutzes von Embryonen, die zugleich das Hirntodkriterium akzeptieren, wird zuweilen ein Wertungswiderspruch von der gegnerischen Partei vorgeworfen, da sie im Falle des Lebensendes eine ‚willkürliche‘ Setzung akzeptieren. 55 1999 hat der Forscher Brüstle ein Patent für die Entwicklung neuronaler Stammzellen aus menschlichen Embryonen erhalten. Die Vergabe des Patents rief eine enorme Diskussion

4

– – – – –

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

251

Bioethik-Konvention Gentechnik Xenotransplantation Keimbahntherapie Humangenomprojekt 4.1.2 Das Textkorpus zum Bioethikdiskurs um Stammzellforschung

Die Kommunikationsbereiche, denen die Texte des Diskurses entstammen, sind konstitutiv für das Korpus. Das Korpus wiederum konstituiert den Diskurs, wenngleich ein Korpus nie alle zum Diskurs gehörenden Texte umfassen kann.56 Der maßgebliche Kommunikationsbereich, dem die Texte des Diskurses entstammen, ist der öffentlich-politische Bereich, der wiederum aus unterschiedlichen Kommunikationsbereichen konstituiert bzw. gespeist wird.57 Bei der Erstellung des Diskurses konstituiert der Analysierende unabdingbarerweise den Diskurs mit, insofern nach von ihm festgelegten Auswahlkriterien die Korpuserstellung erfolgt (vgl. zur Korpuserstellung Spitzmüller 2005: 73f). Die Einheit des Diskurses (im Hinblick auf semantische Beziehungen, Thema, Gegenstand, Wissenskomplexe, Funktions- bzw. Zweckzusammenhänge) wird vom Untersuchungsziel, Interesse oder Blickwinkel der Wissenschaftler bestimmt. Diskursive Beziehungen sind – in einem weiten Sinne von Semantik – semantische Beziehungen. Jedenfalls setzt ihre Feststellung und Eingrenzung semantische Akte voraus. [...] Die Korpusbildung, d. h. die Konstitution einer diskursiven Einheit als prospektiven Untersuchungsgegenstand der Linguistik, basiert daher auf Deutungsakten. [...] Die Konstitution des Diskurses, der das Forschungsobjekt bilden soll, setzt daher stets schon Interpretationshandlungen der Forscher voraus. (Busse/ Teubert 1994: 16)

hervor. „Aufgrund des Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sitten, welcher mit der Zerstörung der benötigten Embryonen einhergehe, klagte die Umweltorganisation Greenpeace gegen dieses Patent. Das Bundespatentgericht erklärte am 5. Dezember 2006 das 1999 erteilte Patent in Hinblick auf den Verstoß gegen die öffentliche Ordnung sowie mit Verweis auf das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz in Teilen für nichtig. Das Patent gilt daher nun nicht mehr für die Entwicklung solcher Zellen, die aus humanen Stammzellen aus Embryonen stammen. Das Patent bleibt jedoch für die Gewinnung der Zellen bestehen, die aus humanen Stammzellen stammen, die ihrerseits nicht aus Embryonen, sondern aus Keimzellen gewonnen werden.“ (http:// www.drze.de/themen/ blickpunkt/Stammzellen) (Zuletzt zugegriffen am 30.12.2009). 56 Busse und Teubert unterscheiden hier zwischen dem virtuellen Korpus und dem konkreten Untersuchungskorpus, das vielmehr einen Ausschnitt aus dem ‚virtuellen‘ Diskurs repräsentiert. Vgl. Busse/Teubert (1994: 14). 57 Darüber hinaus findet dieser Diskurs natürlich auch in den jeweiligen Fachdisziplinen statt. Hier steht jedoch die Form des Diskurses im öffentlich-politischen Bereich im Vordergrund der Analyse.

252

III

Anwendung

Die Korpuserstellung ereignet sich somit als (hermeneutischer) Prozess (vgl. Busse/Teubert 1994; vgl. Spitzmüller 2005: 75), insofern im Laufe der Untersuchung immer wieder das Textkorpus ergänzende Recherchen und damit in Zusammenhang stehende Erweiterungen oder Reduktionen des Textkorpus vor allem auf Grund intertextueller Bezüge, die sich zumeist erst während der Arbeit erschließen, vorgenommen werden müssen. Die Stichworte, nach denen die Texte im vorliegenden Fall ausgewählt wurden, sind Stammzell*, Präimpl*, Biopol* und PID*. Diese erwiesen sich – wie sich bei der Analyse herausstellte – als geeignet, da mit ihnen auch fast alle Texte erfasst wurden, auf die in den Texten selbst immer wieder verwiesen wurde, so dass sich die Nachrecherchen und damit verbundenen Korpusergänzungen auf wenige Texte beschränkten. Sämtliche Texte des Korpus haben humane embryonale Stammzellforschung als dominantes Thema. Kriterien für die Auswahl der Texte waren neben der Themengebundenheit, die durch die oben genannten Suchwörter gegeben war, zudem die Einbeziehung eines breiten Textsortenspektrums, um eine große Breite des printmedialen Diskurses in der Analyse Beachtung zu schenken. Berücksichtigt werden demnach die in der ausgewählten seriösen Tages- und Wochenpresse erschienenen Texte im Zeitraum November 1998 bis 31. Januar 2002, die die genannten Stichwörter enthalten und Stammzellforschung zur Thematik haben. Eckdaten für den ausgewählten Diskurszeitraum sind zum einen die biotechnische Innovation der ersten gelungenen Isolierung humaner embryonaler Stammzellen und der damit verbundenen Etablierung von Stammzelllinien in den USA durch Thomson et al. im November 1998 sowie die Bundestagsdebatte vom 30. Januar 2002, die über drei Gesetzesanträge zur Regelung des Imports humaner embryonaler Stammzellen debattierte und entschied. Insgesamt umfasst das Korpus zusammen mit den beiden Budestagsdebatten58 1055 Texte unterschiedlicher Komplexität, die analysiert worden sind59. Entsprechend der gewählten diskursrelevanten Medien ergibt sich die Reichweite des Diskurses. Der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung kann – in seiner Ausprägung als Pressediskurs60 – auf Grund der Zahlenbelege als ein Elitediskurs beschrieben werden. Zur Reichweite schreibt Hüffel:

58

Die beiden Bundestagsdebatten umfassen zusammen 82 Einzelreden, wovon 75 in das Textkorpus aufgenommen wurden. 59 Darüber hinaus sind im Quellenkorpus weitere Pressetexte aufgelistet, die zwar in die Diskursbeschreibung mit eingeflossen sind, aber nicht genau sprachlich analysiert wurden (z.B. Äußerungen Gerhard Schröders in der Wochenzeitung Die Woche im Dezember 2000), so dass das Quellenverzeichnis mehr als 1055 Texte enthält. 60 Der Diskurs in anderen Medien wurde nicht mitberücksichtigt, sodass hierzu keine Aussagen bezüglich der Reichweite und des Wirkungspotenzials gemacht werden können.

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

253

Unter den überregionalen Abonnementzeitungen liegt die Süddeutsche Zeitung (SZ) weiter vor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die SZ konnte mit 1,14 Millionen Lesern ihren Spitzenplatz unter den überregionalen Tageszeitungen behaupten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung belegt mit 900.000 Lesern Platz zwei hinter der SZ. [...] Die Frankfurter Rundschau hat laut MA 2001/II (= MediaAnalyse) 430.000 Leser pro Ausgabe. Insgesamt wurden in der Media-Analyse knapp 80 Tageszeitungen einzeln ausgewiesen. Für die Erhebung waren im Jahr 2000 rund 26.000 repräsentativ ausgewählte Deutsche ab 14 Jahren zu ihrer Zeitungslektüre befragt worden. (Hüffel 2001: 43)

Rechnet man die Reichweite der im Korpus vertretenen Tageszeitungen im Jahr 2001 zusammen, kommt man auf eine prozentuale Reichweite von 4,9%. Rechnet man die hier vertretene Wochenpresse hinzu (Zeit 2,6 % und Spiegel 9,8%), so kommt man auf eine Reichweite von 17,3%, wobei der Spiegel mit 9,8 % die größere Reichweite bei der hier zu Grunde liegenden Wochenpresse zu verzeichnen hat. 4.1.2.1 Printmedien als Ermöglichungsbedingung von Diskursen Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine ausgeprägte Presselandschaft; die je einzelnen Presseorgane bedienen unterschiedliche Adressatenkreise61 und sind dementsprechend in politischer Ausrichtung, in Sprachstil, Aufmachung sowie in ihrer Grundkonzeption unterschiedlich. Als politisch unterschiedlich ausgerichtete Medien stellen die einzelnen Medien je verschiedene Diskursräume dar, die je für sich als Ausschnitte aus der Gesamtöffentlichkeit begriffen werden können. Die Wahl ausschließlich überregionaler Presse liegt vor allem darin begründet, dass der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung vornehmlich in der überregionalen Presse geführt wurde.62 Die hier versammel-

61

62

Die jeweiligen Adressaten sind unterschiedlichen Milieus zuzuordnen, worauf bei der Charakterisierung der einzelnen hier zu Grunde liegenden Printmedien Bezug genommen wird. Vgl. hier die Mediadaten der einzelnen Presseorgane, die Auskunft über das Leserprofil geben. Für die SZ vgl. den Download zum Profil auf http://mediadaten.sueddeutsche.de/home/; für die FR http://www.fr-online.de/verlagsservice/mediadaten/, für die FAZ http://www.faz.net/s/RubEA6F83B943A04C4688E5C0F0969371C9/Doc~EB 5F4EE7FF9C04B149123F88DB8CDEE75~ATpl~Ecommon~Scontent.html, für die Zeit http://www.zeit.de/specials/mediadaten/index und für den Spiegel http://www.media. spiegel.de/ (Zuletzt zugegriffen am 30.12.2009). Die im Korpus vertretenen Presseorgane haben den Diskurs in seiner Ausprägung maßgeblich mit gestaltet bzw. zum Teil auch erst hervorgebracht (Vgl. dazu die Serien zur Thematik in den Organen Die Zeit, FAZ, SZ). Da die überregionalen Tageszeitungen von einer Vielzahl von Entscheidungsträgern und Bildungseliten gelesen werden, dürften sie doch trotz der im Vergleich zur Regionalpresse geringen Reichweite einen recht hohen Einfluss auf die öffentliche Meinung und die öffentliche Meinungsbildung haben. Die überregionalen Printmedien gehören zu den Massenmedien. „Gerade letztere sind ein re-

254

III

Anwendung

ten Printmedien bildeten sozusagen die Hauptarena des öffentlich-politischen Diskurses um humane embryonale Stammzellenforschung. Die hier untersuchten Publikationsorgane richten sich an Entscheidungsträger, die wiederum Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung sowie auf andere Medien haben. Sie fungieren damit als Bezugspunkt für andere Öffentlichkeitsforen. Wie bereits erwähnt, liegt die Besonderheit des Diskurses in seiner Konflikthaftigkeit, die zum einen durch die verschiedenen Medien aufgenommen und wiedergespiegelt wird, die aber auch erst durch die Medien konstituiert wird bzw. durch sie bedingt ist. Dieses Wechselverhältnis der Konfliktbeobachtung und Konfliktkonstruktion durch die Medien basiert auf der Eigenlogik der Massenmedien, der nach Luhmann bestimmte Selektionskriterien für die Darstellung von Nachrichten und Meinungskundgabe zu Grunde liegen. Bucher konstatiert in diesem Zusammenhang, dass Konflikte [...] immer auch mediale Beobachtungskonstrukte [sind], als Thema der Massenmedien allgegenwärtig und [sie] [...]so den Horizont [bilden], vor dem sich das Konfliktbewusstsein einer Gesellschaft herausbildet. Massenmedien schaffen durch die Berichterstattung Gegenstände, die zum Konfliktanlass werden können, sie können definieren, was als Konflikt gilt, sie stellen mit spezifischen Darstellungsformaten Foren für die öffentliche Konfliktaustragung bereit, sie wirken durch Konflikt- und Gewaltdarstellungen auf das soziale Handeln. Als „vierte Gewalt“ können Medien selbst zum Konfliktgegenstand und zum Konfliktakteur werden. (Bucher/Duckwitz 2005: 180)

U. a. ist gerade der Konfliktwert von Nachrichten ein zentrales Selektionskriterium (vgl. hierzu auch die Kapitel 2.3.3.4 und 2.4.3 dieser Arbeit). Demzufolge ist der bioethische Diskurs um Stammzellforschung besonders geeignet, um von den Medien wahrgenommen und mit konstitutiert zu werden, da er gekennzeichnet ist durch einander gegenüberstehende Positionen im Hinblick auf die in ihm verhandelten Fragen. Ebenso bestimmen die Medien zu einem großen Teil auch die Art und Weise des Diskursverlaufs, beispielsweise durch die Auswahl der in ihnen zur Sprache kommenden und sich einander gegenüber stehenden Diskursakteure. Indem sie aber dazu beitragen, welche Akteure wann und wie zu Wort kommen, welche Argumente wann und wie geäußert werden und indem sie dafür sorgen, dass die entsprechenden Positionen überhaupt den Eingang in die Medien finden, schaffen sie Wirklichkeit.

levantes Öffentlichkeitsforum, weil sie auf die gesellschaftliche Kommunikation themenund institutionenübergreifend auf Dauer stellen, für alle Gesellschaftsglieder beobachtbar sind (Gerhards/Neidhardt 1991:55), politischen u.a. Entscheidungsträgern als zentraler Indikator öffentlicher Meinung dienen [...]“ Gerhards/Schäfer (2008: 1), online abrufbar unter: http://www.polsoz.fu-berlin.de/soziologie/arbeitsbereiche/makrosoziologie/ mitarbeiter/wissenschaftliche/dateien/schaefer/dgs-artikel.pdf) (Zuletzt zugegriffen am 30.12.2009).

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

255

In diesem Zusammenhang handelt es sich um die Wirklichkeit des Konflikts um humane embryonale Stammzellforschung. Medien stellen in diesem Kontext demnach nicht nur das Forum für Meinungsäußerungen und Informationsverbreitung dar, sie sind selbst Akteure des Diskurses und damit Teilhaber und -nehmer des Konflikts (vgl. hier Bucher/Duckwitz 2005: 188). Der oben erwähnte allgemeine Konfliktbegriff muss hier nun erweitert werden hinsichtlich der am Konflikt Beteiligten: es gibt demnach unterschiedliche Konfliktparteien, die Medien als Ermöglichungsraum und Konfliktakteure zugleich sowie ein heterogenes und disperses Publikum, an das sich die Medien richten. Es handelt sich damit um eine komplexe Struktur, die sich auch sprachlich niederschlägt, da Konflikte in und durch Medien sprachlich konstituiert sind. Sie stellen also kommunikative Konflikte dar, die unter bestimmten Bedingungen ausgetragen werden, beispielsweise sind die kommunikativen Äußerungen auf Grund der komplexen Konstellation immer schon mehrfachadressiert. Sie konstituieren sich auf der Basis der in Kap. 2.3.3.4 und 2.4.3 dieser Arbeit erläuterten Selektionskriterien. Damit spiegeln sie aber nicht nur Gesellschaft wieder – wie das im Luhmannschen Spiegelmodell der Öffentlichkeit konstatiert wird – vielmehr deuten und konstruieren sie gesellschaftliche Wirklichkeiten.63 In den genannten Kapiteln dieser Arbeit ist von verschiedenen Öffentlichkeitsmodellen die Rede, die im Kontext der Medialität und der Konflikthaftigkeit des Diskurses zur Geltung kommen; Medien, hier die Printmedien, funktionieren zwar nicht nur, aber in erster Linie nach dem Spiegelmodell der Öffentlichkeit und verfolgen entsprechend ihrer Eigenlogik – wie bereits erwähnt – bestimmte Selektionskriterien im Hinblick auf die Vermittlung von Information bzw. Inhalten und Meinungskundgaben. Konflikte stellen dabei einen beliebten Gegenstand dar, den die Medien auf Grund des im Konflikt enthaltenen Aufmerksamkeitspotenzials für die Leserschaft gern aufnehmen, verbreiten und damit zugleich auch konstituieren. Zum Kriterium des Konfliktwerts von Nachrichten kommt das Kriterium des Prestigewerts hinzu, denn es ist – gerade auch im Stammzelldiskurs – nicht egal, wem das Wort erteilt wird. Zahlreiche Beiträge des Textkorpus stammen von namhaften Naturwissenschaftlern, Theologen, Philosophen,

63

In diesem Kontext merkt Bucher an: „Die Konfliktkonstellation verändert sich dadurch in zweierlei Hinsicht Grund legend: Erstens gibt es in Medienkonflikten im Unterschied zu Konflikten, die face-to-face ausgetragen werden, neben den Kontrahenten zwei weitere Akteursgruppen: das Publikum in Form der Medienrezipienten und die Medien selbst. Infolgedessen steht in einem Medienkonflikt nicht mehr die gegenseitige Beeinflussung der unmittelbaren Konfliktparteien im Vordergrund, sondern die der Medienakteure, da deren Handeln über den Einfluss auf das Publikum entscheidet.“ Bucher (2005: 188–189). Es ist demnach relevant, wie sich die Akteure positionieren und wie sie sich bemerkbar machen, damit sie von den Medien wahrgenommen werden.

256

III

Anwendung

Ethikern, Biologen, Juristen oder Politikern (vgl. hier zum Beispiel die Diskussionsserien in der Wochenzeitung Die Zeit). 4.1.2.2 Medienspezifika und Diskursverlauf Bei der Wahl der Printmedien wurde darauf geachtet, dass ein möglichst breites Spektrum an Meinungen abgebildet wird, was durch die je unterschiedliche politische Ausrichtung der hier favorisierten Presseorgane geleistet wird, wenngleich die Positionierungen im Diskurs quer zu den politischen Parteien verliefen64 und in allen Organen eine Pluralität an Meinungen vertreten war. Kein Presseorgan positionierte sich durch die Auswahl der dargestellten Positionen, vielmehr wurde von allen Organen eine Pro- und Contra-Auseinandersetzung fokussiert. (Vgl. hier insbesondere Die Zeit, FAZ, SZ; die zum Teil abwechselnd oder parallel Pro- und Contra-Positionen abdruckten). Die Berichterstattung kann bei allen Organen der Tagespresse als ausgewogen und differenziert betrachtet werden. Die drei Organe der seriösen Tagespresse bilden ein breites Spektrum der Meinungsbildung ab. Während die FAZ politisch eher liberalkonservativ ausgerichtet ist, gilt die politische Ausrichtung der SZ eher als links-liberal bzw. liberal-kritisch und die der FR als sozialliberal bis sozialdemokratisch. Bezogen auf den Diskurs um Stammzellforschung spielen die politischen Ausrichtungen der Tages- und Wochenpresse insofern keine Rolle, als der Diskurs quer zu den politischen Lagern verläuft. Demzufolge sind die Presseorgane hinsichtlich des Stammzelldiskurses auch äußerst heterogen in der Darstellung und Kommentierung des strittigen Sachverhaltes. In allen drei Tageszeitungen finden sich somit äußerst unterschiedliche Positionen. Jahr

Anzahl der Dokumente gesamt

SZ

FAZ

FR

Spiegel

Die Zeit

1998

11

5

2

1

2

1

1999

27

12

5

7

1

2

2000

102

35

47

12

2

6

2001

702

200

251

190

22

39

2002 65

138

44

48

39

4

3

Übersicht 4.1-3: Diachrone Verteilung der Texte nach Printmedienorganen

65

64 Das verdeutlichen beispielsweise die drei unterschiedlichen Gesetzesanträge. Die einzelnen Anträge wurden durch Mitglieder der unterschiedlichsten Parteien unterstützt. Vgl. BT (2002). 65 Im Jahr 2002 findet nur der Januar Beachtung.

4

Analyse des Bioethikdiskurses um embryonale Stammzellforschung

257

Anzahl

Texte Januar 2000 – Januar 2002 Tagespresse 800 700 600 500 400 300 200 100 0

2000 2001 2002

gesamt

SZ

FAZ

FR

Printmedien

Übersicht 4.1-4: Textvorkommen 2000–2002 Tagespresse

Textvorkommen SZ, FR, FAZ Januar 01 bis Januar 02 60

Anzahl

50 40 30

SZ

20

FR

10

FAZ Se t pt em be r O kt ob e N ov r em be r D ez em be r Ja n 02

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Übersicht 4.1-5: Verteilung der Medientexte von Januar 2001 bis Januar 2002

Die Dichte der Textproduktion nimmt im Jahr 2001 deutlich zu, was durch außersprachliche Ereignisse sowie durch zentrale sprachliche Ereignisse bestimmt wurde. Eine starke Zunahme der Textproduktion ist vor allem für die Monate Mai und Juni zu verzeichnen. Bis September nimmt die Textproduktion wieder ab und steigt im November noch einmal kurz an. Unterbrochen wird die Textproduktion für kurze Zeit durch die Monate September und Oktober. Erst im November steigt die Textproduktion wieder deutlich an. Im Januar 2002 ist die Textproduktion höher als im Mai 2001. Anhand

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dieser Zahlen wird noch einmal deutlich, welche Rolle die bereits genannten Ereignisse für die Medienberichterstattung und -kommentierung spielen. Der Diskurs wird durch die Medien zugänglich gemacht, die Medien bringen in gewisser Weise den Diskurs auch erst hervor. Andererseits spiegeln bzw. reflektieren die Medien die diskursiven Ereignisse. An der Textproduktion wird insbesondere deutlich, wie dynamisch, prozessual und diskontinuierlich die Erscheinung und Existenz des Diskurses um humane embryonale Stammzellforschung ist. Es handelt sich nämlich nicht um eine lineare Zunahme der Textproduktion, vielmehr kommen hier die Diskursmerkmale der Diskontinuität, Prozessualität, Dynamik und Serialität zur Geltung. Je nach Ereignislage kommt es zur verstärkten Textproduktion, die dann wieder abflaut und je nach Ereignis wieder ansteigt. Der Deskription quantitativer Merkmale des Diskurses ist notwendigerweise eine qualitative Beschreibung hinzuzufügen, um den Diskurs adäquat beschreiben und erfassen zu können. In qualitativer Hinsicht lässt sich eine Änderung der Themenbehandlung feststellen. Während ganz zu Beginn des Diskurses naturwissenschaftliche Erläuterungen dominierten, werden diese bereits im Jahre 1999 von ethischen und rechtlichen Aspekten der Stammzellforschung überlagert, was von der Diskurssituation abhängig ist und sich natürlich auch sprachlich manifestiert. Die quantitative Diskursentwicklung lässt zudem Rückschlüsse auf die qualitative Entwicklung zu, insofern sich die Heftigkeit des geführten Diskurses in der kontroversen Behandlung der Themen niederschlägt. Den sprachlichen Phänomenen gilt im Anschluss an die Darstellung der Makroebene des Diskurses besondere Aufmerksamkeit. Ihre Analyse soll weiteren Aufschluss über die Diskursstruktur geben. Die Anfangsphase des Diskurses verläuft zunächst sehr verhalten. Es ist nicht nur das Ereignis der ersten gelungenen Isolierung humaner embryonaler Stammzellen, was den Diskurs konstituiert, sondern vor allem die folgenden Problematisierungen in den einzelnen Fachdomänen, die in der Öffentlichkeit ausgetragen werden und die die Thematik immer wieder aufgreifen. Hier greift das Merkmal der Serialität, um diese Situation zu beschreiben. Erst durch ein serielles Erscheinen von Texten zur Thematik wird der Diskurs nach und nach, d. h. prozessual hervorgebracht. Die ersten Berichte um die neue technische Möglichkeit der Isolierung humaner embryonaler Stammzellen und der damit in Zusammenhang gebrachten Therapieaussichten fokussierten zunächst die Beschreibung der Technik, wobei aber bereits ethische und rechtliche Fragen aufgeworfen und eine öffentliche Debatte angemahnt wird. So schreibt beispielsweise die SZ v. 10.11.98: Auch die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen würde eine Fülle von neuen ethischen Problemen aufwerfen. Immerhin stammen die Zellen aus überzähligen Embryonen, die die Eltern nach einer künstlichen Befruchtung zur Verfügung gestellt hatten. »In Deutschland sind solche Experimente durch das

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Embryonenschutzgesetz verboten, nicht aber die Verwendung der Zellinien«, sagt Haverich. Doch auch der Chirurg muß erst einmal nachdenken: »In Hannover werden wir solche Zellen vorerst nicht einsetzen«, kündigt er an. Aber er möchte das enorme medizinische Potential der Zellen nicht ungenutzt lassen: »Wir müssen jetzt öffentlich diskutieren, ob und wozu wir solche Zellen verwenden wollen.«

Bereits im Jahr 1999 und dann vermehrt in den Jahren 2000 bis 2002 werden die ethischen und moralischen Implikationen der neuen Technik, die Umstrittenheit der Kategorien des Lebensschutzes, der Menschenwürde, des Status von Embryonen, die rechtlichen Regelungen sowie der in der Öffentlichkeit zu führende Diskurs zu zentralen Fragestellungen des Diskurses und Anlass zu konfligierenden Auseinandersetzungen der Diskursakteure. Die Thematisierung des Diskurses als ein in der Öffentlichkeit zu führender Diskurs erfolgte vor allem in den beiden Bundestagsdebatten. Das Jahr 1999 kann insgesamt hinsichtlich der Textproduktion und Diskursentwicklung als noch sehr verhalten beurteilt werden, wie den Grafiken zur Textproduktion zu entnehmen ist. Stammzellforschung wird in den Printmedien zwar thematisiert, jedoch nicht mit Nachdruck. Erst durch Ereignisse wie die Gesetzgebung in Großbritannien oder der Antrag des Neuropathologen Oliver Brüstle wird die Textproduktion angeregt, zum einen um über die mit der Stammzellforschung zusammenhängenden Ereignisse zu berichten oder zum anderen um diese Ereignisse zu kommentieren/zu bewerten/zu beurteilen. Da der Bedarf einer rechtlichen Lösung der Stammzellproblematik in der Öffentlichkeit noch nicht von besonderer Relevanz war, wurde dieser Thematik anfangs nur in geringem Ausmaß Aufmerksamkeit in den Medien geschenkt. Das änderte sich aber dann im Laufe des Jahres 2000. Ein verhaltener Anstieg ist auch noch für den Beginn des Jahres 2000 zu verzeichnen. Die Situation ändert sich erst im August und gegen Ende des Jahres. Oliver Brüstle stellte im Sommer 2000 einen Antrag bei der DFG zur Förderung eines Forschungsprojektes mit humanen embryonalen Stammzellen, was in den Medien thematisiert wurde und auf Grund des Konfliktpotenzials Aufmerksamkeit erregte. Ende 2000 gab es verschiedene Ereignisse, die die Textproduktion innerhalb des Stammzelldiskurses deutlich anregten und diesen in seiner Fortführung beeinflussten. In erster Linie ist hier die Situation in Großbritannien anzuführen. Das britische Unterhaus entschied sich im Dezember 2000 für das therapeutische Klonen von Embryonen bis zum 14. Tag nach der Befruchtung. Ebenfalls diskursbelebend wirkte sich ein Beitrag Gerhard Schröders in der Wochenzeitschrift Die Woche vom 20. 12. 2000 aus, in der er vor „ideologischen Scheuklappen“ warnte. Entsprechend häufig wurde seine Aussage von den „ideologischen Scheuklappen“ zitiert und sein Ansinnen thematisiert bzw. kommentiert. Als Höhepunkt des Diskurses ist im Unter-

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suchungszeitraum eindeutig das Jahr 2001 auszumachen. Der Diskurs hatte sich zum Ende des Jahres 2000 hin zu einer grundsätzlichen Diskussion um den Status von Embryonen entwickelt. Dass der Höhepunkt des Diskurses im analysierten Diskurszeitraum in das Jahr 2001, und hier vornehmlich in die Monate Mai, Juni und Juli sowie Dezember fällt, hängt mit verschiedenen öffentlichen und politischen Ereignissen zusammen. (Vgl. hierzu Übersichten 4.1-1 und 4.1-2) Für den genannten Untersuchungszeitraum ist im Januar 2002 die höchste Textproduktivität zu konstatieren, was mit der für den 30.1.2002 angesetzten Bundestagsdebatte, in der über drei Anträge zu einem Stammzellgesetz debattiert wurde, zusammenhängt. Der Verlauf des Diskurses lässt sich darüber hinaus über die Stellung der einzelnen Texte innerhalb des komplexen Beziehungsgeflechts Diskurs beschreiben. Die Stellung der Texte im Diskurs kann durch folgende Merkmale charakterisiert werden: initial, prozessual und terminal. Initialfunktion hat in dem zusammengestellten Korpus der wissenschaftliche Bericht über die erste gelungene Isolierung menschlicher Stammzellen von Thomson et al. in der Fachzeitschrift Science im November 1998. Terminale Funktion haben für die Untersuchung die Debattenreden der zweiten Bundestagsdebatte. Texte mit dem Merkmal prozessual liegen dazwischen. Die Texte können hinsichtlich ihrer Relevanz für den Diskurs noch unterschieden werden in dominierende Texte, diskurstranszendente, diskursimmanente, diskursperiphere sowie in metatextuelle Texte (zumeist Texte der Printmedien: Nachricht über etwas, Kommentar, Bericht etc., diese Texte basieren auf einem Primärtext über den sie berichten) und metadiskursive Texte. Metadiskursive Texte sind gekennzeichnet durch eine explizite Thematisierung des Diskursverlaufs oder der Thematisierung des Gebrauchs von Argumentationsmustern. (Vgl. hier z. B. SZ vom 31.01.02c, FAZ vom 05.03.01 und FR vom 25.06.01) Diskurstranszendente Texte gehören zu mehreren Diskursen, diskursimmanente nur zu einem Diskurs. Diskursperiphere Texte thematisieren den Gegenstand nur als Nebenthema und sind oftmals zugleich diskurstranszendent; metadiskursive Texte thematisieren die Debatte selbst, sie sind als Reinform in diesem Diskurs sehr selten, doch können Texte metadiskursive Äußerungen enthalten, wie folgende Äußerungen von Andrea Fischer und Gerhard Schröder in der Bundestagsdebatte vom 31.05.01 deutlich machen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass wir heute diese ungewöhnliche Debatte im Bundestag führen, hat damit zu tun – das wurde schon gesagt –, dass unser Wissen um den Menschen durch die rasanten Fortschritte der biotechnischen Wissenschaften in den letzten Jahren unglaublich gestiegen ist. (Andrea Fischer, MdB Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdebatte [=BD] 31.5.01) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, das Wichtigste, was in dieser Debatte deutlich geworden ist, ist, dass wir nicht nur für die Inhalte dessen, was gesagt wird, sondern auch für die Form Verantwortung haben und nach dem

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Ablauf der Debatte auch wahren. Deswegen war es wohltuend, dass hier niemand dem Andersdenkenden Gewissen, Moral, auch Ernsthaftigkeit abgesprochen hat. (Gerhard Schröder, MdB SPD, BD 31.5.01)

Dominierend sind Texte dann, wenn sie den Verlauf des Diskurses entscheidend bestimmen und eine Menge an Texten nach sich ziehen, also Bedingungsmöglichkeit für neue Texte zur Thematik darstellen. Für die Stammzelldebatte wären das beispielsweise66 die Debattenreden der Bundestagsdebatten, eine Stellungnahme des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder, in der er von „einer Politik ideologischer Scheuklappen“ sprach (Die Woche, 20.12.2000), die Berliner Rede Raus vom 18.5.2001, die Rede Hubert Markls (abgedruckt in der FAZ vom 22.6.01), die eine Reaktion auf Raus Rede darstellt, ein Interview Schröders in der FAZ vom 3.5.01, die Stellungnahmen der DFG von 1999 und 200167, der Enquete-Kommission, des Nationalen Ethikrats und der Kirchen, die Texte der Debatte in der Wochenzeitung Die Zeit, die von namhaften Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftlern geführt wurde und zahlreiche Texte der FAZ und der SZ, die auf die ZeitTexte reagierten.68 Dominante Texte spiegeln zudem die diskursrelevanten Ereignisse wieder, da von diesen – wenn sie selbst nicht Texte sind – in den Medien berichtet wird. Fast alle Texte sind zudem diskurstranszendent, da sie zugleich anderen Diskursen zugeordnet werden können. Die Diskurstexte wurden für das Untersuchungskorpus so ausgewählt, dass die im Korpus versammelten Texte humane embryonale Stammzellforschung zum Hauptthema haben. 4.1.2.3 Textsortenspektrum Wie bereits angedeutet, konstituiert sich das Untersuchungskorpus aus unterschiedlichen Textsorten. Da der Textsortenbegriff in der Linguistik uneinheitlich verwendet wird, soll es hier zunächst kurz um eine Problematisierung und Klärung der Terminologie gehen. Neben der Frage nach den Textualitätskriterien und Beschreibungsdimensionen von Texten hat sich die Textlinguistik zugleich auch mit dem Aspekt des Typologisierens von Texten befasst. Es geht also hier nicht nur 66 Nicht alle Texte, die den Diskursverlauf bestimmen, können hier aufgezählt werden, aber die genannten sind sehr zentrale, den Diskursverlauf signifi kant bestimmende Texte. 67 Diese wurden im Textkorpus nur im Kontext der Medienberichterstattung und -kommentierung beachtet und nicht extra analysiert. 68 Die Reaktionen in SZ, FR und FAZ können hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Eine gute Zusammenstellung zentraler Diskurstexte findet sich in Geyer 2001 sowie im ZEIT-Dokument Stammzellforschung 1/2002. Ebenfalls stehen zahlreiche Texte im Archiv der Wochenzeitung DIE ZEIT zum Download unter http://www.diezeit.de zur Verfügung.

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darum, welche Kriterien Textualität ausmachen und hinsichtlich welcher Dimensionen sich Texte beschreiben lassen, sondern auch um die Frage, worin sich die einzelnen Texte unterscheiden und wie sich diese typologisieren lassen.69 Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass konkrete Texte immer auch Repräsentanten bzw. konkrete Realisationen von bestimmten Textsorten darstellen (vgl. Brinker 62005). Im Folgenden soll es also um den Aspekt der Typologisierung von Texten im Hinblick auf die im Korpus enthaltenen Pressetextsorten und öffentlich-politischen Textsorten gehen. Textsorten stellen Gruppen von Texten dar, die entsprechend des im Methodenkapitel vorgestellten Textbeschreibungsmodells Ähnlichkeiten bezüglich der vier Beschreibungsdimensionen aufweisen und als musterhafte, sprachliche Phänomene in Erscheinung treten, die bezüglich des Textverstehens und der Textproduktion Orientierung bieten und zugleich durch diese Prozesse hervorgebracht werden.70 Dabei bestehen Textsorten aus einem Bündel von heterogenen Merkmalen, die mit dem in Kapitel 3 vorgestellten Mehrebenenmodell erfasst werden können, sich also sowohl aus textinternen als auch textexternen Merkmalen konstituieren. Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben. (Brinker 62005: 144)

69 70

Vgl. zur Textsortenklassifi kation z. B.Adamzik (2004); vgl. Bachmann-Stein (2004: 25– 76); vgl. Brinker ( 62005); vgl. Fix (2008a); vgl. Heinemann/Heinemann (2002); vgl. Rolf (1993); vgl. Stein (2004); vgl. Hausendorf/Kesselheim (2008). Vgl. Fix (2006); vgl. Heinemann/Heinemann (2002: 130–135); vgl. Schmidt/Weischenberg (1994). In der Linguistik besteht im Hinblick auf die Begriffe Textsorte, Textmuster und Textklasse eine uneinheitliche Verwendungsweise. Neben dem Terminus Textsorte existieren noch weitere Termini, die zum Teil synonym in Gebrauch sind, sich zum Teil aber auf unterschiedliche Gegenstände beziehen bzw. unterschiedliche Merkmale umfassen. Bachmann-Stein (2004) verweist auf die Problematik und Schwierigkeit einer einheitlichen Bestimmung des Textsortenbegriffes. „Es finden sich neben ‚Textsorte‘, auch einige andere Bezeichnungen, z. B. ‚Texttyp‘, ‚Textmuster‘, ‚Textart‘ ‚Textklasse‘, die zum Teil synonym verwendet werden, zum Teil aber auch auf andere Gegenstände verweisen. [...] Die Schwierigkeit einer einheitlichen Begriffsbestimmung resultiert zum einen aus den unterschiedlich relevant gesetzten Differenzierungskriterien von Textsorten; so lassen sich Textsorten u.a. differenzieren nach ihrem Umfang, nach dem Grad der Standardisiertheit [...], nach dem Thema und der Art der Themenbehandlung oder nach der medialen Realisierung [...]. Zum anderen resultiert die Schwierigkeit aus den ‚unterschiedlichen Abstraktionsniveaus‘, auf denen Texte klassifiziert werden können [...].“ (Bachmann-Stein 2004: 27) Zur Entwicklung des Textsortenbegriffs innerhalb der Linguistik vgl. Bachmann-Stein (2004: 27–30).

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Textsorten werden hier demnach als komplexe Sprachhandlungstypen bzw. Handlungseinheiten aufgefasst, wobei nochmals zwischen Textsorte und Textmuster differenziert werden muss.71 Unter Textmustern sollen hier allgemeine kognitive Rahmen-/Verfahrensvorgaben, also kognitive Prozesse zur Generierung und zum Verstehen/Verarbeiten konkreter Texte [verstanden werden], während ‚Textsorten‘ Ergebnisse kognitiver Operationen – bezogen auf konkrete Textexemplare und deren Merkmale – [...] darstellen, deren Fundierung sich aus der Merkmalhaftigkeit der Textexemplare ergibt. (Heinemann/Heinemann 2002: 140; Hervorhebung im Original)

Bei den hier zu Grunde liegenden Textsorten handelt es sich zumeist um massenmediale Textsorten. Medienspezifische Aspekte sind aus diesem Grund bei der Beschreibung dieser Textsorten hinzuzuziehen. Zur Typologisierung von Printmedientextsorten wurden verschiedene Vorschläge gemacht72, die je unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Das in Kapitel 3 dieser Arbeit vorgestellte und weiter entwickelte, holistische, dynamische und flexible Textbeschreibungsmodell kann eine mehrdimensionale und flexible Beschreibung von Textsorten insofern leisten, als es hinsichtlich seiner Dimensionen offen für unterschiedliche Beschreibungsaspekte ist, die je nach Perspektive in den Vorder- bzw. in den Hintergrund treten können. Dabei wird von der Prototypikalität des Textbegriffes ausgegangen. In die Klassifikation fließen strukturelle, funktionale, semantische sowie situationelle und kontextuelle Kriterien ein. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die situationellen und kontextuellen, also auf textexterne Kriterien73, die gerade im Hinblick auf massenmediale Texte von großer Bedeutung sind und sämtliches verstehensrelevantes Wissen umfassen, gelegt. Fix (2006) schlägt diesbezüglich ein Modell zur Veranschaulichung des Textsortenwissens vor, das verschiedene Ebenen und Formen des Wissens, die sowohl bei Textproduktion als auch bei der Textrezeption eine Rolle spielen, expliziert. Fix unterscheidet dabei zunächst in Konzeptionswissen, Realisierungswissen und Routinewissen. Auf der Ebene des Konzeptionswissens verortet sie Kommunikationsnormenwissen (Aufrichtigkeit, Objektivität, Verständlichkeit, situative Angemessenheit), Weltwissen (Frames, Prototypen, Begriffe) und Wissen über Kuluturalität (Verhaltenssysteme, Wertsysteme, Tabus), die Ebene des Realisierungswissens umfasst linguistisches Makrostrukturwissen (Kohärenzprinzip, Textaufbau, Textgliederung), Mikrostrukturwissen (Kohäsionstechniken, Syntax, Lexik) und Wisssen über kulturelle Kodes 71 72 73

Vgl. hier Heinemann/Heinemann (2002); vgl. Bachmann-Stein (2004); vgl. Fix (2008a). Vgl. Lüger (1995); vgl. Bucher (1986); vgl. Straßner (2000); vgl. Burger (32005); vgl. Kübler (2000); vgl. Schmidt/ Weischenberg (1994). Zur Explikation der situationellen und kontextuellen Kriterien vgl. Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit.

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Anwendung

(Kommunikation und Zeichensysteme, proxemische Kodes, kinesische Kodes, parasprachliche Kodes, visuelle Kodes, ästhetische Kodes), das Routinewissen bezieht sich auf die Schreibung und Interpunktion sowie auf literale Routinen. (Vgl. dazu Fix 2006: 26) Textsorten gelten dabei als durch Sozialisation erlernte Muster bzw. Schemata74, die bei den Rezipienten und Produzenten als Textsortenwissen vorausgesetzt werden können.75 Entsprechend dieser Voraussetzungen spielen gewisse Erwartungen, Werthaltungen oder Einstellungen bei der Rezeption von Textsorten und der damit verbundenen Zuordnung zu Mustern etc. eine entscheidende Rolle (vgl. dazu auch Heinemann/Heinemann 2002: 122–129). Schemata entstehen nicht im isolierten Handeln, sondern durch Interaktion mit Handlungspartnern in bestimmten Handlungssituationen. Das heißt, sie werden im Laufe der Sozialisation als überindividuelle, intersubjektiv wirksame Ordnungsmuster oder Programme im Individuum aufgebaut. Eben diese Intersubjektivität sowie die Verwendung von Namen für solche Schemata sorgen dafür, daß wir über unsere durchaus subjektabhängigen Schematisierungen der Erfahrungswirklichkeit erfolgreich miteinander kommunizieren und interagieren können, da wir erwarten, daß andere vergleichbare Schematisierungen verwenden. (Schmidt/Weischenberg 1994: 214)76

Textmuster als kognitive Orientierungsrahmen stellen ein Teil des Wissens der Interaktions- und Kommunikationsteilnehmer dar, Textmuster haben zudem prototypischen Charakter (Bachmann-Stein 2004: 32). Von Textsorten „als finite[r] Menge von Textexemplaren mit spezifischen Gemeinsamkeiten“ (Heinemann 2000: 519) kann auf Textmuster geschlossen werden. Ebenso ist das Wissen um ein Textmuster die notwendige Bedingung für die Zuordnung konkreter Textexemplare zu bestimmten Textsorten. Ein solches Textmusterwissen kann bei Mitgliedern einer Kultur- und Kommunikationsgemeinschaft als bekannt vorausgesetzt werden, d. h. die Kommunikationsteilnehmer haben durch Sozialisation diese Muster als intuitives Alltagswissen verinnerlicht. Durch die Orientierung an konventionalisierten Mustern wird Kommunikation wesentlich erleichtert, insofern sich die an der Kommunikation

74 75 76

Lüger (1995) definiert Textsorten „im Anschluß an eine kommunikationsorientierte TextKonzeption [...] als Sprachhandlungsschemata [...], die mit bestimmten Textmustern und -strategien jeweils spezifische Vermittlungsaufgaben erfüllen.“ Lüger (1995: 77). Dieses Textsortenwissen ist implizit bzw. unbewusst vorhanden und je nach Sozialisation unterschiedlich ausgeprägt. Vgl. hierzu Fix (2006). Zur Orientierung an Schemata vgl. auch Berger/Luckmann (202004) oder Baier (1977), die auf die Typisierung von Situationen eingehen und die Orientierung an Typisierung als notwendig für die Bewältigung der komplexen Erfahrungswirklichkeit betrachten. Textmusterwissen ist vielschichtig und heterogen, es beinhaltet beispielsweise das Wissen um typische Formulierungsmuster, aber auch Wissen um Situationen, Situationsrollen und Situationstypen.

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Beteiligten des Handlungsverlaufes bis zu einem gewissen Grad sicher sein können. Auf Grund der Musterhaftigkeit der Handlungen und des Wissens darum sind bestimmte Abläufe erwartbar. Das Wissen um solche Muster erleichtert und steuert somit die Kommunikation einerseits und die Interpretation des Handelns andererseits, da Muster immer auch Einfluss auf die Situation und damit auf das Verstehen ausüben.77 Textmusterwissen ermöglicht also die Orientierung an bekannten, durch Sozialisation erlernten Schemata, zugleich können aber diese Muster durch den Gebrauch Veränderung erfahren. Textrezeptionsprozesse sind immer relationale Prozesse, weil sie das neu Erfahrene, hier das aktuelle Textexemplar, zu dem schon Erfahrenen, der Menge aller von einem Individuum bereits produzierten und rezipierten Texte, in Beziehung setzen. Das heißt, ohne Textmuster wissen gäbe es kein vollständiges Verstehen von Texten. Die pragmatisch-soziale Dimension fiele weg und damit die »Finalität« der Texte. (Fix 2006: 265)

Die Darstellung der Textsorten beschränkt sich hier ausschließlich auf im Textkorpus vorkommende, den Textsorten zuzuordnende Textexemplare. Basiskriterium für die Klassifizierung ist hier die Funktion der Texte, die natürlich von weiteren sowohl textinternen als auch textexternen Kriterien abhängig ist und diese wiederum beeinflussen. Das Textsortenspektrum des in der Presse geführten Stammzelldiskurses ist sehr breit. Es umfasst nicht nur genuine, schriftlich verfasste Pressetextsorten, sondern beinhaltet auch (zum Teil mündlich verfasste) Textsorten, auf die in den Texten immer wieder rekurriert wird und die in der Öffentlichkeit oder in bestimmten Institutionen relevant sind, es handelt sich dabei vor allem um die Textsorten Politische Rede, Gesetzesantrag und Gesetz. Das zu Grunde liegende Textsortenspektrum kann mit Lüger (1995) in zunächst informationsbetonte Pressetextsorten wie Meldung, Nachricht, Bericht, Reportage, Dokumentation sowie in meinungsbetonte (Presse-)Textsorten78 wie poli77 Vgl. hierzu auch Günthner/Knoblauch (1994), die die Routinisierung durch Musterwissen hinsichtlich mündlicher Gattungen hervorheben. „So bedient sich das kommunikative Handeln aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat abgeleiteter, vorgefertigter Muster und Gattungen. Diese wissenssoziologische Grundeinsicht hat für das kommunikative Handeln allerdings weitreichende Konsequenzen. Gesellschaftlich Relevantes wird dann mithilfe konventionalisierter Vermittlungsmuster, also kommunikativer Gattungen, an die Individuen vermittelt – eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Vergesellschaftung des Individuums. Denn überall dort, wo es in der Kommunikation um gesellschaftlich relevante Wissensvermittlung geht, erfolgt eine Routinisierung. Die Koordination wiederholt anfallender kommunikativer Handlungen wird durch die vorgefertigten Muster erleichtert.“ Günthner/Knoblauch (1994: 699f.). 78 Die Trennung in meinungsbetonte, informationsbetonte und regulative Textsorten erfolgt hier mit dem Wissen darum, dass auch informationsbetonte und regulative Textsorten nicht frei von bewertenden Elementen sind und eine Trennung in bewertende und neu-

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tische Rede, Kommentar, Leitartikel, Glosse, Leserbrief, feuilletonistisch-fachlicher Essay unterschieden werden79. Entsprechend der Textvorkommnisse bietet es sich darüber hinaus an, noch in Textsorten mit regulativer Grundfunktion zu differenzieren (vgl. Grünert 1984 und Herrgen 2000: 44f.). Informationsbetonte Texte bilden auf Grund ihrer dominanten Informationsfunktion eine Textklasse, meinungsbetonte Texte auf Grund der im Vordergrund stehenden Bewertungsfunktion.80 Regulative Texte bilden auf Grund des dominanten Beziehungsgefüges zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ bzw. zwischen ‚Regierenden und Regierten‘ eine Textklasse. In ihnen kommt eine bestimmte Form von Macht zur Geltung. Darüber hinaus haben sie instruierenden Charakter, insofern sie präskriptive Elemente enthalten. Charakteristisch für die im Folgenden näher zu beschreibenden Textsorten ist die zeitliche und räumliche Trennung zwischen Emittent und Rezipient sowie deren – im Gegensatz zum Gespräch – zunächst monologische Kommunikationsrichtung. Betrachtet man aber die Diskurstexte im Zusammenhang, so kann man nicht mehr nur von einer monologischen Kommunikationsrichtung sprechen. Die vielfache Vernetzung der Einzeltexte untereinander durch implizite oder explizite Bezugnahmen deutet auf Diskursebene auf eine dialogische Konzeptionierung hin.81

trale Textsorten schon auf Grund sprachstruktureller Voraussetzungen nie gegeben sein kann. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 1 und 2 dieser Arbeit. 79 Die politische Rede kann nicht als genuine Pressetextsorte angesehen werden, wenngleich sie häufig in den Printmedien abgedruckt wird (gerade im Bioethikdiskurs um Stammzellforschung war dies der Fall). 80 Vgl. hierzu Lüger (1995). Es besteht hier eine gewisse Unklarheit in der Abgrenzung zwischen appellativen, bewertenden und informativen Textsorten. Brinker (62005) und Grünert (1984) verweisen darauf, dass eine klare Abgrenzung kaum möglich ist. Demzufolge spricht Grünert (1984) auch von informativ-persuasiver Textfunktion. Hier kommen beide Aspekte, der Informationsaspekt und der Bewertungsaspekt, zur Geltung. Die Klassifizierungskategorien informationsbetont und meinungsbetont sollten meines Erachtens als Tendenzen aufgefasst werden, die die Texte in ihrer dominanten Funktion bestimmen. 81 Vgl. hierzu auch Bucher (1986). Bucher betrachtet insbesondere Pressetexte als dialogisch ausgerichtet, insofern sie in „Kommunikationstexte“ eingebettet sind. Aus diesem Grund sollten Pressetexte auch nicht isoliert, sondern in ihrem Kommunikationszusammenhang betrachtet werden. „Die für eine Klasse von Texten typische Funktion angeben, heißt, ihre (möglichen) Stellung(en) innerhalb der Grundstruktur von Textsequenzen angeben.“ Bucher (1986: 63f.). Bucher geht davon aus, dass Textsequenzen in der Presse dialogisch strukturiert sind. „Ich gehe davon aus, daß die Eigenschaften einzelner monologischer Handlungsmuster der Pressekommunikation, also einzelner Textsorten, nur sinnvoll zu beschreiben sind, wenn ihre Einbettung in die öffentlichen Kommunikationsnetze berücksichtigt wird. Diese strukturelle Betrachtungsweise [können wir] [...] wegen ihrer Analogie zu dialogischen Kommunikationsformen auch als dialogisch bezeichnen [...].“ Bucher (1986: 64). Deutlich wird diese Struktur im Zusammenspiel beispielsweise der Textsorten Bericht, Kommentar und Leserbrief, wobei diese Textsorten immer schon „reaktive Kommunikationsformen“ darstellen. Anhand von redaktionell eingesetzten Querver weisen,

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Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Klassen bildende Kriterium die dominante Textfunktion ist. Neben der zentralen Textfunktion stellt die Art der Themenentfaltung ein weiteres relevantes Differenzierungskriterium dar. Im Diskurs spielen die deskripitive, die argumentative und die explikative Themenentfaltung eine Rolle, wobei der jeweilige Themenentfaltungstyp nicht auf eine bestimmte Textklasse beschränkt ist. Entsprechend der in Kapitel 3 vorgestellten Untersuchungsmethode wird davon ausgegangen, dass bei Klassifizierungskriterien (sowohl bei der Feststellung der Textfunktion als auch bei der Form der Themenentfaltung) immer auch textexterne Faktoren von zentraler Bedeutung sind. Im Folgenden sollen typische Merkmale der im Diskurs vorkommenden Textsorten kurz erläutert werden. Bei der Darstellung der Textsorten wird eine Einteilung in meinungsbetonte und informationsbetonte Textorten vorgenommen, wohl wissend, dass eine strikte Trennung von Meinung und Information innerhalb der Texte nicht möglich ist. Vielmehr muss von graduellen Unterschieden der einzelnen Textsorten ausgegangen werden. Es geht hier also um die Dominanz des jeweiligen Merkmals nicht um dessen ausschließliche Geltung (siehe Übersicht 4.1-6). Meinungsbetonte Textsorten Bei meinungsbetonten Textsorten steht die Bewertungsdimension des sprachlichen Handelns – realisiert durch implizite Einstellungskundgaben oder durch explizite Bewertungshandlungen – deutlich im Vordergrund, wenngleich die Texte immer auch Information enthalten. Die Vermittlung der Information ist jedoch perspektiviert. Zu den meinungsbetonten Textsorten zählen: politische Rede/Debattenrede, unterschiedliche Formen von Kommentaren, Leserbrief, Meinungsinterview, Antrag, Stellungnahme. Bewertungen können

mithilfe derer auf nachfolgende Beiträge verwiesen wird oder redaktionellen Einleitungen, die die Beiträge einordnen sowie die Art und Weise des intertextuellen Rekurses in Kommentaren auf bereits eingeführte Texte wird Dialogizität realisiert. Bucher (1986: 65). Aber auch Einzeltexte können nach Bucher in ihrer Struktur dialogisch konzipiert sein. „Das einer Textsequenz zu Grunde liegende Sequenzmuster kann auch innerhalb eines Einzeltextes realisiert werden. Wenn in einem Kommentar mit berichtenden Passagen der Kommentierungsgegenstand eingeführt oder in Erinnerung gerufen wird, so ist dieser Text gleichsam in Antizipation dialogisch konzipiert.“ Bucher (1986: 69). Dieser Sichtweise entspricht das in Kapitel 2 dargestellte Merkmal der Intertextualität immer schon in diskursiven Bezügen stehender Texte und das den Diskursbegriff basierende Faktorenmodell der Kommunikation. (Vgl. Kap 2.3.5 dieser Arbeit). Allerdings fasst Bucher die Textsorte Bericht als monologisch strukturiert auf, da diese neue Ereignisse bzw. Informationen einführt. Meines Erachtens ist aber auch der Bericht dialogisch strukturiert, insofern er immer schon an vorhandenem, v.a. kulturellem Wissen anknüpft und in Kontexte sowie kommunikative Zusammenhänge eingebettet ist, auf die der Bericht rekurrieren muss, um verstanden zu werden.

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III

Anwendung

Anzahl meinungsbetonter Texte im Diskurs Kommentar

Anzahl informationsbetonter Texte im Diskurs 272 Bericht

444

politische Rede

80 Meldung

118

Leserbrief

54 Reportage

12

Interview

67

Stellungnahmen Gesamt

8 481 ( ca 46%) Gesamt

574 ( ca 54%)

Übersicht 4.1-6: Anzahl meinungsbetonter und informationsbetonter Textsorten im Diskurskorpus

sprachlich auf unterschiedliche Art und Weise sowie auf unterschiedlichen Sprachebenen realisiert werden, beispielsweise durch Lexik, Metaphorik oder durch die Verwendung von Argumentationsmustern. (Vgl. hier v.a. Lüger 1995; vgl. Kapitel 4.2 bis 4.4 dieser Arbeit) Charakteristische Handlungsmuster in meinungsbetonten Textsorten sind beispielsweise das komplexe Handlungsmuster des ARGUMENTIERENS, aber auch kleinere Muster wie AUFWERTEN, ABWERTEN, FESTSTELLEN, STELLUNG BEZIEHEN, BEWERTEN, URTEILEN, APPELLIEREN, SOLIDARISIEREN, ABGRENZEN, BEGRÜNDEN UND RECHTFERTIGEN, die häufig in komplexere Muster integriert sind. Politische Rede/Debattenrede Herausragende Stellung im Stammzelldiskurs nimmt die Debattenrede ein, die im Korpus mit 75 Reden vertreten ist und auf die in allen hier untersuchten Printmedien immer wieder Bezug genommen wird. Auf Grund der starken Bezugnahme hat die Debattenrede im Diskurs besondere Relevanz. Ziel und Zweck der politischen Rede bestehen zumeist in der Akzeptanzschaffung, Meinungsbeeinflussung oder in der Überzeugung des adressierten Publikums. Dem entsprechend sind Debattenreden bzw. die politische Rede in ihrer Grundfunktion informativ-persuasiv. Wie bereits schon mehrfach darauf verwiesen, gliedert sich der Großbereich der politischen Kommunikation in verschiedene Handlungsfelder. Der politischen Debattenrede kommt insofern eine besondere Rolle zu, als sie in allen vier Handlungsfeldern Funktionen übernimmt: im Handlungsfeld der öffentlich-politischen Meinungsbildung besteht ihre Funktion darin, die Öffentlichkeit als Publikum zu adressieren, im Handlungsfeld der innerparteilichen Willensbildung (in den beiden hier im Zentrum stehenden Debatten steht die fraktionsübergreifende, aber dennoch parteiliche Willensbildung im Vordergrund) steht die Funktion der Profilierung im Vordergrund, im Handlungsfeld politische

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Werbung fungiert die Debattenrede zur Aufwertung der Eigenposition und Abwertung der Gegnerposition und im Handlungsfeld der Meinungs- und Willensbildung in Instititutionen spielt sie als parlamentarische Aussprache im Gesetzgebungsverfahren als ein wichtiger Verfahrensschritt, der durch die Geschäftsordnung des Bundestages geregelt ist, eine zentrale Rolle.82 Konstitutiv ist ebenso die Zulassung der Öffentlichkeit (Zuschauertribüne, Medien, Veröffentlichung der Plenarprotokolle im Parlamentarischen Anzeiger und im Internet). Bedingt durch die Zulassung der Öffentlichkeit ist die parlamentarische Debattenrede, die als Prototyp politischer Rede betrachtet werden kann, zwangsläufig nicht nur an einen Empfänger oder an eine bestimmte Empfängergruppe adressiert. Kennzeichnend ist vielmehr ihre Mehrfach- zumindest aber Doppeladressierung: Adressierung an die Zuhörer im Plenarsaal einerseits und an die Öffentlichkeit andererseits. Das Publikum stellt somit ein heterogenes und disperses Publikum dar. Diese kommunikative Situation der Mehrfachadressiertheit manifestiert sich vor allen Dingen im Sprachgebrauch des jeweiligen Debattenredners/der Debattenrednerin. Typische Handlungsmuster der Debattenrede im Parlament (darüber hinaus gibt es noch die Debattenrede in der Fraktion) sind ERKLÄREN, RICHTIGSTELLEN, BILANZIEREN, PROFILIEREN, AUFWERTEN, ABGRENZEN, LOBEN, KRITISIEREN, DIFFAMIEREN, BELEIDIGEN, BEURTEILEN, TADELN, ABGRENZEN, ABSPRECHEN DER H ANDLUNGSKOMPETENZ, AUFWEISEN VON DEFIZITEN, LEGITIMIEREN, BEGRÜNDEN, RECHTFERTIGEN, ARGUMENTIEREN (als komplexes Handlungsmuster), ZU POLITISCHEM H ANDELN AUFFORDERN. Charakteristisch ist – wie bereits erwähnt – die Mehrfachadressiertheit der Reden, womit bestimmte sprachliche Strategien in Verbindung stehen, z. B. Bewertungsstrategien oder Strategien der semantischen Vagheit. Die Grundfunktion der Texte ist in den meisten Fällen der Debattenreden appellativ. Kommentar Kommentare gelten als die klassische Textsorte der Meinungsvermittlung bzw. der Meinungskundgabe. Sie haben unter anderem in Form des Leitarti82

Die Parlamentsdebatte zeichnet sich als ein politisches Geschehen aus, das nach einem ganz bestimmten Muster und bestimmten institutionellen Vorgaben abläuft, so dass die Parlamentsdebatte als ein äußerst komplexes Handlungsspiel aufgefasst werden kann. Konstitutiv für die Parlamentsdebatte sind drei unterschiedliche Textsorten: 1. Die Reden der Abgeordneten 2. Die Äußerungen des/der Bundespräsidenten/Bundespräsidentin bzw. deren Vertretern. Die Äußerungen beziehen sich fast ausschließlich auf das Verfahren der Debatte (Redezeit, Zwischenfragen, Abstimmungen) 3. Zwischenrufe und Zwischenfragen. Vgl. Burkhardt (2005).

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kels einen festen Platz in der Zeitung. Den Ausgangspunkt für Kommentare bilden zumeist die Strittigkeit bzw. die Problematisierung von Sachverhalten, Positionen oder Handlungen. Aus diesem Grund kann eine argumentative Entfaltung des Themas bzw. eine argumentative Textstruktur als zentraler Bestandteil von Kommentaren ausgemacht werden83, wenngleich auch deskriptive oder explikative Themenentfaltungsstrukturen vorkommen. Letztere stehen häufig im Dienst der argumentativen Entfaltungsstruktur. Es geht innerhalb der argumentativen Textstruktur um das Handlungsmuster der Rechtfertigung und der Begründung. Kommentare beziehen sich immer schon auf bereits gegebene Informationen, z. B. auf Meldungen, Nachrichten oder Berichte. Bewertungen und Einstellungskundgaben impliziter und expliziter Natur sind konstitutiv für diese Textsorte. Dominant ist dabei die appellative Textfunktion in der Ausprägung der informativ-persuasiven Textfunktion (vgl. hier Grünert 1984), insofern Kommentare immer auch zur Information der Rezipienten beitragen wollen84. Charakteristisch für Kommentare in der Presse ist zudem das Verfahren des zweiseitigen Argumentierens, bei dem die Gegenargumentation eingeführt wird, um diese zum einen zu entkräften und zum anderen die Eigenposition zu begründen. Der Form der Argumentation liegt bereits eine Bewertung inne, es wird argumentativ Stellung bezogen. Darüber hinaus werden Bewertungen vor allem auch durch wertende Sprechhandlungen, durch Emotionalisierungen, durch expressive Elemente und durch die Verwendung wertender Lexik vollzogen. Kommentare zeichnen sich durch ein hohes Aufkommen an intertextuellen Bezügen aus. Sie beziehen sich immer schon auf Berichterstattung, die dem Kommentar vorausgegangen ist und als Vorwissen bis zu einem gewissen Grad vorausgesetzt wird. Lüger kategorisiert die Textsorte Kommentar dementsprechend als „reaktive Kommunikationsform“. (Lüger 1995: 130) Dabei wird die in Kommentaren enthaltene Information bereits perspektivisch bzw. selektiv dargestellt, Fakteninformation wird also mit wertenden Stellungnahmen gemischt.

83

Vgl. dazu Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit, in dem das Argumentationsschema von Toulmin vorgestellt wird und auf die argumentative Themenentfaltung von Texten näher eingegangen wird. 84 Rolf (1993) ordnet Kommentare den assertiv-darstellenden-judizierenden Textsorten zu, weil eine Bewertung zur Darstellung gebracht wird. M.E. ist aber nicht die Darstellung als Hauptfunktion auszumachen, sondern mit Grünert würde ich bei Kommentaren von einer appellativen (i.e. informativ-persuasiven) Grundfunktion ausgehen, da es immer auch um das ÜBERZEUGEN, A NMAHNEN oder SOLIDARISIEREN hinsichtlich strittiger Sachverhalte geht. In diesem Kontext werden auch die Handlungen der EINSTELLUNGSAFFIRMATION, -KUNDGABE , -POLARISATION oder -MODIFIKATION vollzogen.

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Die Bewertung durch eingebettete Einstellungsbekundung innerhalb von Kommentaren kann nach Lüger durch unterschiedliche sprachliche Mittel realisiert sein: durch prädizierende Kennzeichnungen, bewertende Zusätze, bewertende Prädikate, faktizitätsbewertende Ausdrücke (in Form von Satzadverbien oder Kopulaverben). (Vgl. Lüger 1995: 130) Oftmals sind Bewertungen auch im Kommentar in Informationshandlungen eingebettet; sie bestimmen nicht explizit den Handlungscharakter, sondern werden vielmehr nebenbei geäußert. Die Tatsache, daß die verschiedenen Wertungen gleichsam nur nebenbei geäußert werden, also Einstellungen zur Proposition oder zu einem Propositionsteil ausdrücken, nicht aber den Handlungscharakter bestimmen, bedeutet jedoch nicht, sie seien nebensächlich oder unwirksam. zum einen prägen sie eine Darstellungsweise, in der Fakteninformation und Fakteninterpretation ineinanderübergehen und wo Wertungen ohne weitere Begründung als selbstverständlich unterstellt werden. Zum andern deuten sie bereits auf die in der Argumentation eingenommene Position hin; sie stützen also auf indirekte Weise die dominierende Bewertungshandlung. (Lüger 1995: 131)

Davon zu unterscheiden ist die Bewertungshandlung.85 Das Vollziehen von Bewertungshandlungen dient vor allem der Markierung, inwiefern „ein Gegenstand, eine Person oder ein Sachverhalt mit einer Norm bzw. einer Erwartung übereinstimmt oder nicht übereinstimmt.“86 Kommentare sind hinsichtlich der verwendeten Handlungsmuster äußerst komplex. Versucht man, das im Rahmen von Kommentartexten mögliche Spektrum sprachlicher Handlungen wie bei Nachricht oder Bericht listenartig zu erfassen, stellt man schnell eine ungleich größere Vielfalt fest. Um über Sachverhalte zu informieren, Einstellungen zum Ausdruck zu bringen, um nach quantitativen, moralischen, ästhetischen u.a. Maßstäben Bewertungen abzugeben, diese zu begründen, abzuschwächen oder zu widerlegen, kommt eine kaum noch überschaubare Zahl von Handlungsmustern in Betracht. (Lüger 1995: 133)

Die Komplexität von Kommentaren gründet aber nicht nur in der Vielfältigkeit der Handlungsmuster, sondern in ihrer vielschichtigen Gesamtstruktur. So enthalten Kommentare zumeist nicht nur eine Argumentation, sondern darüber hinaus eine kurze Sachverhaltsdarstellung zur Orientierung über die Faktenbasis, Gegenargumente und deren Widerlegung, weitere subsidi-

85

Die wertende Einstellungsbekundung selbst kann jedoch bereits als Handlung aufgefasst werden, insofern das Referieren auf Sachverhalte etc. als Handlungen begriffen wird. Für eine derartige Auffassung ist der in Kapitel 3.2.1 rezipierte Nominationsbegriff, der die „stellungbeziehende, wertende Form der Referenz“ umfasst, heranzuziehen. Bellmann (1989: 30). 86 Lüger (1995: 133). Zu Bewertungshandlungen und zur Bedeutung von Werteskalen vgl. auch Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit.

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äre Handlungen sowie Mittel zur Erzeugung bzw. Erregung von Aufmerksamkeit. Um den Text interessanter erscheinen zu lassen werden Mittel eingesetzt, die Abweichungen vom Erwarteten evozieren. Zu erwähnen sind hier beispielsweise Kommentartitel und deren semantische Vagheit. (Vgl. Lüger 1995: 135f.; vgl. Burger 32005: 215). Mit Lüger (1995) lassen sich zusammenfassend folgende drei Konstituenten von Kommentaren zusammenführen: der argumentative Kern (mit Bewertung), die Orientierung über den zu Grunde liegenden Sachverhalt (als Verstehensvoraussetzung und zur Verbesserung der Akzeptierensbedingungen) sowie die Präsentation einer Gegenposition (und deren argumentative Widerlegung, womit die im Text dominierende Bewertungshandlung gestärkt wird). (Vgl. Lüger 1995: 132). Die Textsorte Kommentar zielt in ihrer Grundfunktion auf eine Veränderung der evaluativen Einstellung des Rezipienten.87 Die im Kommentar explizierte Bewertung soll in aller Regel überzeugen bzw. Akzeptanz schaffen. Die im Text entfaltete Argumentation gibt dabei u.a. Aufschluß über die vom Autor angenommenen möglichen Vorbehalte auf seiten der Adressaten und über den für die Zielrealisation daher als notwendig erachteten kommunikativen Aufwand. Begründungen und Rechtfertigungen haben somit die Aufgabe, für die dominierende Handlung, in aller Regel eine Sachverhaltsbewertung, die Akzeptierensbedingungen zu verbessern. (Lüger 1995: 128)

Der Zweck von Kommentaren besteht in der argumentativen Auseinandersetzung mit konfliktträchtigen Sachverhalten, in der Meinungsbildung, in der Akzeptanzschaffung strittiger Sachverhalte und schließlich in der Absicht, den Positionsgegner zu überzeugen. Hinsichtlich der Kommentararten kann zunächst grob in polemische und analytische Kommentare sowie in mehr argumentativ und weniger argumentativ verfahrende Kommentare unterschieden werden. Die Vielfalt konkret realisierter Pressekommentare lässt sich dieser Unterscheidung mehr oder weniger genau zuordnen, wobei die einzelnen Kommentararten eher auf einer sich graduell unterscheidenden Merkmalsachse anzusiedeln sind als dass sie als starre Merkmalbündel aufzufassen wären. Das den fachwissenschaftlichen Kommentar unterscheidende Kriterium zum klassischen Pressekommentar ist häufig der etwas sachlichere, analytische Stil (beispielsweise hinsichtlich der Einbettung des Kommentars und der Verwendung wertender Lexik) und der Textemittent (Wissenschaftler vs.

87 Diese Form der Hörerreaktion bezeichnet Girnth als Einstellungsmodifizierung. Kommentare können aber auch – bedingt durch den heterogenen Adressatenkreis – das Ziel haben, zu POLARISIEREN oder zu AFFIRMIEREN. Diese beiden Formen bezeichnet Girnth mit Einstellungspolarisierung und Einstellungsaffirmation. Vgl. Girnth (1993: 95).

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Journalist), während der klassische Pressekommentar – prototypisch realisiert durch den Leitartikel – häufig auch polemische Strukturelemente aufweist. Der klassische Aufbau der Rede nach dem Muster der antiken Rhetorik lässt sich als Strukturfolie auch auf den Kommentar beziehen (vgl. Ueding/ Steinbrink 2005: 259–277): Exordium: Narratio: Argumentatio:

Angabe des Themas und Situationsbewertung Sachverhalt und Positionsmarkierung Argumente / Begründungen der These / Refutatio (Gegenposition) Peroratio: Zusammenfassung Enumeratio: zusammenfassende Aufzählung Affectus: abschließende Affekterregung, Forderung, Empfehlung Die klassische Form des Pressekommentars ist der Leitartikel, der in der jeweiligen Zeitung an bestimmter (immer gleicher) Stelle positioniert ist. (In der FAZ beispielsweise auf Seite 1, in der SZ auf der Meinungsseite 4, in der FR im Untersuchungszeitraum auf Seite 3). Das (politische) Meinungsinterview Ebenso wie der Kommentar stellt das Meinungsinterview88 eine abhängige Textsorte dar, die auf anderen Texten in der gleichen Zeitung basiert. Es zielt darauf ab, die bereits gegebene Information zu vertiefen und aus einer bestimmten Perspektive zu beleuchten. (Vgl. Burger 32005: 222) Das Interview hat innerhalb der Printmedien insofern einen Sonderstatus inne, als es zunächst eine medial mündliche Kommunikationsform darstellt. Es ist dialogisch ausgerichtet, wobei dem Interviewer in den meisten Fällen die dominante Rolle zukommt, da er das Interview lenken und strukturieren kann. Doch trotz dialogischer Ausrichtung und der Form eines Gesprächs – bedingt durch den Sprecherwechsel – ist das Presseinterview keine konzeptionell mündliche Textsorte, da es vor seinem Abdruck stark von der Redaktion bearbeitet und dem schriftsprachlichen Modus angepasst wird. So besitzt es denn auch deutlich weniger dialogsteuernde Elemente als mündlich geführte Interviews. Nonverbale, paraverbale Elemente, Höreraktivitäten etc. finden in der schriftlichen Version keine Beachtung, so dass das abgedruckte und von

88 Neben dem Meinungsinterview, bei dem die Dimension der Bewertung und Einstellungsbekundung eine dominante Rolle spielt, gibt es noch das Sachinterview, das eher zu den informationsbetonten Textsorten gezählt werden kann, wenngleich auf Grund des Persönlichkeitsfaktors von Interviews auch hier eine perspektivische Darstellung von Sachverhalten konstatiert werden muss. Die Kriterien informationsbetont und meinungsbetont sollten von daher als Pole auf einer Skala aufgefasst werden.

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der Redaktion bearbeitete Meinungsinterview zu den konzeptionell schriftlichen Textsorten zu zählen ist.89 In seiner Funktion dem Kommentar sehr ähnlich zielt auch das Meinungsinterview darauf, Einfluss auf die Einstellungen der Rezipienten zu nehmen. Als abhängige Textsorte setzen Meinungsinterviews ein gewisses Vorwissen voraus und beziehen sich inhaltlich auf ganz bestimmte – zumeist strittige – Aspekte von bereits thematisierten Sachverhalten. Dementsprechend sind Meinungsinterviews in ihrer Struktur häufig argumentativ entfaltet, wobei auch hier die Bewertungsdimension alle sprachstrukturellen Ebenen umfassen kann. An der besonderen Konstellation von Interviews wird zudem deren Mehrfachadressierung deutlich. Der eigentliche Adressat ist nicht der Interviewpartner, der sich eine Meinung bilden oder Informationen erhalten möchte, sondern ein disperses und äußerst heterogenes Medienpublikum, zu dem – je nach Ausrichtung des Beitrags – neben den Rezipienten der Tagespresse vor allem auch Politiker/Politikerinnen oder weitere Akteure der Öffentlichkeit bzw. Diskursakteure gezählt werden können. Dieses Publikum gilt es zu überzeugen.90 Leserbrief Als weitere reaktive Textsorte im Pressetextsortenspektrum kann der Leserbrief angesehen werden, der sich durch expressive Sprachelemente (insbesondere Emotionalisierungen und Dramatisierungen) und zumeist einer argumentativen Textstruktur auszeichnet. Er ist nicht immer expressiv, sondern kann auch sachlich argumentativ entfaltet sein. Bewertungen erfolgen häufig explizit und manifestieren sich ebenso auf verschiedenen sprachstrukturellen Ebenen (vgl. die Ausführungen zum Kommentar). Wie der Kommentar bezieht sich der Leserbrief auf bereits existente Texte, meistens auf Kommentare, in denen eine strittige Meinung geäußert wurde. Auf Grund des Bezugs auf bereits existierende Aussagen ist der Leserbrief ebenfalls durch intertextuelle Bezüge gekennzeichnet und häufig nur zu verstehen, wenn der Bezugstext bekannt ist. Emittenten von Leserbriefen sind zumeist Privatpersonen, die sich zu einem im jeweiligen Presseorgan erschienenen Artikel wertend äußern und damit an die Medienöffentlichkeit treten. Rolf (1993) ordnet den Leserbrief aus den genannten Gründen zu den assertiv-darstellend-judizierenden Textsorten. (Vgl. Rolf 1993: 190–194) Beim Leserbrief kommt häufig eine informativ-persuasive Grundfunktion zur Geltung (vgl. Fix 2007).

89 Vgl. hier Koch/Oesterreicher (1985); vgl. Dürscheid (2003); vgl. Schwitalla (32006). 90 Rolf (1993) ordnet auch das politische Meinungsinterview den assertiv-darstellendenjudizierenden Textsorten zu.

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Charakteristisch für die Textsorte Leserbrief ist zudem die redaktionelle Bearbeitung (Auswahl der Texte, Kürzungen, Bearbeitungen) des Textes sowie die Anordnung des Textes in einem Textensemble (Hinzufügen von Überschriften, Herstellung der Referenz, Präsentation eines Leserbriefensembles, das unterschiedliche Positionen zu einer Thematik präsentiert etc.). Diese Eingriffsmöglichkeiten der Redaktion können unterschiedliche Konsequenzen hinsichtlich der Aussage von Leserbriefen haben. Vorher nicht existente, aber durch die Redaktion hergestellte intertextuelle Bezüge beispielsweise können vom Medienpublikum anders verstanden werden als vom Autor des jeweiligen Leserbriefs intendiert.91 Stellungnahme/Positionspapiere Stellungnahmen oder Positionspapiere tauchen im Diskurskorpus nur indirekt auf, insofern in Pressetexten oder den genannten öffentlich-politischen Textsorten auf sie Bezug genommen wird. Sie sind Textsorten, die eine informativpersuasive Grundfunktion aufweisen92. Sie stellen abhängige Textsorten dar, insofern sie sich auf einen Sachverhalt, zu dem im Positionspapier Stellung bezogen wird, beziehen. Dementsprechend wird innerhalb von Stellungnahmen und Positionspapieren argumentativ und deskriptiv, z. T. auch explikativ verfahren. Die Position des Emittenten muss begründet werden. Demzufolge enthalten Stellungnahmen häufig ausführliche Begründungen, denn es soll von der je eigenen Position überzeugt werden. In öffentlich-politischen Zusammenhängen spielen dementsprechend die für die Emittentengruppe typischen Hochwertworte und Topoi eine zentrale Rolle bei der Formulierung der Position. Um die eigene Position abzusichern, werden nicht selten Expertengutachten und Expertenwissen in den Argumentationsgang einbezogen. Gesetzesantrag und Gesetzentwurf Anträge zeichnen sich durch einen Begründungs- und einen Antragsteil aus. Der Antragsteil beschreibt die Sachlage, die dann im Begründungsteil legitimiert wird. Charakteristisch für Anträge ist eine argumentative Themenentfaltungsstruktur. In politischen Kontexten – wie auch hier – knüpft die Antragsbegründung sehr häufig an politische Topoi, Wert- und Zielbegriffe der entsprechenden politischen Gruppe an. Bei Anträgen handelt es sich um eine emittentenseitige, nicht-bindende, fordernde Textsorte. Das Interesse liegt ausschließlich auf der Seite des Textemittenten. (Vgl. Rolf 1993:252–253)

91 92

Vgl. dazu Burger (32005: 69f.); vgl. zur Briefsortentypologie Ermert (1979); vgl. zur Textsorte Leserbrief auch Fix (2007). Stellungnahmen und Gutachten werden von Rolf den assertiv-darstellenden-judizierenden Textsorten zugeordnet. Vgl. Rolf (1993: 190). Zur Textsorte der Positionspapiere macht er keine Aussage.

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Gesetzesanträge stellen die notwendige Vorbedingung für Gesetze dar, denn mit ihnen wird intendiert, einen bestimmten Entschluss zu fassen. Gesetzesanträge werden in den Bundestag eingebracht und zur Diskussion gestellt. Auf Grundlage von debattierten Gesetzesanträgen kommt es dann zu von der Regierung emittierten Gesetzesentwürfen, die Klein als Prototextsorte im Gesetzgebungsverfahren auffasst (vgl. Klein 2000a: 740). Gesetzesentwürfe bestehen ebenfalls aus zwei Teilen, einem Vorschlags- und einem Begründungsteil. Gesetzesentwürfe sind nicht-bindend, im Hinblick auf die Adressaten besteht nach Klein im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens die Pflicht, den Entwurf zu verhandeln. Gesetzesentwürfe können aber auch aus der Mitte des Parlaments in Form von Gruppenanträgen zur Abstimmung eingebracht werden, wie dies für die drei Anträge im Stammzelldiskurs zu konstatieren ist.93 Im Hinblick auf den Antrag kann von einer appellativen Grundfunktion ausgegangen werden. Den Emittenten geht es in erster Linie darum, mit ihrem Antrag von der Sachlage ZU ÜBERZEUGEN, um schließlich etwas damit zu erreichen – etwa eine bestimmte Regelung. Im Begründungsteil des Entwurfs ist der Text zumeist argumentativ entfaltet. Im Textkorpus sind die Gesetzesanträge ebenso nur indirekt vertreten, insofern in den Medientexten und den Debattenreden auf sie Bezug genommen wird. Informationsbetonte Textsorten Bezüglich der Klassifizierung informationsbetonter Pressetextsorten existieren unterschiedliche Meinungen.94 Eindeutigkeit besteht jedoch darin, dass die Informationsfunktion im Vordergrund steht, wenngleich bewertende bzw. meinungsbetonte Elemente nicht von informationsbetonten Texten abgetrennt werden können. Vielmehr muss auch hier eine Skala mit den Eckpunkten stark informationsbetont und weniger informationsbetont zur Erfassung und Be-

93

Vgl. hier die Bundestagsdebatte vom 30.1.2002 unter http://dip21.bundestag.de/dip21/ btp/14/14173.pdf (zuletzt zugegriffen am 30.12.09); vgl. BT (2002: 209–224). 94 Während Lüger (1995) die informationsbetonten Textsorten in Meldung, harte Nachricht, weiche Nachricht, Bericht und Reportage differenziert, fasst Burger (32005) darunter ausschließlich Bericht und Meldung. Da die Textsorte Reportage sowohl aus meinungsbetonten als auch aus informationsbetonten Elementen bzw. Merkmalen besteht, wird sie von Burger beiden Klassen zugeordnet. Burger betrachtet die Differenzierung in weiche und harte Nachricht vor allem als inhaltlich konzipiertes Unterscheidungskriterium und nicht als formales, das erst dann angewendet werden sollte, wenn in formaler und struktureller Hinsicht die Beschreibungskriterien versagen. Burger plädiert schließlich dafür, Meldung und Bericht als grundlegende informationsbetonte Pressetextsorten anzunehmen. Vgl. Burger (32004: 206–224); vgl. Lüger (1995: 89–122). Bucher fasst das Berichten neben dem Kommentieren und Dokumentieren als eine Grundstruktur pressespezifischer Kommunikation auf. Zur ausführlichen Erörterung dieser Grundstruktur vgl. Bucher (1986: 75–141).

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schreibung informationsbetonter Texte angesetzt werden. Anhand einer Skala können graduelle Unterschiede der einzelnen Textsorten festgestellt werden. Zu den charakteristischen informationsbetonten Textsorten gehören der Bericht, die Meldung, die harte und weiche Nachricht, der Hintergrundbericht, die Reportage. Bucher fasst diese Textsorten alle als Spielarten des Berichtens (vgl. Bucher 1986: 68). Die Informationsfunktion informationsbetonter Textsorten wird durch Haupthandlungstypen wie FESTSTELLEN, MITTEILEN, INFORMIEREN, ANKÜNDIGEN etc. realisiert. Meldung Lüger beschreibt die Meldung als „elementarste Textsorte innerhalb der informationsbetonten Klasse“. (Lüger 1995: 89) Charakteristisch für diese Textsorte ist die einfache Sachverhaltsdarstellung, die thematisch – wenn überhaupt – deskriptiv entfaltet wird, ihre Faktenorientierung und ihre Kürze. Bucher (1986) zufolge wird mit einer Meldung mitgeteilt a) was sich ereignet hat, b) wo, wann, wie, weshalb es sich ereignet hat und c) wer an dem Ereignis beteiligt war. Die wichtigste Information wird zuerst genannt. Dem folgt die Spezifizierung einzelner Aspekte (vgl. Bucher 1986: 82). Ihre Funktion besteht nicht nur im Mitteilen von Sachverhalten, sondern auch im Hinweis auf weitere, zum gleichen Thema verfasste Texte wie ausführliche Berichte, Kommentare oder Interviews. Der Meldung kommt demzufolge die Funktion eines „Ankündigungstextes“ zu. (Lüger 1995: 90f.) Bericht Burger bezeichnet die Textsorte Bericht als „Haupttyp informationsbetonter Texte.“ (Burger 32005: 214) Diese ist gekennzeichnet durch eine deskriptive Themenentfaltungsstruktur. Wenngleich auch explikative und argumentative Themenentfaltungsstrukturen enthalten sein können, sind diese aber nicht dominant, sondern stehen in Funktion der deskriptiven Themenentfaltung. Strukturmerkmale des Berichts sind vor allem die Beschreibung des Verlaufs von Ereignissen, oftmals werden Vorgeschichte und Folgen erwähnt. Das Ereignis wird dabei in soziale, kulturelle, historische, politische, wissenschaftliche, verstehensrelevante etc. Zusammenhänge eingeordnet und verortet. Demzufolge unterscheidet sich der Bericht von der Meldung durch seine komplexere Struktur und durch seine quantitative Ausprägung. Beim Berichten kommen zur Faktendarstellung auch bewertende Aspekte hinzu, die beispielsweise durch die Wiedergabe von Zitaten Dritter, durch indirekte Redewiedergabe, durch die Verwendung von Distanzmarkern (so genannt), durch die Verwendung bewertender Lexik, durch Partikeln oder durch die Modalität zur Geltung kommen. Die Sachverhaltsdarstellung steht trotz enthaltener Einstellungskundgaben und Bewertungen aber im Vordergrund (vgl. Lüger 1995: 113). Burger gliedert den Bericht in: Schlagzeile, Vorspann,

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Fließtext (vgl. Burger 32005: 214). Lügers Unterteilung unterscheidet in eine aus dem Titelgefüge bestehende Texteröffnung, dem aus dem berichteten Hauptgeschehen bestehenden Hauptteil und dem eine Stellungnahme oder Prognose abgebenden bestehenden Textschluss (vgl. Lüger 1995:109). Die zentralen Informationen stehen oftmals zu Beginn und werden dann nach dem Prinzip der Spezifizierung einzelner Aspekte fortgeführt. Nach Lüger lässt sich der „Kernbereich berichtspezifischer Informationshandlungen [...] mit folgendem Muster angeben: a) mitteilen, wie ein Ereignis verlaufen ist, b) mitteilen, wie einzelne Aspekte des Ereignisses zusammenhängen, c) mitteilen, welche Folgen das Ereignis hat, d) mitteilen, in welchen sozialen, historischen, politischen, kulturellen Zusammenhängen das Ereignis steht.“ (Lüger 1995: 111f.) Charakteristisch für Berichte sind der Einbau von Zitaten, die Gabe von Hintergrundinformationen, die dezente Kommentierung von Sachverhalten, Erläuterungen und vertiefende Information. Diese Elemente dienen der Unterstreichung von Authentizität und können als Glaubwürdigkeitssignale beschrieben werden (vgl. Lüger 1995: 114). Es gibt zahlreiche Spielarten des Berichtens, beispielsweise der Hintergrundbericht, dessen Themenentfaltungsstruktur als deskriptiv zu beschreiben ist. Jedoch beinhaltet der Hintergrundbericht deutlich mehr Bewertungen. Zudem wird eine ausführliche Einbettung und Situierung durch den Journalisten vorgenommen. Reportage Die Textsorte Reportage ist zwischen meinungsbetonten und informationsbetonten Textsorten anzusiedeln. Charakteristisch für die Textsorte Reportage ist die perspektivische Darstellung als ein Berichten von einer bestimmten Position aus. Demzufolge steht die subjektive Färbung des Berichteten im Vordergrund, was sich durch die Betonung/Hervorhebung bestimmter Aspekte bei der Darstellung bemerkbar macht. Oftmals beginnt eine Reportage mit der Darstellung atmosphärischer Elemente. Die Reportage zeichnet sich durch drei Strukturebenen aus: a) die Vor-Ort-Ebene, b) die Personenebene und c) die Dokumentationsebene (vgl. Burger 32005: 216). Reportagen sind im Textkorpus recht selten vertreten. Die regulative Textorte Gesetz Regulative Textsorten besitzen eine präskriptive und zum Teil argumentative Textstruktur, sie haben zumeist eine direktiv-regulative Grundfunktion, insofern sie verpflichtend wirken und demnach bindende Textsorten darstellen. Gesetze werden in Deutschland durch die Institution Parlament emittiert. Bei Gesetzen handelt es sich um eine bindende Textsorte mit unbedingtem Geltungsanspruch, im Gegensatz zur Textsorte Gesetzentwurf. Die Grundfunktion ist regulativ. Adressiert ist das Gesetz immer an einen bestimmten

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Personenkreis, der im Gesetz ausdrücklich benannt wird sowie an die Institutionen oder Behörden, die für die Einhaltung des Gesetzes verantwortlich sind. Es überwiegt eine sachbezogene Themenentfaltungsstruktur. Gesetze haben zudem wirklichkeitskonstituierende Funktion, insofern mit ihrer Verabschiedung neue Wirklichkeiten geschaffen werden. In ihrer Struktur sind Gesetze zumeist aus mehreren Paragraphen aufgebaut. Im untersuchten Diskurszeitraum spielt in erster Linie das Embryonenschutzgesetz eine zentrale Rolle, darüber hinaus wird aber auch auf den Paragraphen 218 verwiesen. Nicht mehr in den Untersuchungszeitraum fällt dann die Verabschiedung des Stammzellgesetzes, das als ein Ergebnis des untersuchten Diskurszeitraumes aufgefasst werden kann. Im Textkorpus ist die Textsorte Gesetz nur indirekt vertreten, insofern in anderen Texten auf Gesetzesausschnitte oder auf Gesetze Bezug genommen wird. 4.1.3 Ausblick und Perspektiven des Diskurses Bis heute wird der Diskurs in der Öffentlichkeit geführt, wobei nach dem Inkrafttreten des Stammzellgesetzes eine gewisse Beruhigung in der Diskurslandschaft festzustellen ist. Es werden weniger Texte zur Thematik produziert und es wird weniger heftig auf Äußerungen reagiert. Die Diskursproduktivität steigt immer dann wieder an, wenn neue Erkenntnisse der Stammzellforschung die Öffentlichkeit erreichen, wenn Skandale aufgedeckt werden oder wenn beispielsweise Regelungen auf europäischer Ebene getroffen werden, die den nationalen Regelungen in Deutschland nicht entsprechen etc. Und der Diskurs wird belebt, wenn es um weiteren rechtlichen Regelungsbedarf geht, wie dies beispielsweise im Februar 2008 der Fall war. Hier wurde in einer Bundestagsdebatte über die Verschiebung der Stichtagsregelung debattiert, was im Vorfeld und im Nachklang der Debatte für eine erhöhte Textproduktion sorgte. Die Argumente und Redestrategien verlaufen ähnlich. Anders sieht es aus bei umstrittenen Schlüsselwörtern. Hier sind Veränderungen sowohl auf Bezeichnungs- als auch auf Bedeutungsebene zu konstatieren. Aus abgrenzungsstrategischen Gründen der Stammzellforschungsgegner etablierte sich beispielsweise das Lexem Forschungsklonen, das im Untersuchungszeitraum noch nicht gebraucht wurde. In den Zeitungskorpora des DWDS ist es seit 2003 belegt, ebenso in den Archiven von Google-News. Der Diskurs geht also weiter und es finden weitere semantische Fixierungen und Kämpfe statt.

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4.2 Die lexikalische Ebene: Meinungskämpfe als semantische Kämpfe. Denotative und evaluative Bedeutungsund Nominationskonkurrenzen 4.2.1 Vorbemerkungen Der Analyse von Bezeichnungspraktiken durch die Verwendung bestimmter Lexeme auf der einen Seite und der unterschiedlichen Bedeutungsaspekte und -dimensionen der Einzellexeme auf der anderen Seite wird in zahlreichen empirischen diskursanalytisch orientierten Untersuchungen viel Aufmerksamkeit entgegen gebracht.95 Die lexikalische Ebene stellt in der hier vorliegenden Arbeit die kleinste sprachstrukturelle Ebene sprachlichen Handelns dar. So konstituiert die lexikalische Ebene sowohl Metaphorisierungen als auch die Ebenen der Handlungs- und Argumentationsmuster. Durch lexikalische Einheiten, also durch Nominationen können Bewertungen, Einstellungen und Einstellungsbekundungen transportiert werden, wie in Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit genauer expliziert wird. Durch Aushandlungen von Bedeutungen, durch Bedeutungsfi xierungsakte werden innerhalb des Diskurses Wirklichkeiten sprachlich konstruiert. Lexeme stellen dabei Grundkonstanten größerer sprachlicher Einheiten und kommunikativer Muster wie beispielsweise Argumentationsmuster oder komplexere Metaphern dar. Sie können demnach als ein geeignetes und grundlegendes sprachliches Material aufgefasst werden, das linguistischer Diskursanalyse zur Verfügung steht, um daran den bewertenden bzw. perspektivischen Aspekt sprachlichen Handelns zu untersuchen. So konstatiert Hermanns, dass „Wörter Vehikel von Gedanken [sind].“ (Hermanns 1995: 82) Bei der Analyse des lexikalischen Diskursinventars gilt es jedoch zu beachten, dass nicht das komplette lexikalische Inventar analysiert werden kann. Vielmehr bedarf es einer gewissen Auswahl diskursrelevanter lexikalischer Einheiten. Es geht also zunächst darum herauszufinden, welche Lexeme besondere Relevanz innerhalb des Diskurses besitzen, den Diskurs strukturieren oder in seiner thematischen Fokussierung bestimmen. Zentralen Stellenwert nehmen hierbei Lexeme ein, deren Sprachgebrauch innerhalb des Diskurses thematisiert wird. Sprachthematisierungen geben insbesondere Aufschluss über die Funktionen, die Lexeme in Diskursen erfüllen können und über die Konflikthaftigkeit des Sachverhaltes an sich.

95

Vgl. hier insbesondere die empirischen Studien der Düsseldorfer Schule z. B. Böke (1991, 1996b), Busse (1989, 1997), Jung (2005), Jung/Wengeler (1999), Liedtke (1994), Stötzel/ Wengeler (1995), Stötzel/Eitz (2003). Vgl. Kap. 2.3.1 dieser Arbeit; vgl. darüber hinaus Girnth (2002); vgl. Herrgen (2000).

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Sprachthematisierungen können implizit oder explizit erfolgen. Implizit werden sie vor allem dadurch realisiert, dass mehrere Alternativen zur Bezeichnung eines Objektes existieren. Explizit erfolgt sie durch Definitionen oder durch das Thematisieren des Sprachgebrauchs bzw. der Bedeutung auf einer Metaebene. Im Diskurskorpus ließen sich für die explizite Sprachthematisierung auch zahlreiche sprachthematisierende Argumentationstopoi herausfinden. Bei expliziten Thematisierungen handelt es sich um thematisierte Bezeichnungs- und Bedeutungsvielfalt, um wertende Stellungnahmen über den Wortgebrauch durch Distanzmarker wie so genannt oder Anführungszeichen – Domasch spricht hier von „Minimalformen der Thematisierung“ (Domasch 2007: 89) – oder um die Thematisierung von Argumentationen oder des Diskursverlaufs (vgl. hier auch Niehr 2002 und Wengeler 1996). Die in diesem Zusammenhang interessierende, explizit thematisierte Bezeichnungs- und Bedeutungsvielfalt umfasst dabei auch Zuschreibungen verwendeter Bezeichnungen oder Bedeutungen an die je andere Seite. So wird häufig darüber gestritten, ob ein bestimmter Wortgebrauch richtig, angemessen, unangemessen, wahr oder falsch ist. Sprachgebrauch wird damit zugleich einer Bewertung unterzogen und erfolgt immer aus einer bestimmten Perspektive96 (vgl. Kap. 1 dieser Arbeit). Von impliziten Sprachthematisierungen spricht man bei Wörterbucheinträgen, (institutionellen und kommerziellen) Namensgebungen, kreativen Metaphorisierungen oder bei vorhandener aber nicht den Gebrauch explizit thematisierter Bezeichnungsvielfalt. Die als Auswahlkriterium angesetzte Sprachthematisierung ist dabei sprachreflexiver Natur. Sprachthematisierungen können erfolgen, wenn Sachverhalte und deren Bezeichnung als konfliktträchtig bzw. problematisch angesehen werden (vgl. Wimmer 1983). Ein wesentliches hier zu Grunde liegendes Kriterium für die Klassifikation von Schlüsselwörtern ist demnach die Sprachthematisierung.97 Sprachthematisierungen erfolgen zumeist dann, wenn die Verwendung bestimmter Ausdrücke nicht eindeutig oder umstritten ist. Die Uneindeutigkeit der Verwendung kann unterschiedliche Dimensionen umfassen: Sie kann das Denotat oder Konnotat (und damit das Evaluat und die Deontik) betreffen, sie kann aber auch durch unterschiedliche Bezeichnungen hervorgerufen werden. Durch die unterschiedlichen Bezeichnungen für ein und dasselbe Referenzobjekt kommt es wiederum zugleich auch zu semantischen Differenzen auf semasiologischer Ebene. Ein weiteres Auswahlkriterium der Lexeme ist der Bezug zum Sachverhalt. Alle hier untersuchten Lexeme konzeptualisieren die mit der Stammzellforschung in direkter Verbindung stehenden 96 Die Redeweise vom richtigen und falschen Sprachgebrauch lässt auf eine platonische Sprachauffassung schließen, die davon ausgeht, dass Sprache außersprachliche Entitäten repräsentiert. 97 Vgl. Domasch (2007); vgl. Wengeler (1996); vgl. Wimmer (1983 und 2009).

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Bereiche und Sachverhalte bzw. Konflikte. Zudem wurde die Auswahl der Schlüsselwörter korpuslinguistisch abgesichert, indem die Vorkommenshäufigkeit aller im Diskurs vorkommenden Lexeme berechnet und mit anderen Korpora abgeglichen wurde. Im Vergleich zu anderen Korpora kommen die zur Besprechung ausgewählten Lexeme signifikant häufiger vor.98 Zudem wurde auf die kontextuelle und situative Einbettung der Lexeme geachtet. Das bedeutet u. a., dass immer auch weitere Faktoren wie etwa relevante außersprachliche Gegebenheiten, ein bestimmtes Welt- und Kulturwissen, die Untersuchung anderer Lexeme, die der Bedeutungsbestimmung dienen, in die Analyse einbezogen werden (vgl. Kühn 2008). Anhand der linguistischen Analyse sprachlicher Phänomene der Bedeutungskonkurrenz oder Bezeichnungskonkurrenz lässt sich zeigen, dass Bedeutungen erst in diskursiven Verfahren generiert werden und die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen dabei bemüht werden. Gerade vor dem Hintergrund der im Diskurs existierenden weltanschaulichen Gegensätze, sind die Parteiungen darauf aus, ihre je spezifische Bedeutungsfi xierung durchzusetzen und durch häufigen Gebrauch zu sedimentieren sowie die Bedeutungsfi xierung der Opponenten zu destruieren. Für die Analyse wurden anhand der genannten Kriterien die Lexeme Embryo, Lebensbeginn, Menschenwürde, Stammzelle und Klonen ausgewählt. Die genannten und hier untersuchten Nominationen bringen in besonderer Weise die Pluralität gesellschaftlicher Gruppierungen zur Geltung und reflektieren die Perspektivität des Sprachgebrauchs, insofern mit den Lexemen verschiedene Interessen verbunden werden können und ihr Gebrauch vielschichtig und komplex ist. Mit Fragestellungen zur strittigen Verwendung dieser Lexeme in öffentlich-politischen Diskursen beschäftigen sich nur wenige linguistische Untersuchungen. So haben sich bislang in der Linguistik Böke (1991), Domasch (2007), Spieß (2009) oder Stötzel/Eitz (2002)99 näher damit be-

98 Zur Berechnung wurde der statistische Log-likelihood-Signifi kanztest angewendet. Vgl. hier Bubenhofer (2008: 407–434; 2009). Bei einem llr-Wert größer als 3.85 kann man mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9% sagen, dass das Wort im Untersuchungskorpus signifi kant häufiger vorkommt als in einem Vergleichskorpus. Folgende llr-Werte haben sich errechnet: Embryo llr 327.28; Leben llr 1226.46; Menschenwürde llr 1639.27; Stammzelle llr 9864.19; Klonen llr 2471.4; therapeutisch llr 1866.56. 99 Domasch geht auf Versprachlichungsstrategien im Hinblick auf den Umgang mit Embryonen im Kontext der Präimplantationsdiagnostik (=PID) ein, weniger auf die Bedeutungsstruktur dieses Begriffs im Kontext des Diskurses um PID. Böke (1991) setzt sich mit Sprachgebrauchsstrategien im Zusammenhang der Diskussion um den § 218 auseinander und geht in diesem Kontext auch auf die Kontextualisierung von Embryo und auf Bezeichnungspraktiken ein. Eine linguistische Untersuchung des Lexems Embryo im Kontext des bioethischen Diskurses um ES-Forschung gibt es bislang noch nicht. Spieß (2009) untersucht auf der Basis eines sehr viel schmaleren Textkorpus als in der vorliegenden Arbeit das Lexem Lebensbeginn sowie Nominationskonkurrenzen von Zygote.

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fasst100. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive gibt es Untersuchungen zur Bedeutungsstruktur von Stammzelle, Totipotenz und Pluripotenz (vgl. Beier 1999, 2001; vgl. Schöler 2003 und 2005). Eine breit angelegte und auf einem umfangreichen Textkorpus basierende linguistische Analyse des Vokabulars des Bioethikdiskurses um ES-Forschung liegt demnach noch nicht vor. Der Bioethikdiskurs um Stammzellforschung ist insbesondere durch Auseinandersetzungen um Gebrauchsweisen lexikalischer Mittel geprägt. In semantischer Hinsicht lässt sich die Strittigkeit der Lexeme differenzieren in die Strittigkeit des Signifikats (semasiologische Perspektive) und in die Strittigkeit der Nomination/der Bezeichnung (onomasiologische Perspektive). Felder (2006a und b) spricht hier von Semantischen Kämpfen und betont in diesem Zusammenhang zugleich das konstruktive Potenzial derartiger sprachlicher Phänomene, insofern durch Sprachgebrauch auch Sachverhalte neu konstituiert werden können. In vielen Fällen im Diskurs sind sowohl die semasiologische als auch die onomasiologische Perspektive nicht isoliert voneinander zu betrachten. Vielmehr stellen sie voneinander abhängige und sich gegenseitig beeinflussende Perspektiven dar. So stellt eine Konkurrenz in der Nomination immer auch zugleich eine Strittigkeit der Bedeutung dar. Semantische Kämpfe in semasiologischer Perspektivierung umfassen die Beschreibung der unterschiedlichen Bedeutungen eines Lexems, also Bedeutungskonkurrenzen. In onomasiologischer Perspektivierung handelt es sich um Bezeichnungskonkurrenzen101, also um die Strittigkeit der Bezeichnung und der Bedeutung. Da es sich beim Stammzelldiskurs um Sachverhalte

Spieß (2006) geht auf die semantische Spezifizierung von Menschenwürde im Kontext einer Argumentation für die Stammzellforschung ein, wobei eine Einzeltextanalyse im Vordergrund steht. Im Zeitgeschichtlichen Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, das brisante Wörter in öffentlichen Diskursen untersucht, sind sowohl embryonale Stammzellforschung als auch Klonen als eigenständige Einträge verzeichnet. Vgl. Stötzel/ Eitz (2002). 100 In ethisch-moralischen sowie philosophischen Zusammenhängen existiert dagegen eine lebhafte Diskussion um die Bewertung des Embryos, um den Beginn menschlichen Lebens und die Ausgestaltung von Menschenwürde. Vgl. dazu u.a. Kreß (2000); vgl. Birnbacher (2004); vgl. Hoerster (2002); vgl. Reiter (2004); vgl. Hauskeller (2004); vgl. Lesch (2005), um nur einige wenige zu nennen. In diesen Ausführungen wird mehr oder weniger explizit auch auf sprachliche Phänomene im Umgang mit Embryonen rekurriert. Zudem gibt es einige britische sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Konzeptualisierung von Embryo im Zusammenhang der Debatten zur Embryonenforschung Mitte bis Ende der 80er Jahre. Die Untersuchungen beschreiben aus sozialwissenschaftlicher Perspektive den Sprachgebrauch, Bedeutungsfi xierungsakte und Bezeichnungsalternativen sowie die Argumentationskontexte, in die die verschiedenen Sprachgebrauchsweisen integriert sind. Vgl. hierzu Biggers (1990); vgl. Mulkay (1993, 1994 sowie 1997). Ebenso geht Hauskeller (2005a und b) auf den Sprachgebrauch innerhalb britischer Bioethikdiskurse ein. 101 Zur Beschreibung dieses Phänomens vgl. Klein (1989), Girnth (1993, 2002).

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handelt, die auf Grund der Forschungslage relativ neu sind, bedurfte es neuer Bezeichnungen. Mit der Einführung lexikalischer Innovationen geht die entsprechende Deutung des Sachverhalts einher, denn „wer auf die Welt mit Sprache zugreift und damit Sachverhalte schafft, der deutet sie unvermeidlich durch die Auswahl spezifischer sprachlicher Mittel. Der Sprachgebrauch prägt die Sachverhaltskonstitution.“ (Felder 2006a: 2) Lexikalische Innovation vollzieht sich dabei nicht so sehr durch die Einführung von Neologismen, vielmehr wird vorhandenes Sprachmaterial semantisch spezifiziert, kombiniert, ausgeweitet oder enggeführt, so dass sich die lexikalische Innovation in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Bezug auf bereits Bekanntes und der Varianz des Bekannten bewegt. Als diskursrelevante und sprachlich thematisierte Lexeme haben sich nach eingehender Sichtung des empirischen Materials folgende Ausdrücke herauskristallisiert, die hier genauer analysiert werden sollen: Untersuchungsgegenstand Embryo: Leben/Lebensbeginn: Menschenwürde: Stammzelle: Therapeutisches Klonen:

Untersuchungsaspekte Bedeutung und Nominationen Bedeutung Bedeutung Bedeutung und Nominationen Bedeutung und Nominationen

Die Lexeme sind immer schon in größere Handlungskontexte bzw. in unterschiedliche Arten von Welt- und Kontextwissen eingebettet. Einige der genannten Ausdrücke sind mehr oder weniger aufeinander bezogen bzw. sie können nur in Bezug zueinander adäquat beschrieben werden (z. B. Menschenwürde, Schutzwürdigkeit, Schutzkonzept und Lebensbeginn, Recht auf Leben stellen solch ein Relationsnetz dar). Bedeutungen können sowohl über konnotative als auch denotative Bedeutungsaspekte verhandelt werden (vgl. Klaus 1971: 25). In beiden Fällen handelt es sich um die Strittigkeit des Signifikats. Die Strittigkeit konnotativer Aspekte führt dazu, dass ein Lexem als Stigmawort und zugleich als Fahnenwort Verwendung findet (z. B. therapeutisches Klonen). Das Konnotat eines Ausdrucks wird dabei für die je eigenen wert- und interessenbezogenen Sprechergruppenziele in Anspruch genommen. Bei der Strittigkeit des Denotats geht es darum, mit welchen deskriptiven Bedeutungsaspekten »Begriffe besetzt« werden können. Die unterschiedlichen Sprechergruppen verfolgen das Ziel, allgemein hoch bewertete Lexeme inhaltlich unterschiedlich zu füllen und für ihre Ziele in Anspruch zu nehmen. Das geschieht zumeist über die Hinzufügung oder Tilgung von Teilbedeutungen bzw. Bedeutungsaspekten. Daraus resultiert die Strittigkeit des Denotats, Beispiele hierfür tauchen im bioethischen Diskurs um Stammzellforschung recht häufig auf (vgl. z. B. Menschenwürde, Embryo, Lebensbeginn).

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Als einen ersten Bezugspunkt für die lexikalisierte Wortsemantik dieser Ausdrücke wurden unterschiedliche Wörterbucher, Lexika und z. T. begriffsgeschichtliche Darstellungen herangezogen. Insbesondere begriffsgeschichtliche Darstellungen können Aufschluss über die weltanschauliche Verortung und über Traditionslinien der Begriffe geben (vgl. dazu Kühn 2008: 134). Sofern das Lexem in Wörterbüchern verzeichnet ist, wird zu Beginn die Bedeutungsangabe des Lexems aus dem großen Wörterbuch der Deutschen Sprache gestellt. Die Verwendungsweisen des Diskurses werden sodann zu den begriffsgeschichtlichen oder fachspezifischen Aspekten in Bezug gesetzt und analysiert. Hinsichtlich der onomasiologischen Perspektive wurde darauf geachtet, welche Bezeichnungsalternativen für die entsprechenden Referenzobjekte eingeführt, in welcher Funktion sie verwendet und in welche Argumentationskontexte sie integriert werden. 4.2.2 Der Embryo als umstrittenes Objekt Um den menschlichen Embryo wird nicht erst in der Auseinandersetzung um humane embryonale Stammzellforschung gestritten. Vielmehr gab es seit den Auseinandersetzungen um die gesetzliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen, über die Frage nach der künstlichen Befruchtung, über Fragen zu pränataler Diagnostik sowie der Frage nach der Forschung an und mit Embryonen Ende der 90er Jahre102 bis hin zur Frage nach der Zulassung der Forschung mit und an humanen embryonalen Stammzellen im Jahre 2001 heftige und erregte Diskussionen, in dessen Zentrum die Frage nach dem moralischen Status von Embryonen stand und steht. Dabei treffen in allen 102 Insbesondere die Diskussionen um das Embryonenschutzgesetz, die im Zusammenhang reproduktionsmedizinischer Fragen aufkamen, können dafür angeführt werden. Neben Deutschland stand in den 80er Jahren auch in Großbritannien die Frage nach dem Status von Embryonen im Zentrum des Interesses, als es darum ging im Zuge der Etablierung der In-vitro-Fertilisation Embryonenforschung zuzulassen. Vgl. hierzu den Warnock-Report, Warnock (1984); vgl. Schütze (2007). Der Status von Embryonen wurde in Großbritannien zu dieser Zeit sehr kontrovers diskutiert. Während anfänglich die Forschungsgegner dominierten, verschoben sich im Laufe der Diskussionen die Gewichte hin zur Dominanz des forschungsfreundlichen Lagers. Vgl. hierzu insbesondere Mulkay (1994), der diese Entwicklung nachzeichnet. Anfang der 90er Jahre wurde in Deutschland auch noch einmal der §218 vieldiskutiert, und zwar aufgrund der Tatsache, dass es im geteilten Deutschland zwei unterschiedliche rechtliche Praktiken des Schwangerschaftsabbruches gab und im Zuge der Wiedervereinigung eine gemeinsame rechtliche Regelung für das nun wiedervereinigte Deutschland gefunden werden musste. Vgl. zur Auseinandersetzung in Großbritannien auch Mulkay (1993, 1994 und 1997); vgl. Hauskeller (2004). Vgl. hier auch die Debatte um den §218; vgl. die Debatte um das Embryonenschutzgesetz (Bundestagsprotokoll Nr 12/99 abrufbar unter http://dip.bundestag.de/parfors/prforsalt. htm (Zuletzt zugegriffen am 30.12.2009)

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diesen Diskursen zwei Lager aufeinander: Diejenigen, die den menschlichen Embryo ab der Befruchtung als absolut schützenswertes Gut betrachten und diejenigen, die dafür einstehen, dass embryonales menschliches Leben, wenn es in Konflikt mit anderen hochrangigen Gütern wie etwa Forschungs- und Heilungsinteressen gerät, einer Güterabwägung unterzogen werden sollte. Die Konflikthaftigkeit dieser Diskurse liegt also in den einander gegenüber stehenden und nicht miteinander vereinbar scheinenden, weltanschaulich verorteten Positionen begründet. Dass sich gesellschaftliche Konflikte immer auch sprachlich manifestieren, wurde bislang hinreichend geklärt. Die sprachlichen Konzeptualisierungen des Sachverhalts bzw. Referenzobjekts der verschmolzenen Ei- und Samenzelle bzw. des Keimlings haben Auswirkungen auf das normative Verständnis von Embryonen und in diesem Kontext auch auf die Konzeptualisierung von Lebensbeginn und Menschenwürde, da durch sprachliche Konzepte immer schon Bewertungen und Urteile impliziert und dementsprechend auch Wirklichkeiten konstituiert werden103. Und so handelt es sich auch bei dem Begriff Embryo und allen in diesem Kontext gebrauchten, strittigen Begriffen um sich sprachlich manifestierende Konflikte und z. T. durch Sprache konstruierte Konflikte.104 Im Hinblick auf linguistische Fragestellungen sind auch nicht-linguistische Positionen, die von der (sprachlichen) Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit im Hinblick auf die Konstruktion des Embryos ausgehen von Bedeutung. So spricht die Ethikerin Hauskeller von der Konstruiertheit des Sachverhaltes Embryo; sowohl die naturwissenschaftlichen als auch die ethisch-philosophischen Bedeutungsfi xierungen bzw. Bedeutungsexplikationen beschreibt sie als Artefakte bzw. als Konstruktionsprozesse (vgl.

103 Ähnliches kann auch für Bilder gesagt werden. Vgl. zum Text-Bild-Verhältnis Holly (2004) oder Stöckl (2004). Linguistische Untersuchungen zum Text-Bild-Verhältnis in bioethischen Diskursen gibt es bislang nicht. Aus ethischer Perspektive ist Lesch (2005) dem Verhältnis von Bild und Normativität im Kontext der Diskussionen um den moralischen Status von Embryonen nachgegangen. So konstatiert er: „Doch trotz aller Vorbehalte angesichts einer von Bildern dominierten Auseinandersetzung wäre es töricht, sich nicht für den Bildgehalt unserer ethisch relevanten Vorstellungswelt zu interessieren. Unsere grundlegenden Intuitionen und Überzeugungen hinsichtlich dessen, was menschliches Leben ausmacht, basieren nicht auf reiner Begrifflichkeit, sondern sind von Bildern, Mythen und Symbolen beeinflusst, die zu den kulturellen Ressourcen gehören, aus denen wir unsere Plausibilitäten konstruieren.“ Lesch (2005: 332) Ich würde dem noch hinzufügen, dass mit Realitäten bewusst Bewertungen geschaffen und konstruiert werden, wenn man beispielsweise Mediendiskurse, Medienberichterstattung und die Platzierung sowie die Auswahl von Bildmaterial etc. betrachtet. Interessant ist hier beispielsweise die Bebilderung der Texte des bioethischen Diskurses um ES-Forschung im Wochenmagazin Der Spiegel. Wichtige Beiträge in linguistischer und medienwissenschaftlicher Perspektive zum Text-Bild-Verhältnis haben Holly (2004) und Stöckl (2004) geleistet. 104 So ist umstritten, ob eine verschmolzene Ei- und Samenzelle überhaupt schon ein Embryo ist bzw. es ist umstritten, was überhaupt ein Embryo ist.

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hierzu Hauskeller 2004: 154–159). Sprachlich zeigen sich die Konstruktionen in der Hervorhebung jeweils unterschiedlicher Bedeutungsaspekte und -dimensionen oder in für den Gegenstand der verschmolzenen Ei- und Samenzelle unterschiedlichen Bezeichnungen. Dass aber nicht nur sprachliche Faktoren bei der Herstellung von Artefakten eine Rolle spielen, macht Hauskeller an der Bedeutung von Bildern gerade im Hinblick auf Föten und Embryonen deutlich, die durch die Darstellungsweise eine normative Aufladung erfahren. In diesem Kontext führt sie die Technik des Ultraschalls an, die die gesellschaftliche Wahrnehmung und Konzeptualisierung des frühen Embryos stark beeinflusst hat (vgl. Hauskeller 2004:154), was sich natürlich auch sprachlich manifestiert. Der frühe Embryo ist ein wissenschaftliches und gesellschaftliches Konstrukt, dessen Status ausgehandelt werden muss. [...] Der technisch vermittelte Blick auf dieses Konstrukt lässt sich ganz offenbar je nach Zugang ausgesprochen unterschiedlich deuten und gibt also keine Richtschnur für eine Statusbestimmung. (Hauskeller 2004: 159)

Lesch (2005) fasst das Phänomen der Art und Weise der bildlichen Darstellung und der damit verbundenen hohen Bewertung Ungeborener als Metaphorisierung (vgl. Lesch 2005) und spricht vom Embryo als lebendiger Metapher. Sowohl Lesch als auch Hauskeller verweisen mit ihren ethisch motivierten Ausführungen implizit auf sprachtheoretische Positionen, die sprachlichen Faktoren im Zusammenhang mit außersprachlichen Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Wirklichkeitsdeutung und vor allem -konstruktion zukommen lassen (vgl. hierzu Kap 1 dieser Arbeit). Inwiefern nun Sprache diesbezüglich eine Rolle spielt, soll durch die unterschiedlichen Bezeichnungspraktiken und Bedeutungsalternativen, die für gleiche Referenzobjekte existieren, hier am Beispiel des Lexems Embryo aufgezeigt werden. Im Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung wird auf den Embryo in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen referiert. Dominant sind hier vor allem der biomedizinische Kontext um Forschungsmöglichkeiten, technische Innovationen und mögliche Therapien sowie der ethischphilosophische Kontext um die Verzweckung/Verdinglichung menschlichen Lebens, um Heilen als moralische Maxime oder um den moralischen Status von Embryonen, um den Beginn menschlichen Lebens und damit zusammenhängend um den Beginn der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens. Die Möglichkeit der unterschiedlichen Deutungs-, Interpretations- oder Zuschreibungsweisen schlagen sich im Sprachgebrauch nieder. Wie bereits einführend thematisiert, können hinsichtlich des sprachlichen Materials unterschiedliche semantische Strategien konstatiert werden. Die Strittigkeit des Begriffs Embryo kann sowohl in semasiologischer als auch in onomasiologischer Perspektive innerhalb des Diskurses festgestellt werden. In semasiolo-

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gischer Perspektive handelt es sich um verschiedene denotative und/oder evaluative und deontische Aspekte, die das Lexem semantisch spezifizieren und die verschiedenen Lesarten miteinander in Konkurrenz treten lassen. Hinsichtlich der verwendeten Nominationskonkurrenzen können mitunter auch die evaluative und deontische Bedeutungskomponente im Vordergrund stehen. Zunächst soll es hier jedoch um die semasiologische Perspektive gehen. Ein Blick in verschiedene Lexika zeigt, dass es sich um ein Lexem handelt, dessen Denotat sowohl in Universalwörterbüchern, als auch in Fachlexika nicht eindeutig festgelegt ist bzw. das eine polyseme Struktur aufweist. Embryo [von gr. embryon = Neugeborenes (Lamm); ungeborene Leibesfrucht] m (auch: s); -s, ...yo|nen u. -s: Bezeichnung für die Leibesfrucht von der vierten Schwangerschaftswoche an bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats (oft auch gleichbedeutend mit Fetus gebraucht) (Duden. Das Wörterbuch medizinischer Fachbegriffe, 260) Embryo, der, österr. auch: das; -s, …onen u. -s [spätlat. embryo < griech. émbryon = Neugeborenes, Ungeborenes]: 1. a) (Anthrop., Zool.) im Anfangsstadium der Entwicklung befindlicher Organismus, beim Menschen die Leibesfrucht von der vierten Schwangerschaftswoche bis zum Ende des vierten Schwangerschaftsmonats; b) (Med. seltener) Fetus. 2. (Bot.) Teil des Samens der Samenpfl anzen, der aus Keimachse, Keimwurzel u. Keimblättern besteht: (Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden, Bd.3, 1015 sowie CD-Rom-Ausgabe) Embryo [griechisch émbryon >neugeborenes (Lamm)ungeborene Leibesfruchtrechtlich festgelegte, durch einen Grenzstein, eine Schranke oder eine Mauer markierte Trennung von zwei Rechtsgebieten, z. B. zwischen Herrschaftsräumen oder anderen Besitztümern (z. B. Äckern); GrenzlinieGrenzmarkierung z. B. Form eines Steines, einer Schranke usw.; >Gebiet, Zone zwischen zwei Rechtsräumenmoralisch oder sittlich gedachte Linie, deren Überschreiten einen Rechtsbruch (z. B. in Form einer Sünde) bedeutetEnde, Reichweite der Leistungsfähigkeit e.S, eines Menschen, einer Methode; menschliche Unzulänglichkeit