Aletheia und Doxa: Das Proömium des Gedichts des Parmenides [1 ed.] 9783428495610, 9783428095612

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Aletheia und Doxa: Das Proömium des Gedichts des Parmenides [1 ed.]
 9783428495610, 9783428095612

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Hans-Christian Günther · Aletheia und Doxa

Philosophische Schriften Band 27

Aletheia und Doxa Das Proömium des Gedichts des Parmenides

Von

Hans-Christian Günther

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Günther, Hans-Christian: Aletheia und Doxa : das Proömium des Gedichts des Parmenides / von Hans-Christian Günther. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Philosophische Schriften ; Bd. 27) ISBN 3-428-09561-8

Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09561-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meiner Mutter

Unser Zeitalter

ist nicht ideal,

aber unter den seltenen wichtigen „Neuigkeiten" neuen Eigenschaften

oder den des Men-

schen muß man die wachsende Fähigkeit zu schätzen wissen: einen Klang in der Stille zu hören. W. Kandinsky (in: Essays über Kunst und Künstler, Bern 1955, S. 150f.)

Vorwort Das Proömium des parmenideischen Lehrgedichts ist viel untersucht, hat jedoch bislang in seinem philosophischen Gehalt wenig Aufmerksamkeit erfahren. Der vorliegende Beitrag ist der Versuch, das Proömium in seiner dichterischen Gestalt und seinem gedanklichem Inhalt ernstzunehmen und zugleich auf eine auch philologisch-kritisch verantwortbare Weise zu erschließen. Er geht von der Überzeugung aus, daß ein Eindringen in den denkerischen Gehalt des Textes von der historisch-kritischen Philologie unverzichtbare Einsichten empfängt, scheut sich jedoch nicht, dem Text über das Anhäufen von sprachlich-sachlichen Einzelbeobachtungen und der einseitigen Fixierung auf das vermeintlich historisch Nachweisbare hinaus frei nachzudenken und so auf die Parmenides und uns, wenn auch auf andere Weise, so doch gleichermaßen angehende Sache hinzudenken. In einem unlängst erschienenen Beitrag (genannt im Literaturverzeichnis) habe ich versucht, einige Grundgedanken der in Parmenides' Gedicht zur Sprache kommenden Problematik, insbesondere von ihrem Weiterwirken in der Metaphysik der platonischen Tradition her, auf ihren Ursprung bei Parmenides hin »zurückzudenken4. Vieles würde ich heute anders sagen. Der vorliegende Versuch bemüht sich, noch stärker hinter jeglichen Vorbegriff zurückzugehen, und ergänzt und korrigiert so das dort Gesagte. Daß die versuchte Deutung freilich vor dem Hintergrund des Denkens Martin Heideggers und seines Zugangs zur griechischen Philosophie steht, ist offenkundig und muß und soll gerade deshalb im folgenden nicht im einzelnen dokumentiert werden. Der Grund für diese Art des Zugangs liegt darin, daß der

8

Vorwort

Beitrag Heideggers zu einem Verständnis der griechischen Philosophie und der ,vorsokratischen' zumal im Kontext der geistigen Situation des modernen Menschen der entscheidende in unserem Jahrhundert ist. Die vorzügliche Aufgabe scheint mir jedenfalls, das Ereignis-Denken der späten Philosophie Heideggers, deren Verständnis seit dem Erscheinen der »Beiträge zur Philosophie*1 und der seitdem begonnenen Erschließung des Werks2 in ein neues Stadium getreten ist, für ein neues Durchdenken der griechischen Philosophie fruchtbar zu machen. Die Bedeutung dieses Denkens für die Philosophie der Antike bedarf keiner umständlichen Beweisführung; sie zeigt sich am deutlichsten in der Beschäftigung mit den Texten und der Sache selbst. In dieser Überzeugung habe ich weder versucht, den Text unbedingt in Heideggers Sprache zu interpretieren, noch diese Sprache krampfhaft zu vermeiden, wo sie von der Sache her nötig ist und sich aus der Weise des Sprechens des Textes selbst ergibt. Die gewählte Zugangsweise wird ohnehin nur demjenigen etwas sagen, der bereit ist, sich auf die hinter Heideggers - und, wie ich mit aller Entschiedenheit behaupten möchte, hinter Parmenides' Denken stehende geistige Erfahrung einzulassen. Angesichts des angedeuteten Anliegens werden die in der ungeheuer umfangreichen Forschung zu Parmenides ausdiskutierten Probleme im folgenden nicht im einzelnen besprochen, geläufige, bereits von anderen vorgetragene Deutungen in der Regel nicht eigens dokumentiert; jeder daran Interessierte kann sie in den einschlägigen Kommentaren und Monographien (besonders in dem ,Essai critque4 in: Aubenque I, S. 137ff.) nachlesen. Eine umfassende Darstellung der Interpretationsprobleme der besprochenen Texte ist nicht im entferntesten angestrebt, noch scheint sie mir sinnvoll oder möglich. Es muß hier der allgemeine Hinweis genügen, daß für Deutungen, die nicht durch Literaturangaben ausgewiesen sind, dadurch keineswegs der Anspruch erhoben wird, daß sie originell seien. Obwohl mir nur ein geringer Bruchteil der ungeheuer reichen Literatur zu Parmenides bekannt ist, bedeutet das Fehlen eines Hinweises auch nicht unbedingt, daß ich das betreffende Werk nicht kenne; noch 1

Erstmals veröffentlicht von F.-W. v. Herrmann im Band 65 der Heidegger Gesamtausgabe (GA I I I 65 [Frankfurt 1989]); hinzu kommt jetzt der ebenfalls von v. Herrmann veröffentlichte Band I I I 66: Besinnung (Frankfurt 1997). 2 Grundlegend ist F.-W. v. Herrmann, Wege ins Ereignis (Frankfurt 1994); vgl. außerdem PL. Coriando, Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-gründigen Zeit Räumlichkeit des Übergangs in Heideggers »Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) 4 (München 1998) und H. Helting, Heidegger und Meister Eckehart. Vorbereitende Überlegungen zu ihrem Gottesdenken (Berlin 1997). Der von Helting aufgewiesene Bezug von Eckeharts Rede von Gott als ,J4ichts" zu dem von Heidegger im Wesen des Gebens und Gönnens als freigebender Entzug Gedachten scheint mir der von der Sache her wesentlichste Gedanke zum Verhältnis des Heideggerschen Denkens zum überseienden Absoluten der platonischen Tradition überhaupt. Zu Heideggers Parmenidesdeutung sehr nützlich auch J. Schlüter, Heidegger und Parmenides (Bonn 1979).

Vorwort

weniger - und dies sei besonders hervorgehoben - ist das Fehlen einer Literaturangabe als Werturteil zu verstehen3. Von meiner Interpretation abweichende Deutungen habe ich jedoch nur dort erwähnt, wo sie mir für den von mir vorgetragenen Gedanken ganz besonders lehrreich erschienen. Der abgedruckte Parmenidestext ist mein eigener, der gegebenenfalls in der Interpretation begründet wird; die zuverlässigste Textausgabe ist inzwischen diejenige von D. O'Brien und J. Frère in dem im Literaturverzeichnis genannten von P. Aubenque herausgegebenen Sammelwerk. Sie bietet nicht nur den zuverlässigsten kritischen Apparat, sie ist zudem von hervorragenden Anmerkungen zur Textkonstitution und der besten mir bekannten - und das heißt einer immer (ob man ihr zustimmt oder nicht) wohldurchdachten und verantwortbaren - Übersetzung begleitet, so daß auf eine ausführliche Begründung der Textgestaltung bzw. der Übersetzung dort, wo sie mit O'Briens Auffassung übereinstimmt, verzichtet werden kann. Der vorliegende Beitrag ist erwachsen aus meinen Parmenidesseminaren im SS 1997 und im WS 1997/8 und der dort geführten Diskussion. Besonderen Dank schulde ich Ivo de Gennaro und Dr. Holger Helting, die zudem das gesamte Manuskript durchgesehen und neu mit mir durchgesprochen haben; dem Gespräch mit ihnen verdankt die Interpretation viele wesentliche Hinweise und Klärungen. Für Rat und Hilfe danke ich auch Keti Gurtschiani und Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann; Dr. Klaus Lange und Patrick Zegermacher danke für ihre Hilfe beim Korrekturlesen und bei der Erstellung der Indices.

Zähringen, Mai 1998

H.-C. G.

3 Unter den Arbeiten, die mir gerade in der Andersartigkeit ihres Zugangs besonders wertvoll und hilfreich waren, erwähne ich hier nur das Parmenideskapitel aus J. Barnes* The Presocratic Philosophers (London-New York 1979, 1993). Besonders hervorheben möchte ich auch die im Literaturverzeichnis genannte Dissertation Pfeiffers, die das Proömium philologisch auf vorbildliche Weise erschließt und dessen Ergebnissen meine Interpretation ganz wesentlich verpflichtet ist.

Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel : Der Charakter des Proömiums, Fr. Β 1, 1-3 DK

13

Zweites Kapitel: Fr. Β 1, 1-10, 15-21 DK

23

Drittes Kapitel: Die Selbstwahrnehmung des Denkenden

31

Viertes Kapitel: Fr. Β 1, 11-14 DK

37

Fünftes Kapitel: Fr. Β 4 DK

47

Sechstes Kapitel: Noch einmal: Fr. Β 1, 11-14 DK

53

Siebtes Kapitel: F r . Β 1, 22-28 DK

57

Achtes Kapitel: Fr. Β 1, 28-32 DK

64

Neuntes Kapitel: Doxa und Aletheia (Fr. Β 8, 51-54 DK; Fr. Β 9 DK; Fr. Β 6 DK; Fr.

Β 2 DK)

73

Register 1. Namen und Sachen

86

2.

Griechische

87

3.

Stellen

Wörter

88

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Asper = M. Asper, Onomata allotria: Zur Genese, Struktur und Funktion poetologischer Metaphern bei Kallimachos, Hermes Einzelschriften 75 (Stuttgart 1997) Aubenque = P. Aubenque (ed.), Études sur Parménide (Paris 1987) Becker = Ο. Becker, Das Bild des Weges und verwandte Vorstellungen im frühgriechischen Denken, Hermes Einzelschriften 4 (Berlin 1937) Burkert (1969) = W. Burkert, ,Das Proömium des Parmenides und die Katabasis des Pythagoras4, Phronesis 14 (1969) 1-30 Burkert (1977) = W. Burkert, Griechische Religion (Stuttgart 1977) DÉLG = P. Chantraine> Dictionnaire étymologique de la langue grecque (Paris 1968-) Diels = H. Diels, Parmenides' Lehrgedicht (Berlin 1897) DK = H. Diels! W. Kranz , Die Fragmente der Vorsokratiker (6Berlin 1951) Günther = H.-C. Günther, ,Der Satz des Parmenides von der Identität von Denken und Sein4, SIFC 15 (1997) 135-175 Helting = H. Helting, »Glauben - Denken - Heilen und das Sichöffnen des Tores im Proömium des parmenideischen Lehrgedichts4, in: Daseinsanalyse 15 (1998) 75-88 KG = R. Kühner! B. Gerthe Ausführliche Grammtik der griechischen Sprache, Zweiter Teil: Satzlehre (3Hannover - Leipzig 1898) LfgrE = Lexikon desfrühgriechischen Epos (Göttingen 1955 - ) LSJ = G. Liddell/ R. Scott , A Greek - English Lexicon ... with revised supplement 1996 (Oxford 1996) Montanari = F. Montanari , Vocabulario della Lingua Greca (Turin 1996) Pfeiffer = Η. Pfeiffer, Die Stellung des parmenideischen Lehrgedichts in der epischen Tradition (Diss. Bonn 1975)

Schwyzer/ Debrunner = E. Schwyzer/ A. Debrunner , Griechische Grammatik II: Syntax und syntaktische Stilistik (München 1950)

Erstes Kapitel Der Charakter des Proömiums, Fr. Β 1,1-3 DK Das Werk des Parmenides ist ein Gedicht. Es beginnt mit der Beschreibung einer Wagenfahrt, die den Sprecher einst zu einer Göttin geführt hat. Was diese Göttin dem Dichter gesagt hat, ist der Inhalt des folgenden Textes. Wovon spricht solch ein Werk? Von was für einer Fahrt spricht es? Auf welchem Weg gelangte der Fahrer zu seiner Göttin? Was ist es, das er von ihr gehört hat? Ist der zur Göttin führende Weg ein bestimmter Weg auf dieser Welt, vielleicht einer, der von dieser Welt, aus der menschlichen Alltagswelt hinaus in eine göttliche Sphäre führt? Führt er hinauf zu einem Reich des Lichts? Oder vielleicht hinab in die Geheimnisse der Unterwelt? Spricht der Dichter von einer Offenbarung, die ihm zuteil wurde? Und reklamiert er dann für sich eine persönliche Offenbarung, auf der seine Ausführungen über die Welt beruhen? Ist diese Offenbarung ,wörtlich4 zu nehmen, ist sie mystisch, religiös? Oder ist sie nichts als die Wiederholung einer bereits topisch und bedeutungsleer gewordenen Berufung eines Dichters auf eine göttliche Instanz als Quelle seines Dichtens? Ist der Text dann als Bild, als Metapher zu verstehen? Und als Metapher wofür? Welchen Charakter gibt diese bildliche Einkleidung dem Text, den sie einkleidet? Wie steht es mit der bildlichen Bedeutsamkeit des Textes im einzelnen? Darf, soll er in seinen Einzelzügen »allegorisch4 interpretiert werden, oder sind die Einzelzüge der metaphorischen Einkleidung bedeutungsleere Konvention, und beschränkt sich die Metaphorik auf das Berufungserlebnis als solches? Befragen wir, ohne jede Vorentscheidung aus allgemeinen Erwägungen heraus, den Text! Befragen wir den ersten Satz, die ersten drei Verse, was sie uns beim unvoreingenommenen Lesen sagen! Parmenides' Gedicht beginnt (Fr. Β 1 DK, Vv. 1-4): ίπποι ταί με φέρουσιν, δσον τ επί θυμός ικάνοι, πέμπον, έπε! μ' ες οδον βήσαν πολύφημον αγουσαι δαίμονες1, η κατά πάντ' αστη φέρει είδότα φώτα2· τηιφερόμην... Die Stuten, die mich tragen, soweit nur immer mein Mut gelangt, 1 2

Zum Text s. unten S. 28. Zum Text s. unten S. 14f. Anm. 4.

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stes Kapitel

geleiteten mich, nachdem mich auf den Weg vieler Kunde gebracht hat führend die Göttinnen, (den Weg) der durch alle Städte hin den wissenden Man auf ihm wurde ich getragen ... Richten wir nun die bereits gestellten Fragen an diesen Satz: Der Sprecher erzählt, er befand sich einmal auf einer Fahrt in einem von Stuten gezogenen Wagen. Auf dieser seiner Fahrt war er auf einen Weg gelangt. Auf welchen Weg? Zunächst einmal spricht der Text davon, daß der Sprecher nicht alleine, aus eigenem Vermögen auf diesen Weg gelangt ist. Jemand hatte ihn auf diesen Weg gebracht. Wohin führte dieser Weg? Er ist ein Weg, der einen „durch alle Städte", überallhin, führt. Die erste Zeile scheint das noch deutlicher zu sagen: die Stuten des Erzählers waren solche, die ihn überall dorthin tragen, wohin sein Mut, sein Wille gelangen kann. Die Stuten und der Weg sind je durch einen Relativsatz im Präsens näher bestimmt; der erste davon enthält in Unterordnung noch einen iterativen Optativ3. Die Stuten und der Weg werden somit allgemein bestimmt; die Stuten, die den Sprecher auf der bestimmten geschilderten Reise zogen, sind Stuten, mit denen er auch sonst immer wieder reist. Der Weg, auf dem er sich damals befand, ist einer, der ihn, ja überhaupt einen „wissenden Mann" schlechthin, so scheint es, schon oft überallhin geführt hat, stets überallhin führt. Der erste Relativsatz scheint auf einen ersten Blick nichts besonders Bemerkenswertes zu besagen: Die Stuten sind solche, die den Sprecher tragen, wohin er will. Der zweite scheint immerhin bemerkenswert spezifisch: Der Weg führt „durch alle Städte". Dies ist so spezifisch, daß man den Text angezweifelt hat4. Doch der Satz bietet noch eine weitere Überraschung: Das ist der Weg, auf

3

Der oft mißverstandene Satz wurde in seiner Bedeutung geklärt von Pfeiffer 78ff. (mit Bericht über die Forschung; s. besonders 94f.); selbstverständlich gehört der öcov-Satz in den Relativsatz, nicht zu πέμπον. Die im folgenden gegebene Deutung der Vv. 1-4 ist wesentlich der Abhandlung Pfeiffers verpflichtet, der m.E. den Text bis heute fast als einziger korrekt interpretiert hat. 4 Da inzwischen festgestellt wurde, daß πάντ' αοτη nicht, wie die älteren Apparate glauben machen, in einer der Sextushandschriften (N) steht, wo das Fragment überliefert ist, geben sich etwa O'Brien und Frère nach verständiger Diskussion des Problems (in: Aubenque I, 9f.) agnostisch. Mir scheint unabhängig davon, daß die im folgenden gegebene Interpretation αοτη glänzend rechtfertigt, schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus an der Minimalkonjektur πάντ' αοτη für das jeweils mit unterschiedlicher Akzentuierung und Worttrennung überlieferte PANT Α Τ Η (vgl. den Apparat in Aubenque I, S. 3) kaum Zweifel möglich, da πάντα ohne dazugehöriges Substantiv gewiß zu hart wäre, als das man es durch Konjektur einführen wollte, und ein passenderes Substantiv als αοτη nicht in Aussicht steht. Eine andere Lesung als αοτη verbietet sich aber auch deshalb, weil das Wort, wie

Der Charakter des Proömiums, Fr. Β 1, 1-3 DK

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dem ein „wissender Mann" fährt. Auch das könnte Verwunderung erregen und hat auch vielfach Verwunderung erregt. Ist der Weg des Proömiums nicht einer, der zur Erleuchtung führt, der zu einem Wissenden macht? Wie kann er dann einer sein, auf dem ein bereits Wissender fährt? Wie geht das mit dem Folgenden zusammen? Wie geht es auch nur mit der allgemeinsten, oberflächlichsten Erwartung zusammen, die jemand an ein Proömium eines ,Lehrgedichts4 stellen wird, der Erwartung, daß es, sobald das Wort Wissen fällt, darlegt, wie der Dichter zu seiner Weisheit allererst gekommen ist. Man hat είδότα prägnant als den in die Mysterien Eingeweihten verstehen wollen und auf den nur so zu belegenden absoluten Gebrauch hingewiesen5. Der Text spräche dann von der Erkenntnis, die einem mit einem besonderen Erkenntnisprivileg Ausgezeichneten zuteil wird. Daß der Text sich im folgenden auch der Metaphorik der Reise in die Unterwelt bedient, die in mystisch religiöser Dichtung zu Hause ist, ist richtig gesehen6, dennoch ist dies nur ein Bildbereich, der in der Fahrt des Parmenides anklingt. Die religiösen Konnotationen des Wegbildes werden uns im folgenden noch beschäftigen; sie werden freilich erst später aktiviert7. An dieser Stelle schon in είδότα φώτα spezifisch terminologisch den Mysten herauszuhören, fällt ohne weitere Hilfe des Kontexts schwer, und so wurde diese Deutung auch nur in Verbindung mit einer m.E. unnannehmbaren Konjektur anstelle von πάντ* άοτη vertreten8. Ganz abgesehen davon, daß kaum eine Konjektur vorstellbar ist, mit der είδότα φώτα im Sinne „Myste" deutlich genug nahegelegt würde, so wäre etwa eine Benennung des Weges als desjenigen eines fahrenden Wanderpriesters im unmittelbaren Kontext sinnlos. Den Bedürfnissen dieses unmittelbaren Kontextes - unter Lesung der Minimalkonjektur δκτη - genügt die Deutung von είδότα φώτα als „der Eingeweihte" in keiner Weise. Der erste der beiden in Frage stehenden Relativsätze scheint zunächst problemlos einem geläufigen Aussagemodell zu entsprechen, entspricht ihm jedoch bei genauerem Hinsehen durchaus nicht völlig. Der erste Relativsatz besagt nämlich nicht einfach: „(Stuten), die mich tragen, wohin ich will"; er sagt: „wohin der Θυμός gelangt". Das ist schärfer ausgedrückt als das erstere: Pferde mögen jemanden tatsächlich, wortwörtlich tragen, wohin er will, gesetzt jedenfalls, er berücksichtigt in seinem Wollen die tatsächlichen Voraussetzungen einer Reise zu Pferd. Doch können Pferde je überall dorthin gelangen, wohin der θυμός gelangt? Das zu θυμός gehörige Verbum der Bewegung „gelangen" sich zeigen wird (unten S. 66), durchaus eine bisher kaum erkannte sinnentscheidende Funktion hat. 5 Vgl. Burkert (1969) 5; zuvor bereits Diels 49; W. Jaeger , Paideia ( 3 Berlin 19545) 240; C. M. Bowra, Problems in Greek Poetry (Oxford 1953) 50. 6 S. unten S. 59ff. 7 S. unten /. cit. 8 Mit Meinekes πάντ' άανή. Auch das sprachliche Argument bezüglich des absoluten Gebrauchs von ενδώο ist keineswegs zwingend, s. unten S. 23ff.

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stes Kapitel

provoziert, nimmt man es beim Wort, ein Gegenüberstellen eines Ortes, an den Stuten gelangen, und eines, an den der θυμόο gelangt. Welche Pferde können das sein, die an jeden Ort gelangen, an den der θυμόο eines Menschen gelangt? Ist das eine pedantisch spitzfindige Auslegung, oder dürfen wir den Text in dieser Weise beim Wort nehmen? Nun, die Umschreibung von „ich will" mit „wohin mein θυμός gelangt" ist jedenfalls ungewöhnlich und markant; die Verbindung eines Prädikates ίκάνειν mit dem Subjekt θυμόο ist zwar aus gewöhnlichsprachlichen gut belegten Wendungen mit ίκάνειν des Musters ,ein Gefühl kommt den Menschen an, gelangt zu einem Ort im Innern des Menschen4 unmittelbar verständlich9, in dieser spezifischen Umkehrung - nicht ,ein Gefühl gelangt zum θυμόο4, sondern ,der θυμόο gelangt zu ...4 jedoch gerade auffällig und distinkt. Der Text scheint eine geläufige, nichtssagende Vorstellung und Formulierung „Pferde, die mich tragen, wohin ich will 4410 so pointiert zu formulieren, daß diese Zuspitzung eine Reflexion auf die tieferen, in der landläufigen Formulierung nicht mitbedachten Implikationen des Inhalts provozieren könnte. Die wörtliche Interpretation des Satzes impliziert eine Gegenüberstellung eines Phänomens der natürlichen Umgebung des Menschen, einer Reise mit einem pferdegezogenen Wagen, mit einer dem Menschen innerlichen Kraft, dem θυμόο11. Wörtlich verstanden überbietet die Aussage somit pointiert ihre alltägliche Vorlage; sie sagt nicht mehr: „Pferde, die einen überall dorthin bringen, wohin man sich (sinnvollerweise) vorstellen kann, mit Pferden zu gelangen44; sie bedeutet: „Pferde, deren Vermögen ebensoweit reicht wie das des menschlichen θυμόο44. Eine solche Strategie der Überbietung ist in dem den Weg qualifizierenden Relativsatz in einem noch vordergründigeren Sinne zu erkennen. Er spricht von einem Mann, der im Besitze von Wissen ist und auf einem Weg durch alle Städte. Diese Aussage wurde schon oft mit dem berühmten Anfang eines anderen epischen Gedichts in Verbindung gebracht12, der von einem klugen Manne spricht, der viele Städte gesehen und so zu vielfacher Erkenntnis gelangt ist, von Odysseus (Horn. Od. I Iff.), δς μάλα πολλά/ πλάγχθη [...] πολλών 9

Vgl. LfgrE s.v. lbß und LSJ s.v. II. και θυμον ίκάνει ist Horn. II. V I I I 147, X V 208, X V I 52, Od. X V I I I 274 am Versende bezeugt. 10 Vgl. Horn. Od. X V 339 (πέμψει δ' οππηι τ έπι θυμόο ικάνοι). 11 Die genaue semantische Abgrenzung des θυμόο von φρένεο und anderen ,Seelenorganen' war lange Zeit Gegenstand einer lebhaften Diskussion; G. Kloss, Untersuchungen zum Wortfeld „Verlangen/ Begehren" im frühgriechischen Epos, Hypomnemata 105 (Göttingen 1994), 168ff. hat zuletzt mit Recht einen semantischen Eigenwert von θυμόο gegenüber φρένεο bestritten; zu θυμόο vgl. auch LfgrE s.v. L, Β und Β 4 (gute Übersicht auch in Montanari s.v.). Wichtige Bemerkungen zum θυμόο ferner in H. Pelliccia , Mind, Body and Speech in Homer and Pindar, Hypomnemata 107 (Göttingen 1995) 250ff.; ferner C. P. Caswell A Study of Thumos in Early Greek Epic, Mnemosyne Suppl. 114 (Leiden 1990). " V g l . Havelock, HSCP 63 (1958) 136; ansonsten s. Pfeiffer 90ff.

Der Charakter des Proömiums, Fr. Β 1,1-3 DK

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δ' ανθρώπων ΐδεν αοτεα καί νόον εγνω. In der Tat scheint durch das seltsam spezifische κατά πάντ' άστη eine direkter Hinweis auf den Text des Odysseeproömiums vorzuliegen 13; eine so spezifische Benennung des Reiseweges kann hier, wo es doch um eine allgemeine Qualifizierung des Weges geht, für einen ersten vordergründigen Zugang zum Text anders nicht sinnvoll erscheinen14, zumal auch später keinerlei Klärung erfolgt, die die Nennung von „Städten" plausibel machen könnte, οσον τ' επί θυμός ικανοί leistet eine wünschenswert allgemeine Umschreibung des „Überallhin", das spezifische κατά πάντ' αστη kann dem nicht folgen, ohne als explizite Anspielung auf ein spezifisches Modell verstanden zu werden. In Kontrast zum Odysseeproömium spricht das Proömium des Parmenides nicht von einem neugierigen, klugen, geschickten Mann, der auf einem Weg durch viele Städte zu vielfacher Erkenntnis kommt, sondern von einem, der, bereits im Besitz der Erkenntnis, in alle Städte gelangt. Wie der erste qualifizierende Satz mit οσον τ έπΐ θυμός ίκάνοι eine anstößig markante Formulierung, so enthält auch dieser zweite zusätzlich zu der Überbietung von „viele" durch „alle" ein Wort, das aufhorchen läßt und zu näherem Überlegen Anstoß gibt, und das auch nicht allein aus dem Bezug zum Odysseeproömium zu klären ist: είδότα φώτα. Die Junktur steht betont am Ende der Periode, auf ihr ruht das Gewicht der Aussage. Dies ist das entscheidende Wort, das den Weg, von dem die Rede ist, qualifiziert. Auf der Bestimmung dieses Weges und seines Ziels insgesamt liegt wiederum das ganze Gewicht der Periode. Der folgende Zeilenanfang nimmt mit τηι φερόμην den vorhergehenden Relativsatz über den Weg und zugleich das Verbum des Anfangs ringkompositionsförmig wieder auf 15 . Wie der erste qualifizierende Satz das Ziel der Reise markant mit einem Wort beschreibt, das in den Bereich des Innermenschlichen weist, θυμός, so steht hier zur Bestimmung des Wegs ein Wort für ein innermenschliches 13 Wenn in diesem Falle eine direkte Bezugnahme auf die Odyssee behauptet wird, so möchte ich zugleich einschränkend hinzufügen, daß dabei völlig von der Frage abgesehen ist, ob Parmenides die homerischen Epen in der uns vorliegenden Form kannte. Überhaupt ist die Frage nach ganz bestimmten literarischen Vorbildern für die ältere Epoche der griechischen Literatur im allgemeinen wenig ergiebig und auch weniger bedeutsam als häufig angenommen. Direkte Bezugnahme ist aus innerer Evidenz bei der Spärlichkeit des uns verfügbaren Materials in der griechischen Dichtung selten nachweisbar. Wenn ich im folgenden immer wieder auf poetische Vorbilder oder Parallelen verweise, so soll damit nicht direkte Abhängigkeit des Parmenides von diesen Texten behauptet werden, sondern nur der Hintergrund traditioneller Vorstellungen, Motive und dichterischer, teilweise vielleicht formelhafter Gestaltung angedeutet werden, der Parmenides als Folie diente. 14 Dies schließt andere, sicherlich vorhandene Assoziationen in πάντ' αοτη keineswegs aus (s. unten S. 38 Anm. 5); doch nur der Bezug auf die Odyssee macht m. E. die Junktur im unmittelbaren Kontext verständlich; zur Bedeutung der acxt\ s. unten S. 62. 15 Zu diesem Kompositionsprinzip s. auch unten S. 29.

2 Günther

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stes Kapitel

Vermögen: είδέναι. So verstanden, nimmt είδότα φώτα erneut auf den Hinweis des δσον-Satzes Bezug: der Weg, von dem die Rede ist, ist einer, der über die erfahrbare Außenwelt hinaus in einen den Begrenzungen der alltäglichen Erfahrung nicht ausgesetzten Bereich führt, der nicht nur zu den unzählig vielen möglichen Orten der Außenwelt, sondern im wortwörtlichen Sinne überallhin führt, in den Bereich, in den nur der θυμός reicht. Der Weg, von dem hier die Rede ist, ist der Weg des θυμός, des είδέναι, der Weg des Denkens und Eikennens. Im Grunde genommen scheint sich Parmenides* Darstellung eines ,innermenschlichen* Vorgangs durch eine Wagenfahrt problemlos in vorgegebene topische Redeweisen poetischer Proömien einzuordnen. Versteht man das Fahren auf einem Weg, von dem unser Proömium spricht, einmal im »übertragenen4 Sinne, so denkt man selbstverständlich sofort an die geläufige Topik des Wegbildes und Musenwagens für das Lied. Ist dieses Bild uns auch in seiner voll ausgebildeten Form erst bei Pindar bezeugt, so zeigen doch bereits einige Homer- und Hesiodpassagen, in denen Lied und Rede als Durchschreiten eines Weges gefaßt werden16 oder die Inspiration durch die Musen als ein Aufden-Weg-Bringen benannt wird 17 , daß diese Topik älter ist Mit gutem Grund hat man vermutet, daß die Weg- und Wagenmetapher zum Inventar der indogermanischen Dichtersprache gehört 18, und gewiß darf man aus der frappanten Ähnlichkeit des Parmenidesproömiums mit Pindar auf eine vorausgehende Tradition schließen19. Freilich geht Parmenides' Text bezeichnenderweise gerade nicht in der konventionellen Gestaltung des Topos auf. Andererseits bietet Parmenides eine detailgeladene Ausgestaltung des Bildes, verweist also nicht einfach im Vorbeigehen auf die vorgegebene Metaphorik. Bei Parmenides werden die einzelnen Bildelemente in kontrastiver Analogie zu geläufiger Redeweise neu und überraschend definiert. Die hier zu besprechende, in den beiden Relativsätzen ausgebreitete Qualifizierung der Stuten und des Wegs klärt in ihrer zugespitzten Formulierung eigens die Tatsache, daß der Weg keiner der außenweltlichen Erfahrung ist Der erste Nebensatz knüpft pointiert an die Vorstellung an, daß der Weg des Sprechens die Vielfalt der Wirklichkeit zur Gänze, bis zu Ende abschreitet20. Dieses Durchmessen bis zum Ende liegt auch in Parmenides^ κατά ... αοτη (3), wo κατά das Bis-zum-EndeAbschreiten des Weges impliziert21. Belegbar ist etwa auch die Vorstellung, daß der Dichter in seinem Lied dorthin gelangt, wohin er persönlich nicht kommt22. 16 17 18 19 20 21 22

Becker 68f. Hes. Opp. 659. S. Asper 23f. Zuletzt Asper 75; zu Pindar s. auch 26ff. Vgl. Becker lOlff., 140. Vgl. LSJ s.v. Β I. 2. Richtig gesehen von Helting 77. S. Becker 80f.

Der Charakter des Proömiums, Fr. Β 1, 1-3 DK

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Bei Heraklit (Fr. Β 45 DK) ist gar die Seele explizit in ihrer Andersartigkeit dem außenweltlichen Raum als abschreitbarem gegenübergestellt23: ψυχήο πείρατα ιών ουκ αν έξεύροιο, παοαν έπιπορευόμενοο οδόν · ουτω βαθυν λόγον εχει. Die Enden der Seele wirst du nicht ausfinden, magst du auch jeden beschreiten so tief ist ihr Logos. Völlig unabhängig von der Möglichlichkeit oder Unmöglichkeit eventueller Bezugnahme durch Parmenides auf Heraklit24 zeigt dieser Text, wie nahe es dem griechischen Denken von der in gewöhnlichem Sprechen verwurzelten Wegmetaphorik her liegt, das Innermenschliche als verschieden von der Räumlichkeit der Außenwelt an einem nicht an die Grenzen des Räumlichen gebundenen Gang zu veranschaulichen. Überhaupt ist ja der Vergleich zwischen Denken und Bewegunsvorgängen etwas ,alltäglicher4 Rede durchaus Geläufiges. Die Qualifizierung einer besonders schnellen, »übermenschlich4 schnellen Bewegung als „schnell wie ein Wort oder ein Gedanke" scheint in der Zeit des Parmenides eine abgegriffene Wendung zu sein25. Selbst der Vergleich einer Wagenfahrt mit der Schnelle des Gedankens ist belegt26. Oftmals dient der Vergleich mit der Schnelle des Gedankens dazu, den Vorgang als einen sich der alltäglichen menschlichen Erfahrungswelt entziehenden, der göttlichen Sphäre angehörenden zu beschreiben. Überhaupt ist der Wagen ein geläufiges Fortbewegungsmittel der Götter27. Auf dieses Inventar geläufiger Vorstellungen und in epischer Dichtung kodifizierter Wendungen kann Parmenides sich bei seiner Darstellung des Abiaufens eines innermenschlichen Vorgangs beziehen. Parmenides scheint dabei den Sachverhalt umzukehren. Wird ansonsten eine Bewegung oder Fahrt mit der Schnelligkeit des Gedankens verglichen, so schildert Parmenides eine Fahrt, um Denken in seiner Prozesshaftigkeit zu veranschaulichen. Dient für gewöhnlich die als selbstverständlich hingenommene, nicht eigens bedachte, aus der Sphäre der phänomenalen Außenwelt hinausweisende Natur der Innenwelt 23

Vgl. dazu Becker 144. Ob Parmenides Heraklits Philosophie kannte, etwa gar gegen sie polemisiert, wie oft vermutet wurde, ist aus der Evidenz des Textes nicht zu erschließen, genausowenig das Gegenteil. Chronologische Argumente sind hinfällig, da selbst die Lebensdaten des Parmenides nicht zu sichern sind (knapper und instruktiver Überblick bei L. Taràn y Parmenides: A Text with Translation, Commentary, and Critical Essays [3Princeton 1971] 3ff.). Über direkte Einflüsse zwischen Parmenides und Heraklit zu spekulieren, ist angesichts des Fehlens jeder verläßlichen Grundlage sinnlos. 25 Belege bei Pfeiffer 88 Anm. 3. 2 6 Horn. II. X V 80ff.; beigebracht von Pfeiffer 88, dessen Deutung die im folgenden gegebene Interpretation verpflichtet ist. 27 S. auch unten S. 41. 2 4

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dazu, einen außenweltlichen Vorgang als einen jenseits der gewöhnlichen Erfahrung liegenden zu kennzeichnen, so beschreibt Parmenides einen außenweltlichen Vorgang in so markant paradoxer Weise, daß dadurch die Eigentümlichkeit des Wesens des Innermenschlichen eigens bewußt gemacht wird. Parmenides bedient sich dabei keines Vergleichs, und Parmenides' Wagenfahrt ist stricto sensu auch kein Bild und keine Metapher. Parmenides sagt nicht: „wie so und so beschaffene Stuten einen auf dem oder jenem Weg hier oder dorthin tragen, so ...", wie wir es ζ. B. aus homerischen Gleichnissen zu innerseelischen Vorgängen gewohnt sind28. Und was hätte er denn, hätte er so sprechen wollen, als proprie dictum einführen sollen? Welche Worte hätte er gehabt, den Vorgang, von dem er spricht, überhaupt auch nur zu benennen? Parmenides konnte sich nicht nur auf keinerlei entwickelte theoretische Analyse von Bewußtseinsvorgängen beziehen, ihm stand nicht einmal eine geeignete Begrifflichkeit zur Verfügung, die es ihm gestattet hätte, auch nur ein nennendes Wort für das zu finden, wovon er in seinem Proömium spricht. Denn das, wovon er hier spricht, ist noch nicht νοείν, γιγνώσκειν, ειδέναι, es ist der Akt, der zum νοείν führt, oder besser führen kann29. Für diesen Akt, für die Prozesshaftigkeit des Denkens, hat Parmenides* Sprache kein Wort, hat sie, wie wir noch sehen werden, bezeichnenderweise kein Wort 30. Vergleich, Bild oder Metapher können - auch in einem begrifflich ,hochentwickelten4 Denken - dazu dienen, eine der Alltagserfahrung verschlossene Tatsache anhand eines Vorgangs aus der Alltagswelt zu veranschaulichen, und das Denken vor Parmenides hat sich des Vergleichs in diesem Sinne reichlich bedient. Können doch Bild und Vergleich gegebenenfalls der Schwierigkeit entheben, über etwas schwer Benenn- und Beschreibbares in all seinen Einzelheiten zu reden; Bild und Vergleich beziehen sich als das uneigentlich Andere jedoch stets auf etwas in eigentlicherer Weise als es selbst möglicherweise Benennbares. Eine Zeit mit einer ausgebildeten Begrifflichkeit nicht erst die unsere, schon die Spätantike - kann Parmenides' Fahrt nur als Bild für das Denken verstehen und auslegen. Für Parmenides' Denken ist sie jedoch kein Bild, sie ist ein erster Versuch der Annäherung, in dem sich das Denken auf sich selbst besinnt, an seinen Gegenstand, ein erster Versuch, bisher nie Genanntes ins nennende Wort zu heben; sie ist ein erster Versuch, das Denken in seiner Prozeßhaftigkeit als von der alltäglichen Erfahrung Verschiedenes zu erfassen. Der Text bedient sich - kommt nicht umhin, sich dabei der einzigen 28

Vgl. e.g. Horn. II. X I V 16ff.; zu homerischen Gleichnissen vgl. K. Riezler, »Das Homerische Gleichnis und der Anfang der Philosophie', Die Antike 12 (1936) 253-271 = H.-G. Gadamer , Um die Begriffswelt der Vorsokratiker (Darmstadt 1968) 1 - 20; ferner Becker 49. 29 S. unten S. 33ff. 30 S. unten /. cit.

Der Charakter des Proömium s, Fr. Β 1, 1-3 DK

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vorausliegenden kodifizierten Vorstellungen und sprachlichen Formeln und Modelle zu bedienen, die auf Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgänge Bezug nehmen; er konnte diese ersten Annäherungen an eine Reflexion auf das Wesen des Erkennens wohl nur der Dichtung entnehmen, als der einzigen kodifizierten Form des Sprechens, in der auf derartige Erfahrungen reflektiert wurde. Und so bedient sich Parmenides* Denken konsequenterweise der Form und Sprache der Dichtung. Diese dichterische Form, die über die bloße metrische Formung der Sprache hinaus am deutlichsten das Proömium bekundet, ist mehr als bloße äußere Hülle; die dichterische Form ist die Weise, in der Parmenides zum ersten Mal das Wort für das von ihm Gedachte sucht und findet. Das Dichterische im Sinne des uns im Gegensatz zum philosophischen Denken als uneigentlichbildlich Erscheinenden tritt am deutlichsten im Proömium hervor; es muß dort hervortreten, da das Proömium die detaillierteste Beschreibung innermenschlicher Vorgänge in Parmenides' Werk gibt (jedenfalls soweit wir es besitzen), und da mußte Parmenides ohne jede vorgeprägte Begrifflichkeit auskommen. Im Verlauf des Gedichts scheint die dichterische Form oberflächlicher Betrachtung zuweilen nur mehr eine ungelenke Hülle des gerade durch seine scheinbare Abstraktheit charakterisierten Gedankens, doch begegnet uns auch in dem neben dem Proömium einzigen längeren Fragment Β 8 DK immer noch zumindest in Worten wie Δίκη (14), 'Ανάγκη (30), Μοίρα (37), jedesmal - für unser Empfinden - eindeutig personifiziert, unmißverständlich das dichterische Gewand. Parmenides nähert sich seinem Gegenstand also nicht über den Vergleich mit Sinnfälligem oder dem Verweis auf ein sinnfälliges Bild; er nähert sich ihm über den Bezug zu unserer Erfahrung mit diesem Gegenstand, wie sie sich in einer kodifizierten Art des Sprechens, der einzig ihm verfügbaren kodifizierten Art des Sprechens, der Dichtung, äußert. Die Reflexion auf die Grundlagen der alltäglichen Erfahrung innermenschlicher Erkenntnisvorgänge entspringt der pointierten Übeibietung vorgegebener Redemuster31. Diese einigermaßen umständliche Klärung der Natur des Textes, dem wir im Proömium des parmenideischen Gedichts begegnen, war nötig, um uns der richtigen Zugangsweise zu versichern. Das Proömium ist somit gerade nicht unverbindliche konventionelle Hülle, im Gegenteil, es bezieht seine Bedeutung 31 In seiner sich der dichterischen Form bedienenden Darstellungsweise unterscheidet Parmenides sich grundlegend von Heraklit. Auch Heraklits Denken ist nicht «bildlich4 im eigentlichen Sinne; Heraklit spricht jedesmal von einer sich in einem Vorgang des alltäglichen Erlebens manifestierenden Wirklichkeit; sein Sprechen ist ein Aufdecken dieser sich in dem alltäglich Erscheinenden dem alltäglichen Erfahren verbergenden Wirklichkeit. Parmenides hat ein komplexeres Verhältnis zur Sprache, er bezieht sich in seinem Sprechen bereits auf das gewöhnliche Sprechen, nicht mehr nur auf die ,gewöhnliche* Realitätserfahrung, sondern bereits auf die Weise, wie sich diese Erfahrung in der Sprache manifestiert

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gerade aus dem Kontrast zum Gewöhnlichen. Dies bedeutet, wir dürfen, wir müssen den Text in all seinen Einzelheiten als unmittelbaren Ausdruck denkerischer Besinnung ernstnehmen. ,Als unmittelbarer Ausdruck4 heißt: Parmenides' Sprechen ist nicht bildlich-uneigentlich im Vergleich mit einem anderen möglichen eigentlicheren Sprechen; zwar benennt Parmenides das, wovon er spricht, nicht unmittelbar und sein Sprechen ist insofern im Hinblick auf die Sache selbst uneigentlich, jedoch so, daß es das Sprechen im überbietenden Aufheben gewöhnlichen Sprechens in einen dem Sprechen bislang verschlossenen Bereich führt Dieses Sprechen kann unserem interpretierenden Nachvollziehen nur als Bild oder Metapher für etwas, das wir glauben, anders benennen zu können, erscheinen, dabei müssen wir uns jedoch darüber im klaren sein, daß uns so der Parmenides' denkerische Erfahrung tragende Weltbezug und somit ein wesentliches Element der Sache selbst verloren geht, was wir nur teilweise unter ständiger Reflexion auf die Andersheit unseres Zugangs zu dem, wovon Parmenides spricht, wettmachen können.

Zweites Kapitel Fr. Β 1, 1-10, 15-21 DK Befragen wir also die ersten Verse des Gedichts erneut: Was sagen sie uns über den Weg des Denkens, von dem Parmenides hier spricht? Das Wort, mit dem das Denken am unmittelbarsten angesprochen wurde, lautet ειδέναι. Schon im Sinne des überbietenden Bezugs auf den Anfang der Odyssee (oc ... ΐδεν ... καί ... εγνω), darf und muß man in είδότα den Begriff des Sehens hören. Neben ΐδεν steht ειδώο in dem bekannten Xenophanesfragment Β 34 DK, das die Fühlbarkeit der Zugehörigkeit von ειδέναι zu ιδειν unmißverständlich klarmacht1 und zugleich klärt, worin die Differenz besteht: και το μεν ουν cacpèc ουτιο άνήρ ΐδεν ουδέ τιο εοται ειδώο άμφί θεών τε καί acca λέγω περι πάντων· ει γαρ καί τα μάλιοτα τύχοι τετελεομένον ειπών, αύτόο ομωο ουκ οιδε· δόκοο δ* έπί πάο ι τέτυκται. Und das Deutliche freilich

hat kein Mensch gesehen, und keinen wird es geben, der ein Einsehen davon hat hinsichtlich der Götter und was ich über a sage; Denn wenn es sich auch in höchstem Grade treffen sollte, daß er Vollkommenes sagt, so besitzt er dennoch kein Einsehen davon: denn bei allem gelingt nu Annehmen. Was sagt dieser Text über das Verhältnis von,Sehen4 und ειδέναι? ειδώο in Ζ. 2 nach ΐδεν in Ζ. 1 setzt beide Worte in einen Bezug: wo ειδώο steht, könnte scheinbar mit nur geringem Sinnunterschied auch δψεται stehen. Mit οίδε in Z. 4 steht es ganz anders, hier könnte kaum ίδεΐν „sehen" eintreten, lf. sagen: Sehen kann man das οαφέο nicht; deshalb wird niemand es hinsichtlich der Göttern und aller Dinge: ειδέναι. Das ist etwas anderes als bloß δψεται; es ist auch nicht einfach „gesehen haben": dieses Perfekt ist nicht einfach iesultativ, es ist ein zugleich intensivierendes Perfekt des erreichten Zustands. ειδώο ist eine neue Qualität von ιδών; ειδώο bedeutet: da man das οαφέο „das Deutliche" 1

Die Stelle wurde bereits herangezogen von B. Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Philologische Untersuchungen 29 (Berlin 1924) 25.

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nicht ,mit den Augen4 sehen kann, wird auch keiner je in den Zustand gelangen, in dem er ein Sehen bei sich hat, in dem ihm ein Sehen zugehört hinsichtlich dieser Dinge2, είδέναι beinhaltet mehr als bloßes Sehen von etwas, so wie es sich eben trifft, είδέναι ergäbe sich aus dem Sehen des cacpéc, was das caφέο bedeutet, sagt das Folgende: είδέναι impliziert im Gegensatz zu ίδειν ein sicheres Wissen und in diesem Sinne eine Art ,Gewißheit\ eine Gewißheit, die sich aus der Ein-sicht in das ergibt, was man gesehen hat und als jenes Gesehene „sagend44 ins Vorliegen bringt. Sie bleibt dem Aufs-Geradewohl-insVorliegen-Bringen (τύχοι ... ειπών) versagt, das im bloßen Hinnehmen (δόκοο3) besteht. Denn die Einsicht in das Gesehene liegt in einem Zustand, in dem das Gesehenhaben weiter so andauert, daß das Sehen dem Sehenden wesenhaft zugehört; eben das bringt das Futurum exactum εοται είδώο im Gegensatz zu δψεται zum Ausdruck: „bei keinem Menschen44, sagt Xenophanes, „wird das einmal vollzogene Sehen - auch dann nicht, wenn es tatsächlich Sehen des cacpéc gewesen wäre - so in die Zukunft hineinwirken, daß es sich selbst über den einmal vollzogenen Vollzug hinaus über sich selbst Rechenschaft geben könnte44. Dies bedeutet είδέναι im Gegensatz zu ίδειν: der durch das Perfekt im Gegensatz zu Präsens und Aorist zum Ausdruck gebrachte Aspekt des erreichten Zustandes stellt einen Vorgang weder bloß konstatierend als vereinzelten vor, noch läßt er ihn einfach nur in seinem Verlauf in unbestimmter Ausdehnung vor Augen treten: im Perfekt erscheint ein Vorgang in seinem Sich-Erstrecken zugleich als ein auf die Gegenwart hin in diese gesammelter. Der είδώο φακ des Parmenides ist also nicht einfach der Mann, der gesehen hat, er ist der Mann, dem Sehen, Einsehen sicher zugehört, und der so im Wissen steht. Das Denken ist nicht voraussetzungslos. Sicherlich bedeutet der Satz des Parmenides zunächst auch: Die in Ζ. 1 angesprochene Intention des Denkens (δσον τ επί θυμός ίκάνοι), sein Sich-auf-etwas-Richten kann ans Ziel nur gelangen, wenn zuvor eine Einsicht allererst vorhanden ist Der Text spricht aber nicht davon, daß das Denken sich auf einem Weg befände, auf dem es gelingt, immer wieder zu allem bereits Erfahrenen zu gelangen; es wird nicht davon gesprochen, daß es da irgendwelche erfahrenen Dinge gibt, die das Denken nach Belieben wieder hervorholen kann. Nicht nur darf είδέναι nicht einfach als resultatives Perfekt verstanden werden, bezeichnenderweise steht es, wie bereits angedeutet, überhaupt ohne ein Objekt. Dies muß keineswegs bedeuten, daß das Wort hier eng terminologisch im Sinne von „der Myste44 verwendet ist. Richtig ist, daß είδότα ohne Objekt markant gebraucht ist. Der absolute Gebrauch ergibt sich jedoch zwanglos, wenn man bedenkt, daß είδέναι, besonders im 2 So wird die häufige Verwendung von είδέναι mit neutralen Adjektiven in Wendungen wie φ ί λ α , ήπια είδέναι bei Homer verständlich (vgl. LSJ und Montanari s.v. 1). 3 S. unten S. 70.

Fr. Β 1, 1-10, 15-21 DK

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Partizip, ohnehin häufig auch mit Genitiv verbunden ist4. Ein nicht näher qualifziertes ειδώο bezeichnet eo ipso den nicht mit einer bestimmten Kenntnis, sondern vielmehr den mit besonderer Einsicht schlechthin Ausgezeichneten. So kann es den Mysten bezeichnen, und man wird wohl in der Tat sagen dürfen, daß diese Konnotation des Wortes im folgenden aktiviert wird 5, Parmenides verwendet das Wort jedoch zunächst ohne spezifisch terminologischen Inhalt in dem angegebenen allgemeinen Sinne eines intensivierten Sehens, in dem zugleich die Konnotation der besonderen Einsicht schlechthin liegt. Der ειδώο άνήρ ist also nicht der Mann, der die Einsicht in etwas Gesehenes hat, nicht die in vieles, nicht die in alles mögliche Gesehene; der ειδώο άνήρ ist jemand, der in vorzüglicher Weise im Besitz von Sehen schlechthin ist, nicht von einem physiologischen Sehvermögen, durch das er immer wieder, wie es sich trifft, etwas sieht, sondern er ist einer, dem der Akt des Sehens in der Weise wesenhaft zugehört, daß er in jedem Akt des Sehens immer jenes eine eigentliche, immer schon vollzogene Sehen vollzieht, das Sehen als die dem Menschen gegebene Möglichkeit des Auf-Anderes-Zugehens schlechthin, als die Möglichkeit des Anderes-in-das-eigene-Erfahren-Aufnehmens. Dieser Mensch, der Sehen in diesem Sinne vollzieht, gelangt in „alle Städte", nicht nur die, die er jeweils vor seinen Gesichtssinn bekommt. Er durchmißt die Städte allesamt in ihrer Gesamtheit (κατά! 6 ), ohne sich an eine einzelne zu verlieren. So wird verständlich, was es bedeutet, daß der Text eben nicht sagt „der Mensch, der sehen kann, der gut sieht, oder der viel sehen will, der neugierig ist, gelangt überallhin", daß er hingegen sagt: derjenige Mensch gelangt stricto sensu überallhin, ohne an die Beschränkungen alltäglich gewöhlichen Sehens gebunden zu sein, dem eigentliches Sehen zugehört, ein Mensch, der sich in die Möglichkeit gestellt hat, wirklich zu sehen. Was trifft diesen Menschen? Was »sieht4 der Mensch, der wirklich zu sehen vermag? Der Mensch, der in dieser Weise sieht, ist auf einem Weg, und dieser Weg führt ihn, d.h. auf diesem Weg trifft ihn das Andere, das er sieht. Dieser Weg wird πολύφημοο genannt. Es ist ein Weg, der „viele Stimmen, viele Worte besitzt44, „vieles sagt447, d.h. auf diesem Weg zeigt sich das Erfahrene als etwas, was zum Menschen »spricht4; er ist ein Weg, auf dem das, was der Mensch im Akt des ιδείν in seine Erfahrung aufnimmt, von sich her als es selbst, als anderes auf den Menschen zukommt und ihm etwas sagt, d.h. sich ihm

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Vgl. Montanari s.v. 3 b. S. dazu unten S. 59. 6 S. oben S. 18. 7 Keinesfalls ist πολύφημοο hier entgegen der gewöhnlichen Verwendung (vgl. Horn. Od. I I 150, Χ Χ Π 376) im Sinne von „berühmt" zu verstehen (so etwa LSJ\ richtig dagegen Montanari s.v.); zu Pi. / V I I I ( V I I ) 64 (in LSJ ebenfalls mißinterpretiert) s. J.B. Bury [London 1892] ad loc.). 5

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übereignet, sich so in seinen Besitz begibt, daß er ein Ein-sehen davon hat, ειδώο ist. Mit είδέναι wird implizit die optische Wahrnehmungsfähigkeit angesprochen; πολύφημο*: spricht die akustische Wahrnehmung an. Die engste Parallele zu der Junktur bòbe πολύφημοο, Horn. Od. II 150, spricht von einer άγορή πολύφημοο, vom Geschrei auf dem Marktplatz; das Stimmengewirr eines vielbefahrenen Weges, das ist es, woran der Leser bei bòbe πολύφημοο zuerst denken wird. Doch in der Verbindung mit dem folgenden Relativsatz wird der rein akustische Aspekt in πολύφημοο zurückgenommen. In dieser Verbindung werden akustische und optische Wahrnehmung gerade jenseits des bloß akustischen oder optischen Eindrucks gestellt; sie werden so angesprochen, daß optisches und akustisches Wahrnehmen sich aufeinander beziehen und zusammenfallen: derjenige, den die πολλαί φήμαι der οδόο angehen, ist der ειδώο άνήρ. Sein ,Sehen4 ist eines, das die »Sprache4 des Weges versteht: im alltägliches Sehen übersteigenden Vernehmen dieses Sehens fallen Hören und Sehen zusammen - die φήμη des Weges ist keine bloße Verlautbarung, sondern ein Ansprechen des zu eigentlich sehendem Vernehmen Fähigen. Das Kompositum auf -φημοο ist zu dieser Akzentverschiebung besonders gut geeignet Der Kontext aktiviert in πολύφημοο die vorzügliche Konnotation von φήμη im Sinne von „Götterspruch, Prophezeihung44, gerade auch mit der in der Bedeutung „Gerücht44 häufig mitschwingenden Nuance des geheimnisvoll Bedeutsamen. Die Analogie des Denkens mit dem Sehen und dem Hören durchzieht das gesamte Proömium8, ja sie durchzieht das ganze Gedicht. Auf das Sehen geht einerseits das Sprechen von Licht und Dunkelheit, andererseits, ganz abgesehen von είδέναι und λεύοοειν (Fr. Β 4 DK 9), auch das prominenteste Verbum der Erkenntnis: νοειν10. Auf das Hören gehen die ständig wiederkehrenden Verben des Sprechens. Ein akustisches Phänomen wird jedoch auch im unmittelbar Folgenden (6-10) angesprochen: άξων δ' έν χνοίηιοιν ιει ούριγγοο αυτήν αίθόμενοο (δοιοιο γαρ έπείγετο δινωτοίοιν ιούκλοιο άμφοτέρωθεν), δτε οπερχοίατο πέμπειν Ήλιάδεο κουραι, προλιπουοαι δώματα Νυκτόο ειο φάοο, ώοάμεναι κράτων απο χεροί καλύπτραο. Die Achse in den Naben gab den Ton einer Rohrpfeife glühend (denn sie wurde getrieben von zwei wirbelnden 8 Sextus (Adv. Math. V I I 113f.) hat in seiner allegorischen Deutung durchaus etwas Richtiges gesehen, wenn er in den wirbelnden Kreisen die Ohren, in den Mädchen den Gesichtssinn angesprochen sieht. 9 S. unten S. 47ff.; besonders Anm. 1. 10 S. Günther 151ff.

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Kreisen zu beiden Seiten), als sich beeilten zu geleiten die Heliadenmädchen, die das Haus der Nacht verlassen hatten hin zum Licht 11, die mit den Händen von den Häuptern die Schleier ges hatten. Hier steht erneut, wie in Vv. 1-3, das akustische Phänomen neben dem optischen, hier ausgedrückt in der Lichtmetaphorik von 9f.; doch bereits in αιθόμενοο steht das Licht unmittelbar neben dem Pfeifton der Räder. In 6f. muß das seltsame Wortspiel mit der Doppelbedeutung von ούριγξ „Röhre" zum einen als das Loch der Nabe, in dem die Achse sich dreht, zum andern als „Pfeife" auffallen 12: die Achse auf den Naben gibt den Ton einer ούριγξ; d.h. die Achse tönt in der ούριγξ, in der „röhrenförmigen Vertiefung" der Radnabe, wie eine röhrenförmige Pfeife. Dies verleiht der Stelle eine Bedeutsamkeit, die eine rein ornamentale Auffassung des Textes verbietet13. Gewiß malt das Pfeifen und Funkensprühen der Räder und Achse einerseits das Schnelle der Fahrt, ganz im Kontext des Vergleichs der Fahrt mit der Schnelle des Gedankens14. Es malt zugleich aber auch das Gefährliche, das Bedrohte, Schwierige der Fahrt 15; unterstrichen wird das Bedrohliche, Verwirrende der Schnelligkeit der Fahrt noch einmal von der Parenthese (δοιοιο γαρ έπείγετο δινωτοιοιν κύκλοιο άμφοτέρωθεν), die nochmals eigens von der wirbelnden Bewegung der Räder spricht. Die Schnelligkeit des Denkens erscheint hier also gerade nicht in konventioneller Weise als Mühelosigkeit; bei aller Schnelligkeit, gerade in seiner Schnelligkeit trifft das Denken auch auf eine Widerständigkeit, auf etwas bedrohlich Bedrängendes. Um in der Bildlichkeit4 des Textes zu sprechen: die verwirrende auf den Fahrer eindrängende Stimmenvielfalt des Wegs wird hier noch überboten, übertönt durch das alle Aufmeiksamkeit in Anspruch nehmende bedrohliche Geräusch der nur mit Mühe den Schwierigkeiten des Wegs und der Schnelle der Fahrt gewachsenen Wagenräder. Diese Fahrt bedarf eines schützenden Geleits. Passend werden im Anschluß an diese Beschreibung der Gefährdung die göttlichen Geieiterinnen der Fahrt ausgiebig vorgestellt. Angedeutet wurde dieses Geleit, wenn in Z. 3, wie ich es für wahrscheinlich 11

Zur Übersetzung s. unten S. 35 Anm. 14. Diels (zur Stelle) gibt eine andere, eher unwahrscheinliche Erklärung der Benennung des Loches der Nabe als ούριγξ. O'Brien (in Aubenque I, zur Stelle) scheint mir die Bedeutung der Stelle bislang als einziger ganz richtig erfaßt zu haben. 13 Die Erwähnung des Geräuschs erhitzter Radnaben könnte im Kontext der Wegund Wagenmetapher durchaus traditionell sein; vgl. Pind. Fr. 140b.8 SM mit Aspers 27f. Interpretation. 14 S. oben S. 19. 15 Man könnte auch an Horn. II. V 835 ff. denken, wo die Achse von Diomedes knarrt, als Athene aufspringt, um ihm im Kampf beizustehen, obwohl es natürlich bei Parmenides nicht darum geht, daß die Achse unter einer Last, etwa der der göttlichen Geieiterinnen, knarrt. Das Geräusch ist eindeutig als ein durch die schnelle Drehung verursachtes beschrieben. 12

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halte, tatsächlich δαίμονεο zu lesen ist 16 , bereits dort, spätestens jedoch in Z. 5 (Fr. Β 1,4f. DK): τηι φερόμην · τηι γάρ με πολύφραοτοι φέρον 'ίπποι αρμα τιταίνουοαι, κουραι δ' οδον ήγεμόνευον.

auf ihm wurde ich getragen; denn auf ihm trugen mich die vielverständi Stuten, den Wagen ziehend, Mädchen wiesen den Weg. Schon in τιταίνοικαι wird das Schwierige, Gefährliche der Fahrt präludiert; die Pferde müssen sich mächtig anstrengen17, allein vermögen sie den Wagen kaum zu ziehen; sie bedürfen eines schützenden Geleits. Benannt werden die geleitenden Mädchen erst in Z. 9. Die Heliaden als Geleiterin einer Wagenfahrt lassen, wie längst bemerkt wurde18, an die Fahrt des Phaeton auf den Rossen des Helios denken. Sie verweisen also erneut auf das Gefährliche, ja das anscheinend unweigerlich zu schlechtem Ausgang Führende der Fahrt. Phaeton freilich haben die Heliadenmädchen nicht geleitet; Phaeton haben sie nur die Rosse angespannt. Die Fahrt, auf der sich Parmenides befindet, erscheint so als eine, auf der der Mensch alleine zum Scheitern verurteilt ist, die nur unter göttlichem Geleit gelingen kann. Das markante, zu einem Wortspiel genutzte Wort ούριγξ kehrt nur wenig weiter unten wieder, wo die Fahrt an ihr Ziel gelangt (15-21): την δη παρφάμεναι κουραι μαλακοΐα λόγο te ιν πειοαν έπιφραδέοκ, ώο c