Akteure, Tiere, Dinge: Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit 9783412508678, 9783412505202

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Akteure, Tiere, Dinge: Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit
 9783412508678, 9783412505202

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Silke Förschler ∙ Anne Mariss (Hg.)

Akteure, Tiere, Dinge Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit

2017

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der LandesOffensive zur Entwicklung Wissenschaftlichökonomischer Exzellenz des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung  : Bienenfresser (Merops apiaster). In: Das Vogelbuch der Familie Graviseth (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.XV.49, f. 139.) © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Ulrike Weingärtner, Gründau Einbandgestaltung  : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Generaldruckrei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50520-2

Inhalt 7

Silke Förschler · Anne Mariss Die frühneuzeitliche Naturgeschichte und ihre Verfahrensweisen



SAMMELN & SYSTEMATISIEREN

Thomas Ruhland 29 Zwischen grassroots-Gelehrsamkeit und Kommerz. Der Naturalienhandel der Herrnhuter Südasienmission 47

Dominik Hünniger Sammeln, Sezieren und Systematisieren. Europäische Insektenkunde um 1800

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Simona Boscani Leoni Züricher Naturaliensammlungen. Orte, Akteure und Objekte

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Silvia Flubacher Der Zahn der Zeit. Vom »gegrabenen Einhorn« oder wie der Elefant nach Deutschland kam

KOMMUNIZIEREN & TRANSFORMIEREN 95

Bettina Dietz Kollaboration in der Botanik des 18. Jahrhunderts. Die partizipative Architektur von Linnés System der Natur

Staffan Müller-Wille 109 Verfahrensweisen der Naturgeschichte nach Linné Julia Breittruck 125 »perfectibilité d’espèce« ? Die ›Curieux‹ und die Vögel an der Schwelle zwischen altem und neuem Wissen

Irina Pawlowsky 139 Wissensproduktion und Wissenstransfer. Die Debatte über eine Verbindung von Amazonas und Orinoco und ihre Akteure

ERFINDEN & PRÄSENTIEREN Karin Leonhard 159 Schlangenlinien. Die wissenschaftliche Zeichnung zwischen Ornament und Experiment Sebastian Schönbeck 177 Schnittverfahren. Operationen an der Hydra (Trembley, Linné, Goethe) Matthias Preuss 193 Zur Ordnungswidrigkeit der Dinge. Linnés marginale Monstrosität(en) und das kalligrammatische Verfahren Eva Dolezel 209 Die Logik des Schauraums. Zur Präsentation von Naturalien abseits der Taxonomien André Krebber 225 Merians ästhetische Wege zur Naturgeschichte

KOMMENTAR Mieke Roscher 245 Wie viel Akteur steckt im gesammelten und bewahrten Tier  ? Ein Kommentar aus Sicht der Human-Animal Studies 253 Abbildungsnachweise 255 Autor*innen

Silke Förschler · Anne Mariss

Die frühneuzeitliche Naturgeschichte und ihre Verfahrensweisen Der Bienenfresser der Familie Graviseth

Auf dem Umschlag des vorliegenden Bandes baumelt der Körper eines Bienen­ fressers an einer durch die Nasenlöcher gezogenen Schnur schlaff herab. In der Ansicht des Aquarellblattes können sein geöffneter Schnabel und seine hängenden Flügel detailliert studiert werden. Deutlich werden sowohl die Struktur seines Federkleides als auch die leuchtende Farbgebung und die verschiedenen Texturen des Gefieders. Das Blatt ist eines von 200 Vogelbildern, die die Familie Graviseth mit Hilfe verschiedener Künstler vermutlich ab 1637 fertigen ließ. Auf Schloss Liebegg im bernischen Aargau in der Schweiz ging der Schweizer Adlige Jakob Graviseth seiner Vogelliebhaberei nach. Ornithologische Fachbücher zeichneten den Bestand seiner Bibliothek aus  ; die aquarellierten Zeichnungen weisen ausführliche Kommentare zur Herkunft der abgebildeten Vögel auf und beschreiben ihr Verhalten. Aus den handschriftlichen Notizen lassen sich auch die Vogellieferanten rekonstruieren. So wurden die Vögel beispielsweise auf dem Berner Markt erworben, als Gaben im patrizischen Netzwerk der Graviseths getauscht, vom eigenen Personal gejagt und zur Verfügung gestellt.1 Das gemalte Tier verweist auf wesentliche Verfahrensweisen der Naturgeschichte, die sich auf die Bildproduktion, die Systematik und Netzwerke beziehen. Der für die Naturgeschichte wichtige Austausch zwischen dem der hohen Kunst zugeordneten Genre der Malerei und der illustrierenden Aquarellzeichnung lässt sich anhand des Bienenfressers deutlich ablesen  : Die bildliche Darstellung des Vogels, also seine hängende Haltung an einer aus dem Bild verweisenden Schnur, lehnt sich an Jagdstillleben an. So findet sich beispielsweise 1 Vgl. Burgerbibliothek Bern (Hg.)  : Die Vögel der Familie Graviseth. Ein ornithologisches Bilderbuch aus dem 17. Jahrhundert, Bern 2010, S. 20–24.

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Abb. 1: Albrecht Kauw  : Segen der Lüfte, 1660, Öl auf Holz, 125 x 184 cm, Musée d’art et d’histoire, Ville de Genève, inf. N° CR0375.

auf Albrecht Kauws Gemälde mit dem Titel Segen der Lüfte aus dem Jahre 1660 ebenfalls eine Reihe mit aufgehängten Vögeln (Abb. 1).2 Die ästhetisierten Vogelzeichnungen wurden 1725 und 1733 in eine ornithologisch-systematische Reihenfolge gebracht und in ein Album geklebt. Es zeigt sich hier der Anspruch der adligen Sammlerfamilie, eine wissenschaftliche Systematik und Ästhetik der im Stile der Jagdstillleben angefertigten Bilder zu etablieren. Damit wird auch deutlich, wie divers die Verfahrensweisen der Naturgeschichte waren  : Einerseits geht es darum, allgemein nachvollziehbare Ordnungen zur Generierung naturhistorischen Wissens einzuführen, andererseits wird bei der Vermittlung auch auf eine künstlerische Bildsprache zurückgegriffen. In den Legenden und Kommentaren findet sich ornithologisches Fachwissen versammelt  : Die Arten der Vögel werden bestimmt, ihre Ähnlichkeiten diskutiert und aufgelistet, Namen, Alter, Geschlecht angegeben und Vergleiche mit bekannten Exemplaren aus der tradierten Literatur gezogen. Auch die handschriftlichen Kommentare des Bienenfresser-Blattes informieren auf verschiedenen Ebenen. Die Nomenklatur (»Merops  ; Guespier  ; 2 Vgl. ebd., S. 58–69.

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Imbenstecher«) bezeichnet das abgebildete tote Tier. Gleichzeitig werden Informationen zu seiner Herkunft und seinem arttypischen Verhalten gegeben  : »Diser Vogel ist im Herbst zu Keyserstul in der Grafschaft Baden 1644 geschossen worden, ist villeicht Merops Bellonii, auf deutsch ein Imbenfraß  ; es seindt ettliche mit einander geflogen.«3 Mit Blick auf das Bienenfresser-Blatt werden somit gleichzeitig unterschiedliche Verfahrensweisen der Naturgeschichte deutlich  : Das Sammeln, Jagen und Töten von Tieren, ihre taxidermische Bearbeitung, ihre Präsentation und Anordnung als Spezimen, ihr Status als Gabe in bürgerlich-adligen Netzwerken, ihre ästhetisierende Visualisierung in verschiedenen medialen Formen, ihre wissenschaftliche Beobachtung, Beschreibung und Systematisierung. Doch zunächst  : Was meinen wir, wenn wir von Naturgeschichte sprechen  ?

Vom Verlauf der Naturgeschichte

Der Bedeutung von Wahrnehmungsprozessen und ihrer Interpretation in der frühneuzeitlichen Naturgeschichte als »vornehmste aller Wissenschaften«4 ist bereits in einigen Arbeiten nachgegangen worden.5 Einigkeit herrscht über den historischen Wandel im Umgang mit der Natur. Stehen zu Beginn der Frühen Neuzeit unentwirrbare Beschreibungen aller denkbaren Zeichen und mögliche Verbindungen der Naturalia, endet die in der Forschung gezogene Entwicklungslinie der Naturgeschichte mit der Einführung einer intersubjektiv nachvollziehbaren Struktur. Die Verbindlichkeit, die mit Linnés Merkmalen von numerus, figura, proportio und situs gegeben ist,6 wird von Michel Foucault als das Ergebnis der »Geschichte einer Reinigung«7 verstanden. Hat 3 Ebd., S. 73. 4 Linné, Carl von/Soederbert, Olof Anderson  : »Curiositas naturalis«, in  : Amoenitates academicae seu dissertationes variae physicae, 1787/1.18/541. 5 Foucault, Michel  : Die Ordnung der Dinge, (1966), Frankfurt a. M. 1971  ; Lepenies, Wolf  : Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19.  Jahrhunderts, München/Wien 1976  ; Trepl, Ludwig  : Geschichte der Ökologie. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1987  ; Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, (1936), Frankfurt a. M. 1993. 6 Linné  : Systema naturæ. per regna tria naturæ, secundum classes, ordines, genera, species, cum characteribus, differentiis, synonymis, locis, I, Stockholm 1766–1768, S. 13. 7 Foucault  : Die Ordnung, S. 173. Pierre Belon beispielsweise erkennt die morphologische Struktur und das Habitat noch als Kriterien gleichermaßen an, seine Ordnung nach Gestalt und nach Nützlichkeit bzw. Schaden verbindet alles im Sinne der Signaturenlehre. Für Foucault beginnt in

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man sich der »unsicheren Sinne«8, also des Geruchs und Geschmacks, erst einmal entledigt, gewinnt im ersten Moment das Sichtbare an Relevanz, um dann auf längere Sicht jedoch zu einer gefilterten und eingeschränkten Beschreibungsstruktur zu gelangen. Nicht nur die Fülle an sinnlichen Wahrnehmungen wird außer Acht gelassen, sondern auch die Möglichkeit sich unterschiedlicher rhetorischer Register wie der Fabel, den Erwägungen von Nützlichkeit, dem Aufzeigen kosmologischer Signaturen und dem Entwurf einer Ästhetik der Natur gleichzeitig und in gleichem Maße zu bedienen. Folgt man diesem von Michel Foucault 1966 in der Ordnung der Dinge entworfenen Modell, zeichnet sich die Naturgeschichte durch die zunehmend strukturierte »Benennung des Sichtbaren«9 aus. Foucaults epistemischer Begründungszusammenhang geht davon aus, dass das »Privileg der Sehkraft« nicht darin besteht, dass »man besser und aus größerer Nähe hingeschaut«10 hat, sondern dass man in einem ersten Schritt versucht hat, die Sinne auf den Sehsinn zu beschränken, um dann im zweiten das Sehen und damit auch die Gegenstände zu reinigen.11 Idealerweise ist der Gegenstand von seiner eigenen Ästhetik befreit und besteht lediglich aus Linien, Oberflächen, Formen und Reliefs.12 Damit einher geht die Vorstellung, dass sich die Natur selbst in ihre Darstellung einschreibt. Der von Foucault aufgezeigte Wandel von Diskursen und Epistemen ist eine Möglichkeit, den historischen Verlauf und das Ende der Naturgeschichte zu beschreiben. Eine andere Narration bietet Arthur O. Lovejoy. In seiner an der John Hopkins University gehaltenen Vorlesung zur Ideengeschichte der Naturgeschichte, die 1936 unter dem Titel Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens publiziert wurde, destilliert der Historiker und Literaturwissenschaftler Lovejoy drei Prinzipien. Zentral für die Idee einer Kette der Wesen in der Naturgeschichte sind laut Lovejoy das Prinzip der Kontinuität, das Prinzip der Fülle und das Prinzip der linearen Abstufung. In diesen drei Jonstons Historia naturalis de quadripedibus (1657) die Reduzierung der gesamten semantischen Fülle, die ein Lebewesen mit der Welt verband. Eine Trennung von Beobachtung, Dokument und Fabel wurde vollzogen. Die Zeichen waren nun nicht mehr Teil der Dinge, sondern wurden zu Repräsentationsweisen. Vgl. ebd., S. 170.  8 Diese Annahme durchzieht das Werk beispielsweise von Joseph Pitton de Tournefort. Vgl. Löther, Rolf  : Die Beherrschung der Mannigfaltigkeit. Philosophische Grundlagen der Taxonomie, Jena 1972, S. 89.   9 Foucault  : Die Ordnung, S. 173. 10 Ebd. 11 Vgl. ebd., S. 176. 12 Vgl. ebd., S. 179.

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Prinzipien sah Lovejoy aber auch gleichzeitig das Ende der Naturgeschichte im 19. Jahrhundert begründet. So sei die Kette der Wesen durch das problematische Prinzip der Kontinuität von Arten, das nur schwierig mit den Beobachtungen zu deren Veränderlichkeit zu vereinbaren war, »durch ihr eigenes Gewicht« gerissen.13 Charakteristisch für die scala naturæ als »kategoriales Muster der Naturgeschichte«14, die gerne als Stufenleiter oder Kette beschrieben wird, sind zwei Merkmale, die auf den ersten Blick kaum miteinander in Verbindung zu bringen sind. Grundlegend für die ›Kette der Wesen‹ ist ihre hierarchisch ausgerichtete Struktur, gleichzeitig ist sie bestimmt durch die Idee einer wechselseitigen Verbundenheit aller existierenden Wesen. Ihr Potential liegt in der Art und Weise, wie ihre einzelnen Kettenglieder zueinander gefügt wurden. In diesem Denken einer Verbundenheit liegt das ideengeschichtliche Fundament frühneuzeitlicher Naturgeschichte. Eine Herausforderung bestand für die Zeitgenossen darin, die auf unterschiedliche Arten mit der Welt in Verbindung stehenden Reiche der Mineralien, der Pflanzen und der Tiere miteinander in Einklang zu bringen. Als Lösungsansatz dieses Problems erfahren Figurationen des Übergangs besondere Aufmerksamkeit. Kleinere und größere Zwischenstufen gewährleisten das enge Ineinandergreifen aller Kettenteile. Um die Regelmäßigkeit der Gesamtfolge nicht zu stören, nehmen transitorische Wesen wie Menschenaffen, Fledermäuse, Korallen und Polypen eine Vermittlerrolle ein. Wie die Wesen, die in verschiedenen Lebensbereichen beheimatet sind, interpretiert werden sollen, wird immer wieder neu verhandelt. Sie werden als ungeliebte Störfälle, als sehnsüchtig Gesuchte oder einfach als benötigte Kettenglieder beschrieben, die als Zwischenwesen bzw. missing links auf der Kette der Lebewesen zu verstehen sind.15

13 Lovejoy  : Die große Kette der Wesen, S. 295. 14 Trepl  : Geschichte der Ökologie, S. 91. 15 Vgl. hierzu Bühler, Benjamin  : Steinpflanzen und Pflanzentiere. Vom Störfall zur universalen Ordnung, in  : Bäumler, Thomas u. a. (Hg.)  : Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, Zürich 2011, S.  17–32  ; Förschler, Silke  : Ikonografie der kleinen Unterschiede. Chardins malender Affe und Menschenaffen in naturhistorischen Illustrationen, in  : Koehn, Elisabeth Johanna u. a. (Hg.)  : Andersheit um 1800. Figuren – Theorien – Darstellungsformen, Reihe Laboratorium Aufklärung, Bd. 8, München 2011, S. 249–265.

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Verfahrensweisen der Naturgeschichte

Die wesentlichen Verfahrensweisen der Naturgeschichte lassen sich aus den Charakteristika der scala naturæ heraus erklären. Die Vorstellung einer Verbundenheit aller Wesen und von deren hierarchischer Abfolge, wie sie die scala naturæ formuliert, ist eng mit Praktiken des Sammelns und Systematisierens, mit der Kunst der Beschreibung und mit Ordnungsvorstellungen verwoben. Petra Feuerstein-Herz legt im Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel »Die große Kette der Wesen« Ordnungen in der Naturgeschichte der Frühen Neuzeit aus dem Jahre 2007 dar, dass neben dem großen Ziel, ein überzeugendes System für die Ordnung der Vielfalt in der Natur zu finden, ein wesentliches Merkmal der Naturgeschichte seit Anbeginn ihre Anwendungsbezogenheit ist. Dieser ausgeprägte Wille zur Nutzbarmachung naturgeschichtlichen Wissens zeigt sich in Büchern, Kupferstichen und Naturalienkabinetten  ; er motivierte Praktiken des Sammelns, des Darstellens sowie des Klassifizierens.16 Insgesamt geht es im vorliegenden Sammelband weniger um die Inhalte und Ergebnisse wissenschaftliches Arbeitens, sondern vielmehr um die Wege und Umwege, auf denen naturhistorisches Wissen zustande kam. Zentral ist dafür der prozessuale Begriff der Verfahrensweisen, durch die das empirisch, aber auch textlich und bildlich gesammelte Wissen in eine epistemologisch sinnvolle, d. h. eine von den Zeitgenossen als gültig anerkannte Produktion und Darstellung von Wissen über Natur überführt wurde.17 Einer der Ausgangspunkte bzw. eine der zentralen Thesen dieser Herangehensweise ist die Annahme, dass sich in der Frühen Neuzeit und dann verstärkt im 17. und 18.  Jahrhundert eben solche empirischen, textlichen und ästhetischen Verfahrensweisen formierten, die zu einem historisch beobachtbaren Wandel der 16 Vgl. Feuerstein-Herz, Petra  : ›Die grosse Kette der Wesen‹. Ordnungen in der Naturgeschichte der Frühen Neuzeit, Wolfenbüttel 2007, S. 13. 17 Der Begriff der Verfahrensweisen zeigt sich inspiriert von dem Forschungsprogramm des Tübinger DFG-Graduiertenkollegs 1662 »Religiöses Wissen in der Vormoderne (800–1800)«. Das Kolleg geht der Frage nach, welche (empirischen, ästhetischen, rituellen und kommentierenden) Verfahren zur Adaptation von Heilswissen aus der Offenbarung bzw. der Bibel in der Vormoderne zentral waren für die Herausbildung religiösen Wissens, das in der sozialen Praxis sinnstiftend und handlungsleitend für die Zeitgenossen wurde. Peter Burke spricht in dem jüngst erschienenen Handbuch von Prozessen oder Prozeduren der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion und teilt diese in die vier Phasen der Sammlung, Analyse, Verbreitung und Nutzung von Wissen. Siehe Peter Burke  : What is the History of Knowledge  ?, Cambridge 2016, insbesondere S. 44–106.

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Naturgeschichte und schließlich zur Herausbildung der modernen Naturwissenschaften führten. Der vorliegende Sammelband geht von der Beobachtung aus, dass Naturgeschichte in der Forschung bisher vor allem als Geschichte eines Verlaufs und eines Wandels von Ideen und Wissensmodellen erzählt wurde. Seit einigen Jahren erfährt dabei die Frage Beachtung, wie Naturgeschichte im Zeitalter der Aufklärung überhaupt ›gemacht‹ wurde.18 Welche wissenschaftlich-ästhe­ tischen Verfahren wurden bestimmend für die Formierung der Naturwissen­ schaften  ? Und welche sozialen, kulturellen und wirtschaftspolitischen Dynamiken gingen mit dem Wandel wissenschaftlicher Denk- und Handlungsmuster einher bzw. haben diese überhaupt erst bedingt  ? Als zentrale Verfahrensweisen der Naturgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert haben sich in den vorliegenden Beiträgen das Sammeln und Systematisieren, das Transformieren und Kommunizieren sowie das Erfinden und Präsentieren von naturhistorischem Wissen herauskristallisiert. Klare Grenzziehungen zwischen diesen als charakteristisch zu betrachtenden Verfahrensweisen sind allerdings schwierig. In den meisten Fällen ging der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion das Sammeln von Daten und Material voraus  – Maria Sibylla Merian sammelte ihre Studienobjekte, die Insekten, nicht nur, sie züchtete sie gar selbst, um noch genauere Beobachtungen der Metamorphose anstellen zu können. Man könnte so weit gehen zu sagen  : ohne Sammeln keine Naturgeschichte  ! Das Sammeln von Naturalien ist das zeitspezifische, grundlegende Element dieser Wissenschaft der exakten Beobachtung, Beschreibung und Ordnung von Naturobjekten. Die Empirie war jedoch – das verdeutlicht ein Großteil der Beiträge – nur eine Seite der Medaille. Ebenso wenig wie die Naturgeschichte ohne Objekte funktionierte, kam sie umgekehrt ohne Texte und Abbildungen aus.19 So gilt auch  : ohne Bücher keine Naturgeschichte  ! 18 Jardine, Nicolas/Spary, Emma C.: The natures of cultural history, in  : Dies. u. a. (Hg.)  : Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 3–13  ; Golinski, Jan  : Making Natural Knowledge. Constructivism and the History of Science, Cambridge u. a. 1998  ; te Heesen, Anke/Spary, Emma C.: Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001  ; Freedberg, David  : The Eye of the Lynx. Galileo, his Friends, and the Beginnings of Modern Natural History, Chicago 2002  ; Bredekamp, Horst  : Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005  ; Ogilvie, Brian W.: The Science of Discribing. Natural History in Renaissance Europe, Chicago 2006  ; Daston, Lorraine/ Galison, Peter  : Objektivität, Frankfurt a.  M. 2007  ; Terrall, Mary  : Catching Nature in the Act. Réaumur and the Practice of Natural History in the Eighteenth Century, Chicago u. a. 2014. 19 Zuletzt dazu Krämer, Fabian  : Ein Zentaur in London. Lektüre und Beobachtung in der frühneuzeitlichen Naturforschung (Kulturgeschichten. Studien zur Frühen Neuzeit 1), Affalterbach 2014.

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Das Sammeln von Naturalien und Artefakten war eines der naturhistorischen Verfahren, das eine äußerst hohe Dynamik entfaltete, die ein evolutionäres Verständnis von Natur erst ermöglichte. Die Naturgeschichte war damit alles andere als eine statische, rein Material anhäufende (Vor-)Wissenschaft zur Darwin’schen Evolutionsbiologie, denn nur selten ging das Sammeln ohne den Prozess der Systematisierung und das Aushandeln eigener Ordnungen vonstatten. In den Augen der Zeitgenossen machte das alleinige Sammeln aus der Naturgeschichte noch keine Wissenschaft. Erst wer es verstand, die gesammelten Objekte in eine ›vernünftige‹ Ordnung zu bringen, d. h. diese gegebenenfalls zu sezieren und gemäß den zeitgenössischen Systemen zu klassifizieren, galt als ehrbarer Naturforscher. Im Umkehrschluss wurden bestimmte soziale oder – in kolonialen bzw. imperialen Kontexten – ethnische Gruppen aus diesem Prozess der Wissensproduktion ausgeschlossen. Thomas Ruhland und Dominik Hünniger zeigen in ihren Beiträgen, dass Parameter wie sozialer Stand, Geschlecht, Herkunft und (mangelnde) Expertise das Sammeln und Systematisieren von Naturalien maßgeblich beeinflussten. Trotz der relativen Breite an Akteur*innen, die am globalen Projekt Naturgeschichte teilhatten, griffen soziale Ausschlussmechanismen, die vor allem auf dem Grad der Bildung basierten. Dies untermalt auch der Beitrag von Simona Boscani Leoni. Am Beispiel der Geschichte der Zürcher Naturaliensammlungen legt sie die vielfältigen Entwicklungen naturhistorischen Sammelns des städtischen Bürgertums im 18. Jahrhundert dar, das sich durch eine zunehmende Institutionalisierung und Internationalisierung auszeichnete. Trotz dieser Ausschlusskriterien war eine immer mehr global ausgerichtete naturgeschichtliche Praxis zunehmend auf den Austausch von Naturalien in translokalen Netzwerke angewiesen. So zeigt Silvia Flubacher in ihren Ausführungen zu fossilen Fundstücken, dass die Naturgeschichte eine breit aufgestellte Wissenschaft war, die von der Verdichtung von Informationen sowie der Vernetzung ihrer Akteur*innen profitierte. Erst durch die eklektische Collation von fossilen Funden, Bildern und Texten bzw. Informationen aus Briefen wurde die systematische Einordnung eines Objekts möglich. So ist das Kommunizieren von Informationen in materieller und immaterieller Form als ein weiteres zentrales Kennzeichen der Naturgeschichte zu betrachten. In Anlehnung an neuere Studien zum Transfer von Wissen gehen wir davon aus, dass dieses in den seltensten Fällen ohne Veränderung weitergegeben, sondern im Prozess der translatio gewissermaßen ›übersetzt‹ bzw. transformiert wurde.20 20 Siehe dazu Bachmann-Medick, Doris  : The translational Turn (Translation Studies  2, 1), Lon-

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Der betrachtete Zeitraum, der vom ausgehenden 17. bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts reicht, kann als ›heiße Phase‹ der Naturgeschichte bezeichnet werden, da sich die spezifischen empirischen und ästhetischen Verfahrensweisen der Naturgeschichte hier verdichteten und dynamisierten. Wesentlich für das Entstehen einer naturhistorischen Bildsprache sind dabei vor allem die fließenden Grenzen zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Bildfindungen.21 Die in der Frühen Neuzeit kaum vorhandenen Berührungsängste zwischen ästhetisierten, fiktionalen Formen auf der einen Seite und wissenschaftlich-analytischen auf der anderen sind in Austauschprozessen von Malerei, wissenschaftlicher Zeichnung und Graphik auszumachen. Diese fließenden Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft sind ebenfalls in naturhistorischen Beschreibungen erkennbar, die auf mythologische Erklärungsmuster zurückgreifen. Das Ineinanderfließen von wissenschaftlichen und künstlerischen Darstellungsweisen mit mythologischen Narrativen in der Frühen Neuzeit machen die Artikel von Karin Leonhard und Sebastian Schönbeck deutlich. Maßgeblich beeinflusst wurde die Ausbildung der Naturgeschichte durch die zunehmende Vernetzung von menschlichen Akteur*innen sowie den Austausch von Tieren und Dingen im Zuge der europäischen Expansion auf einer translokalen bzw. globalen Ebene. Seit einiger Zeit betonen Historiker*innen don u. a. 2009, dies.: The trans/national Study of Culture. A translational Perspective (Concepts for the Study of Culture 4), Berlin 2014, sowie Secord, James  : Knowledge in transit, in  : Isis 95 (2004), S. 654–674. 21 Zum Verhältnis von Ästhetik, Bild und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit siehe beispielsweise  : Rudwick, Martin  : The Emergence of a Visual Language for Geological Science 1740–1840, in  : History of Science 14, 1976, S. 149–195  ; DaCosta Kaufmann, Thomas  : The Mastery of Nature. Aspects of Art, Science, and Humanism in the Renaissance. Princeton, New Jersey 1993  ; Elkins, James  : Art History and Images That Are Not Art, in  : Art Bulletin 77,4, S. 553–571  ; Jones, Caroline A./Galison, Peter (Hg.)  : Picturing Science producing Art, London 1996  ; Lefèvre, Wolfgang u. a. (Hg.)  : The Power of Images in Early Modern Science, Basel 2003  ; Swan, Claudia  : Art, Science, and Witchcraft in Early Modern Holland, Cambridge 2005  ; Kusukawa, Sachiko/ Maclean, Ian (Hg.)  : Transmitting Knowledge. Words, Images and Instruments in Early Modern Europe, Oxford 2006  ; Baldasso, Renzo  : The Role of Visual Representation in the Scientific Revolution. A Historiographic Inquiry, in  : Centaurus 48,2 (2006), S. 69–88  ; Lüthy, Christoph/ Smets, Alexis  : Words, Lines, Diagrams, Images. Towards a History of Scientific Imagery, in  : Early Science and Medicine 2009, 14, S. 398–439  ; Gockel, Bettina (Hg.)  : Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600–2000, Berlin 2011  ; Neri, Janice  : The Insect and the Image. Visualizing Nature in Early Modern Europe, 1500–1700. Minnesota 2011  ; Leonhard, Karin  : Bildfelder. Stillleben und Naturstücke des 17. Jahrhunderts, Berlin 2013  ; Felfe, Robert  : Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2015.

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daher das globale Moment der Naturgeschichte, das sich durch eine zunehmende Verflechtung von Imperialismus, Kolonialismus, wirtschaftlichen Interessen und Missionsbestrebungen beider Konfessionen auszeichnete.22 In ihrem richtungsweisenden Sammelband Colonial Botany verweisen Claudia Swan und Londa Schiebinger etwa auf »the dynamic relationships among plants, peoples, states, and economies in this period«23. Selbst wenn Linnés naturkundliche Schriften zur Systematisierung von Flora und Fauna mitnichten eine Globalisierung zum Ziel hatten  – zielten sie doch vielmehr auf wirtschaftliche Autarkie und Subsistenzwirtschaft – so vereinfachten sie durch die Vereinheitlichung der Taxa doch den globalen Austausch von Spezimen. Die Beiträge von Staffan Müller-Wille und Bettina Dietz nehmen die durch Linné geprägten Verfahrensweisen der Akkumulierung, Aufbereitung und Verbreitung von Spezimen und Informationen unter die Lupe. Gleichzeitig stellen sie dabei auch die Bedeutung der zunehmenden Vernetzung der Akteur*innen für die Naturgeschichte heraus, welche sich in den umfassenden Korrespondenzen der Naturhistoriker*innen niederschlug. Auch hier lässt sich beobachten, dass der geschickte Umgang mit dem scheinbaren Überfluss an Informationen im Zuge immer neuer Erkenntnisse zu neuen medialen bzw. textlichen Wissenspraktiken führte. Irina Pawlowsky und Julia Breittruck untersuchen zwei ganz unterschiedliche Aspekte des Kommunizierens und Transformierens von Wissen, das in der Beobachtung und praktischen Betätigung der Akteur*innen generiert wurde. Am Beispiel der Debatte über eine mögliche Flussverbindung zwischen Amazonas und Orinoco zeichnet Irina Pawlowsky das komplexe Setting von Wissensproduktion und -transfer zwischen Südamerika und Europa sowie die damit einhergehenden geopolitischen Dimensionen nach. Es beeindrucken hier die Fülle und der Eklektizismus frühneuzeitlicher Wissensgenerierung, denn europäische Naturkundler und Geographen griffen dabei auf die unterschiedlichsten Ressourcen und Akteur*innen zurück. Julia Breittruck untersucht anhand der Vogeldressur im Paris des 18. Jahrhunderts, wie durch den Umgang mit Kanarien- und anderen Singvögeln 22 Siehe hier programmatisch  : Sivasundaram, Sujit  : Introduction. Focus. Global Histories of Science (S. 95–97) und ders.: Sciences and the Global. On Methods, Questions, and Theory, in  : Isis 101, 1 (2010), S. 146–158  ; Raj, Kapil  : Beyond Postcolonialism… and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science, in  : Isis 104, 2 (2013), S. 337–347  ; Nappi, Carla  : The Global and Beyond. Adventures in Local Historiographies of Science, in  : Isis 104, 1 (2013), S. 102–110. 23 Swan, Claudia/Schiebinger, Londa  : Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia 2007, S. 3.

Die frühneuzeitliche Naturgeschichte und ihre Verfahrensweisen 

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nicht nur das damit verknüpfte praktische Wissen innerhalb der Pariser Bürgerschaft zirkulierte, sondern wie daran zugleich Erziehbarkeit und soziale Perfektibilität als zentrale Parameter der Aufklärung debattiert wurden. Das praktisch-diskursiv geprägte Wissen um die Vogelhaltung und -dressur erfuhr innerhalb der Querelle des Anciens et des Modernes damit eine tiefgreifende Transformation  : von der lachhaften Modeerscheinung zur ernst zu nehmenden Beschäftigung aufgeklärter Bürgerschaft. Die Herausforderung für die frühneuzeitlichen Naturkundler*innen bestand darin, die gesammelten, gekauften und/oder getauschten Naturalien, Tiere und Dinge als sinnfällige Ordnung zu vermitteln. Dabei galt es immer wieder aufs Neue, Präsentationsformen und Strukturen zu finden, die sowohl Erkenntnisse vorzuführen als auch eine unkomplizierte Zugänglichkeit durch ansprechende Formen zu gewährleisten vermochten. Somit ging das Herstellen von Ordnungen stets mit dem Erfinden von Ordnungen einher. Inwiefern die naturhistorischen Systematisierungs- und Kategorisierungsversuche dabei immer auch Ordnungswidrigkeiten erzeugten oder etwa Rückgriffe auf eigentlich als überholt geglaubte Narrative aus der Mythologie benötigten, legen die Artikel von Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck dar. Im Zusammenspiel von Schnittverfahren an der Hydra mit rhetorischen Rezeptionsverfahren zeigt Sebastian Schönbeck gleichermaßen Verlagerungen und Überlagerungen innerhalb der Naturgeschichte auf. Matthias Preuss stellt anhand dreier Figuren des Monströsen das Changierende in den Grenzziehungen Linnés heraus. Mit welchen konzeptionellen Überlegungen naturhistorische Objekte im Museumsraum Mitte des 18. Jahrhunderts einer Öffentlichkeit präsentiert wurden, untersucht Eva Dolezel am Beispiel des Palais de Science in Dresden. Verschiebungen in der Auswahl der ausgestellten Naturalia entsprechen dem von Foucault beschriebenen »Reinigungsprozess« und machen im gleichen Atemzug das Museum zum Ort eines beglaubigten Wissens.

Naturgeschichte als Verflechtungsgeschichte

Gerade die Botanik als ›Königsdisziplin‹ naturkundlicher Forschungen in der Frühen Neuzeit hat in den letzten Jahren ein ungemeines Interesse erfahren.24 24 Siehe aus der Fülle an Forschungen  : Brockway, Lucile  : Science and Colonial Expansion. The role of the British Royal Botanic Gardens, New York 1979  ; Miller, David P./Reill, Peter H. (Hg.)  : Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature, Cambridge 1996  ; Müller-Wille,

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Mit dem umfassenderen Fokus auf die Naturgeschichte wollen wir in dem vorliegenden Sammelband jedoch die Aufmerksamkeit auf den ganzheitlich-universellen Charakter der Naturgeschichte legen, der das Sammeln, Beobachten, Beschreiben, Ordnen, Konservieren und Zeichnen von Mineralien, Pflanzen und Tieren umfasst. Aus allen drei Naturreichen erreichten im 18.  Jahrhundert immer mehr Objekte die europäischen Museen und Sammlungen. Dieser ›Boom‹ der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert ist untrennbar verbunden mit den geopolitischen und wirtschaftlichen Ambitionen der europäischen Mächte  ; zugleich profitierte dieser Boom von dem steigenden Interesse an einer wissenschaftlichen Erkundung und Erklärung der Welt. Im Laufe der wachsenden Vernetzung zwischen Alter und Neuer Welt – im Sinne einer Verflechtungsgeschichte oder entangled history25 – nahm auch der Austausch von Wissen zu. Dass Wissen auch oder gerade in Welten fernab der europäischen Metropolen gesammelt und produziert wurde, ist seit einiger Zeit ebenfalls ins Bewusstsein einer global ausgerichteten und postkolonial inspirierten Wissens- und Wissenschaftsgeschichte gerückt.26 Vermehrt erfahren damit auch die lokalen Akteur*innen – und ihr Beitrag zum Sammeln und Produzieren von Wissen in materieller und immaterieller Form – Aufmerksamkeit seitens der Forschung.27 Wie in den Beiträgen von Irina Pawlowsky und Thomas Staffan  : Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–78) (Studien zur Theorie der Biologie 3), Berlin 1999  ; Spary, Emma C.: Utopia’s Garden. French Natural History from Old Regime to Revolution, Chicago 2000  ; Dauser, Regina u. a. (Hg.)  : Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts (Colloquia Augustana 24), Berlin 2008  ; Kusukawa, Sachiko  : Picturing the Book of Nature. Image, Text, and Argument in Sixteenth-Century Anatomy and Medical Botany, Chicago 2012. 25 Zum Konzept der entangled oder shared history siehe Randeria, Shalini  : Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in  : Rüsen, Jörn u. a. (Hg.)  : Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt a. M. 1999, S. 87–95. 26 Siehe Secord, James A.: Knowledge in Transit, in  : Isis 95 (2004), S. 654–672  ; Safier, Neil  : Global Knowledge on the Move. Itineraries, Amerindian Narratives, and Deep Histories of Science, Isis 101, 1 (2010), S. 133–145  ; Kontler, László u. a. (Hg.)  : Negotiating Knowledge in Early Modern Empires. A Decentered View (Palgrave Studies in Cultural and Intellectual History), New York, NY 2014. 27 Chambers, David W./Gillespie, Richard  : Locality in the History of Science. Colonial Science, Technoscience and Indigenous Knowledge, in  : MacLeod, Roy (Hg.)  : Nature and Empire. Science and the Colonial Enterprise (Osiris 15), Chicago 2000, S. 221–240  ; Scott Parrish, Susan  : Diasporic African Sources of Enlightenment Knowledge, in  : Delbourgo, James/Dew, Nicholas (Hg.)  : Science and Empire in the Atlantic World (New Directions in American History), New York u. a. 2008, S. 281–310  ; Schaffer, Simon u. a. (Hg.)  : The Brokered World. Go-betweens and Global In-

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Ruhland deutlich wird, entstand neues naturkundliches Wissen maßgeblich in außereuropäischen Räumen sowie durch dessen Transfer – zentrale Akteure dieser Wissensproduktion und -zirkulation waren die vor Ort lebenden Indigenen und Kreolen sowie katholische bzw. evangelische Missionare. Die religiöse Dimension von Naturforschung im Zeitalter der Aufklärung ist lange Zeit von modernisierungstheoretischen Ansätzen innerhalb der Wissenschaftsgeschichte unberücksichtigt geblieben. In der jüngeren wissenshistorischen Forschung wurde deshalb vermehrt auf das Ineinandergreifen von Religion und Naturgeschichte sowie auf die daraus resultierenden Dynamiken verwiesen.28 Linnés scheinbar ›modernes‹ Konzept einer Naturökonomie war ebenso maßgeblich von kameralistischen und damit ›säkularen‹ Interessen wie auch von der religiösen Überzeugung motiviert, Gottes Schöpfung zu erkennen. In seiner Abhandlung De Oeconomia Naturæ (1749) schreibt der schwedische Naturkundler  : »Durch die Ökonomie der Natur lernen wir die allerweiseste Anordnung der natürlichen Dinge durch ihren höchsten Urheber kennen, wodurch diese dafür geschaffen sind, gemeinschaftlichen Zielsetzungen zu dienen und wechselseitigen Nutzen zu erbringen.«29 Gerade im Kontext der Missionsgeschichte – dies haben zahlreiche Studien der letzten Jahre überzeugend darlegen können – ist die religiöse Dynamik, die aus der erbaulichen Beschäftigung mit der Natur seitens der Missionare entstand, auszumachen.30 telligence, 1770–1820 (Uppsala Studies in History of Science 35), Sagamore Beach, Mass. 2009  ; Habermas, Rebekka  : Intermediaries, Kaufleute, Missionare, Forscher und Diakonissen. Akteure und Akteurinnen im Wissenstransfer, in  : Dies./Przyrembel, Alexandra (Hg.)  : Von Käfern, Märkten und Menschen. Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013, S. 27–48  ; Mariss, Anne  : »A world of new things«. Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster (Historische Studien 72), Frankfurt a. M. 2015, S. 180–207. 28 Siehe grundlegend dazu Trepp, Anne-Charlott  : »Von der Glückseligkeit alles zu wissen«. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009  ; Greyerz, Kaspar von (Hg.)  : Religion und Naturwissenschaften im 16. und 17.  Jahrhundert, Gütersloh 2010  ; Wehry, Matthias  : Das Buch der Natur als Bibliothek der Naturwissenschaft. Methodik und Typologie der speziellen Physikotheologie des 18. Jahrhunderts, in  : Förschler, Silke/Hahne, Nina  : Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert, Laboratorium Aufklärung, Bd. 13, München 2013, S. 179–191. 29 Morgenthaler, Erwin  : Von der Ökonomie der Natur zur Ökologie. Die Entwicklung ökologischen Denkens und seiner sprachlichen Ausdrucksformen (Philologische Studien und Quellen 160), Berlin 2000, S. 97. 30 Wessel, Carola  : Delaware-Indianer und Herrnhuter Missionare im Upper Ohio Valley 1772–1781 (Hallesche Forschungen 4), Halle 1999  ; Sivasundaram, Sujit  : Nature and the Godly Empire. Science and Evangelical Mission in the Pacific, 1795–1850, (Cambridge Social and Cultural Histories 7), Cambridge 2005  ; Trepp, Anne-Charlott  : Von der Missionierung der Seelen zur Erforschung der

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Naturgeschichte und ihre Akteur*innen

Trotz der Verdichtungsmomente ist die Geschichte der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert keine einfache Erfolgsstory im Sinne eines linearen Fortschritts  ; auch ihre Methoden wurden konfliktreich diskutiert.31 Die Zirkulation und der Transfer von Wissen waren zudem von den Unwägbarkeiten der langen Reisen über See und Land, der materiellen Instabilität der natürlichen Objekte sowie den individuellen Interessen der Akteur*innen, die in diesen Prozess involviert waren, gekennzeichnet. Ganze Schiffsladungen von wertvollen Naturalien konnten untergehen, in Häfen verrotten, weil Schiffe am Auslaufen gehindert wurden, oder von Ameisen und Mikroben verzehrt werden, noch bevor sie ihren Zielort erreichten. Häufig wurde der Transfer von Wissen aber auch bewusst verzögert, ganz unterbrochen oder manipuliert.32 Damit wird auch die Frage nach sozialen und kulturellen bzw. ethnischen Hierarchisierungen in imperialen oder kolonialen Kontexten, in denen Wissen produziert wurde, virulent – eine Frage, die trotz des steigenden Bewusstseins für die agency lokaler Akteur*innen, die oftmals ganz eigene oder den Europäern zuwiderlaufende Interessen verfolgten, wenig erforscht wurde. Das Handeln der Akteur*innen begreifen wir vor dem Hintergrund dieser Forschung und in Anlehnung an Bruno Latour als vernetzt mit den Medien und Dingen, durch die dieses Handeln spezifisch wirksam wird in der sozialen Welt.33 Dabei ist die zunehmende Vernetzung der Akteur*innen der Naturgeschichte im 18.  Jahrhundert kein Natur. Die Dänisch-Hallesche Südindienmission im ausgehenden 18. Jahrhundert, in  : Geschichte und Gesellschaft 36, 2 (2010), S. 231–256  ; van der Heyden, Ulrich (Hg.)  : Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen. Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2012  ; Ruhland, Thomas  : »Ein paar Jahr muß Tranquebar und Coromandel wol Serieus das Object seyn«. Südasien als pietistisches Konkurrenzfeld, in  : Pietismus und Neuzeit 39 (2013), S. 86–116. 31 Vgl. beispielsweise zum Streit über eine ›natürliche Methode‹ als Gegenmodell zu Carl von Linnés ›künstlichen Systemen‹  : Bies, Michael  : Naturwissen, natürlich. Die ›Méthode naturelle‹ bei Buffon und Adanson, in  : Förschler/Hahne (Hg.)  : Methoden der Aufklärung, S. 209–221. 32 Dies hat Londa Schiebinger eindrücklich am Beispiel des Pfauenstrauchs (Caesalpinia pulcherrima) zeigen können. Die Samen der Pflanze wurden von schwarzen Sklavinnen auf den Westindischen Inseln als Abtreibungsmittel benutzt, um die Geburt ihrer Kinder in die Sklaverei hinein zu verhindern. Zwar kam die Pflanze nach Europa, das Wissen aber um die abortive Wirkung wurde nicht transferiert. Vgl. Schiebinger, Londa  : West Indian abortifacients and the making of ignorance, in  : Dies./Proctor, Robert (Hg.)  : Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford, Calif. 2008, S. 149–162. 33 Latour, Bruno  : Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2010.

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Phänomen, das sich ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Europa und anderen Teilen der Welt bezieht. Spezimen und naturhistorische Entdeckungen aus unterschiedlichen Regionen Europas hatten einen gleichbedeutenden Wert für die globale Erfassung der Natur und das Streben der Naturkundler*innen nach der Vervollständigung von Wissen über Natur.34 Neben der steigenden translokalen Verflechtung kennzeichnet eine weitere, auf den ersten Blick paradox erscheinende Entwicklung die Naturgeschichte im 18. Jahrhundert  : Während weltweit eine Vielzahl von Männern und Frauen aus sozial und kulturell bzw. ethnisch unterschiedlichen Gruppen am Sammeln von Dingen und Informationen beteiligt war und Naturgeschichte in den Kreisen von Liebhaber*innen und Laien immer umfassender betrieben wurde, differenzierte sie sich als Wissenschaft zunehmend aus. Diese Entwicklung nahm ihren institutionellen Ausgangspunkt um 1700 in den nationalen Wissenschaftsakademien in London und Paris. Wie Karin Leonhard in ihrem Beitrag anhand der wissenschaftlichen Zeichnung der Schlange darlegt, werden in dieser Gründungsphase wissenschaftliche Parameter im Bild zwar ausgehandelt, jedoch nicht ohne auf ästhetische Darstellungsweisen Bezug zu nehmen. An der Schwelle vom 18. zum 19.  Jahrhundert mündet die Entwicklung der Institutionalisierung der Naturgeschichte in der Einrichtung der modernen akademischen Disziplinen der Universitäten  ; begleitet wurde sie von der Gründung bürgerlicher Wissensräume. Weit über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus war die Naturgeschichte eine Betätigung, die sowohl professionell – vorwiegend von männlichen Naturforschern wie Professoren oder Akademiemitgliedern – betrieben wurde, aber auch von den unzähligen Amateur*innen. Daher reicht die soziale Spannbreite derer, die sich mit dem Studium der Natur beschäftigten oder die zum Sammeln von Informationen oder Spezimen beitrugen, von hochrangigen Diplomaten und Militärs über Seeleute und Kaufmänner bis hin zu subalternen Akteur*innen, die oftmals im Dienste von europäischen Kolonisten als Zutragende arbeiteten. Auch der naturkundliche Beitrag von Frauen bleibt – ähnlich dem subalterner Akteur*innen – in den Quellen oftmals unsichtbar. Wenn Frauen auch der Zugang zu den institutionalisierten Räumen des Wissens verschlossen blieb, so nahmen sie als Künstlerinnen, Zeichnerinnen, Sammlerinnen, Mäzeninnen 34 Alix Cooper hat dargelegt, dass die Entdeckung der Neuen Welt und ihrer exotischen Flora und Fauna auch zu einer Rückbesinnung auf einheimische Pflanzen und Tiere führte. Siehe Cooper, Alix  : Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge u. a. 2007.

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und Besucherinnen von Sammlungen aktiv teil am ›Projekt‹ Naturgeschichte. So war Maria Sibylla Merian aufgrund ihrer künstlerischen Fähigkeiten zwar eine Ausnahmeerscheinung, deren naturhistorische Illustrationen noch heute eine ungemeine Strahlkraft auf ihre Betrachter*innen ausüben  ; dennoch war sie in ihrer Begeisterung für die Naturkunde kein Einzelfall.35 Auch wenn Frauen in den naturhistorischen Netzwerken durchaus vertreten waren, so bleibt ihr Beitrag zur Naturgeschichte häufig unter der Oberfläche. Dies lag vor allem daran, dass Frauen kaum als Autorinnen in Erscheinung traten und ihnen aufgrund ihres Geschlechts der Zugang zu Akademien und Gelehrtengesellschaften verwehrt blieb.36 Eine Ausnahmefrau naturhistorischer Beschreibungen sowie Bildfindungen ist Maria Sibylla Merian. André Krebber führt in seinem Beitrag zur spezifischen Ästhetik Merians aus, dass ihre Beobachtungsgabe in ihren gezeichneten Kompositionen ein neues Verständnis vom Prozess der Metamorphose ermöglicht. Die Ästhetisierung der Tiere in der Zeichnung ist als wesentlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Arbeitens bei Merian zu betrachten. 35 Cooper, Alix  : Picturing Nature. Gender and the Politics of Natural-Historical Description in Eighteenth-Century Gdansk/Danzig, in  : Journal of Eighteenth-Century Studies  36, 4 (2013), S. 519–529. Ein Blick auf den neunbändigen Moninckx Atlas, der zwischen 1686 und 1709 in den Haag veröffentlich wurde und 420  Pflanzen aus dem botanischen Garten in Amsterdam darstellt, verweist auf die Arbeit der Künstlerinnen an diesem naturhistorischen Werk. Neben dem niederländischen Maler Jan Moninckx (ca. 1656–1714), der das Projekt leitete und 273 der Blätter anfertigte, waren seine Tochter Maria Moninckx (ca. 1673–1757), die ca. 100 Illustrationen malte, sowie Alida Withoos (ca. 1660–1730) und Johanna Helena Herolt, geb. Graff (1668–1723), eine Tochter Maria Sibylla Merians, beteiligt. Vgl. Wijnands, D.  O.: The Botany of the Commelins. a taxonomical, nomenclatural and historical account of the plants depicted in the Moninckx Atlas and in the four books by Jan and Caspar Commelin on the plants in the Hortus Medicus Amstelodamensis 1682–1710, Rotterdam 1983, S. 21 f. 36 Siehe dazu programmatisch Schiebinger, Londa  : Nature’s Body. Gender in the Making of Modern Science, Boston 1993  ; Dies.: Gender and natural history, in  : Spary u. a. (Hg.)  : Cultures of Natural History, 1996, S. 163–177  ; Mommertz, Monika  : Geschlecht als Markierung, Ressource und Tracer. Neue Nützlichkeiten einer Kategorie am Beispiel der Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, in  : Roll, Christine (Hg.)  : Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln u. a. 2010, S. 573–594. Siehe weiterführend zu Frauen als Sammlerinnen und Patronessen  : Findlen, Paula  : Science as a Career in Enlightenment Italy. The Strategies of Laura Bassi, in  : Isis 84 (1993), S. 441–469  ; O’Day, Rosemary  : Women’s Agency in Early Modern Britain and the American Colonies. Patriarchy, Partnership and Patronage, Harlow 2007  ; Gaughan, Evan M.: Naturalists, Connoisseurs and Classicists. Collecting and Patronage as Female Practice in Britain, 1715–1825, MA dissertation, Indiana University, 2010  ; Tobin, Beth Fowkes  : The Duchess’s Shells. Natural History Collecting in the Age of Cook’s Voyages, New Haven u. a. 2014.

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Naturgeschichte, ihre Tiere und ihre Dinge

Wie sehr Tiere und tierliche Bestandteile auf das Leben der Menschen in der Frühen Neuzeit Einfluss hatten, haben zahlreiche Studien aus dem noch recht jungen Forschungsfeld der Human-Animal Studies aufzeigen können.37 Mieke Roscher bündelt in ihrem Kommentar gegenwärtige Ansätze und Fragestellungen der Human-Animal Studies, um Fragehorizonte auch für die über den vorliegenden Sammelband hinausgehenden Verbindungen zwischen Natur­ geschichte und Tier-Mensch Relationen zu eröffnen. Genau wie das lebende Tier hat auch das tote einen zentralen Stellenwert in der Naturgeschichte. Skelette ausgestorbener Tiere, Fossilien und Korallen aus der Südsee fanden sich in den Naturalienkabinetten ebenso wie Präparate von in Europa heimischen Tieren – oftmals kam Sammlungen gar nationales Prestige zu, wie Staffan Müller-Willes Ausführungen zu Johann Reinhold Forsters Käfersammlung zeigen. Dass die Sammlung und Anhäufung von Spezimen zum ›Zerreißen‹ der Kette der Lebewesen im 19.  Jahrhundert führte, wie Lovejoy in seiner Studie darlegte, muss vor dem Stand der heutigen Forschung revidiert werden  : Die massenhaft gesammelten und in den europäischen Naturalienkabinetten und Museen aufbewahrten Spezimen führten schließlich erst zusammen mit epistemologischen Veränderungen zu einem Wandel wissenschaftlicher Paradigmen. Wie Foucault in seiner Ordnung der Dinge gezeigt hat, interessierten sich Naturkundler wie Antoine Laurent de Jussieu und Félix Vicq d’Azyr im Zuge dieses Wandels der Episteme nun zunehmend für die Be-

37 Vgl. zu Tier-Mensch-Relationen in der Frühen Neuzeit  : Fudge, Erica  : Brutal Reasoning. Animals, Rationality and Humanity in Early Modern England, Ithaca, NY 2006  ; Wild, Markus  : Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin 2006  ; Steinbrecher, Aline  : Fährtensuche. Hunde in der frühneuzeitlichen Stadt, in  : Tiere – eine andere Geschichte  ? Traverse 2008/3, S. 45–59  ; Borgards, Roland  : Affenmenschen/Menschenaffen. Kreuzungsversuche bei Rousseau und Bretonne, in  : Gamper, Michael (Hg.)  : »Vielerlei Versuche sind’s durch welche Kunst entsteht.« Experiment und Literatur 1580–1790, Göttingen 2009  ; Spickernagel, Ellen  : Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.–19. Jahrhunderts, Köln u. a. 2010  ; Ausstellungskatalog Staatliche Kunsthalle Karlsruhe  : Von Schönheit und Tod. Tierstillleben von der Renaissance bis zur Moderne, Heidelberg 2011  ; Aloi, Giovanni  : Art and animals, London u. a. 2012  ; Degueurce, Christophe/Delalex, Hélène (Hg.)  : Beautés Intérieures. L’ Animal à Corps Ouvert, Paris 2012  ; Quinsey, Katherine M. (Hg.)  : Joint Tenant of the Shade. Animal Welfare and Environmentalism in the Long Eighteenth Century, Oxford University Studies in the Enlightenment (forthcoming 2017).

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ziehung zwischen den Elementen und für die Funktion, die diese ausübten.38 So verlagerte sich die Naturgeschichte auf die Erforschung der Organisationsprinzipien von Organismen, »das heißt von inneren Beziehungen zwischen den Elementen, deren Gesamtheit eine Funktion sichert«39. Innerhalb dieses historischen Settings bildeten Sammlungen die materielle Grundlage für die Entwicklung neuer Wissenssysteme wie das der Paläontologie, Geologie oder Zoologie, die die Botanik im 19. Jahrhundert als Leitwissenschaft ablösten. So legt Dominik Hünniger am Beispiel der Entomologie um 1800 dar, welche Arbeitsschritte für die Taxonomie der Insekten notwendig waren und welcher Stellenwert dabei dem Experiment und seiner Wiederholbarkeit zukam. Erst der Vergleich der Spezimen untereinander ermöglichte es Naturkundlern wie Jean-Baptiste Lamarck, Charles Darwin oder Charles Lyell ihre evolutionären bzw. tiefenzeitlichen Theorien zur Entstehung von Lebewesen und der Erde zu formulieren. Im Gegensatz zu älteren Ansätzen werden in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes die wissenschaftlichen Theorien und Debatten in ihre historischen Kontexte eingebettet und stets historisiert. Sie greifen damit Trends der neueren, kulturhistorisch ausgerichteten Wissen(schafts)sgeschichte auf, die die Entstehung von Wissen in seiner sozio-kulturellen, materiellen und räumlichen Bedingtheit analysiert. Aus dieser Perspektive ist Wissensproduktion als ein Aushandlungsprozess zu verstehen, an dem unterschiedliche Akteur*innen teilhatten und der durch deren Interessen beeinflusst wurde.40 Mit diesen Ausführungen zu den dynamisierenden Momenten der Naturgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert sowie den Verstrickungen und Widrigkeiten, der die Produktion naturhistorischen Wissens unterlag, wird eines deutlich  : Eine rein ideengeschichtliche oder rein diskurshistorische Herangehensweise an die Geschichte der Naturgeschichte kann ihrer Komplexität nicht gerecht werden.41 38 Vgl. Foucault  : Die Ordnung, S. 270. 39 Ebd. 40 Klassiker sind die sozialhistorischen Studien von Shapin, Steven/Schaffer, Simon  : Leviathan and the Air-pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton, NJ 1985. 41 Siehe einführend zu den verschiedenen Turns der Kulturwissenschaften  : Bachmann-Medick, Doris  : Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, sowie weiterführend  : Golinski, Jan  : The Theory of Practice and the Practice of Theory. Sociological Approaches in the History of Science, in  : Isis 81, 3 (1990), S. 492–505  ; Pickering, Andrew (Hg.)  : Science as Practice and Culture, Chicago 1992  ; Bonell, Victoria E./Hunt, Lynn (Hg.)  : Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley/ Los Angeles 1999. Historische Fallbeispiele sind zu finden bei Schmidt, Benjamin/Smith, Pamela H. (Hg.)  : Making Knowledge in Early Modern Europe. Practices, Objects, and Texts, 1400–

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Allerdings, und auch das zeigen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes deutlich, sind die philosophischen Konzepte, Ideen und Aussagen der Naturgeschichte von zentraler Bedeutung, da sie handlungsleitend für die Naturkundler*innen waren und damit auch für ihre Praktiken. Wie die Fallbeispiele der Beiträge zeigen, bietet der Fokus auf die Verfahrensweisen der Naturgeschichte eine Klammer, die gleichermaßen ausgeübte Praktiken, sprachliche Diskurse, ästhetisierte Bildprägungen und etablierte Ideen in ihrer Verwobenheit zu fassen vermag.

Danksagung

Der vorliegende Band bringt die Beiträge zusammen, die auf der gleichnami­ gen von den Herausgeberinnen organisierten Tagung vom 11. bis 13. Juni 2015 im Kasseler Ottoneum präsentiert wurden. Danken möchten wir den Autor*innen für ihre Bereitschaft, mit uns über Verfahrensweisen der Naturgeschichte nachzudenken. Wir danken dem DFG-Graduiertenkolleg »Religiöses Wissen« an der Universität Tübingen sowie dem LOEWE-Forschungsschwerpunkt »Tier-Mensch-Gesellschaft« an der Universität Kassel für die ideelle und materielle Unterstützung bei der Durchführung der Tagung. Unser besonderer Dank gilt Frank Fehrenbach, Rebekka Habermas, Franz Mauelshagen, Winfried Speitkamp und Anne-Charlott Trepp, deren inhaltliche Anregungen und Kommentare auf der Tagung wichtig für unsere weiteführenden Überlegungen waren. Bei Robert Felfe und Alan Ross möchten wir uns für ihre gehaltenen Vorträge bedanken, die sehr zum Gelingen der Tagung beigetragen haben. Großer Dank gilt auch den Koordinatorinnen Christine Ruppert und Sonja Dinter für ihre Hilfe bei administrativen Fragen. Ann-Sophie Scheu hat dankenswerter Weise die formale Vereinheitlichung der Texte übernommen. Mareike Vennen danken wir für das kritische Korrekturlesen der Einleitung. Elisabeth Schmalen danken wir für die Übersetzung des Beitrags von Staffan Müller-Wille aus dem Englischen. 1800, Chicago 2007  ; Dupré, Sven (Hg.)  : Silent Messengers. The Circulation of Material Objects of Knowledge in the early modern Low Countries (Low Countries Studies on the Circulation of Natural Knowledge 1), Berlin u. a. 2011  ; Findlen, Paula (Hg.)  : Early Modern Things. Objects and their Histories, 1500–1800, London u. a. 2013  ; Smith, Pamela H. (Hg.)  : Ways of Making and Knowing  : the Material Culture of Empirical Knowledge (The Bard Graduate Center Cultural Histories of the Material World), Ann Arbor, Mich. 2014.

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Dem Böhlau Verlag sei für Aufnahme dieses Bandes in sein Verlagsprogramm gedankt. Insbesondere danken wir Victor Wang für die redaktionelle Betreuung. Kassel, Tübingen im September 2016

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Zwischen grassrootsGelehrsamkeit und Kommerz Der Naturalienhandel der Herrnhuter Südasienmission

»Der Gelehrte muß sammeln, beobachten, nachsehen, prüfen, beschreiben, bestimmen, auseinander setzen, in Ordnung bringen. Der Ungelehrte muß aufsuchen, dem Gelehrten zutragen, und in die Hände liefern.«1

Einleitung

Ende 1778 erhielt der naturgeschichtlich interessierte hallesche Verleger Johann Jacob Gebauer (1745–1818)2 ein Schreiben aus der dänischen Kolonialstadt Tranquebar. Darin berichtete ihm Wilhelm David Becker (1746–1818), Faktor der dortigen Dänisch-Englisch-Halleschen Mission (DEHM)3, über die in Europa kaum vorstellbaren »Mühe[n] und Kosten« mit denen die Präparierung und Konservierung von »Insecten« in Südindien verbunden sei.4 Das Sammeln von Naturalien im Allgemeinen könne nur auf einem adäquaten Niveau erfolgen, wenn es zu einer »ordentlichen Profession« gemacht werde  : Wer sich auf dergleichen hier leget, kan was beträchtliches dabey verdienen, wenn er in bekantschaft komt, wie einer der Herrnhuter es denn so weit gebracht, daß auch 1 Schaeffer, Jacob Christian  : Erläuterte Vorschläge zur Ausbesserung und Förderung der Naturwissenschaft, 2Regensburg 1764, S. 19 (Hervorhebung im Original). 2 Vgl. Kertscher, Hans-Joachim  : Ein Hallescher Verleger mit naturwissenschaftlichen Ambitionen. Johann Jakob Gebauer, in  : Cardanus 2 (2001), S. 47–73. 3 Zum Begriffsgebrauch und zur DEHM vgl. Fihl, Esther/Venkatachalapathy, Ā. Irā (Hg.)  : Beyond Tranquebar. Grappling Across Cultural Borders in South India, Delhi 2014  ; Liebau, Heike  : Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission (1706–1845). Katecheten, Schulmeister, Übersetzer, Tübingen 2008, hier S. 2  ; Gross, Andreas u. a. (Hg.)  : Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India (3 Vol.), Halle 2006  ; Gross, Andreas  : Preface, in  : Ders. u. a. (Hg.)  : Halle and the Beginning (Vol. 1), S. xxi–xxxii, hier S. xxvi f. 4 Becker an Gebauer, Tranquebar, 31. Januar 1778, Stadtarchiv Halle (Saale) (StaH) A 6.2.6 Nr. 15944.

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andre Naturalien= und Insecten Samler, alhier sich nicht darum bemühen, sondern sie von denselben nehmen und dennoch ihren Profit dabey haben, und ist die Einnahme hiervon bey den Herrnhutern eines ihrer größten Einkünfte.5

Becker beschreibt einen zentralen Aspekt der Naturgeschichte im 18.  Jahrhundert  : Die Verfügbarmachung von Natur im globalen Ausmaß, die Bereitstellung und Vermittlung von Naturalien.6 Zugleich offenbart der Brief ein in der Wissenschafts- und Wissensgeschichte selten beachtetes Phänomen  : Den kommerziellen Naturalienhandel. Er benennt aber auch die damit verbunde­ nen Herausforderungen. Zentral war die Frage, wie und an wen das notwendige Wissen und die praktischen Fähigkeiten vermittelt werden sollen, lebende Tiere in Naturalien zu transformieren, sie bei bestmöglicher Erhaltung ihres Zustandes für die lange Seereise zu mobilisieren und so in die in Europa begehrten Wissens- und Prestigeobjekte zu verwandeln.7 Zudem verdeutlicht das Zitat die Bedeutung der meist namenlos gebliebenen Missionare und Missionsangestellten in diesem Prozess.8 Der folgende Beitrag widmet sich diesen selten beachteten Akteuren und hinterfragt dabei einige der als selbst5 Ebd. 6 Vgl. Charmantier, Isabelle/Müller-Wille, Staffan  : Natural history and information overload. The case of Linnaeus, in  : Studies in History and Philosophy of Science Part C. Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 43 (2012), Nr. 1, S. 4–15  ; Chakrabarti, Pratik  : Networks of Medicine. Trade and Medico-Botanical Knowledge on Eighteenth Century Coromandel Coast, in  : Bandopadhyay, Arun (Hg.)  : Science and Society in India, 1750–2000, New Delhi 2010, S. 49–82  ; Dietz, Bettina  : Aufklärung als Praxis. Naturgeschichte im 18. Jahrhundert, in  : Zeitschrift für Historische Forschung  36 (2009), Nr.  2, S.  235–257  ; Dies  : Mobile Objects. The Space of Shells in Eighteenth-Century France, in  : The British Journal for the History of Science  39 (2006), Nr.  3, S.  363–382  ; Nair, Savithri Preethar  : Native Collecting and Natural Knowledge (1798–1832). Raja Serfoji II of Tanjore as a »Centre of Calculation«, in  : Journal of the Royal Asiatic Society 15 (2005), Nr. 3, S. 279–302. Siehe auch die Beiträge der Sammelbände von Dauser, Regina u. a. (Hg.)  : Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts, Berlin 2008  ; und Schiebinger, Londa/Swan, Claudia (Hg.)  : Colonial botany. Science, commerce, and politics in the early modern world, Philadelphia 2004  ; te Heesen, Anke/Spary, Emma  C. (Hg.)  : Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001. 7 Vgl. Mariss, Anne  : »A world of new things« Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt a. M. 2015, S. 227–248  ; Dietz, Bettina  : Die Naturgeschichte und ihre prekären Objekte, in  : Schneider, Ulrich Johannes (Hg.)  : Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, Berlin/ New York 2008, S. 615–621  ; Strasser, Bruno J.: Collecting Nature. Practices, Styles, and Narratives, in  : Osiris 27 (2012), Nr. 1, S. 303–340. 8 Vgl. Müller-Wille, Staffan  : Nature as a Marketplace. The Political Economy of Linnaean Botany, in  : History of Political Economy 35 (2003), Suppl. 1, S. 154–172  ; Dietz  : Aufklärung, S. 239, 251.

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verständlich angenommenen Modi der Integration und der Anerkennung im großen naturgeschichtlichen Netzwerk.9 Mit Rückgriff auf das von Bettina Dietz beschriebene Phänomen der »naturhistorischen grassroots-Gelehrsamkeit«10 sind dabei die Voraussetzungen und Motivationen von Interesse, welche die Mitglieder der Südasienmission der Herrnhuter Brüdergemeine11, auf die sich Becker bezieht, für ihre Beteiligung am Projekt der Naturgeschichte mitbrachten. An ihrem Beispiel werden in diesem Artikel Reichweite und Akzeptanz der Kommerzialisierung der Naturgeschichte untersucht. Nicht leisten kann der Beitrag eine Untersuchung des Anteils indigener Helfer*innen am skizzierten Objekt- und Wissensaustausch. Stattdessen sollen vor allem der Gesamt­umfang und die Praktiken der Kommerzialisierung der Naturgeschichte sowie der spezifische Beitrag der bisher kaum bekannten Herrnhuter Südasienmission im Zentrum der Untersuchung stehen.12

Naturalienhandel und naturgeschichtliches Netzwerk

Die Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine waren ab 1732 neben den Missionaren der DEHM die einzigen Exponenten einer organisierten protestantischen Missionstätigkeit im 18. Jahrhundert.13 Von 1760 bis 1803 bildete das   9 Zur Bedeutung der protestantischen Mission für die Wissenschaftsgeschichte vgl. Trepp, Anne-Charlott  : Von der Missionierung der Seelen zur Erforschung der Natur. Die Dänisch-Hallesche Südindienmission im ausgehenden 18. Jahrhundert, in  : Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), Nr.  2, S.  231–256 und siehe die Beiträge in Liebau, Heike u. a. (Hg.)  : Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19.  Jahrhundert, Halle 2010  ; Mann, Michael (Hg.)  : Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien, Heidelberg 2008  ; Ders. (Hg.)  : Europäische Aufklärung und protestantische Mission in Indien, Heidelberg 2006. Zur Neubewertung der Naturgeschichte und den Modi der Beteiligung an diesem Netzwerk vgl. Spary, Emma C.: Botanical Networks revisited, in  : Dauser u.a. (Hg.): Wissen im Netz, S. 47–64. 10 Dietz  : Aufklärung, S. 235. 11 Zum Begriffsgebrauch und der Konkurrenz zwischen der DEHM und der Herrnhuter Südasienmission vgl. Ruhland, Thomas  : »Ein paar Jahr muß Tranquebar und Coromandel wol Serieus das Object sein« – Südasien als pietistisches Konkurrenzfeld, in  : Pietismus und Neuzeit 39 (2013), S. 86–116, hier S. 86–89. 12 Birgitt Hoppe hat in einer ersten Zusammenfassung nur die DEHM im Blick und erwähnt die Herrnhuter nicht. Vgl. Dies.: Von der Naturgeschichte zu den Naturwissenschaften  – die Dänisch-Halleschen Missionare als Naturforscher in Indien vom 18. bis 19. Jahrhundert, in  : Liebau, u.a. (Hg): Mission und Forschung, S. 141–167. 13 Vgl. Mettele, Gisela  : Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als

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südindische Tranquebar den zentralen Niederlassungsort ihrer Südasienmis­ sion.14 Fast alle Herrnhuter Missionare waren Handwerker, die sich durch ihre eigene Arbeit nicht nur ernähren, sondern zugleich den Aufbau ihrer Niederlassung, des Brüdergartens, finanzieren mussten. In Südindien wurde zudem bis Ende der 1790er Jahre das Prinzip der Gemeinschaftsökonomie beibehalten, nach dem alle örtlichen Mitglieder einen gemeinsamen Haushalt führten.15 Die nur teilweise überlieferten Rechnungsbücher des Brüdergartens erwähnen erstmals 1774 Einnahmen durch Naturalienverkäufe, welche in den folgenden 23 Jahren über 10.000 Reichstaler (Rt.) einbrachten.16 In manchen Jahren erzielte der Verkauf von Naturalien vor Ort mit ca. 1500 Rt. das höchste Einkommen der gesamten Niederlassung und verdeutlicht so die unerwartet hohe Nachfrage nach indischen Naturalien in Indien selbst.17 Unterschiedliche Abrechnungen der europäischen Zentrale der Herrnhuter führen für den gleichen Zeitraum Erträge aus 19 Naturalienlieferungen nach Europa im Wert von über 2.200 Rt. auf. Durchschnittlich erwirtschafteten die mindestens neun nacheinander mit der Naturaliensammlung beschäftigten Personen ein Jahreseinkommen von ca. 530 Rt. und damit deutlich mehr, als dem aus Europa entlohnten Missionsarzt der DEHM Johann David Martini († 1791) mit weniger als 300 Rt. im Jahr zustand.18 Die Belege über die direkten Naturalienlieferungen nach Europa verzeichnen nur drei Kategorien  : Conchylien, also Schnecken und Muscheln, sowie botanische Objekte und ganz allgemein »Naturalien«. Conchylien rangieren mit zwölf nachgewiesenen Lieferungen vor acht Pflanzenlieferungen und fünf nicht weiter spezifizierten Lieferungen von Naturalien. Eine Verkaufsanzeige globale Gemeinschaft 1727–1857, Göttingen 2009  ; Beck, Hartmut  : Brüder in vielen Völkern. 250 Jahre Mission der Brüdergemeine, Erlangen 1981. 14 Vgl. Ruhland  : Südasien als pietistisches Konkurrenzfeld  ; Krieger, Martin  : Vom »Brüdergarten« zu den Nikobaren. Die Herrnhuter Brüder in Südasien, in  : Conermann, Stephan (Hg.)  : Der Indische Ozean in historischer Perspektive, Hamburg 1998, S. 209–244  ; Römer, Hermann  : Geschichte der Brüdermission auf den Nikobaren und des »Brüdergartens« bei Trankebar, Niesky 1921. 15 Vgl. Engel, Katherine Carté  : Religion and Profit. Moravians in early America, Philadelphia 2009, hier S. 32–36, 146–171. 16 Vgl. Unitätsarchiv der Evangelischen Brüder-Unität, Herrnhut (UA) MDpn XI.10   ; UA, MDpn XI.16. Ab 1781 wird ausdrücklich ein Posten »Naturalien Samlung« aufgeführt. Vgl. UA, MDpn XI.16. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Becker an Säger, Tranquebar, 20. Februar 1778. Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle (Saale) (AFSt) M 1 B 67  :32.

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von Martin Brodersen (1718–1803) aus dem Jahr 1778 verdeutlicht demgegenüber die große Breite und kenntnisreiche Spezialisierung des Angebotes der Herrnhuter in Tranquebar selbst  : 1) wohl eingerichtete Insecten=Kästgen, enthaltend schöne assortiments von Papillons, Käfer, Fliegen u. s. w. eines kostet hier in Tranquebar 15 Stern Pagoden. 2) Sortimenter von Conchylien, als Schnecken und Muscheln u. anderen SeeGewächsen. 3) Allerhand Sorten Kräuter und Gräser mit ihren Blüten zwischen Papier gelegt. 4) Allerley Animalia auf Spiritus. Ferners zu weilen Sammlungen von Schwämmen, Krabben p.p.19

Entsprechend dieser Übersicht waren die Herrnhuter in der Lage, Exponate aus allen Bereichen des Tier- und Pflanzenreiches zur Verfügung zu stellen. Dennoch bleibt vorerst offen, was mit der enormen Menge an Objekten aus der Naturaliensammlung geschah und über welchen Wissensstand die Herrnhuter verfügten. Käufer vor Ort waren in Indien lebende Europäer  : Naturhistoriker, Kaufleute und Offiziere.20 Zu Ersteren gehörte neben Angestellten der DEHM wie dem Missionsarzt Johann Gerhard König (1728–1785)21 und dem Missionar Christoph Samuel John (1747–1813)22 auch der Botaniker in Diensten der englischen East India Company William Roxburgh (1751–1815)23. Der Weg der in Tranquebar verkauften Naturalien lässt sich heute jedoch kaum mehr 19 Brodersens Sortimentkatalog, StaH A 6.2.6 Nr. 15945. Becker gibt 1778 den Wert einer Stern Pagode mit 2 Rt 14 Groschen preußisch an, ebd. Noch 1792 ist der Preis für einen Insektenkasten mit dem von 1778 identisch. Eine Kiste mit Conchylien kostete je nach Größe 30 oder 60 Stern Pagoden und eine Flasche mit Spirituspräparaten von zwei Fischen oder Schlangen zwei Stern Pagoden. John und Rottler an Gebauer, John und Rottler an Gebauer, Tranquebar, 25. Oktober 1792. Vgl. StaH A 6.2.6 Nr. 27712. 20 Siehe Anm. 5. 21 Vgl. Sterll, Michael  : Life and Adventures of Johann Gerhard König (1728–1785). A Phantom of the Herbaria, in  : Rheedea 18 (2008), Nr. 1, S. 111–129. Dass König seine botanischen Exponate nicht alle selbst sammelte, sondern ebenso anderweitig erwarb, ergibt sich u. a. aus seinem Brief an Solander vom 24. Januar 1774. Vgl. Rendle, A. B.: Johan Gerhard König, in  : Journal of Botany 71 (1933), S. 143–153, 175–187, hier S. 148. 22 Vgl. Hommel, Karsten  : »Für solche [Theologen] wolle Gott seine Ost-Indische Kirche in Gnaden bewahren  !« Physikotheologie und Dänisch-Englisch-Hallesche Mission, in  : Liebau u. a. (Hg.)  : Mission und Forschung, S. 181–194  ; Ders.: Physico-Theology as Mission Strategy. Missionary Christoph Samuel John’s (1746–1813) Understanding of Nature, in  : Gross u.a. (Hg.)  : Halle and the Beginning, Vol. 3, S. 1115–1134. 23 Vgl. Robinson, Tim  : William Roxburgh. The Founding Father of Indian Botany, Chichester 2008.

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nachvollziehen. Nur zwei von Becker und dem Missionar Johann Friedrich König (1741–1795) an Gebauer gesandte Insektenkästen stammen sicher aus der Produktion der Herrnhuter und wurden vor Ort in Tranquebar erworben.24 Wesentlich aufschlussreicher hinsichtlich des Verbleibs der Naturalien sind die bereits erwähnten direkten Lieferungen nach Europa. Die dazugehörigen Belege verdeutlichen die lokalen und personellen Eckpfeiler der Einbindung der Herrnhuter Naturalienlieferungen in das transnational funktionierende Netzwerk der Mission und zeigen dessen partielle Deckungsgleichheit mit dem naturgeschichtlichen Netzwerk. Neun Lieferungen erfolgten nach London, sechs nach Kopenhagen und vier gingen ins Alte Reich. Anerkannte Naturhistoriker, welche namentlich fassbar werden, sind Sir Joseph Banks (1743–1820), Präsident der Royal Society in London, Johann Christian Daniel Edler von Schreber (1739–1810), Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Lorenz Spengler (1720–1807), Leiter der königlich dänischen Kunst- und Naturalienkammer und Johann Hieronymus Chemnitz (1730–1800). Zugleich wird eine spezielle Art der Einbindung in das Netzwerk deutlich  : Die Sammler in Tranquebar kommunizierten nur selten selbst mit den Abnehmern ihrer Naturalien. Der Transport und auch die Bezahlung erfolgten über Mittelsmänner, welche die Naturalien in Europa in Empfang nahmen und weitergaben oder selbstständig deren Verkauf organisierten. In London nahmen die bedeutenden Mitglieder der dortigen Herrnhuter Sozietät Johann Gotthold Wollin (1725–1792) und Philipp Hurlock (1713–1801) diese Position ein. Über die Empfänger der Sendungen lässt sich in Einzelfällen auch der Weg der Naturalien bis hin zu ihrer Verwendung in naturgeschichtlichen Publikationen nachzeichnen. Spengler und Chemnitz waren vor allem Abnehmer von seltenen Conchylien, zu denen die Herrnhuter durch ihre Niederlassungen in Tranquebar und auf den Nikobarischen Inseln einen exklusiven Zugang besaßen. Durch Beschreibungen und Abbildungen in Chemnitz’ Neuen systematischen Conchylien-Cabinet wurden sie zum festen Bestandteil des naturgeschichtlichen Wissensbestandes.25 Das Beispiel des Conchylien-Cabinets und die erwähnten Verkäufe von Naturalien legen nahe, dass eine Vielzahl von europäischen Sammlungen mit Naturalien aus der Herrnhuter Südasienmission bestückt war. Der schon er24 Vgl. John und Rottler an Gebauer, Tranquebar, 25. Oktober 1792, StaH A 6.2.6 Nr. 27712. 25 Vgl. Martini, Friedrich Heinrich Wilhelm/Chemnitz, Johann Hieronymus (Hg.)  : Neues systematisches Conchylien-Cabinet […] (11 Bde.), Nürnberg 1768–1795.

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wähnte Spengler benennt die Exotik und die hohe materielle Qualität der südasiatischen Naturalien der Brüdergemeine als Ursache für deren Beliebtheit in Europa  : Durch fleißiges Nachsuchen der Evangelischen Brüder [der Herrnhuter  ; T.R.] […], ist es ihnen gelungen, das Vaterland der ächten Wendeltreppen daselbst entdeckt zu haben, so daß nunmehro auch Privatsammlungen mit diesem seltenen Stück prangen können, welches um seines hohen Preises willen, worinn es die Holländer so lange Zeit zu halten gewußt, vorher nur in großer Herren Kabinetten anzutreffen gewesen.26

grassroots-Gelehrsamkeit als naturgeschichtliche Praxis

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, woher die Herrnhuter Handwerkermissionare ihr Interesse für Naturgeschichte und ihr naturkundliches Wissen hatten.27 Denn beides bildete die Grundlage für den von ihnen aufgebauten und profitabel geführten Naturalienhandel. Die Antwort lässt sich in den Besonderheiten der Herrnhuter Brüdergemeine vermuten  : in der überdurchschnittlich hohen Literarität dieser Gemeinschaft sowie in dem hohen Bildungsstand ihrer Führungspersönlichkeiten. Auch wenn der Schuster Brodersen botanische Exponate in seinem Verkaufskatalog erwähnte, darf der Stellenwert der Botanik als einem gelehrigen Zeitvertreib und ihre Verbindung zur Medizin im 18. Jahrhundert nicht unbeachtet bleiben.28 So ist eine Liefe26 Spengler, Lorenz  : Beschreibung einer ganz neuen Telline oder Dünnmuschel von den Friedrichsinseln, in  : Beschäftigungen der Berlinischen Gesellschaft naturforschender Freunde 1 (1775), S 387–394, hier S. 388 f. Spengler beschrieb diese Spezies auch in Chemnitz’ Conchylien-Cabinet und benannte die Herrnhuter als Lieferanten. Exemplare aus seiner Sammlung – sein erstes Exemplar kostete ihn 1762 in Holland noch 545 Gulden – dienten als Abbildungsvorlage. Vgl. Chemnitz  : Conchylien-Cabinet, Bd. 4, S. 263–274, Tab. CLII f., Fig. 1426–1433. 27 Hermann Wellenreuther prägte die Charakterisierung einer »Halleschen Theologen-Mission« und einer »Herrnhuter Handwerker-Mission«. Ders.: Pietismus und Mission. Vom 17. bis zum Beginn des 20.  Jahrhunderts, in  : Lehmann, Hartmut (Hg.)  : Geschichte des Pietismus Bd.  4  : Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2003, S. 166–193, S. 166–193, hier S. 170. 28 In der Herrnhuter Südasienmission wirkten insgesamt neun Ärzte und Chirurgen. 1782 wurde die Leiche eines Herrnhuters seziert, um die Ursache seiner Erkrankung zu identifizieren. Zudem ist die medizinische Nutzung indischer Pflanzen bekannt. Eine Verbindung dieser Personen zur Naturaliensammlung ist anzunehmen, lässt sich aber nur für Benjamin Heyne (1770–1819) nachweisen, der in der Forschung kaum als Herrnhuter wahrgenommen wird. Vgl. Römer  : Brü-

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rung bengalischer Pflanzen von Johannes Grasmann (1742–1822) an Schreber 1796 etwa ein Beleg für die Beteiligung studierter Akteure an der Herrnhuter Naturaliensammlung.29 Grasmann hatte wie mehrere Leiter des Brüdergartens an der Akademie der Herrnhuter Brüdergemeine in Barby studiert, wo er auch in Botanik, Medizin und Naturgeschichte unterrichtet wurde, was zum festen Lehrplan gehörte.30 Der dortige Professor Friedrich Adam Scholler (1718– 1785) verfasste die erste Botanik der Region nach dem System des damals führenden schwedischen Naturkundlers Carl von Linné (1707–1778), und mehrere Lehrkräfte standen in enger Verbindung zur Universität Göttingen.31 Barby war jedoch auch ein zentraler Bezugspunkt für die handwerklich tätigen Herrnhuter. Viele von ihnen weilten vor ihrer Aussendung in eine Missionsstation in Barby bei der Leitung der Brüdergemeine und kannten daher das dortige umfangreiche Kunst- und Naturalienkabinett.32 Dessen Leiter Johann Jakob Bossart (1721–1789) verfasste im Jahr 1774 eine Anweisung Naturalien zu samlen. Darin unterwies er die nichtstudierten Missionare, auf welche Arten Naturalien am besten präpariert, dauerhaft haltbar und transportfähig gemacht werden können.33 Er beschrieb ausführlich die Praktiken des Naturaliensammelns mit dem Ziel, die natürlichen Objekte in ihrer Materialität zu erhalten und in bestmöglichem Zustand nach Europa zu transferieren. Obwohl in Barby selbst alle Objekte nach der Linné’schen Taxonomie klassifiziert und verzeichnet waren, erwähnt Bossart dieses Bestimmungssystem den Naturaliensammlern gegenüber nicht. Dennoch schloss er mit seiner Anweisung an den neuesten Stand der Naturgeschichte an und sicherte die wissenschaftliche Auswertbarkeit der Präparate auch im Sinne Linnés, indem er die Sammler dergarten, S. 65, 74–77  ; Hoppe  : Naturgeschichte, S. 160–165. 29 Sieben der neun nachweisbar beteiligten Personen waren jedoch Handwerker. Vgl. Römer  : Brüdergarten, S. 74–77. 30 Vgl. Becker, Ludwig  : Die Pflege der Naturwissenschaften in der Herrnhuter Brüdergemeine, in  : Unitas Fratrum 55/56 (2005), S. 17–51  ; Uttendörfer, Otto  : Die Entwicklung der Pflege der Naturwissenschaften in der Brüdergemeine, in  : Zeitschrift für Brüdergeschichte 10 (1916), S. 89– 106. 31 Vgl. Scholler, Friedrich Adam  : Flora Barbiensis in usum seminarii fratrum, Lipsiæ 1775  ; Augustin, Stephan  : Herrnhut und Göttingen im 18. Jhd.: wissenschaftsgeschichtliche Aspekte der Beziehungen zwischen Mission und Universität, in  : Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden, 49 (1996), S. 159–180. 32 Vgl. Augustin, Stephan  : Das Naturalienkabinett in Barby – Anfänge des naturkundlichen und völkerkundlichen Sammelns in der Evangelischen Brüder-Unität, in  : Unitas Fratrum  55/56 (2005), S. 1–16. 33 Vgl. Bossart, Johann Jakob  : Kurze Anweisung Naturalien zu samlen, Barby 1774.

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beispielsweise dazu aufforderte, die für die botanische Bestimmung nötigen Staubgefäße zu zählen bzw. diese zumindest behutsam zu behandeln und alle Fundumstände genau zu beschreiben.34 Der Erfolg dieser Popularisierung naturkundlichen Wissens ist am Umfang der Naturalienhandlung abzulesen und wird in den Selbstzeugnissen der Herrnhuter greifbar. So führt Brodersen in seinem Lebenslauf als Motiv seiner naturkundlichen Tätigkeiten an, »meinen Freunden und Wohlthätern in Europa durch Sammlung ein[ig]er Conchilien aus Erkenntlichkeit gegen sie, eine Freude […] machen« zu wollen. Zudem schreibt er, konnte er »von den Conchilien manches […] verkaufen, und damit unserer Haushaltung dienen«.35 Die Erwähnung der »Wohltäther[ ]« ist hier mehr als eine Floskel. Sie verweist auf die politische Brisanz der Herrnhuter Südasienmission, die fast ein Jahrzehnt mit obrigkeitlichen Verboten zu kämpfen hatte und dabei ständig von ihrer Schließung bedroht war.36 Brodersen verdeutlicht, wie die Herrnhuter die Sammelleidenschaft bedeutender Entscheidungsträger am dänischen Hof sowie deren Interesse an der Naturgeschichte für ihre Zwecke instrumentalisierten. Christian Gottlieb Kratzenstein (1723–1795) erwähnt in seiner Übersicht der wichtigsten dänischen Naturalienkabinette in Regenfuss’ berühmten Conchylienwerk von 1758 sieben bedeutende dänische Naturaliensammler, welche später in den Konflikt um den Bestand der Herrnhuter Südasienmission involviert waren. Darunter befinden sich u. a. der dänische König, der Präsident des Missionskollegiums Johann Ludwig von Holstein (1694–1763) sowie dessen Nachfolger Otto von Thott (1703–1785) und Adam Gottlob von Moltke (1710–1792), der Präsidenten der monopolisierten dänischen Asiatischen Handelskompanie.37 Mindestens fünf von ihnen erhielten Naturalien aus der Herrnhuter Südasienmission als Präsente oder erwarben sie käuflich. Durch Geschenke prestigeträchtiger, exotischer Naturalien an einflussreiche Patrone sowie eine kontinuierliche Sammeltätigkeit, die ständig neue Objekte versprach, machte sich die Brüdergemeine als Lieferant unentbehrlich. Vor allem jedoch hofften sie, dadurch die Existenz ihrer Mission durch politische Protektion abzusichern. In der Praxis verband sich dieses Bestreben mit den 34 Vgl. ebd., S. 21. 35 Lebenslauf Martin Brodersen. UA, R. 22.20.59. 36 Vgl. Ruhland  : Südasien als pietistisches Konkurrenzfeld. 37 Vgl. Regenfuss, Franz Michael  : Auserlesne Schnecken Muscheln und andre Schaalthiere, Kopenhagen 1758, hier S. IIX–XIV.

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kommerziellen Notwendigkeiten der Gemeinschaft sowie den naturkundlichen Interessen einzelner Akteure und führte zur Etablierung der Herrnhuter Naturaliensammlung und des umfassenden kommerziellen Naturalienhandels. Ein erfolgreicher Naturalienhandel erforderte ein vielfältiges und umfassendes Angebot. Dafür mussten die Verkäufer die vorhandenen Naturalien zumindest als verschiedene Arten klassifizieren können und im Idealfall die Namen nach der Linné’schen Taxonomie zuordnen. Christoph Conrad Barlach (1759–1832) belegt diese klassifikatorische Fähigkeit in seinem Lebenslauf. Zu seinem Angebot zählten »schöne Sammlungen von einigen 90 Sorten Krebse, die größten von einer Elle Länge  ; und Vögel vom grossen Sekrétair bis zum Kolibri, auch verschiedene Schlangen ausgestopft und in Spiritus«38. Wie eng die naturkundlichen Fähigkeiten der Unterscheidung verschiedener Arten an den praktischen Umgang mit den Naturalien gebunden waren, verdeutlicht ein Bericht Johann Gottfried Hänsels (1749–1814)  : […] and though I possessed no previous knowledge of these things, and would not venture to determine a proper classification of the various natural productions which I collected, […] yet constant practice and experience gave me by degrees sufficient skill to distinguish what was really worthy the attention of naturalists.39

Die Mitglieder der Herrnhuter Südasienmission hatten nicht das Ziel, ihre Erkenntnisse in Publikationen zu veröffentlichen. Ihnen ging es vorranging um die Vergrößerung ihres eigenen naturgeschichtlichen Wissens, war es doch die Grundlage ihres Naturalienhandels. Der Wissenserwerb erfolgte dabei hauptsächlich in der Praxis der Sammeltätigkeit, erhielt aber auch Impulse durch die Kenntnis der Naturalienkammer in Barby und theoretische Instruktionen, wie die erwähnte Sammelanleitung.40 Die Herrnhuter Sammler sind damit Teil des »Phänomen[s] einer naturhistorischen grassroots-Gelehrsamkeit«.41 Als deren Kennzeichen benennt Dietz »konkrete[  ] Praktiken der Wissenserzeu38 Lebenslauf Christoph Conrad Barlach. UA, R. 22.52.01. 39 Johann Gottfried Hänsel  : Letters on the Nicobar Islands, London 1812, S. 35 f. 40 Schaeffer erwähnt, wie er »Ungelehrte«, die er sich »abrichten« musste, bei seinen naturkundlichen Forschungen »zu Hülfe« gezogen habe. Neben dem Wert, welchen er dem Praxiswissen von beispielweise »Vogelstellern« und »Fischern« zuschrieb, betont er die Bedeutung von »Bildern, oder [Objekten  ; T. R.] aus seinen Sammlungen«, um »auf diese Weise von jedem Dinge […] einen sinnlichen Begriff« bei seinen potentiellen Sammler*innen zu erzeugen. Vgl. Schaeffer  : Erläuterte Vorschläge, S. 19–21 [Hervorhebung im Original]. 41 Dietz  : Aufklärung, S. 235.

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gung« wie die praktische Tätigkeit der Akkumulation von Naturobjekten und von Wissen über diese Objekte, ohne je namentlich oder gar persönlich durch »gelehrte Autorschaft« Eingang in die naturgeschichtlichen Publikationen zu finden.42 Hier zeigt sich eine Form naturgeschichtlicher Praxis, die grundlegend für die Etablierung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert war, aber in der Historiographie bisher kaum Beachtung fand  : die Sammlung von Naturalien, ihre handwerkliche Transformation in Wissensobjekte sowie ihre Verschickung in die centre[s] of calculation.43 Durch die gründliche Beherrschung dieser Praktiken der Naturgeschichte wurden die Herrnhuter Missionare zu einem festen Bestandteil des naturgeschichtlichen Netzwerkes. Unter den Gelehrten innerhalb dieses Netzwerkes wurden Naturalien und Bücher zumeist getauscht. Sie zirkulierten im Sinne reziproker Gabe und Gegengabe entsprechend der Gabentauschtheorie von Marcel Mauss.44 Als Teil dieser Gabenökonomie wurde der Entdeckung neuer Arten eine besondere Bedeutung zugesprochen, die sich in der expliziten Erwähnung des Entdeckers bei der Artbeschreibung oder sogar der Benennung neuer Spezies mit seinem Namen verdeutlichte.45 Der kommerzielle Naturalienhandel der Herrnhuter führte zu einer grundlegend anderen Praktik. Die Herrnhuter handelten die Konditionen ihrer Warentauschbeziehung auf einem freien Markt aus. Dabei traten sie, ganz im Einklang mit ihrer kollektiven Ökonomie, als Gemeinschaft und nicht als Individuen auf und benutzten die lateinische Selbstbezeichnung der Brüdergemeine Societas Unitas Fratrum oder eine entsprechende Abkürzung für die Kennzeichnung ihrer Spezimen.46 Für die Integration der von ihnen bereitgestellten Naturalien in das Wissen der Zeit spielte das keine Rolle  ; sie wurden zu begehrten Bestandteilen diverser Sammlungen und damit auch zur Grundlage naturkundlicher Publikationen.47 Da deren Autoren die beschriebenen Naturobjekte jedoch käuflich erworben hatten und sich nicht mit den Herrnhutern identifizierten, bestand für sie kein Grund, die Entdecker 42 Ebd. 43 Zu einer umfassenden Kritik der Zentrum-Peripherie-Unterscheidung vgl. Nair  : Native Collecting. 44 Vgl. Müller-Wille, Staffan  : Botanischer Tausch und Ökonomie der Natur, in  : Dauser u. a. (Hg.): Wissen im Netz, S. 79–89  ; Ders.: Nature as a Marketplace. 45 Vgl. Mariss  : Praktiken, S. 207–227. 46 Das trifft bisher für alle Herrnhuter Herbarblätter im Bestand der Linnean Collections der Linnean Society of London zu, welche 1785 und 1786 als Datum tragen und für die bisher 25 vom Autor identifizierten Herbarblätter im Bestand des Natural History Museum London, welche auf 1775, 1778 und 1785 datiert sind. 47 Vgl. Hoppe  : Naturgeschichte, S. 164 f., die diesen Prozess für die Missionare der DEHM nachzeichnet.

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und Lieferanten einer neuen Spezies, die sie nicht als ebenbürtige Gelehrte betrachteten, zu ehren und zu benennen.48 Im Conchylien-Cabinet, wie in vielen anderen Fällen auch, wurden daher individuelle Namen von Herrnhutern nur in Ausnahmen und auch ihre religiöse Gemeinschaft nur sehr selten erwähnt.49 Die kollektive Wirtschaftsweise der Herrnhuter und ihre kommerzielle, anonyme Form des Naturalienhandels führten dazu, dass die einzelnen Personen vollständig hinter den Objekten zurücktraten und mit den Naturalien und ihren Veröffentlichungen keine Sammlernamen verbunden wurden, sodass kein »intellectual ownership«50 zurückblieb. Neben den Conchylien wird dies besonders bei botanischen Lieferungen deutlich, die ihrerseits vom Umfang der naturgeschichtlichen Kenntnisse und vom hohen Stand der notwendigen konservatorischen Fähigkeiten der Herrnhuter zeugen. Zu einer Lieferung, welche Banks offensichtlich nach dem Besuch der Herrnhuter Niederlassung Zeist in den Niederlanden 1774 ausdrücklich bestellt hatte,51 äußerte sich sein Assistent Daniel Solander (1733–1782) im August 1775  : Mr Hurlock has send to your house the plants […]  ; they are collected near Tranquebar by Breteren [sic  !] of the Moravians, and as good specimens as any I have seen. If things come in, in this manner, you will soon want another dozen of cubes. Mr Koenigs52 plants […] I thought […] made a fine figure, but these surpass them by 100 per cent. […] They seem to be about 3 or 400.53

Die hohe Qualität der Lieferungen führte zu einem regelrechten Naturalienhandel auf Bestellung. Dieses Niveau betraf aber nicht nur den Erhaltungs- und 48 Zur Praxis der Etablierung eines umfassenden Lieferantennetzwerkes und dessen sozialer und wissenschaftlicher Anerkennung sowie zur Bezahlung der Naturalien allgemein vgl. Schaeffer  : Erläuterte Vorschläge, S. 21 f. 49 In den Fällen, wo die Herrnhuter als Lieferanten kenntlich gemacht wurden, erschweren die vielfältigen Namensversionen heutigen Leser*innen die Zuordnung. Chemnitz erwähnt sie z. B. als  : »Colonie mährischer Brüder«, »Colonie der evangelischen Brüdergemeinde«, »Mährische[ ] Brüdergemeinde« und »Mährische[ ] evangelische[ ] Brüder«. Chemnitz  : Conchylien-Cabinet, Bd. 5, S. 48, Bd. 6, S. 51, Bd. 4, S. 213, 271. 50 Müller-Wille  : The Political Economy, S. 159. 51 Vgl. Maiden, Joseph Henry  : Sir Joseph Banks. The »Father of Australia«, Sydney/London 1909, S. 52. 52 Gemeint ist hier Johann Gerhard König. Vgl. Sterll  : Life and Adventure. 53 Solander an Banks, 22. August 1775, zitiert nach Duyker, Edward/Tingbrand, Per (Hg.)  : Daniel Solander. Collected Correspondence 1753–1782, Oslo/Kopenhagen/Stockholm 1995, S. 356.

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Präparierungszustand der Spezimen. Herrnhuter Herbarblätter von 1786 sind mit lateinischen Namen nach Linné bestimmt und tragen zudem eine tamilische Lokalbezeichnung in lateinischer Umschrift.54 Trotz dieser Charakteristika schreibt sich der durch den kommerziellen Naturalienhandel hervorgerufene Verlust des geistigen Eigentums der Brüdergemeine (aber auch der indigenen Akteur*innen) bis heute fort. Trotz erhaltener Abkürzungen wie »Soc. Unit. Frat.« als Paratext auf den hier als Parerga anzusprechenden und in Teilen erhaltenen originalen Papierbögen, auf welchen die Spezimen befestigt waren, erfolgt bei der Aufnahme in die heutigen Bestandsverzeichnisse selten eine Zuordnung zu den Herrnhutern als kollektiven Sammlern.55 Banks wurden durch Hurlock in London Hunderte von Spezimen zugestellt. Letzterem brachte seine Vermittlerposition in naturgeschichtlichen Netzwerken nicht nur die durch Banks und Solander geförderte Aufnahme in die Royal Society ein, bis heute wird er in den Verzeichnissen oft als der Sammler dieser Naturalien angegeben.56 Das Nichtwissen um die Herrnhuter als kollektive Sammler erstaunt, werden doch einige ihrer noch heute im Natural History Museum, London erhaltenen Herbarblätter als das für die biologische Nomenklatur so bedeutende Typenmaterial geführt und dienten scheinbar Linnés Sohn und anderen Naturkundlern zur wissenschaftlichen Erstbeschreibung bestimmter Spezies.57 In der Verbindung 54 Vgl. z. B. The Linnean Collections der Linnean Society of London (http://linnean-online.org/, letzter Zugriff  : 10.08.2016)  : LINN-HS 1059.1 Torenia hirsuta (Herb Smith)  ; LINN-HS 1542.21 Smilax indet. (Herb Smith)  ; LINN-HS 721.6 Bauhinia purpurea (Herb Smith)  ; LINN-HS 881.1 Psidium pomiferum (Herb Smith)  ; LINN-HS 882.24 Myrtus cumini (Herb Smith)  ; LINN-HS 752.3 Murraya exotica (Herb Smith)  ; LINN 932.18 Trigonella sp. (Herb Linn) und mit gleichförmigem Label im Bestand des Natural History Museum London  : Scilla hyacinthina (Roth ex) J. F.Macbr. BM000958268. 55 Siehe Fn. 46. Zur Bedeutung der Parerga, in diesem Fall der Papierbögen, welche die Grundlage für die Montage der Spezimen bilden und damit das jeweilige Herbarblatt als wissenschaftliches Objekt erst konstituieren, vgl.: Grave, Johannes  : On the Aesthetics of Scientific Objects. Three Case Studies, in  : Vackimes, Sophia/Weltersbach, Konstanze (Hg.)  : Wandering Seminar on Scientific Objects, 2007, S. 35–47, hier S. 46 f. 56 Vgl. Mason, J.  C.  S.: The Moravian church and the missionary awakening in England, 1760– 1800, Woodbridge u. a. 2001, S.  53. The Linnean Collections der Linnean Society of London  : LINN-HS 1397.32 Cymbidium indet. (Herb Smith)  ; LINN-HS 1403.15 Limodorum indet. (Herb Smith)  ; LINN-HS 721.6 Bauhinia purpurea (Herb Smith)  ; LINN-HS 352.1 Mussaenda frondosa (Herb Smith)  ; LINN-HS 352.13 Mussaenda indet. (Herb Smith)  ; LINN-HS 1420.1.2 Pistia stratiotes (Herb Smith) und siehe Fn. 54. 57 Vgl z. B. Natural History Museum London (2014) (Dataset: Collection specimens. Resource: Specimens, http://dx.doi.org/10.5519/0002965, letzter Zugriff am 11.08.2016)  ; Scilla hyacinthina (Roth ex) J. F. Macbr. BM000958268  ; Hybanthus leptorhizum DC. BM000617693  ; Hibis­

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zwischen der Anonymität des kommerziellen Naturalienhandels und der Konzentration der Biologiegeschichte auf die individuellen Erstbeschreiber58 ist die Hauptursache dafür zu sehen, dass die naturkundlichen Beiträge der Herrnhuter Südasienmission bisher kaum anerkannt sind.59 Die wenigen greifbaren Belege wiederum wurden durch Fehlinterpretation von Societas Unitas Fratrum einer nicht existenten »Botanikergesellschaft« in Tranquebar mit Namen »United Fratrum« oder wie bei Desmond und Jensen »United Brethren« zugeschrieben und in der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte nicht mit dem Wirken der Herrnhuter Brüdergemeine in Südasien verbunden.60

Taxonomie und Kommerz

Kommerz war nicht nur auf der Ebene der Materialbeschaffung integraler Bestandteil der Naturgeschichte, auch in methodischer und epistemischer Hinsicht waren kommerzielle Elemente für diese konstitutiv. Die Herrnhuter agierten auf beiden Ebenen. Während die Naturaliensammlung bereits ausführlich dargestellt wurde, kann für die spezifische Mitarbeit an den theoretischen Grundlagen der Naturgeschichte hier nur kurz auf die schon erwähnten Lehrer der Herrnhuter Akademie in Barby, Bossart und Scholler verwiesen werden. Da die Verbindung von naturkundlicher Taxonomie und Kommerz aber die Grundlage für die hohe Nachfrage nach Naturalien und somit für den cus rigidus L.f. BM000645465  ; Justicia tranquebariensis L.f. BM000950151  ; Phaseolus trilobus Ait. BM000958615  ; Cenchrus biflorus Roxb. BM000959665  ; Neonauclea excelsa subsp. excelsa (Blume) Merrill BM000797235. Justicia tranquebariensis z. B. wurde erstveröffentlicht von Linné, Carl v. d. J.: Supplementum plantarum, Brunsvigæ, 1781 [publ. Apr. 1782], S. 85. 58 Vgl. Hoppe  : Naturgeschichte, S. 142. 59 Beiträge der Herrnhuter z. B. zur Naturgeschichte Grönlands sind seit langem bekannt. Vgl. Cranz, David  : Historie von Grönland, Barby/Leipzig 1765. 60 Desmond, Ray  : The European Discovery of the Indian Flora, Oxford and Kew 1992, S. 39  ; Jensen, Niklas Thode  : The Tranquebarian Society. Science, enlightenment and useful knowledge in the Danish-Norwegian East Indies, 1768–1813, in  : Scandinavian Journal of History 40 (2015), Nr. 4, S. 535–561, S. 539 f.; vgl. Kochhar, Rajesh  : Natural history in India during 18th and 19th centuries, in  : Journal of Biosciences 38 (2013), Nr. 2, S. 201–224, S. 203  ; Noltie, Henry J.: The Botany of Robert Wight, Ruggell 2005, S. 109  ; Sen, Samarendra N.: Scientific and Technical Education in India, 1781–1900, New Delhi 1991, S. 74  ; Stansfield, H.: The Missionary Botanists of Tranquebar. The discovery of classical collections of plants from Peninsular India (1780–1816), in  : Liverpool Libraries, Museums, & Arts Committee Bulletin 6 (1957), Nr. 3, S. 19–42, S. 42. Eine kaum rezipierte Ausnahme bildet Burkill, Isaac H.: Chapters on the history of botany in India, Calcutta 1965, S. 45.

Zwischen grassroots-Gelehrsamkeit und Kommerz 

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wirtschaftlichen Erfolg der Herrnhuter Naturaliensammeltätigkeit legte, wird sie im Folgenden näher beleuchtet. Durch die Globalisierung im 18. Jahrhundert gelangte eine Vielzahl neuer Naturobjekte nach Europa, die geradezu zu einem »information overload«61 der traditionellen Wissenssysteme führten. Gleichzeitig bedurfte die rasante Entwicklung der Naturgeschichte immer neuer Objekte, welche mit innovativen Methoden bestimmt und beschrieben, zu einer Vielzahl neuer taxonomischer Systeme führte.62 Linné entwickelte eine eigene »›Ökonomie‹ der Botanik« mit ganz spezifischen Operationen der Zirkulation und des Vergleichs, um diese Masse an Objekten methodisch handhaben zu können.63 Dies führte zu seiner Konzeption eines Natürlichen Systems der Arten, in welches neue Spezies problemlos integriert werden konnten, das »als Resultat eines unabschließbaren Forschungsprozesses«64 aber auch permanente Überarbeitung und Erweiterung implizierte.65 Mit dieser Innovation hatte Linné neben epistemischen zugleich kommerzielle Relationen zwischen den Naturobjekten, seiner immer wieder aktualisierten Taxonomie und den Naturaliensammlungen als Aufbewahrungsorten dieser Objekte etabliert. In diesen Beziehungen transformierte sich Wissen über die Natur in Marktwert, welcher immer an die Bewegung der Objekte gebunden war bzw. durch diese befriedigt wurde.66 Den Hintergrund dieses Transformationsprozesses bildet der Umstand, dass naturkundliche Taxonomien im Augenblick ihrer Veröffentlichung, einen materiellen Wert begründeten. In ihrer ständigen Aktualisierung markierten sie einzelne Arten als Neuheiten, welche in den meisten Naturaliensammlungen fehlten, und erzeugten somit eine Nachfrage nach diesen Naturalien. Linnés Systema Naturæ67 muss als ein Ausgangspunkt dieser Entwicklung angesehen werden, erweiterte sich die Anzahl der beschriebenen Spezies doch bis zur zwölften Auflage um ein Vielfaches.68 61 Vgl. Charmantier/Müller-Wille  : Natural history and information overload. 62 Vgl. Spix, Johannes  : Geschichte und Beurtheilung aller Systeme in der Zoologie nach ihrer Entwicklungsfolge von Aristoteles bis auf die gegenwärtige Zeit, Nürnberg 1811. 63 Müller-Wille, Staffan  : Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–78), Berlin 1999, S. 312 (Hervorhebung im Original). 64 Ebd. 65 Siehe den Beitrag von Bettina Dietz in diesem Sammelband. 66 Vgl. te Heesen/Spary  : Sammeln als Wissen, S. 12. 67 Vgl. Linné, Carl v.: Systema Naturæ, 1Leiden 1735, 2Stockholm 1740, 6Stockholm 1748, 10Stockholm 1758–59, 12Stockholm 1766–68. 68 Vgl. Dietz, Bettina  : Contribution and Co-production. The Collaborative Culture of Linnaean Botany, in  : Annals of Science the history of science and technology 69 (2012).

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Der Besitz einer Naturaliensammlung erhöhte das soziale Prestige des Sammlers in der Gelehrtenwelt, vor allem aber war er notwendig, um sich als naturkundliche Autorität umfassend über eine spezifische Tier- oder Pflanzengattung äußern zu können. Die Voraussetzung dafür bildete gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als einem »Kabinetseculum«69 mit der zunehmenden Spezialisierung der Naturalienkabinette die annähernde Vollständigkeit einer Sammlung, der ständige Erwerb der neu beschriebenen Spezies. Zugleich ermöglichte die auf der Grundlage der Linné’schen Taxonomie um sich greifende einheitliche Systematisierung, Verzeichnung und räumliche Anordnung unterschiedlicher Naturaliensammlungen erstmals deren umfassende Vergleichbarkeit untereinander70, wodurch ebenfalls Leerstellen einer Kollektion deutlich wurden.71 Erleichtert wurde dieser Abgleich von Sammlungen durch die im Systema Naturæ seit der zweiten Auflage von 1740 immer konsequenter betriebene Durchnummerierung der Gattungen und Arten.72 Dieses numerische System vereinfachte auf Exkursionen eine Kollation »lebender Repräsentanten von Pflanzenarten mit den durchnummerierten Namen in den Katalogen«.73 Es etablierte aber auch ein einfach zu handhabendes Ordnungssystem für die räumliche Systematisierung der Naturobjekte in Naturalienkammern und erleichterte somit auch die Kollation mit anderen toten Repräsentanten74 der jeweiligen Spezies. Durch die Struktur der Inventare und die korrespondierende Präsentationspraxis nach dem Linné’schen System mit Nummerierung konnten zudem fehlende Arten oder Gattungen sofort als Leerstellen erkannt werden. Das Bemühen um das Schließen dieser Leerstellen führte zu dem »für den Wissensbildungsprozess der Naturgeschichte […] unverzichtbare[n] Zirkulieren von Objekten«, wie es Dietz beschreibt. ­Dieser 69 Schröter, Johann Samuel (Hg.)  : Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Naturgeschichte, Bd. 1, Halle 1776, S. 48. 70 Vgl. Linné, Carl  v.: Systema Naturæ, 3Halle 1740, Vorrede §  10  ; Strasser  : Collecting Nature, S. 319–323. 71 Vgl. Siemer, Stefan  : Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert, Mainz 2004, S. 240–247. 72 Die Nummerierung der Arten des Tierreichs wurde 1748 in der sechsten Auflage von Systema Naturæ eingeführt. Die Pflanzenarten hatte Linné erstmals 1753 in Species Plantarum nummeriert zusammen mit der Einführung der binären Nomenklatur. Ihre Nummerierung übernahm er 1759 in der zehnten Auflage von Systema Naturæ, wobei Neuzugänge noch durch Buchstaben gekennzeichnet wurden. In der zwölften Auflage wurden im Bereich der Botanik Gattungen und Arten neu durchnummeriert. Vgl. Linné  : Systema Naturæ, 21740, 61748, 101759, 121767. 73 Müller-Wille  : Botanik und weltweiter Handel, S. 167. 74 Vgl. ebd., S. 164.

Zwischen grassroots-Gelehrsamkeit und Kommerz 

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Zirkulationsprozess war eingebunden in weltweite Handelsbeziehungen, d ­ eren fester Bestandteil die Herrnhuter Naturalienlieferungen waren.75

Fazit

Die Kommerzialisierung von Natur fand nicht nur im Zuge der Ausbeutung der europäischen Kolonien und ihrer natürlichen Ressourcen statt  ; schon im Prozess des Sammelns von Naturalien war die Naturgeschichte kommerzialisiert. Nur durch Naturalienhandel, der zu einer »ordentlichen Profession« erhoben wurde, war die hohe Nachfrage überhaupt zu befriedigen. Die Herrnhuter institutionalisierten diese Form der naturkundlichen Praxis im Rahmen ihrer Südasienmission. Sie nutzen die Nachfrage der europäischen Schreibtischgelehrten nach immer neuen Naturobjekten im Zuge der Aktualisierungen der Linné’schen Taxonomie sowie die Sammelleidenschaft politisch einflussreicher Personen, um ihre Missionstätigkeit zu finanzieren und rechtlich abzusichern. Durch die umfassende Beherrschung verschiedener naturkundlicher Verfahren der Konservierung von Naturalien und deren Transfer nach Europa leisteten die Herrnhuter damit einen bedeutenden Beitrag zur Vollständigkeit europäischer Sammlungen. Als grassroots-Gelehrte generierten die Missionare selbst umfangreiches naturkundliches Wissen, welches sie befähigte, natürliche Dinge in Wissensobjekte zu transformieren, das aber nie von ihnen veröffentlicht wurde. Sie waren unverzichtbare Materiallieferanten und damit Teil des naturgeschichtlichen Netzwerkes. Das Beispiel des kommerziellen Naturalienhandels der Herrnhuter verdeutlicht jedoch auch, dass dieses Netzwerk Unterschiede zwischen den Beteiligten machte und, entgegen seinem Ideal, die soziale Hierarchie der Gesellschaft reproduzierte. Grassroots-Gelehrsamkeit war ein integraler Bestandteil der Naturgeschichte, ihre Exponenten wurden von den Gelehrten der Zeit aber nicht als gleichrangig betrachtet. Deshalb wurden die Namen der kommerziellen Naturaliensammler in den naturkundlichen Werken und den Naturaliensammlungen nur in Ausnahmen vermerkt. Als eine Folge dieser Praxis wird der Beitrag der Herrnhuter Südasienmission zur Naturgeschichte bis heute kaum gewürdigt und ihre erhaltenen Exponate werden, wenn überhaupt, dann lediglich einer nicht existierenden Botanikergesellschaft in Tranquebar zugeordnet.

75 Dietz  : Aufklärung, S. 247.

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Sammeln, Sezieren und Systematisieren Europäische Insektenkunde um 18001

Insekten und die Entomologie haben bisher in wissen(schaft)sgeschichtlicher Hinsicht nur wenig Aufmerksamkeit erhalten.2 Dies gilt gerade für die Entwick­lung in den nachhaltig prägenden Jahren um 18003 und steht ganz im Gegensatz zu der enormen Aufmerksamkeit, welche die »nicht-charismatische Mikrofauna«4 im 18. Jahrhundert in europäischen Gelehrtenkreisen erhielt. Das wachsende kulturwissenschaftliche Interesse an den Beziehungen von Menschen zu anderen Organismen sowie deren visueller Darstellung5 hat allerdings auch das historiographische Interesse an Insekten beflügelt.6 1 Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde großzügig unterstützt durch ein William Hunter Fellowship an der University of Glasgow und ein DAAD/U4 Mobilitätsstipendium an der Uppsala universitet im Sommer 2015. Ich danke Anne Mariss und Silke Förschler sehr herzlich für hilfreiche Kommentare. 2 Die aktuellste deutschsprachige Monographie erschien Ende der 1920er Jahre  : Bodenheimer, Friedrich Simon  : Materialien zur Geschichte der Entomologie bis Linné (2  Bände), Berlin 1928/1929. Insekten und der menschliche Umgang mit ihnen wurden vor allem in Studien zum Ungeziefer-Begriff analysiert. Vgl.: Windelen, Steffi  : Mäuse, Maden, Maulwürfe. Zur Thematisierung von Ungeziefer im 18. Jahrhundert, Göttingen 2010 (http://resolver.sub.uni-goettingen.de/ purl/?webdoc-2481, letzter Zugriff  : 18.06.2016). 3 Vgl. Tuxen, Søren L.: Entomology Systematizes and Describes, 1700–1815, in  : Smith, Ray F. u. a. (Hg.)  : History of Entomology, Palo Alto CA 1973, S. 95–118. 4 Dieser Begriff, welcher vor allem dazu dient den Gegensatz zur in der ökologischen Forschung vielfach verwendeten »charismatischen Megafauna« zu betonen, wird vor allem in der derzeitigen entomologischen Biodiversitätsforschung verwendet und soll hier verwendet werden, ein wenig beachtetes Feld zu bezeichnen. Vgl. aus entomologischer Sicht  : Gibbs, Allan G.: Water balance in desert Drosophila. Lessons from non-charismatic microfauna, in  : Comparative Biochemistry and Physiology Part A 133 (2002), S. 781–789. 5 Vgl. mit weiterführender Literatur  : Förschler, Silke  : Die Ästhetik der Metamorphose in naturhistorischen Tierdarstellungen der Frühen Neuzeit, in  : Ullrich, Jessica/Ulrich, Antonia (Hg.)  : Metamorphosen (Tierstudien 4), Berlin 2013, S. 63–75. 6 Vgl. Coleman, Deirdre  : Entertaining Entomology. Insects and Insect Performers in the Eighteenth Century, in  : Eighteenth-Century Life  30 (2006), S.  107–134, Wallmann, Elisabeth  : On

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­ ntersuchungen, die naturkundliche Verfahrensweisen der Entomologie in U den Vordergrund stellen, fehlen allerdings noch weitgehend. Dabei finden sich in Reiseberichten, spezieller taxonomischer Literatur, Briefwechseln und Ratgebern für Insektensammler*innen eine Fülle von Informationen zu diesen Praktiken, die helfen können, die Entwicklung der Insektenkunde als wissenschaftlicher Disziplin zu analysieren. Die in den letzten Jahren zahlreich erschienenen Studien zum globalen Pflanzentransfer7 und zur Entwicklung der Botanik als eigenständiges Feld wissenschaftlicher Aufmerksamkeit8 dienen hier als Kontrastfolie – vor allem vor dem Hintergrund der europäischen Entdeckungsreisen und des Kolonialismus. Die Naturkundigen, deren Aussagen und Praktiken hier analysiert werden, produzierten Wissen über Insekten mit Hilfe von zeitgenössischen naturhistorischen Systematiken und Taxonomien, inspiriert von Buffon, Linné oder anderen damals gültigen Systemen wie etwa dem von Johann Christian Fabricius. Ermöglicht wurde dieser Prozess frühneuzeitlicher Wissensproduktion durch den translokalen Austausch von Wissen, der nicht nur in schriftlicher Form geführt wurde, sondern der sich auch durch konkrete Zusammenarbeit insbesondere in Naturalienkabinetten in den bekannten Zentren des Sammelns wie beispielsweise in Paris und London, aber auch an vielen anderen Orten vollzog. Dies beinhaltete auch den Austausch von Duplikaten und ganzen Sammlungen. Dabei fungierten die gesammelten und untereinander ausgetauschten Arten nicht nur als Objekte des Wissens  ; sie waren gleichzeitig – als wertvolle Sammlungsobjekte  – eine heißbegehrte Ware für Naturaliensammler*innen. Poets and Insects. Figures of the Human and Figures of the Insect in Pierre Perrin’s Divers Insectes (1645), in  : French History  28 (2014), S.  172–187, Ogilvie, Brian  : Insects in John Ray’s Natural History and Natural Theology, in  : Enenkel, Karl A. E./Smith, Paul J. (Hg.)  : Zoology in Early Modern Culture. Intersections of Science, Theology, Philology, and Political and Religious Education, Leiden/Boston 2014, S.  235–262, George, Sam  : Animated Beings. Enlightenment Entomology for Girls, in  : Journal for Eighteenth-Century Studies 33 (2010), S. 487–505, Stockland, Pierre-Etienne  : La Guerre Aux Insectes. Pest-Control and Agricultural Reform in the French Enlightenment, in  : Annals of Science 70 (2013), S. 435–460 und Terrall, Mary  : Catching Nature in the Act. Réaumur and the Practice of Natural History in the Eighteenth Century, Chicago/London 2014. 7 Vgl. zusammenfassend zuletzt  : Kumar, Deepak  : Botanical Explorations and the East India Company. Revisiting ›Plant Colonialism‹, in  : Damodaran, Vinita u. a. (Hg.)  : The East India Company and the Natural World, Basingstoke 2015, S. 16–34. 8 Vgl. Müller-Wille, Staffan  : Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–1778), (Studien zur Theorie der Biologie 3), Berlin 1999.

Sammeln, Sezieren und Systematisieren 

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In diesem Prozess wurde besonders der epistemische Status der Insekten intensiv diskutiert.9 Die meisten Naturkundigen waren sich am Übergang zum 19. Jahrhundert einig, dass Beschreibungen aus zweiter Hand sowie bildliche Darstellungen keine adäquaten Grundlagen der systematischen Beschreibung mehr sein konnten.10 Es wuchs die Überzeugung, dass die eigene Anschauung von Spezimen notwendig war, um diese wissenschaftlich exakt beschreiben und in der Systematik »richtig« verorten zu können. Deswegen wurde auch das eigene Sammeln sowie der Besuch von Sammlungen anderer Naturkundiger, die bereits seit der Renaissance zu den wichtigsten naturkundlichen Praktiken gehörten, epistemisch noch einmal aufgewertet. Wie Sammlungen aufgebaut und genutzt werden sollten und welche Methoden sich besonders gut eigneten, um die Insekten in die Sammlungen zu bringen, wurde umfassend thematisiert.

Sammeln und Aufbewahren

Im selben Maß, wie der Wunsch wuchs, sowohl einheimische als auch exotische Spezimen zu besitzen, erweiterte sich auch die Literatur darüber, wie diese zu erlangen waren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschien europaweit eine stattliche Anzahl an Anleitungen und Handbüchern, die den Naturliebhaber*innen darlegten, wie Insekten gefangen, aufbewahrt und geordnet werden konnten. Die Anleitung, die der Forschungsreisende Johann Reinhold Forster seinem Katalog amerikanischer Tiere11 voranstellte, ist nur  9 Aspekte von Mensch-Tier-Beziehungen, die in diesen Debatten zum Ausdruck kommen, können hier leider nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. dazu Hünniger, Dominik  : Inveterate travellers and travelling invertebrates – Humans and animals on the move in eighteenth century entomology, in  : Cockram, Sarah/Wells, Andrew  : Interspecies Interaction, Abingdon/New York 2017 (im Erscheinen). 10 Vgl. Engel, Michael S./Kristensen, Niels P.: A History of Entomological Classification, in  : Annual Review of Entomology 58 (2013), S. 585–607. 11 Forster, Johann Reinhold  : A catalogue of the animals of North America containing, an enumeration of the known quadrupeds, birds, reptiles, fish, insects, crustaceous and testaceous animals many of which are New, and never described before. To which are added short directions for collecting, preserving, and transporting, all kinds of natural history curiosities, London 1771. Die Anleitung erschien in Übersetzung auch seperat auf Deutsch  : Velthusen, Johann Peter  : Johann Reinhold Forsters kurze Anweisung, wie man Naturalien von jeder Art sammeln, aufbewahren und in entfernte Gegenden bringen könne (aus dem Englischen), in  : Hannoverisches Magazin 9 (1771), S. 1553–1564. Zu Forster vgl. zuletzt  : Mariss, Anne  : »A world of new things.« Praktiken

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eines von zahlreichen in Europa veröffentlichten Handbüchern.12 Interessant sind aber besonders seine Beschreibungen der Instrumente zum Insektenfangen, weil sie sich wie Baupläne lesen und eine Vielzahl der Verfahrensweisen betreffen, die angewendet werden mussten, um die Insekten aus dem Feld in die Kabinette zu bringen. Forsters Beschreibungen reichen von Zangen- bzw. Scherennetzen zum Fangen der lebendigen Spezimen bis hin zu Nadelkissen, unterschiedlich großen Nadeln und schließlich Aufbewahrungskästen für die auf den »Jagden gefangenen Insekten«13. Außerdem erwähnte er ein großes Moskitonetz, das man in London einfach erhalten konnte. Forster machte aber auch deutlich, dass der Umgang mit diesen Instrumenten viel Erfahrung und weitere »little tools of knowledge«14 notwendig zur Bedingung hatte, weil an ihnen einerseits die spezifischen Prozesse der Wissensproduktion deutlich werden und weil sie andererseits ohne vorher bereits vorhandenes Wissen nicht oder nur unzureichend benutzbar waren. Dies wird besonders deutlich, wenn es darum ging, Schmetterlinge zu fangen. Hier war besondere Vorsicht geboten, da diese mit ihren Flügeln gegen die Zangen schlugen und so die Pigmente ihrer Flügel zerstörten. Ohne die Pigmente aber gab es keine Farbgebung, und somit war es unmöglich, sie zu klassifizieren. Das Sammeln vor Ort war zudem vielfach großen Zufälligkeiten ausgesetzt, und auch die nicht reisenden Naturkundigen waren darauf angewiesen, dass ihnen von anderen Gelehrten möglichst viel Material zur Verfügung gestellt wurde. Dies geschah anhand der in der gelehrten Gemeinschaft üblichen Gabenökonomie.15 Der dänische Naturforscher Johann Christian Fabricius war der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt a. M. 2015. Für die ältere Literatur zu naturhistorischen Sammelpraktiken in der Frühen Neuzeit vgl. Allen, David Elliston  : The Naturalist in Britain. A Social History, Princeton NJ 1976, S. 32–33. 12 Vgl. dazu demnächst  : Hünniger, Dominik  : Nets, Boxes and Pins. materiality and practical natural history in European manuals of insect-collecting, c.1800, in  : MacGregor, Arthur (Hg.)  : Naturalists in the Field. Collecting, recording and preserving the natural world from the fifteenth to the twenty-first century, Leiden/Boston 2017 (im Erscheinen). 13 Velthusen  : Forsters Anweisung, S. 1558. Aus transfergeschichtlicher Perspektive ist interessant, dass der Übersetzer hier das Wort Jagd verwendet. Forster selbst schreibt von »excursions«, vgl. Forster  : catalogue, S. 38. 14 Vgl. Becker, Peter/Clark, William (Hg.)  : Little tools of knowlegde. Historical essays on academic and bureaucratic practices, Ann Arbor Mich 2001. Mit »little tools of knowledge« beschreiben Peter Becker und William Clark eigentlich ausschließlich schriftliche Formen der Wissensproduktion. Hier soll er auch auf andere Werkzeuge und Instrumente des Wissens übertragen werden. 15 Vgl. Müller-Wille, Staffan  : Nature as a Marketplace. The Political Economy of Linnaean Botany, in  : Schabas, Margaret/De Marchi, Neil (Hg.)  : Oeconomies in the Age of Newton, Durham NC 2003, S. 154–172.

Sammeln, Sezieren und Systematisieren 

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in dieser Hinsicht besonders erfolgreich. Hierin liegt auch eine Voraussetzung für den großen Erfolg seines Systems, dass ihn schließlich zum Begründer der wissenschaftlichen Entomologie machte.16 Fabricius besaß zwar auch eine eigene Sammlung, sie war aber nicht dadurch entstanden, dass er selbst sammelte – dies tat er nur in geringem Maße. Fabricius eigene Sammlung beruhte auf eben jener Gabenökonomie. In seiner Autobiographie beschrieb er diese duale Herkunft anlässlich seines Studienaufenthalts 1765 bei dem berühmten Ökonomen und Juristen Daniel Gottfried Schreber in Leipzig  : Übrigens hörte ich keine Vorlesung weiter, arbeitete aber mit Fleiß meine Entomologie weiter aus, sammelte die Gewächse und Insekten der umliegenden Gegend, erhielt auch wohl einige aus dem Walterschen Garten oder aus Schrebers Sammlung, so wie er mir seine Insekten alle schenkte.17

Søren Tuxen nimmt an, dass sich nur etwa ein Drittel der von Fabricius beschriebenen Spezies in seiner eigenen Sammlung befand. Ein weiteres Drittel befand sich in den Sammlungen seiner Schüler Ove Ramel Sehested and ­Niels Tønder Lund in Kopenhagen. Das restliche Drittel umfasste ausschließlich Spezies, die Fabricius in anderen europäischen Sammlungen, vor allem in London und Paris gesehen hatte.18 Dies verdeutlicht, was William Clark, Jan Golinski und Simon Schaffer meinen, wenn sie London und Paris als die materiellen Zentren der Aufklärung bezeichnen.19 Die reichen naturkundlichen Sammlungen der britischen und französischen Metropolen waren maßgebliche Institutionen der Produktion und Verbreitung von (naturkundlichem) Wissen und spielten eine zentrale Rolle im Prozess der Herausbildung der wissenschaftlichen Fachdisziplinen. Sie waren Zentren der Erfassung und Berechnung (»centres of calculation«20), in denen Informationen und Objekte 16 Vgl. Vane-Wright, Richard  I.: Johann Christian Fabricius. Classifier of Insect Diversity (1745– 1808), in  : Huxley, Robert (Hg.)  : The Great Naturalists, London 2007, S. 182–185. 17 Fabricius, Johann Christian  : Autobiographie des Naturforschers Etatsr. Fabricius, in  : Kieler Blätter, 1 (1819), S.  88–117, hier S.  94. Er erhielt ebenso Insekten von Johann von Böber in St. Petersburg, welches Fabricius im Jahr 1782 bereiste (Autobiographie, S. 106), und anderen befreundeten Naturforschenden. 18 Vgl. Tuxen, Søren L.: The Entomologist. J. C. Fabricius, in  : Annual Review of Entomology 12 (1967), S. 1–15, hier S. 9. 19 Clark, William/Golinski, Jan/Schaffer, Simon  : Introduction, in  : Clark, William u. a. (Hg.)  : The Sciences in Enlightened Europe, Chicago/London 1999, S. 3–31, hier S. 29. 20 Vgl. Miller, David Philip  : Joseph Banks, empire, and »centers of calculation« in late Hanoverian

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angehäuft und verglichen wurden, um Wissen über die (naturale) Welt zu generieren, nicht zuletzt auch um diese zu beherrschen. Sammlungen, die die direkte Begegnung mit Spezimen und Objekten ermöglichten, gehörten zu den wichtigsten Besonderheiten der Wissensgenerierung im 18. Jahrhundert. Speziell in der Zoologie und Botanik wurde die Anschauung aus eigener Erfahrung gegenüber Wissen aus zweiter Hand deutlich favorisiert. Dies wird auch in Fabricius’ Aussagen über die britischen Sammlungen eindrucksvoll verdeutlicht. Als er im Jahr 1782 London besuchte, betonte er in seinem Reisebericht, wie wichtig die Sammlungen für europäische Naturkundler und Taxonomen waren  : Diese Menge unbekannter und seltener Naturprodukte haben auch meine […] Reisen nach Engelland veranlasst. Sie waren nothwendig, […] um meiner Kenntniß in der Natur-Historie […] den gehörigen Umfang zu geben, da alle wahre Kenntniß der Natur auf die Kenntniß und Vergleichung der Arten beruht, und diese zugleich ein jedes System unterstützen müssen.21

Die Sammlungen wurden von Fabricius als der Ort der Begegnung von Forschendem und Objekt charakterisiert, der auch für die Disziplinenentwicklung von großer Bedeutung war. Er betont, dass besonders die Spezimen für systematische naturkundliche Forschungen wichtig seien. Dies verdeutlicht die besondere Bedeutung der Sammlungen. In dieser Hinsicht stimmten viele Naturkundige Kontinentaleuropas mit Fabricius überein und betrachteten Großbritannien und die Hauptstadt des britischen Kolonialreiches als die Kontaktzone für ihre Forschungen. Insbesondere deutschsprachige, skandinavische, holländische und französische Reisende und Naturforscher schätzten und nutzen das einfach zugängliche und reichhaltige Material, welches von britischen Naturkundlern und in britischen Diensten stehenden Reisenden

London, in  : Miller, David Philip/Reill, Peter Hanns (Hg.)  : Visions of Empire. Voyages, Botany and the Representations of Nature, Cambridge 1996, S. 21–37. 21 Fabricius, Johann Christian  : Briefe aus London vermischten Inhalts, Dessau/Leipzig 1784, S. 1. Fabricius benutzte diese Formulierung auch in seinen Bittschriften um die Genehmigung von Reisen an die Deutsche Kanzlei in Kopenhagen. Brief vom 16.  Januar 1777  : »England ist itzo das Land, welches die größten Entdeckungen in diesen Wissenschaften macht.« (Landesarchiv Schleswig, Abt. 65.2, Nr. 561 II.) Vgl. auch Armitage, Angus  : A Naturalist’s Vacation. The London Letters of J. C. Fabricius, in  : Annals of Science 14 (1958), S. 116–131. Einen Überblick über die Stationen von Fabricius’ Reisen gibt  : Tuxen  : Entomologist Fabricius, S. 2 f.

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zuhause, aber vor allem in Übersee gesammelt wurde.22 Hilfreich war vor allem, dass die britischen Sammler selbst die ausländischen Naturforscher mit offenen Armen empfingen und die sonst üblichen Empfehlungsschreiben nicht notwendig waren, wie der französische Entomologe Guillaume Antoine Olivier im Vorwort zu seinem insektenkundlichen Handbuch schrieb.23 John Gascoigne hat Joseph Banks Wohnhaus als »home-cum-research-institute at Soho Square«24 bezeichnet, und es war genau dies  : ein privat finanziertes Institut mit eigenen Angestellten und Gastwissenschaftlern. Die Gäste profitierten aber nicht nur von den Einrichtungen wie der Bibliothek und den Sammlungen, sondern stellten ihrerseits Expertise und Kontakte zur Verfügung. Gleichzeitig ist seit etwa 1770 eine zunehmende Spezialisierung bezüglich der drei Naturreiche zu beobachten und die meisten Naturkundler widmeten sich sehr spezifischen Systematiken bestimmter Arten und Naturaliengruppen. Dies wird auch in der Arbeit in den Naturalienkabinetten deutlich. Fabricius erkannte dies und lobte in dieser Hinsicht besonders den schottischen Mediziner und Sammler William Hunter und dessen Haus in der Windmill Street in London  : Unter allen mir bekannten Privat-Naturaliencabinetten ist keins welches weder an innerlichem Werthe, noch an äusserlicher Schönheit dem Hunterschen gleich kömmt. Es ist in aller Absicht vorzüglich, und es werden vielleicht selbst wenige fürstliche Cabinetter seyn, welche den Vorzug verdienen. […] Er hat zugleich Klugheit genug, einzusehen, daß Niemand alle die verschiedenen Fächer zu übersehen im Stande, und er hat deswegen zu iedem Fache sich einen besondern und geschickten Mann erwählt, der ihm dieses Fach in Ordnung bringt, in Ordnung erhält, und 22 Vgl. Biskup, Thomas  : Transnational Careers in the Service of Empire. German Natural Historians in Eighteenth-Century London, in  : Holenstein, André u. a. (Hg.)  : Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century, Leiden/Boston 2013, S. 45–69  ; Collet, Dominik  : Creative Misunderstandings: Circulating Objects and the Transfer of Knowledge within the Personal Union of Hanover and Great Britain, in  : German Historical Institute London Bulletin 36,2 (2014), S. 3–23. 23 Olivier, Guillaume Antoine  : Entomologie, Ou Histoire Naturelle Des Insectes, Avec leurs caractères génériques et spécifiques, leur description, leur synonymie, et leur figure enluminée, Paris 1789, S. I  : »Qu’il me soit permis de témoigner ma reconnaissance aux Savans de Londres, qui ont bien voulu m’ouvrir leurs cabinets et leurs bibliothèques, aux Savans qui accueillent, avec bonté, les naturalistes étrangers qui se présentent chez eux, sans autre recommandation que leur zèle, sans autre titre que leur assiduité.« 24 Gascoigne, John  : Joseph Banks and the English Enlightenment. Useful Knowledge and Polite Culture, Cambridge 2003, S. 70.

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dem er sich darin gänzlich anvertraut. Wenn ich in London bin, habe ich auch einen Theil nämlich die Insecten, die Zoophyten und andere des Tierreichs. Es verschaft mir dieses die herrlichste Gelegenheit das Cabinet zu nuzen, und mich ganze Tage nach eigenem Gefallen darinnen aufzuhalten.25

Diese spezialisierte Arbeit in den Kabinetten und ihre Bedeutung für die entstehenden Systematiken und Taxonomien wird Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.

Sezieren und Systematisieren bei Johann Christian Fabricius

Die geringe Größe der Insekten und die damit einhergehenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung gehörten zu den meistdiskutierten Aspekten in entomologischen Schriften des späten 18. Jahrhunderts. Gerade die Jahre um 1800 waren von Diskussionen darum geprägt, wie Insekten und insbesondere spezifische Körperteile zur Systematisierung genutzt werden sollten bzw. konnten.26 Dieser Aspekt wiederum beeinflusste den tatsächlichen Platz, den die individuellen Spezimen in den Kabinetten zugewiesen bekamen und wie diese von den Sammler*innen und Naturkundler*innen behandelt wurden. Die geringe Größe der Untersuchungsobjekte erforderte, dass die Beobachtenden eine ganze Reihe von Instrumenten benutzten sowie Technologien anwendeten, um zu ordnen und zu klassifizieren. Eine der wichtigsten Versuche, ein allumfassendes System für die Entomologie zu etablieren, wurde durch Fabricius unternommen.27 In seinem Lehrbuch Philosophia Entomologica erläuterte er die Notwendigkeit von Systemen  : »Numerus specierum in entomologia fere infinitus et nisi in ordinem redigantur, chaos semper erit entomologia.«28 Gerade die riesige Anzahl von Arten 25 Fabricius  : Briefe, S. 84 f. 26 Für Insektenforschung vor Linné vgl. Ogilvie, Brian  : The pleasure of describing. Art and science in August Johann Rösel von Rosenhof ’s Monthly Insect Entertainment, in  : Thorsen, Liv Emma u. a. (Hg.)  : Animals on display. The creaturely in museums, zoos, and natural history, University Park 2013, S. 77–100. 27 Das Folgende basiert auf  : Hancock, E. Geoffrey  : The shaping role of Johann Christian Fabricius. William Hunter’s insect collection and entomology in 18th-century London, in  : Hancock, E. Geoffrey u. a. (Hg.)  : William Hunter’s World. The Art and Science of Eighteenth-Century Collecting, S. 151–163. Farnham und Burlington, VT 2015 und Tuxen, Entomologist Fabricius, S. 1–15. 28 Fabricius, Johann Christian  : Philosophia Entomologica Sistens Scientiae Fundamenta Adiectis Definitionibus, Exemplis, Observationibus, Adumbrationibus, Flensburg/Leipzig 1778, S. 79.

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machte eine Klassifikation absolut notwendig, um Chaos zu vermeiden. Fabri­ cius hatte allein 10.00029 Arten beschrieben  ; im Jahr 2011 wurden 1.023.430 beschriebene Arten gezählt.30 Ausgehend von einem Körperteil klassifizierte Fabricius die Insekten. Wie sein akademischer Lehrer Linné teilte auch er die Natur in Arten und Klassen ein. Fabricius benutzte im Deutschen »Geschlechter«, im Lateinischen »Genera« und im Dänischen »Slægter«. In einer Sache jedoch wich er von seinem Lehrer ab  : Anstelle der Flügelnervatur, die für Linné und viele andere ältere Naturforscher das Unterscheidungsmerkmal waren, benutzte Fabricius die Mundteile bzw., wie er sie nannte, »Freßwerkzeuge.«31 Seine Art der Systematisierung erläuterte Fabricius in einem Artikel, der zunächst auf Dänisch und dann auch auf Deutsch in der Zeitschrift der Kopenhagener naturforschenden Gesellschaft im Jahre 1790 bzw. 1793 erschien. In seinem Artikel machte er bereits im ersten Satz deutlich, weshalb eine systematische Naturkunde wichtig war und welche Aufgaben er Naturkundlern zuschrieb  : »Die Stärke und innere Güte eines jeden Systems in der Naturhistorie besteht in der Festigkeit und Gewißheit der darin angeführten Geschlechter, wodurch es möglich wird die Arten deutlich und sicher zu bestimmen und zu benennen.«32 Fabricius betonte weiterhin, dass es unbedingt notwendig war, nur diejenigen »characteres generum naturales« in der Taxonomie zu verwenden, die tatsächlich als Unterscheidungsmerkmale für alle Gattungen der jeweiligen Art gelten konnten. Hier folgte er wiederum Linné im Grundsatz, aber nicht in der Sache. Für Fabricius waren die Mundwerkzeuge die »natürlichsten« Spezifika, um Insektengeschlechter unterscheiden zu können. Die Erklärung dafür scheint seinem Lehrfach neben der Naturgeschichte, nämlich den ökonomischen Wissenschaften, geschuldet  : Die Form der Mundwerkzeuge sei es eigentlich, die die Art Søren L. Tuxen nannte Philosophia Entomologia, das erste entomologische Lehrbuch der Welt. Vgl. Tuxen  : Entomologist Fabricius, S. 6. 29 Vgl. Tuxen  : Entomology Systematizes, S. 109. Staffan Müller-Wille sieht ebenfalls die große Anzahl an Spezimen, die in der Frühen Neuzeit, aufgrund kolonialer Expansion, in Europa ankamen, als Motivation für Linnés systematisierende Innovationen. Vgl. Müller-Wille, Staffan  : Collection and collation  : theory and practice of Linnaean botany, in  : Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 38 (2007), S. 541–562, hier S. 542. 30 Vgl. International Institute for Species Exploration, Report 2011  : http://www.esf.edu/species/ documents/sos2011.pdf, letzter Zugriff  : 18.06.2016. 31 Dieses Idee war jedoch auch von Linné inspiriert, der in der zweiten Auflage seiner Systema Naturae bereits im Jahr 1740 darauf hinwies, vgl. Tuxen  : Entomology Systematizes, S. 109. 32 Fabricius, Johann Christian  : Nova insectorum genera, in  : Schriften der naturforschenden Gesellschaft zu Kopenhagen 1 (1793), S. 191–204, hier S. 191.

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und Weise vorgab, wie sich die Insekten ernährten. Dieses wiederum würden »die ganze Lebensart und Oeconomie«33 dieser Tiere beeinflussen. Für Fabricius war somit klar, dass Spezies, die dieselbe Ernährungs- und Lebensweise teilten, notwendigerweise derselben Gattung angehören mussten. Trotz dieser selbstbewussten Behauptung schien sich Fabricius darüber bewusst zu sein, dass diese Form der Klassifizierung auch Schwierigkeiten hervorrief  : Die Mundwerkzeuge seien, ohne sich eines Vergrößerungsinstruments zu bedienen, klein und schwer zu erkennen. Allerdings, so Fabricius weiter, gelte dies auch und sogar noch stärker für die Blütenteile in Pflanzen, also für das Unterscheidungsmerkmal, dessen sich Linné bedient hatte. Für Fabricius war klar, dass Erfahrung das einzige Hilfsmittel hierbei war, und er zeigte sich zuversichtlich, dass mit Übung und Geduld jeder in der Lage sei, dieses System anzuwenden. Dies war tatsächlich der Tenor vieler Zeitgenossen  : Fabricius’ Systematik wurde als schwer umzusetzen bemängelt, seine Leistung jedoch – immerhin bestimmte er etwa 10.000 Insektenarten – wurde vielfach gelobt und anerkannt.34 Die Konzentration auf ein spezifisches Körperteil der Insekten für seine Systematik bedeutete für Fabricius, dass er mit seinem Referenzsystem reisen musste, und zwar im Wortsinn. Für die praktische Arbeit in den verschiedenen Kabinetten musste er Beispiele der verschiedenen Gattungen mit sich führen, um »Vergleichungen anzustellen.«35 Um also jeder Art ihren Platz in seinem System zuweisen zu können, war Fabricius darauf angewiesen, die Tiere selbst zu sezieren und einzelne Insektenkörperteile mit sich zu führen. Wie auch die Basis des Systems selbst, gehörten auch die Praktiken  – insbesondere das Zergliedern  – zu den meist diskutierten Inhalten entomologischer Forschung um 1800. In einem der frühesten, ausschließlich der Insektenkunde gewidmeten gelehrten Journal, debattierten dessen Herausgeber, Johann Karl Wilhelm Illiger, und Fabricius über die Systematik allgemein und den Status der spezifischen Körperteile, als Markierungen der Differenz, im Besonderen.

33 Ebd., S. 192. 34 Nickol, Martin G.: Johann Christan Fabricius (1745–1808) – ein außergewöhnlicher Naturforscher, in  : Christiana Albertina 68 (2009), S. 44–54. 35 Fabricius, Johann Christian  : Nova insectorum genera, in  : Schriften der naturforschenden Gesellschaft zu Kopenhagen 1 (1793), S.191–204, hier S. 193.

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Die Debatte zwischen Fabricius und Illiger

Illiger eröffnete die Debatte mit einer Kritik des Fabrici’schen Systems. Er machte sich große Sorgen, dass die Anwendung dieses Systems den Sammlungen Schaden zufügen würde. Diejenigen Sammler*innen und Entomologen, die Fabricius’ Art und Weise der Klassifizierung anwendeten, mussten die Zerstörung von Spezimina in Kauf nehmen. Illiger zweifelte deshalb an, dass sich viele darauf einlassen würden, da ja derjenige, der es tat, »oft ein ihm theures Insekt aufopfern«36 müsse. Dieser Prozess müsse zudem mehrfach wiederholt werden, und dies führe zwangsläufig zur Zerstörung einer ganzen Anzahl von Insekten. Zudem zweifelte er auch an der grundsätzlichen Akkuratesse des Systems. Seine Argumentation war ganz der zeitgenössischen Entwicklung in der Naturgeschichte geschuldet, denn Erfahrung und Experimente sowie insbesondere deren Wiederholbarkeit wurden mehr und mehr zum Nonplusultra naturkundlichen Arbeitens. Die Exaktheit eines Systems musste ständig getestet und wiederholt praktiziert werden.37 Wie bei Fabricius selbst stand der Erfahrungsbegriff im Zentrum dieser Überlegungen. Illiger war sich sicher, dass nur die erfahrensten Praktiker dieses System anwenden könnten. Diesem hätte Fabricius, wie in seiner bereits erwähnten Schrift deutlich wird, sicher zugestimmt. Für ihn war das aber kein Problem, sondern nahezu eine Tugend des Systems, wie noch gezeigt werden wird. Im Ganzen oszilliert Illigers Artikel zwischen einer fast verehrenden Huldigung des älteren und bekannteren Fabricius sowie dem Versuch, ein eigenes System zu etablieren. Fabricius bleibt Autorität, nicht zuletzt aufgrund seiner Benennungsquote. Die Sammlungen blieben die Referenzorte, denn Illiger lobte besonders, dass Fabricius so eine große Anzahl an Sammlungen selbst gesichtet und teilweise auch kuratiert hatte. Der letzte Absatz von Illigers Aufsatz offenbart ein mögliches Motiv, welches hinter dieser spezifischen Mischung an Kritik und Lob verborgen sein könnte. Illiger verdeutlichte, dass die ideale Voraussetzung für eine voll entwickelte entomologische Systematik, eine möglichst vollzählige und umfassende Sammlung sei, in der alle Arten repräsentiert sind. Nahezu erreicht hätten dies die Sammlungen seiner beiden Braunschweiger Gönner Johann Christian Ludwig Hellwig und Johann Centurius von Hoffmannsegg. Damit wandte er sich an alle Insektensammler*innen, doch möglichst an einem weiteren Ausbau 36 Ebd., S. 269. 37 Vgl. Holenstein u. a.: Scholars in Action.

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dieser Sammlungen mitzuwirken  : »Ich würde alle Freunde der Insektenkunde auffordern ein so nützliches, und für die Wissenschaft unentbehrliches Unternehmen nach Ihren Kräften zu unterstützen.«38 Illiger versuchte also, die ihm besonders zugängliche Sammlung zu der Referenzsammlung auszubauen und somit wahrscheinlich auch den eigenen Ruhm und die Karriere zu befördern. Selbstverständlich verteidigte Fabricius sein System und bekam dazu im zweiten Band von Illigers Journal die Gelegenheit. Wie auch in seinen früheren Werken betonte er den hohen epistemischen Status, den die Mundteile als Markierungen der Ernährungs- und Lebensweise der verschiedenen Gattungen für ihn hatten. In seiner Replik auf Illiger ging er besonders auf zwei Punkte von dessen Kritik ein. Der erste war die vermeintliche Schwierigkeit der Beobachtung und Systematisierung, und der zweite handelte von der Sektion und Zerstörung. Um Illigers Behauptung zu entkräften, dass nur wenige Entomologen Fabricius’ System anwenden könnten, erwiderte dieser, dass er eine große Anzahl an Sammlungen besucht hatte, wo sein System doch eingesetzt werde. Er versicherte sogar, dass in einigen dieser Sammlungen »die Fresswerkzeuge herausgenommen und auf Papier geklebt, den Gattungen vorgestekkt sind«39. Er selbst brauche außerdem nur ein Vergrößerungsglas, um die von ihm ausgewählten Merkmale zu unterscheiden. Schließlich bemühte Fabricius ein sicher äußerst schlagkräftiges Argument, indem er in geschlechtergeschichtlich interessanter Weise behauptet  : »Selbst manche Frauenzimmer haben es in diesen Untersuchungen und Zubereitungen sehr weit gebracht.« Wenn Fabricius das in der zeitgenössischen Wahrnehmung als weniger gelehrt geltende weibliche Geschlecht für fähig erklärte, sein System anzuwenden, diskreditiert er damit diejenigen, die behaupten, die Fabrici’sche Praktik sei schwer anzuwenden. Die Versicherung, dass er Sammlungen gesehen habe, die die Sektionen tatsächlich auch physisch ausstellten, betonte zudem noch einmal die große Bedeutung, welche Fabricius den Kabinetten zumaß. Hier stimmte er völlig mit Illiger überein. 38 Illiger, Johann Karl Wilhelm  : Ueber das Fabricische System und über die Bedürfnisse des jetzigen Zustandes der Insektenkunde, in  : Magazin für Insektenkunde 3 (1801), S. 261–284, hier S. 284. Vgl. zu Illiger und zur Debatte, die leider stark teleologisch argumentierenden Aufsätze von Heidi Muggelberg  : Leben und Wirken Johann Karl Wilhelm Illigers (1775–1813) als Entomologe, Wirbeltierforscher und Gründer des zoologischen Museums der Humboldt-Universität zu Berlin, in  : Mitteilungen des Zoologischen Museums zu Berlin, 51 und 52 (1975 und 1976), S. 257–303, 137–174 und 331–355. 39 Fabricius, Johann Christian  : Vertheidigung des Fabricischen Systems, in  : Magazin für Insektenkunde 2 (1803), S. 1–13, hier S. 6. Dort auch das folgende Zitat.

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Fabricius adressierte schließlich auch das Problem, dass Insekten zerstört werden könnten, wenn man sein System anwende. Dabei musste er zugeben, dass Verluste notwendig seien. Dies sei aber kein Problem des Systems, sondern eines des Umfangs der Sammlungen  : Die wichtigen Sammlungen würden so viele Spezimen besitzen, dass es kein Problem wäre, wenn mehrfach vorhandene Exemplare teilweise zerstört werden müssten. Fabricius entkräftete Illigers Einwände also erneut mit dessen eigener Argumentationslinie. Schließlich benutzte Fabricius noch ein weiteres Argument der Unterscheidung zwischen zwei Gruppen von Praktikern der Insektenkunde, welches das oben erwähnte, geschlechtlich markierte ergänzte. Die am Ende seiner Abhandlung vorgebrachte Distinktion ist deswegen besonders interessant, weil sie eine Entwicklung berührt, die in den Debatten um 1800 ihren Anfang nahm  : die Trennung von einer nicht-akademischen und universitären Naturkunde sowie die Entwicklung der Fachdisziplinen aus einer umfassend gedachten frühneuzeitlichen Naturgeschichte. Fabricius denunzierte nämlich diejenigen, »welche die Insektenlehre nicht als Wissenschaft, sondern als Liebhaberei betreiben«40. Seiner Meinung nach waren es eben die Laien, die sich nicht ausreichend bemühten und vor intensiven und kleinteiligen Studien zurückschreckten. Sie würden dem Vorurteil aufsitzen, dass es unmöglich sei, Mundteile zu beobachten und zu unterscheiden. Fabricius dagegen behauptete, dass es nur etwas Übung und Geduld brauche, um sein System anzuwenden. Insgesamt lässt die Diskussion zwischen Illiger und Fabricius erkennen, dass die Sammlungen offensichtlich jene Arena darstellten, die im Prozess der Ausdifferenzierung der Wissenschaften, Laien von Gelehrten und Männern von Frauen stärker trennte.

Schlussbemerkung

Am Beispiel der Entomologie um 1800 wurde der Versuch unternommen, zu verstehen, wie Spezimen, Instrumente und die Mobilität von Menschen und anderen Tieren, die Entstehung einer Fachdisziplin prägten. Die wichtigsten Verfahrensweisen in diesem Prozess waren das Sammeln und der Besuch von Sammlungen. Die Arbeit der systematischen Naturkundigen begann aber erst dann  : Um ihre Taxonomien zu erstellen, mussten die Naturkundler*innen die gesammelten Insekten einer genauen Untersuchung unterziehen, die oft zur 40 Ebd. S. 11.

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Zerstörung derselben führten. Eine möglichst große Anzahl an Spezimen, der gute Kontakt zu anderen Sammler*innen und die Erfahrung bei der Anwendung dieser Methoden entschieden notwendigerweise auch über den Erfolg bestimmter Systeme und die Anerkennung in der gelehrten Gemeinschaft. In der Begegnung von Sammler*innen und Systematiker*innen sowie mit den Studienobjekten wurden neue Formen des Wissens generiert, welche allerdings auch einen Preis forderten und dies in mehrfacher Hinsicht. Forschungsreisen und die vielfältige Arbeit in den Sammlungen erforderten den großzügigen Einsatz von ökonomischem wie sozialem Kapital. Die Insekten als Objekte der Untersuchung waren in diesem Prozess verschiedenen Stadien der Zurichtung unterlegen. Zunächst wurden sie durch Sammler*innen aus ihrem Habitat entfernt, dann wurden sie in den Sammlungen in Kästen gelegt und darin festgepinnt. Schließlich sezierten die Naturkundler die Insekten und nutzten nur einen Teil ihrer Körper zu weiteren Studien und zur Klassifikation. Auf diese Weise wurden entomologische Taxonomien generiert, die auf die konstante Zufuhr an Spezimen, die um den Globus reisten, angewiesen waren. Entomologie als Wissenschaft entstand so in einem vielschichtigen Prozess mit einer stattlichen Anzahl an Akteur*innen, die um Anerkennung und Prestige kämpften. Die Debatten selbst kreisten vor allem um die Studienobjekte und ihre Körper. Sie bestimmten gleichermaßen die Taxonomien wie die wissenschaftliche Reputation ihrer Akteure. Sammeln, Sezieren und Systematisieren waren die wichtigsten Verfahrensweisen in diesem Prozess.

Simona Boscani Leoni

Züricher Naturaliensammlungen Orte, Akteure und Objekte

Die Bedeutung von neuen ›Orten des Wissens‹ während des 17. Jahrhunderts wird seit einiger Zeit von Historiker*innen erkannt, weil sie eine zentrale Rolle beim Experimentieren mit neuen Praktiken der Wissensproduktion und -zirkulation spielten.1 Orte des Wissens (insbesondere Akademien, Sozietäten sowie auch andere Gesellschaften) boten im Unterschied zu den in vier Fakultäten organisierten Lehrplänen der Universitäten eine offenere und ›horizontale‹ Plattform für einen wissenschaftlichen Austausch im Bereich der empirischen (Natur-)Forschung.2 In meinem Beitrag möchte ich die Entwicklung solcher 1 Unter ›Orten des Wissens‹ verstehe ich unterschiedliche Orte, die sich nach der Renaissance entwickelten und die die Zirkulation des (nicht nur naturwissenschaftlichen) Wissens sowie die Herausbildung neuer Praktiken erlaubten  : Hier ist beispielsweise an Bibliotheken, Sammlungen/ Museen, botanische Gärten und auch Akademien und Sozietäten zu denken. Vgl.: Sigrist, René u. a. (Hg.)  : Les lieux des sciences dans l’Europe moderne, in  : Ghervas, Stella/Rosset, François (Hg.)  : Lieux d’Europe. Mythes et limites, Paris 2008, S.  45–64. Über die Bewegung von Akademien und Sozietäten  : McClellan III, James E.: Science Reorganized. Scientific Societies in the Eighteenth Century, New York 1983  ; Ders.: Scientific Institutions and the Organization of Science, in  : Porter, Roy (Hg.)  : Eighteenth-Century Science, Cambridge, 2003, S. 87–106 (The Cambridge History of Science, Bd.  4)  ; Döring, Detlef  : Universitäten und gelehrte Sozietäten im 17. Jahrhundert, in  : Toellner, Richard u. a. (Hg.)  : Die Gründung der Leopoldina – Academia Naturae Curiosorum – im historischen Kontext (Leopoldina-Symposion vom 29. September bis 1. Oktober 2005 in Schweinfurt), Stuttgart 2008, S. 43–61  ; Zaunstöck, Holger/Meumann, Markus (Hg.)  : Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003  ; Stapelbroek, Koen/Marjanen, Jani (Hg.)  : The rise of economic societies in the eighteenth century patriotic reform in Europe and North America, Basingstoke 2012. 2 Man muss diese Institutionen den Universitäten gegenüber eher als komplementär denn als gegesätzlich ansehen  : Siehe die Bemerkungen von Detlef Döring  : Universitäten und gelehrte Sozietäten im 17. Jahrhundert, in  : Toellner, Richard u. a. (Hg.)  : Die Gründung der Leopoldina, S. 43–61. Für Zürich hat in letzter Zeit Hanspeter Marti bewiesen, dass einige Professoren des Collegium Carolinum, der höchsten Schule der Stadt, teilweise offen waren für empirische, baconsche wie auch cartesianische Ansätze  : Marti, Hanspeter  : Aristoteles und Descartes. Ortho-

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Orte in Zürich näher betrachten. Ich möchte darlegen, wie sie in einer Form der Komplementarität und der Überlappung mit den alten städtischen Orten des Wissens (etwa dem alten Collegium Carolinum) entstanden sind und wie sie als alternative Orte des diskursiven Wissensaustausches verstanden werden müssen, da sie eine Alternative der bürgerlichen Eliten zur kirchlichen Kon­ trolle des kulturellen Lebens darstellten.3 Die Entwicklung dieser Orte und der Sammlungen, die dort beherbergt wurden, wurde durch die Zusammenarbeit verschiedener Akteure bzw. das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren möglich. Die Netzwerke, die die Erweiterung dieser bürgerlichen Institutionen schafften, konnten sehr verschieden sein  : Teilweise handelte es sich um persönliche, meistens gelehrte Netzwerke einiger Akteure (wie beispielsweise Johan Jakob Scheuchzer oder Johannes Gessner), die als Naturforscher bei der Zusammenstellung der Sammlungen eine aktive Rolle spielten  ; teilweise war die außereuropäische Herkunft der Sammlungsobjekte der Beweis der expandierenden, globalen Handelsverbindungen vieler Gönner, die – oft aus Prestigegründen – verschiedenen Institutionen solche Objekte schenkten. Die Limmatstadt ist deswegen interessant, weil sie nicht nur eine optimale Quellenlage bietet, sondern auch weil dort relativ früh Institutionen gegründet doxie und Vorurteilskritik am Beispiel des Physiklehrbuchs des Zürcher Professors Johann Heinrich Schweizer, 1646–1705, in  : Ders./Marti-Weissenbach, Karin (Hg.)  : Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Zürcher Hohe Schule im 17. und 18. Jahrhundert, Wien 2012, S. 147–163  ; Ders.: Die Zürcher Hohe Schule im Spiegel von Lehrplänen und Unterrichtspensen (1650–1740), in  : Zürcher Taschenbuch, auf das Jahr 2008, Neue Folge  128 (2008), S.  395–409  ; Ders.: Die Zürcher Hohe Schule, in  : Schweizer Monatshefte  : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, 87, 2007, Heft 3–4, S. 57–59. Zur Geschichte der Universitäten  : Rüegg, Walter (Hg.)  : Geschichte der Universität in Europa, München 1993–2010, 4 Bde., insbesondere Bd. 4  : Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996  ; Ridder-Symoens, Hilde de (Hg.)  : Universities in early modern Europe (1550–1800), Cambridge 22003 (History of the University in Europe, Bd.  2). Zum Collegium Carolinum in Zürich, siehe auch  : Nabholz, Hans  : Zürichs höhere Schulen von der Reformation bis zur Gründung der Universität, 1525–1833, [Affoltern a. A.]  : [s. n.], 1938 (Separatdruck aus dem dritten Band der Festschrift zur Jahrhunderfeier der Zürcherischen Schulen). 3 Ich beziehe mich hier auf die ersten Ergebnisse des von mir geleiteten Forschungsprojekts Kulturen der Naturforschung. Akteure, Netzwerke, Orte der wissenschaftlichen Kommunikation in der Frühen Neuzeit (17. Jahrhundert bis 1830 ca.). Das Projekt läuft bis Herbst 2017 und wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Über die Entwicklung der Cartesianischen Philosophie und des Empirismus in Zürich  : Rother, Wolfgang  : The Teaching of Philosophy at Seventeenth-Century Zurich, in  : History of Universities, 11, 1992, S. 59–74. Rother sieht als ersten Verfechter der experimentellen Philosophie in Zürich Johannes von Muralt (1645–1733), Stadtarzt und Professor für Physik und Mathematik am Carolinum.

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wurden, die gute Rahmenbedingungen zur Erforschung der Naturgeschichte boten. Sie kann als Beispiel der zunehmenden Empirisierung der Verfahrensweisen der Naturgeschichte, ihrer Internationalisierung und gleichzeitig auch als Beispiel einer sich entwickelnden »bürgerlichen Wissenschaft« gelten.4 Die Bürgerbibliothek und die Kunstkammer (beide 1629 gegründet), die Collegia der Insulaner (1679–1681), der Vertraulichen (1686–1690) und der Wohlgesinnten (1693–1709) zählten zu den ältesten Institutionen ihrer Art in der Alten Eidgenossenschaft.5 Die drei Collegia waren nicht nur die ersten Sozietäten der Schweiz, die von der europäischen Akademiebewegung inspiriert waren, sondern auch die ersten frühaufklärerischen Gesellschaften im ganzen deutschsprachigen Raum, in denen die Mitglieder naturphilosophische und naturgeschichtliche, aber auch politische und religiöse Themen diskutierten. Im 17. Jahrhundert (1686) wurde zusätzlich ein Collegium anatomicum eingerichtet, das der praktischen Ausbildung der Chirurgen und Ärzte diente. 1746 begann die Naturforschende oder Physikalische Gesellschaft ihre Tätigkeit. Sie bot dem gebildeten Bürgertum einerseits ein Austauschforum für naturkundliche Themen, sie lässt sich andererseits aber auch in die gesamteuropäische Bewegung der sogenannten Ökonomischen Gesellschaften einbetten  : 1759 richtete sie eine ›ökonomische Kommission‹ ein, die sich aktiv für die Verbreitung und Umsetzung nützlichen Wissens zur Verbesserung der Landwirtschaft engagierte.6 Während des 18. Jahrhunderts wurden noch weitere Institutionen 4 Viele Quellen über die Geschichte der Kunstkammer, der Burgerbibliothek und der anderen Sozietäten und Gesellschaften werden in der Zentralbibliothek und im Staatsarchiv des Kantons Zürich aufbewahrt. Zur Geschichte der Bibliothek und der Kunstkammer  : Rütsche, Claudia  : Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche. Öffentliche Sammeltätigkeit einer gelehrten Bürgerschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Bern 1997  ; Barraud Wiener, Christine/Jezler, Peter  : Die Kunstkammer der Burgerbibliothek in der Wasserkirche in Zürich. Eine Fallstudie zur gelehrten Gesellschaft als Sammlerin, in  : Grote, Andreas (Hg.)  : Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns, 1450 bis 1800, Opladen 1984, S.  763–798  ; Vögelin, Friedrich Salomon  : Die ehemelige Kunstkammer auf der Stadtbibliothek zu Zürich, Neujahrsblätter der Stadtbibliothek 1872–183. Über das Collegium Carolinum  : Nabholz, Hans  : Zürichs Höhere Schulen von der Reformation bis zur Gründung der Universität, 1525–1833, in  : Gagliardi, Ernst u. a. (Hg.)  : Die Universität Zürich 1833–1933 und ihre Vorläufer (Die Zürcherischen Schulen seit der Regeneration. Festschrift zur Jahrhunderfeier, Bd. 3), Zürich 1938, S. 3–164. Über die Collegia  : Kempe, Michael/Maissen, Thomas  : Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich, 1679–1709, Zürich 2002. 5 Hinweise und Literatur über diese Gesellschaften befinden sich in  : Erne, Emil  : Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz, Zürich 1988. 6 Die Physikalische Gesellschaft betreute den botanischen Garten, hatte eine Bibliothek und orga-

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gegründet, die sich schwerpunktmäßig der Naturforschung, Mathematik und Physik widmeten  ; darunter z. B. die Mathematisch-Militärische Gesellschaft (1765), die zur Ausbildung der Zürcher Miliz und der Offiziere diente und ihren Fokus im Bereich der angewandten Mathematik hatte, die Kosmographische Gesellschaft (die naturgeschichtliche und topographische Ziele verfolgte) und das Medizinisch-Chirurgische Institut (1782), das Teil einer umfassenderen Erneuerung der Strukturen des städtischen Bildungswesen war.7 Alle diese Orte, die ich als ›Orte des diskursiv-empirisch-naturgeschichtlichen Wissens‹ bezeichnen möchte, entwickelten sich als zueinander komplementäre Orte der Wissensproduktion und des Wissensaustausches, teilweise auch der Weiterbildung. Diese Wissensorte sollten eine Ergänzung und Erweiterung der Lehre darstellen, die am Collegium Carolinum, der wichtigsten Hochschule der Stadt, vermittelt wurde. Das Carolinum war eine theologische Schule, die der Ausbildung von Pfarrern der evangelischen Kirche nach der Reformation diente. Obwohl diese Institution mit Conrad Gesner (1516–1565), der seit 1541 (als erster) Physik unterrichtete, einen der berühmtesten und wichtigsten Naturforscher und Gelehrten Europas als Lehrer besaß, spielte dort die Ausbildung im Bereich der Naturphilosophie und der Naturgeschichte eine untergeordnete Rolle im Verhältnis zu jener in klassischen Sprachen und in der Theologie.8 Man darf nicht vergessen, dass in der Stadt Zürich nisierte verschiedene Sammlungen. Über sie  : Rübel, Eduard  : Geschichte der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, 1746–1946, Zürich 1946  ; Graber, Rolf  : Bürgerliche Öffentlichkeit und spätabsolutistischer Staat. Sozietätenbewegung und Konfliktkonjunktur in Zürich 1746–1780, Zürich 1993  ; Hansen, James Roger  : Scientific Fellowship in a Swiss comunity enlightenment. A history of Zurich’s Physical Society, 1746–1798, Ann Arbor, Mich. 1984  ; Zurbuchen, Simone  : Die Ökonomische Kommission der Naturforschenden Gesellschaft Zürich und Johann Caspar Hirzels »Kleinjogg«, in  : Lütteken, Anett/Mahlmann-Bauer, Barbara (Hg.)  : Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, Göttingen 2009, S. 574–597. 7 Diese Gesellschaften sind bis dato wenig untersucht worden. Hinweise über deren Geschichte finden sich in  : Erni  : Sozietäten, S. 71–149. Über die Reform des Carolinum im Jahre 1768–1775, Nabholz  : Zürichs, S. 81–94. 8 Gesners Sammlung gilt als eine der ersten Privatmuseen Europas, das als Vorgänger der zukünftigen Kunstkammer gesehen werden darf. Vgl. Leu, Urs B.: Conrad Gessner (1516–1565), Universalgelehrter und Naturforscher der Renaissance, Zürich 2016  ; Fischer, Hans  : Conrad Gessner, 1516–1565, Universalgelehrter, Naturforscher, Arzt, Zürich 1967, S. 231. Auch der Humanist und Historiker Josias Simler (1530–1576) erzählt in seiner Vita Gesneri von den vielen Sehenswürdigkeiten (Tieren, Pflanzen, Mineralien und Fossilien), die in Gessners Haus zu finden waren. Simler, Josias  : Vita clarissimi philosophi et medici excellentissimi Conradi Gesneri tigurini, Tiguri, 1566, S.  17r–17v. Auch noch im 18.  Jahrhundert war Gesners Sammlung berühmt  : Dezallier d’Argenville, Antoine Joseph  : L’histoire naturelle éclaircie dans deux de ses

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die kopernikanische Lehre bis zum frühen 18. Jahrhundert verboten blieb und die kirchliche Zensur sehr aktiv war.9

Kunstkammer und Bürgerbibliothek

Die Entwicklung der öffentlichen Bürgerbibliothek und der Kunstkammer muss im Kontext der europaweiten Gründungen von verschiedenen Institutionen dieser Art gesehen werden, die seit der Renaissance stattfanden. Im 17. Jahrhundert zählten zu den größten öffentlichen Bibliotheken die Bodleiana in Oxford (1602), die Ambrosiana in Mailand (1609), die Angelica in Rom (1620) sowie die Bibliothèque Mazarine in Paris (1643).10 Auch in der Alten Eidgenossenschaft wurden die ersten öffentlichen Bibliotheken in dieser Zeit gegründet  : 1632 entstand die bernische Bibliotheca civica aus der Erweiterung der alten »Liberey« der zur Ausbildung des reformierten Pfarrnachwuchses gedachten Hohen Schule, vier Jahre später wurde die Bürgerbibliothek in Schaffhausen gegründet.11 Nach 1650 brach auch die Zeit der ersten öffentlichen Museen an  : zuerst in Oxford, wo 1683 die Sammlungen des gelehrten Elias Ashmole (1617–1692) den Studenten zugänglich gemacht wurden, dann – zwischen 1734 und 1743 – in Rom und in Florenz. In Rom wurde das Museo Capitolino (eine päpstliche Stiftung) geöffnet  ; in Florenz vermachte Anna Maria Luisa de’ Medici (1667–1743) den neuen Großherzögen der Toskana (Habsburg-Lothringen) ihre Sammlungen unter der Bedingung, sie öffentlich zugänglich zu machen.12 Der Plan, eine öffentliche Stadtbibliothek einzurichten, die auch eine Kunstkammer beherbergte, entstand im Februar 1629 dank der Initiative von vier Abkömmlingen der Zürcher Elite während einer Zusammenkunft im Haus des Professors für Altgriechische Sprache, Johann Heinrich Ulrich (1575–1630). Reisen parties principales, la lithologie et la conchyliologie, dont l’une traite des pierres et l’autre des coquillages, Paris 1742, S. 219.   9 Vgl. Guggenbühl, Christoph  : Zensur und Pressefreiheit. Kommunikationskontrolle in Zürich an der Wende zum 19. Jahrhundert, Zürich 1996. 10 Vgl. Pomian, Krzysztof  : Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 2002, S. 66. 11 Vgl. Walter, Emil J.: Soziale Grundlagen der Entwicklung der Naturwissenschaften in der alten Schweiz, Bern, 1958, S. 24 f.; über Bern  : Engler, Claudia  : Burgerbibliothek Bern, in  : Leu, Urs B. u. a. (Hg.)  : Handbuch der historischen Buchbestände in der Schweiz, hg. von der Zentralbibliothek Zürich, Hildesheim, 2011, Bd. 1, S. 193–197, hier S. 193. 12 Vgl. Pomian  : Ursprung, S. 66.

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durch England, Frankreich, Holland und Italien hatten die vier jungen Zürcher inspiriert, »eine gemeine Burger Bibliothek […] zu beforderung der Wissenschaften«13 zu gründen (Abb.  1). Bald wurden die Bibliothek und die Kunstkammer in der im Zuge der Reformation säkularisierten Wasserkirche untergebracht (Abb. 2).14 Die Existenz dieser Institutionen wurde hauptsächlich durch die Beiträge der Mitglieder der Bibliothekgesellschaft sowie der Besucherschaft ermöglicht  ; die Verwaltung wurde einem Kurator übertragen. Die Kunstkammer enthielt eine Sammlung von unterschiedlichen Antiquitäten (vor allem von alten Münzen), Artefakten (besonders Bildern und Globen, vgl. Abb.  3) sowie eine Naturaliensammlung. Die Objekte wurden in Schränken aufbewahrt. Die Besucher*innen hatten die Möglichkeit, sie aus den Schubladen herauszunehmen und auf den Tisch zu legen, um sie betrachten und analysieren zu können. Diese Nutzungspraktik sollte lange üblich sein – zumindest bis die Kunstkammer aufgehoben wurde und ihre verschiedenen Sammlungen zwischen 1779 und 1783 in andere Institutionen übergingen. Dabei erhielt die Naturforschende Gesellschaft die Naturaliensammlung wie auch die wissenschaftlichen Messinstrumente. Die Naturaliensammlung war zahlenmäßig kleiner als die anderen zwei Sammlungen und erhielt erst nach 1670 größere Aufmerksamkeit, als der Arzt 13 Leu  : Geschichte, S. 67. 14 Die vier jungen Gründer waren  : Johann Balthasar Keller (1605–1665), später Zunftmeister und Oberster Meister, Felix Keller (1607–1637), Bruder von Balthasar  ; Johann Heinrich Müller (1604 Zunftmeister, Statthalter, Obmann gemeiner Klöster), Johann Ulrich Ulrich (1606–1670), später Zunftmeister, Generalleutnant, Ratsmitglied und Verwandter von Johann Heinrich Ulrich. Vgl. Rütsche  : Kunstkammer, S. 53. Über die Bibliothek  : Vögelin, Salomon  : Geschichte der Wasserkirche (Neujahrsblatt der Stadtbibliothek), Zürich 1842–1848, hier S.  40 f.; Helfenstein, Ulrich  : Geschichte der Wasserkirche und der Stadtbibliothek in Zürich, Zürich 1961, S. 10  ; Germann, Martin  : Arte et Marte. Durch Wissenschaft und Waffen. Die Gründungsidee der Bürgerbibliothek Zürich nach Balthasar Venators Lobgedicht und Heinrich Ulrichs Programmschrift aus dem Gründungsjahr 1629, in  : Zürcher Taschenbuch, N. F., 101, 1981, S. 25–45, hier S. 38  ; Ders.: Bibliotheken im reformierten Zürich. Vom Büchersturm (1525) zur Gründung der Stadtbibliothek (1629), in  : Göpfert, Herbert G. u. a. (Hg.)  : Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im konfessionellen Zeitalter (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens Bd. 11), Wiesbaden 1985, S.  189–212  ; Bodmer, Jean-Pierre/Leu, Urs  B  : Zentralbibliothek Zürich, in  : Dies. (Hg.)  : Handbuch, Bd. 3, S. 365–472 (S. 379–380 für eine kurze Geschichte der Bibliotheca Tigurinorum civica bzw. Bürger Bücherey, Bürger-Bibliothek oder – im 18. Jahrhundert –Stadtbibliothek). Johann Jakob Wagner hat 1683 eine Geschichte der Wasserkirche und der Zürcher Bibliothek redigiert, die auch Kopien der mittelalterlichen Quellen enthält. Die Handschrift wird in der Zentralbibliothek Zürich (ZBZ) aufbewahrt (Ms. S 587.13). Sie wurde zwischen 1730 und 1750 durch Johannes Leu erweitert  : Leu, Johannes  : Geschichte der Wasserkirche und der Stadtbibliothek bis ca. 1750, ZBZ, Ms L 443.1.

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Abb. 1  : Wasser Kirch  : Johann Melchior Füssli, Zürich 1742.

Abb. 2  : Hier verbleibt was vergessenheit aufreibt  : Johannes Meyer, Zürich 1686.

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Abb. 3  : Abriss der Kunst Kammer auf der Wasser Kirchen in Zürich  : Johannes Meyer, Zürich 1687.

und Naturforscher Johann Jakob Wagner (1641–1695) zum Kurator der Bürgerbibliothek und der Kunstkammer ernannt wurde.15 Wagner versuchte, die Objekte nach ähnlichen Gruppen zu ordnen, und fasste eine erste Beschreibung der Naturalien- und Kunstsammlung ab, die leider verschollen ist. Er war auch der erste, der ein Donatorenbuch führte  : Die Liste der Schenkungen zeigt eine sehr breite Auswahl von Objekten. Im Januar 1675 schenkte z. B. Hans Heinrich Schüchtzer, »Zunftmeister Bibliothecarius«, »einen Armadill aus Amerika« (d. h. ein Gürteltier), verschiedene Fischarten, Korallen und ein 15 Über Wagners Tätigkeit als Kurator, siehe Rütsche  : Kunstkammer, S. 83–88, Kap. 4.4 (für das Inventar und die Donatoren)  ; S. 276–358 enthalten die Transkription des Donatorenbuchs vom 1677 (ZBZ Arch  St  23). Forschungen zur Praktik der Sammlung in der Frühen Neuzeit sind zahlreich  : z. B. Findlen, Paula  : Posessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley 1994  ; Schnapper, Alain  : Le géant, la licorne et la tulipe. Les cabinets de curiosités en France au XVIIe siècle, Paris 2012 (erste Auflage 1988)  ; te Heesen, Anke/ Spary, Emma C. (Hg.)  : Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001  ; Siemer, Stefan  : Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert, Mainz 2004. Über die Schweiz  : Schubiger, Benno u. a. (Hg.)  : Sammeln und Sammlungen im 18. Jahrhundert in der Schweiz, Genf 2007.

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Hirschherz  ; zwei Jahre später schenkten der Arzt Johann Jakob Schüchtzer ein großes Straußenei und Johann Caspar Schweizer, Professor für alte Sprachen am Carolinum, den Stachel eines Meerigels.16 Die Schenker (Donatoren) waren hauptsächlich Mitglieder der politischen und ökonomischen Eliten der Stadt  : Es handelte sich oft um Kaufmänner, die in den globalen Handel oder die Produktion von Textilien involviert waren. Die Anwesenheit von globalen Gütern in den Sammlungen weist darauf hin, dass die internationalen Verbindungen durch die Handelsgeschäfte den Transfer von derartigen Naturalien ermöglichten. Wagner selbst trug mit vielen Objekten zur Erweiterung der Naturaliensammlung bei  : Im Donatorenbuch sind 20 verschiedene Steine, Fossilien und ein vielfarbiger Papagei als von ihm geschenkt aufgelistet.17 Der Arzt gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern des ersten frühaufklärerischen Collegiums in Zürich, des Collegiums der Insulaner (1679), was die Überlappung der Funktionen der Akteure und der städtischen Institutionen zeigt. Die Mitglieder dieses Collegiums, wie später auch die Mitglieder der anderen zwei, trafen sich wöchentlich und hielten abwechselnd Vorträge über historische, politische, theologische sowie naturwissenschaftliche Themen, die von den Anwesenden kritisch diskutiert wurden. Da diese Sitzungen in der Wasserkirche stattfanden, die auch die Bürgerbibliothek und die Kunstkammer beherbergte, ist anzunehmen, dass die in der Kunstkammer aufbewahrten Naturalien manchmal auch als Muster dienten, um einige naturwissenschaftliche Themen klarer behandeln zu können. Im Oktober 1679 und im März 1680 hielt Wagner zwei Referate über »Glossopetrae« oder Steinzungen (d. h. fossile Haizähne) und über »Haarballen« oder Gemsbälle (d. h. kleine Steine aus den Mägen von Kälbern, Kühen, Ochsen und Gämsen, die als Heilmittel benutzt wurden).18 Specimina von »Glossopetrae« und »Haarballen oder Gemsbällen« zählten zu den Naturalien, die in der Kunstkammer aufbewahrt wurden und häufig auch durch die Korrespondenz-Netzwerke der Naturforscher nach Zürich gelangten.19 Auch für Johann Jakob Scheuchzer stand die Naturaliensammlung im Mittelpunkt des Interesses. Als Nachfolger von Wagner trat Scheuchzer nicht nur 16 Rütsche  : Kunstkammer, S. 342–344. 17 Ebd., S. 349. 18 Vgl. Kempe/Maissen  : Collegia, S. 326, 328. 19 In dem später von Scheuchzer aufgestellten Inventar der Kunstkammer, dem Museum civicum Tigurinum (ZBZ Arch St 24, Seiten nicht nummeriert), werden erwähnt  : »Pilae pilosae Bovini generis, […] caprini generis, […] Equinae, […] cervini generis, […] porcini generis, […] ovini generis, […] canini generis.«

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die Stelle als Kurator der Bürgerbibliothek und der Kunstkammer, sondern auch als Waisenhausarzt an. Wie Wagner verfasste er einen Katalog der gesamten Sammlung (die in Antiquitäten, Artificialia und Naturalia organisiert war). Sein Katalog der Naturalien enthält drei große Gruppen (Mineralia, Vegetalia und Animalia) mit einer langen Auflistung der unterschiedlichen Objekte. Die Ordnung entspricht der Logik der Ähnlichkeit der Objekte und verfolgt einen eher enzyklopädischen als einen systematisch taxonomischen Anspruch.20 Scheuchzers Forschungs- und Sammeltätigkeit spiegelt sich in seiner Korrespondenz wider, die mehr als 7000 Briefe in 52 Bänden umfasst, die in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrt werden.21 Unter den verschiedenen Kanälen, die Scheuchzer für den Transfer von Naturalien nutzte, die oft auch in die Sammlungen der Kunstkammer gelangen, möchte ich folgende drei erwähnen  : Für den botanischen Austausch spielten die holländischen Universitäten und der Jardin des Plantes in Paris eine wichtige Rolle. Mit Peter Hotton (1648−1709), Professor für Botanik in Leiden, seinem angesehenen Nachfolger Hermann Boerhaave (1668−1738) sowie mit dem Leiter des Pariser Jardin Royal, Joseph Pitton de Tournefort (1656–1708) und seinem Nachfolger, Antoine de Jussieu (1686–1758), tauschte er getrocknete Pflanzen und Samen.22 Für den Austausch von Fossilien und Steinen  – ein zentrales Forschungsthema von Scheuchzer – lag ein Schwerpunkt in London bei John Woodward (1665–1728), Arzt und Professor am Gresham College sowie Mitglied der Royal Society.23 Woodward war ein wichtiger Vertreter der Diluvialtheorie, die Scheuchzer auf dem Kontinent verbreitet hatte. Drei andere wichtige Knotenpunkte der Fossiliendebatte befanden sich in Neuchâtel, hier lebte Louis 20 Der Katalog wurde von Rütsche transkribiert  : Vgl. Rütsche  : Kunstkammer, S. 407–439. 21 Vgl. Boscani Leoni, Simona  : Johann Jakob Scheuchzer und sein Netz. Akteure und Formen der Kommunikation, in  : Herbst, Klaus-Dieter/Kratochwil, Stefan (Hg.)  : Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 47–67  ; Dies.: Vernetzte Welten  : Das Korrespondenznetz von Johann Jakob Scheuchzer, in  : Leu, Urs B. (Hg.)  : Natura sacra – Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), Zug 2012, S. 130–165. 22 Diese Korrespondenz ist in den folgenden Handschriften zu finden  : ZBZ H 314, S. 3–42, H 305, S. 449–480, H 307, S. 167–188, H 347, S. 243–260  ; H 305, S. 159–162. Über die Ökonomie des wissenschaftlichen Austausches  : Findlen, Paula  : The Economy of Scientific Exchange in Early Modern Italy, in  : Moran, Bruce T. (Hg.)  : Patronage and Institutions. Science, Technology and Medicine at the European Court, 1500–1700, Ipswich 1991, S. 5–24. 23 Über die Kontakte zwischen Scheuchzer und Woodward  : Kempe, Michael  : Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie, Epfendorf 2003  ; die Korrespondenz von Woodward befindet sich in den Handschriften ZBZ H 294, S. 77– 300  ; H 295, S. 39–96  ; H 293, S. 21–54.

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Bourguet (1678–1742), Professor für Philosophie und Mathematik, in Padua, wo Antonio Vallisneri (1661–1730) Scheuchzers wichtigster Gesprächspartner in Italien wohnte, und in Amsterdam, wo Pieter Valckenier (1638–1712), holländischer Gesandten in der Alten Eidgenossenschaft, arbeitete.24 Für den Transfer von alpinen Tieren und Pflanzen waren die vielen Informanten aus den Drei Bünden (heute Kanton Graubünden) sehr wichtig  : Pfarrer, Adlige, aber auch Gemsjäger und Hirten waren in den Austausch involviert  : Murmeltiere, Gemsbälle sowie Beobachtungen von ›Drachen‹ wurden Scheuchzer regelmäßig geliefert.25

Johannes Gessner (1709–1790) als trait d’union zwischen den alten Zürcher Sammlungen und der Naturforschenden Gesellschaft

Das Sammeln und Vermitteln von Wissen waren auch die Grundpfeiler der naturkundlichen Tätigkeit des Scheuchzer-Schülers Johannes Gessner26, der nach kurzem Wirken als Arzt zum Professor für Mathematik (1733) und Physik (1738) am Zürcher Collegium Carolinum ernannt wurde und die Nachfolge von Johann Jakob und dessen Bruder Johann Scheuchzer (1684–1738) antrat. Seine Sammlung galt damals als eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt.27 Besonders bedeutsam war seine Tätigkeit als Botaniker und Vermittler von botanischen Kenntnissen. Dafür nutzte Gessner sein Herbarium und den Garten der Naturforschenden Gesellschaft Zürich, den er von Anfang an sehr eng betreute. Gerade in der Anfangszeit (den 1750er Jahren) besorgte er von seinen Korrespondenten Pflanzen und Samen für den botanischen Garten. Er erhielt lokale Pflanzen, aber auch solche aus Übersee, beispielsweise von dem Leidener Botaniker Jan Frederik Gronovius (1686–1762). Im Gegenzug erhoffte sich Gronovius Alpenpflanzen und Gessners Hilfe, um einen 24 Vgl. für Bourguet  : ZBZ Hs. H 336, S. 3–432  ; H 307, S. 85–144  ; H 348, S. 127–130. Für Vallisneri  : ZBZ H 312, S. 32–46  ; H 305, S. 407–412. Für Valkenier  : H 306, S. 5–252  ; H 345, S. 227–230. 25 Die Bündner Korrespondenz befindet sich in den Handschriften ZBZ H  325, H  326, H  327, H  328, H  329. Eine Auswahl wird bald veröffentlicht werden  : Boscani Leoni, Simona (Hg.)  : Vernetzte Welten Wissenschaft, Religion und Diplomatie in der Korrespondenz von Johann Jakob Scheuchzer. Eine Edition ausgewählter Schweizer Briefe (1695–1731), 2016. Online-Edition 2017. Über die Gemsbälle, z. B.: Scheuchzer an Johannes Leonhardi, 30.11.1700, ZBZ H  150, S. 231–232  ; Rudolf von Rosenroll an Scheuchzer, 26.10.1705, ZBZ H 329 S. 97–100. 26 Im Rahmen des Projekts »Kulturen der Naturforschung« (siehe Anm. 3) schreibt Meike Knittel eine Dissertation über Johannes Gessner und seine botanische Forschungstätigkeit. 27 Vgl. deren Beschreibung in Dezallier d’Argenville  : Histoire naturelle, S. 219 f.

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Kontakt zu Johann Ammann in St.  Petersburg herzustellen, der über Pflanzen und Beobachtungen einer Forschungsreise in die Region Kamtschatka verfügte.28 Auch der Leiter des Botanischen Gartens in Leiden, Adriaan van Royen (1704–1779), schickte Listen mit Pflanzen an Gessner, die er von ihm zu erhalten wünschte. Auf jener, die dem Brief von 1738 beilag, waren vor allem Alpenpflanzen aufgeführt.29 Die Pflanzen aus Virginia und Surinam, die Gessner von seinen Korrespondenten im Gegenzug geschickt bekam, behielt er jedoch nicht nur für sich, sondern setzte sie wieder zum Tausch ein, um andere gesuchte Pflanzen zu erhalten. Auch die Korrespondenten in den alten Universitätsstädten Norditaliens übermittelten Gessner Samen und getrocknete Pflanzen sowie Fossilien, aber auch Bücher. Der französische Botaniker, Historiker und Bibliograph Jean-François Séguier (1703–1784) versprach in einem Brief an Johannes Gessner, bald Pflanzen zu schicken, die er am Monte Baldo gesammelt hatte und bat um Alpenpflanzen.30 Gessners Korrespondent in Florenz, Johann Ritter von Baillou (1684–1758), dessen Naturaliensammlung den Grundstock des Wiener Hof-Naturalien-Kabinetts (das zukünftige Naturhistorische Museum) bildete, vermittelte den Kontakt zum toskanischen Naturforscher Giovanni Targioni Tozzetti (1712–1783), der Saatgut aus dem Florentiner botanischen Garten schicken sollte.31 Baillou erhoffte im Gegenzug, Steine und Fossilien aus der Nähe von Basel zu erhalten, und konnte zudem »quelques choses des Indes«32 anbieten, die er über Kaufleute in Venedig an Gessner schickte. Der Austausch zwischen den Direktoren der botanischen Gärten von Zürich und Pavia gestaltete sich hingegen schwieriger  : Der Direktor des Jardin botanique de Zurich, Johann Scheuchzer (1738–1815), der Neffe Johann Jakob Scheuchzers, hatte nur gegen Bezahlung einen Katalog des Zürcher Gartens nach Pavia geschickt. In der privaten Korrespondenz mit Gessner versuchte Lazzaro Spallanzani (1729–1799), Professor der Botanik in Pavia, zu vermitteln, und deutete an, dass man, wenn es denn tatsächlich keine andere 28 J. F. Gronovius an J. Gessner, 20.02.1734, ZBZ, Autogr Ott, Gronovius. 29 A. van Royen an J. Gessner, 24.02.1738, ZBZ, Autogr Ott, Royen. 30 J.-F. Séguier an J. Gessner, 21.03.1751, ZBZ, Hs. M 18.25. 31 Targioni Tozzetti kannte die Werke der Zürcher Gelehrten (wie z. B. die von Johann Jakob Scheuchzer) sehr gut  : Vgl. Boscani Leoni, Simona  : Men of Exchange. Creation and Circulation of Knowledge in the Swiss Republics of the 18th  Century, in  : Holenstein, André u. a. (Hg.)  : Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century, 2 Vol., Leiden/Boston 2013, S. 507–533, hier S. 528. 32 J. de Baillou an J. Gessner, 22.11.1738, ZBZ, Hs. M 18.13.

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Möglichkeit gäbe, auch bereit sei, für Saatgut aus Zürich zu bezahlen.33 Die Pflanzen aus Italien gelangten mit Kaufleuten über Bergamo und Bozen nach Zürich  ; zudem wurden zu Messeterminen in Leipzig, Frankfurt a. M. und Straß­burg Tauschgeschäfte realisiert. Bücher wurden gegen Fossilien und Pflanzen getauscht, in der Hoffnung, etwas, das man selbst begehrte, zu erhalten. Zahlungen mit Bargeld spielen nach bisherigem Stand der Forschungen in Gessners Korrespondenz eine untergeordnete Rolle. Die Bücher und Naturalia gelangten über private Vermittler, wie Verwandte, befreundete Reisende sowie im Gepäck der Studenten nach Zürich und von dort nach Italien und in die Niederlande. Vor allem jedoch Kaufleute sowohl aus Zürich (namentlich die Handelsfamilien Pestalozzi und Werdmüller) sowie Kaufleute mit Niederlassungen in Frankfurt, Venedig und Amsterdam ermöglichten den regen Austausch zwischen den Naturforschern. Die in Zürich zusammengetragenen Pflanzen und Abbildungen verarbeitete Gessner in seinen Darstellungen des Linné’schen Systems, die dieses einem breiten Publikum bekannt machte.34

Die Naturaliensammlung der Physicalischen Gesellschaft

Johannes Gessner war nicht nur Professor am Carolinum und ein berühmter Botaniker, sondern auch der Gründungspräsident der Physicalischen Gesellschaft Zürich (oder auch Naturforschenden Gesellschaft Zürich).35 Schon in seiner programmatischen Rede von 1746 anlässlich der ersten Sitzung der Gesellschaft forderte er den Aufbau von unterschiedlichen Sammlungen.36 Die darin gesammelten Gegenstände wie Instrumente, Bücher und Naturalien sollten die Tätigkeiten der Gesellschaft – das Sammeln, Überprüfen und Verbreiten von ›nützlichem‹ Wissen – unterstützen. Ein besonderer Fokus sollte dabei auf Naturalien aus der näheren Umgebung der Stadt gelegt werden  – 33 L. Spallanzani an J. Gessner, 1780, ZBZ, Autogr Ott, Spallanzani. 34 Knittel, Meike  : Gemeinsame Referenzpunkte und geteilte Richtungen: Johannes Gessner (1709– 1790) als Vermittler der Linné’schen Botanik, in: Boscani Leoni, Simona, Nicoli, Miriam (Hg.): Wissenszirkulation in der Schweiz des 18. Jahrhunderts: Akteure und Praktiken, Basel 2016, S. 36–56 (xviii.ch, Jahrbuch der SGEAJ, Bd. 7/ 2016). 35 Im Rahmen des Projekts »Kulturen der Naturforschung« (siehe Anm. 3) schreibt Sarah Baumgartner eine Dissertation über die Tätigkeiten und die Netzwerke der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich. 36 Gessner, Johannes  : Entwurf von den Beschäftigungen der Physicalischen Gesellschaft, oder von den Wissenschaften, welche sich dieselbe zu behandeln vornimmt, in  : Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 3 (1766), S. 1–12, hier S. 5.

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nahm sich die Sozietät doch vor, primär im »unserem werthen Vaterland« wirksam zu werden.37 Diesen Vorsätzen zum Trotz war das Anwachsen der Naturaliensammlung, insbesondere während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens, eher durch Zufälle, denn durch ein systematisches Vorgehen gelenkt.38 Bei den Einzelstücken, die in die Sammlung gelangten, handelte es sich meist um außergewöhnliche Objekte, etwa »Monstrositäten«, also missgebildete Pflanzen und Tiere, die der Gesellschaft des Öfteren, und zwar von Personen unterschiedlichsten Standes, zum Geschenk angeboten wurden.39 Der Großteil der Naturalien gelangte aber durch die Übernahme von schon bestehenden Sammlungen in die Sammlung der Gesellschaft, insbesondere 1779/1783 durch die Übernahme von Naturalien aus der Kunstkammer der städtischen Bürgerbibliothek.40 Zudem gelangten auch zahlreiche Privatsammlungen integral oder partiell in den Besitz der Gesellschaft  ; teils waren es Nachlässe, die von den Erben verkauft wurden, gelegentlich bot auch ein Sammler, etwa aus finanzieller Not, seine Schätze der Gesellschaft zum Kauf an. Wiederholt schenkten oder verkauften auch Personen, die Reisen unternommen oder aus beruflichen Gründen längere Zeit im Ausland gelebt hatten, mehr oder weniger ›exotische‹ Naturalien an die Gesellschaft. Allerdings waren die finanziellen Mittel der Gesellschaft selbst eher beschränkt, sodass große Sammlungen, wie etwa jene des Gesellschaftsgründers Gessner, nicht übernommen werden konnten. Nach der Gründung der Zürcher Universität im Jahre 1833 wurden die Sammlungsgegenstände bald schon an diese größere und finanzkräftigere Institution übergeben.41 Diese Art und Weise des Sammlungsaufbaus hatte zur Folge, dass neben solchen Objekten aus der Zürcher Landschaft, die als ›nützlich‹ betrachtet wurden, bald auch immer mehr ›exotische‹ Naturalien aus aller Welt ihren Weg in die Sammlungen fanden. Eine kurze Aufzählung mag einen Eindruck von 37 In den Statuten der Gesellschaft des Jahres 1746 liest man  : »Die Absicht dieser Societet ist die erkenntnis der Natur, in so weiten dieselbe zur bequemlichkeit, nuzen und nothwendigkeit der menschlichen gesellschaft überhaupt, besonders aber unseres werthen Vaterlandes dienet.« Staatsarchiv des Kantons Zürich (StAZ), B IX 207. 38 Umfassend zur Gesellschaft  : Rudio, Ferdinand  : Die naturforschende Gesellschaft in Zürich 1746–1896, in  : Festschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1746–1896, Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich  ; zur Sammlung  : S. 185–195. 39 Diese Gaben wurden in den sogenannten »Donationenbüchern« verzeichnet  : StAZ B IX 160/161. 40 Rütsche  : Kunstkammer, zur Auflösung dieser Kunstkammer  : S. 193–207. 41 Guyer, Ernst Viktor  : Vom Naturalienkabinett der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich zum Zoologischen Museum der Universität, in  : Vierteljahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft Zürich 119 (1974), S. 361–404.

Züricher Naturaliensammlungen 

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der Breite der Sammlungen vermitteln. So enthielt die Sammlung Proben aus lokalen Kohlevorkommen – als ein Geschenk von einem Mitglied – oder Gemälde von einheimischen Fischen (man hatte die von einem Mitglied erworbene Sammlung präparierter Fische abmalen lassen, weil die Originale sich nicht mehr länger konservieren liessen) sowie die aus der Bürgerbibliothek übernommenen Narwalzähne, die dort einst als »Einhorn-Hörner« zum obligatorischen Bestandteil eines Kuriositätenkabinetts gehört hatten. Als der Zürcher Chirurg Werndli 1773 eine Anstellung in Surinam annahm, bewarb er sich, unter Anerbietung seiner Dienste, als Mitglied der Gesellschaft. Für seine Aufnahme bedankte er sich dann mit der Zusendung einiger exotischer Naturalien – wie etwa dem in Alkohol eingelegten Embryo eines Gürteltiers.42 Die Naturaliensammlung der Zürcher Physicalischen Gesellschaft entstand in Zeiten wissenschaftlicher Umbrüche  ; so war zu Beginn eine primär lokal ausgerichtete, ›nützliche‹ und zweckorientierte Sammlung vorgesehen. Ab den 1780er Jahren wurden die Gegenstände unter Anwendung der damals aktuellen Klassifikationssysteme systematisch geordnet. Neben diesen Konzeptionen, die ins 19.  Jahrhundert weisen, blieben aber Elemente einer älteren Sammlungspraxis lebendig – insbesondere die Vorliebe für Auffallendes und Kurioses.

Schluss

Die neuen »Orte des Wissens« boten eine ideale Plattform, um eine offenere und ›horizontale‹ Form des Austausches zu ermöglichen, die einem relativ breiten Teil der Zürcher Bürgerschaft zu Verfügung stand. Wie die Gründung der Kunstkammer zeigt, die zuerst in einem Privathaus entstand, dann in einen öffentlichen Raum (die Wasserkirche) umziehen durfte, war die Trennung zwischen ›privaten‹ und ›öffentlichen‹ Räumen teilweise verschwommen. Dass die drei Collegia zu Beginn in denselben Räumlichkeiten untergebracht waren, ist kein Zufall  : Dies erlaubte eine Mitbenutzung der Objekte der verschiedenen Sammlungen, die manchmal auch ›pädagogisch‹ als konkrete, anschauliche Beispiele während der regelmäßigen Referate der Collegia-Mitglieder gezeigt und analysiert werden konnten. Diese neuen Orte dienten als Ergänzung der alten Institutionen, da oft dieselben Akteure wie beispielsweise Johann Jakob Wagner, Johann Jakob Scheuchzer oder Johannes Gessner in diversen Gremien gleichzeitig tätig waren. 42 Zu den Beständen vgl. die Kataloge von 1785  : StAZ B IX 153/154.

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Simona Boscani Leoni

Die aufgeführten Beispiele zeigen auch, dass eine konvergente Untersuchung von unterschiedlichen Quellen (Donatorenbuch, Sammlungskataloge, Korrespondenzen) für die Analyse des Bewegens und ›Transformierens‹ von Naturaliensammlungen fruchtbar gemacht werden kann. Naturalien gelangten durch unterschiedliche Kanäle (durch Korrespondenzen, wie auch durch Geschenke) in die Sammlungen und stammten sowohl aus der näheren Umgebung als auch von weit entfernten Erdteilen. Als Kunstkammerbestände oder in der Sammlung der Naturforschenden Gesellschaft bildeten die Naturalien das Fundament für breitangelegte empirische Naturforschungen der städtischen Eliten, die sich zwischen dem Ende des 17. und dem 18. Jahrhundert als Alternative zur traditionellen aristotelischen Forschung und der Lehre durchsetzen konnten. Am Beispiel der Stadt Zürich zeigt sich, dass die Entwicklung der komplexen Verfahrensweisen der Naturgeschichte wie das Sammeln, Tauschen und Aufbewahren von Wissensdingen sowohl von globalen Handelsbeziehungen, den Orten ihrer Sammlungen und den Netzwerken der Akteure abhing. Die Akteure, die in der Erweiterung dieser Sammlungen involviert waren, kamen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen  : Neben Ärzten und Naturforschern waren Handelsmänner und Beamte dabei. Ihr gemeinsames Ziel war die Pflege von Institutionen, die der Stadt Prestige auf dem globalen Markt des Wissens verschaffen konnte und den Akteuren gleichzeitig Orte des Austausches über eine zunehmend empirisch ausgerichtete Naturkunde bot.

Silvia Flubacher

Der Zahn der Zeit Vom »gegrabenen Einhorn« oder wie der Elefant nach Deutschland kam

Ein »unicorne fossile« in der Birs

Zu Ostern im Jahre 1725 traf Stauder – ein katholischer Maler aus Konstanz, welcher sich gerade in Basel aufhielt  – auf seinem Weg nach Arlesheim auf mehrere Bauern, die mit Hacken und Schaufeln in der Birs etwas aus dem Flussbett zu graben schienen.1 Stauder sah, dass es sich dabei um mehrere versteinerte Knochen handelte. Schließlich gruben sie einen Schädel aus, auf dessen Stirn nach Schätzung des Malers ein sechs bis acht Fuß langes Horn ragte. Das Horn war äußerst zerbrechlich und verfiel noch vor Ort in mehrere Stücke. Diese Geschichte berichtete der Basler Mathematiker Johann Bernoulli (1667–1748) seinem Freund Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), einem Arzt und Naturhistoriker aus Zürich. Stauder habe den Bauern verschiedene Teile des Horns, des Schädels und andere Knochenstücke des ausgegrabenen Tiers zu einem Spottpreis abgekauft. Stauder hatte behauptet, dass es sich bei dem Fund um die Überreste eines während der Sintflut ausgestorbenen, echten Einhorns handeln würde – »non obstant«, wie Bernoulli schrieb, »que la Ste. Ecriture dit que touts les Genres des Animaux ont été conservés par ­l’Arche de Noach«2. Nicht nur widerspreche Stauders Meinung über die Herkunft der Fundstücke der biblischen Erzählung, er schien zudem auch noch aus dem billig erworbenen Fund Kapital schlagen zu wollen, indem er es als das Horn eines Einhorns ausgab und dessen medizinische Wirkung betonte, so Bernoullis Kritik  : »Le Possesseur en fait grand cas et croit que c’est un excellent absorbent et diaphoretique, ne l’ectimant pas moins que le bezoar.«3 1 Bei folgendem Beitrag handelt es sich um ein stark gekürztes und überarbeitetes Kapitel aus meiner Dissertation, siehe Kapitel »Zeitschichten und Textebenen« in  : Flubacher, Silvia  : Wunderbare Wesen. Die Ordnung der Tierwelt und das Schreiben der Naturgeschichte um 1700, eingereicht an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel, Basel 2015. 2 Bernoulli an Scheuchzer, Basel 14. April 1725, Zentralbibliothek Zürich, ZBZ Ms H 321, S. 103 f. 3 Ebd.

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Silvia Flubacher

Die fossilen Fundstücke sorgten nicht nur als Objekte für Aufmerksamkeit, sondern lösten auch Debatten um Zuordnung, Herkunft und Alter aus. Bernoulli glaubte zwar ebenfalls, dass es sich bei dem Fund um ein Relikt der Sintflut handle, doch zweifelte er, ob es ein unicornu fossile genannt werden könne, gehörten solche fossilen Hörner doch vermeintlich dem Mineralreich an.4 Und wenn, so fragte Bernoulli, das unicornu fossile tatsächlich das Horn eines Einhorns sein sollte und man davon ausging, dass jede Tierart nach göttlicher Vorsicht in der Arche Noah vor dem Aussterben bewahrt worden war, weshalb würden keine lebenden Einhörner mehr gesichtet  ? Und weshalb würden keine fossilen Überresten anderer Tiere wie Elefanten, Kamele, Rinder, Ziegen, Löwen, Bären oder Hirsche ausgegraben  ? Weshalb würden keine Knochen von Vögeln gefunden wie beispielsweise solche von Adlern, Falken, Milanen  ? Während Scheuchzer behauptete, dass es sich bei den meisten solcher fossilen Fundstücke um Elefantenzähne handelte, bemerkte Bernoulli, dass das Stück des in der Birs gefundenen Horns, welches ihm der Maler gezeigt hatte, gerade und gekerbt gewesen sei. Daraus schloss er, dass das gesamte Horn derart gestaltet war und damit den gekrümmten und glatten Elefantenzähnen nicht gleich komme.5 Die Bezeichnung unicorne fossile sei ungenau, so antwortete ihm Scheuchzer. Man verstehe darunter die Gebeine aller möglichen Tiere wie Elefanten, Rinder oder Ziegen. Wenn auch noch viele Fragen ungeklärt waren, so ließen der Vergleich mit verschiedenen Skeletten, chemische Analysen sowie andere Umstände keine Zweifel offen, dass es sich um tierische Produkte der Natur handle.6 Eine außergewöhnliche Menge solcher Knochen habe man auch in Konstanz, zu Wittenberg und ein Jahr zuvor in Baden ausgegraben. Diese würden nun – so berichtete Scheuchzer – »dans nos boutiques« verkauft. »Je m’en sers fort souvent dans ma Pratique«, gestand er.7 Bei den meisten Funden handle es sich um Elefantenzähne. Die in seinem Besitz befindlichen fossilen Elefantenzähne entsprächen den Originalen gänzlich. Die Tatsache, dass kaum fossile Überreste von Vögeln gefunden würden, sei darauf zurückzuführen, dass diese aufgrund ihrer Leichtigkeit während der Sintflut auf der Wasseroberfläche aufgeschwommen, nach Rückzug des Wassers auf der Erdober4 Vgl. Bernoulli an Scheuchzer, Basel Mai 1725, ZBZ Ms H 321, S. 105. 5 Vgl. Bernoulli an Scheuchzer, Basel 29.  Mai 1725, ZBZ Ms H 321, S.  107 und Bernoulli an Scheuchzer, Basel 6. Juli 1725, ZBZ Ms H 321, S. 115 f. 6 Siehe Scheuchzer an Bernoulli, Zürich 13. Mai 1725, Universitätsbibliothek Basel (UB) L Ia 667, Nr. 93. 7 Scheuchzer an Bernoulli, Zürich 28. April 1725, UB L a 667, Nr. 92.

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fläche liegen geblieben und mit der Zeit abgetragen worden seien. Er besitze jedoch auch einige im Stein verewigte Abdrücke von Vogelfedern.8 Scheuchzer bedauerte, dass von dem Fund in der Birs nicht der ganze Schädel erhalten geblieben sei, damit man ihn mit den in Zürich vorhandenen Knochen hätte vergleichen können. Er wünsche sich, Bernoulli könne nach Zürich kommen und sein Kabinett betrachten, für dessen Aufbau er 30 Jahre benötigt und das er mit großem finanziellen Aufwand zusammengestellt hatte  : »[C]ertainement mon Cabinet vous serviroit au lieu de Cathedre et de Professeur.«9 Der Abgleich verschiedener Fundstücke scheiterte im Fall des in der Birs gefundenen Horns  : Scheuchzer konnte weder die dort gefundenen Stücke erhalten, noch Bernoulli nach Zürich zu seinem Freund reisen und dort seine Sammlung begutachten.10 Es ist fraglich, ob Scheuchzer Bernoulli gänzlich hätte überzeugen können. Allgemein befanden sich fossile Fundstücke meistens in einem schlechten Zustand. Sie gelangten auf verschlungenem Wege in die Kunstkammern, wurden von Bauern und Bergarbeitern ausgegraben, von vermeintlich dubiosen und geldgierigen Händlern gekauft und verkauft. Ein genauer Fundbericht, welcher den Anforderungen der Gelehrten entsprach, fehlte häufig. Zudem waren kaum ganze Skelette überliefert, sodass jeweils nur Bruchstücke miteinander verglichen werden konnten. »Si une fois une machoire entière d’Elephants avec les dents enclos tombera entre mes mains«, so versicherte Scheuchzer Bernoulli, »j’auray l’honneur de vous en communiquer au moins le dessein.«11 Im vorliegenden Beitrag möchte ich aufzeigen, dass sich die Verfahrensweisen der frühneuzeitlichen Naturgeschichte nicht nur als empirisch beschreiben lassen, sondern dass im Vergleich von Objekten, Texten und Bildern vielfältige Erklärungsansätze möglich waren. Die einzelnen Objekte sprachen nicht für sich, sondern mussten kommentiert, verglichen und in größere Erklärungszusammenhänge eingebettet werden. Ohne weitergehende Informationen, ohne eine mustergültige Vergleichsbasis und losgelöst von einem größeren Argumentationszusammenhang waren die Knochen und Zähne lediglich Anschau  8 Siehe Scheuchzer an Bernoulli, Zürich 22. Juni 1725, UB L Ia 667, Nr. 95.   9 Scheuchzer an Bernoulli, Zürich 20.  Juli 1725, UB  L  Ia  667, Nr.  96  ; vgl. auch Scheuchzer an Bernoulli, Zürich 2. Juni 1725, UB L Ia 667, Nr. 94. 10 Scheuchzer wollte die verbliebenen Stücke des Fundes aus der Birs aufkaufen, allerdings meldete Bernoulli, dass diese bereits nach Konstanz versandt worden waren. Siehe Scheuchzer an Bernoulli, Zürich 28. April 1725, UB L Ia 667, Nr. 92. 11 Scheuchzer an Bernoulli, Zürich 20.  Juli 1725, UB  L  Ia  667, Nr.  96  ; vgl. auch Bernoulli an Scheuchzer, Basel 7. August 1725, ZBZ Ms H 321, S. 117.

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ungsmaterial  ; ohne ihren jeweiligen Kontext wurden sie zu Objekten, welche zwar in einer brieflichen Auseinandersetzung angeführt werden konnten, um weitere Diskussionen zu unterbinden, jedoch in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung nur in Verbindung mit den Berichten und Analysen ähnlicher Fundstücke eine über das einzelne Objekt hinausgehende Aussagekraft besaßen. Scheuchzers Kabinett bürgte für die Tatsache, dass solche fossilen Knochen und Hörner existierten, doch lieferten sie noch keine näheren Informationen über die Natur und Herkunft des in der Birs gefundenen Horns. Und so versandete die Konversation zwischen Bernoulli und Scheuchzer ohne eindeutiges Ergebnis. Übrig blieben Spekulationen  : Spekulationen über die Herkunft der Gebeine, über ihr Alter, über ihre Natur. Übrig blieben verschiedene Erklärungsansätze mit jeweils unterschiedlichen Konsequenzen. Übrig blieben auch Zweifel  : Zweifel an der Rechtschaffenheit und Glaubwürdigkeit des Finders, waren doch mit einem solchen Fund verschiedene Interessen  – nicht zuletzt auch wirtschaftliche – verbunden.12

»[…] und zeiget die bißherige Collation«

In der Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands widmete Scheuch­zer dem »gegrabenen Einhorn« ein ganzes Kapitel.13 Darin diskutierte er die verschiedenen Theorien der Gelehrten, welche »sich der Zeugung und Ursprungs halben dieser Hörneren und Gebeinen zimlich mit einander zer­ stos­sen« hätten. Die einen hielten sie für ludi naturæ (Naturspiele), für »wahre/ in der Erden also durch ohngefehrde zusammenrinnung eines Mergel-Safts/ oder kunstliche Außarbeitung eines Archei, oder klugen Erden- und WeltGeists also gestaltete Mineralia«. Andere glaubten, es seien die Überresten von Tieren, welche entweder von Menschenhand vergraben, bei einem Erdbeben verschüttet oder nach der Sintflut zugrunde gegangen waren.14 Nach der Gegenüberstellung der verschiedenen Argumente urteilte Scheuchzer schließlich, dass »die unpartheyisch=gelehrte Wahrheits=liebende Welt dem Mineralischen Reich diese Hörner entzogen, und dem Animalischen, oder Thier=Rei12 Zu den kommerziellen Aspekten vgl. u. a. Cook, Harold John  : Moving About and Finding Things Out. Economies and Sciences in the Period of the Scientific Revolution, in  : Osiris 27 (1), 2012, S. 101–1324. 13 Kapitel »vom gegrabenen Einhorn« in  : Scheuchzer, Johann Jakob  : Beschreibung der Natur-Geschichten des Schweizerlands, Bd. 2, Zürich 1707, S. 186–188. 14 Ebd., S. 186 f.

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che einverleibet, so daß nun wenig mehr sind, die daran zweifeln«.15 Nicht seine eigenen Sammlungsstücke, sondern der Verweis auf zeitgenössische Debatten lieferten ihm die überzeugendsten Argumente für diese These. Als Referenz diente ihm u. a. ein Bericht von Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707), ein Gothaer Hofhistoriograph und mit der Ordnung der herzoglichen Münzsammlung betrauter Numismatiker, welcher einen ausführlichen und häufig zitierten Bericht über einige in Tonna gefundene fossile Gebeine erstellt und diese ebenfalls als Überreste eines Elefanten deklariert hatte. 1695 – etwa 20 Jahre vor dem Fund des unicornus fossilis in der Birs – hatte bereits ein weit bedeutenderer Fund fossiler Knochen, Hörner und Zähne in Tonna für Aufmerksamkeit gesorgt.16 Nach dem Fund dieser Gebeine hatte der Herzog von Sachsen mit Wilhelm Ernst Tentzel die Grube besucht und ein Collegium medicum beauftragt, ein Gutachten über diesen Fund zu erstellen, in dem ein Urteil über die Herkunft der Gebeine gefällt werden sollte. Denn die Knochen waren wahlweise als ein mineralisches Gewächs, als die Reste eines Riesen oder als Elefantenskelett interpretiert worden. Unter dem Titel Kurtze doch ausführliche Beschreibung des Unicornu Fossilis oder gegrabenen Einhorns erschien das Gutachten am 14.  Februar 1696. Das Collegium kam darin zum Schluss, dass es sich bei dem Tonnaer Fund um ein »Mineralisches Gewächs« handle.17 Insbesondere die Größe der einzelnen Knochen stimme nicht mit derjenigen von Elefanten überein. Trotz des Befunds blieb »das Dubium noch übrig, wann und zu welcher Zeit Elefanten in Teutschland kommen und vergraben worden«18. Wilhelm Ernst Tentzel zog auf Grundlage desselben Fundberichtes des Gothaer Collegiums ganz andere Schlüsse. In einem Schreiben, welches er 1696 veröffentlichte und zusammen mit ein paar Knochen an die Royal Society sandte, identifizierte er den Fund als die Überreste eines Elefanten.19 Einen 15 Ebd., S. 187 f. 16 Zu den Funden fossiler Elefantenknochen im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert vgl. Collet, Dominik  : Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Bd. 232, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte), S. 166–208  ; Rappaport, Rhoda  : When Geologists Were Historians, 1665–1750, Ithaca u. a. 1997, S.  112–119  ; Kempe, Michael  : Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie, Epfendorf 2003, S. 123. 17 Siehe Kurtze doch ausführliche Beschreibung des »Unicornu Fossilis«, oder gegrabenen Einhorns, welchs in der Herrschafft Tonna gefunden worden, verfertiget von dem »Collegio Medico« in Gotha, den 14. Febr. 1696, Gotha 1696, S. 2v. 18 Ebd., S. 4r. 19 Siehe Tentzel, Wilhelm Ernst  : De Sceleto Elephantino Tonnae Nuper Effosso, ad Virum toto orbe

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ausführlichen Bericht des Fundes publizierte er zudem in der von ihm heraus­ gegebenen Zeitschrift Monatliche Unterredungen einiger guter Freunde.20 Tentzel kritisierte das Collegium insbesondere dafür, einen Bericht von Johann Lorenz Bausch, Autor einer 1666 erschienenen Schrift über das fossile Einhorn, unkritisch übernommen zu haben.21 Diese erweise sich bei genauerer Betrachtung als eine willkürliche Zusammenstellung disparater Informationen. Unter den als unicornu fossile bezeichneten und in der von Bausch zusammengetragenen Literatur erwähnten Fundexemplaren befanden sich etwa auch versteinerte Holzstücke. Ein kritischer Vergleich der in der von Bausch gesammelten Literatur beschriebenen Objekte  – nicht der Blick in ein Kabinett, sondern einfache Quellenkritik  – hätte die dort angeführten Argumente zerschlagen und die begriffliche Unschärfe sichtbar machen können.22 Die Zusammenstellung und den Vergleich unterschiedlicher Knochen und Skelette bezeichnete Tentzel als ›Collation‹. Jedoch schien die Vergleichsbasis der ihm verfügbaren Knochenstücke unzureichend, weswegen er seine Collation um Fundberichte und anatomische Beschreibungen anderer Gelehrter erweiterte. Im Sinne der eklektischen Methode ging es Tentzel darum, analog zu einer Objektsammlung eine Collation von Observationen zu erstellen, eine Auswahl zu treffen und »die vornehmsten dieser Observationen aus mancherCeleberrimum Antonium Magliabechium, Serenissimi Magni Hetruriae Ducis Bibliothecarium et Consiliarium, in  : Philosophical Transactions 19, 1697, S.  757–776. Hans Sloane schrieb in den Philosophical Transactions  : «The Skeleton of an Elephant which was dug up in a Sand-pit near Tonna in Thuringen, in 1695, is one of the most curious, and also the most compleat in its Kind […]. But the whole hath been so accurately described by Wilhelmus Ernestus Tentzelius, Historiographer to the Duckes of Saxony, in a Letter to the learned Magliabechi, printed in the Philosophical Transactions, that it is needless to add any thing, the rather, as that Gentleman was pleased to oblige the Royal Society with some of the Grinders, and Part of the dentes exerti  ; all which being produced at a Meeting of the Royal Society, were found exactly agreeble to his Description, and ordered to be carefully preserved in their Repository.” Sloane, Hans  : Of Fossile Teeth and Bones of Elephants, in  : Philosophical Transactions 35 (399)–(406), 1727, S. 509. Der Bericht wurde zudem im Journal des Scavants und in den Acta Eruditorum publiziert. 20 Tentzel, Wilhelm Ernst  : Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten […] Aprilis, Leipzig 1696. Zum Format der Unterredungen siehe Habel, Thomas  : Wilhelm Ernst Tentzel as a Precursor of Learned Journalism in Germany. Monatliche Unterredungen and Curieuse Bibliothec, in  : Holenstein, André/Rogger, Philippe (Hg.)  : Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century, Bd. 2/2, Leiden 2013 (History of science and medicine library), S. 308 f. 21 Vgl. Bausch, Johann Lorenz  : De Unicornu Fossili Ad Normam & formam academiae Naturae-­ Curiosorum Schediasma, Jena 1666. 22 Siehe Tentzel  : Monatliche Unterredungen, 1696, S. 398 f.

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ley Scribenten zu erläutern«23. Tentzel verfolgte eine Evidenzstrategie, welche zum einen auf den in den Kunstkammern vorhandenen Objekten basierte und damit als empirische Verfahrensweise bezeichnet werden kann  ; zum anderen zog er Berichte und Beobachtungen heran, um die Empirie zu unterstützen. Seine Erklärungen beruhten damit auf einer für die Zeit spezifisch vielschichtigen Argumentationsbasis.24 Zudem ist hervorzuheben, dass viele der Akteure der Naturgeschichte die umstrittenen Knochen und Hörner selten zu Gesicht bekamen – vielmehr wurden sie ihnen über eine genaue Beschreibung im Text vor Augen geführt. Die Kompilation wurde zur Sammlung von Beobachtungen und damit gar zur Garantin empirischer Argumentation. Tentzel berief sich auf die Überlieferung und auf die neuesten Editionen und Übersetzungen antiker Werke. Er nannte Reiseberichte, zitierte aus Geschichts- und Tierbüchern. Bibliotheks- und Kunstkammerkataloge bildeten ebenfalls eine wichtige Wissensquelle. Er kannte auch die in den neuesten Ausgaben der gelehrten Zeitschriften publizierten Beobachtungen und Debatten, berücksichtigte die zeitgenössischen Kompilationen und scheute sich nicht, auf die dort erwähnte Literatur zu verweisen oder gar Sekundärzitate zu verwenden. Dabei strebte Tentzel nach einer möglichst umfassenden Collation, nach einer möglichst vollständigen Sammlung von Beobachtungen – ein Anspruch, wie er in der Naturgeschichtsschreibung um 1700 als Kompilation von Objekten und Texten auch über die Kunstkammer hinaus weiterhin vorhanden war. Insbesondere der anatomische Bericht einer durch den irischen Anatomen Allen Mullen (  ?–1690) durchgeführten Elefantensektion, An anatomical account of the elephant accidentally burnt in Dublin on Fryday, June 17 in the year 1681, diente Tentzel als Grundlage seiner Collation.25 Dabei musste er sich, da er die von Mullen beschriebenen Knochen selbst nicht vor sich liegen hatte, mit dessen anatomischen Beschreibungen und Illustrationen begnügen und diese mit seinem eigenen Fund aus Tonna abgleichen. Von den Gebeinen des in Tonna gefundenen Skeletts waren nur wenige Stücke übrig geblieben. Einzelne Teile waren vor Ort zerfallen, noch bevor man diese mit Mullens Bericht hätte abgleichen können  : »Wenn man diese [Mullens] Anatomie bey der Hand gehabt hätte […] / da der Kopff noch gantz in der Sand=Gruben lag / hätte 23 Ebd., S. 309. 24 Vgl. Collet  : Die Welt in der Stube, 2007, S. 196. 25 Siehe Mullen, Allen  : An anatomical account of the elephant accidentally burnt in Dublin on Fryday, June 17 in the year 1681. sent in a letter to Sir Will. Petty, fellow of the Royal Society. together with a relation of new anatomical observations in the eyes of animals, communicated in another letter to the Honourable R. Boyle […], London 1682.

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Abb. 1  : Mullen, Allen  : An anatomical account of the elephant accidentally burnt in Dublin on Fryday, June 17 in the year 1681  : sent in a letter to Sir Will. Petty, fellow of the Royal Society  : together with a relation of new anatomical observations in the eyes of animals, communicated in another letter to the Honourable R. Boyle […], London 1682, Tab. 2.

man freylich eine bessere und vollkommenere Collation anstellen können.«26 Andere Stücke hätten »curieuse Leute« in der Meinung, dass es sich bei dem Fund um die Überreste eines veritablen Einhorns handelte, entwendet  ; von den übrigen Gebeinen sei nicht mehr viel vorhanden.27 Doch Mullens Sektionsbericht  – wenn auch eine der genauesten anatomischen Beschreibungen eines Elefanten zu jener Zeit  – war unvollständig  : Der Elefant, den Mullen seziert hatte, war bei einem Feuer ums Leben gekommen und einzelne Teile waren verbrannt. Mullen hatte die Sektion, wie er schrieb, unter äußerst widrigen Umständen und vor allem unter großem Zeitdruck durchgeführt  : Der halbverbrannte Elefant hatte bewacht werden müssen, da die Bevölkerung offenbar etwas von dem berühmten und wertvollen Tier als eine Art Kuriosität hatte mitnehmen wollen. Aufgrund der dem allmählich verfallenden Kadaver entweichenden Gase und des damit verbundenen unerträglichen Gestanks wollte der Besitzer den Elefanten zudem möglichst bald loswerden.28 26 Tentzel  : Monatliche Unterredungen, 1696, S. 303 f. 27 Siehe ebd., S. 383. 28 Siehe Mullen  : An anatomical account of the elephant, 1682, S. 4–6.

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Abb. 2  : Tentzel, Wilhelm Ernst  : Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten […] Aprilis, Leipzig 1696.

Die fehlenden Teilstücke der zu Tonna gefundenen Gebeine ergänzte Tentzel durch Mullens Beschreibung, schichtete seine verschiedenen Quellen quasi übereinander. Indem er Mullens Bezeichnungen der abgebildeten Schädelteile übernahm und damit seine Illustration mit dessen Beschriftungen überlagerte, akzentuierte Tentzel auch bildlich den Vergleich des Tonnaer Fundes mit Mullens anatomischer Beschreibung. Auf der Grundlage der Tonnaer Knochenfunde nahm Tentzel jedoch auch eine leichte Veränderung der Illustration vor und ergänzte die in Mullens Abbildung fehlenden Stücke der abgebrannten Zähne wiederum mit seinen aus der Betrachtung der Tonnaer Funde gewonnenen Kenntnisse, wodurch die Abbildung letztlich ein Hybrid zweier Schädel darstellte [siehe Abb.  1 und 2].29 Was sich auf den ersten Blick als ein Vergleich zweier Funde zeigt, erweist sich als ein sorgfältiges Abwägen der Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Text und Objekt, zwischen Beschreibung und Beobachtung. Im Gegensatz zum 29 Vgl. Tentzel  : Monatliche Unterredungen, 1696, S. 302 f. und 333 f.

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Collegium kam Tentzel nach dem Vergleich des Tonnaer Fundberichts mit der anatomischen Elefantenbeschreibung Mullens zum Schluss, »daß die ganze Textura Mechanica der Tonnaischen Gebeine auff einen Elephanten ziele«30.

Wie der Elefant nach Deutschland kam

Tentzel war zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich beim Tonnaer Fund um die fossilen Gebeine eines Elefanten handelte. Doch galt es darüber hinaus, die Argumente des Collegiums zu widerlegen. So bedurften Tentzels Erkenntnisse einer Einbettung in übergeordnete Erklärungszusammenhänge und insbesondere einer Antwort auf die noch offen stehende Frage, wie der Elefant nach Tonna gelangt war, war doch Deutschland – wie das Collegium als Argument gegen den Fund eines fossilen Elefantenskeletts angeführt hatte  – wahrlich nicht als Lebensraum von Elefanten bekannt.31 Dies erforderte eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Geschichte und Naturgeschichte fremder Länder sowie der eigenen Umgebung. Tentzel führte in seinen Unterredungen zunächst einen kurzen historischen Abriss verschiedener Berichte und Chroniken an, welche die Durchreise und den Aufenthalt von Elefanten auf deutschem Gebiet erwähnten, und überprüfte diese Historien und Berichte auf Übereinstimmungen mit dem Fundort. Einige hatten geglaubt, dass der Elefant durch römische Kaufleute nach Deutschland gebracht, zu Tonna verstorben und begraben worden sei. Andere wiederum meinten, dass Attila den Elefanten bei seinen Feldzügen an den Fundort gebracht hatte, wogegen jedoch Tentzel hielt, dass »Attilae Zug und Geschäffte in Thüringen sehr ungewiß« seien und in den Historien nicht »das geringste von Elephanten/so er mit sich geführet« erwähnt würde.32 Auch dass es sich um den Elefanten handle, den der persische König Kaiser Karl dem Großen vermacht hatte und der angeblich im Jahr 810 verstorben war, blieb höchst zweifelhaft. So berichteten die Fuldaer Annalen, dass dieser Elefant im Krieg gegen den dänischen König Gudfred in Lippenheim und somit nicht in Tonna zu Tode gekommen war  ; ebenso wenig sei der Aufenthalt Karls des Großen in Thüringen um das Todesjahr des Elefanten bestätigt.33 30 Tentzel  : Monatliche Unterredungen, 1696, S. 343. 31 Siehe Kurtze doch ausführliche Beschreibung, 1696. 32 Tentzel  : Monatliche Unterredungen, 1696, S. 402. 33 Siehe ebd., S. 402 f.

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Doch nicht nur die Historie wusste nichts von einem Elefanten in Tonna zu berichten. Tentzel zweifelte grundsätzlich, dass ein Elefant in jener Größe, wie er in Tonna gefundenen worden war, von Kaufleuten oder Herrschern nach Europa gebracht worden sein könnte, seien doch Elefanten »von solcher Grösse in Africa und Jndien selbst ungemein/und schwerlich heraußzuführen […]«34. Es sei unwahrscheinlich, dass die raren Gebeine und wertvollen Elefantenzähne einfach verscharrt worden waren. Die Knochen lagen zudem sehr tief unter der Erde, während die Sandschichten darüber ordentlich übereinander gelegen hätten, was wohl kaum der Fall gewesen wäre, hätte jemand den Elefanten von Menschenhand vergraben. Die Funde mussten vor weit längerer Zeit als bisher angenommen begraben worden sein – noch vor der Formierung der Erdschichten und bevor die historische Überlieferung einsetzte. Der Blick in die historischen Chroniken vermochte keine Informationen über die Herkunft der Tiere zu liefern  ; einzig die Bibel ermöglichte, Einblicke in die Zeit der Entstehung der Erdgestalt zu geben. So folgerte Tentzel, es bliebe »nichts mehr übrig/als die allgemeine Sündfluth/welche unsern Elephanten so wohl/ als andere seines gleichen und andere Thiere mit fortgeschleppet/der endlich im Sande versuncken/und liegen blieben […]«35 als Argument für den tierischen Ursprung des Fundes in Tonna anzuführen. Die Sintfluttheorie war sowohl in England als auch in Deutschland eine der meist diskutierten Theorien zur Erklärung einer animalischen Herkunft fossiler Funde. Der englische Theologe Thomas Burnet (1635–1715) hatte 1680 in seinem berühmten Werk Telluris Theoria Sacra die Erdgeschichte als einen verschiedenen Veränderungen unterworfenen, zeitlichen Prozess dargelegt. Burnets Thesen dienten vielen Autoren als Ausgangspunkt ihrer wissenschaftlichen Diskussion fossiler Funde und wurden in unterschiedlichsten Abwandlungen kontrovers debattiert.36 Die Sintfluttheorie lieferte eine mögli34 Ebd., S. 402. 35 Ebd., S. 404 f. 36 Vgl. z. B. Woodward, John  : An essay toward a natural history of the earth and terrestrial bodies, London 1695. Während die Fossilien bei Burnet noch keine Rolle gespielt hatten, hatte John Woodward den Fund fossiler Tiere dadurch erklärt, dass diese nach der Sintflut je nach Gewicht in unterschiedliche Schichten der Erde gesunken seien. Johann Jakob Scheuchzer, der mit John Woodwards Theorien bestens vertraut war und seinen Essay 1704 ins Lateinische übersetzte, betrachtete die nachsintflutliche Welt nicht als Trümmerhaufen, sondern als eine den Bedürfnissen der Menschen vollkommen entsprechende Welt, brachte die Positivierung des Weltbildes in die physikotheologischen Debatten ein und verband Leibniz’ Vorstellung einer bestmöglichen Welt als Antwort auf die Theodizee mit den englischen Erdgestaltungstheorien. Vgl. auch Kempe, Michael  : Die Gedächtnisspur der Fossilien. J.  J. Scheuchzers Diluvialtheorie als Theologie der

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che Erklärung, wie die fossilen Gebeine fremder Tierarten nach Deutschland oder England gelangt waren, doch konnte sie die Unterschiede zwischen den fossilen Funden und den rezenten Lebewesen nicht vollständig erklären. In seinem Briefwechsel mit Tentzel hatte sich auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) über den Tonnaer Fund geäußert  : Wenn das Skelett mit einem Halsband aufgefunden worden wäre, aus welchem man hätte ablesen können, das dieses innerhalb der letzten 2000  Jahre vergraben worden war, dann wäre auch er bereit anzuerkennen, dass es sich bei dem Fund um einen gewöhnlichen Landelefanten handelte.37 Leibniz war der Überzeugung, wie er 1696 auch an Thomas Burnet geschrieben hatte, dass der Tonnaer Fund kein Spiel der Natur, keine aus einem Mergelsaft hervorgegangene oder durch einen Erdgeist formierte Mineralie, sondern der Überrest eines Tieres war.38 Doch sei über die vorsintflutliche Welt kaum etwas bekannt, sodass man nichts Sicheres darüber sagen könne, ob das ausgegrabene Tier tatsächlich ein Elefant (»vel Elephantum«) oder lediglich ein elefantenähnliches Tier (»vel analogum Elephanto animal«) gewesen war.39 Den Fund des unbekannten Tieres in Tonna versuchte Leibniz nicht über eine externe Kraft wie die Sintflut zu erklären. Es sei üblich geworden, beklagte er sich, jede größere Veränderung der Natur sogleich der Sintflut zuzuschreiben. Letztlich müsse sich bei solchen Fragen jeder selbst seine Meinung bilden.40 Der erweiterte zeitliche Horizont und das Fehlen der Zeugnisse über die Welt vor der Sintflut ließen auch eine Veränderung der Natur denkbar werden. So zog Leibniz die Möglichkeit in Betracht, dass die Elefanten zu früheren Zeiten in Deutschland ein wärmeres Klima vorgefunden hatten.41 Bereits Burnet hatte die These einer klimatischen Veränderung aufgestellt, da er glaubte, dass sich im Zuge der sintflutlichen Katastrophe die Erdachse verschoben habe. Zwar schien Leibniz durchaus in Betracht zu ziehen, dass es sich beim Tonnaer Fund um einen Elefanten handelte, die Größe der beschriebenen Knochen, Erdgeschichte, in  : Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs, München 2006, S. 199–222. 37 Siehe Leibniz an Tentzel, Hannover 10. (20.) Juli 1696, in  : Leibniz  : Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, Bd. 12, Berlin 1923 (Sämtliche Schriften und Briefe 1), S. 707 f. 38 Siehe Leibniz an Thomas Burnet, Hannover 17. (27.) Juli 1969, in  : Leibniz  : Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, 1923, S. 735. Vgl. auch Smith, Justin E. H.: Divine Machines. Leibniz and the Sciences of Life, Princeton, NJ 2011, S. 256. 39 Leibniz an Tentzel, Hannover 10. (20.) Juli 1696, in  : Leibniz  : Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, 1923, S. 707 f. 40 Siehe Leibniz an Tentzel, Hannover 17. (27.) Juni 1696, in  : ebd., S. 662. 41 Ebd., S. 661.

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welche diejenigen von Elefanten weit zu übertreffen schienen, gab ihm jedoch zu denken. Dahingegen seien zahlreiche Walarten von beträchtlicher Größe bekannt. Aufgrund anderer Funde fossiler Meerestiere im Landesinnern und gar in den Bergen sei davon auszugehen, dass die Erde ursprünglich zu großen Teilen von Wasser bedeckt gewesen war, sodass früher wohl mehr amphibische Wesen existiert haben müssen. So könne es sich bei den in Tonna ausgegrabenen fossilen Gebeinen auch um ein dem heutigen Landelefanten ähnliches Meerestier handeln. 42 Angesichts der großen Umwälzungen in der Erdgestalt schien es für Leibniz schließlich auch möglich, dass sich Veränderungen »an den Elefanten selbst vollzogen« hätten.43 Es sei nicht auszuschließen, dass in früher kalten Gegenden besser angepasste Elefanten existierten und diese in Europa weit verbreitet gewesen waren. Damit stellte Leibniz die Möglichkeit einer weitgehenden Veränderung innerhalb einer Art zur Diskussion, doch setzte er der Artveränderung Grenzen  : Er kritisierte u. a. Theorien, welche davon ausgingen, dass ursprünglich alle Tiere aus dem Wasser gekommen waren und sich erst nach Rückzug des Wassers allmählich an das Land adaptiert hätten. Er behaupte nicht, so schrieb Leibniz an Tentzel, dass einzelne Tierarten ausgestorben seien, obwohl er auch an dieser Theorie nichts Törichtes fände, sondern lediglich, dass diese sich stark verändert haben könnten.44 Zur Debatte stand jedoch nicht nur die Möglichkeit der Artveränderung, sondern auch die Definition einer Art an sich. So wie auch Hunde und Wölfe, Katzen und Tiger jeweils einer Art zugerechnet würden, wäre es denkbar, dass einst ein dem Landelefanten ähnliches, amphibisches Wesen gleicher Art existiert hätte.45 Eine Art definierte Leibniz nicht über die Gestalt der Tiere, sondern über deren Fortbestehen, über eine in der Fortpflanzung von Generation zu Generation weitergegebene Essenz.46 Er ging davon aus, dass sich die Form stark verändern könne, ohne dass die Essenz einer Art angetastet würde  ; 42 Siehe Leibniz an Tentzel, Hannover 8. (18.) Juni 1696, in  : Leibniz  : Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, 1923, S. 639  ; vgl. auch Leibniz an Tentzel, Hannover 3. (13.) August 1696, in  : Leibniz, Gottfried Wilhelm  : Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, Bd. 13, Berlin 1970 (Sämtliche Schriften und Briefe 1), S. 204. 43 Leibniz an Tentzel, Hannover 17. (27.) Juni 1696, in  : Leibniz  : Briefwechsel, 1923, S. 662  ; vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm  : Protogaea, Chicago 2008, S. 65–69. 44 Siehe ebd. Vgl. auch Rossi, Paolo  : The Dark Abyss of Time. The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico, Chicago 1987, S. 62 f. 45 Vgl.: Leibniz an Tentzel, Hannover 3. (13.) August 1696, in  : Leibniz  : Briefwechsel, 1970, S. 204. 46 Zu Leibniz’ Spezies-Begriff siehe Smith  : Divine Machines, 2011, S. 235–311.

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dass auch ein ursprünglich amphibisches Wesen dem heutigen Landelefanten entsprechen könne. Eine in dieser Form verlaufende Veränderung innerhalb einer Art könne beim Wissensstand der Zeit nicht ausgeschlossen werden.47 Die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung von Form und Essenz war Dreh- und Angelpunkt in der Definition einer Art und der Einordnung fossiler Funde in das Tierreich  : Die Zuordnung der Funde zu einer bekannten Tierart scheiterte, wo die Form nicht als wesentliches Merkmal einer Art definiert wurde. Die Definition einer Art stand im Zentrum der Auseinandersetzung um die Einordnung fossiler Funde in die Ordnung der Tierwelt, welche nicht nur die äußeren Merkmale der Objekte in den Blick nahm, sondern die Wesenhaftigkeit einer Tierart berührte.

Schlussbemerkung

Mit den Funden fossiler Überreste waren Fragen über deren Natur, deren Alter und Herkunft aufgetaucht, wie die Korrespondenz zwischen Bernoulli und Scheuchzer zeigt. Als einzelne Objekte besaßen sie wenig Aussagekraft, und so sammelten die Akteure der Naturgeschichte weitere Fundstücke und -berichte, um diese einem Vergleich zu unterziehen. Die fossilen Knochen und Hörner wurden allmählich dem Mineralienreich entzogen und dem Tierreich zugeordnet. So konsultierte Tentzel in seiner Kollation schließlich auch den anatomischen Bericht eines Elefanten und schichtete seine verschiedenen Quellen quasi übereinander. Am Ende kam Tentzel zum Schluss, dass es sich bei dem Fund zu Tonna um einen Elefanten handeln müsse, doch blieb die Frage offen, wie der Elefant nach Deutschland gekommen war. Mit Hilfe der Bibel konnte zum einen erklärt werden, dass die Sintflut die fremden Tiere in die heimischen Gegenden gespült hatte. Zum anderen diente die Bibel als Argument für die Konstanz von Tierarten, welche in der Arche Noah vor ihrem Untergang während der Sintflut bewahrt worden waren. Doch konnte die Bibel letztlich die Unterschiede zwischen den fossilen Funden und den rezenten Lebewesen nicht vollumfänglich erklären, und so wurden auch Veränderungen inner47 Körper und Seele seien vorgebildet und würden sich lediglich allmählich entfalten, wodurch er seine Monadenlehre mit der zeitgenössischen Präformationslehre verband. Vgl. Garber, Daniel  : Leibnizian Hylomorphism, in  : Manning, Gideon (Hg.)  : Matter and Form in Early Modern Science and Philosophy, Leiden/Boston, 2012, S. 225–245. Zu Leibniz’ Konzept der Entfaltung vgl. Deleuze, Gilles  : Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a. M. 1995.

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halb und außerhalb einer Art denkbar. Die frühneuzeitlichen Vorstellungen einer Artveränderung unterschieden sich jedoch, wie bereits Foucault betonte, vom modernen Evolutionsgedanken insofern, als dass sie sich in ›Schichten‹ vollzog. So hätten sich die Vorstellungen einer sich verändernden Natur im Denkrahmen einer allgemeinen Vervollkommnung der göttlichen Schöpfung bewegt.48 Dennoch verweist die Debatte zwischen Tentzel und Leibniz auf die Vielfalt möglicher Erklärungsansätze innerhalb der Auseinandersetzung mit fossilen Knochenfunden. Die frühneuzeitliche Naturgeschichte als eine rein empirische Wissenschaft zu verstehen, verkennt das Wechsel- und Zusammenspiel von Objekten, Texten, Bildern und Theorien. Die Beobachtung am Objekt genügte nicht zur Erklärung der Natur, des Alters und der Natur der Fossilien. Die Naturgeschichtsschreibung um 1700 war damit tiefgründiger und vielschichtiger, als es die Erzählung der wissenschaftlichen Revolution als Erfolgsgeschichte empirischer und mathematischer Wissenschaften suggeriert.

48 Vgl. Foucault, Michel  : Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 193 und S. 197. Vgl. dazu auch Lovejoy, Arthur O.: Die große Kette der Wesen  : Geschichte eines Gedankens, Frankfurt a. M. 1985  ; sowie Lepenies, Wolf  : Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1976.

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Kollaboration in der Botanik des 18. Jahrhunderts Die partizipative Architektur von Linnés System der Natur

1735 erschien die erste, nur wenige Seiten starke Auflage von Carl von Linnés Systema naturæ in Leiden. Elf kontinuierlich ergänzte und korrigierte Ausgaben folgten bis zu seinem Tod im Jahr 1778. Zu seinen Lebzeiten kamen außerdem sechs erweiterte Ausgaben seiner Genera plantarum sowie zwei Ausgaben der Species plantarum auf den Markt. Linnés Projekt einer weltweiten Erfassung, Beschreibung und Klassifikation von Flora, Fauna und Gesteinswelt beruhte auf einem fundamental kollaborativen Arbeitsprozess, dessen Funktionsweise hier in einigen ausgewählten Aspekten diskutiert wird. Infolge des immensen und konstant wachsenden Informationsbedarfs der Botanik bedienten sich Linné und andere Naturhistoriker systematisch der Korrespondenz, um mit Hilfe eines ganzen Arsenals von Techniken Information zu mobilisieren, zu kommunizieren und zu teilen. In einem nächsten Schritt wird dann beschrieben, wie die partizipative Architektur von Linnés systematischen Publikationen das Aggregieren von über die Korrespondenz erworbenen Informationen ermöglichte und zugleich einen spezifischen  – iterativen  – Publikationsprozess antrieb. Linné betrachtete seine Publikationen als vorläufig. Unmittelbar nach dem Erscheinen einer neuen Auflage begann bereits der nächste Überarbeitungszyklus, denn Vollständigkeit war, wenn überhaupt, dann nur durch Kollaboration und Iteration zu erreichen. Der ständig wachsende Informationsbedarf des globalen Linné’schen Erfassungsprojekts generierte eine kontributive Dynamik der Datenbeschaffung, die sich im Medium der Korrespondenz entfaltete. Zunächst wird darzustellen sein, wie Naturhistoriker des 18. Jahrhunderts mit diesem korrespondenzgestützten Informationssystem arbeiteten bzw. wie sie mit Hilfe dieses Systems zusammenarbeiteten. Mehrere in letzter Zeit erschienene Publikationen verweisen auf ein wachsendes Interesse an der Praxis des naturhistorischen Korrespondierens, wobei sich, vor allem im Rahmen der Edition umfangreicher

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Briefwechsel,1 Netzwerke als zentrale Thematik herauskristallisierten.2 Im Folgenden wird Korrespondenz nicht nur unter dem Gesichtspunkt der gelehrten Vernetzung und der Zirkulation von Tauschmaterial zu betrachten sein, sondern darüber hinaus als unverzichtbares Instrument eines akkumulativen Arbeitsprozesses. Ein ganzes Arsenal von Verfahren war im Einsatz, um effizient zu korrespondieren, Zeit zu sparen, Informationsverlust zu vermeiden, Fragen und Antworten zu korrelieren und, von zentraler Bedeutung für den hier zu beschreibenden Wissensbildungsprozess, um gezielt Information von verschiedenen Korrespondenten zu mobilisieren.

Referenzkataloge und Listen

An erster Stelle zu nennen sind diejenigen Techniken, durch die Schreibaufwand ohne Informationsverlust reduziert werden konnte. Dazu gehörte insbesondere der Gebrauch von Referenzkatalogen und Listen. So bezog sich der Botaniker Johann Jakob Dillenius, Professor für Botanik an der Universität Oxford, in seiner Korrespondenz mit dem englischen Botaniker Richard Richardson zur Bezeichnung von beigelegtem Pflanzenmaterial auf zwei Referenzwerke  : auf Herman Boerhaaves Katalog des botanischen Gartens der Universität Leiden aus dem Jahr 17273 und auf den von ihm selbst verfassten Hortus Elthamensis (1732).4 Auf diese Weise mussten nicht mehr botanische Namen, sondern nur mehr Nummern aufgelistet werden, gegebenenfalls er1 Siehe The Linnaean correspondence, an electronic edition prepared by the Swedish Linnaeus Society, Uppsala, and published by the Centre international d’étude du XVIIIe  siècle, Ferney-­ Voltaire, http://linnaeus.c18.net  ; Neil Chambers (Hg.)  : The Scientific Correspondence of Sir Joseph Banks, 6 Bde., London 2007  ; Boschung, Urs u. a. (Hg.)  : Repertorium zu Albert von Hallers Korrespondenz, 1724–1777, 2 Bde., Basel 2002. 2 Dazu in Auswahl Dauser, Regina u. a. (Hg.)  : Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts, Berlin 2008  ; Spary, Emma C.: Botanical Networks Revisited, ebd., S. 47–64  ; Cook, Harold  : Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age, New Haven/London 2007  ; Stuber, Martin/Hächler, Stefan (Hg.)  : Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005  ; Miller, David Philip  : Joseph Banks  : Empire, and »Centers of Calculation” in Late Hanoverian London, in  : Ders./Reill, Hanns Peter (Hg.)  : Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature, Cambridge 1996, S. 21–37. 3 Boerhaave, Herman  : Historia plantarum, quae in horto academico Lugduni Batavorum crescunt, cum earum characteribus et medicinalibus virtutibus, 2 Bde., Leiden 1727. 4 Dillenius, Johann Jacob  : Hortus Elthamensis, London 1732.

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gänzt durch Verweise auf zugehörige Abbildungen. Ein Brief von Dillenius an Richardson aus dem Jahr 1736 beginnt beispielsweise mit der Ankündigung einer Pflanzensendung. Richardson hatte Dillenius offenbar um eine Reihe von Ficoides gebeten, die er mit Hilfe von Boerhaaves Katalog spezifizierte. Dillenius stellte das gewünschte Sortiment zusammen und antwortete, indem er zu jeder Pflanze Seitenzahl und Nummer bei Boerhaave sowie die entsprechende Abbildungsnummer in seinem Hortus Elthamensis anführte  : We have to spare Boerhaave Lugd. Bat. v. 1 289 n. 3, which is Hort. Elth. fig. 272  ; N. 18, is H. E. fig. 265  ; n. 19 is fig. 275, 276  ; n. 21 is fig. 245-247  ; p. 291, n. 2, and 290, n. 1 are fig. 263 and 262 […]. To these I have added H. E. fig. 270, 239, 282, 233, 256, 259, 241 […]. Of Boerhaave’s p. 290, n. 11, 12, and 14, we have but single plants, which will not bear cutting at present, but hope to supply you next year.5

Auf andere Weise kamen Referenzkataloge auch in Dillenius’ Briefwechsel mit Haller zum Einsatz. So fragte Dillenius im Jahr 1741 bei Haller nach, ob dieser eine bestimmte Pflanze aus eigener Anschauung kenne, »Byssus illa 5. Michel. N. G. p. 210« – jene fünfte Byssus in Pietro Antonio Michelis Nova plantarum genera (Florenz 1729) auf Seite 210 – und ob er ihm beschreiben könne, wie ihre Oberfläche aussehe. »Michel. p. 210. tab. 89 f. 2« sei ihm in dieser Frage nicht deutlich genug.6 Auch die Frage nach der Beschaffenheit der Oberflächenstruktur wurde in dem Brief an Haller nicht ausformuliert. Dillenius führte nur die entsprechende Abbildung bei Micheli an und fragte ergänzend  : »glatt (wie bei Micheli) oder mit Knötchen  ?« Der Brief endet mit der Aufforderung, Haller solle ihm eine Liste derjenigen Pflanzen schicken, die er für den botanischen Garten der Universität Göttingen benötige. Was Dillenius davon im botanischen Garten der Universität Oxford habe, werde er ihm gerne schicken. Dafür wünsche er sich im Gegenzug einheimische Pflanzen aus Deutschland, und zwar solche, die nicht in John Rays Synopsis methodica stirpium Britannicarum (3 Bde., London 1690–1724) enthalten seien. Den Aufwand, eine Liste der eigenen Desiderate zu führen, zu aktualisieren und im Bedarfsfall an seine Tauschpartner zu verschicken, reduzierte Dillenius mit Hilfe eines Referenzkatalogs auf ein Minimum.7 5 Brief von Dillenius an Richard Richardson, 5. September 1736, in  : Smith, James Edward (Hg.)  : A Selection of the Correspondence of Linnaeus and Other Naturalists, from the Original Manuscripts, 2 Bde., London 1821, Bd. 2, S. 151 f. 6 Brief von Dillenius an Haller, 29. Oktober 1741, in  : Epistolarum ab eruditis viris ad Alb. Hallerum scriptarum, 6 Bde., Bern 1773–75, Bd. 2, S. 46 f., hier S. 46. 7 Dillenius an Haller, 29. Oktober 1741, in  : ibid., S. 46 f., hier S. 47.

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Eine zweite omnipräsente Technik der Zeitersparnis war neben der Referenz auf Kataloge der Gebrauch von Listen.8 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die Zahl der bekannten und innerhalb des naturhistorischen Informationssystems zirkulierenden Arten signifikant anstieg, kamen vor allem umfangreichere Korrespondenzen kaum mehr ohne diese Strategie aus. Alphabetisch aufgelistet wurde insbesondere das einen Brief begleitende Tauschgut, am häufigsten Samen, Pflanzenteile und getrocknete Pflanzen, aber auch Mineralien und Präparate kleiner Tiere. Derartige Listen konnten, sofern ihre Länge es erlaubte, in den Brief integriert sein, oder sie wurden als separate Dokumente beigelegt. Die in Hinblick auf das Funktionieren und die epistemische Bedeutung des naturhistorischen Informationssystems besonders aufschlussreiche Korrespondenz zwischen Linné und dem primär in Wien tätigen Botaniker Nikolaus von Jacquin ist reich an verschiedenen Einsatzformen des Mediums Liste, auch dieser elementarsten. Bereits einer der ersten Briefe Jacquins an Linné vom 30. April 1760 enthält eine Liste von 28 karibischen Samen, die er erfolgreich im botanischen Garten der Universität Wien ausgesät hatte.9 Im Oktober 1760 folgte eine weitere Liste von 50 Arten, deren Samen er Linné nach Schweden schickte.10 Anfang 1761 dankte Jacquin dann für eine Sendung erhaltener Samen und legte eine Liste seiner weiteren Desiderate bei.11 Dem schnell wachsenden und bald dauerhaft hohen Informationsvolumen entsprechend, das beide Botaniker in den folgenden 16 Jahren austauschten, ist dieser Datentransfer in Form von Listen in den meisten ihrer Briefe anzutreffen. Als die Korrespondenz im Lauf der Zeit zentrale Bedeutung für den Arbeitsprozess beider Botaniker gewann, dienten Listen zunehmend auch der effizienten Strukturierung des epistolaren Meinungsaustauschs. Beispielsweise schickte Jacquin Linné eine durchnummerierte Liste von Pflanzen, zu denen er entweder gezielte Fragen stellte oder die er seinem Briefpartner zur umfassenden Kommentierung vorlegte.12 Für die Beantwortung einer solchen Anfrage ordnete Linné dann seine Beobachtungen und Kommentare der jeweiligen Listennummer zu. Im folgenden Brief von Linné an Jacquin aus dem Jahr 1773  8 Siehe focus section »Listmania«, hg. von Delbourgo, James/Müller-Wille, Staffan, in  : Isis  103 (2012)  ; darin insbesondere Müller-Wille, Staffan/Charmentier, Isabelle  : Lists as Research Tools, S. 743–752.  9 Jacquin an Linné, 30. April 1760, http://linnaeus.c18.net/Letter/L5434, letzter Zugriff  : 15.11.2016. 10 Jacquin an Linné, 20. Oktober 1760, http://linnaeus.c18.net/Letter/L3976, letzter Zugriff  : 15.11.2016. 11 Jacquin an Linné, 20. Januar 1761, http://linnaeus.c18.net/Letter/L2855, letzter Zugriff  : 15.11.2016. 12 Vgl. Jacquin an Linné, 2. Januar 1765, http://linnaeus.c18.net/Letter/L3529, letzter Zugriff  : 15.11. 2016.

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beziehen sich die Nummern auf Illustrationen, die Jacquin Linné mit der Bitte um Bestimmung der abgebildeten Pflanzen zugeschickt hatte  : Tab. 180. Oxalis violacea. 185. Scabiosa rigens 186. Euphorbia canescens. 188. Euphorbia Paralias  ? […] 108. Orchis sambucca mea.13

Fragen und Fehlermeldungen

Vor allem für Botaniker mit umfangreichen Publikationsprojekten war das systematische Stellen und Beantworten von Fragen im Rahmen ihrer Korrespondenz ein weiteres zentrales Verfahren der Informationsbeschaffung. Das mag auf den ersten Blick trivial anmuten, ist es aber nicht. Das konstante Einholen des Urteils von Fachkollegen zur korrekten Identifikation und Klassifikation von Pflanzen ist eine Technik, die sich sichtbar in den Entstehungsprozess großer botanischer Publikationen eingeschrieben hat und damit auf ein grundlegendes Merkmal naturhistorischer Wissensbildung im 18. Jahrhundert verweist  : auf das Akkumulieren und Aggregieren von Beiträgen vieler mit Hilfe des korrespondenzgestützten Informationssystems. Fragen konnten ausformuliert in den laufenden Brieftext integriert werden, als Frage- und Antwortlisten einen unterschiedlich großen Teil des Briefes ausmachen, multimediale Gestalt annehmen oder aber in Form von Fehlermeldungen und Korrekturen erfolgen. Schon im ersten Jahr der Korrespondenz zwischen Linné und Jacquin war der Informationstransfer mit Hilfe der Frage-Antwort-Technik zur Routine geworden, sodass ein Brief Linnés vom November 1759 bereits etwa 50 Fragen enthielt  ; darunter auch Erkundigungen nach einer Pflanze namens Comajandura, die ihn besonders interessierte und zu der er, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellt, auch von anderen Korrespondenten Information eingeholt hatte  – allerdings erfolglos. Die Abbildung in Francisco Hernandez’ Naturgeschichte Mexicos (1649)14 könne er 13 Linné an Jacquin, 25. August 1773, in  : Caroli Linnaei epistolae ad Nicolaum Jacobum Jacquin, ex autographis edidit Car. Nic. Jos. eques a Schreibers, Wien 1841, S. 132. 14 Hernandez, Francisco  : Rerum medicarum Novae Hispaniae thesaurus, seu plantarum, animalium, mineralium Mexicanorum historia ex F. H. […] relationibus, Rom 1649.

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nicht verstehen, sodass er jetzt Jacquin bitte, ihm zu helfen.15 Dieser griff die Frage gleich zu Beginn seines nächsten Briefes auf  : Da er Linné vor kurzem eine getrocknete Blüte geschickt habe, werde er keine Zeichnung beilegen, sondern stattdessen eine detaillierte Beschreibung liefern. Botaniker waren – was zunächst überraschen mag – in der Regel bereit, das, was sie an Material und Information besaßen, anderen zur Verfügung zu stellen. Der so generierte Datenstrom prägte den Charakter botanischer Publikationen, die, je umfangreicher der Erfassungsanspruch eines Projekts, desto mehr den Charakter von Aggregaten annahmen. Aggregate insofern, als aus einem kollaborativen und akkumulierenden Arbeitsprozess Texte hervorgingen, in denen von vielen Personen beigesteuerte Wissens- und Informationsmodule so zusammengesetzt wurden, dass das Endprodukt  – sichtbar  – als Resultat von Kooperation zu erkennen war. Um diese kollaborative Technik des Aggregierens zu verdeutlichen, ist hier auf eine von mehreren in der botanischen Korrespondenz genutzten Informationstechniken näher einzugehen  : die Fehlermeldung. Anhand dieser spezifischen Form des entweder eingeforderten oder auch spontan eintreffenden Feedbacks wird zweierlei deutlich  : erstens, dass in der Botanik taxonomische Präzision oft erst im Verlauf eines längeren, kooperativ funktionierenden Korrekturprozesses erreicht werden konnte, und zweitens, dass das, was publiziert wurde, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit stand. Laufend wurde neues Material bekannt, neue Beobachtungen wurden angestellt und neue Beobachter schalteten sich in die Diskussion ein, sodass das Korrigieren von Beschreibungen, Abbildungen sowie klassifikatorischen Zuordnungen nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine Selbstverständlichkeit darstellte. Botanische Publikationen, vor allem solche von umfassenderem Anspruch, waren daher in der Regel von iterativer Natur, d. h., sie erschienen nicht in einer, als definitiv intendierten Version, wie es das traditionelle Konzept wissenschaftlicher Autorschaft suggeriert, sondern waren von vornherein auf ein wiederholtes Erscheinen in mehreren Auflagen angelegt. Die Wissensbildung der Naturgeschichte bedurfte der konstanten Ergänzung, Berichtigung und Aktualisierung. Da niemand dieses Prinzip so systematisch zu nutzen verstand wie Linné, wird anhand der Neuauflagen seiner systematischen Schriften – des Systema naturæ, der Species plantarum und der Genera plantarum – darzustellen sein, wie er das Aggregieren von Infor15 Vgl. Linné an Jacquin, 22. November 1759, http://linnaeus.c18.net/Letter/L2612, letzter Zugriff  : 15.11.2016.

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mation gestaltete und welche Rolle ihm auf diese Weise im Feld der Naturgeschichte zukam. Naturhistoriker nutzten die Korrespondenz, um einander auf Fehler aufmerksam zu machen, insbesondere dann, wenn sie miteinander auf Augenhöhe verkehrten. Im Oktober 1741 schrieb der deutsche Botaniker Johann Jakob Dillenius aus Oxford an Linné, um ihm die Drucklegung seiner großen Historia muscorum, einer Naturgeschichte der Moose, anzukündigen und um zwei Irrtümer zu korrigieren, die Linné unterlaufen waren  : Micheli’s Blasia is surely a species of Mnium. You seem to me to have mistaken for it some species of a true Lichen. The figure in Micheli, which you reckon excellent, is not without fault.16

Nachdem Dillenius Albrecht von Hallers 1742 erschienene Enumeratio methodica stirpium Helvetiae indigenarum, eine systematische Zusammenstellung von Pflanzen der Schweiz, erhalten hatte, beglückwünschte er ihn zu deren außerordentlicher Qualität, um bereits im nächsten Satz mit einer längeren Liste von Fehlermeldungen und Korrekturen zu beginnen. Beispielsweise  : Du hast Recht, wenn Du zu Hydrocotyle vermerkst, daß es mit C. Bauhins Ranunculus aquaticus umbilicato folio verwechselt worden sei, aber solange Du die Ranunkeln als eine echte Art bezeichnest, irrst Du Dich, wahrscheinlich verführt von Ruppe oder Vaillant. Korrekt wurde Hydrocotyle von Micheli bestimmt.17

Derartige Meldungen bzw. Korrekturen galten nicht als Angriff auf die Kompetenz des Adressaten und wurden in der Regel weder als Herausforderung noch als Beleidigung verstanden, im Gegenteil  : Sie stellten ein für den Wissensbildungsprozess der Naturgeschichte unverzichtbares Verfahren dar, um die angesichts der überwältigenden Menge zu beobachtender und zu interpretierender Details zwangsläufig entstehenden Fehler zu korrigieren bzw. zu reduzieren. Fehler unterliefen, trotz rigoroser Sorgfalt, auch dem geschultesten Auge, insbesondere dann, wenn nicht mit lebenden Exemplaren gearbeitet werden konnte. Selbst Botaniker wie Linné oder Jacquin 16 Brief von Dillenius an Linné, 15. Oktober 1741, in  : Smith  : Selection, Bd. 2, S. 119 f. 17 Brief von Dillenius an Haller, 14. August 1744, in  : Epistolarum […] ad Alb. Hallerum scriptarum, Bd. 2, S. 174–179, S. 176. Übersetzungen aus dem Lateinischen ins Deutsche sind, sofern nicht anders angegeben, meine eigenen.

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mit ihren außerordentlichen Ressourcen gerieten immer wieder in die Situation, eine z. B. zu Vergleichszwecken dringend benötigte Pflanze lebend nicht greifbar zu haben. Herbarexemplare waren die notwendige Alternative, doch das Trocknen und Pressen konnte Details verformen und die exakte Beobachtung erschweren. Wenn weder ein lebendes noch ein getrocknetes Exemplar zur Verfügung stand, musste auf Abbildungen und Beschreibungen in der botanischen Literatur zurückgegriffen werden. Da auf jeder Stufe dieses Prozesses Fehler entstehen konnten und entstanden, die einer allein zu identifizieren und zu korrigieren nicht in der Lage war, etablierte sich die Fehlermeldung als fester Bestandteil der Korrespondenzroutine. Die korrekte Bestimmung einer Pflanze resultierte nicht nur aus einer individuellen Beobachtungsleistung, sondern in beträchtlichem Ausmaß auch aus einer kollektiven. Je mehr Augen sich auf die Merkmale einer noch nicht eindeutig bestimmten Pflanze richteten, umso schneller ließ sich durch das Zusammentragen und Abgleichen von über die Korrespondenz gewonnener Information Gewissheit erreichen. Die akkumulierende und aggregierende Epistemologie der Naturgeschichte beruhte auf der Zusammenführung des Wissens vieler. Fehlermeldungen konnten punktueller Natur sein oder aber sie präsentierten sich als Fehlerbilanzen, in denen ein Korrespondent alles auflistete, was ihm bei der Lektüre einer Publikation aufgefallen war. Der bereits zitierte Brief von Dillenius an Haller aus dem Jahr 1742 fällt in diese Rubrik, und auch in der Korrespondenz zwischen Jacquin und Linné finden sich derartige Stellungnahmen. So fasste, nach dem Erscheinen der zweiten Auflage von Linnés Species plantarum (Stockholm, 2 Bde., 1762/63), Jacquin seinen ersten Gesamteindruck zusammen. Linné habe sich zu sehr beeilt, dementsprechend enthalte das Buch zu viele typographische und inhaltliche Fehler. Er hätte sich besser ein Jahr mehr Zeit nehmen sollen  – ein Vorwurf, der, wie später zu zeigen sein wird, die Spezifik von Linnés Arbeits- und Publikationstechnik verfehlt. Drei Jahre später, im April 1767, schickte Jacquin dann zwei längere Listen mit detaillierten Anmerkungen zu ca. 30 der in den Species plantarum aufgeführten Arten.18 Melittis wachse nicht in den Voralpen Ober- und Nie18 Brief von Jacquin an Linné, 4. April 1767, http://linnaeus.c18.net/Letter/L3903, letzter Zugriff  : 15.11.2016  ; Brief von Jacquin an Linné, 10. April 1767 (Datierung unklar), http://linnaeus.c18. net/Letter/L5437, letzter Zugriff  : 15.11.2016. Im Folgenden beziehe ich mich auf den zweiten der beiden Briefe, der unter der genannten Adresse als Faksimile des zweiseitigen lateinischen Originals abrufbar ist.

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derösterreichs, sondern in den schattigen Wäldern der Donauinseln und sei auch in anderen flachen Lagen weit verbreitet. Die Colutea perennans, die Jacquin in seinem Hortus Vindobonensis19 auf Seite 311 beschrieben habe, sei eine vollständig andere Pflanze als die Colutea herbacea  ; er habe beide mehrmals lebend gesehen und verglichen. Fehlermeldungen, die komplexere Probleme betrafen, waren oft mit eige­ nen Beobachtungen angereichert, die wiederum neue Fragen enthalten konnten. So schrieb Jacquin, er habe viele Blüten der Brownea examiniert und in allen eindeutig zehn Staubgefäße gefunden. Zudem habe er Linné vor einiger Zeit bereits eine getrocknete Blüte geschickt, aus der dieser hätte erkennen können, dass er (Jacquin) Recht habe. Außerdem diskutiert Jacquin einen schweren taxonomischen Fehler Linnés, auf den er, so schreibt er, bereits in einem früheren Brief hingewiesen habe, nämlich auf die Verwechslung zweier auf den karibischen Inseln beheimateter Gattungen, der Avicennia und der Bontia.20 Linné habe den schwerwiegenden Fehler im Appendix zu seinen Genera plantarum zwar angemessen korrigiert, aber jetzt fordere er, Jacquin, Linné dazu auf, die gesamte Gattungsdefinition der Bontia zu überarbeiten. Jacquin ging also offenbar davon aus, dass eine Neuauflage von Linnés Pflanzenverzeichnissen erscheinen und einen korrigierten Eintrag zur Bontia enthalten werde. 1767, in dem Jahr als Jacquin seine oben zitierte Fehlerliste verfasste, waren von Linnés Systema naturæ zwölf, von seinen Genera plantarum sechs und von seinen Species plantarum zwei Auflagen erschienen. In einem nächsten Schritt wird diese iterativ konzipierte Publikationsstrategie mit Linnés Gebrauch des naturhistorischen Informationssystems zu korrelieren sein. Während nahezu jeder Botaniker des 18. Jahrhunderts mit Gleichgesinnten korrespondierte, war es Linné, der das Potential des Mediums Korrespondenz maximal zu instrumentalisieren wusste. Seine Arbeits- und Publikationstechnik beruhte darauf, Informationen von verschiedenen Korrespondenten zu akkumulieren und den daraus entstehenden Ertrag dann, mit namentlicher Nennung des Informanten, in seine Schriften zu integrieren, nicht nur gelegentlich, sondern systematisch und konstant, was dem Arbeitsprozess einen 19 Jacquin, Nikolaus von  : Hortus botanicus Vindobonensis, seu plantarum rariorum quae in horto botanico Vindobonensi coluntur icones coloratae et succinctae descriptiones, 3  Bde., Wien 1770–76. 20 Vgl. Brief von Jacquin an Linné, 4.  Februar 1764, http://linnaeus.c18.net/Letter/L3375, letzter Zugriff  : 15.11.2016.

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kollaborativen und der daraus resultierenden Autorschaft einen kollektiven Charakter verlieh.21 Linné gelang es, sich im und als Zentrum des oben skizzierten kontributiven Wissensbildungsprozesses zu etablieren. Das war angesichts des exponentiellen Wachstums bekannt werdender Arten und des daraus resultierenden Beobachtungsaufwandes die notwendige Voraussetzung dafür, dass seine systematischen Schriften Systema naturæ, Genera plantarum und Species plantarum kontinuierlich fortgeschrieben und aktualisiert werden und damit über Jahrzehnte den Status eines Zentralregisters der Naturgeschichte behaupten konnten. Bereits im Vorwort zur zweiten Auflage der Species plantarum forderte Linné seine Leserschaft dazu auf, ihm Pflanzen zuzuschicken, die darin noch nicht enthalten seien. Er werde sie bestimmen und, mit anerkennender Erwähnung des Senders, in die nächste Auflage aufnehmen. Außerdem appellierte er an sein Publikum als Korrekturinstanz. Diejenigen Pflanzen seien mit einem Kreuz gekennzeichnet, die er nicht ausreichend habe untersuchen können oder von denen er nur ein mangelhaftes Exemplar besitze. Wer könne, solle sie präziser bestimmen.22 Ein ähnlicher Aufruf, der die kollaborative Struktur des naturhistorischen Projekts unterstreicht, ist der sechsten Auflage der Genera plantarum vorangestellt. Auch hier lenkte Linné die Aufmerksamkeit auf diejenigen Schwachstellen, an denen weitere Beobachtungen durch die Leserschaft als Korrektiv erforderlich seien  : Doch habe ich sorgfältig unterschieden. Da, wo ich die Pflanze in der Natur selbst zu untersuchen Gelegenheit gehabt hatte, habe ich ein Sterngen * hinzugesetzt  ; wo ich nur getrocknete Pflanzen haben konnte, stehet ein Kreuz, wo ich nichts gesehen habe, sondern mich auf Schriftsteller verlassen mußte, und auf ihre besten Zeichnungen, stehet kein Zeichen.23 21 In Bezug auf Haller siehe dazu Dietz, Bettina  : Making Natural History. Doing the Enlightenment, in  : Central European History, 43/1 (2010), S.  25–46, S.  34–37  ; Lienhard, Luc  : »La machine botanique«. Zur Entstehung von Hallers Flora der Schweiz, in  : Stuber/Hächler  : Hallers Netz, S.  371–410  ; zu weitreichenden Formen kollaborativer Autorschaft in der Botanik des 18.  Jahrhunderts siehe Dietz, Bettina  : What is a Botanical Author  ? Pehr Osbeck’s Travelogue and the Culture of Collaborative Publishing in Linnaean Botany, in  : Van Damme, Stéphane u. a. (Hg.)  : Nature’s Empire. A Global History of Linnaean Science in the Long Eighteenth-Century (erscheint bei Voltaire Foundation, Oxford University Studies in the Eighteenth Century). 22 Vgl. Linné  : Species plantarum, Vorwort, unpaginiert. 23 Linné, Carl von  : Gattungen der Pflanzen und ihre natürlichen Merkmale nach der Anzahl, Gestalt, Lage und Verhältniß aller Blumentheile, nach der sechsten Auflage übersetzt von Johann Jakob Planer, Gotha 1775, Einleitung, § 20 (unpaginiert).

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Der Leser sollte dort tätig werden, wo der Autor an seine Grenzen gestoßen war, und wurde sogar in die Etablierung der Gattungsdefinitionen involviert, deren Korrektheit für das effiziente Funktionieren der Linné’schen Methode von zentraler Bedeutung war. Diese Definitionen waren das Resultat eines minutiösen Abgleichs aller unter eine Gattung subsummierten Arten, aus dem dann eine Zusammenstellung der diesen Arten gemeinsamen, klassifikatorisch relevanten Merkmale resultierte.24 Ebenfalls im Vorwort zur sechsten Auflage der Genera plantarum definierte Linné diesen Prozess als eine langwierige, nur durch viele Gelehrte zu bewerkstelligende Sequenz von Korrekturen. Da es für einen einzelnen Botaniker unmöglich sei, alle Arten zu Gesicht zu bekommen, müsse die Aufgabe auf viele verteilt werden. Wer auch immer die Gelegenheit habe, mehrere Arten (einer Gattung) vergleichend zu analysieren, solle diejenigen Merkmale, in denen sie nicht alle übereinstimmten, aus der Gattungsdefinition streichen, damit spätere Generationen endlich ein vollständiges Werk erhielten.25 Linnés System der Natur war ein langfristiges, kollaborativ konzipiertes Unternehmen.

Linnés Strategie des iterativen Publizierens

1763, vier Jahre nach dem Erscheinen der zehnten Auflage des Systema, skizzierte Linné in einem Brief an Jacquin seine Publikationspläne für die nähere Zukunft. Er betonte, wie sehr er sich für Jacquins Arbeit interessiere und wie dringend er für die geplante, sechste Auflage seiner Genera plantarum (1764) auf dessen Gattungsmerkmale amerikanischer Pflanzen angewiesen sei. Er werde dieses Projekt in Angriff nehmen, sobald die zweite Auflage der Species plantarum (1762/63) abgeschlossen sei. Danach habe er vor, den zoologischen

24 Zum Stellenwert der Gattungen in Linnés Systematik und zum Verfahren der Etablierung trennscharfer Definitionen siehe Müller-Wille, Staffan  : Botanik und weltweiter Handel  : Zur Begründung eines natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–78), Berlin 1999, S. 67–87. 25 »Da es nicht einem Menschen vergönnt ist, alle Arten mit eigenen Augen zu sehen, muß derjenige, der mehrere zu sehen bekommt und an ihnen differierende Merkmale beobachtet, diese aus dem Definitionen streichen, damit schließlich spätere [Generationen] vollständige Arbeiten erhalten.« (»Cumque non uni detur homini omnes videre Species, debet ille, qui plures videt, notasque in istis differentes observat, has in charactere excludere, ut tandem posteri absolutos videant labores.«)  ; Linné, Carl von  : Genera plantarum […] editio sexta ab auctore reformata et aucta, Stockholm 1764, Vorwort, unpaginiert, § 20.

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und den mineralogischen Teil des Systema ein weiteres Mal zu überarbeiten.26 Kaum war also eine seiner Schriften in Neuauflage erschienen, zeichnete sich schon die Notwendigkeit einer Überarbeitung und Ergänzung ab. Neue Bücher waren in der Zwischenzeit auf den Markt gekommen, aus denen neue Arten und Gattungen exzerpiert, überprüft und an passender Stelle eingearbeitet werden mussten. Von seinen reisenden Schülern und zahllosen Korrespondenten erhielt Linné kontinuierlich getrocknete Pflanzen und Samen, die bestimmt, bzw. erst ausgesät und dann bestimmt werden mussten, bevor auch sie zur Einarbeitung anstanden. Gleichzeitig generierte die Korrespondenz einen anhaltenden Zustrom von Fehlermeldungen und Informationen. Angesichts dieser Situation entwickelte Linné eine Publikationsstrategie, die erlaubte, dem konstanten Aktualisierungsdruck Rechnung zu tragen.27 In einem Brief an Jacquin vom April 1764 findet sich die folgende Schlüsselpassage, in der Linné seinen Ansatz erklärt  : Ich habe Dein Werk mehrmals, so aufmerksam wie möglich, durchgearbeitet, und meine Schriften, wo immer ich konnte, entsprechend verbessert. Fehler […] habe ich nicht übernommen, sondern nur, was der Wissenschaft nützt. Seit einiger Zeit nämlich habe ich an mir selbst gesehen, daß der Mensch sich vergeblich daran abmüht, eine in jeder Hinsicht vollständige Publikation vorzulegen […]. Der einzelne Botaniker soll, ohne Zwang, versuchen, so viel er kann zur Vermehrung des Wissens zusammenzutragen, dann wird die Botanik florieren. Die Bienen sammeln aus den Blüten Honig, die Wespen Gift. Ich lese in und sammle aus den Schriften nur das, was sie mir an Nützlichem zu enthalten scheinen.28

Die herkömmliche Form des Publizierens war für botanische Werke von umfangreichem regionalem, geschweige denn globalem Erfassungsanspruch nicht geeignet. Projekte dieser Größenordnung, vor allem aber Linnés eigene 26 Vgl. Brief von Linné an Jacquin, 28.  Januar 1763, http://linnaeus.c18.net/Letter/L3189, letzter Zugriff  : 15.11.2016. 27 Auch andere Botaniker bedienten sich dieser Strategie, aber keiner im selben Ausmaß wie Linné. Dillenius brachte beispielsweise ein Jahr nach dem Erscheinen seiner Flora der Stadt Gießen eine zweite Version heraus, die um in der Zwischenzeit neu entdeckte Pflanzen erweitert war (Dillenius, Johann Jacob  : Catalogus plantarum circa Gissam sponte nascentium […], Frankfurt 1718  ; Ders.: Catalogus plantarum sponte circa Gissam nascentium. Cum appendice, qua plantae post editum Catalogum, circa & extra Gissam observatae recensentur […], Frankfurt 1719). 28 Vgl. Brief von Linné an Jacquin, 1. April 1764, in  : Caroli Linnaei epistoli ad Nicolaum J. Jacquin, hg. von C. N. J. von Schreibers, Wien 1841, S. 74–76, 74  ; http://linnaeus.c18.net/Letter/L3397, letzter Zugriff  : 15.11.2016.

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Arbeiten, waren weder von einem einzelnen Gelehrten noch in einer einzigen bzw. einmaligen Publikation zu bewältigen. Denn das hätte bedeutet, einen Text, wenn überhaupt, erst nach einem langen Prozess der Korrektur und Erweiterung in einem doch nur kurzlebigen Zustand der Aktualität auf den Markt zu bringen  : spät, selten (im Fall von Neuauflagen) oder schlimmstenfalls nie. Linné wählte einen anderen Weg  : Statt spät und selten, publizierte er früh und oft.29 Trotz seiner hohen Präzisionsstandards sah Linné eine gewisse Menge an Fehlern als unvermeidlich an. Es war in seinen Augen für den Fortschritt der Botanik von primärer Notwendigkeit, dass neu entdeckte Arten und neu definierte Gattungen möglichst bald veröffentlicht wurden, um für die Arbeit anderer Gelehrter zur Verfügung zu stehen.30 Notwendig war darum auch die Bereitschaft, naturhistorische Publikationen selektiv zu lesen, um einerseits nützliche Information aufzugreifen, andererseits um Fehler zu suchen und, gegebenenfalls, Fehlermeldungen an die betreffenden Autoren zu schicken. Linné war beispielsweise außerordentlich an den botanischen und zoologischen Schriften des in Idria, unweit von Ljubljana ansässigen Naturhistorikers Giovanni Antonio Scopoli interessiert, da dieser naturhistorisches Material aus der Region besaß.31 Obwohl er direkten Kontakt zu Scopoli pflegte, versuchte er immer wieder, auch von Jacquin Nachrichten über den Status quo von dessen Arbeit zu erhalten. Jacquin, den dieses anhaltende Interesse an der Produktion eines in seinen Augen wenig bedeutenden Gelehrten irritierte, 29 So veröffentlichten auch Verfasser regionaler und lokaler Floren oft eine erste vorläufige »enumeratio« (Auflistung) oder einen »catalogus«, auf die dann einige Jahre später eine vollständigere Publikation folgte. Siehe z. B. die Abfolge von Publikationen, die Albrecht von Hallers Flora der Schweiz vorbereiteten  : Enumeratio methodica stirpium Helvetiae indigenarum, 2 Bde., Göttingen 1742  ; Ders.: Enumeratio stirpium quae in Helvetia rariores proveniunt, Lausanne 1760  ; Ders  : Historia stirpium indigenarum Helvetiae inchoata, 2  Bde., Bern 1768  ; oder auch Séguier, Jean François  : Catalogus plantarum quae in agro Veronensi reperiuntur, Verona 1745  ; Ders.: Plantae Veronenses seu stirpium quae in agro Veronensi reperiuntur methodica synopsis, 3 Bde., Verona 1745–1754. 30 In diesem Sinne trieb er beispielsweise Jaquin nach dessen Rückkehr aus der Karibik zur Eile an. Vgl. Brief von Linné an Jacquin, 17. März 1760, http://linnaeus.c18.net/Letter/L2696, letzter Zugriff  : 15.11.2016  ; Brief von Linné an Jacquin, 20. März 1768, http://linnaeus.c18.net/Letter/ L4050, letzter Zugriff  : 15.11.2016. 31 Vgl. die 30 Briefe umfassende Korrespondenz zwischen Linné und Scopoli aus den Jahren 1760 bis 1775, http://linnaeus.c18.net/texts. Zu Linnés Lebzeiten erschienen von Scopoli  : Flora Carniolica exhibens plantas Carnioliae indigenas et distributas in classes naturales […], Wien 21760, 2 Bde., Wien 1771/72  ; Entomologia Carniolica, exhibens insecta Carnioliae […] distributa […] methodo Linneana, Wien 1763.

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machte Linné mehrmals auf dessen Fehler aufmerksam sowie auf die Tatsache, dass Scopoli anfänglich nicht mit der Linné’schen Methode gearbeitet hatte. Woraufhin Linné erklärte, dass Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen ihn nicht davon abhielten, das Nützliche und Wissenswerte aus den Publikationen eines Autors aufzugreifen. Dies gelte auch für Scopoli.32 Linné war bereit, sowohl in seinen eigenen Arbeiten als auch in denen anderer (vorläufige) Imperfektionen, zugunsten eines früheren Publikationstermins in Kauf zu nehmen, vorläufig, insofern als nach dem Erscheinen einer Schrift bereits der nächste Überarbeitungszyklus begann, in den alle inzwischen eingetroffenen neuen Materialien, Fehlermeldungen und Korrekturen einfließen konnten. Das Akquirieren von Information mit Hilfe der Korrespondenz – das Einsetzen von Listen und Referenzkatalogen, um zeitsparend und effizient zu kommunizieren, das Stellen gezielter Fragen und vor allem das wechselseitige Korrigieren botanischer Fehler – kam mit der Publikation einer neuen erweiterten Auflagen nicht zum Stillstand. Die akkumulativ-kollaborative Dynamik des botanischen Wissensbildungsprozesses generierte eine diesem Arbeitsmodus entsprechende – iterative – Publikationsstrategie. Vollständigkeit und Korrektheit waren, wenn überhaupt, nur in mehrfachen Zyklen der Ergänzung, Korrektur und Überarbeitung zu erreichen. Linnés Schriften waren »evolvable projects«,33 deren langfristiger Erfolg aus ihrer strukturellen Wachstumsfähigkeit resultierte.

32 Vgl. Brief von Linné an Jacquin, 1. April 1764, http://linnaeus.c18.net/Letter/L3397, letzter Zugriff  : 15.11.2016. 33 Der Begriff stammt von Clay Shirky (In Praise of Evolvable Systems. Why Something as Poorly Designed as the Web Became The Next Big Thing, and What that Means for the Future, 1996  ; http://www.shirky.com/writings/herecomeseverybody/evolve.html, letzter Zugriff  : 23.02.2016.

Staffan Müller-Wille

Verfahrensweisen der Naturgeschichte nach Linné Der Zeitabschnitt in der Geschichte der Naturgeschichte, für den ich die Bezeichnung »klassische« Periode vorschlage, ist markiert durch das Erscheinen zweier Werke, die als Meilensteine der Geschichte dieser Disziplin gelten  : Carl von Linnés zehnter Auflage seines Systema naturæ (Stockholm 1758), ein systematischer Katalog aller zu der Zeit bekannten Mineralien-, Pflanzen- und Tierarten, sowie Charles Darwins On the Origin of Species (London 1859).1 Während des Jahrhunderts, das zwischen diesen beiden Jahreszahlen liegt, nahm die Naturgeschichte eine Form an, die noch heute von Botaniker*innen und Zoolog*innen anerkannt ist – in dem Maße, dass die Werke dieser Zeit für die Forschung immer noch von unmittelbarer Relevanz sind. Zudem war die Periode von bedeutenden institutionellen, gesellschaftlichen und intellektuellen Entwicklungen geprägt  – der Gründung zentraler Institutionen wie dem British Museum oder dem Muséum d’histoire naturelle, der Entstehung neuer professioneller Rollen und eines neuen Fachpublikums für die Naturgeschichte sowie der Ausbreitung von Evolutionstheorien. Doch wie all diese Entwicklungen zusammenhängen, ist noch kaum bekannt, und, die Periode als Ganzes ist wenig erforscht. In diesem Aufsatz möchte ich auf ein Thema eingehen, das in jüngster Zeit in der kulturwissenschaftlichen Erforschung der Wissenschaft und Medizin der Frühen Neuzeit an Prominenz gewonnen hat und auch ein tieferes Verständnis der klassischen Naturgeschichte verspricht  : die Verwendung von auf Tinte und Papier basierenden Medien, um Informationen über geographische, soziopolitische und kulturelle Entfernungen hinweg zu sammeln, zu verarbeiten und zu kommunizieren. Der erste Abschnitt enthält einen Überblick über die Infor1 Meine Periodisierung ist inspiriert durch Drouin, Jean-Marc  : De Linné à Darwin. Les Voyageurs Naturalistes, in  : Serres, Michel (Hg.)  : Éléments d’histoire des sciences, Paris 1989, S. 321–335. Sie überschneidet sich teilweise mit Michel Foucaults âge classique, das sich vom späten 17. Jahrhundert bis etwa 1800 erstreckt  ; vgl. Foucault, Michel  : Les Mots et les choses, Paris 1966, S. 140– 144.

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mationsökonomie der klassischen Naturgeschichte und vertritt die These, dass sie durch eine wachsende Heterogenität naturgeschichtlicher Wissensquellen geprägt war. Im zweiten Abschnitt gehe ich auf zwei von Linné eingeführte informationsverarbeitende Instrumente ein – die binäre Nomenklatur und die sogenannten taxonomischen Rangstufen –, und zeige, wie sie den Diskurs der klassischen Naturgeschichte trotz dieser Heterogenität vereinheitlichten. Der abschließende dritte Abschnitt stellt anhand einiger Beispiele dar, wie diese Instrumente zum Zweck der Archivierung, Katalogisierung und des Informationsaustauschs über Tiere und Pflanzen verwendet wurden. Insgesamt möchte ich darlegen, dass ein Fokus auf die materielle Struktur und die praktische Anwendung von »paper tools« wie Listen, Akten oder Zettelkästen uns viel über die Naturgeschichte und ihre höchst dynamische Forschungskultur verrät.

Die Informationsökonomie der klassischen Naturgeschichte

Im späten 18. und frühen 19.  Jahrhundert erlebte die Naturgeschichte soziale und institutionelle Veränderungen mit sowohl diversifizierenden als auch zentralisierenden Tendenzen. Der steigende Alphabetisierungsgrad und die Verbreitung günstiger Druckerzeugnisse sorgten dafür, dass es einfacher war, neue Erkenntnisse in der Naturgeschichte zu verfolgen, aber auch naturhistorisches Wissen einfließen zu lassen, was zu einer wachsenden Basis von naturforschenden Amateur*innen führte, die eifrig Belegexemplare sammelten und Briefwechsel unterhielten. Dies führte schließlich auch zur Gründung lokaler und regionaler Gesellschaften, die sich der Erforschung der Natur widmeten.2 Gleichzeitig stieg der Bedarf an professionellen Naturforschern, um entsprechende Stellen in staatlichen Behörden, Wirtschaftsunternehmen und Organisationen, die Fernhandel und koloniale Verwaltung betrieben, zu besetzen.3 2 Alberti, Samuel  : Placing Nature. Natural History Collections and Their Owners in Nineteenth-­ Century Provincial England, in  : The British Journal for the History of Science 35 (2002), S. 291– 311  ; Dietz, Bettina  : Making Natural History. Doing the Enlightenment, in  : Central European History  43 (2010), S.  25–46  ; Phillips, Denis  : Acolytes of Nature. Defining Natural Science in Germany, 1770–1850, Chicago 2012. 3 Schiebinger, Londa/Swan, Claudia (Hg.)  : Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia 2005  ; Klein, Ursula/Spary, Emma C. (Hg.)  : Materials and Expertise in Early Modern Europe. Between Market and Laboratory, Chicago 2010  ; Raj, Kapil  : Relocating Modern Science. Circulation and the Construction of Knowledge in South Asia and Europe, 1650–1900, Houndmills 2007.

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Die Partizipation an der »Informationsökonomie« der Naturgeschichte diente somit von da an als wichtiges Sprungbrett für Mitglieder der Mittelschicht sowie für subalterne Akteure, um sich Zutritt zu verschiedenen Berufen und Laufbahnen in den genannten Bereichen zu verschaffen.4 Ein Gegengewicht zu diesen Entwicklungen, die eine wachsende Diversifikation potentieller Quellen für naturgeschichtliche Informationen mit sich brachten, bildete der Aufstieg einer Reihe von neuen zentralen Stellen, an denen diese Informationen gesammelt, verwaltet und verarbeitet wurden. Bis Mitte des 18.  Jahrhunderts fand der Austausch von Belegexemplaren, Briefen und Publikationen im Wesentlichen zwischen Individuen statt. Linné in Schweden, Buffon in Frankreich, Sloane und Banks in England, Boerhaave in den Niederlanden und Haller in der Schweiz bildeten wohl die letzte Generation von Naturforschern, welche die globalen naturgeschichtlichen Informationsflüsse noch persönlich leiteten und kontrollierten.5 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten zentrale Institutionen, die sich dauerhaft etablierten, diese Funktion übernommen, wie etwa der Jardin des Plantes und das Muséum d’histoire naturelle in Paris, die Kew Gardens und das British Museum in London, sowie die Berliner Universität mit ihren neu angelegten Gärten und Sammlungen in Preußen, um nur ein paar zu nennen.6 Die Einzelpersonen, die an diesen Institutionen tätig waren, übten natürlich weiterhin große Macht über die naturgeschichtlichen Informationsflüsse aus  ; herausragende Beispiele sind Georges Cuvier (1769–1832) und Joseph Dalton Hooker (1817–1911).7 Doch zwei wichtige strukturelle Eigenschaften unterschieden die »neuen« Museen

4 Cook, Harold J.: Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age, New Haven (Conn.) 2007  ; Schaffer, Simon u. a. (Hg.)  : The Brokered World  : Go-Betweens and Global Intelligence, 1770–1820, Sagamore Beach (Mass.) 2009. 5 Siehe beispielsweise Miller, David P./Reill, Peter H. (Hg.)  : Visions of Empire. Voyages, Botany, and Representations of Nature, Cambridge 1996, S. 21–37  ; Stuber, Martin u. a. (Hg.)  : Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005. 6 Zu den Kew Gardens siehe Drayton, Richard  : Nature’s Government. Science, Imperial Britain, and the «Improvement” of the World, New Haven (Conn.) 2000  ; zum Muséum d’histoire naturelle siehe Spary, Emma C.: Utopia’s Garden. French Natural History from Old Regime to Revolution, Chicago 2000. Ein Beispiel außerhalb Europas ist dargestellt in Marcaida, José Ramón/ Pimentel, Juan  : Green Treasures and Paper Floras. The Business of Mutis in New Granada (1783–1808), in  : History of Science 52 (2014), S. 277–296. 7 Outram, Dorinda  : Georges Cuvier. Vocation, Science, and Authority in Post-Revolutionary France, Manchester 1984  ; Endersby, Jim  : Imperial Nature. Joseph Hooker and the Practices of Victorian Science, Chicago 2008.

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von ihren frühneuzeitlichen Gegenstücken.8 Erstens stellten sie Sammlungen von Sammlungen dar statt schlicht Sammlungen. Zu Beginn stand meist der Erwerb einer umfangreichen einzelnen Sammlung, die dann durch den Zukauf weiterer Sammlungen oder durch Spezimen, die Naturforscher im Auftrag der Museen weltweit zusammentrugen, erweitert wurden. Das augenfälligste Beispiel für diese Vorgehensweise stellt das Muséum d’histoire naturelle in Paris nach der Französischen Revolution dar, das seinen Bestand durch die Beschlagnahmung aristokratischer Sammlungen  – die Herkunft wurde sorgfältig in einer Kartei notiert – erheblich vergrößerte.9 Zweitens, und damit einhergehend, gewannen die Museen durch spezialisierte Abteilungen mit hierarchisch organisierten Posten für Kuratoren oder »Keeper« und verschiedene Hilfskräfte, welche die Sammlungen verwalteten, eine deutlich klarere Gliederung. So entstand eine neue Generation »professioneller« Naturforscher, die häufig durch die Teilnahme an naturgeschichtlichen Forschungsreisen, während derer sie Belegexemplare für ihre Mäzene oder Institutionen sammelten, sozialisiert wurden, bevor sie später kuratorische Aufgaben in den Sammlungen und Bibliotheken der Metropolen übernahmen.10 Die Wissensnetzwerke der Naturgeschichte waren daher also nicht nur von Erweiterung und Diversifikation geprägt. Gleichzeitig entstanden Institutionen, die zentrale Knotenpunkte innerhalb dieser Netzwerke bildeten und sich der Aufgabe verschrieben, das generierte Wissen in Besitz zu nehmen und zu verwalten. Dieser doppelte Prozess der Diversifikation und Zentralisierung verwandelte die Naturgeschichte in ein zunehmend disparates und spannungsgeladenes Feld, in dem Auseinandersetzungen über fachliche Standards und den sozialen Status von Naturforschern ausgefochten wurden. Das belegen zahlreiche Konflikte, und wie die Komplexität der soeben skizzierten Entwicklungen erwarten lässt, fanden diese nicht nur entlang der einfachen Dichotomie zwischen Zentrum und Peripherie statt. Natürlich eigneten sich imperiale Akteure indigenes Wissen vielfach

  8 Farber, Paul L.: Finding Order in Nature. The Naturalist Tradition from Linnaeus to E. O. Wilson, Baltimore (MD) 2000, S. 22–30  ; Outram, Dorinda  : New Spaces in Natural History, in  : Jardine, Nick u. a. (Hg.)  : Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 249–265.   9 Lacour, Pierre-Yves  : La République naturaliste. Collections d’histoire naturelle et Révolution française. 1789–1804, Paris 2014. 10 Sörlin, Sverker  : Ordering the world for Europe. Science as intelligence and information as seen from the Northern periphery, in  : MacLeod, Roy (Hg.)  : Nature and Empire. Science and the Colonial Enterprise (Osiris Bd. 15), Chicago 2000, S. 51–69.

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rücksichtslos an.11 Doch entsprechende Konflikte gab es auch auf regionaler Ebene zwischen lokalen Naturforschern und Experten in den Metropolen, sowohl innerhalb europäischer Nationen als auch ihrer entstehenden Kolonien,12 und selbst auf der lokalen Ebene einzelner Institutionen und Naturforschergesellschaften.13 Das Konzept der »Informationsökonomie« bleibt bis heute eine suggestive Metapher  ; die methodischen Werkzeuge zur Untersuchung der konkreten ökonomischen Mechanismen, welche die Naturgeschichte während der klassischen Periode stützten und vorantrieben, müssen noch entwickelt werden.14 Das Konzept lenkt die Aufmerksamkeit jedoch auf die Infrastrukturen, die den Informationsaustausch in dieser klassischen Periode ermöglichten.15 Um ein besseres Verständnis dieser Infrastrukturen zu gewährleisten, wendet sich der nächste Abschnitt zwei Innovationen zu, welche die Grundpfeiler der von Linné selbst ausgerufenen »Reform« der Naturgeschichte bildeten  – die Bezeichnung von Tier- und Pflanzenarten mit »Trivialnamen«, bestehend aus dem Namen der Gattung und einem artspezifischen Epitheton (wie in Homo sapiens), sowie die Einordnung nach Varietät, Art, Gattung, Ordnung (oder Familie) und Klasse, den sogenannten taxonomischen Rangstufen nach Linné. Ende des 18. Jahrhunderts waren beide Innovationen allgemein von den Naturforscher*innen übernommen worden. Wie die wenigen existierenden Analysen ihrer Rezeption zeigen, bestand der Reiz der Innovationen im praktischen Nutzen für die Kommunikation der Naturforscher die nach immer mehr Zusammenarbeit und Informationsaustausch strebten.16 11 Cañizares-Esguerra, Jorge  : How to Write the History of the New World. Histories, Epistemologies, and Identities in the Eighteenth-Century Atlantic World, Stanford (Calif.) 2001. 12 Siehe beispielsweise Cowie, Helen  : A Creole in Paris and a Spaniard in Paraguay. Geographies of Natural History in the Hispanic World (1750–1808), in  : Journal of Latin American Geography 10 (2011), S. 175–197  ; Corsi, Pietro  : Models and Analogies for the Reform of Natural History. Features of the French Debate, 1790–1800, in  : Montalenti, Giuseppe/Rossi, Paolo (Hg.)  : Lazzaro Spallanzani e la biologia del Settecento, Florenz 1982, S. 381–396. 13 Siehe beispielsweise McOuat, Gordon R.: Cataloguing Power. Delineating ›Competent Naturalists‹ and the Meaning of Species in the British Museum, in  : British Journal for the History of Science 34 (2001), S. 1–28. 14 Vielversprechende Ansätze diskutieren Güttler, Nils/Heumann, Ina  : Sammeln. Ökonomien wissenschaftlicher Dinge, in: Dies. (Hg.)  : Sammlungsökonomien, Berlin 2016, S. 7–22. 15 Terrall, Mary  : Following Insects around. Tools and Techniques of Eighteenth-Century Natural History, in  : The British Journal for the History of Science 43 (2010), S. 573–588, und Dietz, Bettina  : Mobile Objects. The Space of Shells in Eighteenth-Century France, in  : British Journal for the History of Science 39 (2006), S. 363–382. 16 Stafleu, Frans A.: Linnaeus and the Linnaeans. The Spreading of Their Ideas in Systematic Botany,

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Staffan Müller-Wille

Linnés »paper tools«

Zu den erstaunlichsten Aspekten der klassischen Naturgeschichte gehört der Erfolg, der Linnés taxonomischen Publikationen beschieden war.17 Zur Erklärung dieses auch Linnés Tod überdauernden Publikationserfolgs wird oft die Behauptung herangezogen, dass sein Werk Naturforscher*innen die Mittel an die Hand gegeben habe, unmissverständlich auf bestimmte Pflanzenund Tierarten zu verweisen. Es war jedoch erst die Typusmethode, die gegen Ende der Periode, mit der ich mich in diesem Aufsatz befasse, in die Naturgeschichte eingeführt wurde, welche eine unzweifelhafte Bezugnahme auf Organismenarten in der modernen Taxonomie ermöglichte.18 Linné selbst pries bei der Einführung der binären Nomenklatur und der fünf taxonomischen Rangstufen einen ganz anderen Vorteil an. Die traditionellen oder »legitimen« Bezeichnungen, wie Linné sie nannte, bestanden aus dem Namen der Gattung und einer diagnostischen Phrase, in der die Merkmale formuliert waren, welche die bezeichnete Art von anderen Arten derselben Gattung unterschied. Bei der »trivialen« oder binären Bezeichnung hingegen wird dem Gattungsnamen nur ein freigewähltes Adjektiv hinzugefügt. Damit war der Artname nicht nur kürzer und einfacher wiederzugeben, sondern vor allem auch stabiler, da er keine diagnostische Bedeutung trug und daher nicht jedes Mal geändert werden musste, sobald neue Arten entdeckt wurden.19 In Bezug auf den Vorteil einer »systematischen« Einordnung nach Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät hob Linné einen ähnlichen Unterschied zum traditionellen System hervor, dessen vorrangige Funktion ebenfalls diagnostisch angelegt war. Solche diagnostischen Systeme, auch »Schlüssel« genannt, leiteten Naturforscher*innen bei der Bestimmung bekannter Arten von Organismen, doch sie konnten die »Grenzen« dieser Arten nicht abste1735–1789, Utrecht 1971  ; Headrick, Daniel R.: When Information Came of Age. Technologies of Knowledge in the Age of Reason and Revolution, 1700–1850, Oxford 2000, Kap.  2  ; Cook, Alexandra  : Linnaeus and Chinese Plants. A Test of the Linguistic Imperialism Thesis, in  : Notes and Records of the Royal Society of London 64 (2010), S.121–138. 17 Siehe dazu den Beitrag von Bettina Dietz in diesem Band. Eine umfangreiche Bibliographie zu Linnés Werken findet sich in Soulsby, Basil H.: A Catalogue of the Works of Linnaeus (and Publications More Immediately Relating Thereto) Preserved in the Libraries of the British Museum (Bloomsbury) and the British Museum (Natural History) (South Kensington), London 21933. 18 Witteveen, Joeri  : Suppressing Synonymy with a Homonym. The Emergence of the Nomenclatural Type Concept in Nineteenth Century Natural History, in  : Journal of the History of Biology 49 (2015), S. 135–189. 19 Heller, John L.: Studies in Linnean Method and Nomenclature, Marburg 1983.

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cken.20 Das Wesen der taxonomischen Rangstufen nach Linné war dagegen durch das bestimmt, was sie zu dem Zeitpunkt und später enthielten, nicht durch einen zufälligen Unterschied, den sie im Vergleich mit anderen Taxa aufwiesen. Kurz gesagt  : Die Nomenklatur nach Linné diente schlicht der Indexierung durch Etiketten, während die Rangstufen nach Linné einfach ein Set ineinander verschachtelter Behälter darstellten, »boxes within boxes«.21 Um sich ein besseres Bild davon zu machen, wie sie die Kommunikation unter den Naturforscher*innen verbesserten, ist es hilfreich, sich die Rolle anzuschauen, welche die Bezeichnungen und Taxa nach Linné bei der Erschaffung von »paper tools« – Instrumenten aus Papier und Tinte, handgeschrieben oder gedruckt – spielten, die bei Verfahrensweisen zum Extrahieren, Aufbewahren und Verarbeiten schriftlicher Informationen verwendet wurden, etwa beim Erstellen von Notizen, Listen, Katalogen oder Tabellen.22 Bis ins frühe 18. Jahrhundert hielten Naturkundler*innen ihre Anmerkungen vor allem in Form von Randnotizen und thematisch sortierten »commonplace books«, einer Art Notizbuch, fest, d. h. in Form eines Mediums, das dazu tendierte, Informationen im Zusammenhang mit einem entsprechenden (Kon-)Text zu fixieren.23 Im späten 17. und im 18.  Jahrhundert fand ein Übergang zu flexibleren »paper tools« statt, etwa losen Blättern und Zettelkatalogen, sowie zu komplexeren Techniken, Informationen zu extrahieren, neu anzuordnen und darzustellen, wie Formularen, Tabellen, Diagrammen und Karten.24 20 Müller-Wille, Staffan  : Systems and How Linnaeus Looked at Them in Retrospect, in  : Annals of Science 70 (2014), S. 305–317. 21 Meine Unterscheidung von Etiketten und Behältern (»labels« und »containers«) ist inspiriert von te Heesen, Anke  : Boxes in Nature, in  : Studies in History and Philosophy of Science 33 (2000), S. 381–403  ; Leonelli, Sabina  : Packaging small facts for re-use. Databases in model organism biology, in  : Howlett, Peter/Morgan, Mary S. (Hg.)  : How Well Do Facts Travel  ? The Dissemination of Reliable Knowledge, Cambridge 2010, S. 325–348. 22 Zum Konzept der »paper tools« siehe Klein, Ursula  : Paper Tools in Experimental Cultures, in  : Studies in the History and Philosophy of Science 322 (2001), S. 265–302  ; te Heesen, Anke  : The Notebook. A Paper-Technology, in  : Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.)  : Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge (Mass.) 2005, S. 582–589  ; Bourguet, Marie-Noëlle  : A Portable World. The Notebooks of European Travellers (Eighteenth to Nineteenth Centuries), in  : Intellectual History Review  20 (2010), S.  377–400  ; Hess, Volker/Mendelsohn, J.  Andrew  : Case and Series. Medical Knowledge and Paper Technology, 1600–1900, in  : History of Science 48 (2010), S. 287–314. 23 Blair, Ann  : Too Much to Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven 2010  ; Yeo, Richard  : Notebooks, English Virtuosi, and Early Modern Science, Chicago 2014. 24 te Heesen, Anke  : Accounting for the Natural World. Double-Entry Bookkeeping in the Field, in  :

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Linné durchlebte diesen Übergang selbst und experimentierte während seiner Laufbahn mit einer Vielzahl von Anmerkungs- und Archivierungssystemen, verschiedenen Formen von Listen und Tabellen und gegen Ende seines Lebens mit kleinen Zetteln, die Karteikarten ähneln. In all diesen Medien nahmen seine Taxa einen fest zugewiesenen Raum ein – sei es auf den gedruckten Seiten eines Buches, in handgeschriebenen Listen oder Tabellen, in einem Heft aus gefalteten Blättern oder auf Papier, das in kleine, stets gleich große Stücke geschnitten war  – wo unter dem jeweiligen Namen einer Art, Gattung oder Ordnung Informationen zu denselben gesammelt wurden. Da die Bezeichnungen nur als Mittel zur Indexierung dienten, konnten die so entstandenen Informationspakete frei aus dem Kontext gelöst und an anderer Stelle eingefügt oder sogar umverteilt werden, ohne dass ihre Identität verloren ging, solange die Namen als Etiketten blieben.25 Linné selbst formulierte bereits 1737 eine bemerkenswerte Metapher, welche die Funktion von Gattungsnamen erläuterte  : Der Gattungsname hat auf dem Marktplatz der Botanik denselben Wert, wie die Münze im Gemeinwesen, welche als bestimmter Wert angenommen und  – ohne daß eine Untersuchung durch die Probierkunst für nötig befunden wird – täglich von anderen entgegengenommen wird, sobald sie im Gemeinwesen nur bekannt geworden ist.26

Diese Metapher drückt deutlich aus, dass die Bezeichnungen und Taxa nach Linné ihren Wert nicht aus den Informationen bezogen, die sie mutmaßlich enthielten, sondern daraus, dass sie anderen Naturforscher*innen materielle Mittel an die Hand gaben, Informationen auszutauschen und zu sammeln. Species plantarum, Genera plantarum und Systema naturæ waren als Vorlagen für gemeinsame Anmerkungen und Erläuterungen gedacht, sei es durch das Anlegen einer nummerierten Liste benannter Herbarexemplare, die an einen Korrespondenzpartner geschickt wurden, oder durch die Verwendung einer Schiebinger/Swan (Hg.)  : Colonial Botany, S. 237–251  ; Charmantier, Isabelle/Müller-Wille, Staffan  : Worlds of Paper. An Introduction, in  : Early Science and Medicine 19 (2014), S. 379–397  ; Hess/Mendelsohn  : Case and Series, S. 287–314. 25 Müller-Wille, Staffan/Charmantier, Isabelle  : Natural History and Information Overload. The Case of Linnaeus, in  : Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 43 (2012), S. 4–15. 26 von Linné, Carl  : Critica botanica, Leiden 1737, S. 204. Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, stammen von mir (SMW).

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Abb. 1  : Seite aus Carl von Linnés eigenem, mit Anmerkungen versehenem Exemplar von Species plantarum (Stockholm  : Salvius, 1753).

durchschossenen Ausgabe dieser Werke, um neue Beobachtungen, die sich aus der Lektüre der jüngsten Literatur, aus einem erhaltenen Brief oder aus dem Feld ergaben, aufzunehmen. Linné selbst nutzte Exemplare seiner eigenen Veröffentlichungen zu genau diesem Zweck (Abb. 1). So war er in der Lage, auf der Grundlage der Informationen, die er von Korrespondenzpartnern und reisenden Studenten erhielt, eine Auflage nach der nächsten herauszubringen. Hinweise darauf, dass andere Naturforscher*innen Linnés taxonomische Werke auf die gleiche Weise verwendeten, verdichten sich zunehmend.27

27 Siehe dazu auch den Beitrag von Bettina Dietz im vorliegenden Sammelband. Müller-Wille, Staffan/Scharf, Sara  : Indexing Nature. Carl Linnaeus and His Fact Gathering Strategies, in  : Svenska Linnesällskapets Årsskrift 2011 (2012), S. 31–60  ; Böhme, Katrin/Müller-Wille, Staffan  : »In der Jungfernheide hinterm Pulvermagazin frequens«. Das Handexemplar des Florae Berolinensis Prodromus (1787) von Carl Ludwig Willdenow, in  : NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 21 (2013), S. 93–106.

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Papier-Imperien

Die Tatsache, dass es hauptsächlich die formale Struktur von Linnés taxonomischen Publikationen war, die den Naturforscher*innen von Nutzen war, erklärt einen kuriosen Aspekt der vielen postumen Editionen und Übersetzungen seiner Werke – nämlich dass diese, genau genommen, gar keine Editionen oder Übersetzungen waren, sondern Fortführungen des taxonomischen Projekts, in die neue Beobachtungen aufgenommen wurden.28 Viele der Heraus­geber dieser Werke wiesen explizit auf diesen Umstand hin. So äußerte der niederländische Arzt und Naturforscher Martinus Houttuyn (1720–1798) im Vorwort seiner Natuurlyke Historie (1761–1785), er habe das »System (samenstel)« und die »lateinischen Beinamen (Latynsche bynaamen)« nach Linné übernommen, aber auch Informationen aus Veröffentlichungen von Naturforschern wie ­Georges Buffon (1707–1788) oder Jacob Theodor Klein (1685–1795) eingefügt, deren Werke mit dem von Linné konkurrierten.29 Philipp Ludwig Statius Müller (1725–1776) merkte im Vorwort zu seiner deutschen Fassung des Systema naturæ Ähnliches an und warnte seine Leser*innen gleich im ersten Satz, sie sollten keine Übersetzung erwarten. Danach ging er detailliert auf seine Quellen ein, insbesondere Houttuyns niederländische Ausgabe des Systema naturæ, doch vor allem auch die wachsende Anzahl von naturgeschichtlichen Zeitschriftenartikeln.30 Im Vorwort zu einem Ergänzungsband, der 1776 erschien, bat Müller seine Leser*innen sogar, ihm neue Entdeckungen direkt mitzuteilen und ihm zumindest eine kurze Beschreibung sowie einen Hinweis auf die taxonomische Einordnung der neuen Art zukommen zu lassen.31 Unglücklicherweise starb Müller, bevor dieser Ergänzungsband gedruckt war, doch der Verleger Gabriel Nicolaus Raspe (1712–1785) war, wie er in einer

28 Vgl. Stafleu  : Linnaeus and the Linnaeans, S.  338  ; Dietz, Bettina  : Linnaeus’ Restless System. Translation as Textual Engineering in Eighteenth-Century Botany, Annals of Science, http:// dx.doi.org/10.1080/00033790.2014.929742, letzter Zugriff  : 26.10.2016. 29 Houttuyn, Martinus  : Voorreden, in  : Natuurlyke Historie, of Uitvoerige Beschryving Der Dieren, Planten, En Mineraalen, Volgens Het Samenstel van Den Heer Linnæus, Del 1, Stuk 1, Amsterdam 1761, unpaginiert [S. 9–13]. 30 Müller, Philipp Ludwig Statius  : Vorbericht, in  : Des Ritters Carl von Linné vollständiges Natursystem nach der zwölften lateinischen Ausgabe, und nach Anleitung des holländischen Houttuynischen Werks. Erster Theil. Von den säugenden Thieren, Nürnberg 1773, unpaginiert [S. 1–6]. 31 Müller, Philipp Ludwig Statius  : Vorbericht, in  : Des Ritters Carl von Linné vollständiges Natursystem nach der zwölften lateinischen Ausgabe, und nach Anleitung des holländischen Houttuynischen Werks. Supplements- und Registerband, Nürnberg 1776, unpaginiert [S. 2, 6–8].

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kurzen Notiz erklärte, eifrig bestrebt, das Projekt fortzusetzen.32 Und tatsächlich gab Johann Friedrich Gmelin (1748–1804), Medizinprofessor an der Universität Göttingen, von 1777 bis 1779 vier weitere Bände für Raspe heraus, die sich mit dem Mineralienreich befassten  ; außerdem gaben zwei weitere Naturforscher zwischen 1777 und 1788 13 Bände über Botanik heraus. Dieser kurze Abriss lässt erkennen, dass die posthumen Übersetzungen und Editionen von Linnés Systema naturæ Produkte komplexer, kollektiver und langwieriger Papierarbeit waren, nicht nur, weil sie häufig aufeinander aufbauten, statt direkt auf Linnés eigenen Publikationen zu beruhen, sondern auch, weil ihre Verfasser sich auf eine große Bandbreite zusätzlicher schriftlicher Quellen stützten – andere allgemeine Werken über Naturgeschichte sowie lokale Floren und Faunen, Zeitschriftenartikel und Briefe von Korrespondenzpartner*innen – um die jüngsten Entdeckungen »neuer« Gattungen und Arten aufzunehmen. So erkannte Gmelin im Vorwort seiner eigenen »dreizehnten« Auflage von Linnés Systema naturæ (1788–1793) an, dass er 129 namentlich genannten Naturforschern viel zu verdanken habe.33 Müller hatte eine aufschlussreiche Formulierung für die unermüdlichen Sammleraktivitäten, die hinter solchen Werken standen, geprägt. Im Vorwort seines Ergänzungsbandes betonte er, dass »alle Addenda, Apendices und Mantissae des Ritters von Linné gehörig eingeschaltet worden« seien und dass das gleiche auch für neue Arten gelte, über die andere Naturforscher berichtet hatten.34 Einschalten ist ein Verb, das nach mechanischer oder bürokratischer Arbeit klingt. Es bedeutet schlicht, ein Objekt in eine bereits existierende Reihe anderer Objekte einzufügen.35 Das beschreibt lebhaft, wie leicht es nach Linnés Reform geworden war, Daten zu Pflanzen- und Tierarten zusammenzustellen. Die Bezeichnungen und Taxa nach Linné ermöglichten es sogar Naturforscher*innen, die wie Müller in Erlangen an der Peripherie ansässig waren, auf der Grundlage rein derivativer literarischer Techniken wie Extraktion, Zusammenstellung oder Neuordnung von Namen und den dazugehörigen Beschreibungen ihre eigenen »Papier-Imperien« aufzubauen. Dies ist das Umfeld, in 32 Raspe, Gabriel Nicolaus  : Nachricht des Verlegers, in  : ebd., unpaginiert. 33 Gmelin, Johann Friedrich  : Ratio hujus novae editionis, in  : Caroli a Linné. Systema Naturae per Regna Tria Naturae […]. Editio decima tertia, aucta, reformata, Leipzig 1788, unpaginiert [S. 3f.]. 34 Müller, Philipp Ludwig Statius  : Vorbericht, in  : Des Ritters Carl von Linné vollständiges Natursystem nach der zwölften lateinischen Ausgabe, und nach Anleitung des holländischen Houttuynischen Werks. Supplements- und Registerband, Nürnberg 1776, unpaginiert [S. 2]. 35 Adelung, Johann Christoph  : Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 4 Bde. (Wien 1811), Bd. 1, S. 1735.

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dem sich, wie es scheint, auch die ausgefalleneren »paper tools« ausbreiteten, die Linné entwickelt hatte, etwa seine Karteikarten.36 Um etwas detaillierter zu zeigen, wie die »paper tools« Linnés den Austausch bereicherten und dabei auch die Art und Weise veränderten, wie Naturforscher*innen sowohl ihren eigenen sozialen Status als auch den der gesammelten Naturprodukte wahrnahmen, möchte ich mich einem letzten Beispiel zuwenden. 1768 erhielt der deutsche Naturforscher Johann Reinhold Forster (1729–1798) den Auftrag, einen Band über Insekten für Thomas Pennants (1726–1798) vielbändiges Werk British Zoology zu erstellen.37 Nur zwei Jahre später veröffentlichte er ein kurioses erstes Produkt seiner Arbeit unter dem Titel A Catalogue of British Insects. Es bestand aus einer Liste von gut 1000 binären Namen für Insektenarten, die sowohl über den ganzen Band hinweg als auch innerhalb der jeweiligen Gattung sorgfältig durchnummeriert und nach ebenfalls durchnummerierten Gattungen gegliedert waren, deren Namen als Überschriften über den dazugehörigen Arten prangten (Abb.  2). Der Zweck dieses Katalogs sowie die Bedeutung der Abkürzungen, die neben vielen der Einträge zu finden waren, wurden im Vorwort in knappen Worten erläutert  : The author of this catalogue intends to publish a Fauna of British Insects  ; and as he thinks not to set out upon it, till he can offer to the public a work, as little imperfect as possible, and to give no other descriptions than from ocular inspection  : he presents his most respectful compliments to all ladies and gentlemen who collect insects, and begs them to favour him, if possible, with specimens of such insects, as they can spare, and which he is not possessed of  : for this purpose he has made this catalogue, and put no mark to the insects in his possession  ; those which he has so plentifully as to be enabled to give some of them to other collectors, are marked with a (d)  ; those which he has not, are marked either Berk. signifying Dr. Berkenhout’s Outlines of the Natural History of Great Britain  ; or B. signifying a manuscript catalogue of British Insects communicated to the author  ; or B. B. which signifies Berkenhout, together with the manuscript catalogue. N. S. is put to such insects as have not yet been described by Dr. Linnaeus, and are new species with new specific names.38

36 Charmantier, Isabelle/Müller-Wille, Staffan  : Carl Linnaeus’s Botanical Paper Slips (1767–1773), in  : Intellectual History Review 24 (2014), S. 1–24. 37 Zu Johann Reinhold Forster siehe Mariss, Anne  : »A world of new things«. Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt a. M. 2015. 38 Forster, John [sic] Reinhold  : A Catalogue of British Insects, Warrington 1770, S. 2  ; Hervorhebung wie im Original.

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Abb. 2  : Zwei Seiten aus Johann Reinhold Forsters eigenem, mit Anmerkungen versehenem Exemplar seines Werks A Catalogue of British Insects (Warrington  : William Eyres, 1770). Der gedruckte Text listet unter Verwendung der binären Namen nach Linné Insektengattungen und -arten auf.

So informierte Forsters Katalog die Leser*innen auf einen Blick darüber, wie viele Arten und Gattungen britischer Insekten ihm bekannt waren, welche von ihnen er im Überfluss besaß (das »d« stand wahrscheinlich für »duplicate«, Dublette) und welche ihm noch fehlten.39 Der Katalog war eine Einladung, in den Austausch zu treten, und dieser taktische Schritt war anscheinend von Erfolg gekrönt. Die Staatsbibliothek Berlin besitzt ein durchschossenes Exemplar des Catalogue, in dem Forster sorgfältig Ergänzungen seiner Sammlung notiert hat, entweder indem er die Abkürzungen Berk., B. und B. B. strich und gelegentlich ein d. hinzufügte oder indem er die Namen weiterer Arten auf den Zwischenblättern festhielt, oft gefolgt von einem N.  S. und/oder einem 39 Das Konzept der »Dubletten« scheint in der Naturgeschichte vor Linné nicht bekannt gewesen zu sein  ; siehe Olmi, Giuseppe  : From the Marvellous to the Commonplace. Notes on Natural History Museums (16th–18th Centuries), in  : Mazzolini, Renato G. (Hg.)  : Non-Verbal Communication in Science prior to 1900, Florenz 1993, S. 235–278, hier S. 252–261.

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Abb. 3  : »Tabula genealogico-geographica Affinitatum Plantarum« aus Caroli Linnaei Prælectiones in ordines naturales plantarum, herausgegeben von Paul Dietrich Giseke (Hamburg  : Hoffmann, 1790). Die Kreise stellen »natürliche Ordnungen« oder Pflanzenfamilien dar, ihre Größe ergibt sich aus der Anzahl der darin enthaltenen Gattungen.

d. (Abb.  2). Eine Anmerkung auf dem Vorsatzblatt dieses Exemplars lautet »Aug.  ye  28. 1771. 42 more insects«, und eine Rechnung ganz am Ende des Katalogs führt »43 additional insects« unter den 1004 bereits aufgezählten an, was die stolze neue Summe von 1047 ergibt.40 Forsters Catalogue zeichnet sich durch eine inhaltliche Reduktion auf Artnamen aus, die entsprechend der Rangstufen nach Linné angeordnet sind, und illustriert zugleich, bis zu welchem Grad Naturforscher*innen um ihre Position auf dem »Marktplatz« der Naturgeschichte besorgt waren. Der Catalogue ist ein fast im buchstäblichen Wortsinn buchhalterisches Dokument, er verzeichnet Soll und Haben in Bezug auf Forsters persönliche Sammlung, stellt dabei aber zugleich die Fauna der britischen Insekten unter dem eigen40 Staatsbibliothek Berlin, Abteilung Historische Drucke, Signatur Lt 12373R.

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tümlichen Aspekt der jeweiligen Reichhaltigkeit von Arten bestimmter Gattungen dar. In Hinblick auf letzteres weist Forsters Catalogue eine auffällige strukturelle Ähnlichkeit zu der »genealogisch-geografischen Tafel der Pflanzenaffinitäten (Tabula genealogica-geographica affinitatum plantarum)« auf, die Paul Dietrich Giseke (1741–1796) auf der Grundlage von Notizen erstellte, die er sich während Privatvorlesungen von Linné über das »natürliche System« der Pflanzen machte (Abb. 3). Die Tafel stellt das Pflanzenreich in Form von 58 Kreisen unterschiedlicher Größe dar, die wild über das Blatt verteilt sind und einem Archipel gleichen. Die Größe der Kreise bezieht sich auf die Anzahl der Gattungen, die sie enthalten, und ihre jeweilige Position drückt Beziehungen der »Affinität« aus.41 Das Ziel, das Linné mit seinen Spekulationen über ein »natürliches« Pflanzensystem anstrebte, mag höher angesiedelt gewesen sein als das von Forster und seinem Catalogue, doch für den Geschäftsverkehr mit anderen Pflanzensammlern, den Linné unterhielt, waren sie sicherlich von der gleichen strategischen Bedeutung.42

Fazit

Es soll betont werden, dass die Belege, die ich in diesem Aufsatz über die Verwendung von »paper tools« in der Naturgeschichte angeführt habe, noch sehr dürftig sind und die Grundlage für allgemein gültige Aussagen daher dünn ist. Um zu verstehen, wie genau das naturkundliche Wissen weltweit in Umlauf gebracht, wie es in zentralen Institutionen der Naturgeschichte und den Sammlungen individueller Naturforscher archiviert, aber auch immer wieder abgerufen wurde, sind weitere Untersuchungen notwendig. Ich hoffe aufgezeigt zu haben, dass die Analyse von Instrumenten und Infrastrukturen der »Informationsökonomie« der klassischen Naturgeschichte vielversprechend ist, wenn es darum geht, unser Verständnis dieser entscheidenden Periode in der Geschichte der Lebenswissenschaften zu vertiefen. Es ist bekannt, dass die unregelmäßigen Muster der Artenverteilung, die wir in kleinerem Umfang in Forsters Catalogue und in größerem Ausmaß in Linnés Versuch einer Darstellung der »natürlichen Affinitäten« zwischen Pflanzen hervortreten sahen, ei41 Giseke, Paul Dietrich (Hg.)  : Caroli a Linne […] Prælectiones in Ordines Naturales Plantarum, Hamburg 1792, S. 625. 42 Müller-Wille, Staffan/Charmantier, Isabelle  : Lists as Research Technologies, in  : Isis 103 (2012), S. 743–752.

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nes der wichtigsten Erklärungsziele für Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese war.43 Bei diesen Untersuchungen spielten Tabellen, Grafiken und Landkarten in stetig komplexeren Formaten eine entscheidende Rolle.44 Gleichzeitig nutzten Naturforscher diese Instrumente, um ihre eigenen Aktivitäten und Errungenschaften wie auch die anderer genauestens aufzuzeichnen. So traten sie als angesehene und klar sichtbare Gemeinschaft hervor, deren Merkmal neue professionelle Aufgaben und klar regulierte Methoden waren, die ihnen wiederum Anerkennung verschafften. Die Infrastruktur von »Etiketten« und »Behältnissen«, die durch Linnés »paper tools« erschaffen wurde, begann so, ein Eigenleben zu führen, sowohl als Forschungsobjekt, wo sie Phänomene enthüllte, die ohne sie unentdeckt geblieben wären, als auch als gesellschaftliches Instrument, das Gemeinschaften verband, die sich ansonsten nicht gebildet hätten. Der Drang, alles schriftlich festzuhalten, bildet laut einigen Anthropolog*innen den Kern dessen, was »the West« von »the Rest« unterscheidet.45 Eine Kulturgeschichte der Naturgeschichte, die sich mit diesem Aspekt befasst, hat das Potential zu enthüllen, dass die Naturgeschichte, ihre Methoden und die damit verbundenen Auswirkungen und Erwartungen ein zentrales Element der Moderne bilden, trotz ihres fortwährenden altertümlichen Rufs. Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen.

43 Lefèvre, Wolfgang  : Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt a. M. 22009  ; Winsor, Mary P.: Darwin and Taxonomy, in  : Ruse, Michael (Hg.)  : The Cambridge Encyclopedia of Darwin and Evolutionary Thought, Cambridge (Engl.) 2013, S. 72–79. 44 Sepkoski, David  : Towards ›A Natural History of Data‹. Evolving Practices and Epistemologies of Data in Paleontology, 1800–2000, in  : Journal of the History of Biology 46 (2013), S. 401–444  ; Güttler, Nils  : Das Kosmoskop. Karten und ihre Benutzer in der Pflanzengeographie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2014. 45 Goody, Jack  : The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977.

Julia Breittruck

»perfectibilité d’espèce«  ? Die ›Curieux‹ und die Vögel an der Schwelle zwischen altem und neuem Wissen

Dieser Beitrag untersucht am Beispiel der Singvogelhaltung in Paris in der Frühen Neuzeit das Verhältnis, in das sich die Städter*innen zu diesen Tieren setzten. Wie gezeigt wird, veränderte das Zusammenleben mit den gefiederten Haustieren ihre Deutung von Natur im Lauf der Aufklärung  : Die Kultivierbarkeit der Natur wurde zum Maßstab des Menschlichen.1 Im Anschluss an Michel Foucaults Thesen zu einer Neuordnung von Natur und Mensch im 17. und 18. Jahrhundert haben Wissenschaftshistoriker*innen den Wandel der Deutungen untersucht und Epistemologien beschrieben, die als ›Naturgeschichte‹ bezeichnet werden  : In naturhistorisch-gelehrten Publikationen der Frühen Neuzeit habe sich die Ansicht durchgesetzt, dass Natur taxonomisch messbar und fixierbar, aber auch prozesshaft sei.2 Die historiographische Interpretation, dass es in diesem Zeitraum zu einer epistemischen Trennung von Mensch und Natur gekommen sei, wurde in der Forschung der vergangenen Jahre problematisiert. Historiker*innen haben den Fächer breit geöffnet und den Wandel von Naturverständnis in unterschiedlichen Lebens- und Wissensbereichen der Frühen Neuzeit aufgezeigt.3 Ein Blick auf 1 Der vorliegende Artikel schließt an die Dissertation der Autorin an, vgl. Breittruck, Julia  : Vogel-­ Mensch-Beziehungen. Eine Geschichte der Haustiere und der Pariser Aufklärung. Unveröff. Dissertationsmanuskript, Bielefeld 2014. Für eingehendes Lesen und hilfreiche Anmerkungen zu diesem Beitrag danke ich an dieser Stelle herzlich Anne Mariss und Silke Förschler. 2 Aufgrund der großen Menge an geschichtswissenschaftlichen Publikationen zu diesem Themenfeld seien hier nur sehr kurz genannt  : Foucault, Michel  : Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974 [EA  : 1966]  ; te Heesen, Anke/Spary, Emma C. (Hg.)  : Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2002  ; Daston, Lorraine/Park, Katharine  : Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Berlin u. a. 2002. 3 Vgl. etwa zu Beginn der anhaltenden Forschungsdiskussion  : Thomas, Keith  : Man and the Natural World. Changing Atittudes in England 1500–1800, New York 1983  ; sowie die Aufsätze in Garber, Jörn/Thoma, Heinz (Hg.)  : Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung. Anthro­

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Julia Breittruck

alltägliche Praktiken des Umgangs mit Haustieren soll ein neues Licht auf die Herausbildung einer aufklärerischen städtischen Schicht werfen, da sie den Wandel ihres Verhältnisses zu Natur zu zeigen vermögen. Im Laufe der Frühen Neuzeit erschienen zahlreiche Bücher und Traktate zur Singvogelhaltung. Wurden zwar Vögel in der Forschung als relevant für frühneuzeitliche Kompendien thematisiert,4 bleibt ihre Rolle hinsichtlich des sich wandelnden Selbstverständnisses einer städtischen Bevölkerung doch unbekannt. Für zahlreiche Pariser*innen wurden zwischen dem späten 17. und dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Sammeln und das Halten von Vögeln jedoch ein Element der Selbstdeutung, wie im Folgenden erörtert wird. Vogeltraktate stellten Gebrauchsbücher dar, die in der Tradition der Hausväterliteratur alltägliche Praktiken erläuterten, aber auch zu neuen Verfahrensweisen aufriefen. Der erste Teil des Beitrags geht schlaglichtartig auf den Konflikt um die soziale Deutung von Wissen über Vogelhaltung um 1700 ein. Im zweiten Teil geht es darum, inwiefern Vogeldressur im 18. Jahrhundert zu einer aufklärerischen Selbstdeutung in Relation zum Tier wurde.

Vogelhaltung und die Querelle des Anciens et des Modernes

Bisher wurde die Querelle des Anciens et des Modernes als Debatte begriffen, die vorwiegend in schriftlichen Publikationen stattfand.5 Dieser gelehrte Streit pologie im 18.  Jahrhundert (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung  24), Tübingen 2004. In den vergangenen Jahren wurde die geschichtswissenschaftliche Debatte vor allem angetrieben durch Bruno Latour  : Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995  ; Latour, Bruno  : Reassembling the social. An introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2007. Dass das Dichotomieproblem, zwischen Natur und Kultur zu unterscheiden, weder methodisch noch empirisch gelöst ist, zeigen jüngste Tagungen. Neue Lösungen entstehen insbesondere aus der Fokussierung von Materialität und Darstellungsweisen. Vgl. etwa die dem vorliegendem Band vorausgegangene Tagung Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte, Kassel, 11.06.2015–13.06.2015  ; Animal bodies in science, art and commerce in early modern Europe, Berlin, 11.12.2015–12.12.2015. 4 Vgl. eine umfassende Perspektive in Clouzot, Martine/Beck, Corinne (Hg.)  : Les oiseaux chanteurs. Sciences, pratiques et représentations dans les sociétés et le temps long, Dijon 2014  ; zu Vogelbeobachtung bei Ornithologen siehe Spary, Emma  : Codes der Leidenschaft. Französische Vogelsammlungen als eine Sprache der vornehmen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, in  : te Heesen, Anke/Spary, Emma C. (Hg.)  : Sammeln als Wissen, S. 39–61. Zur Geschichte der Ornithologie vgl.: Stresemann, Erwin  : Die Entwicklung der Ornithologie. Von Aristoteles bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1996. 5 Vgl. unter den zahlreichen Arbeiten, die zur Querelle des Anciens et des Modernes erschie-

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hatte allerdings nicht nur in der staatlich institutionalisierten Pariser Académie française in den 1680er bis 1700er Jahren seinen Ort. Er spielte sich ebenfalls, quer zu sozialen Schichten von Bürgertum und Adel liegend, unter den ›Curieux‹ und am Schauplatz alltäglicher Praktiken des gelehrten Umgangs mit Natur ab. Eine frühe Anmerkung über die sich in Paris verbreitende Vogelhaltung verfasste der Höfling Jean de La Bruyère, seit 1693 Mitglied der Académie, im Jahr 1688. In seinen gesammelten »Bemerkungen« Les Caractères ou les Mœurs de ce siècle mokierte er sich über Vogelhalter*innen. Er führte sie anhand einer typisierten Figur namens ›Diphile‹ vor  : »Diphile commence par un oiseau, et finit par mille  ; sa maison n’en est pas égayée, mais empestée  : la cour, la salle, l’escalier, le vestibule, les chambres, le cabinet, tout est volière.«6 Diphile besitze eine sehr große Zahl an Vögeln, die er in Käfigen halte, und diese sorgten klanglich für einen unbeschreiblichen Lärm (»vacarme«) im Haus, der sich Gästen gegenüber ungesellig auswirke. Der Autor beschreibt die gefiederten Tiere als störende und überflüssige Bewohner des Hauses, neben den anderen Haustieren, den kleinen Hunden. Das Buch  – schon zu Lebzeiten La Bruyères sehr erfolgreich  –, welches Individuen und häufig auftretende Verhaltensformen der gehobenen Pariser und der höfischen Gesellschaft typisierte und karikierte, machte sich über die Praxis der Tierhaltung im Haus lustig. Die Darstellung des Vogelhalters findet sich in dem Kapitel De la mode. Die »Mode« ist die zentrale Kritik des Autors, nämlich als Kollektivbegriff für Verhaltensweisen seiner Zeitge­ noss*in­nen. Sie entsprachen seines Erachtens einer gesellschaftlichen Tendenz, er schätzte sie aber als sozial schädlich ein. Den Vogelhalter*innen warf La Bruyère eine bestimmte Form der Beschäftigung mit Objekten, die ›curiosité‹, vor. Als solche karikierte er den Besitz und die Haltung von Vögeln als eine Praktik unter anderen  : Ähnlich sei sie dem Sammeln von artificialia, wie Büchern, Kupferstichen, Medaillen oder Büsten, und naturalia wie Tulpen, Muscheln, Pflaumen oder Schmetterlingen. Zahlreiche Zeitgenossen La Bruyères erstellten Sammlungen von artificialia und naturalia und betrachteten sich als deren kundige Besitzer. Durch den Austausch untereinander und durch das Lesen entsprechender Literatur entstanden mitunter Wissen sowie nen sind, weiter maßgeblich  : Krauss, Werner/Kortum, Hans (Hg.)  : Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts (Schriftenreihe der Arbeitsgruppe zur Geschichte der deutschen und französischen Aufklärung 7), Berlin 1966. 6 de La Bruyère, Jean  : Les Caractères, Paris 1880 [EA  : 1688], S. 295.

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ein soziales Zusammengehörigkeitsgefühl.7 Für den Zeitraum von 1700 bis 1720 zählt der Historiker Crizstof Pomian in Paris 149 solcher Sammlungen, deren Besitzer (quantitativ in absteigender Reihenfolge) Höflinge, Juristen, Gelehrte, Antiquare, Kleriker, Künstler und Bankiers waren und die als ›Curieux‹ bezeichnet wurden.8 Warum nun konnotierte La Bruyère den Vogelhalter negativ  ? In der Charakterisierung des Vogelhalters wird La Bruyères Kritik an der ›curiosité‹ als Verfahrensweise zur Gewinnung von Wissen deutlich. Was ihn stört ist die Fixierung auf ein bestimmtes Sammelspezimen, die den ›Curieux‹ völlig absorbiere  : So mache die Beschäftigung mit den Kanarienvögeln das völlig einnehmende Glück des Vogelbesitzers aus  : »[C]e n’est plus pour Diphile un agréable amusement, c’est une affaire laborieuse et à laquelle à peine il peut suffire.«9 In dieser ironischen Kritik bildet sich, wie Wolfram Nitsch feststellt, ein Wandel in der Ordnung von Wissen ab.10 La Bruyère kritisierte das ›kuriose‹ Sammeln als Wissenspraktik, das zwar auf Vollständigkeit ausgerichtet sei, aber nicht auf Einordnung in systematische Zusammenhänge. In ihrer Bevorzugung der Ästhetik vor der Systematik seien sich La Bruyère zufolge die genannten Vogelliebhaber und die Sammler anderer Naturobjekte ähnlich  : Der Tulpenliebhaber könne zwar Unterschiede zwischen den Pflanzen erkennen, aber keinen taxonomischen Bezug zwischen den Objekten herstellen.11 Ein Wandel der Wissensbeschreibung zeichnete sich hier in Alltagspraktiken von Sammler*innen ab. Bereits Foucault konstatiert, dass zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert das Denken in Analogien und Ähnlichkeiten durch verstärktes Ordnen in Identitäten und Differenzen abgelöst wurde. Dies drückte sich in Taxonomien und schließlich den Linné’schen binären Nomenklaturen

  7 Die Netzwerke des gelehrten Austauschs etwa zu Naturalien in der Frühen Neuzeit sind hinreichend in der Wissenschaftsgeschichte erforscht. Eine Deutung von Vögeln in Gemälden, die frühneuzeitliche Naturalien- und Kunstkabinette zeigen, vgl. im Speziellen Dittrich, Lothar/ Dittrich, Sigrid  : Affen, Papageien und Hunde in gemalten Kunstkammer-Interieurs, in  : Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 43–44, 2005, S. 135–153.   8 Pomian, Krzysztof  : Collectors and Curiosities. Paris and Venice 1500–1800, Cambridge 1990, S. 124.   9 de La Bruyère, Jean  : Les Caractères, S. 295. 10 Vgl. Nitsch ›Wolfram  : ›L’on ne fait que glaner‹. Sammeln und Schreiben bei La Bruyère, in  : Felfe, Robert/Lozar, Angelika (Hg.)  : Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin 2006, S. 216–232. 11 de La Bruyère 1880, S. 291. Laut Niotsch zeige sich dies an unzusammenhängenden partikularistischen Namensgebungen wie ›l’Agathe‹ oder ›l’Orientale‹, vgl. ebd.

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(Gattungsbegriff gefolgt von Artbegriff) aus.12 La Bruyère kritisierte also eine soziale Gruppe für ihre Verfahrensweisen. Wie La Bruyère bewerteten zahlreiche Mitglieder der Akademie die außerhalb der von ihnen kontrollierbaren gesellschaftlichen Grenzen stattfindende Sammellust als unwissenschaftliche Zeitverschwendung. Die Académie stellte in ihrem Dictionnaire das ›kuriose‹ Interesse an Objekten als lustgetriebene Neugier dar.13 Die Definition des »Curieux« lautete hier  : »Qui a beaucoup d’envie & de soin d’apprendre, de voir, de posseder des choses nouvelles, rares, excellentes &c. […] il est curieux de fleurs, de tulipes. Curieux de nouvelles (etc.).«14 La Bruyère drückte sich in seiner Definition der ›curiosité‹ noch negativer aus  : »[L]a curiosité […] n’est pas un amusement, mais une passion, et souvent si violente, qu’elle ne cède à l’amour et à l’ambition que par la petitesse de son objet.«15 Der kumulativ und partikularistisch denkende Wissenserwerb der ›Curieux‹ war, La Bruyère zufolge, keine ernst zu nehmende Gelehrtheit. Der Kanarienvogel erscheint als eine Art gespiegeltes Zerrbild des Mannes der ›bonne société‹  : als Lebewesen, das per Imitation das Singen lernte. Das Ergebnis war jedoch eher eine Art »Lärm«, ähnlich dem angeführten »vacarme« des Vogelgezwitschers. Weiter erscheint der Vogelhalter nicht nur als unqualifizierter Naturgelehrter, sondern zudem als sozial unverträglicher Sonderling. So beschrieb Diphile weiter  : »[I]l passe les jours, ces jours qui échappent et ne reviennent plus, à verser du grain et à nettoyer des ordures.«16 Als fehlgeleitete Beschäftigung verstand er die regelrechte Erziehung des Vogels, das Unterrichten mit Hilfe einer kleinen Flöte. Diese Beschäftigung trete an die Stelle der Erziehung der eigenen Kinder  : »Il est vrai que ce qu’il dépense d’un côté, il l’épargne de l’autre, car ses enfants sont sans maître et sans éducation.«17 La Bruyère diskreditierte die Gruppe der Curieux somit als gesellschaftlich dysfunktional. Jean de La Bruyère gehörte zum französischen Amtsadel. In den Jahren 1684 bis 1686 lebte und arbeitete er als Hauslehrer des Enkels des Prinzen 12 Vgl. zum gesamten Prozess epistemologischen Wandels  : Foucault 1974. 13 Daston und Park haben bereits auf die Doppelbedeutung der ›curiosité‹ im 17. und 18.  Jahrhundert hingewiesen. Auf der einen Seite entstand die Frage nach der Ordnungsfunktion durch Sammeln, auf der anderen Seite wurde die gelehrte Motivation der Sammler diskutiert. La Bruyères Bemerkungen und das Dictionnaire der Académie schließen an die Curieux-Kritik im Sinne einer passionsgetriebenen Neugier an. Siehe Daston/Park 2002. 14 Curieux‹, in  : Académie française (Hg.)  : Dictionnaire de l’Académie française, Paris4 1762, S. 456. 15 de La Bruyère 1880, S. 291. 16 Ebd., S. 295. 17 Ebd.

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von Condé, Louis III. von Bourbon-Condé und dessen kindlicher Angetrauter Louise-Françoise, Prinzessin von Bourbon, sowie als Hofmann in Versailles, Chantilly und Paris. Seine Schrift Les Caractères ou les Mœurs de ce siècle, eine Sammlung aus mehreren hundert sogenannten »Bemerkungen« und anonymisierten Porträts von Zeitgenossen, waren zu seinen Lebzeiten bereits mit acht Auflagen sehr erfolgreich. Seine Kritik an der Vogelhaltung war Bestandteil eines gelehrten Konflikts. In den zwei letzten Jahrzehnten des 17.  Jahrhunderts debattierten Akademiemitglieder und -anwärter, Höflinge Ludwigs XIV. und andere Autoren in Zeitschriften und Zeitungen um die Hegemonie von künstlerischen und wissenschaftlichen Darstellungsformen und Schwerpunkten. Sie stritten um die Deutungshoheit entweder der ›Anciens‹, tradierter älterer Autoren und Erklärungsmodelle, oder der ›Modernes‹, Vertreter jüngerer und gegenwärtiger Kunst und Wissenschaften. Dabei positionierten sich diejenigen, die zeitgenössische Kunst- und Literaturstile und an Empirie orientierte Formen der Wissensgenerierung vertraten, gegenüber denjenigen, die Überlieferungen zum Vorbild nahmen. Die heftig geführten Diskussionen waren zum einen ein Konflikt um die Gunst des Monarchen als obersten Mäzen der Akademie. Das Gedicht Le siècle de Louis le Grand (1692) von Charles Perrault, Sekretär der Académie française, brachte das Lob des Zeitalters Ludwigs XVI. auf den Punkt  : Die großen Erfindungen, Entdeckungen und Künste fänden unter diesem König in der Gegenwart ihre Verwirklichung – ein Plädoyer für die ›Modernes‹. Die Querelle des Anciens et des Modernes, die in dem Gedicht zum Ausdruck kommt, bildete zum anderen einen frühen Eckpunkt aufklärerischer Überzeugungen linearen Fortschritts  : Denn übertreffen Künste und Wissenschaften der Gegenwart die Vergangenheit, so lässt sich ein solcher Prozess für die Zukunft projektieren und ein teleologischer Fortschrittsprozess entwerfen. Der Kanarienvogel und sein Halter erschienen bei La Bruyère als Wesen, die akkumulierten und repetierten  ; die Schaffung von etwas Neuem misslang ihnen. La Bruyère kritisierte also den Versuch der Curieux, zum einen tradierte und etablierte, zum anderen auch neue empirische Verfahrensweisen anzuwenden  : Sie scheiterten ihm zufolge sowohl als ›Anciens‹ als auch als ›Modernes‹. Hier zeigen sich die Spannungen um die Deutung der möglichen naturgeschichtlichen Verfahrensweisen im späten 17. Jahrhundert, bei denen der Singvogel noch für veraltete Verfahrensweisen des Sammelns stand. Die häusliche Singvogelhaltung wandelte sich, als die Dressur von Vögeln in der Pariser Bevölkerung seit etwa 1700 breitere soziale Akzeptanz erfuhr. Trotz des gelehrten Widerstands verbreiteten sich Bücher und Knowhow zum

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Umgang mit Singvögeln über das 18. Jahrhundert hinweg. Wenige Jahre nach La Bruyères Persiflage erschien in Paris das erste ausführliche Traktat mit einer Anleitung zur Kanarienvogelhaltung und -dressur, Jean Claude Hervieux de Chanteloups Nouveau Traité des Serins de Canarie (1709). Für das Traktat gab es zwar einige Vorgänger und Vorbilder, doch erst Hervieux de Chanteloup legte ausführlich alte und neue Techniken der Dressur für eine breitere lesende Öffentlichkeit dar. Er versah sein Buch mit Wissen, das er angab, selbst erprobt zu haben, mit aktuellen Bezügen auf Händler und Artefakte und beschrieb ein breites Spektrum an Haltungsmethoden und möglichen Fehlern. Für eine große Resonanz und Nachfrage nach seinem Traité sprechen eine hohe Auflagenzahl des Buches und zahlreiche Referenzen in anderen Werken.18 In dem Traktat adressierte Hervieux ebenfalls die ›Curieux‹ als Leser und Vogelhalter. Mit Hilfe lateinischer Zitate ordnete er die Kanarienvögel zunächst in ein Konzept ein, das Anleihen bei der Antike nahm. In dem Traité griff er auf Virgil zurück, indem er am Schluss seines Traktats ein Zitat aus dessen Werk Georgica anfügte  : »In tenui labor, at tenuis non gloria.«19 Mit Hilfe Virgils, einem Vorbild barocker Hirtendichtung aus dem ersten Jahrhundert vor Christus, konnotierte Hervieux die Vogelhaltung mit bukolischen Idyllen, im 17. und frühen 18. Jahrhundert populären literarischen und ikonographischen Vorstellungswelten. Des Weiteren enthob er durch diese Poetisierung die Vogelhaltung dem Vorwurf der ›Kleinheit‹, den es auch hinsichtlich gelehrten Interesses an Insekten gab und den La Bruyère den Vögeln gegenüber geäußert hatte. Hervieux eröffnete Vogelliebhaber*innen die Möglichkeit, ihre Beschäftigung als gesellschaftlich akzeptiert zu betrachten. Auch schloss der Autor mit diesem antiken Zitat an die ›Anciens‹ an. Dennoch positionierte Hervieux seinen Ratgeber zugleich als ›modern‹  : Er hob die empirische Qualität seiner Beobachtungen hervor, indem er in seinem Traktat immer wieder Praktiken korrigierte, die er für falsch überliefert hielt, oder empfahl gar Buchführung über die Vogelbeobachtung.20 18 Zu den Dokumenten der Vogelhändlergilde vgl. Robbins, Louise E.: Elephant Slaves and Pampered Parrots. Exotic Animals in Eighteenth-Century Paris, (Animals, History, Culture 1), Baltimore/London 2002  ; zur These der Verbreitung der Vogelhaltung vgl. Breittruck, Julia  : Vogel-­ Mensch-Beziehungen. Eine Geschichte der Haustiere und der Pariser Aufklärung. Unveröff. Dissertationsmanuskript, Bielefeld 2014. 19 Im 18. Jahrhundert erschienen zwölf Auflagen in Frankreich sowie zahlreiche Übersetzungen im Ausland. 20 »Schmal ist das Thema, aber nicht der Ruhm [sich damit zu beschäftigen  ; JB]«. Hervieux de Chanteloup, Jean-Claude  : Nouveau Traité des Serins de Canarie. Contenant la manière de les

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Die Vogeldressur, vernehmlich das Antrainieren von Melodien, wurde zunehmend populär. Züchter und Händler brachten Singvögeln oft schon vor dem Verkauf selbst Melodien bei oder setzten ihnen eine schön singende Nachtigall vor, der die anderen nachpfiffen.21 So wiesen die Tiere beim Kauf bereits ein musikalisches Repertoire auf, das sie für Kundenkreise interessant machte, die selbst die Dressur nicht durchführen wollten. Einerseits fand dadurch eine Kommodifizierung der Singvögel statt. Andererseits weist die musikalische Dressur auf eine zunehmende und sich gesellschaftlich verbreitende Bereitschaft hin, die Fähigkeiten der lebendigen Tiere auszuloten und Verfahrensweisen des Umgangs mit ihnen zu erproben. Seit dem frühen 18.  Jahrhundert finden sich in England und in Frankreich gedruckte Noten, die für unterschiedliche Vogelarten und Tonhöhen gesetzt waren  : Mit ihnen konnten die Vogelbesitzer*innen ebenfalls zuhause selbst dressierend tätig werden. Der Bird Fancier’s delight, or choice observations and directions concerning the teaching of all sorts of singing birds after the flagelet and flute […] (London 1714) versammelte auf vier Seiten Instruktionen, wie das Flageolet nach Noten zu spielen war.22 Es waren 42 jeweils etwa zweizeilige Melodien in unterschiedlichen Tonlagen für elf verschiedene Vogelarten gesetzt.23 Sowohl musikalische Kenntnisse wie auch Wissen um die naturgegebenen Möglichkeiten der Singvögel waren für die Dressur notwendig  : So erläuterte Hervieux, welcher zeitliche und quantitative Umfang – nämlich etwa 30 Minuten und nur eine Melodie zu einer Zeit – für das Merkvermögen der Vögel möglich sei.24 Es lässt sich schlussfolgern, dass eine soziale Veränderung in der Deutung des Umgangs mit diesen Tieren stattfand. Noch in den 1680er und 1690er Jahren wurde die Aufgabe des Vorflötens delegiert  : So erwähnte La Bruyère einen Bediensteten, der vorflötend tätig sei. Der Druck von Noten für die Dressur seit dem frühen 18. Jahrhundert lässt hingegen annehmen, dass gebildete Beelever, les apparier pour en avoir des belles races  ; avec des remarques aussi curieuses que necessaires sur les signes et causes de leurs Maladies, & les Secrets pour les guerir. Dedié à son Altesse Serenissime Madame La Princesse. Par Mr Hervieux, Paris 1709, S. 326. 21 Hervieux 1709, S. 321. 22 Der Nouveau Traité des Serins de Canarie in der Auflage von 1745 etwa gab die Adresse eines Geige spielenden Händlers an  : de Hervieux Chanteloup, Jean-Claude  : Nouveau traité des serins de canarie […], Paris 1745, S. 367. 23 Anonym  : The bird fancier’s delight, or choice observations and directions concerning the teaching of all sorts of singing birds after the flagelet and flute when rightly made as to size and tone, with leßons properly compos’d within the compaß and faculty of each bird, for the canary bird, linnet, bull-finch, wood-lark, blackbird, throustill, nightingale and starling, London 1714. 24 In den Jahren 1728, 1735 und 1740 erschienen weitere Auflagen des Bird fancier’s delight.

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völkerungsteile, die des Notenlesens mächtig waren, diese Tätigkeit übernahmen  : Der Vogel wurde als lebendig-interaktives Gegenüber behandelt. Aus den Beschreibungen Hervieux’ zur Singvogeldressur mit der Flöte ist erkennbar, dass Frauen, aber auch Männer (›Curieux‹) selbst zur Flöte griffen, um den Tieren vorzuspielen.25 Das Halten von Singvögeln, so lässt sich zusammenfassen, breitete sich im frühen 18. Jahrhundert in Paris aus und erfuhr eine Formalisierung, insofern als Standards der Beobachtung und des Umgangs entworfen wurden. Diese Versuche der Messung und empirischen Erfassung von Natur in Alltagspraktiken führten im späten 18. Jahrhundert zu Debatten, wo die Grenze zwischen Menschlichem und Tierischem verlief.

Die ontologische Deutung des Gesangs – aufklärerische Grenzziehungen zwischen Mensch und Vogel

Ob bestimmte Vögel formbar waren und inwieweit diese Eigenschaft sie zu einem Spiegel der Menschlichkeit machte, wurde angesichts der alltäglichen Praktiken der Vogelhaltung im 18. Jahrhundert öffentlich debattiert. Die ständige Aktualität dieses Themas über mehr als 100  Jahre hinweg hing mit der Popularität der Singvogelhaltung in der Pariser Bevölkerung sowie mit der Herausbildung einer ständeübergreifenden städtischen und sich als aufklärerisch begreifenden Schicht zusammen. Inwieweit das Thema eine Rolle spielte, zeigt sich etwa in einem Leserbrief in der Wochenzeitung Journal de Paris. Hier stellte ein Leser mit Namen Bailleux im Dezember des Jahres 1785 die Frage zur Diskussion, warum Singvögel, beispielsweise Kanarienvögel oder Papageien, wenn sie Lieder lernten, nach einer Pause immer wieder die gleiche Tonhöhe träfen, während Menschen die Hilfe eines Instruments bräuchten. Zwei Monate später erschien eine Antwort eines anderen, anonymen Lesers. Er entgegnete Bailleux, letzterer habe sich getäuscht. Denn er selbst sei in eine Manufaktur gefahren, in der Serinetten – kleine Handorgeln zur Vogeldressur – hergestellt wurden. Dort habe er erfahren, dass Vögel sich exakt und immer der Tonhöhe und -lage derjenigen Serinette anpassten, die sie gerade hörten.26 Hier wurde debattiert, ob Vögel Töne memorierten und eigenständig wiedergeben konnten oder ob sie lediglich zur 25 Hervieux 1709, S. 100 f. 26 Vgl. Hervieux 1709, S. 93 f.

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Nachahmung fähig waren. Eine naturgegebene Musikalität sprachen beide Leser dem Menschen ab, während sie sie beim Vogel als selbstverständlich annahmen. Vielmehr stellte sich bei dem Tier die Frage, ob es zur eigenständigen Interpretation einer Melodie fähig war und damit kultivierbar. Einmal als Verfahrensweise etabliert, wurde die Vogeldressur im 18.  Jahrhundert zu einer Form der praktischen Erprobung von Kultivierung. Vogelbesitzer*innen testeten, inwieweit Erziehung als Form von Weiterentwicklung bei diesen Lebewesen angesichts des Zusammenlebens mit den Menschen möglich war. Dabei spielte die Tierlichkeit insofern eine Rolle, als dadurch ein Naturzustand entworfen werden konnte, dessen Grad der Kultivierbarkeit eben im Fokus stand. Die Definition des Naturzustandes wandelte sich bekanntermaßen in den Diskursen der Aufklärung und stellte ein entscheidendes Thema philosophischer, juristischer und politischer Überlegungen dar. Es verbreitete sich die Auffassung, die Richtigkeit von Handlungen in zahlreichen Zusammenhängen könne an der Definition eines Naturzustandes ausgerichtet werden. War der Naturzustand bisweilen einerseits mit einem Ursprungsmythos verknüpft und wurde als Norm gedeutet, so wurde er andererseits auch als Notwendigkeit verstanden, Individuen oder Kollektive, die sich in einem imaginierten Naturzustand befanden, einer perfektionierenden Kultivierung zuzuführen, wie etwa Bewohner*innen von Kolonien. Der Wandel der Deutung von Vögeln hin zu lebendigen, in Sprechen und Gesang dressierbaren Wesen führte zu im eigenen Haus praktizierten Tests der Möglichkeiten von Perfektionierung durch Erziehung. Neben den Alltagspraktiken wurde in gelehrten Debatten erörtert, inwieweit die Entwicklung von Sprache und Gesang generell für die Definition des Naturzustandes aussagekräftig sei. Eine Notwendigkeit der Perfektionierung von Menschen erklärte Georges-Louis Leclerc de Buffon mit Hilfe einer Unterscheidung der Kultivierbarkeit von Tieren und Menschen. Der schon zeitlebens berühmte Naturhistoriker und Gelehrte strukturierte in seinem einflussreichen enzyklopädischen Werk Histoire naturelle (1749–1789) die Tierwelt anthropozentrisch  ; kulturelle und gesellschaftliche Wertmaßstäbe bestimmen seine Beschreibungen der Tierwelt. Besonders wichtig schien ihm dabei, abzuwägen, in welchem Maß welche Tiere an die menschliche Kultur anpassbar seien. In Artikeln zu singenden und sprechenden Vögeln stellte er fest, gebe es kultivierbare Vögel und solche, die den Schritt in die menschliche Kultur aufgrund ihrer natürlichen Konstitution niemals schafften. Während sowohl Kanarienvögel und Nachtigallen als auch Buchfinken das Singen lernten, könnten etwa Letztere keine menschliche Musik nachahmen. Der Buchfink »se rend

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propre le chant du rossignol & du serin, mais il n’apprend point à siffler les airs de notre musique […] On l’aveugle pour le faire mieux chanter«.27 Zwar war der Buchfink bei Buffon körperlich anpassbar, indem man seine Augen blendete und ihn dazu zum Singen anspornte, aber dieser Vogel wurde nicht Teil der Kultur. In dem Band Histoire naturelle des oiseaux von 1779 verortete er hingegen den zähmbaren Kanarienvogel im Vergleich zur »wilden« Nachtigall in der menschlichen Kultur, denn dieser participe à nos arts  ; […]. Son education […] est aussi plus heureuse  : on l’eleve avec plaisir, parce qu’on l’instruit avec succes  ; il quitte la melodie de son chant pour se preter a l’harmonie de nos voix et de nos instruments  ; il applaudit, il accompagne, et nous rend au-dela de ce qu’on peut lui donner.28

Die Antwort, inwiefern sich die Entwicklungsmöglichkeiten von Mensch und Tier unterschieden, ergab sich für Buffon aus den Abwägungen zur Sprechfähigkeit von Papageien. Während bei den Tieren stets nur einzelne Exemplare dressiert werden könnten, sei der Mensch als ganze Art perfektionierbar (»perfectibilité d’espèce«).29 Durch diese Unterscheidung vom Papagei bestätigte er die in der Aufklärung als notwendig erachtete zivilisatorische Mission zur Erziehung des Menschen als Art. Auch Jean-Jacques Rousseau sah in der Fähigkeit zu Sprache und zu Gesang eine Naturkonstante. Allerdings, so der viel gelesene Philosoph, entwickelten Menschen ihr Sprechen kulturell weiter, während tierisches Sprechen keine Entwicklung durchmache  : »[L]’homme fait des progrès soit en bien soit en mal, […] les animaux n’en font point.«30

Fazit

Im ausgehenden 17.  Jahrhundert lässt sich der Besitz von Singvögeln noch in sozialen und kulturellen Deutungszusammenhängen mit den Kuriositäten, den Naturalia und den Artificialia der frühneuzeitlichen Kunst- und Naturali27 Leclerc de Buffon, Georges-Louis  : Histoire naturelle et particulière  : Oiseaux, Bd. 19, Paris 1778, S. 115 f. 28 Ebd., Bd. 21, Paris 1779, S. 218. 29 Ebd. Buffon, Paris 1779, S. 67. 30 Rousseau, Jean-Jacques  : Essai sur l’origine des langues. Où il est parlé de la Mélodie et de l’Imitation musicale, Genua 1781 [1755  ; posthum], S. 9.

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enkammern verorten. Stand der Besitz des Kanarienvogels um 1700 noch für assoziierendes Sammeln und wurde hierfür als veraltet kritisiert, so wurden später über seine Dressur Natur-Kultur- und Tier-Mensch-Grenzen verhandelt. Am Besitz des Singvogels können derart veränderte Priorisierungen in den Verfahrensweisen der Naturgeschichte abgelesen werden. Mit der Herausbildung einer städtischen Schicht, die sich für das Halten und Dressieren von Singvögeln begeisterte, rückten ihre Lebendigkeit und ihre Dressierbarkeit in den Fokus des Interesses. In alltäglichen Praktiken des Umgangs mit diesen Tieren interpretierten die zunehmend selbstbewusst werdenden Städter*innen die Vögel zunächst als formbare Natur. Zudem deuteten sie sie als Gradmesser menschlicher Fähigkeiten des Lernens und der Kultivierung. Ähnlich wie über andere Praktiken von Gelehrtheit wie etwa über das Mikroskopieren oder über das Sammeln von Insekten wurden im 17. und 18. Jahrhundert über die Praxis der Vogelhaltung sozialer Status und Zugehörigkeit ausgehandelt. Vogelhaltung wurde zu einem populären Statusmarker, weil sie auf spielerisch anmutende Weise die Kultivierung seines Besitzers oder seiner Besitzerin reflektierte. Diese Beschäftigung derjenigen Pariser*innen, die den etablierten Gelehrtenzirkeln nicht zugehörten, nämlich Vögel zu halten und zu dressieren, wurde von der Académie als Verfahrensweise zum Erwerb von Wissen über die Natur noch um 1700 angegriffen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts konstituierte sich hingegen eine aufgeklärte städtische Schicht durch die Kultivierung von Natur im Haus. Wie gezeigt werden konnte, deuteten Philosophen und Gelehrte daran anschließend die Vogeldressur als Praktik der Naturkultivierung ontologisch und erklärten sie zu einer Wesensbestimmung des Menschen. Natur im Sinne eines ›Naturzustandes‹ als Norm für soziales Verhalten löste bekanntlich im 18.  Jahrhundert religiöse Orientierungsmaßstäbe ab. Dabei spielte es eine Rolle, welche Definition von Natur das Zusammenleben mit im Haus gehaltenen Tieren wie Singvögeln hervorbrachte. Zum einen wurden sich Pariser, seien es Gelehrte oder Vogelliebhaber, nicht einig, ob und welche Tiere überhaupt einen Naturzustand aufwiesen und woran dieser erkennbar sei. Zum anderen stellten die Singvögel ein ständiges Erprobungsfeld des Menschen an ›der Natur‹ dar, um zu testen, ob und inwieweit Erziehung universell anwendbar sein könne. Die Debatten um die Formbarkeit der Natur waren verknüpft mit Erziehungsmethoden und der Frage nach der Herausbildung des mündigen Zivilbürgers. Hier hatten Singvögel zum einen Spiegelfunktion. Zum anderen

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sollten sie sogar zum erprobten sozialen Gegenüber des empfindsamen, moralisch handelnden aufgeklärten menschlichen Subjekts werden.31 Das Selbstverständnis von Aufklärung entstand.

31 Leclerc de Buffon, Georges-Louis  : Histoire naturelle et particulière  : Oiseaux, Bd. 19, Paris 1778, S. 1–3.

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Wissensproduktion und Wissenstransfer Die Debatte über eine Verbindung von Amazonas und Orinoco und ihre Akteure

Einleitung

Als Alexander von Humboldt gemeinsam mit Aimé Bonpland zu Beginn des 19.  Jahrhunderts den Orinoco erkundete, stand eine wichtige geographische Streitfrage im Zentrum seines Interesses, nämlich, ob zwei der größten Flüsse der Erde, der Orinoco und der Amazonas, miteinander verbunden seien oder nicht. In einem Aufsatz Über die Verbindung von dem Orinoco und Amazonenfluss von 1812 verwies Humboldt darauf, er habe diese umstrittene Flussverbindung, die ihn vom Orinoco über den Casiquiare und Río Negro zum Amazonas führte, in den Monaten März bis Juni 1800 selbst abgefahren, weshalb sie nun »ausser Zweifel gesetzt«1 sei. Über die Existenz des heute als größte Flussbifurkation der Erde bekannten Phänomens hatten während des gesamten 18. Jahrhunderts konkurrierende Meinungen bestanden. So bestand Unklarheit darüber, ob die Flusssysteme durch eine Gebirgskette vollständig voneinander getrennt sind oder ob sie durch Flussverzweigungen miteinander kommunizieren. Diese sich widersprechenden Ansichten führten zu einem lange anhaltenden Nebeneinander unterschiedlicher kartographischer Darstellungen des Amazonasraums. Landesvermessung und Kartographie waren integrale Bestandteile frühneuzeitlicher Naturkunde. Dabei wurden Karten häufig im Rahmen umfassender naturkundlicher Werke veröffentlicht, in denen die »unterschiedlichen Raumbilder«2 textlicher und kartographischer 1 Humboldt, Alexander von  : Über die Verbindung von dem Orinoco und Amazonenfluss, in  : Monatliche Correspondenz zur Erd- und Himmelskunde, Bd. 26 (1812), S. 230–235, hier S. 230 f. 2 Strasser, Ulrike  : Die Kartierung der Palaosinseln. Geographische Imagination und Wissenstransfer zwischen europäischen Jesuiten und mikronesischen Insulanern um 1700, in  : Geschichte und Gesellschaft 36, 1 (2010), S. 197–230, hier S. 209.

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Medien zusammenwirkten. Die in naturkundlichen Schriften und Karten ausgetragene Debatte um eine Verbindung von Orinoco und Amazonas wird im Folgenden hinsichtlich zwei zentraler Merkmale untersucht  : Erstens wird gefragt, welche Akteur*innen3 in die Wissensproduktion involviert waren. Neben europäischen Gelehrten, die Südamerika entweder selbst bereisten oder der strittigen Frage mit Hilfe von in Europa zur Verfügung stehenden Quellen nachgingen, wird insbesondere die Rolle der lokalen Bevölkerung und der vor Ort tätigen jesuitischen Missionare in den Blick genommen. Zweitens wird nach den Verfahrensweisen gefragt, mit denen Wissen generiert wurde. Wie kamen die Akteure zu dem Ergebnis, dass die Flüsse miteinander kommunizierten oder dass sie es nicht taten  ? Welche Rolle spielten Empirie, tradiertes Wissen und geographische Imagination  ? Die Fragen knüpfen an neuere wissensgeschichtliche Arbeiten an, die den Blick auf die Ränder jenseits europäischer Zentren richten und Aufklärung als einen »wechselseitigen Austauschprozess«4 verstehen, in dem es zu reziproken Wissenstransfers zwischen Europa und anderen Teilen der Welt kam. Hierbei sind in den letzten Jahren verstärkt die Jesuiten in den Fokus der Forschung getreten.5 Als Missionare lebten sie vor Ort und verfügten nicht nur über besondere Kenntnisse der lokalen Geographie, Natur und Bevölkerung, sondern durch das globale Informationssystem ihres Ordens auch über notwendige Kanäle zur Verbreitung von Wissen.6 Studien zur Rezeption jesuitischen Wissens haben zudem gezeigt, dass Naturforscher wie Charles Marie de La Condamine und Alexander von Humboldt große Teile ihres Wissens von Missionaren übernahmen und sich in ihren literarischen Strategien von den Werken der Jesuiten beeinflussen ließen.7 Die Rolle der Jesuiten in der 3 Ich verwende im Folgenden zur leichteren Lesbarkeit den Begriff Akteur, der jedoch männliche und weibliche Personen gleichermaßen betrifft. 4 Liebau, Heike u. a. (Hg.)  : Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert (Hallesche Forschungen 29), Halle 2010. 5 Ewalt, Margaret  R.: Peripheral Wonders. Nature, Knowledge, and Enlightenment in the Eighteenth-Century Orinoco (The Bucknell studies in Eighteenth-Century), Lewisburg 2008  ; Prieto, Andrés  : Missionary Scientists. Jesuit Science in Spanish South America, 1570–1810, Nashville 2011  ; Harris, Steven J.: Networks of Travel, Correspondence, and Exchange, in  : Park, Katharine/ Daston, Lorrain (Hg.)  : The Cambridge History of Science, Bd. 3  : Early Modern Science, Cambridge 2006, S. 341–362. 6 Harris, Steven J.: Confession Building, Long-Distance Networks, and the Organization of Jesuit Science, in  : Early Science and Medicine 1, 3 (1996), S. 287–318. 7 Safier, Neil  : Measuring the New World. Enlightenment Science and South America, Chicago 2008, S. 57–92  ; Ewalt  : Wonders, S. 178–188.

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Aufklärung ist dabei insofern hervorzuheben, als sie entgegen traditioneller historiographischer Auffassungen einer vornehmlich rationalen und säkularen Aufklärung auf die vielschichtigen Zusammenhänge von Religion und frühneuzeitlicher Wissenschaft verweist.8 So stellte die Erforschung der Natur keinen grundsätzlichen Widerspruch zu ihren religiösen Aufgaben dar, sondern sollte als Teil jesuitischer Frömmigkeitspraxis zur Erkenntnis Gottes in der Natur führen.9 In der Mission fanden gegenseitige Wissens- und Kulturtransfers zwischen Missionaren und lokaler Bevölkerung statt, die sich auch im Bereich der Kartographie zeigten.10

Lokale Nachrichten deuten  : Cristóbal de Acuña und die Rezeption indigenen Wissens in Europa

Der aus Burgos stammende Jesuit Cristóbal de Acuña begleitete 1639 die Expedition von Pedro Texeira während ihrer Rückreise von Quito nach Pará auf dem Amazonas und dokumentierte die Fahrt in einem ausführlichen Bericht.11 In seinem Werk, das 1641 unter dem Titel Nvevo descvbrimiento del gran río de las Amazonas gedruckt wurde, trug er eine Fülle an Informationen über die Natur und die Bevölkerung des ausgedehnten Amazonasbeckens zusammen. Sein Werk blieb bis weit in das 18. Jahrhundert für die Geographen eine der wichtigsten Quellen zur Erforschung des Amazonas. Obwohl Acuña selbst einen großen Teil des Amazonas befahren hatte, führte ihn der Versuch, das   8 Dürr, Renate  : Wissen als Erbauung  – zur Theatralität der Präsentation von Wissen aus aller Welt im Neuen Welt=Bott, in  : Roßbach, Nikola/Baum, Constanze  : Theatralität von Wissen in der Frühen Neuzeit, Wolfenbüttel 2013, http://diglib.hab.de/ebooks/ed000156/id/ebooks_ed00 0156_article11/start.htm, letzter Zugriff  : 10.08.2016.   9 Prieto  : Missionary, S. 144. 10 Strasser  : Palaosinseln  ; Asúa, Miguel de  : Science in the Vanished Arcadia. Knowledge of Nature in the Jesuit Missions of Paraguay and Río de la Plata (Scientific and Learned Cultures and their Institutions 11), Leiden 2014, S. 204–210  ; Barcelos, Artur  : El saber cartográfico indígena entre los Guaraníes de las misiones jesuíticas, in  : Wilde, Guillermo (Hg.)  : Saberes de la conversion. Jesuitas, indígenas e imperios coloniales en las fronteras de la cristiandad, Buenos Aires 2011, S. 191–204. 11 Zu Acuña siehe  : Acuña, Cristóbal de  : Nuevo descubrimiento del gran río de las Amazonas, hg. von Arellano, Ignacio u. a., Gonzalo, Madrid 2009  ; Burgos Guevara, Hugo  : La crónica prohibida. Cristóbal de Acuña en el Amazonas (Colección Biblioteca Básica de Quito 7), Quito 2005. Im Folgenden zitiere ich aus der von Arellano und Santonja herausgegebenen Edition wie folgt  : Acuña, Nuevo descubrimiento.

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Flussnetz so weitreichend wie möglich zu erfassen, in Gebiete, die sich seiner eigenen Anschauung entzogen. Erhebliche Teile seines Wissens beruhten daher ausschließlich auf Informationen aus der lokalen Bevölkerung. Auf diese Weise hatte er auch von einem Volk mit Namen Guaranaquazana erfahren, das an einem Flussarm des Río Negro siedeln sollte. Über diesen Arm sollte man zu einem weiteren großen Fluss gelangen können. Brisant war dieser Hinweis zunächst vor allem für die kolonialen Interessen Spaniens, denn man ging davon aus, dass sich an der Mündung dieses großen Flusses Holländer niedergelassen hatten, denen hiermit ein direkter Weg zum Río Negro und über diesen zum Amazonas offen gestanden hätte. Doch über den genauen Namen des Flusses, den Acuña lediglich als »rio grande« bezeichnete, war sich der Pater unsicher. Zwei mögliche Flüsse kamen für ihn in Betracht, die er als »rio dulce« und »rio de Felipe« identifizierte. Letzteren, der unweit des Amazonasdeltas ins Meer mündete, hielt Acuña für den wahrscheinlicheren. Den Orinoco schloss er hingegen explizit aus, da dessen Mündung viel weiter entfernt lag als die des Río de Felipe.12 Die Informationen, die er vor Ort über eine Verbindung des Río Negro zu einem großen Fluss bekommen hatte, versuchte Acuña mit Hilfe tradierten Wissens zu deuten und sah im »rio grande« einen Fluss, über den Mitte des 16.  Jahrhunderts der aufständische Konquistador Lope de Aguirre von seiner Fahrt auf dem Amazonas ins Meer gelangt sei.13 Dieser Rückgriff auf tradiertes Wissen zeigt, dass Hinweise auf einen großen Fluss allein wenig hilfreich waren, solange Unklarheit darüber bestand, wo dieser zu verorten war. Denn nicht nur Empirie, sondern auch die Identifizierung und einheitliche Verwendung geographischer Bezeichnungen trug zur Konstruktion geographischer Räume bei. Häufig mussten Bezeichnungen für die in Europa zuvor unbekannten geographischen Gegebenheiten erst einmal vereinheitlicht werden, um Zusammenhänge zu erkennen. Europäische Missionare, Reisende und Naturforscher wurden dabei vor die Herausforderung gestellt, dass sie, je nachdem, wen sie vor Ort befragten, mit unterschiedlichen Flussnamen für ein und denselben Fluss konfrontiert werden konnten. Dies konnte z. B. dazu führen, dass aus einem Fluss, der an seinem Oberlauf anders hieß als an seiner Mündung, auf den Karten zwei Flüsse wurden.14 In der Kommunikation mit 12 Acuña  : Nuevo descubrimiento, S. 141 f. 13 Ebd., S. 142. 14 So z. B. bei der Zuordnung der Namen Japurá und Caquetá, die auf denselben Fluss verwiesen, aber als zwei Flüsse gedeutet wurden. Hierzu  : Humboldt, Alexander von  : Reise in die Äquinok-

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Abb. 1  : Sanson, Nicolas  : Le cours de la riviere des Amazones. Dreßé sur la Relation du R. P. Christoph.le d’Acugna (1680), 29,5 x 14 cm.

der lokalen Bevölkerung konnten sich die Europäer also nicht sicher sein, ob sie über dieselben oder über unterschiedliche Phänomene sprachen. 1682 erschien eine französische Übersetzung von Acuñas Reisebericht unter dem Titel Relation de la Riviere des Amazones.15 Hierin war eine Amazonaskarte des königlichen Geographen Nicolas Sanson d’Abbeville (1600–1667) enthalten,16 die auf Acuñas Beschreibungen basierte (Abb.  1). Dies lässt zunächst vermuten, dass Sanson auch in der Frage über einen Zusammenhang von Amazonas und Orinoco Acuñas Einschätzungen folgte und wie dieser eine direkte Verbindung des Orinoco mit dem Río Negro verneinte. Doch der Kartograph entschied, Orinoco und Río Negro zu vereinen und beinahe in einer geraden Linie verlaufen zu lassen. Dass Sanson von Acuñas Aussage abwich, lässt sich mit den kartographischen Methoden erklären, auf die er zurückgriff. Godlewska hat auf die intensive Quellenrecherche und -auswertung hingewiesen, welche trotz der immer bedeutsamer werdenden empirischen tial-Gegenden des Neuen Kontinents, hg. von Ette, Ottmar, Bd. 2, Frankfurt a. M./Leipzig, 1991, S. 1077. 15 Acuña, Cristóbal de  : Relation de la riviere des Amazones tradvite par seu Mr de Gomberville de l’Academie Françoise. Sur l’Original Espagnol du P. Christophle d’Acuña Jesuite. Avec une Dis­ sertation sur la Riviere des Amazones pour servir de Preface, Paris 1682. 16 Sanson, Nicolas  : Le cours de la riviere des Amazones. Dreßé sur la Relation du R. P. Christoph.le d’Acugna (1680).

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Landvermessungen eine Grundlage frühneuzeitlicher Kartographie bildeten.17 Sanson, der den Amazonas kartierte, ohne selbst vor Ort gewesen zu sein, musste zunächst umfangreiches Material zusammentragen, dessen Informationen er miteinander verglich, kombinierte und interpretierte. Die Verbindung der zwei großen Ströme war somit nicht nur das Resultat eines einzelnen Hinweises, sondern wurde von Sanson als Teil eines komplexeren Zusammenhangs der Flüsse Caquetá, Orinoco und Río Negro verstanden.18 Sansons Darstellung übernahmen zahlreiche Kartographen des 17. und 18. Jahrhunderts.

Kartographie zwischen Empirie, Überlieferung und Imagination  : Die Orinoco-Karte von Pater Joseph Gumilla

Ungefähr 60 Jahre nach der Publikation von Nicolas Sansons Karte erschien in Madrid ein naturgeschichtliches Werk des Jesuiten und Orinoco-Missionars Joseph Gumilla mit dem Titel El Orinoco ilustrado.19 Darin enthalten war eine neue Karte20 des Orinoco, die ein gegenläufiges Bild zu Sansons Darstellung von den Zusammenhängen der Flüsse präsentierte (Abb. 2). Pater Gumilla ließ den Amazonas und Orinoco strikt voneinander getrennt verlaufen und begründete diese Darstellung mit seiner empirischen Erfahrung. So habe er den Lauf des Orinoco selbst beobachtet und sei zu der Feststellung gekommen, »weder habe ich, noch hat irgendeiner der Missionare, die fortwährend an den Ufern des Orinoco entlangfahren, einen solchen Río Negro abfließen oder einmünden sehen«21. Es ist immer wieder darüber spekuliert worden, warum Gumilla keine Kenntnis

17 Vgl. Godlewska, Anne Marie Claire  : Geography Unbound. French Geographic Science from Cassini to Humboldt, Chicago/London 1999, S. 39 f. 18 Humboldt begründete Sansons Vorgehen damit, dieser habe geglaubt, »die unbestimmten Nachrichten, welche Acuña 1639 über die Verzweigung des Caquetá und über die Verbindungen zwischen Amazonenstrom und Orinoco erhalten, kombinieren zu können«. Humboldt  : Reise, S. 1160. Vermutlich spielte dabei auch eine Rolle, dass man seit Beginn des 17. Jahrhunderts davon ausging, Caquetá und Orinoco seien zwei Namen für denselben Fluss  : Humboldt  : Reise, S. 1079. 19 Gumilla, Joseph  : El Orinoco ilustrado, historia natural, civil, y geographica, de este gran rio, y de sus caudalosas vertientes, Madrid 1741. 20 Gumilla, Joseph  : Mapa de la provincia y missiones de la Compañía de IHS del Nuevo Reyno de Granada (1741). Zu Gumillas Karte siehe  : Ewalt  : Wonders, S. 64–94  ; Ramos Perez, Demetrio  : Estudios de historia venezolana (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia 126), Caracas 1976, S. 571–595. 21 Gumilla  : Orinoco, S. 17 f.

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Abb. 2  : Gumilla, Joseph  : Mapa de la provincia y missiones de la Compañía de IHS del Nuevo Reyno de Granada (1741), 28,5 x 40,5 cm.

vom Zusammenhang der Flüsse hatte.22 Alexander von Humboldt führte dies auf einen Fehler in der Bestimmung der geographischen Breite zurück, der dazu geführt habe, dass Gumilla vor Ort nicht bis zur Lage der Bifurkation vorgedrungen sei.23 Dabei beruhte Gumillas Einschätzung, die die Geographen später als Fehler betrachteten, auf einem systematischen Abgleich der von ihm beobachteten Natur mit tradiertem Wissen europäischer Kartographen. Als Ausgang seiner Überlegungen diente ihm eine Karte aus dem Jahr 171324, die vermutlich der Darstellung Sanson d’Abbevilles folgte. Gumilla verglich diese Darstellung mit dem, was er vor Ort sah. Hierzu fuhr er das Gebiet ab, in dem er gemäß der Karte einen Zusammenfluss vermutete, und stellte fest, dass diese nicht mit dem übereinstimmte, was er vorfand. Der einzige Fluss, den man aufgrund seiner Lage für die gesuchte Verbindung hätte halten können, sei, so Gumilla, der Río 22 Siehe z. B. Ramos Perez  : Estudios, S. 579–595. 23 Humboldt  : Reise, S. 1162. 24 Gumilla  : Orinoco, S. 17. Gumilla verwies auf einen Kartographen mit dem Namen Nicolas Sanson Fer. Vermutlich handelt es sich um Nicolas de Fer.

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Caura. Doch die genaue Kenntnis, die man über dessen Quellen habe, schließe einen solchen Zusammenhang aus.25 Gumillas methodisches Vorgehen zeigt, dass nicht nur empirisch gewonnenes Wissen oder lokale Nachrichten aus Amerika  – im Sinne eines einseitig gerichteten Wissenstransfers  – die europäische Kartographie beeinflussten, sondern dass ebenso in Europa entstandenes kartographisches Wissen die empirische Wahrnehmung der Akteure vor Ort beeinflusste und die Wissensproduktion am Orinoco strukturierte. Um jeden Zweifel auszuräumen, die Flüsse könnten an anderer Stelle miteinander kommunizieren, platzierte Gumilla auf seiner Karte zwischen dem Orinoco und Amazonas eine Gebirgskette, die sich von den Quellen des Orinoco, die Gumilla den Kartographen seiner Zeit entsprechend weit westlich im Andenhochland verortete, bis zu dessen Mündung erstreckte. Dieses Gebirge verhinderte (auf einer epistemisch-kartographischen Ebene) jedwedes Hindurchfließen eines Flusses und verdeutlichte, dass alle Flüsse, die an seiner nördlichen Seite entsprangen, in Richtung des Orinoco fließen mussten, während die der südlichen Seite zum Amazonas führten. Der Jesuit Felipe Salvador Gilij kritisierte ca. 40  Jahre später, Gumillas Karte suggeriere fälschlicherweise, dass ihr Verfasser den Oberlauf des Flusses mit eigenen Augen beobachtet und dort die in seiner Karte dargestellten »unüberwindlichen Felsen«26 erblickt habe. Da Gumilla jedoch nur einen begrenzten Teil des Orinoco kannte, konnte er die immense Gebirgskette nicht nach eigener Anschauung zeichnen. Vielmehr kombinierte er seine empirischen Beobachtungen mit Karten anderer Autoren, die seine These von der Trennung der Flüsse stützten. Neben Karten von Johannes de Laet sowie Willem und Joan Bleau berief er sich vor allem auf eine erstmals 1707 in Quito gestochene und durch Missionszeitschriften bekannt gewordene Amazonaskarte des Jesuiten Samuel Fritz.27 Auf dieser Karte waren Orinoco und Amazonas durch Berge voneinander getrennt. Gumilla baute diese Berge zu einer deutlich massiveren Gebirgskette aus und ließ eine regelrechte Mauer entstehen. Doch die Gebirgskette diente Gumilla nicht nur dazu, die Beziehungen zwischen den Flüssen zu ordnen und zu erklären, sondern stellte gewissermaßen eine imaginäre Grenze dar, die das Missionsgebiet wie eine Festung abschirmte. Ewalt bewertet dies als Teil einer »fabulous geography [which] creates a ficti25 Gumilla  : Orinoco, S. 17. 26 Gilij, Felipe Salvador  : Ensayo de historia americana (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia 71), übers. von Tovar, Antonio, Bd. 1, Caracas 1965, S. 52. 27 Gumilla  : Orinoco, S. 18.

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tious border between a civilized region labeled ›Jesuit missions‹ […] and the untamed, ›barbarous‹ unknown nations.«28 Nahe der Küste bildete die Gebirgskette zudem eine Grenze zu den niederländischen Kolonien und dem Gebiet der Kariben. Gumilla reagierte mit seinem Werk auf vielfältige Bedrohungen, die sich durch die Präsenz britischer und französischer Schmuggler und das Vordringen holländischer, karibischer und portugiesischer Sklavenjäger am Orinoco ergaben. Die Jesuiten-Mission sah er dabei als ein Bollwerk zur Verteidigung spanischer Interessen an.29 Im Sinne Harleys lassen sich die Bezeichnungen und Platzierungen von geographisch-räumlichen Gegebenheiten auf Gumillas Karte als Teil eines politischen »cartographic discourse«30 lesen, in dem durch die Marginalisierung des Amazonas die Bedeutung des Orinoco hervorgehoben werden sollte.31 Durch die klare Abgrenzung des Orinoco-Raums zum unbekannten Landesinneren machte Gumilla die Lage der Missionen am Rand des spanischen Machtbereichs deutlich. Dies hob ihre strategische Bedeutung hervor. Gumilla bildete sein geographisches Wissen also nicht einfach ab, sondern verlieh ihm eine politisch-religiöse Bedeutung. Er konstituierte seinen Kartenraum auf der Grundlage verschiedener Zugänge, bei denen sowohl Empirie und tradiertes Wissen als auch politische und religiöse Weltbilder eine Rolle spielten. In einer überarbeiteten zweiten Ausgabe mit dem leicht veränderten Titel El Orinoco ilustrado, y defendido von 1745 begründete Gumilla seine Argumente gegen die Verbindung von Orinoco und Amazonas nochmals ausführlicher mit Verweisen auf verwirrende Angaben und Fehler älterer Autoren.32 Pater Gilij zufolge habe Gumilla darüber hinaus 1749 eine weitere Überarbeitung angefertigt. Diese sei jedoch, da er bereits im folgenden Jahr verstarb, nicht mehr veröffentlicht worden. Darin soll Gumilla seine These angesichts neuerer Kenntnisse widerrufen haben, die die Missionare zwischenzeitlich mit der Entdeckung des Casiquiare über den Zusammenhang der Flüsse gewonnen hatten.33 28 Ewalt  : Wonders, S. 71. 29 Ebd., S. 66–68. 30 Harley, John Brian  : Maps, Knowledge and Power, in  : Cosgrove, Denis/Daniels, Stephen (Hg.)  : The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design and Use of Past Environments (Cambridge Studies in Historical Geography 9), Cambridge 1988, S. 277–312, hier S. 278. 31 Ewalt  : Wonders, S. 71. 32 Gumilla, Joseph  : El Orinoco ilustrado, y defendido, historia natural, civil, y geographica de este gran río, y de sus caudalosas vertientes, Bd. 1, Madrid 1745. 33 Gilij  : Ensayo, S. 53.

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Beweise sammeln und präsentieren  : Die Amazonasreise von Charles Marie de la Condamine und die Fahrt des Missionars Manuel Román

Nur wenige Jahre nach Gumillas Veröffentlichung erschien ein Reisebericht des französischen Naturforschers Charles Marie de La Condamine mit einer neuen Karte des Amazonasraums34 (Abb.  3). Dieser war im Rahmen einer großen Expedition der Académie des Sciences de Paris (1735–1745) zur Erforschung der Erdgestalt an den Äquator gereist. Für die Rückreise von den Anden nach Europa hatte La Condamine eine Route über den Amazonas gewählt, die es ihm ermöglichen sollte, das Innere des Kontinents zu erforschen.35 Obwohl La Condamine einige Zeit nach dem Mathematiker Pierre Bouguer in Paris eintraf, der als erster die Ergebnisse der Mission öffentlich bekannt gab, gelang es ihm, durch aggressive Attacken gegen seinen Konkurrenten und die große Aufmerksamkeit, die sein im Stil der »survival literature«36 verfasster Reisebericht37 in Europa erfuhr, als Wortführer der Expedition aufzutreten. Aufsehen erregte er auch, indem er öffentlich die neue Entdeckung einer Verbindung zwischen Orinoco und Amazonas verkündete. Denn diese Flussverbindung, die auf älteren Karten noch zu sehen sei, hätten modernere Geographen, darunter Pater Gumilla, wieder verworfen. La Condamine warf den Geographen vor, den Berichten der reisenden Augenzeugen, welche die Existenz dieser Verbindung unmissverständlich belegten, zu misstrauen und sich stattdessen lieber auf ihnen plausibler erscheinende Hypothesen zu stützen. 38 La Condamine, der stets den hohen empirischen Anspruch seiner Arbeit betonte und dem es, wie Safier herausgearbeitet hat,39 gelang, darüber hinwegzutäuschen, dass ein Großteil seiner Kenntnisse nicht auf eigener Beobachtung, sondern auf dem Wissen lokaler Akteure basierte, räumte in diesem speziellen Fall Reiseberichten eine höhere Priorität ein als dem seiner Ansicht nach zu misstrauischen Geist der Geographen.40 Die Art, wie er die verschiedenen Be34 La Condamine, Charles Marie de  : Carte du cours du Maragnon ou de la grande rivière des Amazones (1745). 35 Zu La Condamine siehe  : Safier  : Measuring  ; Pratt, Mary Louise  : Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London/New York 1992, S. 15–24. 36 Pratt  : Imperial, S. 17–20. 37 La Condamine, Charles Marie de  : Relation abrégée d’un voyage fait dans l’interieur de l’Amérique méridionale, Paris 1745. 38 La Condamine  : Relation, S. 121 f. 39 Safier  : Measuring, S. 57–92. 40 Ebd., S. 87.

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Abb. 3  : La Condamine, Charles Marie de  : Carte du cours du Maragnon ou de la grande rivière des Amazones (1745), 17 x 40 cm.

lege präsentierte und die Auswahl seiner Referenzen, waren dabei Teil einer rhetorischen Strategie, mit der er sich Glaubwürdigkeit verschaffte. Denn auch La Condamine hatte die Verbindung nicht mit eigenen Augen sehen können. Ein Vergleich der verschiedenen Versionen seines Reiseberichtes zeigt, dass er diese Strategie noch einmal änderte, als sich ihm neue Belege darboten. Am 28.  April 1745 trug er in einer öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften seinen Reisebericht vor. Dieser wurde zu Beginn des folgenden Jahres in einer offiziellen Version als Relation abrégée einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Doch zuvor hatte La Condamine während eines Aufenthalts in Amsterdam bereits eine spanische Übersetzung angefertigt, die er seinen Förderern in Amerika zukommen lassen wollte. Diese frühere, kürzere Version wurde 1745 als Extracto del diario41 gedruckt. In beiden Fassungen erläuterte La Condamine ausführlich, warum er entgegen vieler seiner Zeitgenossen von der Existenz einer Verbindung von Orinoco und Amazonas ausging. Einige Hinweise hatte La Condamine aus Briefen der Jesuiten erhalten, die er am Amazonas einsehen konnte.42 Für noch stichhaltiger als diese Belege hielt er allerdings die Zeugenaussage einer indigenen Frau, auf die er am Amazonas getroffen war. Die Frau hatte ausgesagt, persönlich flussabwärts von der 41 La Condamine, Charles Marie de  : Extracto del diario de observaciones hechas en el viage de la Provincia de Quito al Para, por el Rio de las Amazonas, Amsterdam 1745. 42 Ebd., S. 66 f.

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Mission am Orinoco bis zum Amazonas gefahren zu sein. Während indigene Informanden in europäischen Quellen häufig nur am Rande erwähnt oder verschwiegen wurden, erfuhr der Leser im Extracto del diario auffällig viele Details über diese Zeugin. Sie sei durch eine tropa de resgate43 (Rettungstruppe) vom Orinoco an den Río Negro und von dort den Amazonas weiter hinunter verschleppt worden. Doch der Jesuitenpater Avogadri, der die Truppe als Missionar begleitete, habe sich für ihre Freilassung ausgesprochen. La Condamine erläuterte auch, wie er bei der Zeugenbefragung vorgegangen sei. So hätten er und sein Mitreisender Pedro Maldonado die Frau auf verschiedene Arten befragt, um zu sehen, ob ihre Antworten sich widersprächen oder schlüssig seien, wobei ihnen Pater Avogadri als Dolmetscher zur Seite gestanden habe. La Condamine sei zunächst davon ausgegangen, die Frau habe einen Teil der Strecke über Land zurückgelegt, doch die Schlüssigkeit ihrer Antworten habe ihn überzeugt, die gesamte Reise müsse über Wasser stattgefunden haben.44 Er identifizierte auch die Herkunft der Frau, was Rückschlüsse über ihre Reiseroute zuließ. So erfuhr der Leser, sie sei »eine christliche Indiofrau aus dem Volk der Cauriacani, aus dem Dorf Santa Maria Bararuma [in der] spanischen Mission an den Ufern des Orinoco«45. Solche Erläuterungen zum Ablauf der Zeugenbefragung und zur Herkunft der Zeugin waren Teil einer empirischen und zugleich rhetorischen Vorgehensweise, mit der La Condamine dem Leser gegenüber verdeutlichte, dass er sorgfältig vorging und Informationen genau überprüfte. Seine breite Absicherung in dieser Frage weist außerdem darauf hin, dass er bereits vor seinem öffentlichen Vortrag vermutete, mit dieser These unter den Gelehrten auf Widerstand zu stoßen. Vermutlich in der Zeit zwischen dem Verfassen seines frühen Berichts und der letztlich in Paris gedruckten Relation abrégée erreichte ihn eine Nachricht 43 Das portugiesische Recht gestattete die Versklavung von Indigenen im Zusammenhang mit einem Verdacht auf kannibalistische Praktiken. Dies betraf sowohl diejenigen, denen der Verzehr von Menschenfleisch vorgeworfen wurde, als auch diejenigen, die sich in Gefangenschaft vorgeblicher Kannibalen befanden und von den sogenannten Rettungstruppen ›gerettet‹ wurden. Diese Regelung wurde von den Rettungstruppen intensiv für den eigenen Sklavenhandel missbraucht. Die Truppen wurden von Jesuiten begleitet, die, ausgehend von der Ursache und dem Status der jeweiligen Gefangennahme, darüber entscheiden sollten, ob die ›geretteten‹ Personen dem Recht nach als Sklaven oder Freie zu gelten hatten. Siehe hierzu Amado Aymoré, Fernando  : Die Jesuiten im kolonialen Brasilien. Katechese als Kulturpolitik und Gesellschaftsphänomen (1549–1760) (Europäische Hochschulschriften  : Reihe  III  : Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 1069), Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 162–165. 44 La Condamine  : Extracto, S. 66 f. 45 Ebd., S. 67.

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des Rektors des Jesuitenkollegs von Pará, deren Glaubwürdigkeit er den bisherigen Belegen über die Flussverbindung vorzog. So nahm in der Relation abrégée ein neuer Zeuge den Platz der indigenen Frau ein  : Der stärkste [Beweis] war damals das unverdächtige Zeugniß einer Indianerinn aus den spanischen Mißionen am Orinoque, mit der ich selbst geredet habe, und welche von Hause auf einem Kahne nach Para geschiffet war. Doch diese Beweise sind nicht mehr nöthig, weil man seit kurzer Zeit einen viel stärkern hat. Ich ersehe aus einem von Para abgelassenen Schreiben des ehrwürdigen Paters Jean Ferreyra, Rectors der Jesuiterschule daselbst, daß die Portugiesen aus dem fliegenden Lager am schwarzen Strome [Río Negro], im abgewichenen Jahre 1744, aus einem Strome in den andern hinauf geschiffet, da sie denn endlich den Superior der Jesuiter von den spanischen Mißionen am Orinoque angetroffen haben, mit welchem die Portugiesen durch denselben Weg, ohne die Flüsse jemals zu verlassen, bis in ihr Lager am schwarzen Strome, (welcher Fluß den Zusammenhang des Orinoque und des Marannon machet,) wieder zurückgereiset sind.46

Die Aussage der Frau wurde nicht nur zweitrangig, sondern mit ihrem verringerten Stellenwert verschwanden auch die Informationen über ihre Fahrt und den Ablauf der Befragung. Die Leserschaft erfuhr lediglich noch in einer Fußnote, von welchem Volk und aus welchem Dorf die Zeugin stammte. La Condamine war sich vermutlich der wachsenden kritischen Haltung seines europäischen Publikums gegenüber indigenen Zeugen bewusst, woraus er annahm, dass die Fahrt eines jesuitischen Geistlichen seiner These mehr Glaubwürdigkeit einbringen konnte.47 Der neue Zeuge, auf dessen Entdeckungsfahrt sich La Condamine stützte, war der Jesuitenpater Manuel Román. Dieser war am 4. Februar 1744 mit einigen Salivas aus der Mission und einem Soldaten von Carichana an den Río Atabapo gefahren, um sich angesichts der Bedrohung der Mission durch den Sklavenhandel ein Bild vom oberen Orinoco zu machen und Friedensver46 Die deutsche Übersetzung stammt aus  : La Condamine, Charles Marie de  : Nachricht von einer Reise in das Innerste von Sudamerica, in  : Hamburgisches Magazin (1750/51), Bd. 6, St. 1, S. 231 f.; auf Französisch  : La Condamine  : Relation, S. 119 f. 47 Safier diskutiert diesen Fall als Beispiel für das Verschwinden indigener Quellen  : Safier, Neil  : The Confines of the Colony. Boundaries, Ethnographic Landscapes, and Imperial Cartography in Iberoamerica, in  : Akerman, James, R. (Hg.)  : The Imperial Map. Cartography and the Mastery of Empire (The Kenneth Nebenzahl, Jr., lectures in the history of cartography), Chicago/London 2009, S. 133–183, hier S. 181 f.

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handlungen mit dem Volk der Guaipunaves zu führen.48 Beim Atabapo trafen Román und seine Begleiter überraschend auf eine Truppe Portugiesen, die aussagten, über Wasser von ihrem Fort am Río Negro dorthin gelangt zu sein. Román entschied sich, die Portugiesen auf ihrer Rückfahrt zu begleiten und in ihrem Fort Pater Avogadri zu treffen,49 um verschiedene Anliegen der Missionare zu besprechen.50 Nach ihrer Zusammenkunft begleiteten die Portugiesen den Pater zurück zur Mission, in der er am 15. Oktober 1744 ankam.51 Románs Reise galt forthin als die Entdeckungsfahrt des Brazo Casiquiare, jener viel beachteten Flussverbindung zwischen Orinoco und Río Negro, die Alexander von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts untersuchte. Das besondere Moment dieser sogenannten Entdeckungsfahrt bestand jedoch nicht darin, dass Román etwas entdeckte, das den Europäern zuvor vollkommen unbekannt gewesen war. Die portugiesischen Tropas de resgate waren seit den 1720er Jahren52 und verstärkt ab 173753 regelmäßig von ihrem Fort am Río Negro über den Casiquiare in spanische Gebiete vorgedrungen. Ihnen war allerdings lange Zeit nicht klar, wo sie sich inmitten des unübersichtlichen Flussnetzes befanden. So bemerkten sie zunächst weder, dass sie am Orinoco herauskamen, noch, dass sie sich in einem Gebiet befanden, das die Spanier, denen es an Siedlungen am oberen Orinoco fehlte, für sich beanspruchten.54 Das regelmäßige Auftauchen von Portugiesen am Orinoco hielt auf Seiten der spanischen Missionare Spekulationen über eine mögliche Verbindung aufrecht. Augenzeugenberichte einiger Reisender führten Pater Román schon Jahre vor seiner Fahrt zu der Überzeugung, dass ein Wasserweg existieren müsse.55 Die Besonderheit seiner eigenen Reise bestand vor allem darin, dass der Missionar ein dezidiert wissenschaftliches Interesse an der Erkundung des Casiquiare mitbrachte und seine Beobachtungen schriftlich festhielt. Pater Román hatte 48 Gilij  : Ensayo, S. 55. 49 Ebd., S. 55 f. 50 Informe sobre la misión del Orinoco 1739–1744, in  : Rey Fajardo, José del  : Documentos jesuíticos relativos a la historia de la Compañía de Jesús en Venezuela (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia 118), Bd. 2, Caracas 1974, S. 335 f. 51 Gilij  : Ensayo, S. 56. 52 Perera, Miguel Ángel  : La expedición de límites de 1750 en la Guayana española. Los logros de una tarea que nunca comenzó, in  : Procesos 41, Januar–Juni (2015), S. 35–61, hier S. 38. 53 Humboldt  : Reise, S. 1164. 54 Gilij  : Ensayo, S. 57 55 Memorial von Manuel Román an den spanischen König vom 12. April 1742, in  : Gumilla, José  : Escritos varios (Biblioteca de la Academia Nacional de la Historia 94), hg. von Rey, José del, Caracas 1970, S. 311.

Wissensproduktion und Wissenstransfer 

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aufgrund seiner jesuitischen Bildung die notwendigen Kenntnisse im Bereich der Geographie, Landvermessung und Kartographie und wusste, wie er methodisch vorgehen musste, um vor Ort Wissen zu sammeln, es auszuwerten und zu präsentieren. So nutzte er die unerwartete Reise, um eine Karte seiner Route vom Río Negro zum Orinoco zu zeichnen und ein Reisetagebuch zu schreiben.56 Die Karte und das Tagebuch sind verschollen,57 doch aus einem jesuitischen Bericht über die Mission am Orinoco von 1739 bis 1744 geht hervor, dass Román nicht nur ein besonderes Interesse an der Verzeichnung des Casiquiare hatte, sondern auch an der Lokalisierung von Bevölkerungsgruppen im Gebiet zwischen Orinoco und Río Negro.58 Dies zeigt, wie eng die Kartographie mit missionarischen Expansionsidealen verknüpft war. Miguel de Asúa bezeichnet jesuitische Karten deshalb auch zu Recht als »tools of evangelization«59, die die Missionare u. a. mit praktischen Informationen zu Zugangswegen und Siedlungsgebieten versorgten.

Fazit und Ausblick

Die Debatte über eine Verbindung von Orinoco und Amazonas zeigt, dass kartographisches Wissen im 17. und 18. Jahrhundert das Produkt vieler Akteure war, die sowohl vor Ort als auch in Europa Wissen produzierten und transferierten. Anhand von Acuñas Bericht, auf den sich spätere Autoren stützten, wurde deutlich, dass die frühen Nachrichten über eine Flussverbindung auf indigenes Wissen zurückgingen. Eine Schlüsselrolle kam hierbei dem sprachlichen Verstehen zu, denn lokale Nachrichten mussten auf der Grundlage von tradiertem Wissen interpretiert und eindeutigen Namen zugeordnet werden, um von europäischen Reisenden und Kartographen verstanden werden zu können. Der Wissenstransfer zwischen Europa und Amerika verlief dabei nicht einseitig. Das Beispiel der Karte von Nicolas Sanson zeigte, dass dieser lokales Wissen vom Amazonas in seine Karte einfließen ließ, das Acuña nach Europa gebracht hatte. Doch Sanson übernahm dieses Wissen nicht unkritisch und zog eigene Schlüsse über die geographischen Gegebenheiten in 56 Das Tagebuch und die Karte werden erwähnt in einem Schreiben des Gouverneurs von Cumaná, D. Mateo Gual, in  : Ramos Perez, Demetrio  : El tratado de límites de 1750 y la expedición de Iturriaga al Orinoco, Madrid 1946, S. 427. 57 Rey Fajardo  : Jesuitas, S. 858–860. 58 Informe sobre la misión del Orinoco 1739–1744, in  : Rey Fajardo  : Documentos, S. 336. 59 Asúa  : Science, S. 192.

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Amerika. Gleichzeitig beeinflussten die in Europa entstandenen Kartenbilder aber auch die Wahrnehmung vor Ort, denn Gumillas empirische Beobachtungen wurden durch einen Abgleich mit tradiertem kartographischem Wissen vorstrukturiert. Die Jesuiten spielten in der Debatte aufgrund ihrer Missionstätigkeit vor Ort und ihren auf Beobachtung basierenden geographischen Kenntnissen eine zentrale Rolle. An den Karten der Missionare wurde deutlich, dass die Erforschung des Landes, der Natur und der indigenen Bevölkerung von missionarischen Zielen motiviert war und religiöse sowie politische Weltbilder Teil der geographischen Imaginationen der Patres waren. Die Verfahrensweisen, mit denen Wissen generiert wurde, haben darüber hinaus deutlich gemacht, dass die Debatte über eine Verbindung von Orinoco und Amazonas auch eine Debatte über die richtige wissenschaftliche Methode war. Empirie war nur ein Mittel der Erkenntnisgewinnung. Man griff ebenso auf tradiertes Wissen, Zeugenaussagen und verschiedene Formen der Imagination zurück. La Condamine versuchte seinen Thesen Glaubwürdigkeit zu verschaffen, indem er das Fehlen eigener Beobachtungen durch Verweise auf sein empirisches Vorgehen während der Zeugenbefragung ausglich. Doch die Glaubwürdigkeit und der Stellenwert einer Aussage hingen nicht nur von der Art der Zeugenbefragung, sondern auch vom sozialen Status des Zeugen ab. So entschied sich La Condamine, die Aussage einer indigenen Frau zugunsten einer Nachricht von der »Entdeckungsfahrt« des Jesuitenpaters Manuel Román zurückzustellen. Der Casiquiare wurde mit dem Vertrag von Madrid 1750 zu einem strategisch bedeutsamen Baustein für die Konstruktion einer Grenze zwischen spanischen und portugiesischen Territorien. Er wurde von der sogenannten Comisión de límites, die es zur Aufgabe hatte, eine Grenze zu definieren, intensiv erkundet, verzeichnet und schließlich durch Stützpunkte besetzt.60 Dennoch blieben bei einigen europäischen Geographen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Zweifel an einer Verbindung von Orinoco und Amazonas bestehen. So schlossen z. B. die hypothetischen Geographien, die auf Philippe Buaches Theorie61 über geordnete und wiederkehrende Zusammenhänge von Flüssen und Gebirgen basierten, die Möglichkeit einer solchen Verbindung der bei60 Zur Comisión de límites siehe  : Ramos Perez  : Tratado  ; Lucena Giraldo, Manuel  : Laboratorio tropical. La expedición de límites al Orinoco, 1750–1767, Caracas 1993. 61 Zu Buaches Theorie siehe  : Debarbieux, Bernard  : Mountains. Between Pure Reason and Embodied Experience. Philippe Buache and Alexander von Humboldt, in  : Cosgrove, Denis/della Dora, Veronica (Hg.)  : High Places. Cultural Geographies of Mountains, Ice and Science (International Library of Human Geography 15), London/New York 2009, S. 87–104.

Wissensproduktion und Wissenstransfer 

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den großen Ströme aus. Noch 1798 erschien eine Karte von Buaches Neffen Jean-­Nicolas Buache de la Neuville (1741–1825), auf der die Verbindung als »monstruosité en géographie«62 bezeichnet wurde.

62 Buache de la Neuville, Jean-Nicolas  : Carte générale de la Guiane. Dressée d’après les Observations les plus récentes pour servir aux Recherches à faire dans cette partie intéressante et encore peu connue de l’Amérique et à l’intelligence des diverses Relations qui ont été publiées jusqu’a ce jour (1798).

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Schlangenlinien Die wissenschaftliche Zeichnung zwischen Ornament und Experiment

Dieser Beitrag nähert sich der Frage nach der Funktion der wissenschaftlichen Zeichnung für das naturhistorische Erkenntnisvermögen, die sich im 17. Jahrhundert erst als Gattung innerhalb der Graphik herauszubilden begann, auf zwei Ebenen – einer historischen und einer systematischen. Die Beispiele sind aus der frühneuzeitlichen Herpetologie genommen, und es soll weitergehend der Einsatz der graphischen Linie zwischen ästhetischem Ornament und empirischer Erkenntnis thematisiert werden  : Dabei soll uns vor allem das Verhältnis der Linie zum Bildträger oder Bildgrund, dem Papier, interessieren. Die Schlangenlinie, wie Dürer sie erstmals nannte, gilt als Exempel der Linie schlechthin, ist sie doch ein Zeichen für Bewegung, für eine erste magische Belebung der Bildfläche. In der Kunst als solche favorisiert, in der naturgeschichtlichen Zeichnung mehr und mehr ausgeklammert, führt sie ein Doppelleben zwischen Objekthaftigkeit und abstraktem Darstellungsmittel. Eine wissenschaftliche Beschreibung der Schlange, eine ›anatomy of the snake‹, findet im 17.  Jahrhundert in Konkurrenz und Austausch dreier Zen­ tren statt – zwischen Florenz, Paris und London. So ergibt sich die Möglichkeit, den Einsatz der Graphik in den unterschiedlichen Wissenskulturen zu vergleichen, denn die jeweiligen Antworten ziehen eine diverse Bildergeschichte nach sich. Weiterhin wichtig und vielleicht nicht wirklich bekannt ist, dass in die Klärung der wissenschaftlichen Fragestellungen die besten Zeichner und Stecher der Zeit einbezogen wurden und man sich in der Argumentation nicht zuletzt auf deren Autorität bezog.

Der Mythos

Beginnen wir, wie es sich im Fall der Schlange gehört, mit einem Mythos. In Nicanders Lehrgedicht Theriaca (Nicander, 170 v. Chr.), das neben Galens späterer gleichnamiger Abhandlung als Referenztext aller toxikologischen und

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herpetologischen Diskussionen der Frühen Neuzeit gelten kann, erklärt sich die merkwürdig seitenwindende Bewegung der Hornviper (Cerastes) als Ergebnis einer legendären Begegnung mit der schönen Helena. Während Menelaos nämlich mit seinen Schiffen vor der ägyptischen Küste ankerte, starb sein Steuermann Kánopos an einem Schlangenbiss  ; Helena brach der Schlange aus Strafe dafür das Rückgrat.1 Tatsächlich bewegt sich eine Cerastes in schlingernden Bewegungen auf dem heißen Wüstensand, in dessen Region sie vor allem zuhause ist. Bekanntlich gibt es zwei Zeichnungen in Wasserfarbe auf Pergament von Jacopo Ligozzi, einmal ein Paar aus Libyen stammende Hornvipern, das andere Mal eine Cerastes und eine Ammodyte (eine Sandotter wie in der Helena-Sage) darstellend, die in der Kunstgeschichte ebenso häufig verhandelt werden wie in der Wissenschaftsgeschichte. Sie sind datierbar auf das Jahr 1577. Einiges dazu ist bekannt  : Die Vipern waren an den Hof der Medici gebracht worden, wo sie aufgrund ihres gefährlichen und exotischen Aussehens faszinierten. Ligozzi stellt sie in zwei Zeichnungen dar (Abb. 1a und 1b). Minutiös, mit Pinsel und Feder, werden die gekielten Flankenschuppen beschrieben, mit denen die Viper durch Bewegen der Körperschlingen jenes für sie charakteristische zischende Rasseln erzeugt, ebenso sorgfältig wird der Farbwechsel der Flecken auf dem Rückenstreifen und der Flanken wiedergegeben. Der Kopf, breit und dreiecksförmig, ist deutlich vom Körper abgesetzt, die Pupille des Auges senkrecht geschlitzt, über jedem Auge sitzt ein markantes Horn, das aus einer einzigen Schuppe besteht und herausragt, wenn sich die Viper im Sand eingräbt. Alles ist richtig beobachtet  : Es gibt keine Zeichnung, in der eine Schlange zuvor derart naturgetreu dargestellt wurde. Sogar die harten Bauchringe werden, um dem deskriptiven Anspruch zu genügen, von Ligozzi in porzellanartig glänzender Farbe aufgetragen. Natürlich fällt auf, dass ein solcherart vorangetriebener Naturalismus in der ornamentalen Verschlingung der Körper sogleich aufgehoben wird. Zwar trägt sie – neben den aufgesperrten Mäulern und im Zischen fransig erscheinenden Zungen  – dazu bei, Bewegung und damit Lebendigkeit auszudrücken. Aber 1 «If the tale be true, Bane-Helen coming from Troy was angered with this species when her company beached their vessel by the tumultuous Nile as they fled before the dread onset of the north wind, what time she beheld Canobus, the helmsman, swooning on the sands of Thonis  ; for as he slept a Female Blood-letter, on which he had pressed, struck him in the neck and belched forth its deadly poison into him, turning his rest to ruin. Therefore Helen crushed the middle of its trailing shape, breaking the ligatures of the back about the spine, so that the backbone started from its body. From that day forward the Blood-letter and the crooked-roving Cerastes alone of snakes move haltingly, oppressed by their injury.” Theriaca, S. 309–319.

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Abb. 1a  : Jacopo Ligozzi  : Zwei afrikanische Hornvipern (Cerastes cornutus coluber), Gouache auf Papier, ca. 1577, Biblioteca Universitaria, Bologna.

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Abb. 1b  : Jacopo Ligozzi  : Zwei afrikanische Hornvipern (Cerastes cornutus coluber) und eine Sandotter, Gouache auf Papier, ca. 1577, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz.

man kann den kunstvollen Knoten nicht alleine mit dem Lebendigkeitstopos erklären, vielmehr führt er eine formale Ordnung – eine Ästhetisierung des Naturgegenstands – ein, die die Schlange zu einer Linienkunst macht. Wir finden ähnliche Verschlingungen in Ulisse Aldrovandis Schlangenbuch, wo sie vor allem Drachen und Fabelwesen, also dem Mythos nahe stehende Schlangentiere, charakterisieren, und selbst noch in Severinos Vipera Pythia von 1650 oder bei Albertus Seba zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird eifrig geknotet. Der Großherzog jedenfalls schickte, in einer generösen Geste, eine der beiden Zeichnungen Ligozzis zusammen mit dem Vipernpaar an Aldrovandi nach Bologna, der dies auch später auf dem Zeichnungsblatt vermerkte  : Diese äußerst gefährliche Cerastes aus Libyen wurde dem ehrwürdigen Großherzog von Toskana zusammen mit einer Ammodite gebracht  : Der mir diese beiden wiederum lebend zum Geschenk machte und mir von ihnen auch eine Zeichnung zukommen ließ

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– und weiter, zusammengefasst  : Aus den Bisswunden der Ammoditen würde, wie schon Dioscorides vermerkte, viel Blut quellen. Gemeint ist wohl die hämorrhagische2, d. h. die das Blut- und das Körpergewebe auflösende Wirkung des Viperngifts, eine für die Giftkunde wichtige Beobachtung. Wir wissen zudem, dass Aldrovandis Abbildung einer Cerastes in seinem Schlangenbuch auf dieses Geschenk zurückzuführen ist.3 Wir können deutlich sehen, dass sie aus Ligozzis Zeichnung hervorgegangen ist, während sie in Jan Jonstons Wiederholung von 1653 dann schlichtweg horizontal gelegt wurde und ihre mediceische Provenienz nicht mehr verrät. Ein anderer Hinweis, der in der Kunstgeschichte des Öfteren gemacht worden ist, nämlich dass auch Caravaggios Medusa ein Schlangenhaar aus Cerastes hätte und dieses eventuell sogar auf das Vipernpaar der Medici und/oder Ligozzis Zeichnung rückzuführen wäre, ist nicht haltbar. Darüber ist in gar nicht peripheren Noten gestritten worden, zuletzt in einem Beitrag, in dem das Medusenhaar fälschlich als harmlose Wasserschlange (Ringelnatter, Natrix natrix) identifiziert wurde, vergleichbar mit der Spezies in Rubens’ und Snyders bekannter, etwa 1618 entstandener Darstellung des abgeschlagenen Gorgonenhaupts in Wien. Weiterhin gibt es in den Uffizien die Medusendarstellung eines unbekannten flämischen Meisters, das dem Großfürsten Ferdinando II. ca. 1666 von seinem ehemaligen segretario di camera, Ippolito de Vicq, vermacht worden war. Der Bildtyp geht in seiner Erfindung zurück auf die von Vasari überlieferte Anekdote, der zufolge Leonardo da Vinci in jungen Jahren ein Medusenhaupt so echt dargestellt und mit einem Vorhang versehen hätte, dass sein Vater beim plötzlichen Anblick vor Schreck erstarrt wäre.4 Dies nur in kurzer Erwähnung, um das bildimmanente Potential von Schlangendarstellungen deutlich zu machen, das seit ca. 1600 vor allem am Hof der Medici in Florenz kultiviert wurde. Für Caravaggios Medusa jedoch kann festgehalten werden, dass wir es keinesfalls mit harmlosen Ringelnattern, sondern mit einem veritablen Vipernnest zu tun haben, und zwar der Spezies der von Linné später so genannten vipera francisciredi. Es sind nämlich vor allem jene Vipern, mit denen Francesco Redi am Hof der Medici seine berühmten Schlangenexperimente durchführen wird.5 2 = cytotoxisch (im Gegensatz zu neurotoxisch). 3 Im Buch Serpentum et Draconum historia (Bologna 1640, S. 175) ist vermerkt  : »Cerastes ex Libya, qui vivus ad Serenissimum Hetruriae Magnum Ducem delatus fuit unà com Ammodyte.« 4 Das flämische Medusenhaupt kam mit einem Vorhang in die Guardarobe Generale medicea und galt lange Zeit für das verloren geglaubte Gemälde Leonardos. Zur Zuschreibung vgl. Conticelli, Valentina (Hg.)  : Medusa. Il mito, l’antico e i Medici, Florenz 2008, S. 66. 5 So die Einordnung nach Michael Franzen, Zoologische Staatssammlung, München. Innerhalb

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Schlangenbücher

Grundsätzlich war die frühneuzeitliche Herpetologie, die – nicht genau fassbar zwischen Zoologie und Medizin changierend  – als Unterdisziplin die Toxikologie hervorbrachte, zunächst in Italien beheimatet. Der als Professor für Medizin in Ferrara und auch für kurze Zeit in Bologna tätige, in Altsprachen hochgradig bewanderte Nicolò Leoniceno hatte 1498 das erste gedruckte Reptilienbuch6 herausgegeben und sich darin Plinius gegenüber so ablehnend geäußert, dass ihn der Urbiner Jurist und Amateur-Naturalist Pandolfo Collenuccio als Pliniomastex, also als Plinus-Auspeitscher, beschimpfte und im Gegenzug ein weiteres Schlangenbuch (De Vipera Libellus [1506]) verfasste.7 Es ist jedoch Leonicenos skeptisches und sprachkritisches Erbe, an das mehr als ein Jahrhundert später Francesco Redi anknüpfen sollte. Leonicenos wollte sich auf eine genaue Begrifflichkeit sowie auf eigene Beobachtungen stützen. Beiden ging es, im Sinne einer geschärften Empirie und Philologie, um die Korrektur irrtümlicher Meinungen antiker Autoren rund um das Schlangengift und damit um eine bessere medizinische Versorgung bzw. Anwendung von Gegengiften. Seit der Mitte des 16.  Jahrhunderts boomte es dann im zoologischen, besonders im herpetologischen Fach. 1587 war als fünfter Band seiner Historia Animalum postum Conrad Gessners Serpentium Natura erschienen  ; 1637 und 1639 wurden ebenfalls postum Ulisse Aldrovandis Schlangenbücher herausgegeben.8 In letzterem befindet sich der Holzschnitt jener uns bereits bekannten der Literatur ist die Identifizierung unterschiedlich ausgefallen, siehe z. B. als Vipera aspis in  : Vanni, Stefan/Nistri, Annamaria  : »I Serpenti della Medusa«, in  : Caneva, Caterina (Hg.)  : La Medusa del Caravaggio Restaurata, Rom 2002, S. 61 f.; als Wasserschlangen (Natrix natrix) bei Cavanna, Guelfo  : Nozioni di Biologia Animale, Florenz 1918, S. 301  ; Varriano, John  : »Snake eyes. Caravaggio, Ligozzi, and the Head of Medusa«, in  : Source 24 (2004), S. 14. Rubens’ Gemälde dagegen zeigt tatsächlich Wasserschlangen, vgl. Sutton, Peter C.: The Age of Rubens, Boston u. a. 1993, S. 247. 6 De Tiro, seu Vipera, 1518, stark erweitert als De Serpentibus Opus Singulare ac Exactissimum, Lucrezia Borgia gewidmet. 7 Darin wurde an der Autorität älterer Autoren festgehalten, vor allem an deren auf Ähnlichkeitslehre basierender Heilpraxis, der zufolge Pflanzen und Lebewesen einander aufgrund ihrer Form therapeutisch zugeordnet werden konnten. 8 De Quadrupedibus Digitati Viviparis Libri Tres sowie, 1639, der Band Serpentum, et Draconum Historiae Libri. In der Werkstatt Aldrovandis waren neben den aus Augsburg stammenden deutschen Zeichnern der aus Frankfurt stammende Cornelis Swint oder Svinto, der Florentiner Lorenzo Benini sowie Andrea Budano, Pastorino de Pastorini und Jacopo Ligozzis Bruder Francesco beschäftigt.

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Karin Leonhard Abb. 2  : Darstellung zweier ineinander verschlungener Vipern, in  : Marco Aurelio Severino  : Vipera Pythia, Patavia 1651.

Cerastes, der noch einmal bei Jan Jonston 1653 auftaucht9, nun jedoch als Kupferstich  – Jonstons Historiae Naturalis war nämlich die erste zoologische Enzyklopädie, die mit Kupferstichen bebildert war. In England wiederum hatte Edward Topsell 1608 einen buchstäblichen Top-Seller auf den Markt der gerade entstehenden natural science gebracht  : The Historie of Serpents, für lange Zeit das einzige englischsprachige Werk über Schlangen, wenngleich eine reine Kompilation aus Gessner und anderen älteren Quellen, auch was die Illustrationen anging. Das Werk wurde im nordalpinen Raum stark rezipiert, während in Italien Marc’Aurelio Severinos 1650 erschienene Schrift Vipera Pythia10 zum Standardwerk avancierte.11 Severino, für seine unorthodoxe Haltung in Religion und Philosophie ebenso bekannt wie für seine grausamen Vivisektionen, hatte 1616 erstmals eine Viper anatomisch untersucht. Sein Traktat beschäftigt sich dann auch mit der Frage der Richtigkeit mythologischer oder antiker Überlieferungen, wobei die Kupfertafeln eben nur wieder genau diese Bildtradition   9 Im Kapitel Serpentibus et Draconibus. 10 21651 leicht verändert. 11 Severino, Marc’Aurelio  : Vipera Pythia, Neapel 1650.

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Abb. 3a  : Baldo Angelo Abbati  : Physici Eugubini de Admirabili Viperae, Urbino 1589, zählt zu den ersten Schlangenbüchern. Abb. 3b  : Baldo Angelo Abbati  : Physici Eugubini de Admirabili Viperae, Urbino 1589, S. 84. Diese Abbildung zeigt bereits eine Sezierung.

aufgreifen und den Schlangenkörper als ornamentale, ganz aus der formalen Qualität der sich windenden Linie entwickelten, Gestalt verstehen. (Abb.  2) Eine Ausnahme, d. h. eine einzige fragmentarische ›Nahaufnahme‹ gibt es dennoch. Einmal wird der Kopf einer Viper samt ihrer Zähne gezeigt, es geht um die genaue Anzahl, über die man sich zu dieser Zeit nicht einig war. Diese Frage beschäftigte noch Redi und andere Naturhistoriker des 17. Jahrhunderts, ebenso wie die Frage nach der Beschaffenheit der Zähne, d. h. ihre Aushöhlung, in der das Gift transportiert wird. Darauf komme ich noch zurück und auch auf die Tendenz zum Fragment, die nun in die wissenschaftliche Zeichnung Einzug hält und sehr der Praxis – nämlich der ins Partielle vordringenden sezierenden Analyse  – entspricht. Zunächst jedoch schließen wir die Publikationsreihe ab mit einer Schrift des Urbiner Hofarztes Baldo Angelo Abbatis zum Viperngift, seine Physici Eugubini de Admirabili Viperae (1589)12 (Abb. 3a und 3b). Abbati hatte 12 Die Schrift war dem 6. Herzog von Urbino, Francesco Maria II. della Rovere, gewidmet.

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erstmals eine Klapperschlange seziert  ; die Ergebnisse wurden in Kupferplatten in sein Schlangenbuch aufgenommen. Der darin zu findende neue anatomische Darstellungsmodus – es sind die ersten ihrer Art – ist wichtig für die Entwicklung des graphischen Umgangs mit dem Reptil.13 Soweit der Stand der Diskussion sowie des Bildrepertoires, auf den sich Redi mit seinen Schlangenexperimenten beziehen konnte. Aktualisiert wurde er durch die am Florentiner Hof um Ferdinando II., den zweiten Mithridates, wie er genannt wurde, eingeführte Theriak-Herstellung.14 Denn Redis Osservazioni intorno alle vipere, seine erste unabhängige wissenschaftliche Arbeit, hatten die in Florenz inzwischen zu einer offiziellen Zeremonie avancierte Herstellung des Gegengifts Theriak zum Ausgangspunkt.

Theriak

Der Prozedur der Theriak-Produktion standen hohe Autoritäten bei, es war ein fürstliches Unternehmen. Jährlich im Juni wurden Hunderte von Schlangen aus Neapel nach Florenz gebracht, um zu einem Pulver verbrannt zu werden, das mit bis zu 300 verschiedenen Kräutern vermischt wurde und nicht nur gegen Schlangenbisse, Epilepsien und Aussatz, sondern auch gegen Pest, Cholera und Syphilis helfen sollte. Bereits die Ärzte des klassischen Griechenlands hatten versucht, die Bisse giftiger Schlangen mit einer Kräutermixtur aus Anis, Fenchelsamen und Kümmel zu heilen, die – als Rezept bereits in die Mauer des Asklep auf der Insel Kos eingemeißelt – Theriak genannt wurde.15 Unter Mithridates VI Eupator (132–63 v. Chr.), der ein Giftmörder war und sich selbst vor Anschlägen fürchtete, wurde die Rezeptur auf 54 Ingredienzen und magische Zutaten wie Entenblut, Schlangen- und Krötenfleisch angereichert, später kam 13 Abbati war auch der erste unter den frühneuzeitlichen Medizinern, der, antike Quellen aufgreifend, den Verzehr von Schlangenfleisch als mögliches Gegengift beschrieb. 14 Donato Eremita (»aromatico e medico di Rocca d’Evandro, dell’Ordine dei Predicatori«) beispielsweise hatte sein Traktat Elixir Vitae, Napoli 1624, Ferdinando II., Großherzog von Toskana, mit folgenden Worten gewidmet  : »…al pari dei suoi predecessori e imitatori di Mitridate, re del Ponto, impiega tesori nelle vere preparazioni di preziosissimi antidoti, e per tal opra appresso di sé mantiene gran numero di artefici, pratici, e intendenti di misteri dell’occulta filosofia, da’ quali mi glorio anch’io d’aver, ne’ primi anni appreso il modo d’avanzarmi in questa professione.« Nach  : Torresi, Antonio P.: Il Ricettario Medici. Alchimia, farmacopea, cosmesi e tecnica artistica nella Firenze del Seicento, Ferrara 2004, S. 22 f. 15 Der Begriff wird erstmals um ca. 170 v. Chr. bei Nikandros von Kolophon, Arzt, Grammatiker und Dichter, erwähnt.

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noch das aus Mohn gewonnene Opium hinzu.16 Galen beschreibt, wie die Rezeptur von Nero aus Angst vor einem Giftmord regelmäßig als Gegenmittel geschluckt und von Kaiser Mark Aurel täglich zur Immunisierung eingenommen wurde. Theriak war zunächst einmal ein Medikament für Fürsten, die mit der Gefahr eines Anschlags auf ihre Person lebten. Im 17.  Jahrhundert war es zu einer teuren Ware geworden, mit der man einen Markt bespielen konnte. Die Medici hatten sich darauf spezialisiert, mit Venedig als größtem Konkurrenten.17 Francesco Redi jedenfalls hatte in seiner Funktion als Leibarzt des Großherzogs das über mehrere Tage abgehaltene, an magische Riten erinnernde Schlachten, Häuten und langsame Rösten von Vipern zu überwachen, deren Asche für die Aufbereitung des Gegengifts verwendet wurde. Der Prozedur war eine hohe Theatralität inne, auf die Redis Schlangenbuch in gewisser Weise antwortete. Wir dürfen nicht vergessen  : Redi war nicht nur Naturwissenschaftler und Gründungsmitglied der Accademia del Cimento, sondern auch Poet und Mitglied der Accademia della Crusca, und es ist u. a. seiner Bibliophilie zu verdanken, dass Benvenuto Cellinis Autobiographie in seiner Sammlung erhalten wurde.18 Tatsächlich beginnt sein Traktat mit einer 16 Die persische bzw. turkmenische Bezeichnung Teriak bzw. Theriaak für die aus dem Mohn gewonnene Substanz führte wohl zu dem Namen Theriac. Siehe dazu z. B.: Holste, Thomas  : Der Theriakkrämer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Arzneimittelwerbung, Pattensen/Hannover 1976  ; Watson, Gilbert  : Theriac and Mithridatium. A study in therapeutics, London 1966  ; Wear, Andrew u. a. (Hg.)  : The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985  ; Findlen, Paula  : Museums, Collecting and Scientific Culture in Early Modern Italy, Berkeley 1989, S.  287–386. Zentren der Theriak-Herstellung in der Frühen Neuzeit waren neben Venedig und Florenz vor allem Amsterdam und Nürnberg. Vgl. Olmi, Giuseppe  : Farmacopea antica e medicina moderna. La disputa sulla teriaca nel cinquecento bolognese, in  : Physis  19 (1977), S. 197–246  ; Palmer, Richard  : Pharmacy in the Republic of Venice in the Sixteenth Century, in  : Wear, Andrew u. a. (Hg.)  : The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 1985, S. 100–117, insbesondere S. 108–110. 17 Wichtige Umschlagplätze waren Amsterdam und Nürnberg. 18 Vgl. Cole, Rufus  : Francesco Redi (1626–1697). Physician, naturalist, poet, in  : Annals of Medical History 8 (1926), S. 347. Und siehe ebd., S. 359  : «It is appropriate that this statue of Redi should stand here (gem.: Gallery of the Uffizi) for it is to Redi that we owe the wonderful Uffizi collection of marbles. The story is that Cosimo, being frequently ill from over-eating and drinking, was advised by Redi to take regular walking exercises. He decided to follow this advice by walking regularly in the great corridor of the Uffizi, and to amuse himself during this time of exercise he decided to assemble here all the marbles belonging to the Medici. He thus collected here all the wonderful statues, which, until then, were scattered about, many being in the Villa Medici in Rome.”

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Beschreibung der Ankunft der vielen Schlangen aus Neapel im Juni 1663, der Ferdinand II. und Leopoldo de Medici mit ihrem Hofstaat beiwohnten. Schnell entspann sich unter den Anwesenden, so Redi, ein Gespräch über die Rolle der Vipern in der Herstellung des Antidots, über die Zusammensetzung ihres Gifts und den Ort im Körper der Schlange, an dem es produziert werde. Da sich darüber keine Einigung abzeichnete, befahl der Großherzog eine Versuchsanordnung »zur Feststellung der Wahrheit«.19 Auf diese Weise begann die an insgesamt mehr als 300 Exemplaren vollzogene Experimentenreihe Redis, die ihn über die Frage, ob das Gift in einem Stachel am Schwanzende sitze (schnell widerlegt), in der Galle produziert (der Schlangenfänger Jacopo Sozzi trinkt zur Demonstration triumphierend ein Glas Gallensaft) oder über die Fangzähne appliziert werde (verifiziert), zur entscheidenden Problemstellung führte  : Muss das Gift in den Blutkreislauf gelangen, um zu töten  ? An dieser Stelle beginnt ein Diskurs, der die Laborsituation historisch verankert und mehr noch  : historisch relevant macht. Er liest sich zunächst wie eine Detektivgeschichte, in der nichts weniger als die »Akte Cleopatra« noch einmal geöffnet wurde. Ist es denn wahrscheinlich, fragt Redi, dass sich die ihren Tod so sorgfältig planende Cleopatra damit zufrieden gab, eine Viper aus ihrem Versteck zu holen und an ihre Brust zu halten  ? Viele Bilder und Gemmen, so Redi in einer Art von Bildkritik, zeigen uns genau diese Version, wie auch die Berichte bei Plutarch, Properz, Paolo Orosio u. a., doch gibt es Gegendarstellungen z. B. in Galens De theriaca ad Pisonem oder in Dio Cassius Cocceianus’ Historiae romanae (Paris 1548). Bei letzteren heißt es, die ägyptische Königin hätte ihre Haarnadel in Schlangengift getaucht und sich damit kurzentschlossen in die Haut geritzt. Ein solches Verfahren zeugt ebenso von der Willenskraft der Königin wie von ihrem Wissen um die Wirkung des Gifts, das am tödlichsten wirkt, wenn es in direkten Kontakt mit einer Wunde kommt und ins Blut gelangt. Angesichts der Experimente, die Redi in Dutzenden an Hunden, Katzen, Ziegen, Hühnern usw. anstellte, war inzwischen ganz klar geworden, dass dies die effektivste Art war, ein Lebewesen zu vergiften. Man konnte das Schlangengift problemlos trinken, wenn man keine inneren Verletzungen oder kranken Zähne hatte, heißt es weiter, man konnte zuweilen sogar einen Vipernbiss überleben, wenn er falsch platziert war. Niemals jedoch konnte man der tödlichen Kraft entkommen, die das Gift in einer offenen Wunde entfaltete.20 19 Redi, Francesco  : Experiments on Vipers, hg. von Knoefel, Peter K., Leiden 1988. 20 Ebd., S. 18.

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Abb. 4  : Stefano della Bella  : detailgenaue Darstellung der Giftzähne einer Viper, ca. 1660, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz.

Dies ist der Diskussionsstand von 1663/64, auf den Redi antwortet, und in diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert zu sehen, wie in den Zeichnungen und Gemälden fast gleichzeitig der wissenschaftliche Realismus steigt und die Bilder profan werden. Ausgerechnet von Stefano della Bella, dem Ornamentkünstler, ist beispielsweise die Aquarellzeichnung eines Vipernkopfs mit Giftzähnen erhalten, die im Zusammenhang mit den Florentiner Schlangenexperimenten entstanden sein könnte (Abb. 4). Was aber bedeutet es, das Bild der Schlange zunehmend mit Profanierungen zu versehen  ?

Francesco Redi und Moyse Charas

Festzuhalten ist, dass Redi keinerlei Zeichnungen zu den Schlangenexperimenten angefertigt hatte und der Schrift ergo auch keine Stiche beigegeben wurden. Das ist umso erstaunlicher, als ja gerade Florenz entscheidende Impulse auf dem Gebiet der herpetologischen Darstellung geliefert hatte. Redi aber war an keinen Illustrationen gelegen. Wenig später saß dagegen in Paris der damals schon aus der Académie Royale entlassene Abraham Bosse an der Zeichnung von Schlangen, die der Pharmazeut Moyse Charas im Gegenzug zu Redis Experimenten seziert hatte. Charas, der Chemie am Jardin Royale unterrichtete, der persönliche Apotheker Ludwigs  XIV. und nach seiner Emigration nach England dann der Charles II. war, hatte in seinen Klassen schon früh mit lebenden Vipern experimentiert und auch zur Giftherstellung publiziert. Von Redi fühlte er sich übergangen und provoziert  ; der zwischen ihnen ausgefochtene Disput wurde legendär

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(Abb. 5a und 5b). Charas jedenfalls publizierte die von Bosse hergestellten und in vielerlei Hinsicht auf Abbati antwortenden Stiche 1669 in seinen Nouvelles expériences sur la vipère, und zwar weil sich, wie er in seiner Einleitung schrieb, in frühere Traktate immer noch Fehler eingeschlichen hatten, die durch die präzise Zeichenkunst von Monsieur Bosse nun jedoch behoben wären  : »Il a bien voulu designer apres le naturel, & en suite graver toutes les parties considerables de cet Animal«.21 Umso auffälliger ist die Diskrepanz zwischen dem fortschrittlichen Anspruch der Zeichnungen und Charas’ hartnäckiger Behauptung, dass Schlangen nur giftig seien, wenn sie gereizt würden, dass das Gift nichts anderes sei als die Materialisierung der aggressiven Imagination des Tiers  : Wir schließen daraus, dass die Imagination der Viper, gereizt durch Rachegedanken, die sich in ihr geformt haben, die Animalgeister in Bewegung versetzt und sie gewaltsam durch die Nerven und deren Verzweigungen in die Höhlungen der Fangzähne presst, und dass diese dadurch in den Blutkreislauf der Tiere gelangen […].22

Um einen tödlichen Biss zu empfangen, musste man es also mit einer gereizten Schlange zu tun haben, sodass auch Shakespeare im Finale von Antonius und Cleopatra (1608) die Königin zur Viper sagen lässt  : »Poor venomous fool, be angry and dispatch.« Redis Antwort auf Charas’ Einwurf ist in ähnlich polemischer Eleganz verfasst wie seine früheren Osservazioni. Sie stützte sich auf seine Experimente, 21 Charas, Moyse  : Nouvelles expériences sur la vipère, où l’on verra une description exacte de toutes ses parties, la source de son venin, ses divers effets et les remèdes exquis que les artistes peuvent tirer de la vipère, tant pour la guérison de ses morsures que pour celle de plusieurs autres maladies (1669), unpaginiert, Vorwort. Weitere Passagen zur Viper in  : ebd.: Thériaque d’Andromachus, dispensée et achevée publiquement à Paris par Moyse Charas, avec les réformations et les observations de l’auteur tant sur l’élection et sur la préparation, que sur le dernier mélange de tous les ingrédiens de cette grande composition. Titre alternatif  : Histoire naturelle des animaux, des plantes et des minéraux qui entrent dans la composition de la thériaque d›Andromachus, dispensée et achevée publiquement à Paris, par Moyse Charas, avec les réformations et les observations de l’auteur (1668)  ; Pharmacopée royale galénique et chimique (1676). Vgl. auch  : Catellani, Patricia und Console, Renzo  : Moyse Charas, Francesco Redi, the Viper and the Royal Society of London, in  : Pharmacy in History 34, 1 (2004), S. 2– 10. 22 Charas  : Nouvelles expériences sur la vipère, S. 96  : »Nous conluons donc, que l’imagination de la Vipère, estant irritée par l’idée de la vengeance qu’elle s’est formée, donne un mouvement aux esprits que ne se peut exprimer, & et les pousse avec violence par les nerfs & par leurs vibres, vers la cavité des dents, comme dans une entonnoir, & et que de là ils sont portez dans le sang de l’animal, par l’ouvertures qu’elles luy ont faite […].«

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Abb. 5a  : Moyse Charas  : Nouvelles expériences sur la vipère, Paris 1672, fig. I. Die Abbildung von Abraham Bosse lehnt sich an Abbatis Illustration an.

Abb. 5b  : Moyse Charas  : Nouvelles expériences sur la vipère, Paris 1672, fig. III.

die auf ein anderes Ergebnis schließen ließen und sich von den poetischen Fabeln dadurch unterschieden, dass sie durch wiederholte Beobachtung verifiziert würden. Hören wir auf sein Argument  : Die Künste nämlich, so Redi, bedienten sich einer poetischen licenza, die zum Teil einer leichteren Lesbarkeit und Verständlichkeit der istoria diente, während die Wissenschaften einen ganz anderen Zweck verfolgten, nämlich den der Archäologie falscher Aussagen. Auf diese Weise unterscheidet Redi zwischen der Aufgabe der Künste (und dabei vor allem der modernen Künste), die sich in der Darstellung von Historien malerische oder dichterische Freiheiten erlauben dürften, und dem Ziel der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung im Sinne eines ›yes‹ und ›no‹.

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Gleichzeitig eröffnet er eine Bildtypologie, in der es zweierlei ›wahre‹ Bilder gibt, Bilder der Fiktion und Bilder der Wirklichkeit. Sie erfüllen verschiedene Funktionen und sind eventuell nicht gegeneinander ausspielbar. Die moderneren Maler jedenfalls, so Redi in expliziter Referenz zu Pier Vettoris Analyse der Historienmalerei in den Variarum lectionum (Florenz 1533)23, würden die poetische Lizenz zur freien Gestaltung weitaus mehr auskosten als die alten, die sich enger an die res ipsae der geschichtlichen Ereignisse gehalten hätten. Die Treue der Modernen zu den Dingen sei geschwächt, weil sie sich bereits in einem Kunstsystem verankert sähen, das Selbstbezüge herstelle und verlange. Die historische Zeit, die sich zwischen das Ereignis und seine Darstellung geschoben habe, würde dem poetischen intertextuellen Verfahren Vorschub leisten und den medialen Status der Darstellung betonen (sie sind immer schon Produkt von cultura). Eine Rekonstruktion bzw. Aufdeckung der Tatsachen (natura) dagegen könne nur das methodische Verfahren der Naturwissenschaftler liefern, die, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, ebenfalls Historienschreiber und -maler seien, nur eben auf dem Gebiet der Naturhistorie und ohne jene licenza artistica. Man fühlt sich an die von Aristoteles in seiner Poetik vorgenommene Unterscheidung zwischen Historiographie und Dichtkunst erinnert, derzufolge ein Geschichtsschreiber sich dem Partikulären, So-Dagewesenen zu widmen habe, ein Dichter dagegen dem Bereich des Wahrscheinlichen und Möglichen. Ein Bild von Cleopatras Tod, wie es Reni darstellte, antworte als Kunstwerk andern Regeln und Gesetzen und sehe im Ergebnis anders aus als eine wissenschaftliche Darstellung. Im Folgenden wird die Reichweite der Zeichnung zwischen Scientia und Inventio ausgelotet. Da Redi selbst sowohl als Dichter wie auch als Naturwissenschaftler tätig war, kann er zwischen beiden Bereichen ebenso vermitteln wie Grenzen ziehen. Kunst und Naturwissenschaft  unterliegen unterschiedlichen Auffassungen (im Sinne einer Spannung von Potentialität und Aktualität), sie verfolgen verschiedene Aufgaben  ; für die Entwicklung der wissenschaftlichen Zeichnung hat eine solche Aussage Konsequenzen.

Edward Tyson und die Royal Society

Die fellows der Royal Society haben am fleißigsten gezeichnet. 1682 war aus Virginia eine Klapperschlange nach London gebracht worden, die bald darauf 23 Vettori, Pier  : Variarum lectionum libri xxv, Florenz 1533.

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Abb. 6a  : Edward Tyson  : Skizzenbuch, MS 618, Royal College of Physicians, London.

Abb. 6b  : Edward Tyson  : Viperi Caudi-Sona Americana, or the Anatomy of a Rattle-Snake, in  : Philosophical Transactions, January 13, 1 (1683), S. 25-46. Der Kupferstich stammt von Michael Burghers.

starb und von Edward Tyson, den wir vor allem durch sein Traktat über den Orang-Utan als vergleichenden Anatom der ersten Stunde kennen24, aufwendig seziert wurde. Durch einen Eintrag in das Journal Book of the Royal Society vom Januar 1683 wissen wir, wer Tysons Sezierung als Zeichner begleitet hat  : «Dr Tison produced several figures of the parts of the Rattle Snake, as they were 24 Vgl. Tyson, Edward  : Orang-Outang, sive Homo Sylvestris  : or, the Anatomy of a Pygmie Compared with that of a Monkey, an Ape, and a Man, London 1699.

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drawn by Mr Faithorne, Mr Waller and Mr Hunt, and were ready to be graved.”25 (Abb. 6a und 6b) Die Namen sind illuster  ; William Faithorne war Sohn des gleichnamigen Stechers William Faithorne d.  Ä., der, in England unter William Peake, im französischen Exil unter Robert Nanteuil ausgebildet, nach seiner Rückkehr Abraham Bosses Traktat zur Druckgraphik ins Englische übersetzte und herausgab (1662)  ; Richard Waller hat sich als wissenschaftlicher Zeichner und Farbtheoretiker einen Namen gemacht  ; der unter Robert Hooke ausgebildete Henry Hunt war ebenfalls ein exzellenter Zeichner und stach u. a. die Platten der Philosophical Transactions.26 Tyson war um qualitative Abbildungen bemüht – die Figuren sollten, wie er schrieb, »where necessary by the skilfullest Artists« angefertigt werden. Und  : «If the graver find ye cutts too much for ye rate you agree, he must have more, I would have things done well whatever they cost.”27 Im Fall der Klapperschlange stammen die Kupfer von Michael Burghers, einem holländischen Künstler, der sich in Oxford angesiedelt hatte und zu den besten Stechern seiner Zeit zählte. Durchblättert man das von Tyson aufbewahrte Skizzenbuch und betrachtet das vielfältige Material unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Typologie der naturhistorischen Zeichnung, so fallen die häufigen Schlagschatten in den Zeichnungen auf, die in den Kupferstichen zuweilen bestehen bleiben, zuweilen verschwinden. In den Skizzen hatten sie den Objektcharakter der Präparate betont sowie ihre Lage auf dem Seziertisch bestimmt, gerade komplizierte Anordnungen werden dadurch verortet und damit lesbarer wie beispielsweise beim Kopf der Schlange oder dem komplizierten Kopfskelett. Das ist eine Wirkung. Eine andere besteht darin, auf diese Weise die Situation der anatomischen Stunde nachzuvollziehen und selbst Augenzeuge der schrittweisen Entdeckung – und nicht Erfindung – der inneren Strukturen biologischen Lebens zu werden.

25 Journal Book of the Royal Society, 6 London (1683), S. 19 f. 26 «Hunt was paid at first twenty pounds a year as Operator and then forty pounds a year as Keeper of the Library and Repository. In addition, he engraved plates for the Philosophical Transactions and other works. Some of his drawings, which are excellent, are in the possession of the Society and others are in the British Museum.” Lyons, Sir Henry  : The Royal Society 1660–1940. A History of its Administration under its Charters, Cambridge 1944, S. 142. 27 Vgl. Gunther, Robert Theodore  : «Dr. Plot and the Correspondence of the Philosophical Society of Oxford”, in  : Early Science in Oxford 12 (1939). Es gibt z. B. Mahnungen zur vorsichtigen Behandlung der in ›dry colour‹ ausgeführten Zeichnungen, der Stecher solle nicht zu sehr an ihnen reiben, außerdem solle man sie nach Gebrauch umgehend an ihn zurücksenden.

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Zwischen Mythos und Experiment

Francesco Redi hatte mit einfachen, abstrakten Funktionsdiagrammen gearbeitet, wenn er sezierte, und kein morphologisches Interesse an den Tag gelegt. Kunst und Naturwissenschaft waren für ihn getrennte Dinge. Moyse Charas dagegen hatte den Künstler Abraham Bosse zu sich gerufen, um ein exaktes und damit autoritäres Bild der Viper zu verbreiten, aber wir sehen, wie stark es sich an ältere Vorlagen anlehnte und damit traditionell blieb. Edward Tyson wiederum hatte gleich drei Zeichner neben sich arbeiten lassen, die ihre Illustrationen analog seiner Sezierleistung aufs Papier brachten. Die akkurate Darstellungstechnik des Zeichners war dabei zum Äquivalent der anatomischen Tätigkeit geworden – eine für die naturwissenschaftliche Graphik des 17. Jahrhunderts gängig werdende Gleichung zwischen Stift, Griffel und Skalpell. Wenn wir zuvor festgestellt haben, dass die Schlange eine Art visuelles Doppelleben zwischen konkreter Objekthaftigkeit und abstrakter Linie führt, so lässt sich für die wissenschaftliche Zeichnung im Rahmen der Naturgeschichte ganz Ähnliches sagen  : Sie changiert ruhelos zwischen abstrakter Diagrammatik und deskriptivem Naturalismus. Es lässt sich kein einheitliches Bild von ihr herstellen, denn der Pendelschwung zwischen Entdecken und Erfinden hält auch bei ihr nicht ein. Eine Tendenz zeichnet sich dennoch ab  : In der Wissenschaft spricht man hauptsächlich vom ›Entdecken‹ und ›Enthüllen‹ der Arcana Naturæ, so als wären sie im Verborgenen immer schon dagewesen und nur noch nicht sichtbar geworden. Das (übrigens ebenfalls von Richard Waller entworfene) Frontispiz der englischen Ausgabe der Saggi di naturali esperienze – der einzigen Publikation der Florentiner Accademia del Cimento – zeigt genau diesen Moment.28 Dort muss Aristoteles zusehen, wie sich die Diva Natura erst jetzt, d. h. erst unter der Ägide der modernen natural scientists, vollkommen vor ihm entblößt. Dass dabei koboldhaft-klein noch einmal Caravaggios Medusa als Kartuschenfigur unter der Szene auftaucht, mag jedoch zugleich darauf deuten, dass der Mythos im 17. Jahrhundert nie ganz aus dem Bild, auch nicht aus der wissenschaftlichen Zeichnung, verschwunden ist. 28 Die italienische Erstausgabe erschien autorenlos, die Accademia verhielt sich als Kollektiv  : Saggi di naturali esperienze fatte nell’Accademia del Cimento, Florenz 1667  ; engl. Ausgabe  : Essayes of Natural Experiments made in the Academie del Cimento under the protection of the Most Serene Prince Leopold of Tvscany. Written in Italian by the secretary of that academy. Englished by Richard Waller…, London 1684.

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Was aber bedeutet dies für die jeweiligen Verfahrensweisen der Naturgeschichte  ? Die Zusammenschau verschiedener Schauplätze der naturhistorischen Zeichnung hat gezeigt, dass die Zeichnung die Funktion hat, eine verallgemeinernde Aussage zu treffen. Ebenso wurde aber auch deutlich, dass diese Funktion im Laufe des 17.  Jahrhunderts unterschiedlich interpretiert wird. Entsprechend werden verschiedene Verfahrensweisen der Naturgeschichte deutlich  : Gegenüber den älteren ornamentalisierenden Darstellungstraditionen der Mythologie gewinnt in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts ein parzellierender und sezierender Blick an Bedeutung – die Zeichnung verkörpert diese wechselnden naturhistorischen Verfahren gleichsam.

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Schnittverfahren Operationen an der Hydra (Trembley, Linné, Goethe)

Am 16. und 17. August 1797 schreibt Johann Wolfgang von Goethe einen Brief aus Frankfurt a. M. an seinen Freund und Weimarer Kollegen Friedrich Schiller. Er berichtet darin von einem Problemzusammenhang, den er mit dem Ausdruck ›Hydra‹ umschreibt. Goethe notiert, dass er – gesetzt den Fall, er hätte das Problem nicht schon in Form eines symbolischen Sehens gefunden – lieber Zuhause »Phantome jeder Art hervor[…]arbeiten« würde, als sich mit der »millionenfachen Hydra der Empirie«1 herumzuplagen. Die Stelle lässt mindestens zwei Lesarten zu. Die erste würde die Hydra als eine rhetorische Figur perspektivieren, als eine metaphorische Hydra. Nach einer allgemeinen – und etwa von Johann Christoph Gottsched vertretenen – Definition der Metapher schließt diese Form tropischer Rede ein »kurzes Gleichniß«2 in sich, welche das Substituierende mit dem Substituierten in eine Relation der Ähnlichkeit setzt. Das kurze Gleichnis würde in einer ersten Annäherung darin bestehen, dass etwas  – wenn nicht alles (»millionenfache«)  – in der erfahrbaren Welt der Hydra ähnelt. In diesem Fall würde die Empirie mit dem Mythos der Lernäischen Seeschlange in ein Verhältnis der Ähnlichkeit treten. Eine Deutung ließe sich folgendermaßen skizzieren  : So wie Herkules die Wasserschlange Hydra nicht bezwingen kann, sondern sie durch seine Schläge nur schrecklicher macht, so kann auch dem Reisenden die Empirie umso unbezwingbarer erscheinen, umso länger er sie ansieht. Nun wird diese schwierige Ausgangslage noch problematischer, wenn der Sachverhalt in den Blick gerät, dass es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine 1 Goethe, Johann Wolfgang von  : Brief an Schiller (16. und 17. August 1797), in  : Beetz, Manfred (Hg.)  : Johann Wolfgang von Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 8.1, München 2006, S. 390–393, hier S. 393. In einem späteren Brief nennt Goethe diesen Sachverhalt den »böse[n] Engel der Empirie«. Johann Wolfgang von Goethe  : Brief an Schiller (14. Juli 1798), in  : ebd., S. 590–591, hier S. 590. 2 Gottsched, Johann Christoph  : Versuch einer critischen Dichtkunst. In  : Birke, Joachim/Birke, Brigitte (Hg.)  : Johann Christoph Gottsched. Ausgewählte Werke. Bd.  VI/1, Berlin/New York 1973, S. 326.

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Gattung von Lebewesen mit dem Namen ›Hydra‹ gibt. Nicht nur gleicht für den naturkundigen Goethe etwas in der erfahrbaren Welt der Hydra, es ist auch etwas in der erfahrbaren Welt, das Hydra genannt wird.3 Vor diesem Hintergrund ist die Genitivkonstruktion »Hydra der Empirie« nicht nur als genitivus objectivus zu verstehen, sondern sie wird auch als genitivus subjectivus lesbar. Nach einer zweiten Lesart wäre auf diese Hydra in der Empirie verwiesen, die der Schweizer Naturkundler Abraham Trembley in seinen Mémoires pour servir a l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce  : à bras en forme de cornes4 (1744) beschreibt und die seit der sechsten Auflage von Linnés Systema Naturæ (1748) als Teil naturkundlichen Wissens gelten kann. Nach dieser Diagnose überlagert sich zum einen, wenn Goethe von der Hydra schreibt, Terminologie und Metaphorik. Zum anderen dient die negative Konnotation der Hydra der Abgrenzung dessen, was Goethe wiederholt auch von der Allegorie abzugrenzen versucht und was er ein Symbol nennt.5 Goethes Hydra tendiert bei der Beschreibung des Problems in Richtung der Metapher, denn der Geheimrat führt während seiner Reise keineswegs morphologische Studien durch und hatte dies  – glaubt man den Briefen  – auch nie geplant. Goethes Hydra-Metapher thematisiert vielmehr ein Problem des Beobachtens angesichts der Ende des 18.  Jahrhunderts unerschöpflich scheinenden Empirie. Aus dieser Perspektive stellt sich die Frage, warum und auf welche Weise die Terminologie Linnés die Empirie nicht stillstellen konnte, sondern im Gegenteil – wie sich aus der Perspektive Goethes zeigt – der Terminus seinen metaphorischen Gehalt weiterhin mitführte und präsent hielt. Goethe schreibt in seinem bereits genannten Brief an Schiller von der Notwendigkeit eines symbolischen Sehens  : »[D]as was ich im allgemeinen sehe und erfahre schließt sich recht gut an alles übrige an, was mir sonst bekannt ist und ist mir nicht unangenehm, weil es in der ganzen Masse meiner Kenntnisse mitzählt und das Kapital vermehren hilft.«6 Wird dieser Anschluss an das bereits Gewusste nicht erreicht, überfordert die Empirie den Betrachter mit der Fülle ihrer Details  : Die Empirie wird hydraartig. Goethe deutet daraufhin an, dass die überfordernde Empirie gerade auch deshalb problematisch sei, da ihr 3 Zu Goethes Naturforschung vgl. Bies, Michael  : Im Grunde ein Bild. Die Darstellung der Naturforschung bei Kant, Goethe und Alexander von Humboldt, Göttingen 2012. 4 Trembley, Abraham  : Mémoires pour servir a l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce, à bras en forme de cornes, Leiden 1744. 5 Zu Goethes Symbolbegriff und dem Verhältnis zur »Hydra der Empirie« vgl. Berndt, Frauke  : The Myth of Otherness. Goethe on Presence, in  : Goethe Yearbook 19 (2012), S. 49–66, hier S. 56 f. 6 Goethe  : Brief an Schiller (16. und 17. August 1797), S. 391.

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die textuelle Darstellung nicht mehr beizukommen wisse. So fürchtet er sich schon am 29.  Juli 1797 vor der »empirischen Weltbreite«, die ihn auf seiner Reise erwarten würde, und hofft schon hier auf Genesung nach seiner Rückkehr durch »Erzählungen« und »Betrachtungen«7. Hydra erscheint somit bei Goethe als eine Überlagerung von Terminologie und Metaphorik, die eine Störung auf dem »Weg des Beobachtens« thematisiert. Damit stellt die Hydra zugleich eine Art Gegenmodell zum Symbol dar. In seinem Brief aus Frankfurt hebt er hervor, dass ein angesehener Gegenstand nicht wie eine »millionenfache Hydra« in monströser Weise wuchert und den Blick verwirrt, wenn er als »Repräsentant von vielen andern« erscheint, indem der Geist ihn von Fremdem unterscheidet und mit Bekanntem in »eine gewisse Reihe«8 setzt. Der vorliegende Beitrag untersucht die Vorgeschichte dieser Überlagerung, deren Entstehung mit der naturgeschichtlichen Erfindung der Gattung ›Hydra‹ verbunden ist. Die Benennung bestimmter Polypen mit dem Begriff ›Hydra‹ bzw. ›Hydrozoa‹ durch Linné ist wiederum selbst bemerkenswert. ›Hydra‹ verweist zwar etymologisch auf eine Wasserschlange9, jedoch auf eine mit vielen Köpfen (die von Herkules erlegte), während die Bezeichnung ›Polyp‹ auf ein Tier referiert, so Adelung, das »mit vielen Füßen« versehen ist.10 Wenn Linné bestimmten Kopffüßlern also die Gattungsbezeichnung ›Hydra‹ gibt, dann entzieht er ihnen gewissermaßen den Boden unter den Füßen und multipliziert ihre Köpfe. Um diese erstaunliche rhetorische Operation nachzuvollziehen und die mit ihr verbundenen Implikationen zu entfalten, soll im Folgenden in einem ersten Schritt der Mythos der antiken Hydra in Erinnerung gerufen werden, um daraufhin in einem zweiten Schritt Trembleys Mémoires einer Lektüre zu unterziehen. Hierbei sollen vor allem die Verfahren in den Blick genommen werden, mittels derer Trembley seine naturhistorischen Er  7 Goethe  : Brief an Schiller (29. Juli 1797), S. 381.   8 Goethe  : Brief an Schiller (16. und 17. August 1797), S. 391. Zum Verfahren der Reihenbildung in Goethes Morphologie vgl. Geulen, Eva  : Funktionen von Reihenbildung in Goethes Morphologie, in  : Menke, Bettine/Glaser, Thomas (Hg.)  : Experimentalanordnungen der Bildung. Exteriorität – Theatralität ‒ Literarizität, Paderborn 2014, S. 209–222.   9 So die erste Referenz einschlägiger Lexika  : Vgl. Zedler, Johann Heinrich  : Hydra, in  : Ders.: Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bisher durch den menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd.  13, Graz 1961 [Neudruck der Ausgabe Halle, Leipzig 1731–1754], S. 694–696. 10 Adelung, Johann Christoph  : Polyp, in  : Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793–1801, S. 806.

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kenntnisse gewinnt und mit denen er sie lesbar macht. In einem dritten Schritt soll Carl von Linnés Behandlung der Hydra nachvollzogen werden. Für ihn gehört die Hydra von der ersten (1735) bis einschließlich der fünften Auflage (1747) zur Rubrik ›Paradoxa‹, bevor er die Rubrik aus dem Systema – mit einem Schnitt – abtrennt.

Mythos Hydra

In Hesiods Theogonie, bei Pausanias, Euripides, Apollodoros und Hyginius lässt er sich nachlesen, der Mythos von Herkules und seinem Kampf mit der Lernäischen Seeschlange, genannt Hydra.11 Der Kampf mit der Hydra ist die zweite der insgesamt zwölf Aufgaben, die Herkules für den König Eurystheus erfüllen muss, als Strafe dafür, dass er seine Frau und seine Kinder in einem Anfall von Wahnsinn ermordet hat. Zusammen mit seinem Neffen Ioalos fährt Herkules nach Lerna, in ein sagenumwobenes Gebiet, in dem die Dionysos-Feste abgehalten werden und in dem er, Hades und Persephone zum Tartaros hinabsteigen.12 Die Hydra bedrohte einst dieses fruchtbare, aber sumpfige Land, wo auch Demeter zuhause war, und grub sich eine Höhle unter einer Platane. Dort lockt Herkules die Hydra mit seinen brennenden Pfeilen aus ihrem Unterschlupf. Als die Hydra sich mit ihrem »hundeähnlichen Körper und ihren acht oder neun Schlangenköpfen von denen einer unsterblich war«13 zeigt, tritt Herkules ihr mutig entgegen und fängt sie, woraufhin sie mit ihrem Schlangenkörper seinen Fuß umschlingt. Er beginnt, die Köpfe der Hydra mit seiner Keule zu zerschmettern. Zu seinem Unglück wachsen aus jedem zerschlagenen Kopf zwei oder mehrere neue nach, sodass das Monster während des Kampfes noch an Ungeheuerlichkeit gewinnt. Herkules ruft daraufhin seine Begleitung Iolaos zu Hilfe. Dieser steckt eine Seite des Hains in Brand und verödet mit glühenden Ästen die Wunden der abgeschlagenen Köpfe. Damit bereitet er dem Wuchern ein Ende. Zuletzt schneidet Herkules mit seinem Dolch den unsterblichen Kopf der Hydra ab und vergräbt ihn. Unter der Erde zischt er weiter. 11 Vgl. Ranke-Graves, Robert von  : Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Hamburg 1960, S. 432 f.; Kerényi, Karl  : Die Mythologie der Griechen, 2. Bd., 11München 1988, S. 118–120. 12 Vgl. Ranke-Graves  : Griechische Mythologie, S. 433. 13 Ebd.: »Manche sprechen ihr fünfzig, hundert oder sogar zehntausend Köpfe zu. Auf jeden Fall war sie so giftig, daß ihr Atem oder selbst der Geruch ihrer Spuren Leben zerstören konnte.«

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Der Mythos der Hydra wird in den Schriften der griechischen und lateinischen Antike fortgeschrieben und führt damit eine Art Nachleben. Er geht in die christlichen Schriften ein und wird ein beliebter Stoff sowohl in der Kunstals auch Literaturgeschichte.14 Diese Multiplikation des Mythos fließt als Reflexion in die schriftlichen Zeugnisse ein, wenn es etwa in Ovids Metamorphosen wie folgt heißt  : Magst du auch andere Drachen übertreffen, mein Achelous – der wievielte Teil der lernaeischen Natter wirst du als einzelner Wurm sein  ? Sie zeugte sich in ihren Wunden fort, und keines ihrer hundert Häupter schlug man ungestraft ab, ohne daß zwei Nachfolger dem Hals noch größere Kraft gaben. Obwohl sie weit verästelt war, da jeder Schwertstreich neue Nattern erzeugte und obwohl sie mit jedem Verlust nur wuchs, bezwang ich sie und schlitzte die Bezwungene auf.15

Der Mythos scheint nicht nur eine Metamorphose als Gegenstand zu verhandeln, er ist auch selbst als Mythos Gegenstand von Metamorphosen.16 Ovid bringt die Crux der Hydra auf den Punkt, indem er auf ein Paradox hinweist  : »Obwohl sie mit jedem Verlust nur wuchs, bezwang ich sie und schlitzte die Bezwungene auf.« Herkules bezwingt die Hydra, nur dass sie dabei immer weiter wächst. Die unabgeschlossene Bezwingung der Hydra ermöglicht ihr Nachleben in Form des Mythos. Die Mythen stellen – so Wolfgang Iser in Anlehnung an Hans Blumenberg – die »retroaktive[n] Besetzung[en]«17 des fehlenden Ursprungs dar. Sie reagieren damit auf die mit der Ursprungslosigkeit verbundenen Phänomene »Angst und Schrecken«18. Die Mythen begreift Iser wie Blumenberg demnach nicht als Ursprünge, sondern als »Rezeptionsphänomene«19, welche den Schrecken der Ursprungslosigkeit zwar besetzen, ihn damit aber nicht beseitigen oder abschließend erklären, sondern damit weitere Besetzungen ermöglichen. Ge14 Vgl. etwa  : Heym, Sabine/Sauerländer, Willibald  : Herkules besiegt die Lernäische Hydra. Der Herkules-­Teppich im Vortragssaal der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, München 2006. 15 Naso, Publius Ovidius  : Metamorphosen, Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2010, S. 469. 16 Vgl. Haverkamp, Anselm  : Wandel ohne Ende. Ovids Metamorphosen, in  : Ders.: Diesseits der Oder. Frankfurter Vorlesungen, Berlin 2008, S. 85–98, hier S. 89. 17 Iser, Wolfgang  : Emergenz. Nachgelassene und verstreut herausgegebene Essays, hg. von Schmitz, Alexander, Paderborn 2013, S. 30. 18 Ebd., S. 29. 19 Ebd., S. 28.

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radezu parabelartig stellt der Hydra-Mythos eine auf Dauer gestellte Beseitigung des Schreckens aus. Die Hydra wird zwar in jeder Version des Mythos bezwungen, jedoch nie ganz zum Verschwinden gebracht.

Trembleys Schnitte

Der Genfer Naturforscher Abraham Trembley veröffentlicht im Jahr 1744 ein Buch unter dem Titel Mémoires pour servir à l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce, à bras en forme de cornes. Darin erzählt Trembley eine für die Entwicklung der Biologie wichtige Geschichte. Zu Beginn seiner Vorrede umkreist der Autor sein Anliegen, indem er hervorhebt, dass er auf der Suche nach Eigenschaften bestimmter Exemplare der Klasse der Polypen sei, um diese einer Gattung zuzuordnen bzw. um für diese eine Gattung zu finden.20 Dabei würde die Bezeichnung Süßwasserpolyp (»Polype d’eau douce«) nicht hinreichen, da im Süßwasser eine Vielzahl von Polypen-Gattungen zu finden sei. Eine Eigenschaft findet Trembley auf morphologischer Ebene. Es gehe ihm um jene Polypen, deren Füße die Form von Hörnern annehmen würden. Die entscheidende Entdeckung ist die Besonderheit dieser Polypen, die sich durch Sektion, also durch Schnitte, vermehren.21 Wie wird jedoch das für Trembley zentrale Schnittverfahren beschrieben und damit darstellbar gemacht  ? Zwei programmatische Aspekte in Trembleys Preface sind von fundamentaler Wichtigkeit für das Unternehmen der Mémoires. Erstens notiert Trembley die Maßgabe, dass sich seine Darstellung formal nach jenen Erfahrungen richten soll, auf denen sie basiere.22 Der zweite vom Text hervorgehobene Aspekt ist, dass er auf bildliche Darstellungen in Form von Illustrationen angewiesen sei. Tembley notiert  : »Il m’auroit été impossible d’exposer clairement mes observations, sans le secours d’un grand nombre de Figures.«23 Obwohl sich Trembley also eine bestimmte ›natürliche‹ Ordnung des Textes zum Ziel setzt (»rapporter [les observations] dans l’ordre qui m’a paru le plus naturel«24), 20 Vgl. Trembley  : Mémoires, S. III. 21 Vgl. ebd., S. IV. 22 Ebd., S. V  : »Comme il m’a paru, dès que j’ai commencé à observer les Polypes, que la connoissance des propriétés remarquables, qui se trouvent dans ces Animaux, pouvoit faire plaisir aux Curieux, & contribuer en quelque chose aux progrès de l’Histoire Naturelle, je me suis fait un devoir de communiquer mes Découvertes, à mesure que je les ai faites.« 23 Ebd., S. VI. 24 Ebd., S. 20.

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die seine Erfahrungen nachbilden kann, bleibt er auf Bildlichkeit – auf »Figures« – angewiesen. Seine Entdeckung bestimmter Polypen setzt also zweierlei Arten von Techniken voraus. Zum einen die Technik, die während seiner Experimente zum Einsatz kommt und die er schildert. Er benutzt etwa während seiner Experimente einen großen Glasbehälter und eine daran befestigte Lupe. Zum anderen setzt die textuelle Rekapitulation der Experimente in einer möglichst natürlichen Ordnung, die er sich zum Ziel setzt, eine bestimmte rhetorische Technik voraus. Beide Techniken versucht Trembley in und durch den Text einander anzunähern oder aufeinander abzustimmen  : Il ne suffit donc pas de dire qu’on a vu telle chose. Ce n’est rien dire, si, en même tems, on n’indique comment on l’a vue, si on ne met les Lecteurs en état de juger de la maniére dont les Faits qu’on rapporte ont été observés. J’ai autant & même plus besoin que qui que ce soit, de suivre exactement cette règle.25

Die Maßgabe einer adäquaten Darstellung der Erfahrung, die den Leser in die Position des Augenzeugen versetzt, ist umso dringlicher, als Trembley die Möglichkeit der Fortpflanzung durch Schnitte als erster Naturforscher entdeckt hat. Im Verlauf seiner Experimente geht es um nichts weniger als um die Zugehörigkeit des Beobachteten zum Tier- oder zum Pflanzenreich.26 So beschreibt Trembley, dass er die gesichteten Wesen zunächst für Pflanzen gehalten habe, hierauf jedoch ihre Bewegungen bemerkt habe. Das beobachtete Wesen erweist sich damit als »missing link«27 zwischen den beiden Reichen der Natur.28 Im Zuge von Trembleys experimentellen Beobachtungen und vor dem Hintergrund der Idee der scala naturæ war es Charles Bonnet etwa möglich, Trembleys Untersuchung zu den Süßwasserpolypen als Bestätigung seiner These von

25 Ebd., S. 2. 26 Zur Wissensgeschichte der Hydra vgl. Querner, Hans/Jahn, Ilse  : Christoph Gottfried Jacobi und die Süßwasserpolypen des Abraham Trembley, Marburg 2003  ; Rieger, Stefan  : Polyp, in  : Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan (Hg.)  : Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a. M. 2006, S. 187–199  ; Hoorn, Tanja van  : Hydra. Die Süßwasserpolypen und ihre Sprößlinge in der Anthropologie der Aufklärung, in  : Beetz, Manfred u. a. (Hg.)  : Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 29–48  ; Bühler, Benjamin  : Steinpflanzen und Pflanzentiere, in  : Bäumler, Thomas u. a. (Hg.)  : Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, Zürich 2011, S. 17–32. 27 Lovejoy, Arthur  : The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, 22Cambridge/ London 2001, S. 233. 28 Vgl. Bühler  : Steinpflanzen und Pflanzentiere, S. 24–32.

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den unmerklichen Übergängen anzuführen.29 Mit dem missing-­link-Argument verbindet sich zudem das Rätsel der ungeschlechtlichen Fortpflanzung durch Sektion, galt die Fortpflanzung doch in der zeitgenössischen Naturgeschichte als eines der wichtigsten Kriterien zur Bestimmung von Arten und damit zur Verortung von Lebewesen auf den naturgeschichtlichen Tableaus.30 Die Art der Fortpflanzung sorgt im Falle der Polypen jedoch gerade für Irritationen unter den Forschern. Dies unterstreicht Trembley von Beginn an in seinen Mémoires. So habe er versucht, die Art der Fortpflanzung durch wiederholte Experimente nachvollziehen und verstehen zu können. Die Wiederholungen deuten auf den Unglauben und das Staunen angesichts der sonderbaren Entdeckung  : Les Expériences dont il s’agit surtout ici, & qui ont été les plus répétées par d’autres, consistent à couper les petits Animaux qui en sont l’objet, transversalement, & suivant leur longueur, en deux ou plusieurs parties.31

Das Resultat der Schnitte besteht darin, dass jedes der zerschnittenen Körperteile ein neues komplettes Lebewesen ausbildet (Abb.  1). Dabei werden diese Schnitt-Experimente nicht nur von anderen einflussreichen Naturforschern wiederholt  – Trembley sendet seine Polypen etwa an René-Antoine Ferchault de Réaumur und an den Präsidenten der Royal Society in London Martin Folkes  – sie werden auch von Trembley selbst in nahezu obsessiver Weise multipliziert. Im dritten Teil seiner Mémoires zeigt sich, dass es sich um eine ganze Experimenten-Reihe handelt. Trembley zerteilt Polypen nicht nur in zwei, sondern hier auch in mehrere, in drei, vier, bis zu 15 Teile, wobei jedes der zerschnittenen Teile zu einem ganzen Polypen regeneriert.32 Auch auf der rhetorischen und bildlichen Ebene des Textes schlägt sich die obsessive Wiederholung der Schnitte nieder, durch anaphorische Darstellung. Parataktisch werden die verschiedenen Schnitt-Versuche aneinandergereiht, sodass der Text zeitweise die Form einer Liste annimmt, deren einzelne Einträge etwa ein Datum tragen und den Akt des Teilens sowie die Schnitttechnik verbalisieren  :

29 Vgl. ebd., S. 26  ; Hoorn  : Hydra, S. 36. 30 Vgl. Jacob, François  : Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt a. M. 2002, S.  59 f.; siehe auch Toepfer, Georg  : Art, in  : Ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2011, S. 61–131. 31 Trembley  : Mémoires, S. 4. Im Original kursiv. 32 Vgl. ebd., S. 235 f.

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Abb. 1  : Trembley, Mémoires, Pl. 11, Mem. 4, ohne Seitenzahl.

J’ai divisé un Polype en trois transversalement, 18  Juillet 1741. […] J’ai divisé un autre Polype en trois transversalement, le 15 Juillet 1741. […]. J’ai aussi divisé un Polype transversalement en quatre, le 18 juillet 1741.33

Die Seite mit den Illustrationen, welche die einzelnen Experimente in Form von kleinen Skizzen in eine Reihe setzt, mutet wie ein Storyboard an, das einzelne Szenen in die Ordnung eines Narrativs bringt. Schließlich ändert Trembley die Richtung seiner Schnitte und seziert nicht mehr nur »transversalement«, sondern auch »longitudialement«, mit der Spaltung des Kopfes beginnend  : J’ai coupé en partie un Polype suivant sa longueur, en commençant par la tête  ; & il s’est trouvé ensuite d’avoir deux corps, deux têtes, & une queuë. Les portions du 33 Ebd., S. 236.

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Polype qui ont été séparées, au lieu de se rapprocher, & de former un Polype simple, formèrent, chacune à part une tête & un corps, comme j’ai dit que le faisoient les moitiés d’un Polype, coupé longitudinalement d´un bout à l’autre. Après avoir nourri ce Polype à deux têtes, en lui faisant prendre des alimens par ses deux bouches, j’ai aussi fendu en partie, en commençant par la tête, chacune des deux branches qu’il avoit. En peu de tems il a eu quatre têtes. Enfin, je suis parvenu à faire ensorte qu’il eût sept têtes. Un autre, sur lequel j’ai fait la même Expérience, en a huit. J’ai vu ces Hydres prendre en même tems des alimens par toutes leurs bouches.34

Trembley schneidet zunächst einen Polypen »longitudialement« in zwei Teile, sodass durch die Spaltung des Kopfes ein Polyp mit zwei Köpfen entsteht. Wie aus dieser Technik ein Polyp mit der ungeraden Anzahl von sieben Köpfen, die hier Hydra bezeichnet wird, entstehen konnte, lässt Trembley offen. In jedem Falle sieht er sich in seinen Experimenten dem Mythos von der Lernäischen Seeschlange angleichen, den er hier aufruft. Stefan Rieger hat diese Angleichung folgendermaßen beschrieben  : Durch die Schnitttechnik wird die Sagenwelt des Herkules nachstellbar – nicht im Symbolischen der Sprache, nicht im Realen der Technik, sondern im Realen eines physiologischen Substrates. Dem Schnitt folgen Monstrositäten.35

Im Anschluss an Riegers Argument der Nachstellung der Sagenwelt des Herkules lässt sich ergänzen, dass nicht nur die Schnitttechnik den Herkules-Mythos aufruft, sondern auch der manisch schneidende Naturhistoriker in seinem Labor und auf dem Papier. So kehrt hier auch die mit dem Charakteristikum der Gewalt verbundene Herkules-Figur als Wissenschaftler wieder. Man muss sich den Naturforscher Trembley als einen Herkules vorstellen, der immer wieder neue Köpfe abschneidet, Körper zertrennt, Köpfe spaltet, zerstückelt und seziert, der Skalpell und Feder ergreift und wahre Monstren kreiert. Darüber hinaus ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass sich die oben beschriebene Dopplung zweier Techniken hier niederschlägt, in den Sektionen des Forschers und in einer auf die Spitze getriebenen parataktischen Schnitttechnik. Tatsächlich gewinnt die Szene des schneidenden Naturforschers ihre Evidenz, indem sie auf der Ebene des Erfahrbaren dasjenige bestätigt findet, was der Herkules-Mythos antizipiert hatte. Mehr noch  : Die Szene wird als Be34 Ebd., S. 246. 35 Rieger  : Polyp, S. 193.

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schreibung vor Augen gestellt  ; der schneidende ist auch ein schreibender Naturforscher. Er verknotet den Mythos mit dem nunmehr empirisch fundierten und zerschnittenen physiologischen Substrat und aktualisiert damit, wie die Hydra-Figuren in der Ästhetik36, der Poetik37, der Anthropologie38 und der politischen Theorie39 den Hydra-Mythos.

Linnés Cut

Carl von Linné besuchte im Mai 1735 die Stadt Hamburg und besichtigte u. a. auch ein Wesen namens ›Hydra‹, das der Hamburger Bürgermeister zum Verkauf anbot. Es sei, so erzählte man sich, am Ende des Dreißigjährigen Krieges vom Count Königsmarck gefangen worden und über Umwege in die Hände des Hamburger Bürgermeisters gelangt. Linné besichtigte das Kuriosum zusammen mit dem Herausgeber der Hamburger Berichte von Neuen Gelehrten Sachen, Professor Kohl, und entlarvte es als Fälschung. Die Klauen und angeklebten Füße würden von Wieseln stammen, der Körper sei mit einer Schlangenhaut versehen worden.40 Als Linné das siebenköpfige Machwerk in der Öffentlichkeit als Fälschung bezeichnete, sank der Preis desselben sofort auf ein Minimum. Linné verließ daraufhin die Hansestadt und reiste weiter in Richtung Niederlanden. Mit Linnés Systema Naturæ (erste  Auflage 1735, dt. 174041) werden Umbrüche in der Geschichte der Naturgeschichte manifest. Die Veränderungen 36 Pfotenhauer, Helmut  : Apoll und Armpolyp. Die Nachbarschaft klassizistischer Kreationsmodelle zur Biologie, in  : Begemann, Christian/Wellbery, David (Hg.)  : Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg 2002, S. 203–224. Vgl. auch Walter Benjamins Formulierung »Hydra der Schulästhetik«. Benjamin, Walter  : Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, in  : Tiedemann Bartels, Hella (Hg.)  : Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt a. M. 1991, S. 283–290, hier S. 286. 37 Michler, Werner  : Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, Göttingen 2015, S. 130 f. 38 Hoorn  : Hydra. 39 Linebaugh, Peter/Rediker, Markus  : The Many Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston 2000. 40 Blunt, Wilfried  : Linnaeus. The Complete Naturalist, London 2001, S. 90. 41 Linnaeus  : Systema naturæ, Sive Regna Tria Naturæ Systematice Proposita per Classes, Ordines, Genera et Species/Natur-Systema oder Die in ordentlichen Zusammenhange vorgetragene Drey Reiche der Natur, nach ihren Classen, Ordnungen, Geschlechtern und Arten, Johann Joachim Langen (Übers.), Halle 1740. Die auf Deutsch im Jahr 1740 erschienene Ausgabe des Systemas wird von Linné als dritte Auflage autorisiert. Der Text der Paradoxa ist jedoch mit dem der ersten Auflage identisch.

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betrafen auch und nicht zuletzt den Status von Fabelwesen sowie den mit ihnen verbundenen Geschichten und Mythen. Michel Foucault beschreibt diese Veränderungen als »Reinigung« von den »Entdeckungen, Traditionen, Ansichten [und] poetischen Figuren«42, sodass allein das Sichtbare den Diskurs präfiguriert. Nun tauchen auch in dem von Linné 1735 erstmalig publizierten Systema Naturæ wunderbare Fabelwesen unter der Rubrik ›Paradoxa‹ auf. Wie Lepenies zeigt, hält Linné die ältere Zoologie »für einen mit Fabeln angefüllten Augiasstall«43, den es für ihn – um im Bild zu bleiben – ›auszumisten‹ gelte. Diese Entäußerung der Fabeln aus dem engeren Bereich des Klassifizierbaren vollzieht der Text von Linnés Systema wiederum mittels der Technik der Klassifikation (Abb. 2). Die Rubrik ›Paradoxa‹ erscheint in der Ordnung der Amphibien, wird jedoch zugleich durch eine horizontale Linie auch von dieser abgeschnitten. Die Hydra stellt das erste der ›Paradoxa‹ dar. Linné rekurriert hier auf die ›Hamburger Hydra‹, die er bei seinem Bericht als Fälschung erkannt hatte und schreibt, dass dieser »Drache vergleichbar mit dem Drachen der Offenbarung«44 sei. Damit qualifiziert Linné die Hydra als ein »Zeichen des Himmels«, das durch Luthers Darstellung der Apokalypse auf den Teufel verweist  : Und es ward ausgeworfen der große Drache [der auch hier sieben Köpfe hat, Anm. d. Verf.], die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.45

Linné verweist den Teufel namens ›Hydra‹ an den unteren Rand seines Tableaus, schneidet sie von der Ordnung der Amphibien ab und bereitet einen weiteren, entscheidenden klassifikatorischen Cut vor  : »Dieser [Drache] ist von vielen für ein rechtes Thier, aber mit Unrecht angegeben worden. Die Natur, welche immer auf gleiche Art würcket, hat ordentlicher Weise noch niemahls mehrere Häupter auf einem Halse hervorgebracht.«46 Letztmalig erscheint die

42 Foucault, Michel  : Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, ¹²Frankfurt a. M. 1994, S. 171 f. 43 Lepenies, Wolf  : Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1978, S. 115. 44 Linné  : Natur-Systema, S. 69. 45 Offb. 12,3. 46 Linné  : Natur-Systema, S. 69.

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Abb. 2  : Linnæi, Caroli  : Systema Naturæ. Sive regna tria naturæ systematice proposita per classes, ordines, genera, & species, 1. Aufl., Leiden 1735, ohne Seitenzahl.

Rubrik ›Paradoxa‹ in der fünften Auflage des Systema Naturæ47 im Jahr 1747, drei Jahre nach dem Erscheinen von Trembleys Mémoires. In der sechsten Auflage fehlen die Paradoxa im Natur-Systhema. Linné hat die Hydra mitsamt der anderen Paradoxa gestrichen, abgeschnitten. Der Unterschied zwischen diesem klassifikatorischen Cut Linnés und den experimentellen Schnitten Trembleys besteht darin, dass hier nicht zwei neue regenerierende Einheiten das Ergebnis darstellen, sondern dass das Paradox ›Hydra‹ zwar abgeschnitten wird, der Name an anderer Stelle jedoch wieder auftaucht. Im Gegenzug erhält in der folgenden, sechsten Auflage eine neue Gattung, die unter der Ordnung der ›Zoophyta‹ in der Klasse der ›Vermes‹ (des Gewürms) gelistet wird, den Namen ›Hydra‹. Eine der beiden Arten, die unter dem neuen Gattungsnamen ›Hydra‹ gelistet wird, ist der von Trembley entdeckte Polyp.48 47 Linnæi, Caroli  : Systema Naturæ In Quo Naturæ Regna Tria, Secundum Classes, Ordines, Genera, Species, Systematice Proponuntur, 5Halle 1747. 48 Linnæi, Caroli  : Systema Naturæ. Sistens regna tria naturæ in classes et ordines genera et species, 6 Stockholm 1748, S. 72.

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Linné wandelt also den mythologischen Namen Hydra in einen wissenschaft­ lichen Terminus um.49 Réaumur hatte, nachdem er Trembleys Experimente wiederholt hatte, die neu entdeckten Lebewesen Süßwasserpolypen (›Polype d’eau douce‹) genannt, da sie morphologisch an Salzwasserpolypen erinnern würden.50 Der Erfolg von Trembleys Experimenten und seine Überblendung von empirischem und mythischem Wissen bereiteten die Umbenennung durch Linné gewissermaßen vor. Wenn Linné jedoch zwischen der fünften und sechsten Auflage des Systema Naturæ die ›Paradoxa‹ samt ›Hydra‹ abschnei­det und stattdessen eine reale Lebensform unter dem Gattungsnamen ›Hydra‹ einfügt, schneidet er den Mythos einerseits ab, führt ihn jedoch andererseits im Namen mit. Die Bezeichnung ›Hydra‹ sollte dabei jedoch keinen Namen für einen Mythos darstellen, der auf Herkules verweist, sondern zum Teil eines terminologischen Klartextes werden. Dass dieser Schnitt jedoch wie jeder andere in der Geschichte der Hydra, das Abgeschnittene zwar bezwingt, es aber nicht gänzlich zum Verschwinden bringt, zeigt schließlich auch Goethes Umgang mit der Hydra.

›Letzte‹ Sektion

Vor dem Hintergrund der Überführung einer mythologischen Figur in das durch Erfahrung verifizierte naturkundliche Wissen des 18.  Jahrhunderts stellt sich die Frage, warum der Name ›Hydra‹ beibehalten wurde. Warum eine wissenschaftliche Tatsache nach einem mythologischen Wesen benennen, das man aus einer zeitgemäßen Naturkunde entfernen wollte  ? Hans Blumenberg bemerkt im Kapitel ›Organische und mechanische Hintergrundmetaphorik‹ in seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie  : Metaphorik kann auch dort im Spiele sein, wo ausschließlich terminologische Aussagen auftreten, die aber ohne Hinblick auf eine Leitvorstellung, an der sie induziert und ›abgelesen‹ sind, in ihrer umschließenden Sinneinheit gar nicht verstanden werden können.51 49 Zur Umwandlung des mythologischen Wissens in der Aufklärung vgl. Robert, Jörg  : Grenzen der Menschheit. Menschenwissen und Mythologie im Zeitalter der Aufklärung (Voltaire, Linné, Goethe), in  : Achilles, Jochen u. a. (Hg.)  : Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie. Würzburg 2012, S. 105–130. 50 Trembley  : Mémoires, S. 3. 51 Blumenberg, Hans  : Paradigmen zu einer Metaphorologie, Studienausgabe, Haverkamp, Anselm (Komm.), Frankfurt a. M. 2013, S. 91.

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Wird dieser Befund auf den Fall der Hydra übertragen, so lässt sich sagen, dass in der Geburtsstunde der Gattungsbezeichnung ›Hydra‹ Metaphorik im Spiel ist. Indem der reale Süßwasserpolyp den Namen ›Hydra‹ erhält, erweist sich das vermeintliche Abschneiden des Mythos als Verschiebung. Die Konsequenz dieser Verschiebung ist jedoch weniger – wie sich zeigt – das einfache Verschwinden von Verweisen auf den Mythos ›Hydra‹. Stattdessen wird die Sachlage schwieriger  : Der Verwendung der Bezeichnung ›Hydra‹ für den antiken Mythos wird ein naturwissenschaftlicher Terminus ›Hydra‹ an die Seite gestellt. Der Terminus zeichnet sich in der Folge durch Polysemie aus. Er wird von seinem mythologischen Gehalt gewissermaßen ›heimgesucht‹ und zu einer Metapher für eine schwierige und bisweilen unlösbare, wissenschaftlichen Aufgabe. Der mythologische Sinn in der Bezeichnung ›Hydra‹ wird dementsprechend in der Terminologie mitgeführt, ebenso wie die Hydra-Metapher auf die Terminologie verweist. Linnés klassifikatorischer Cut wird insofern konterkariert, als auch dieser Schnitt nicht zum Verschwinden der mythologischen Hydra beiträgt. Stattdessen wird der Cut zum Bestandteil ihrer Geschichte. Goethe, der von Linné »unendlich viel […] gelernt«52 habe, benutzte die »millionenfache Hydra der Empirie«53 seinerseits argumentativ zur Abgrenzung, Differenzierung und Unterscheidung von der sprachlichen Form des Symbols, welche die Synthesis von Empirie und Sprache garantieren sollte. Hydra verweist also als Metapher nicht nur auf ein epistemologisches Problem, sondern nunmehr auf ein Verfahren, mittels dessen das Problem bearbeitet wird. Dieses Verfahren resultiert aus den naturgeschichtlichen Entwürfen von Trembley und Linné und besteht zugleich im Schneiden, Schreiben sowie im Unterscheiden. Das mit der Hydra verbundene Verfahren ist zunächst auf der Ebene der Experimente Trembleys eines, das mit dem Skalpell ausgeführt wird. Trembley findet den Mythos auf der Ebene der Empirie wieder. Darüber hinaus korrespondiert mit diesem experimentellen Verfahren ein rhetorisches oder poetisches, das die Schnitte darstellbar macht. Im Fall Linnés handelt es sich wiederum um ein klassifikatorisches Schnittverfahren, das die mythologisch-empirische Analogie Trembleys zu trennen versucht, indem der Mythos ›Hydra‹ durch einen Terminus ›Hydra‹ ersetzt wird. Im Fall Goethes deutet ›Hydra‹ auf ein Problem hin, das die Weitläufigkeit der Empirie angesichts begrenzter Möglichkeiten der Darstellung zum 52 Goethe, Johann Wolfgang von  : Brief an Zelter (7. November 1816), in  : Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 20.1, S. 468–471, hier S. 468. 53 Goethe  : Brief an Schiller (16. und 17. August 1797), S. 393.

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Ausdruck bringt. Die Zusammenschau unterschiedlicher Schauplätze und Schnittverfahren zeigt, dass die Hydra im 18. Jahrhundert weder allein durch materielle Praktiken noch durch bloß rhetorische Rezeptionsverfahren bearbeitet wird, sondern das beide Praktiken ineinandergreifen, um neues Wissen zu generieren. Die palimpsestartige Überlagerung der Schnittverfahren ermöglicht es Goethe, die Hydra-Figur in eine epistemologische Metapher von anhaltender Persistenz umzuschreiben.

Matthias Preuss

Zur Ordnungswidrigkeit der Dinge Linnés marginale Monstrosität(en) und das kalligrammatische Verfahren

(and practice alone counted to Linnaeus)1

»[D]as Monster, kommt im Rahmen einer Naturgeschichte vor, die wesentlich um die absolute und unüberwindliche Unterscheidung der Arten, Gattungen und Herrschaftsbereiche usw. kreist.«2 Foucault bindet in diesem Satz erstens wissenshistorisch das Erscheinen von Monstern an die epistemischen Voraussetzungen der Naturgeschichte zurück und nimmt zweitens eine rigorose Wesensbestimmung des Diskurses vor  : Es gehe darum, Grenzen zu ziehen und dadurch eine unumstößliche Ordnung zu schaffen. Als exemplarisch für dieses nomologische Unternehmen gelten vor allem die Schriften Linnés. Wie in jeder Ordnung lassen sich jedoch auch hier Anomalien ausmachen. Diese »Störfälle« sind »komplexe Wissensfiguren« und lassen sich mit Benjamin Bühler unter drei Aspekten untersuchen  : »Erstens irritieren und unterminieren sie gegebene Ordnungsformen  ; zweitens konstituieren, organisieren und stabilisieren solche Fälle Wissensordnungen und drittens manifestieren sich mit ihnen diskursive und soziale Ein- und Ausschlussmechanismen.«3 Daran anknüpfend werden im Folgenden drei Figuren des Monströsen4  – Pelorien, Menschen und Troglodyten  – im Werk Carl von Linnés analysiert, um das statische Bild vom Bild der Naturdinge in der Naturgeschichte zu dynamisieren und zu zeigen, was in diesem Bild nicht aufgeht. Anschließend wird gezeigt, dass Foucault mit dem kalligrammatischen Verfahren, einer Aus1 Koerner, Lisbet  : Linnaeus. Nature and Nation, Cambridge, Mass. 1999, S. 120. 2 Foucault, Michel  : Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Frankfurt a. M. 2007, S. 84. 3 Bühler, Benjamin  : Einleitung, in  : Bäumler, Thomas u. a. (Hg.)  : Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, Berlin 2010, S. 7–13, hier S. 9. 4 Vgl. Borgards, Roland u. a. (Hg.)  : Monster. Zur ästhetischen Verfassung eines Grenzbewohners, Würzburg 2009.

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lese nach ästhetischen Maßgaben, mittels derer Tiere, Pflanzen und Mineralien als Gegenstände naturkundlichen Wissens erst hergestellt werden, genau jenen reduktiven Zug der Naturgeschichte als entscheidend herausarbeitet, den seine archäologische Untersuchung der Naturgeschichte wiederholt.

Pelorien

1742 findet der in Roslagen botanisierende Student Magnus Ziöberg ein kurioses Exemplar des Echten Leinkrauts (Linaria vulgaris) und presst es für sein Herbarium. Als Professor Olof Celsius aus Uppsala Ziöberg besucht, ist er sofort alarmiert und legt das fragwürdige Pflänzchen seinem Kollegen Linné vor.5 Die Wirkung, die diese durch ein Forscher- und Sammler-Netzwerk gestützte Trouvaille gehabt haben muss, lässt sich anhand des hyperbolischen Tons erahnen, der noch 1744 in der Peloria betitelten Dissertation6 darüber angeschlagen wird. Es sei zweifelhaft, ob dieses Phänomen überhaupt seinesgleichen habe. Von einem »wunderbare[n] Spiel der Natur« ist die Rede, »bey welchem sie sich gleichsam verirret und von ihren sonst gewöhnlichen Gesetzen abgewichen ist«7. Zu wenig sei noch darüber bekannt, aber »wichtige und nützliche Wahrheiten«8 seien vom Studium des »Wunderwerk[s]«9 zu erwarten. Die Monstrosität des Gewächses besteht darin, dass es sich (in modernen Termini) um eine Mutation handelt, die aktinomorphe anstelle von zygomorphen Blüten ausbildet, über fünf statt vier Staubblätter verfügt und gespornt ist. Linné vertritt die These, es handele sich um eine Arthybride zwischen dem Echten Leinkraut und einer unbekannten Spezies10, die – im Unterschied zu

  5 Gustafsson, Åke  : Linnaeus’ Peloria. The History of a Monster, in  : Theoretical and Applied Genetics 54/6 (1979), S. 241–248, hier S. 242.  6 Peloria ist eine der 158 Dissertationen, die von Linné diktiert und von einem seiner ›Jünger‹ verteidigt wurden. Eine wichtige Ausnahme stellt Pehr Löflings Dissertation Gemma Arborum (1749) dar, eine ›tragische Thesis‹, die Linnés Akklimatisierungstheorien torpedierte. Vgl. Koerner, Lisbet  : Linnaeus’ Floral Transplants, in  : Representations 47 (1994), S. 144–169, hier S. 156.   7 Linné, Carl v./Rudberg, Daniel  : Peloria, in  : Linné, Carl v.: Des Ritter Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, hg. von Adam Friedrich Boehme, 3 Bd., Leipzig 1776–1778, Bd. 3, S. 175–194, hier S. 175.  8 Ebd.  9 Ebd. 10 Ebd., S. 192.

Zur Ordnungswidrigkeit der Dinge  

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anderen Anomalien im Tier- und Pflanzenreich11 – beständig, also fortpflanzungsfähig sei.12 Wenn eine solche Erscheinung im Thierreich vorfällt, so muß man sie der widernatürlichen Begattung zweyer Thierarten zuschreiben, […] dergleichen Beyspiel man an dem Maulesel und einigen andern wahrnimmt. Allein diese Bastarte pflanzen sich nicht fort, weil die Natur nicht zuläßt, daß mehrere säugende Thiergattungen entstehen, als ihrer von Anfang der Welt her gewesen sind. […] Dennoch aber kann ich mir nicht vorstellen, daß die Peloria auf eine andere als diese Weise entstehen könne.13

Anhand der Wissensfigur ›Peloria‹ lässt sich eine Diskrepanz zwischen Dogma und Verfahren in der Naturgeschichte aufzeigen. Linné formuliert die oben zitierte Auffassung, dass alle Arten seit der Erschaffung der Erde unverändert fortbestehen, in der Erstauflage des Systema naturæ (1735) sowie, leicht variiert, auch in Fundamenta botanica (1736).14 Doch auch nach dem monströsen Fund, der die Konstanz der Arten in Zweifel zieht,15 übernimmt er die alte Formulierung mit Ergänzungen in das theoretische Hauptwerk Philosophia botanica (1751). Linné macht in der Theorie theologische Zugeständnisse.16 Ramsbottom bringt diese unzweideutige Position auf den Punkt  : »It would be difficult to find a more categorical affirmation about fixity or constancy of species  ; they were all created in the beginning, they do not change, nor have they been added to.«17 In der Praxis18 allerdings befasst sich Linné unermüdlich mit Abweichungen und Störfällen aller Art. In der Folge wird 1766 mit der zwölften Auflage (1766) das Diktum ›nullæ species novæ‹ aus dem Systema naturæ entfernt. Darüber hinaus streicht Linné in einem durchschossenen Handexemplar der Philosophia Botanica (1751) den berühmten Passus »natura non facit saltus«19 und revidiert damit unter dem Druck beobachteter ›Sprünge‹ das 11 Ebd., S. 183, 185. 12 Ebd., S. 188. 13 Ebd., S. 191. 14 Linné, Carl v.: Fundamenta Botanica, Amsterdam 1736, S. 18 (Nr. 157). 15 Ramsbottom, John  : Linnaeus and the Species Concept, in  : Proceedings of the Linnean Society of London 150/4 (1937–38), S. 192–219, hier S. 206 f. 16 »This is not really a definition but more of a statement of piety.« Wilkins, John S.: Species. A history of the idea, Berkeley 2009, S. 72. 17 Ramsbottom  : Linnaeus, S. 197. 18 »However, ›Philosophia Botanica‹ is precept, ›Species Plantarum‹ practice.« Ebd., S. 200. 19 Vgl. Linné, Carl v.: Philosophia Botanica, Stockholm 1751, S.  27. Das Handexemplar ist Bestandteil der Linnean Annotated Library der Linnean Society of London und wird unter der

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von Leibniz aktualisierte aristotelische Kontinuitätsprinzip20, einer zentralen Komponente der Vorstellung von einer Kette der Lebewesen (scala naturæ).21 Den Namen ›Peloria‹ leitet Linné nicht nur – wie oft angemerkt wird – vom griechischen πέλωρ (Monster) ab, sondern auch vom entsprechenden Verb in der ersten Person Singular πέλω und der lateinischen Entsprechung verto (›ich drehe/wende mich‹, aber auch  : ›ich verändere‹).22 Die Benennung trägt der Ordnungswidrigkeit des Dings und dessen Kraft zur Modifikation eines vermeintlich ›ehernen‹, unveränderlichen Naturgesetzes Rechnung. Mit geradezu enthusiastischer Bereitwilligkeit stellt Linné angesichts des vermeintlichen Hybrids spekulativ das System der Natur in Frage, das auf klaren Artgrenzen beruht. Linnés Etymologie weist aber nicht nur das monströse Erscheinungsbild der Pflanze als ein verkehrtes aus und bekräftigt die Möglichkeit irriger Vorannahmen, sondern impliziert auch ein monströses Verfahren. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, auf die ›nützliche[n] Wahrheiten‹ zurückzukommen, die sich Linné von einer naturkundlichen Vertrautheit mit den Monstern verspricht. Der pragmatische Nutzen ist in seiner Bedeutung für Linné nicht zu unterschätzen. So heißt es im Systema naturæ  : Alles, was dem Menschen zum Nutzen [usus] gereicht, wird von diesen natuerlichen Coerpern hergenommen […] Mit einem Wort  : Hier ist der Grund aller Oeconomie, Handwercke, Handlung, Diaet, Arzneykunst &c. durch diese natuerliche Coerper werden die Menschen bey der Gesundheit erhalten, fuer Kranckheiten bewahret, und von denselben befreyet, also, daß es hoechst nothwendig ist, darinnen die rechte Wahl zu treffen. Daher […] giebt sich von selbst zu erkennen, wie nothwendig die Erkenntnis der Natur [Scientiæ naturalis] sey.23 Signatur BL.80 geführt. Es ist zusammen mit weiteren Bänden kürzlich digitalisiert worden und frei zugänglich  : http://linnean-online.org/120028/, letzter Zugriff  : 29.02.2016. 20 Wie Wilkins bemerkt, ist Linné ein unorthodoxer chainist. Für ihn impliziert die Kontinuität in der Natur klar voneinander geschiedene Arten. ›Sprünge‹ sind in diesem Kontext Überschreitungen von Artgrenzen, die sich nicht auf Umwelteinflüsse zurückführen lassen. Das Prinzip der Fülle (lex completio) spielt für Linné nur eine untergeordnete Rolle. Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, warum die Monstrositäten das Diktum ›natura non facit saltus‹ nicht bestätigen, sondern im Gegenteil widerlegen. Vgl. Wilkins  : Species, S. 70−74. 21 Zu den Prinzipien der scala naturæ  : Vgl. Lovejoy, Arthur O.: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. The William James Lectures delivered at Harvard University 1933, Cambridge, Mass. 2001, S. 24−66. Vgl. Wilkins  : Species, S. 50−53. 22 Linné, Carl v./Rudberg, Daniel  : Peloria, in  : Linné, Carl v.: Amoenitates Academicæ, 10 Bd., Stockholm/Erlangen 1751–1790, Bd. 1, S. 3–18, hier S. 14. 23 Linné, Carl v.: Systema naturæ, Halle 31740, S. 2 f.

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Die Klassifikation und mithin das Projekt der Naturgeschichte erscheinen hier im Zeichen instrumenteller Vernunft.24 An der anthropozentrischen Perspektive auf die Natur, die Dinge in ihrer Nützlichkeit für die Menschen erfasst, zeigt sich die ›Künstlichkeit‹ des Systems.25 Das Tableau steht in Zusammenhang mit ›subjektiven‹ Praktiken, die der auf Naturwahrheit26 zielenden natürlichen (d. h. empirischen) Methode entgegenstehen und nähert sich so den Inventarverzeichnissen in Handel und Handwerk an.27 Es geht darum, Wissen handhabbar zu machen, um der Naturdinge habhaft zu werden. Staffan Müller-Wille hat gezeigt, dass sich Linnés Natursystem weniger als starres, normatives Gerüst begreifen lässt, sondern vielmehr als versatile »Maschinerie«28, die mittels geeigneter »Papiertechnologien«29 darauf eingestellt ist, Ordnungswidrigkeiten zu integrieren. So zeugen etwa Linnés Annotationspraxis, die durch das Durchschießen der Druckausgaben der eigenen Schriften medial ermöglicht wird, und die Erfindung der Karteikarte von der Flexibilität, mit der die vermeintlich rigide Ordnung auf das »Störfeuer«30 einzuordnender naturalia in der Frühen Neuzeit reagieren kann. Das Sexualsystem der Pflanzen erweist sich in diesem Kontext in zweifacher Hinsicht als praktisches Tool, als »schlichter Bestimmungsschlüssel« und »clever durchkonstruiertes Rekrutierungsinstrument«.31 Die Naturgeschichte ist bei Linné in eine durch den Kameralismus informierte politische Ökonomie eingebunden. Vor diesem Hintergrund erscheint das Systema als »schematic ›world map‹ of all of earth’s natural productions«32. Diese Reichtümer sollen (und können) nicht durch freien Handel oder koloni24 »This syncretic ›new science‹ he regarded as simultaneously an epistemology and a technology, that is, as both a way to know and as a material tool.« Koerner  : Floral Transplants, S. 150. 25 »As opposed to ›artificial‹, a ›natural‹ classification implied arrangement of things concerned according to their intrinsic relations rather than according to the relations important to man.« Lefèvre, Wolfgang  : Natural or Artificial Systems  ? The Eighteenth-Century Controversy on Classification of Animals and Plant and its Philosophical Context, in  : Lefèvre, Wolfgang (Hg.)  : Between Leibniz, Newton, and Kant. Philosophy and science in the Eighteenth Century, Dordrecht 2001, S. 191–209, hier S. 200. 26 Zum Unterschied von Objektivität und Naturwahrheit (»Truth-to-Nature«) am Beispiel Linnés  : Vgl. Daston, Lorraine/Galison, Peter  : Objectivity, New York 2007, S. 55−63. 27 Ebd., S. 200. 28 Müller-Wille, Staffan  : Vom Sexualsystem zur Karteikarte. Carl von Linnés Papiertechnologien, in  : Bäumler u. a. (Hg.)  : Nicht Fisch – nicht Fleisch, S. 33–55, hier S. 44. 29 Ebd., S. 33. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 38. 32 Koerner  : Floral Transplants, S. 148.

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ale Eroberungen erschlossen, sondern nach Schweden ›transplantiert‹33 werden, um Importe zu substituieren. Dementsprechend interessiert sich Linné für die Einflüsse von Umweltfaktoren auf das Pflanzenwachstum, insbesondere dafür, wie sich klimatische Bedingungen auswirken. Auf der Grundlage verschiedener Akklimatisierungstheorien plant er, Nutzpflanzen zu modifizieren, um sie an skandinavische Bedingungen anzupassen. Linné träumt von Teeplantagen und Baumwollfeldern in Schweden, von Marihuana, Mandeln, Oliven, Yamswurzeln und Maulbeeren und praktiziert im Verbund mit seinen reisenden ›Aposteln‹ oder ›Jüngern‹, die ihm Lebensformen, Materialproben und Produktionstechnologien nach Hause übermitteln,34 eine Art botanischer Persuasion mit einer klaren Absicht »to ›fool‹, ›tempt‹, ›teach‹ or ›tame‹ tropical crops to grow in Arctic lands«35. Obwohl sich dieses Verfahren als im wahrsten Sinne unfruchtbar herausstellt und es Linné später vor allem darum geht, exotische Pflanzen durch heimische zu ersetzen, wird deutlich, dass das Ziel darin bestand, sich die Mutabilität von Pflanzen zu Nutze zu machen. Wenn Linné in der Peloria eine neue, durch Hybridisierung entstandene Art sieht, so geht es in seinem nationalen, kameralistischen Transplantationsprogramm um die Herstellung neuer Varietäten.36 Obwohl beispielsweise Ramsbottom den Varietäten bei Linné fast einen ähnlichen Status wie den Arten zugesteht37, so sind diese Veränderungen zwar auf akzidentielle Faktoren wie Klima, Sonne, Wärme und Wind zurückzuführen, können aber im Gegensatz zu den Spezies, die immer ein Werk der Natur sind, (horti)kulturelle Artefakte sein.38 Allerdings lässt sich in der Praxis schwer unterscheiden, worauf Differenzen letztendlich zurückzuführen sind39, und auch die Hybridisierung wird etwa in der Dissertation Sponsalia Plantarum (1746) als Kulturtechnik mit ästhetischem Nutzen beschrieben.40 Schließlich verlegt sich Linné selbst darauf, Monster zu machen. So erhält er für den Essay Disquisitio de Sexu Plantarum (1760), in dem er von einem erfolgreichen Kreuzungsexperiment berichtet, einen mit 100 Dukaten dotierten Preis der Petersburger Akademie der Wissen33 Vgl. ebd. 34 Koerner  : Linnaeus, S. 116. 35 Koerner  : Floral Transplants, S. 152. 36 Koerner  : Linnaeus, S. 121. 37 »[…] far from being merely variations in non-essential characters […].« Ramsbottom  : Linnaeus, S. 203. 38 Linné  : Philosophia Botanica, S. 100 (§ 158). 39 Ramsbottom  : Linnaeus, S. 201. 40 Zit.: Ebd., S. 207 f.

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schaften. Zuletzt ist er von der Entstehung neuer Arten gänzlich überzeugt und macht Hybridisierung als Prinzip dieser Dynamik aus.41 Im Hinblick auf die Peloria ist bemerkenswert, dass Linné sowohl seinen Gegenstand, seine Hypothese42 als auch seine Schlussfolgerung dem Wunderbaren zuschlägt. So schreibt er  : »Gewiß, dies ist fast ein eben so grosses Wunder, als wenn eine Kuh ein Kalb mit einem Wolfskopf zur Welt brächte.«43 Und schließlich in der conclusio  : [Es] folgt daraus der wunderbare Satz, es ist möglich, daß im Pflanzenreich neue Gattungen entstehen, […] Hierdurch würde das Grundgesetz der Fructifikation, das in der ganzen Kräuterwissenschaft unveränderlich ist, erschüttert werden und die natürlichen Classen der Pflanzen würden Noth leiden. Alle unsere Pflanzenkenner werden also billig das erstaunenswürdige Werk der Natur in unserer Peloria bewundern.44

Ein Monstrum ist eine naturwidrige Erscheinung als Zeichen der Götter, kurz  : ein Wunder. Die Peloria wird von Linné jedoch nicht auf das Prinzip der plenitas zurückgeführt und im Rahmen einer göttlichen Ordnung (scala naturæ45) interpretiert. Auch die Konstanz der Arten gilt Linné nicht mehr einfach als Voraussetzung, sondern erweist sich als empirisches Problem.46 Die Mutabilität der Arten eröffnet zugleich einen Raum für biotechnische Praktiken wie die Transplantation von Pflanzen.

Menschen

Für Linné ist ›der Mensch‹ nicht einfach gegeben. Er formuliert die Menschwerdung der lediglich Menschenähnlichen als Aufgabe, die sich in der Naturgeschichte als reflexives Verfahren der Aufklärung vollzieht. Die Erstauflage des Systema naturæ (1735) umfasst sieben Doppelfolioseiten mit einer opulenten Seitenlänge von nahezu einem halben Meter, wobei die Naturreiche der Pflanzen, Tiere und Mineralien in drei umfangreichen Tabellen jeweils ei41 Ebd., S. 216 f. 42 Linné/Rudberg  : Peloria (dt.), S. 182. 43 Ebd., S. 189. 44 Ebd., S. 194. 45 Siehe dazu Lovejoy  : The Great Chain of Being. 46 Vgl. Lefèvre  : Natural or Artificial, S. 199.

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ner Synopsis unterzogen werden (können). Auf diesen »Landkarten«, ist dem »curieusen Leser«47 auch die Position des Menschengeschlechts bezeichnet. Obwohl, der scholastischen Definition gemäß, der Mensch als Tier (animal) gilt, wird er dennoch – etwa bei Wotton, Gesner, Aldrovandi, Jonston, Ray, Tyson  – aus den naturgeschichtlichen Abhandlungen herausgehalten und nicht zu den Bestien (bruta) gesellt.48 Es ist also bemerkenswert, wie Linné hier den Menschen auf den Plan der Naturgeschichte treten lässt und ihn neben den Affen und das Faultier in die Ordnung der anthropomorphen Vierfüßer sortiert – und in welcher Form er das tut. Vermutlich orientiert er sich dabei an Petrus Artedis Idea Institutionum Trichozoologiæ aus den 1730ern, das den Menschen in John Rays System inkludiert.49 Der Gattungsname Homo verschwindet allerdings bei Linné fast in der oberen linken Ecke der letzten Tabelle  ;50 die emphatische Setzung des Menschen als Gegenstand der Naturgeschichte wird damit zugleich zurückgenommen. Während für die anderen genera jeweils eine spezifische Differenz angegeben ist, fehlt diese für das Taxon ›Mensch‹  – und das ist Linnés Pointe. Der Mensch ist eine »klassifikatorische Anomalie«51. Das Fehlen eines distinktiven Merkmals ist in diesem Fall selbst ein solches, denn es unterscheidet die Gattung Homo von allen anderen im Tierreich. Allein menschlichen Exemplaren ist es aufgegeben, sich mittels Selbsterkenntnis zu beweisen. Linné setzt anstelle eines Charakteristikums die delphische Maxime  : »Erkenne dich selbst [nosce te ipsum].«52 Eine ›Sache selbst erkennen‹ ist für Linné gleichbedeutend mit ihrer Benennung und Einordnung ins System.53 Ein ›Mensch‹ muss also immer auch ein »Natur=Kuendiger [Naturalista (Historicus Naturalis)]«54 sein. Der Botaniker William Stearn trägt diesem Umstand Rechnung, indem er – ebenfalls nicht ohne Ironie – Linné selbst als Lectotypus der Art Homo sapiens festlegt.55 Dessen im Dom zu Upp47 Linné  : Systema naturæ, Halle 31740, S. 4. 48 Broberg, Gunnar  : Homo sapiens. Linnaeus’s Classification of Man, in  : Frängsmyr, Tore (Hg.)  : Linnaeus. The Man and His Work, Berkeley 1983, S. 157–194, hier S. 160. 49 Ebd., S. 168. Vgl. Ray, John  : Synopsis Methodica Quadrupedum Animalium et Serpentini Generis, London 1693. 50 Linné  : Systema naturæ, Leiden 11735, unpaginiert [S. 11]. 51 Agamben, Giorgio  : Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M. 2003, S. 36. 52 Linné  : Systema naturæ, Leiden 11735, unpaginiert [S. 12]. 53 Vgl. Linné  : Systema naturæ, Halle 31740, S. 3. 54 Ebd. 55 Vgl. Stearn, William Thomas  : The Background of Linnaeus’s Contributions to the Nomenclature and Methods of Systematic Biology, in  : Systematic Biology 8/1 (1959), S. 4–22, hier S. 4.

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sala aufbewahrte sterbliche Überreste gelten seit 1959 demnach als Referenz dafür, was ein moderner Mensch sei.56 Das menschliche Tier ist also dasjenige (vierfüßige, menschenähnliche), das naturgeschichtlich bewandert ist und die Ordnung der Dinge transzendiert, indem es sich darin einordnet. Das Tier, das sich als Tier begreift, heißt ›Mensch‹.57 Das heißt aber auch, dass sich naturhistorisch keine anthropologische Differenz ausmachen lässt  : »Vielleicht sollte ich jene Wörter tilgen. Aber ich fordere Sie und die ganze Welt auf, mir aus der Naturgeschichte heraus eine spezifische Differenz zwischen dem Menschen und dem Affen aufzuzeigen. Ich kenne sie nicht.«58 Mit der zehnten Auflage des Systema Naturæ hat sich Linnés Nomenklatur gefestigt. Der ›Mensch‹ gehört unter die ›Säugetiere‹ in die Ordnung der ›Primaten‹59. Das Charakteristikum ist jetzt reduziert auf das adjektivische Partizip ›sapiens‹ (wissend, weise, klug),60 das Linné allerdings in seinen Vorlesungen auch für einen Backgammon spielenden Affen gebraucht.61 Zusätzlich wird die als Epitheton maskierte Maxime in einer Fußnote zu einer Solon zugeschriebenen Sentenz erweitert  : »Nosse se ipsum gradus est primus sapientiæ«62 und es ergeht der irreführende Hinweis, dass diese Inschrift an einem Tempel der Diana prangte63. Die Ersetzung von Apollon durch Diana erscheint insofern signifikant, als Linné einem Berberaffenweibchen namens Diana, das er in Uppsala hielt, in hohem Maße zugeneigt war.64 Aus dem regen Umgang mit ihr erwächst ein vehementer Widerstand gegen die cartesianische Doktrin der Tiermaschine, die für Linné eine wissenschaftlich nicht zu begründende Kluft zwischen Mensch und Tier aufreißt. Der Name ›Mensch‹ 56 Vgl. Ohl, Michael  : Die Kunst der Benennung, Berlin 2015, S. 113−144, besonders S. 132−143. 57 Agamben  : Das Offene, S. 38. 58 Brief an Johann Georg Gmelin vom 14. Januar 1747. Zit. ebd., S. 37. 59 Dass die Gattung ›homo‹ als nur eine unter anderen Primaten sich den namentlich zugewiesenen ›ersten Rang‹ teilen muss, verstärkt die nivellierende Geste in der zehnten Auflage des Systema naturæ. 60 Linné  : Systema naturæ, Stockholm 101758, S. 20. 61 Vgl. Broberg  : Homo sapiens, S. 176. 62 Linné  : Systema naturæ, Stockholm 101758, S. 20. 63 Tatsächlich war die Inschrift ›gnothi seauton‹ seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. an einer Säule der Vorhalle des Apollontempels in Delphi angebracht. 64 »Linnaeus himself was to accumulate a not insignificant collection of animals in Uppsala, including several apes and monkey donated by voyagers to the East Indies and by the king and queen. The charming description of his beloved guenon Diana has become a minor classic.« Broberg  : Homo sapiens, S. 166.

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erweist in Linnés paradoxer Formulierung der menschlichen Natur selbst als Epitheton, als ›nachträglich hinzugefügtes‹. Der ›Mensch‹ lässt sich mittels naturgeschichtlicher Verfahren nicht herstellen. Linnés Synopsis lässt Menschen und Tiere in kulturkritischer Absicht auf Augenhöhe erscheinen, und mutet ersteren zu, sich auch als ›Nicht-Mensch‹ – also wesentlich monströs – erkennen zu müssen, um sich der Gattung als zugehörig zu erweisen. Durch den ironic turn, den Linné im Hinblick auf ›den Menschen‹ vollzieht, stellt sich dieser selbst als systematisierendes Monster heraus.

Troglodyten

Menschen, die sich nicht über sich selbst erheben, schreibt Linné, seien zu ›verachten‹.65 In einer Fußnote zur Gattung Homo wird auf Plinius verwiesen, der um das Jahr 77 in seiner Naturalis historia dem ›Menschen‹ bereits die Diagnose des ›Mängelwesens‹ stellt.66 Von allen Lebewesen werde allein er bei der Geburt hilflos und ungeschützt auf die karge Erde geworfen, wo er seine schlechte Ausstattung durch die Natur beweine. Diese spezifisch menschliche Ausgangssituation reduziert sich in der Überlieferung auf die anthropologische Formel ›nudus in nuda terra‹. Der nackte Mensch müsse sich aufrichten und über seine ungünstige Disposition hinauswachsen – erst dann und nur dann, so Linné, verdiene er seinen Namen. Anders gelesen, gibt die Präposition ›in‹ den Ort des lediglich Anthropomorphen an. Was am Menschen verachtenswert erscheint, wird als Unterirdisches ins Erdreich verlegt. Die Erdoberfläche fungiert somit als Grenze zwischen zwei verschiedenen Arten ›Mensch‹. In der Dissertation Anthropomorpha (1760) wird vor allem die Differenz zwischen den anthropomorphen Gattungen Homo und Simia relativiert  : »Zwar mögen viele glauben, der Unterschied des Menschen und Affen sey wie Tag und Nacht«67, das weite Spektrum des Humanen von der Hofdame bis zum 65 Linné  : Systema naturæ, Stockholm 101758, S. A2. 66 Plin. Nat. Hist. VII, 1. 67 Linné, Carl v./Hoppius, Christian Emmanuel  : Vom Thiermenschen, in  : Linné, Carl v.: Des Ritter Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft, hg. von Adam Friedrich Boehme, 3 Bd., Leipzig 1776–1778, Bd. 1, S. 57–70, hier S. 58. Es handelt sich bei diesem Text um eine verkürzte deutsche Übertragung von  : Linné, Carl v./ Hoppius, Christian Emmanuel  : Antropomorpha, in  : Linné, Carl v.: Amoenitates Academicæ, 10 Bd., Stockholm/Erlangen 1751–1790, Bd. 6, S. 2–16.

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verwilderten Eremiten und die Diskrepanz zwischen Rohheit und Bildung lassen jedoch diese Unterschiede verblassen. Es entspinnt sich eine Erzählung von den Republiken der Affen als »unsern Verwandten«68. Doch dieses »drollichte Affenvolk«69 das in den Wipfeln beheimatet ist, hat eine Schattenseite. Das Taxon der Troglodyten oder auch »Nachtmenschen« umfasst »Kinder der Finsterniß«, welche »am naechsten mit dem Menschen verwandt zu seyn [scheinen]«70. Troglodyten haben weiße Haut und goldene Augen  ; sie leben tagsüber in »unterirdischen Hoehlen«71 und verspeisen Schlangen. Nachts wagen sie sich hervor und [verrichten] in der Dunkelheit […] ihre Geschaefte, stehlen den Menschen was sie antreffen, und in ihrem Hauswesen brauchen koennen. Um deswillen bringen die Einwohner dieser Kuesten sie, als die gefaehrlichsten Diebe ohne all Barmherzigkeit ums Leben, und toedten sie, wo sie sie finden.72

Doch nicht nur von Massenmord ist die Rede, sondern auch von Zwangsarbeit.73 Nils Matsson Kiöping, ein schwedischer Forschungsreisender, der im Dienste der niederländischen Ostindien-Kompanie eine Asienreise (1647−1656) unternimmt, die ihn bis nach Japan führt, beschreibt in seinem Expeditionsbericht die Situation der Troglodyten in Ambon  : «[T]hey are regarded and exterminated as vermin.”74 Die Trennung zwischen Mensch und ›Thiermensch‹ vollzieht sich gewaltsam, aller ›Verwandtschaft‹ zum Trotz. Naturgeschichtlich, so Linné, sei das nicht nachzuvollziehen. Er prangert aufklärerisch an, dass die Nachtmenschen »in ihrer Finsterniß gelassen« werden und man keine Mühe auf die »naechste Verwandtschaft«75 verwende. Diese unterlassene Hilfeleistung lasse sich darauf zurückführen, dass bisweilen auch Tagmenschen Eigenschaften aufweisen, wie sie Troglodyten zugeschrieben werden. Diese treten z. B. dann hervor, wenn sich Europäer zu kolonialen Beutezügen nach Ost-Indien aufmachen  : 68 Linné/Hoppius  : Vom Thiermenschen, S. 61. 69 Ebd., 70 Ebd., S. 66. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 67. 73 Ebd., S. 66. 74 Zit. Broberg  : Homo sapiens, S.  184 f. Vgl. Kiöping, Nils Matsson  : En kort beskrifning vppå trenne resor och peregrinationer, sampt konungarijket Japan, Wisingsborgh 1667, S. 123 f. 75 Linné/Hoppius  : Vom Thiermenschen, S. 69.

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Freylich viele Sterbliche bringen ihre Lage nur mit der Befriedigung ihres Magens zu  ; oder denken aengstlich nur darauf, fuer die Ihrigen Geld und Gut zusammen zu scharren. Und so verhaelt sichs auch meistenteils mit den nach Ostindien Reisenden, welche doch allein die Troglodyten zu sehen bekommen  ; Sie sind nur auf Gewinnst bedacht, und halten es fuer Nebengeschaefte, die Beschaffenheit der Werke der Natur und ihre Oeconomie zu erforschen.76

Doch auch die Forschung kann im Rückblick monströse Züge annehmen, etwa wenn Linné seinen Schüler Pehr Bierchen auffordert, die Genitalien eines ›weißhäutigen‹, zehnjährigen Mädchens aus Jamaica zu untersuchen, das in London festgehalten und zur Schau gestellt wurde, was ihm aber schließlich untersagt wird. Daraufhin setzt Linné seine Hoffnung auf eine von der schwedischen Ostindien-Kompanie auf seinen Wunsch und eine Order der Königin hin organisierte Troglodytenjagd, die erfolglos bleibt. Aus Südindien erreichte Linné schließlich die Information, dass Troglodyten (oder ›Kakerlaken‹) als solche geboren werden und die Merkmale auf eine Krankheit zurückzuführen seien.77 Hervorzuheben bleibt, dass Linné nie selbst einen vermeintlichen Troglodyten zu Gesicht bekam, sondern seine Ausführungen auf Überlieferungen beruhten, die bis zu Plinius zurückgehen, d. h. aus semantischen Resten zusammengesetzt waren. Linné betont die menschlichen Züge der Erniedrigten, indem er die Gattung der Nachtmenschen erfindet. In einer Volte erweisen sich so diejenigen Umnachteten als die eigentlich ›verachtenswerten‹ Troglodyten, die ein Menschwerden der Menschenähnlichen verhindern und deren Rohheit perpetuieren. Es bleibt unentschieden, welches Exemplar welcher Art angehört – und wer sich als Monster herausstellt. Die gewaltsame Produktion einer tiermenschlichen Unterschicht kommt gerade durch die taxonomische Rücksicht auf Darstellbarkeit zur Sprache.

Das kalligrammatische Verfahren (mit) der Naturgeschichte

Wie verfährt die Naturgeschichte  ? Eine Antwort liefert Michel Foucault, der in seiner bahnbrechenden wie umstrittenen Studie Die Ordnung der Dinge (Le Mot et les Choses, 1966) das Klassifizieren als zentrales Verfahren herausarbei76 Ebd., S. 68 f. 77 Vgl. Broberg  : Homo sapiens, S. 185.

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tet. Wenn Foucault von der »Möglichkeit« spricht, »das zu sehen, was man wird sagen können«78, so attestiert er dem naturgeschichtlichen Blick eine Verknappung des Sichtbaren. Diese systematische Beschränkung liefere eine Struktur als gefilterte Natur, die wiederum eine Übersetzung in eine sprachliche Ordnung erlaube.79 Als Ideal eines solchen Verfahrens zeichne sich eine natürliche Methode ab, in der sich das reiche Naturspektakel und seine Repräsentation durch eine unendliche Verfeinerung des sprachlichen Rasters einander annähern und letztendlich zusammenfallen. Am imaginären Umschlagpunkt werde das Tableau selbst zu einer Naturform. In Linnés Philosophia Botanica (1751) manifestiere sich der Traum von Pflanzen-Kalligrammen, in denen die Bezeichnungen der Teile durch ihre Ausprägung und Anordnung auf dem Papier bereits ein veritables Abbild der Pflanze liefern.80 Am Horizont der Naturgeschichte liege eine Welt, die direkt lesbar wird, ohne Umweg über die Transkription. Die Merkmale der naturalia wären damit virtuell immer schon markiert und benannt. Linné fantasiert also – mit Foucault gelesen – eine Ästhetik, in der das Wesentliche zum Maßstab des Schönen und das Schöne zum Wesentlichen in der Natur wird. Doch nicht nur das Unschöne wird aus der Repräsentation gestrichen, sondern auch semantische Anlagerungen81 werden getilgt  : Alles Fabelhafte werde gelöscht und die Lebewesen »erschein[en] gewissermaßen nackt«82. Die Repräsentation ziehe eine Distanz zwischen Wörtern und Dingen ein  : Die Zeichen seien nicht mehr Teil des Lebewesens, anders als in den Naturgeschichten, die bis Mitte des 17. Jahrhunderts verfasst wurden. Bei Foucault stellt sich die Natur der Naturgeschichte als das Produkt einer ästhetischen Praxis dar, die sich als kalligrammatisches Verfahren bezeichnen lässt. Das ›Schöne‹ und das ›Wesentliche‹ überlagern sich in der Vorstellung, nach der sich die Welt direkt als Struktur gibt, d. h. bereits so konfiguriert ist, dass eine Transkription obsolet wird. Das Lesen der Welt wird als ein aktiver Prozess fassbar, in dem ein Korrektiv wirksam ist. Es ist ein Auslesen, bei dem alle Störungen eliminiert werden.83 78 Foucault, Michel  : Die Ordnung der Dinge. Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1974, S. 171. 79 Vgl. ebd., S. 175. 80 Vgl. ebd., S. 177. Foucault bezieht sich auf  : Linné  : Philosophia Botanica, § 328 f. 81 Vgl. Foucault  : Ordnung der Dinge, S. 172. 82 Ebd., S. 170. 83 Lorraine Daston und Peter Galison haben aus einer kunst- und wissenshistorischen Perspektive gezeigt, dass und wie sich dieser synthetische Blick in Illustrationen Linnéscher Werke nieder-

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Anhand der Figuren des Monströsen hat sich jedoch gezeigt, dass das Gestrichene unter dem Strich lesbar bleibt. Die Ordnungswidrigkeiten, die in der Repräsentation nicht aufgehen und an ihren Rändern wiederkehren bzw. nie ganz verschwinden, werden produktiv. Foucaults archäologisches Verfahren mit der Naturgeschichte ist also seinerseits kalligrammatisch, insofern er das Streichen als ein Auslöschen versteht. Die Archäologie liefert ein gefiltertes Bild der Naturgeschichte. Die Figuren des Monströsen sind Fallbeispiele dafür, was in dem Bild vom Bild der Naturdinge in der Naturgeschichte nicht aufgeht. Wenn Foucault schreibt, in der »schattige[n], bewegliche[n] und bebende[n] Region«84 der Monster lasse sich das »ununterbrochene Murmeln der ­Natur«85 vernehmen, so opponiert dieses unterschwellige Geräusch gegen das visuelle Regime der Naturgeschichte und unterläuft damit auch die epistemische Klassifikation, die Foucault vornimmt und durch die er die Naturgeschichte gleichsam wiederholt. Die Dynamik des Monströsen stört gleichermaßen das Verfahren der Naturgeschichte, die Dinge zu ordnen, und Foucaults Verfahren, die Naturgeschichte zu ordnen. Foucaults spätere Rückkehr zum Monströsen im Kontext einer »Genealogie der Anomalie«86 lässt sich als kritischer Nachtrag zur marginalen archäologischen Abhandlung der Monster verstehen. In seiner Vorlesung Les Anormaux (1975) arbeitet er den Doppelcharakter des Monsters als Ordnungswidrigkeit und dinghafte Form heraus.87 Dem Begriff nach sei das Monster ein doppelter Gesetzesbruch  : ein Verstoß gegen Natur- und Kulturgesetze.88 Foucault schreibt hier von »Formen«89 des Monsters – hybriden Dingen, die – an konkrete historische Bedingungen gebunden – in bestimmten Konstellationen von Macht und Wissen auftauchen.90 Das Monster als ein »Mischwesen«, als schlägt  : »Science pursued under the star of truth-to-nature rather than of objectivity looked different. […] The Linnaean illustration aspired to generality  – a generality that transcended the species or even the genus to reflect a never seen but nonetheless real plant archetype  : the reasoned image. […] The choice of images that best represented ›what truly is‹ engaged scientific atlas makers in ontological and aesthetic judgments that mechanical objectivity later forbade.« Daston/Galison  : Objectivity, S. 55−63, hier S. 60. 84 Foucault  : Ordnung der Dinge, S. 203. 85 Ebd., S. 201. 86 Foucault  : Die Anormalen, S. 79. 87 Vgl. Geisenhanslüke, Achim u. a.: Einleitung, in  : Dies. (Hg.)  : Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, S. 9–15, hier S. 11. 88 Vgl. Foucault  : Die Anormalen, S. 66 f. 89 Ebd., S. 91. 90 Vgl. ebd., S. 86 f.

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»ein Mixtum zweier Arten«, so Foucault, »überschreitet […] die Klassifikationen […]  : Genau darum geht es in der Monstrosität«91. Dieses Überschreiten der Klassifikation gehört jedoch zur Naturgeschichte wie die Klassifikation selbst. Die Monster verschieben den ›Rahmen‹ des Tableaus, sie stehen mit der ›apriorischen‹ Ordnung der Dinge in Wechselwirkung. Die drei untersuchten Figuren des Monströsen funktionieren vor diesem Hintergrund auf je eigene Weise. Pelorien lassen sich als Monsterformen im Sinne Foucaults verstehen, die gegen das Dogma der Konstanz der Arten verstoßen. Gleichzeitig wird jedoch das Monströse im Rahmen einer politischen Ökonomie praktisch nützlich. Linné will die Dinge nicht nur ordnen, sondern auch über sie verfügen. Daraus ergibt sich für den Gemeinplatz »Deus creavit, Linnaeus disposuit«92 eine neue Lesart. Indem Menschen als klassifikatorische Anomalie in das Natursystem eingefügt werden, behauptet sich eine Wissensordnung, die vor diesem ›besonderen‹ Gegenstand keine religiös begründeten moralischen Skrupel mehr hat. Die Naturgeschichte wird darüber hinaus anthropologisch fundiert, indem ein reflexives Verfahren das Gattungskriterium ersetzt. ›Der Mensch‹ stellt sich dabei allerdings als Hybrid heraus, der immer auch ›Nicht-Mensch‹ ist. Im Falle der Troglodyten wird ersichtlich, wie die Interferenzzone zwischen Mensch und Tier und das politische Drama der gewaltsamen Trennung die virtuelle Systemstelle einer zweiten Menschenart erhält, sodass eine körperliche Manifestation eines Monströsen erst denkbar wird. Dieses Denkbare wird mit semantischen Resten angereichert. Monster gibt es nicht einfach, Monster werden gemacht. Sie sind Artefakte einer angewandten Naturgeschichte, die ihre Voraussetzungen in Frage stellt und transformiert. In der Behandlung von Monstern wird die Naturgeschichte selbst monströs und stellt ihre Gesetze als gesetzte aus. Wenn es fundamentale Codes gibt, die empirische Ordnungen beherrschen und fixieren,93 so sind diese nicht absolut. Am Rande treiben Anomalien ihr Unwesen, die an einer anderen Naturgeschichte mitschreiben.

91 Ebd. 92 Ramsbottom  : Linnaeus, S. 196. 93 Vgl. Foucault  : Ordnung der Dinge, S. 22, 24.

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Eva Dolezel

Die Logik des Schauraums Zur Präsentation von Naturalien abseits der Taxonomien

1755 erscheint in Dresden ein erstaunlicher Text. In diesem Jahr veröffentlicht der sächsische Bergrat und Inspektor für die Dresdener Naturaliensammlungen, Christian Heinrich Eilenburg, einen Museumsführer zu dem im Zwinger untergebrachten Palais des Sciences. Eilenburgs Kurzer Entwurf der königlichen Naturalienkammer zu Dresden ist ein rares Zeugnis der Ausstellungskultur seiner Zeit. Museumsräume des 18. Jahrhunderts sind heute zumeist nicht mehr erhalten. Und selten finden sich die Objektinszenierungen von einst in einer Detailliertheit dokumentiert, wie sie diese Publikation ihren Lesern offeriert.1 Gleichzeitig gibt Eilenburgs Museumsführer in beredter Weise Auskunft darüber, dass in der Mitte des 18.  Jahrhunderts entscheidende Verschiebungen in der Konstituierung des musealen Raumes stattfanden. Seit die museumsgeschichtliche Forschung die Entwicklungen in den Blick nimmt, die den gewichtigen Gründungen der Französischen Revolution vorausgingen, wird deutlich, dass Aspekte wie Gemeinnützigkeit, Wissenschaftlichkeit und Zugänglichkeit, die als definitorische Eigenschaften des Museums gelten, mit einer langen Vorgeschichte behaftet sind.2 Aber auch das mitunter konflikt­ reiche Zusammenspiel dieser Aspekte, das nicht minder prägend für die heutigen Museen ist, kündigte sich bereits im 18.  Jahrhundert an. Anhand von 1 Dieser Beitrag geht wesentlich auf die noch nicht publizierte Dissertation der Autorin zurück  : Dolezel, Eva  : Der Traum vom Museum. Die Berliner Kunstkammer unter Jean Henry (1794– 1805) und das Akademiemuseum des 18. Jahrhunderts, Humboldt-Universität zu Berlin 2015. 2 Vgl. Savoy, Bénédicte  : Zum Öffentlichkeitscharakter deutscher Museen im 18. Jahrhundert, in  : Dies. (Hg.)  : Tempel der Kunst. Die Entstehung des öffentlichen Museums in Deutschland 1701– 1815, Mainz 2006, S. 9–26. Zu den Museen des 18. Jahrhunderts vgl. neben diesem Band etwa auch  : Bjurström, Per (Hg.)  : The Genesis of the Art Museum in the 18th  Century, Stockholm 1993  ; Pommier, Édouard (Hg.)  : Les musées en Europe à la veille de l’ouverture du Louvre, Paris 1995  ; Becker, Christoph  : Vom Raritäten-Kabinett zur Sammlung als Institution. Sammeln und Ordnen im Zeitalter der Aufklärung, Egelsbach u. a. 1996  ; Sheehan, James  J.: Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung, München 2002  ; Paul, Carole (Hg.)  : The First Modern Museums of Art. The Birth of an Institution in 18th- and Early-19th-Century Europe, Los Angeles 2012.

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Eilenburgs Kurzem Entwurf lässt sich zeigen, wie die in Veränderung begriffenen Formen musealer Praxis die Präsentation der Objekte beeinflussten und welche Konsequenzen hieraus für das Museum als Ort der Wissensvermittlung entstanden.

Die Petrefactengalerie des Dresdener Palais des Sciences

Das 1728 eingerichtete Palais des Sciences zählt zu den bisher wenig beachteten Museumsgründungen des 18.  Jahrhunderts, die sich dem Schema einer Erzählung von der Ablösung der universalen Kunstkammer durch das Spartenmuseum entziehen. Hervorgegangen aus einem komplexen Umorganisierungsprozess der Dresdener Sammlungen, der in der ursprünglich im Residenzschloss beheimateten Kunstkammer seinen Ursprung genommen hatte, umfasste es, wenn auch in dezimierter Form, die drei Sammlungsbereiche der klassischen Kunstkammer, naturalia, scientifica und artificialia, darunter ein Kupferstichkabinett und eine reiche Sammlung wissenschaftlicher Instrumente. Den größten Teil des weitläufigen Gebäudeensembles nahm jedoch die Naturalienabteilung ein, die sich im Erdgeschoss befand.3 Diesen naturwissenschaftlichen Hauptbestand des Palais des Sciences beschreibt Eilenburg in seinem Kurzen Entwurf. Auf rund 100 Druckseiten, die durch zwei Grundrisse ergänzt werden, führt er den Leser Raum für Raum durch die Galerien des Zwingers. Er beginnt mit der Abteilung für Mineralien, auf die u. a. Abteilungen für Botanik und Anatomie folgten, ausgedehnte Animaliengalerien sowie Bestände von Muscheln, Korallen und Bernstein bis hin zu dem berühmten Modell des Salomonischen Tempels, dem ein eigener Saal vorbehalten war.4 3 Die Sammlung wissenschaftlicher Instrumente ist noch heute im Mathematisch-Physikalischen Salon des Zwingers anzutreffen. Zum Palais des Sciences vgl. Heres, Gerald  : Der Zwinger als Museum. Aufstellung und Ausstattung der Sammlungen im 18. Jahrhundert, in  : Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Bd. 12, 1980 (1983), S. 119–133  ; Becker  : Raritäten-­Kabinett, S. 44 ff.; Heres, Gerald  : Dresdener Kunstsammlungen im 18. Jahrhundert, Leipzig 2006, S. 66 ff., S. 105 ff. Zum Palais des Sciences als Universalmuseum vgl. Meijers, Debora J.: Het »encyclopedische« museum van de achttiende eeuw, in  : Bergvelt, Ellinoor u. a. (Hg.)  : Kabinetten, galerijen en musea. Het verzamelen en presenteren van naturalia en kunst van 1500 tot heden, Zwolle 2013, S. 169–194, S. 171 ff. 4 Vgl. Eilenburg, Christian Heinrich  : Kurzer Entwurf der königlichen Naturalienkammer zu Dresden, Dresden/Leipzig 1755. Zu dem Modell des Salomonischen Tempels und seiner Aufstellung im Palais des Scienes vgl. Korey, Michael  : Der Tempel Salomonis im Dresdener Zwin-

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Abb. 1  : Die Mineralien- und die Petrefactengalerie des Palais des Sciences im Dresdener Zwinger, Kupferstich aus Eilenburg  : Kurzer Entwurf (1755), SLUB Dresden, Hist.Sax.G.260.

Eilenburgs Schilderung der Galerieräume des Zwingers nimmt den Leser vor allem durch sein erstaunlich hohes museologisches Reflexionsniveau ein. Zwar verzichtet der Autor nicht auf die gängige Rhetorik von Sammlungsbeschreibungen, die stets den Umfang, die Seltenheit und Pracht der Objekte in Superlativen rühmt. Was den Text ausmacht, ist jedoch die Konsequenz, mit der er die Gestaltung der Arrangements in den Galerien des Zwingers kommentiert. Nach seiner Amtsübernahme im Jahr 1746 hatte Eilenburg die dortigen Ausstellungen aktualisiert.5 Das zu dieser Zeit noch sehr junge Format des Museumsführers nutzte er, um diese Arbeit zu dokumentieren. Entstanden ist so ein Text, der sich wie eine kuratorische Selbstvergewisserung liest. Wiederholt geht Eilenburg auf die Nachbarschaft bestimmter Exponate und ihre inhaltliche Motivierung ein, liefert Begründungen für die gewählten Anordnungen und räsoniert über Varianten, die sich aus Platzgründen oder aufgrund konservatorischer Bedenken nicht realisieren ließen. Oft benutzt er dabei die Ichger. Facetten und Spiegelungen eines barocken Architekturmodells, in  : Dresdener Kunstblätter. Vierteljahresschrift der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Bd. 53 (2009) Nr. 4, S. 249–259  ; Korey, Michael/Ketelsen, Thomas (Hg.)  : Fragmente der Erinnerung. Der Tempel Salomonis im Dresdner Zwinger, Berlin/München 2010. 5 Zu Eilenburgs Amtszeit am Palais des Sciences vgl. Fischer, Walther  : Mineralogie in Sachsen von Agricola bis Werner. Die ältere Geschichte des Staatlichen Museums für Mineralogie und Geologie zu Dresden (1560–1820), Dresden 1939, S. 104 ff.

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oder Wir-Form. Auf diese Weise wird dem Leser immer wieder vor Augen geführt, dass das Ausstellen der Objekte selbst das Resultat komplexer Überlegungen ist. Überraschend ist zudem, dass hinter den von Eilenburg beschriebenen Objektinszenierungen häufig eine didaktische Motivation stand. Dies gilt insbesondere für die Präsentation der Fossilien in der sogenannten Petrefactengalerie, die sich in der von der Stadtseite aus linkerhand des späteren Glocken­ spielpavillons gelegenen Bogengalerie befand.6 Hier ging es darum, dem Besucher die Thesen des Schweizer Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer zu vermitteln. Scheuchzers Diluvialtheorie wertete Fossilien als Überbleibsel der vorsintflutlichen Flora und Fauna und nahm damit eine erste, wenn auch der biblischen Geschichte verpflichtete Historisierung dieser Objekte vor, die zuvor als Spiele der Natur gegolten hatten und daher in den Kunstkammern stets präsent gewesen waren.7 In Dresden hatte man sich zu einem besonders frühen Zeitpunkt von den Thesen Scheuchzers zu einem museologischen Konzept anregen lassen. Die Petrefactengalerie war bereits in den 1720er Jahren bei Entstehung des Palais des Sciences angelegt worden. Knapp 20 Jahre später gestaltete Eilenburg sie um und schuf einen regelrechten Parcours, der das neue Erklärungsmodell für die Entstehung der Fossilien erfahrbar machen sollte.8 Vor allem am Beginn der Abteilung hatte Eilenburg die Zusammenstellung der Objekte mit großer Sorgfalt geplant. Hier präsentierte er zunächst Tropfsteine. Sie sollten den Besucher aufgrund ihrer Entstehungsweise für die Thematik sensibilisieren. Diese Entscheidung kommentiert er in seinem Kurzen Entwurf in dem für den gesamten Text charakteristischen Tonfall  : Hierbey kann man, meines Erachtens, einen jeden am besten vorbereiten, wie er die reiche Sammlung versteinerter Dinge, auf eine begreifliche und ordentliche Art, in Obacht zu nehmen habe  : ja, ich bin der festen Meynung, daß man, in einer derglei-

6 Heute ist hier ein Teil der Porzellansammlung zu sehen. 7 Zu Scheuchzer vgl. Leu, Urs B.: Johann Jakob Scheuchzer als Paläontologe, in  : Boscani Leoni, Simona (Hg.)  : Wissenschaft – Berge – Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, Basel 2010, S. 89–106. 8 Vgl. Fischer  : Mineralogie, S.  79 ff. Einen Eindruck der Petrefactengalerie vor Eilenburgs Umgestaltung vermittelt die hier wiedergegebene Beschreibung Johann George Keyßlers von 1741. Hier findet sich zudem ein ausführlich kommentierter Abdruck der Abschnitte aus dem Text Eilenburgs, die mit der Mineralien- und der Petrefactengalerie befasst sind. Vgl. ebd., S. 117 ff. Eilenburg weist selbst auf die Neueinrichtung der Petrefactengalerie in den 1740er Jahren hin. Vgl. Eilenburg  : Entwurf, S. 20.

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chen Collection, mit den nur benannten Naturalien nothwendig den Anfang machen müsse. Wem bekannt ist, was Tropfsteine sind, und woher sie entstehen, wird mir hierunter Recht geben, und solche den versteinerten Sachen, die sich entweder aus dem Pflanzen- oder Thier-Reich herschreiben, unfehlbar vorsetzen.9

Zu der Reihe von Objekten, die diesen Prolog der Fossilienabteilung ergänzten, zählten u. a. Zufallsbildungen, die zuvor häufig gemeinsam mit tatsächlichen Versteinerungen als ludi naturæ gegolten hatten, etwa wie Früchte oder wie Konfekt geformte Steine. Zudem befand sich hier ein mit Dendriten gefüllter Schrankaufsatz. Dieser, so schreibt Eilenburg, »bahnet uns zu den nun kommenden, wahren Petrefacten, und zwar erstlich zu den versteinerten Naturalien des vegetabilischen Reiches gleichsam den Weg«10. Mittels eines Objektvergleichs zu den darauf folgenden »wahren« Fossilien wollte er dem Besucher »augenscheinlich weisen«, wie sehr sich echte und vermeintliche Versteinerungen voneinander unterschieden.11 Eilenburg ließ die Petrefactengalerie mit einem Bildprogramm ausstatten, das mit seiner Darstellung Deukalions und Pyrrhas einen mythologischen Verweis auf das Diluvialthema enthielt.12 Er zeigte außerdem Exponate, die den Besucher allein durch ihre spezifische Morphologie überzeugen sollten. Am Beginn der Sektion zu den »wahren Versteinerungen« stand eine Sammlung, »von petrificirten Hölzern, Baumrinden, Aesten und Wurzeln«.13 Die Formgebung dieser Objekte ließ, wie Eilenburg betont, geradezu intuitiv auf den Prozess der Versteinerung schließen  : Diese [Sammlung, Anmerk. d. Verf.] ist nicht allein sehr zahlreich, sondern auch größtentheils also beschaffen, daß auch ein unwissender, bald aus dem Wuchse, bald aus den Splittern, bald aus den Astlöchern und aus andern sehr kenntlichen Merkmaalen, sofort überzeugt wird, daß diese nunmehr ungemein festen Steine allerdings nichts anders, als Holz können gewesen seyn.14

Als zentrales Objekt in diesem Bereich fungierte ein beinahe vier Meter hoher Stamm einer verkieselten Konifere, zu dem eine zeitgenössische Abbildung  9 Ebd. 10 Ebd., S. 21. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. ebd., S. 20. 13 Ebd., S. 22. 14 Ebd.

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Abb. 2  : Verkieselte Konifere, 1752 bei Chemnitz ausgegraben, Kupferstich aus  : Dresdnisches Magazin, oder Ausarbeitungen und Nachrichten zum Behuf der Naturlehre, der Arzneykunst, der Sitten und der schönen Wissenschaften, Bd. 1 (1759/1760), Abb. nach S. 38, SUB Göttingen, 8 SVA II, 2135.

überliefert ist. Auch in didaktischer Hinsicht war es ein Schlüsselobjekt. Für Eilenburg schien der Prozess der Fossilisation gerade an diesem Exponat augenfällig zu werden. In seinem Text fuhr er fort  : Am allerdeutlichsten lehret solches der prächtige Stamm desjenigen Baumes, welcher, nebst seinen gleichfalls versteinerten Wurzeln und Aesten 1572 anhero geschafft worden, und in der gelehrten Welt sehr viel Aufsehen gemachet hat.15

15 Ebd. Zu diesem Objekt vgl. Fischer, Mineralogie, S. 262 ff.

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Zwischen Schau- und Forschungsraum

Eilenburgs Kurzer Entwurf beschreibt ein ausgefeiltes Instrumentarium musealer Präsentationsformen. In der Petrefactengalerie wurden Sammlungsobjekte in sinnstiftende Konstellationen gebracht, sie wurden mit Bildern kombiniert und als Teil einer didaktisch grundierten Dramaturgie begriffen. Auch in seinen übrigen Abteilungen hatte das Palais des Sciences eine weitgefächerte Palette ähnlicher Arrangements aufzuweisen. In Eilenburgs Text ist die Rede von Probierwaagen und -öfen, die als kontextualisierende Elemente in der Nähe der Erze gezeigt wurden.16 Auch waren hier einige Maschinenmodelle zu sehen, welche die Technik des Bergbaus veranschaulichen sollten.17 In der Abteilung für Anatomie war ein menschliches Skelett ausgestellt, dessen einzelne Teile so miteinander verbunden waren, dass sich hiermit verschiedene Formen der Bewegung zeigen ließen.18 Zuweilen hatte man angeschnittene Objekte in die Ausstellung eingefügt, etwa bei den Bezoaren und den Conchylien. Sie sollten dem Besucher den inneren Aufbau der jeweiligen Naturalie vor Augen führen.19 Und sogar klassische Kunstkammerobjekte fanden ihren Platz. In einer der Animaliengalerien wurde u. a. ein aus Rhinozeroshorn gefertigter Pokal präsentiert, um das Material in seiner verarbeiteten Form zu zeigen.20 Im Vegetabiliensaal war zwischen botanischen Präparaten ein aus Gewürznelken zusammengesetztes Schiff platziert, um dem Besucher, so Eilenburg, ein »Vergnügen« zu bieten in einer Abteilung von Exponaten, die »für die meisten nicht viel Reizung haben«.21 Die Objektinszenierungen des Palais des Sciences wichen grundlegend von jener an der naturgeschichtlichen Systematik orientierten Präsentationsweise ab, die so bestimmend für die Sammlungskultur des 18.  Jahrhunderts war. Seit dem Erscheinen der Erstausgabe von Carl von Linnés Systema naturæ im Jahr 1735 hatte sich sukzessive eine Form des Ausstellens von Naturalien durchgesetzt, die im Wesentlichen auf der Verortung des einzelnen Exponats in der Taxonomie beruhte. Mit Vitrinenscheiben ausgestattete Schränke dienten dazu, den Blick freizugeben auf eine regelmäßige Anordnung der Objekte.

16 Vgl. Eilenburg  : Entwurf, S. 7. 17 Vgl. ebd., S. 18 f. 18 Vgl. ebd., S. 37. 19 Vgl. ebd., S. 44, S. 75. 20 Vgl. ebd., S. 41. 21 Ebd., S. 30. Zu diesen Objektkonstellationen vgl. auch Becker  : Raritäten-Kabinett, S. 61 ff.

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Der museale Raum wurde so gleichsam zu einer begehbaren Tabelle.22 Im Gegensatz zu Eilenburgs Arrangements, die mit spektakulären Objekten um die Aufmerksamkeit des Besuchers rangen und ihn mit immer neuen Formen der Zusammenstellung zu überraschen suchten, wurde hier eine Ästhetik äußerster Reduktion und Strenge geschaffen, die den vergleichenden Blick auf das morphologische Detail begünstigen sollte. Die zeitgenössische Kritik setzte die von Eilenburg beschriebenen Präsenta­ tionsformen direkt zu den Konventionen der naturgeschichtlichen Ausstellungspraxis ihrer Zeit in Beziehung. 1758 erschien in den Neuen Gesell­schaftlichen Erzählungen für die Liebhaber der Naturlehre, der Haushaltungs­wissenschaften, der Arzneykunst und der Sitten eine kurze museologische Reflexion des Theologen und Naturhistorikers Christian Gabriel Fischer mit dem durchaus polemischen Titel Ob sich nach Herrn Linnaeus System ein Naturalienkabinett einrichten lasse  ? Über Eilenburgs Publikation ist hier zu lesen  : Und wenn man den kurzen Entwurf der königl. Naturalienkammer zu Dresden durchliest, […]  : so wird man wahrnehmen, daß bey dieser königl. Sammlung von der linnäischen Methode durchgehends hat müssen abgegangen werden. Tausend Umstände fallen vor, welche in Aufstellung der natürlichen Dinge eine andere Ordnung, als die in dem System gewöhnliche, erfordern. Naturaliensammlungen sind für die Welt und für die Sinnen. Die Systeme für den Gelehrten, und für den Verstand.23

Mit der Gegenüberstellung von »Sinnen« und »Verstand« nimmt Fischer eine Dichotomie auf, die für Eilenburgs gesamten Text prägend ist. Die Frage der Adressierung der von ihm geschilderten Präsentationsformen an ein spezifisches Zielpublikum wird immer wieder reflektiert. In seinen Erläuterungen zum Korallencabinet differenziert Eilenburg zwischen »Kennern von Naturalien« und denjenigen, »welche sich aus dergleichen Subtilitäten nicht viel machen«.24 Es ist einerseits die Rede von »Liebhaber[n] der Naturhistorie«, 22 Vgl. te Heesen, Anke  : Geschlossene und transparente Ordnungen. Sammlungsmöbel und ihre Wahrnehmung in der Aufklärungszeit, in  : Dürbeck, Gabriele u. a. (Hg.)  : Wahrnehmung der Natur, Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Dresden 2001, S. 19–34, hier S. 29 ff. 23 Fischer, Christian Gabriel  : Ob sich nach Herrn Linnaeus System ein Naturalienkabinet einrichten lasse  ? In  : Neue Gesellschaftliche Erzählungen für die Liebhaber der Naturlehre, der Haushaltungswissenschaften, der Arzneykunst und der Sitten, Bd. 1 (1758), S. 163–166, hier S. 166, zit. Fischer  : Mineralogie, S. 134. Letzterer geht hier auch auf die Rezeption des Eilenburg-Texts ein. 24 Eilenburg  : Entwurf, S. 81.

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andererseits von »Unerfahrenen«, »Unwissende[n]« oder denjenigen mit »mäßige[r] Einsicht in diese Wissenschaft«.25 In diesem ständigen Auskalibrieren verschiedener Ansprache-Niveaus offenbart sich eine Spannung zwischen Schau- und Forschungsfunktion des musealen Raumes, die im Laufe des 18.  Jahrhunderts entstand und noch heute für die Institution Museum zentral ist.26 Sie ist bereits in Leonhard Christoph Sturms 1704 erschienener Geöffneter Raritäten- und Naturalienkammer präsent, dem museologischen Traktat, das für viele Gründungen des 18.  Jahrhunderts prägend sein sollte.27 Sturm entwirft hier ein ideales Museum, ein Raritätenhaus, dessen Bestand, Ordnung, aber auch Nutzung er detailliert beschreibt. Angeregt durch Gottfried Wilhelm Leibniz’ museologisches Konzept eines theatrum naturæ et artis propagiert er, das Museum mit einer Wissenschaftsakademie zu verbinden. Er empfiehlt, dass »wöchentlich einmahl unter Direction des Auffsehers der Raritäten-Kammer etliche geschickte Männer darinnen zusammen kommen/ und über den daselbst vorhandenen Curiositäten so wohl/ als über denen annoch manglenden/ gelahrte Conferentzen halten«.28 Daneben ist auch die Nutzung der Sammlung durch eine breite Öffentlichkeit in seinem Konzept vorgesehen  : die, wie Sturm es beschreibt, »zugelassene Beschauung solcher gesammleten Wunder der Natur und Kunst«.29 Ausgehend von Leibniz und Sturm wurden im 18.  Jahrhundert vielerorts Museen gegründet, deren janusköpfige Anlage auch das Dresdener Palais des Sciences zu prägen schien, obwohl es selbst nicht Teil eines Akademieprojekts 25 Vgl. etwa ebd., S. 1, S. 15 f., S. 22. 26 Zu einer ähnlichen Konstellation im Museum Fridericianum vgl. Linnebach, Andrea  : Das Museum der Aufklärung und sein Publikum. Kunsthaus und Museum Fridericianum in Kassel im Kontext des historischen Besucherbuches (1769–1796), Kassel 2014 (Kasseler Beiträge zur Geschichte und Landeskunde, Bd. 3), S. 44 ff. Zum Verhältnis von Schau- und Forschungsfunktion frühneuzeitlicher Sammlungsräume vgl. Siemer, Stefan  : Die Erziehung des Auges. Überlegungen zur Darstellung und Erfahrung von Natur in naturhistorischen Sammlungen in der frühen Neuzeit, in  : kunsttexte.de, Sektion Bild Wissen Technik, Nr. 1 (2001), http://edoc.hu-berlin.de/ kunsttexte/download/bwt/siemer.pdf, letzter Zugriff  : 26.10.2016. 27 Vgl. Sturm, Leonhard Christoph  : Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer, Hamburg 1704. Zu Sturms Sammlungstraktat vgl. Dolezel, Eva  : Zwischen museologischer Utopie und Didaktik. Leonhard Christoph Sturms »Geöffnete Raritäten- und Naturalienkammer« (1704), in  : Dies. u. a. (Hg.)  : Die Ordnungen der Dinge. Kunst- und Naturalienkammern als Lehr- und Lernorte in der Frühen Neuzeit, Stuttgart (in Vorbereitung). 28 Sturm  : Raritätenkammer, S. 12 (Hervorhebungen im Original). Zu Leibniz’ Museumsidee vgl. Bredekamp, Horst  : Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004. 29 Sturm  : Raritätenkammer, S. 11 f.

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war. Zum Typus des Akademiemuseums zählte etwa das 1710 im Kasseler Kunsthaus eingerichtete Ottoneum, das mit dem Collegium Carolinum, einer Art höheren Schule, verbunden war – aus ihm ging wenige Jahrzehnte später das wesentlich bekanntere Museum Fridericianum hervor. Hierzu zählte auch die 1728 eröffnete Kunstkamera in St. Petersburg, die der kurz zuvor gegründeten russischen Akademie der Wissenschaften zugeordnet war, sowie das 1754 gegründete Herzogliche Kunst- und Naturalienkabinett in Braunschweig, das man mit dem dortigen Collegium Carolinum verband.30Alle diese Häuser waren an eine Lehr- oder Forschungsinstitution angebunden. Gleichzeitig entstanden hier Vorformen musealer Öffentlichkeit, die sich aus der Kunstkammertradition heraus entwickelten. Hierzu zählte etwa die zunehmend ins­ titutionalisierte Praxis regelmäßiger Führungen, die auch für das Palais des Sciences bereits in seinem Gründungsjahr bezeugt ist.31 Als gedruckter Museumsführer ist Eilenburgs Kurzer Entwurf selbst ein Produkt dieser Entwicklung.32 Sein zeitgleich auf Deutsch und Französisch erschienener Text hebt sich explizit ab von den zumeist in lateinischer Sprache verfassten, die einzelnen Objekte ausführlich beschreibenden und mit zahlreichen Literaturangaben versehenen Sammlungskatalogen, die in den vorhergehenden Jahrzehnten vielerorts gedruckt worden waren.33 Vor allem aber lässt 30 Zu diesen Projekten vgl. Buberl, Brigitte/Dückershoff, Michael (Hg.)  : Palast des Wissens. Die Kunst- und Wunderkammer Zar Peters des Großen, Ausstellungskatalog, 2  Bde., München 2003  ; Gaulke, Karsten  : Ein »House of Salomon« für Kassel  : Landgraf Karl und die Gründung des Kunsthauses, in  : Museumslandschaft Hessen Kassel (Hg.)  : Optica. Optische Instrumente am Hof der Landgrafen von Hessen-Kassel, Petersberg 2011, S. 9–24  ; Walz, Alfred (Hg.)  : 250 Jahre Museum. Von den fürstlichen Sammlungen zum Museum der Aufklärung, Ausstellungskatalog, München 2004. 31 Vgl.: »Instruction, Wie es mit herum führung derer Frembden und anderer, so die Königl. Galleries Sciences besehen wollen, ad interim zu halten« (1728) in  : Fischer  : Mineralogie, S.  59. Eine ähnliche Instruction ist etwa auch zu der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen für das Jahr 1741 überliefert. Vgl. Müller-Bahlke, Thomas  : Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen, 2. überarb. und erw. Aufl., Halle 2012, S. 56. In Halle wurden die Führungen in dieser Zeit bereits an eigens hierfür vorgesehenes Personal delegiert, ähnlich wie es auch für das Kasseler Museum Fridericianum der Fall war. Vgl. Vercamer, Julia  : Das Museum Fridericianum in Kassel, in  : Savoy  : Tempel der Kunst, S. 309–331, hier S. 326. Zur Zugänglichkeit der Museen im 18. Jahrhundert vgl. auch Savoy  : Öffentlichkeitscharakter, S. 20 ff. 32 Vor allem zu Kunstsammlungen entwickelten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts verschiedene Publikationsformen, die auf die Veränderungen des Besucherkreises reagierten. Vgl. Penzel, Joachim  : Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1770 und 1914, Berlin 2007 (Politica et Ars, Bd. 13), S. 103 ff. 33 Auch für das Palais des Sciences entstanden neben einer Vielzahl von Inventaren in den 1740er

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er eine zumeist ephemer gebliebene Präsentationskultur erahnen, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts parallel zu den taxonomisch orientierten Formen der Objektinszenierung entwickelte. In Kassel haben sich einzelne seltene materielle Zeugnisse erhalten, die belegen, dass man lange vor dem Entstehen der heute üblichen Form öffentlicher Zugänglichkeit den musealen Raum als einen Ort des didaktischen Ausstellens begriff. Hierunter fällt die in Form eines Hybrids aus Sammlungsmöbel und Objektanordnung gestaltete Darstellung des Richelsdorfer Gebirgsprofils, die ehemals im Museum Fridericianum ausgestellt war, aber auch das heute in der Gemäldegalerie zu sehende, in den 1720er Jahren entstandene Menageriebild von Johann Melchior Roos. Dieses Gemälde diente zunächst im Ottoneum und später im Museum Fridericianum als Hintergrund für die Präsentation verschiedener Präparate von Tieren aus der landgräflichen Menagerie. Als Teil einer Art Protodiorama verweist es darauf, wie eng die hier geschilderten Präsentationsformen mit jener Ausstellungskultur verwandt waren, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die Naturkundemuseen erreichte und die Präsentation von Präparaten in aufwendigen Dioramen einschloss.34 Wie umkämpft der museale Raum und seine Nutzung auf dem Weg zu seiner heutigen Verfassung sein konnten, zeigt ein Seitenblick auf die naturgeschichtlichen Museen des 19.  Jahrhunderts. Die Favorisierung einer an Linné orientierten Präsentation erreichte einen ihrer Höhepunkte bei der Einrichtung des Zoologischen Museums der 1810 gegründeten Berliner Universität. Die Objektanordnungen in den Ausstellungsräumen des Prinz-­ Heinrich-Palais folgten strikt der Systematik. Für den ersten Direktor des Museums, Hinrich Lichtenstein, war das Ideal eine »lesbare« Sammlung, deren Inszenierung dezidiert auf ein Fachpublikum ausgelegt war. Die Öffnung für eine breite Besucherschaft erschien ihm dagegen als ein notwendiges Übel. Um die wissenschaftliche Arbeit im Museum nicht zu gefährden, Jahren, wie Eilenburg in seiner Einleitung hervorhebt, Specialpublikationen für einzelne Bestände. Hierzu zählen  : Sendel, Nathanael  : Historia Succinorum (…), Leipzig 1742  ; Ludwig, Christian Gottlieb  : Terrae Musei Regii Dresdensis (…), Leipzig 1749. Vgl. Eilenburg  : Entwurf, S. 2. 34 Vgl. hierzu  : Follmann, Gerhard/Kuster-Wendeburg, Elisabeth  : Pflanze und Tier im Fürstlichen Kunsthaus zu Kassel  – Ein geologisches Profil für das Museum Fridericianum, in  : Staatliche Kunstsammlungen Kassel (Hg.)  : Aufklärung und Klassizismus in Hessen-Kassel unter Landgraf Friedrich II. 1760–1785, Ausstellungskatalog, Kassel 1979, S. 131–136  ; Lehmann, Evelyn  : Das große Kasseler Tierbild. Das barocke »Thierstück« von Johann Melchior Roos, die Kasseler Menagerien und einiges mehr über Mensch und Tier, Petersberg 2009, S. 39 f. Zu den didaktischen Präsentationsformen im Museum Fridericianum vgl. auch  : Linnebach  : Museum, S. 33 ff.

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richtete er getrennte Öffnungszeiten für verschiedene Besuchergruppen ein und beschränkte den Einlass für das große Publikum auf vier Stunden pro Woche. Lichtenstein verfolgte damit ein Konzept, das dem heutigen Museumsverständnis gänzlich zuwiderläuft. Erst gegen Ende des Jahrhunderts schlug das Pendel zur anderen Seite aus  : Bei der Neueinrichtung des Naturkundemuseums in der Invalidenstraße entstand in Berlin schließlich jene Trennung von Schausammlung und Depot, die für den heutigen Museumsbesucher so selbstverständlich ist.35

Räume des Wissens – Räume des Nicht-Wissens

Eilenburgs Kurzer Entwurf fällt in die Frühzeit des Dissoziationsprozesses von Schau- und Forschungsraum. Es ist gerade das immer wieder aufscheinende Changieren zwischen beiden Polen, das diesen Text so interessant macht. Gleichzeitig lässt sich hier jedoch auch erahnen, welche weitreichenden Konsequenzen dieser Prozess für den Umgang mit Wissen im musealen Raum haben sollte. Dies wird insbesondere im Zusammenhang mit einer für die Museumsgeschichte wohl singulären Einrichtung des Palais des Sciences deutlich. Inmitten der Petrefactengalerie hatte man eine Abteilung angelegt, zu der Eilenburg schreibt, sie fasset diejenigen Körper in sich, welche uns annoch in Zweifel lassen, ob sie wirklich in Stein verwandelt worden, ober ob sie nur so aussehen  : wie auch solche Petrefacten, worüber wir noch nicht einig werden können, ob sie aus dem vegetabilischen oder animalischen Reich herstammen.36

Willkommen sei es, so Eilenburg, »wenn Leute von guter Einsicht sich hierbey verweilen, und diese unbekannten Gäste, durch hinlängliche Ü ­ berzeugung, 35 Vgl. Kretschmann, Carsten  : Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19.  Jahrhunderts, Berlin 2006, S.  34, S.  188 f. Zu den Präsentationsformen des Zoologischen Museums vgl. Lichtenstein, Hinrich  : Das Zoologische Museum der Universität zu Berlin, Berlin 1816. Zur Geschichte dieses Museums vgl. Damaschun, Ferdinand u. a (Hg.)  : Klasse, Ordnung Art, 200 Jahre Museum für Naturkunde Berlin, Ausstellungskatalog, Rangsdorf 2010. Zur Frage der Sammlungstrennung vgl. auch  : Köstering, Susanne  : Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871–1914, Köln u. a. 2003. 36 Eilenburg  : Entwurf, S. 23.

Die Logik des Schauraums 

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an ihre gehörige Stelle verweisen helfen«.37 Es handelte sich hierbei um eine Dresdener Tradition. Bis 1746 hatte in einem der kleineren Säle auf der Stadtseite des Zwingers ein ähnlicher Raum bestanden, der mit dem schönen Begriff Cabinet d’Ignorance bezeichnet wurde. Hier war all das ausgestellt, was, so die Beschreibung des Reiseschriftstellers Johann George Keyßlers, »man eigentlich noch nicht recht kennet oder zu nennen und in seine Classes zu bringen weiß«.38 Dass in dieser Abteilung, wie Keyßler bemerkt, ein großer Teil der Objekte mit den Petrefacten assoziiert war, gibt einen Hinweis darauf, wie prekär das Wissen um Fossilien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angesichts der veränderten Paradigmen verfasst war. In Hinblick auf die Museologie ergibt sich jedoch eine andere Pointe  : Mit dem Cabinet d’Ignorance und seinem Nachfolger besaß das Dresdener Palais des Sciences eine Einrichtung, die den Besuchern den Prozess der Systematisierung nicht nur vor Augen führte, sondern sie selbst an der fortwährenden Neubestimmung und Neuordnung der Bestände teilhaben ließ. In den Kunstkammern hatten sich stets auch Objekte befunden, die, etwa als trompe l’œils, die Wahrnehmung des Betrachters herausforderten.39 Das Cabinet d’Ignorance überführte diese spielerische Form der Irritation in eine Aufforderung an den Besucher, die museale Ordnung in Einklang mit dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs zu bringen. Gleichzeitig war die hier zelebrierte Deutungsoffenheit auf einen einzigen Raum beschränkt und so sauber abgegrenzt von den restlichen, der Schau gewidmeten Räumen des Museums. Dies bedeutete auch, dass der museale Schauraum ex negativo zu einem Ort festgelegter, unangezweifelter Narrationen definiert wurde. Nur vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass am Ende der Petrefactengalerie einige Exemplare der sogenannten Würzburger Lügensteine präsentiert wurden. Es handelte sich hierbei um künstliche Nachahmungen von Versteinerungen. Sie waren 1726 durch die Lithographiae Wirceburgensis des Mediziners Johann Bartholomäus Adam Beringer bekannt geworden, der diese ihm von Betrügern untergeschobenen Fälschungen als tatsächliche Versteinerungen beschrieben hatte.40 37 Ebd. 38 Keyßler, Johann George  : Fortsetzung Neuester Reisen, durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweitz, Italien und Lothringen, Hannover 1741, S. 1067. 39 Vgl. hierzu etwa  : Felfe, Robert  : Marmorfrüchte (Katalogeintrag), in  : Hedinger, Bärbel (Hg.)  : Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst, Ausstellungskatalog, München 2010, S. 80. 40 Zu Beringers Lügensteinen vgl. Reulecke, Anne-Kathrin  : Fälschung am Ursprung. Johann Be-

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Abb. 3  : Einer der Würzburger Lügensteine (»Eidechse frisst Fliege«), Universitätsbibliothek Würzburg (63/L 17.2).

Mit der Präsentation der Lügensteine hatte man effektvoll einen populären Wissenschaftsskandal der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts in den Ausstellungsparcours einbezogen. Zu diesen Exponaten schrieb Eilenburg  : Ich zweifle nicht, daß ein jedweder, der unsere Petrefactengalerie mit Aufmerksamkeit durchgehet, bey dem Ende derselben, gar bald gewahr werden dürfte, daß diejenigen Stücken, welche hieselbst den Schluß machen, mit den bisher beschriebenen, versteinerten Körpern wenig oder gar keine Gleichheit haben.41

ringers Lithographiae Wirceburgensis (1726) und die Erforschung der natürlichen Welt, in  : Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung  4.7 (2003), S.  39–44  ; Doll, Martin  : Fälschungen und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens, Berlin 2012, S. 77 ff. Zu den Dresdener Exemplaren vgl. Fischer  : Mineralogie, S. 268 f. 41 Eilenburg  : Entwurf, S. 27.

Die Logik des Schauraums 

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An diesem Punkt entschied sich, ob die Petrefactengalerie als Zeigemaschine effektiv arbeitete. Hatte das museologische Instrumentarium seinen Zweck erfüllt und den Besucher in seinem Sehen und Urteilen richtig geschult  ? Selbstbewusst inszenierte Eilenburg Beringers Lügensteine als Lackmustest seiner kuratorischen Arbeit und ihrer Überzeugungskraft. Eilenburgs didaktische Arrangements sollten eine kurze Episode in der Dresdener Museumsgeschichte bleiben. Mit seinem Nachfolger Carl Heinrich Titius kam das Ende der Petrefactengalerie und ihrer ausgeklügelten Objektkonstellationen. Bei der Neugestaltung der Ausstellungsräume setzte man nun vor allem in der Mineralogie auf eine Präsentation, die sich in ähnlicher Weise der Taxonomie verschrieb, wie es bis in das späte 19. Jahrhundert für die Ausstellungsräume der naturkundlichen Museen prägend war.42 Gerade aber weil Eilenburgs Kurzer Entwurf der Frühphase des öffentlichen Ausstellungsraumes entstammt, gibt die Lektüre dieses Textes Aufschluss darüber, wie jene Konventionen der Präsentation entstanden, die einem heutigen Museumsbesucher so selbstverständlich erscheinen. Die Logik eines auf ein Laienpublikum ausgerichteten musealen Schauraums brachte im 18. Jahrhundert nicht nur eine didaktisierende Kontextualisierung der Objekte hervor. Sie bildete auch die Grundlage dafür, dass das Museum zu jenem Ort der Vermittlung beglaubigten Wissens wurde, als das es uns heute noch gilt. Anhand des Dresdener Beispiels lässt sich nachvollziehen, wie in dem sich auf eine neue Besucherschaft ausrichtenden Museumsraum unterschiedliche Herangehensweisen an die Objekte aufeinanderzuprallen begannen und wie im Zuge dieses Prozesses Zweifel, Täuschung und wahrnehmungstechnische Unsicherheit, die einst Bestandteil einer bisweilen spielerischen Auseinandersetzung mit den Exponaten gewesen waren, sukzessive aus den Museumsräumen verschwanden.

42 Vgl. Pötzsch, Christian Gottlieb  : Kurze Beschreibung des Naturalienkabinets in Dresden, Dresden 1805. Zu der mineralogischen Sammlung unter Eilenburgs Nachfolgern vgl. Fischer  : Mineralogie, S. 139 ff.

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Merians ästhetische Wege zur Naturgeschichte Die Konjunktur ästhetischer Arbeitsweisen und Erkenntniszugänge in der zeitgenössischen Naturforschung täuscht allzu leicht darüber hinweg, wie jene stets den Anforderungen einer naturwissenschaftlichen Rationalität unterstellt bleiben, statt dieser gleichberechtigt zur Seite gestellt zu werden. Die Wissenschaftskritik der vergangenen Jahrzehnte hat daran wenig geändert. Hoheit über die Naturerkenntnis befindet sich weiterhin in fester Hand der Naturwissenschaften und ihren Objektivitätsansprüchen.1 Zu stark, so scheint es, erweist sich das Unbehagen gegenüber einer vermeintlich subjektiven Willkür ästhetischer Erfahrung. Die Rezeption des Werkes der Insektenforscherin Maria Sibylla Merian (1647–1717) verdeutlicht solch Subordination.2 Zwar wird heute Merian niemand mehr als »essentially a connoisseur rather than an investigator of metamorphosis« bezeichnen und ihr Werk als »an enormous development of one aspect of mediaeval illumination” klassifizieren3  – eine freilich auch vor 40  Jahren schon anachronistische Behauptung.4 Vernachlässigt bleiben die ästhetischen Momente in Merians Forschung dennoch wei1 Daston, Lorraine/Galison, Peter  : Objectivity, New York NY/Cambridge, MA 2007. 2 Ausnahmen sind Förschler, Silke  : Die Ästhetik der Metamorphose in naturhistorischen Tierdarstellung der Frühen Neuzeit, in  : Tierstudien 2013/04 (2013), S. 63–75  ; Freedberg, David  : Science, Commerce and Art. Neglected Topics at the Junction of History and Art History, in  : Freedberg, David/De Vries, Jan (Hg.)  : Art in History, History in Art  : Studies in Seventeenth-Century Dutch Culture (Issues & Debates 1), Santa Monica CA/[Chicago, IL] 1991, S. 377–428  ; Schmidt-Linsenhoff, Viktoria  : Metamorphosen des Blicks. »Merian« als Diskursfigur des Feminismus, in  : Wettengl, Kurt (Hg.)  : Maria Sibylla Merian. Künstlerin und Naturforscherin (1647–1717) [Zur Ausstellung »Maria Sibylla Merian (1647–1717), Künstlerin und Naturforscherin zwischen Frankfurt und Surinam« des Historischen Museums Frankfurt a. M. vom 18. Dezember–1. März 1998], Ostfildern 1997, S. 202–219. 3 Hutchinson, G.  Evelyn  : The Influence of the New World on the Study of Natural History, in  : Goulden, Clyde  E. (Hg.)  : Changing Scenes in Natural Sciences, 1776–1976, Philadelphia PA 1977, S. 13–34, hier S. 22. 4 Neri, Janice  : The Insect and the Image. Visualizing Nature in Early Modern Europe, 1500–1700, Minneapolis MN 2011.

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testgehend. Stattdessen hebt die Debatte zur naturgeschichtlichen Seite von Merians Werk die technischen Fähigkeiten in der visuellen Vermittlung ihrer Erkenntnisobjekte hervor und betont einen vermeintlich ökologischen Blick Merians, der sich vor allem in ihrer Eigenart manifestiere, den Lebenszyklus eines Insekts auf dessen primärer Futterpflanze darzustellen.5 Gleichwohl damit eine kompositorische und damit natürlich immer auch ästhetisch-künstlerische Dimension angesprochen ist, verbleibt ihre Interpretation doch beharrlich auf der Ebene dessen, was dargestellt ist, ohne das ästhetische Wie der Darstellung genauer zu erörtern. Ästhetik bleibt der wissenschaftlichen Erkenntnis darin äußerlich und nachgeschoben. Die mit solchen Interpretationen einhergehende Stilisierung Merians zu einer Öko-Avantgardistin erweist sich allerdings als ebenso verkürzt wie unhistorisch. Weder war Merian besonders an der Erhaltung natürlicher Ressourcen interessiert noch sonderlich über deren Ausbeutung besorgt. Stattdessen kritisiert sie in ihrem Surinambuch (Metamorphosis Insectorum Surinamensium, 1705) vertane Gelegenheiten zur Nutzung und zum intensivierten Anbau der dargestellten Pflanzen. Die amerikanische Kirsche ließe »[sich wahrscheinlich] vollendeter kultivieren, wenn das Land von einem arbeitsameren und weniger eigennützigen Volk bewohnt würde«6. Feigen »wären reichlicher in Surinam, wenn die Leute sie nur anbauen wollten«7. Es sei bedauernswert, »daß es keine interessierten Menschen in diesem Lande gibt, die so etwas kultivieren und noch nach anderem suchen, was ohne Zweifel in dem großen und fruchtbaren Land zu finden ist«8. Diese Passagen wurden weithin als Kritik

5 Davis, Natalie Z.: Maria Sibylla Merian  : Metamorphoses, in  : Women on the Margins. Three Seventeenth-­Century Lives, Cambridge MA 1995, S. 140–202, hier S. 151  ; Etheridge, Kay  : Maria Sibylla Merian. The First Ecologist  ?, in  : Andréolle Spalding, Donna/Molinari, Véronique (Hg.)  : Women and Science. Figures and Representation – 17th Century to Present, Newcastle upon Tyne 2011, S.  35–54  ; Schiebinger, Londa  L.: Lost Knowledge, Bodies of Ignorance, and the Poverty of Taxonomy as Illustrated by the Curious Fate of Flos Pavonis, an Abortifacient, in  : Jones, Caroline A. u. a. (Hg.)  : Picturing Science Producing Art, London/New York NY 1998, S. 125–144  ; in Teilen auch Hochstrasser, Julie Berger  : The Butterfly Effect  : Embodied Cognition and Perceptual Knowledge in Maria Sibylla Merian’s Metamorphosis Insectorum Surinamensium, in  : Huigen, Siegfried u. a. (Hg.)  : The Dutch Trading Companies as Knowledge Networks (Intersections 14), Leiden/Boston MA 2010, S. 59–101. 6 Merian, Maria Sibylla  : Das Insektenbuch Metamorphosis Insectorum Surinamensium, Frankfurt a. M./Leipzig 41998, hier S. 22. 7 Ebd., S. 74. 8 Ebd., S. 58.

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an den Kolonialist*innen Surinams und dem kolonialen Projekt gelesen,9 Merian verschont die indigene Bevölkerung darin aber kaum mit Vorwürfen. In jedem Falle reflektieren die Passagen keine besondere Sorge über die Nutzung natürlicher Ressourcen, sondern stehen für eine Intensivierung der Kultivierung und Ausbeutung abseits eines ökologischen Bewusstseins. Bedenkt man, dass Merian die surinamesische Flora und Fauna so intensiv studierte, wie sie mit ihr handelte, und dass die Kultivierung der Natur im Europa der Frühen Neuzeit für die Vervollkommnung der göttlichen Schöpfung stand,10 ist diese Perspektive kaum mehr verwunderlich. Die Rezeption von Merians Blick als ökologischem erweist sich vielmehr als brüchig und selektiv. Sie reduziert Merians Werk zu einer Illustration zeitgenössischer Ökologie-Diskurse, in der ihr ästhetisches Vermögen und die Faszination, die ihrem Werk entgegengebracht wird, zu nicht mehr dienen, als ökologischen Argumenten Attraktivität zu verleihen.11 Darin steckt jedoch ein Widerspruch. Seine Wirkung entfaltet Merians Werk einerseits gerade aufgrund seiner ästhetischen Qualitäten, gleichzeitig soll das Ästhetische sich mit einer peripheren Position bescheiden. Dementgegen verweist gerade der Bann, in den Merians Bilder ihre Betrachter*innen ziehen, auf eine Notwendigkeit in der Sache, dem der künstlerisch-ästhetische Zugang Merians zu ihren Erkenntnisobjekten folgt. Mehr denn eine ökologische setzt eine ästhetische Sensibilität sich konsequent in Merians Blick durch. Jenen Zusammenhang gilt es im Folgenden zu entfalten. Praktische Kontur gewinnt das ästhetisch-künstlerische Erkenntnismodell Merians dabei in der Analyse. Ihr Werk erhält damit sowohl in der gegenwärtigen Hinwendung zu naturgeschichtlichen Verfahrensweisen, für die etwa der vorliegende Band steht, wie auch der Wiederentdeckung der Geschichtlichkeit von Natur ästhetisches Gewicht.

  9 Davis  : Metamorphoses  ; Schiebinger, Londa L.: The Mind Has No Sex  ? Women in the Origins of Modern Science, Cambridge MA 1989  ; Todd, Kim  : Chrysalis. Maria Sibylla Merian and the Secrets of Metamorphosis, Orlando FL 2007. 10 Kinukawa, Tomomi  : Art Competes with Nature. Maria Sibylla Merian (1647–1717) and the Culture of Natural History (PhD Thesis, University of Wisconsin-Madison, 2001)  ; Neri  : Insect and Image, hier S. 139–180  ; Mariss, Anne  : »A World of New Things«. Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt a. M./New York NY 2015, hier S. 84 f. 11 Zur Vernachlässigung von Merians Ästhetik vgl. Schmidt-Linsenhoff  : Metamorphosen des Blicks.

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Erkundungen im Dunkel der Metamorphose

Die Beobachtung von Insekten war Merians künstlerischer Arbeit untrennbar eingeschrieben. Ihr Stiefvater Jacob Marrel (1614–1681), in dessen Werkstatt sie lernte, war ein Schüler Jan Davidszoon de Heems (1606–1683/4), der für leuchtende Farben und exakte Reproduktionen von Naturalien bekannt ist, sowie von Georg Flegel (1566–1638), der bei Dürer gelernt und sich u. a. mit Blumen- und Vogelstillleben sowie Naturstudien in dessen Tradition einen Namen gemacht hatte. Marrels Schüler Abraham Mignon (1640–1679) spezialisierte sich auf Blumenbilder, die er oft mit Insekten verzierte.12 Im Vorwort zum ersten Teil ihres Bandes Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumen=nahrung (Raupenbuch, 1679) erklärt Merian, wie diese künstlerische Beschäftigung früh zu einem naturgeschichtlichen Interesse führte  : Dieweil ich meine Blumenmahlerey mit Raupen/ Sommervögelein/ und dergleichen Thierlein auszuzieren/mich jederzeit befliessen […]  : Also hab ich oft grosse Mühe in Auffangung derjenigen angewandt/ bis ich endlich/ vermittelst der Seidenwürmer/ auf der Raupen Veränderung gekommen/ und denselben nachgedacht/ ob nicht dort auch eben dergleichen Verwandelung vorgehen möchte  ? Da ich dann nach/ nach fleissiger und langwieriger Untersuchung/ endlich so viel befunden/ daß diese Manier und Veränderungsart fast einerley sey … und wunderliche Veränderungen erfahren.13

Diese Untersuchungen betrieb sie mit einem Aufwand, der die Anforderungen an den künstlerischen Einsatz von Insekten als kompositorische Dekoration weit überstieg. Es habe sie […] große Mühe und Zeit gekostet/ solche Thierlein zu suchen/ ihnen ihre Speise viele Täge/ auch Monaten zu reichen  ; denn wofern sie ihre gewöhnliche Nahrung nicht bekommen/ so sterben sie entweder/ oder spinnen sich ein. Derer nun hab ich etliche alsobald/ manche späther/ als schon halb verändert/ andere oft gantz und gar/ von haut und Haar verändert/ abzeichnen  ; und so bald sie sich eingesponnen/ 12 Solbrig, Ingeborg H.: »Patiencya ist ein gut kreutlein«  : Maria Sibylla Merian (1647–1717)  : Naturforscherin, Malerin, Amerikareisende, in  : Becker-Cantarino, Barbara (Hg.)  : Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte (Modern German Studies 7), Bonn 1980, S. 58–85, hier S. 71. 13 Siehe das Vorwort in  : Merian, Maria Sibylla  : Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumen=nahrung Erster Theil, Nürnberg 1679.

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oder gantz in einen Dattelkern so hangend als ligend verändert/ wieder abmahlen/ und dann erst/ was zuletzt daraus werden möchte/ gewärtig seyn müssen  : So sich nun etwas sonders ereignet/ hab ich mich die Mühe um so viel desto weniger verdrüssen lassen/ dasjenige abermal/ mit höchster Sorgfalt/ nach dem Leben abzubilden  ; und wofern sich falsche Veränderungen darbey ereignet/ dieselbe fleissig wieder abzuzeichnen  : Und mir ferner fürgenommen/ bey jeglicher Gattung/ mit wolgeleister Hülfe meines Eheliebsten/ dero nach dem Leben abgemahlte Speisen hinzu zu fügen.14

Merians Studienbuch, das ihr als ein Forschungsjournal diente, in dem sie ihre Beobachtungen notierte und sammelte, gewährt Einblicke in jene Forschungstätigkeit. Merian legte Wert darauf, ihre Studienobjekte selbst in Gärten, Feldern, Wiesen und Hecken zu sammeln.15 Für Exemplare, die ihr zugesandt wurden, hatte sie keinerlei Verwendung. Dem englischen Apotheker James Petiver (1663–1718) erklärte sie mit Verweis auf ihr Surinambuch, dass sie »die generatiy und fortpflanzung und veränderung der gethierte, wie eines auß dem anderen fort kombt, und was die eigenschafft ihrer Speise ist«16 suche. Merian ging sogar so weit, Petiver eine Schachtel mit Schmetterlingen aus Surinam abzutreten, da die Person, von der sie die Tiere erhalten hatte, ihr »keinen Bericht geben [konnte], von ihrer generaty, so das ich sie auch nicht gebrauchen kann, zu meiner intentiy«.17 In dem Versuch, die Genese und Metamorphose von Insekten zu entschlüsseln und zu verifizieren, war das genaue Beobachten der Verwandlung die entscheidende Voraussetzung  ; nur so konnten verschiedene individuelle Manifestationen einer Spezies als Transformation einer Spezies vom Ei über das Schlüpfen der Raupe und die Verpuppungsvorgänge bis hin zu ihrer jeweiligen ausgewachsenen, beflügelten Form nachvollzogen werden. Um diese Beobachtungen zuverlässig zu ermöglichen, zog Merian die von ihr gesammelten Exemplare in Schachteln auf und züchtete sie. Durch aufmerksames Beobachten und Ausprobieren musste sie die Pflanzen bestimmen, von denen die jeweiligen Spezies leben. Dies gelang ihr nicht immer, dauerte oft Jahre und war von unzähligen Misserfolgen begleitet. »Folgende gebigene 14 Ebd. 15 Merian, Maria Sibylla  : Faksimile und Transliteration des Leningrader Studienbuchs, in  : Beer, Wolf Dietrich (Hg.)  : Maria Sibylla Merian. Schmetterlinge, Käfer und andere Insekten, Leningrader Studienbuch, Berlin 2011, S. 137–403, hier S. 153, 155, 163, 173, 213, 227. 16 Brief vom 27. April 1705, in  : Merian, Maria Sibylla  : Briefe, in  : Wettengl (Hg.)  : Maria Sibylla Merian, hier S. 268. 17 Ebd.

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braune Raupe, habe ich, den dritten May, unter einem Birckenbaum gefunden, da ich ihr aber von solchen Blättern zu essen gab, hat sie nichts zu sich genommen  ; also daß ich die Speise, so sie gewiß zu sich zu nehmen pflegt, nicht weiß.«18 Waren die Raupen geschlüpft, musste Merian Umweltbedingungen wie Luftfeuchtigkeit und Umgebungstemperatur angemessen einrichten und sicherstellen, dass sich keine Parasiten in den Schachteln einnisten. Bei der Seidenraupe müsse man achtung geben, daß man sie nicht verderbe, mit starken anrühren oder dergleichen  ; Man muß ihnen auch keine Nasse Blätter geben, oder sonst faules, sonst verderben sie, werden krank, und sterben. […] Wenn ein Gewitter kommen will, und es blitzet, so muß man sie zudecken, sonst bekommen sie die Gelbsucht oder Wassersucht. Sie sterben auch, wenn man Ihnen gar zu viel zu essen giebt.19

In einem Fall etwa berichtet sie, »[dass], alß ich einsmal das außbutzen [einer Schachtel] Vergaß, nahme ich weisse Maden oder Würmer, unter [der Raupen] ihrem Unrath auf dem Boden, in acht«.20 Schlüpfte dabei eine Fliege statt eines Falters aus einer Puppe, konnte sie nicht immer sicher sein, ob es sich hier nicht doch um das adulte Stadium der ursprünglichen Raupe handelte. Die Vehemenz, mit der Merian in solch einem Fall darüber klagt, dass ihr Bemühen »an Statt der Natürlichen Veränderungen, mir nur lauter Acci­dental, falsche, oder Unnütze Veränderungen, gezeigt, Und gelehret hat«21, verweist auf den naturgeschichtlich-wissenschaftlichen Kontext ihrer Bemühungen, der allein die unerwarteten Veränderungen als Unfall oder fehlerhaft auszuweisen vermag.22 Trotz all dieser Unwägbarkeiten gelang es Merian dennoch, 18 Merian  : Studienbuch, hier S. 159. 19 Ebd., S. 141. 20 Ebd., S. 153. 21 Ebd., S. 241. 22 Es wurde darauf hingewiesen, dass das Interesse Merians an der Metamorphose vor allem religiösen Motivationen folgte. Bsp.: Wettengl, Kurt  : Maria Sibylla Merian. Künstlerin und Naturforscherin zwischen Frankfurt und Surinam, in  : Wettengl (Hg.)  : Maria Sibylla Merian, S. 12–36, hier S. 23 f.; Trepp, Anne-Charlott  : Von der Glückseligkeit alles zu Wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M./New York NY 2010. Diese Perspektive steht freilich nicht im Widerspruch zu einer naturgeschichtlichen Qualität von Merians Arbeiten. Aufwand und spezifisches Vorgehen, mit denen Merian ihre Untersuchungen betrieb, stehen jedoch zu einer primär religiösen Verfasstheit des Themas so wenig in einem Verhältnis wie zu einer künstlerisch dominierten Beschäftigung mit ihm, sondern tragen Zeichen, die auf eine erkenntnisfokussierte Auseinandersetzung hindeuten.

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Abb. 1  : Maria Sibylla Merian, Tafel 36 und 37, Studienbuch, Wasserfarbe auf Pergament, Ende 17. Jahrhundert.

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die Lebenszyklen und Metamorphosestadien Hunderter von Spezies korrekt zu ermitteln – ein Umstand, der Zeugnis ihrer Qualitäten als Naturforscherin ablegt.23 Parallel zu diesen empirischen Untersuchungen und Experimenten doku­ mentierte Merian ihre Beobachtungen sowohl schriftlich als auch durch Zeichnungen. Dies tat sie mit solch einer Sorgfalt, dass eine Raupe, die sie am Abend erhalten hatte, sich aber einzuspinnen begann, noch »deß Nachts« abmalte.24 Diese Abbildungen erstellte Merian mit Wasserfarbe auf Pergament und sammelte sie in ihrem Studienbuch. Sie repräsentieren die verschiedenen Entwicklungsstadien der Insekten mit distinguierter künstlerischer Ausdruckskraft und einer sicheren Hand für die Details ihrer Studienobjekte. Oft fügte Merian den Blättern dabei auch Abbildungen der Eier und Exkremente bei. Die Anordnung der einzelnen Elemente folgt dabei keinem einheitlichen Schema, sondern geschah mal horizontal, mal vertikal, und bisweilen auch ohne jede erkennbare Ordnung (Abb. 1). Um die Studien zu erstellen, griff sie sowohl auf konservierte als auch auf lebende Exemplare zurück.25 Dem Botaniker Johann Christoph Volckamer (1644–1720) berichtet sie über die Arbeit an ihrem Surinambuch  : »[a]lles das ich nicht vonnöten hate Zumahlen, habe ich mit gebragt, als die Sommervögelein und kefter und alles was ich in brandenwein kont legen auch alles das ich konnte drucknen, das mahle ich nun darbey.«26 Merian erweist sich in der Tat kenntnisreich auch in der Konservierung von Insekten, um ihre spätere Nutzung als Modelle zu gewährleisten. Um etwa einen Schmetterling zu präparieren, erklärt sie einer ihrer früheren Schülerinnen, »häldt man die spitze der spännadel in ein licht und macht es so heiß oder glühendt, und steckt es in das SommerVögelein, dan seindt sie alsobalde thot, und bleiben dan die fligel uhnbeschädiget«27. Hilfreich für das Studium dieser Präparate erwiesen sich optische Hilfsmittel. Sie ermöglichten es Merian, Spezies besser voneinander unterscheiden zu können. Die große Gruppe grüner Raupen z. B. könne unterschieden werden, indem man sie »entweder mit dem Microscopio« oder »ei-

23 Friese, Gerrit  : Zur Bestimmung der dargestellten Insekten und zur Abfassung der Legenden, in  : Beer (Hg.)  : Leningrader Studienbuch, S. 407–410. 24 Merian  : Studienbuch, hier S. 157. 25 Reitsma, Ella  : Maria Sibylla Merian & Daughters. Women of Art and Science, Amsterdam u. a. 2008, hier S. 186. 26 Brief vom 8. Oktober 1702, in  : Merian  : Briefe, hier S. 264. 27 Brief an Scheurling vom 29. August 1697, in  : ebd.

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nem so genanten VergrößEGlas … untersucht«28. Gleichzeitig erlaubte es ihr aber auch, ihre Erkenntnisobjekte möglichst anschaulich, plastisch und exakt darzustellen.29 »Durch das Vergrößerungsglas betrachtet, sieht der Staub auf den Flügeln« des Schwärmers aus dem Surinambuch »aus wie braune, weiße und schwarze Federn von bunten Hühnern. Der Körper ist behaart wie der eines Bären. Sogar auf den Augen sind Haare. Der Rüssel sieht aus wie der Hals einer Gans oder einer Ente«30. Neben diesen Beschreibungen der Textur der Insekten erweitern Merians Texte im Studienbuch die visuellen Reproduktionen mit Informationen über die Pflanzen, auf denen Merian die Raupen und Falter gefunden hatte oder auf welchen Wegen sie an sie geraten war. Berichte über die Nahrung, mit der sie die Insekten zu versorgen versuchte und ob sie Erfolg damit hatte, vom Aussehen und Verhalten der Tiere sowie vom Ablauf und der Dauer ihrer Veränderung vervollständigen die Erläuterungen. Das Studienbuch zeigt dabei, wie systematisch und zielgerichtet Merian in ihren Naturstudien vorging.31 Nur 44 der 555 Studien wurden nicht in einer ihrer Publikationen veröffentlicht. Der Umfang des Studienbuchs, das Merian über 50  Jahre akribisch führte, macht die Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und Stetigkeit in Merians Versuch deutlich, die Geheimnisse der Metamorphose zu erhellen.32 Das Vorwort des ersten Teils ihres Raupenbuchs, das den Studien eine ausführliche allgemeine Darstellung und Einführung zur Entwicklung und Veränderung von Faltern voranstellt, unterstreicht dessen naturgeschichtlichen und wissenschaftlichen Charakter.33 Sowohl das empirisch-experimentelle als auch das ästhetische Vorgehen Merians in ihren Studien sowie die übersichtliche Art und Weise, mit der sie ihre Untersuchungen dokumentierte und sammelte, stehen für ein analytisch verfolgtes Erkenntnisinteresse, das sie ihren Studienobjekten entgegenbrachte. Merians Untersuchung der Schmetterlinge war nicht ein nebensächlicher Zeitvertreib, sondern ein naturgeschichtliches Unterfangen, das Wissen und Erkenntnisse produzieren und die Prozesse der Metamorphose enthüllen sollte.

28 Merian  : Raupenbuch Erster Teil, hier S. 33. Dort weist sie außerdem auf die Möglichkeit »der Raupen Einsetzung/ Pfleg- und Unterhaltung« als Unterscheidungskriterium hin. 29 Vgl. Reitsma  : Merian & Daughters, hier S. 108. 30 Merian  : Das Insektenbuch, hier S. 14. 31 Wettengl  : Zwischen Frankfurt und Surinam, hier S. 20–22. 32 Reitsma  : Merian & Daughters, hier S. 90. 33 Siehe das Vorwort in  : Merian  : Raupenbuch Erster Teil.

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André Krebber

Zur ästhetischen Konstruktion von Natur

Aufgrund ihrer schlichten Erscheinung und nicht durchkomponierten Darstellung, die sie deutlich von Merians publizierten Arbeiten unterscheiden, werden die Abbildungen in Merians Studienbuch oft herangezogen, wenn der wissenschaftliche Charakter ihres Werks betont wird.34 Dabei stimmt es zwar, dass sie isolierte Perspektiven auf die Studienobjekte darstellen und damit systematischer erscheinen als die entomologischen Veröffentlichungen. Allerdings gehen die Darstellungen in ihrer künstlerischen Bearbeitung weit über eine streng wissenschaftlich-objektive Darstellungsweise, wie sie etwa der Naturforscher Jan Swammerdam (1637–1680) pflegte, hinaus (Abb. 2). Weder verzichtete Merian wie jener auf eine aufwendige Kolorierung, noch bildete sie ihre Objekte in identischer Pose ab. Vielmehr wechselte sie in der Darstellung entsprechend der Anforderung der möglichst deutlichen Abbildung eines jeden Insekts. Das darin aufscheinende Eingehen auf das Erkenntnisobjekt steht andeutungsweise für ein mimetisches Verhalten, das Theodor Adorno folgend eine in der Sphäre des Sinnlichen, Emotionalen und Imaginativen, des Irrationalen und Unbewussten gründende Bemühung zur Anverwandlung an Objekte darstellt.35 Ohne damit auf die morphologische Imitation oder gar Verdopplung des Objekts im Bild hinauszulaufen, steht Mimesis in Adornos Erkenntnismodel für das Ernstnehmen sensorischer und emotionaler Erfahrungen im Verhältnis zu einem Objekt, in denen sich das erkennende Subjekt jenseits des konzeptuell Fassbaren in ein Objekt versenkt anstatt es subjektiven Zwecken zu unterwerfen.36 »Mimesis ist der Grenzbegriff des Rationalen des Begrifflichen selbst, dessen materialistischer Widerpart […]«37 und als solche begrifflich nicht fixierbar  ; sie manifestiert sich nur in der konkreten Erfahrung. Dabei ist Mimesis nicht mit Erkenntnis selbst zu verwechseln, sondern bedarf eben der Objektivation durch die künstlerische 34 Etwa in Ludwig, Heidrun  : Das »Raupenbuch«. Eine Populäre Naturgeschichte in  : Wettengl (Hg.)  : Maria Sibylla Merian, S. 52–67  ; Reitsma  : Merian & Daughters, hier insbesondere S. 85– 90  ; Wettengl  : Zwischen Frankfurt und Surinam. 35 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt a. M. 1973, hier S. 169. 36 Nho, Myung-Woo  : Die Schönberg-Deutung Adornos und die Dialektik der Aufklärung. Musik in und jenseits der Dialektik der Aufklärung, Marburg 2001, hier S. 75 f.; Schmid Noerr, Gunzelin  : Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses, Darmstadt 1990, hier S. 147–151. 37 Schmid Noerr  : Das Eingedenken der Natur, hier S. 147.

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Abb. 2  : Jan Swammerdam, Tafel XIII, Historia Generalis Insectorum, Utrecht 1669.

und ästhetische Konstruktion, um ihren Erkenntnisgehalt zu realisieren. Obgleich Merians Studien dem Figurativen verhaftet bleiben, erhalten sie so eine Qualität von Lebendigkeit, die die Insekten oft in ihren Bewegungen eingefroren erscheinen lassen, anstatt sie visuell zu sezieren und zur Klassifikation aufzureihen. Der Falter des Deilephila elpenor aus ihrem Studienbuch wirkt auf Merians Blatt etwa, als befinde er sich mitten in der Eiablage (Abb. 1). Durch Merians künstlerische Vermittlung erreichen ihre Abbildungen so eine größere Nähe zu den lebendigen Entitäten, die ihre Erkenntnisobjekte sind. Sie erweisen sich gerade dadurch als exakte, lebensnahe Darstellungen denn einem starren Muster folgende, standardisierte Illustrationen. Merians Arbeiten bauen auf ähnlich analytischen und naturgeschichtlichen Verfahrensweisen auf wie die ihrer Zeitgenossen. Gleichzeitig betrachtete und studierte Merian ihre Erkenntnisobjekte jedoch mit den Augen, Händen und Qualitäten einer Künstlerin. Weder verdrängte dabei diese Tätigkeit ihre Kunst noch setzte sie sie einfach fort. Vielmehr gingen künstlerische und wissenschaftliche Beobachtung und Untersuchung in Merians Art der Erkenntnisproduktion ein

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spannungsgeladenes Verhältnis ein. Die Blicke korrigieren, bedingen und informieren sich kontinuierlich gegenseitig, ohne dass einer dem anderen untergeordnet oder nachgeschoben wäre. Sowohl die Raupenbücher als auch das Surinambuch transzendieren diese Perspektive weiter. Anders als ihr Studienbuch enthalten jene durchkomponierte Blätter. Merian inszeniert darin die beobachteten Transformationen der dargestellten Schmetterlinge zusammen mit deren Futterpflanzen. Die Buchtitel Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumen=nahrung sowie Metamorphosis Insectorum Surinamensium verweisen hingegen auf die Untersuchung und Darstellung des Prozesses der Metamorphose als deren Gegenstand.38 Die Genese von Insekten war trotz der von Francesco Redi (1626–1697) bereits 1668 in einer Serie von Experimenten erbrachten Nachweise für die Entstehung von Insekten aus Eiern und der Wandlung von Raupen in Schmetterlinge und Falter durch eine Folge von Metamorphosen ein weiterhin umstrittenes Forschungsfeld. Die populäre Vorstellung, Insekten würden spontan aus Schlamm gezeugt, blieb weiterhin vorherrschend.39 Dementsprechend war es überzeugend und einleuchtend darzustellen, dass die verschiedenen Entwicklungsstadien eines Insekts tatsächlich zu ein und derselben Spezies gehören und sie Stationen eines gemeinsamen Prozesses sind. Merians Ikonographie reagiert in besonders eindrücklicher Weise auf eben diese Herausforderung.40 Die Tafeln in ihren Büchern gründen in den Kompositionstechniken und Gestaltungsmaßgaben der Blumen- und Stilllebenmalerei des 17.  Jahrhunderts,41 in denen Merian als Künstlerin ausgebildet wurde. Dieses Kompositionsprinzip, das noch in den drei Teilen ihres Blumenbuches vorherrscht, veränderte Merian zum »Metamorphosenbild«.42 Durch die Anordnung der Insekten auf dem Pergament, die Platzierung von Faltern in den oberen Blattecken sowie die unterschiedlichen Skalierung von Pflanzen und Insekten er38 Vgl. Ludwig  : Das »Raupenbuch«, hier S. 58 f. 39 Parke, Emily C.: Flies from Meat and Wasps from Trees. Reevaluating Francesco Redi’s Spontaneous Generation Experiments, in  : Studies in History and Philosophy of Biol & Biomed Sci 45 (2014), S. 34–42. 40 Vgl. Förschler  : Ästhetik der Metamorphose, hier S. 66–68. 41 Ludwig, Heidrun  : Von der Betrachtung zur Beobachtung. Die künstlerische Entwicklung der Blumen- und Insektenmalerin Maria Sibylla Merian in Nürnberg (1670–1682), in  : Paas, John Roger (Hg.)  : Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1995, S. 95–113, hier S. 99  ; Segal, Sam  : Maria Sibylla Merian Als Blumenmalerin, in  : Wettengl (Hg.)  : Maria Sibylla Merian, S. 68–87, hier S. 74. 42 Ludwig  : Betrachtung zur Beobachtung.

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halten letztere in Merians Kompositionen Gewicht gegenüber den dargestellten Pflanzen. Lebensgroß abgebildet, dominieren sie die Tafeln, während die Pflanzen in ihrer Größe der Präsentation der Raupen und Faltern angepasst werden. So wird die Aufmerksamkeit auf die Tiere gelenkt, während die Pflanzen zur visuellen Stütze in der Präsentation der Insekten werden. Durch Fraßspuren in Pflanzenblättern konstruiert Merian dabei visuell eine Beziehung zwischen den Insekten und Pflanzen (Abb. 3 und 4). Von ihren Blumenbildern übernimmt sie die Anordnung der Pflanzen und Insekten vor einem weißen Hintergrund. Dabei sind die Bildelemente mit möglichst geringer Überschneidung nebeneinander angeordnet, sodass sie ein Schema von negativen und positiven Bildräumen kreieren. Die dabei abgeteilten Flächen rahmen die Insekten. Diese visuelle Strategie schafft eine klar geordnete, übersichtliche Komposition, die Informationen besonders gut vermittelt.43 Merian strebt darin im Sinne künstlerischer Naturstudien des 17. Jahrhunderts und entsprechend ihrer Vorarbeiten im Studienbuch die detaillierte, lebensgetreue Darstellung der einzelnen Bildobjekte an. Die Schmetterlinge sind häufig sowohl im Profil als auch in Aufsicht präsentiert, was ihnen in Merians Kompositionen weiteres Gewicht verleiht, vor allem aber den naturgeschichtlichen Charakter der Tafeln betont. Sie erstellt ihre Metamorphosenbilder mit Hilfe der Miniaturen aus ihrem Studienbuch, in denen ihre Objekte exakt in einer Position und Perspektive fixiert sind.44 Anstatt jedes Element neu zu erstellen, kollagierte sie ihre Darstellungen aus diesen Vorlagen. Dieses Vorgehen sicherte ein Bild, das am Ende ihren Beobachtungen treu blieb und nicht riskierte, Fehler durch die Anpassung der Darstellung an die Komposition einzuführen. So sind Merians Darstellungen nicht allein ästhetisch ansprechend, sondern ermöglichen gleichzeitig ein naturgeschichtliches Studium der abgebildeten Spezies, wie es sich etwa in Linnés Verwendung der Tafeln zur Ausarbeitung seines Klassifikationssystems manifestiert.45 Gleichzeitig entsteht durch ihr kollagierendes Vorgehen ein leicht verzerrter Eindruck, wie zwischen der Lebendigkeit der Motte in der oberen rechten Bildecke des Blattes 45 des zweiten Raupenbuches einerseits, die förmlich mit ihren Fühlern nach Nektar zu tasten scheint, und der statischen Darstellung der großen Raupe und dem Insekt gegenüber andererseits (Abb. 3). Dies baut gleichzeitig eine Distanz zu den Objekten auf, die 43 Neri  : Insect and Image, hier S. 167. 44 Ebd., hier S. 169–171. 45 Vgl. Schmidt-Loske, Katharina  : Die Tierwelt der Maria Sibylla Merian (1647–1717). Arten, Beschreibungen und Illustrationen, Marburg/Lahn 2007, hier S. 40–42.

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sie eben als Repräsentationen ausweist und nicht den Eindruck vermittelt, sie seien im Grunde mit materieller Natur identisch. Durch die kompositorischen Techniken des Metamorphosenbildes gelingt es Merian, Beziehungen zwischen den von ihr abgebildeten Naturobjekten sichtbar werden zu lassen.46 Die Gruppierung detaillierter Studien der verschiedenen Stadien des Lebenszyklus einer Spezies auf ihrer Futterpflanze und die zusätzliche Betonung sowohl der Beziehung als auch der Zeitlichkeit bzw. Vergänglichkeit der einzelnen Formen durch Fraßspuren offenbaren dabei eindrücklich den prozessualen Charakter und die komplexe Dynamik der Entwicklung der Schmetterlinge im statischen Medium der Zeichnung und des Kupferstichs. Darin repräsentieren die Pflanzen allerdings nicht primär ökologische Lebensgemeinschaften und andere Beziehungsgeflechte, die Merian in ihren Darstellungen bereitwillig zugunsten ästhetischer Erwägungen überschreitet. Die Tafeln 4 und 5 des Surinambuches ergänzt sie explizit mit einer Schlange samt Eiern sowie einer Eidechse, um die Kompositionen auszuschmücken.47 Ebenso wurde der »kleine rote Wurm« der Tafel 2 »nur zur Ausschmückung des Blattes hinzugefügt. Sie wurden aus trockener Kochenille herausgesucht, und es sind keine amerikanischen Abarten«48. Vielmehr als eine ökologische Perspektive und die Verbindung der Spezies mit ihrem Ökosystem nutzt Merian die verschiedenen Elemente ihrer Komposition, um die Metamorphose der Insekten zum Leben zu erwecken.49 Die Pflanzen bilden darin das Verbindungsglied zwischen adultem Tier und seiner Larve, da hier die Schmetterlinge ihre Eier ablegen und die Schmetterlinge schlüpfen, der Kreis ihrer Metamorphose sich also schließt. Die Form, mit der Merian die Beziehungen in ihren Darstellungen jenseits ihrer lebensgetreuen Abbildung ästhetisch hervorruft, erweist sich dabei epis­ temisch als bedeutungsschwer. Durch ihre Ordonnance, die Platzierung der einzelnen Objekte ihrer Kompositionen auf eine Art und Weise, in der ihre Formen und Muster sich ästhetisch komplementieren, gehen sie visuelle Beziehungen ein50 und beginnen, miteinander zu interagieren. Isolierte man den blauen Schmetterling des Blattes 7 im Surinambuch, würde er vielleicht, naturwissenschaftlich gedacht, ein archetypisches Exemplar seiner Spezies ergeben – 46 Ludwig  : Betrachtung zur Beobachtung  ; Ludwig  : Das »Raupenbuch«  ; Neri  : Insect and Image  ; Schmidt-Linsenhoff  : Metamorphosen des Blicks. 47 Merian  : Das Insektenbuch, hier S. 16 und 18. 48 Ebd., hier S. 12. 49 Neri  : Insect and Image, hier S. 154–156. 50 Förschler  : Ästhetik der Metamorphose, hier S. 67–69.

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Abb. 3  : Maria Sibylla Merian, Grosse weisse Windigblume, Kupferdruck, Raupenbuch Zweiter Teil, Tafel XLV, Nürnberg und Leipzig 1683.

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eingebunden in Merians Komposition scheint er sich, aufgespannt zwischen zwei Flügelschlägen, auf die Pflanze zuzubewegen (Abb.  4). Die Fraßspuren in den Blättern unterhalb der dargestellten Raupe und die noch unversehrten Blätter vor ihr, lassen sie lebendig wirken und förmlich im Fressen suspendiert. Jeder Versuch schließlich, den Falter in der oberen rechten Ecke als neutrale und statisch vereinheitlichte Repräsentation zu betrachten, erweist sich als zum Scheitern verurteilt. Die Kompositionen Merians bilden flüchtige Momente, offen zu sowohl dem vorherigen als dem nachfolgenden Augenblick. Merian haucht ihren tierlichen Studienobjekten Leben ein. Der Blick hält in Merians Bildern nicht bestimmend an einzelnen Elementen fest, sondern wandert, von der Komposition geleitet, zwischen den Objekten hin und her. Während sich die Pflanze dabei als ästhetischer Bezugs- und Ordnungspunkt erweist, sind es die Stadien des Insekts, denen durch das Vor und Zurück eine lebhafte, visuelle Gleichzeitigkeit zukommt. Die so durch die ästhe­tische Korrespondenz zwischen den Bildelementen von Merian erzeugte Spannung zwischen den einzelnen Entwicklungsstadien kann hier als Prozessualität der Insekten-Metamorphose gelesen werden. So wird es möglich, die Transformation nicht nur in die Bilder hineinzuinterpretieren, sondern sie buchstäblich aus ihnen herauszulesen. Merians künstlerisch-ästhetische Vermittlung im Raupen- und Surinambuch erweitert sich zu einer grundlegenden Transzendierung entomologischer Repräsentationsregime. Die Ästhetik ihrer Bilder ist damit nicht nur eine mehr oder weniger aufwendige Ausschmückung ihrer Forschungsergebnisse zur Werbung potentieller Käufer*innen, sondern erweist sich als ein unentbehrlicher Schritt in der Vermittlung der Metamorphose. Es ist die ästhetische Konstruktion der Tafeln, durch die der Eindruck des prozeduralen Charakters nicht nur bezeichnet, sondern in die Darstellungen und ihre Betrachter*innen eingeschrieben wird  ; in der Betrachtung und Erfahrung der Abbildungen selbst vermittelt sich  : Prozess. Die Grundlage für diese Darstellung bildet eine Verquickung mimetischer Erfahrung und ästhetischer Konstruktion mit wissenschaftlicher Forschung. Merians künstlerisch geschulte, mimetisch-ästhetische Sensibilität wird damit zu einem integralen Bestandteil von ihrem Erkenntnisprozess und ihrer Darstellungen, die den naturgeschichtlichen Prozessen zur Darstellung verhilft. Das ästhetische Element erweist sich dabei in zweierlei Hinsicht am Werk. Durch ihre künstlerische, multi-sensorische Anerkennung der ästhetischen Qualitäten der Insekten  – den Formen, Mustern, Texturen und der üppigen Farbigkeit – nimmt Merian ihre Erkenntnisobjekte ästhetisch-mimetisch wahr. Gleichzeitig kommt es auf Grundlage ihrer persönlichen Erfah-

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Abb. 4  : Maria Sibylla Merian, Amerikanische Kirsche, kolorierter Kupferdruck (gest. v. Jan Pieter Sluyter), Surinambuch, Tafel VII, Amsterdam 1705.

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rung und ihres Vermögens als Künstlerin in den Tafeln zu einer ästhetischen Vermittlung. Ihrer Zeit ist Merian darin weder hinterher noch voraus. Ihr Werk entspringt den naturgeschichtlichen und ästhetischen Produktionsmustern der Frühen Neuzeit. Merians Eigensinn liegt in der Verschmelzung dieser Muster und dem Verantwortungsbewusstsein, das sie ihren Erkenntnisobjekten entgegenbringt. Statt dem Erkenntnisprozess äußerlich zu sein, erweist sich die ästhetische Erfahrung dabei als der Erkenntnis ihres Gegenstands wesentlich. Das Ergebnis sind Bilder, die auf den Prozess der Metamorphose nicht nur verweisen, sondern diesen erfahrbar werden lassen. Die Tafeln verleihen der Metamorphose als ihrer Objektivation Ausdruck. Es sind die Kompositionen ihrer Bücher, die ein adäquates Verständnis vom Prozess der Metamorphose vermitteln.51 Sie erfordern darin das volle ästhetische Geschick der Autorin. Die dadurch erreichte Nähe von Merians Arbeiten zu ihren Objekten kann für die Faszination stehen, die noch heute ihrem Werk entgegengebracht wird. Dabei erlauben sie ihren Betrachter*innen einen naturgeschichtlichen Blick, der seinen Gegenstand nicht festsetzt, sondern gerade auf die Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit natürlicher Prozesse und Objekte verweist und diese in spannungsgeladenen Kompositionen in der Schwebe hält. Möglich wird dies nicht durch ein Weniger, sondern ein Mehr an subjektiver Vermittlung, das zu einem größeren Maß an Objektivität führt als die objektiv naturwissenschaftliche Vermessung. Zentrale Qualität dieser Vorgehensweise ist allerdings, sich dem Objekt seiner Erkenntnis anzuschmiegen und die subjektive Perspektive in den Dienst des Ausdrucks des Objekts zu stellen, anstatt es den verdinglichenden Verfahrensweisen und Erwartungen moderner Naturwissenschaft unterzuordnen.

51 Vgl. Schmidt-Linsenhoff  : Metamorphosen des Blicks.

Mieke Roscher

Wie viel Akteur steckt im gesammelten und bewahrten Tier  ? Ein Kommentar aus Sicht der Human-Animal Studies

Eine Naturgeschichte ohne Tiere zu schreiben, scheint insbesondere mit Blick auf die Frühe Neuzeit und ihrer Begeisterungsfähigkeit für die Natur fast unmöglich. Dennoch stehen sie selten wirklich im Mittelpunkt der Betrachtungen. Vielmehr wird über sie als Ausstellungsstücke, Sammlungsobjekte und Kuriositäten berichtet. Im Mittelpunkt stehen Naturforscher*innen, Sammler*innen und Händler*innen, um nur einige der menschlichen Akteure zu benennen, die sich in aktiver Weise mit diesen Tieren befassten. Dennoch, und dies zeigen auch die Beiträge, sind diese Tiere eben zentral für die jeweiligen Geschichten, die erzählt werden können. Da es aus meiner Sicht für das hier angestrebte Format jedoch mühselig erscheint, die Geschichten von so unterschiedlichen Akteuren, von divergenten Tieren und Dingen, die in den Artikeln dargeboten werden, unter eine Agenda zu stellen und sukzessive zu kommentieren, möchte ich aus Sicht der Human-Animal Studies verschiedene Aspekte bzw. klassische Kategorien darlegen, die sich für die Untersuchung dieser Forschungsgegenstände anbieten. In diesem Rahmen gilt es somit, Topoi und Fragen zu identifizieren, die eventuell auch für die weitere Diskussion über die Verfahrensweisen in der Naturgeschichte, die eben Tiere mit einschließen, weiterführend sein könnten. Diese Topoi umfassen die Bereiche Ästhetik  – inklusive der Zoosemiotik  –, des Raumes  – einschließlich der Liminalität  –, der Agency mit  – Fokus auf eine entangled agency  –, der Zeit – als tierlicher Eigenzeit – und der Praktiken im Kontext des Konzeptes der Animal-Made-Objects.

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Mieke Roscher

Animal Aesthetics  : Ästhetische Annäherungen an Tiere

Die spezifische Ästhetik des Tieres als erster und wichtiger Bestandteil einer tierzentrierten Analyse wird innerhalb der Human-Animal Studies mittlerweile als ein durch relationale Aspekte bestimmtes Kategorienschema verstanden, das also Tier-Mensch-Beziehungen ästhetisiert. Ästhetik zielt auf die Betrachtung der Gestalt der Tiere als einem kulturellen Wert. Dies wird in den Aufsätzen beispielsweise bei der Deklaration der Modeerscheinung der Vogelhaltung im Paris des 18. Jahrhunderts angesprochen. Das tierliche, dingliche Andere wird als ständige Referenzfläche genutzt, wobei insbesondere auch der ästhetische Aspekt, also die Zugangsmöglichkeiten dieser Repräsentationsfläche, zu berücksichtigen ist.1 Dafür wird in den Human-Animal Studies u. a. das von Thomas Seboek in den 1960 entwickelte Modell der Zoosemiotik hinzugenommen und in diesem Schritt gleichsam umgedeutet. Verstanden als Studium der Bedeutungsbeimessung, Kommunikation und Repräsentation zwischen den Spezies2, wird dieser ästhetische Aspekt hier breiter aufgefächert. Botschaften, über materielle Tiere vermittelt, werden eben nicht als willkürlich gedacht, ihre akustische und visuelle Anordnung ist im Gegenteil von zentraler Signifikanz.3 Dabei, und darauf hat Friedrich Weltzien hingewiesen, ist die Problematik der ästhetischen Wertung zentral für die kulturelle Relevanz von Tieren, bzw. ganz spezifischer Tiere an ganz spezifischen Orten.4 Der Wert von Tieren hängt also von der kulturellen Relevanz ab, die aus tiersensitiver Sicht auch von der jeweiligen zoosemiotischen Ästhetik hervorgerufen wird. Ästhetik, Repräsentation und kulturelle Funktion sind zusammenzudenken und könnten relevant sein für Fragen, die sich mit den materiell-semiotischen Bedeutungsveränderungen im Haraway’schen Sinne5 beim Transport von einer Welt in die andere befassen, wie am Beispiel der Conchylien-Kabinette im Beitrag von Thomas Ruhland deutlich wird. Inwieweit also zeigt sich Bedeutungsveränderung in der ästhetischen Wahrnehmung, wird Fremdes durch ästhetisierende 1 Vgl. Pahin, Philip/Macfadyen, Alyx  : A Human-Animal Relational Aesthetic. Towards a Zoophilic Representation of Animals in Art, in  : Biosemiotics 2012, S. 1–13. 2 Vgl. Maran, Timo  : Dimensions of zoosemiotics. Introduction, in  : Semiotica, H.198 (Special Issue  : Dimensions of zoosemiotics) 2014, S. 1–10. 3 Vgl. Martinelli, Dario  : Tierästhetik aus semiotischer Sicht, in  : Tierstudien, H.1 2012, S. 74–86. 4 Vgl. Weltzien, Friedrich  : Der ästhetische Wurm. Kulturphilosophische Anmerkungen, in Tierstudien, H.1 2012, S. 27–39, hier S. 30. 5 Vgl. Haraway, Donna  : When species meet, Minneapolis 2008, S. 4.

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Beschreibungen zum Vertrauten  ? Die Aneignung bestimmter Spezies durch europäische Sammler*innen als kolonialer oder kolonialisierender, als missionarischer Akt, in dem Bedeutungen erst durch den Transport hergestellt werden, wo Tiere »gemacht« werden, unterstreicht die Relevanz des ästhetischen Zugangs. Hier gelte es also auch, zu fragen, welche Bedeutungstransformationen sich im Sinne zoosemitischer Neuerungen beim Transport in die Chambres, der Transformation vom Lebendigen zum Toten und im Verhältnis von Objekt und Text ergaben. Kann man somit vielleicht sogar von transkulturellen Spezies sprechen  ?6

Animal Spaces  : Der Raum als Ort des Tieres

Als zweiten Topos der Untersuchung von naturkundlichen Verfahrensweisen, die eine Mensch-Tier-Beziehung voraussetzen, beinhalten oder abbilden, bietet sich eine räumliche Annäherung an. Hier wurde von Seiten der Tiergeschichte in letzter Zeit begonnen, sich wieder verstärkt mit der Liminalität von Tieren zu befassen, die gleichzeitig die Liminalität von Orten berücksichtigt. Über den Liminalitätsbegriff werden hier nämlich nicht die Spezies, sondern die besonderen Lebensumstände und Räume von Tieren aufgegriffen, die dazu führen, sie zu ganz bestimmten Tieren werden zu lassen. Limininalität – als Begriff von den Human-Animal Studies aus der Ethnologie und Anthropologie entliehen – beschreibt Schwellen- und Umbruchsituationen in Ritualen, Erfahrungen und Praxen und wurde zuletzt von Sue Donaldson und Will Kymlicka fruchtbar gemacht.7 Einzelne Tierarten lassen sich der Gruppe der liminalen Tiere nicht zuordnen, vielmehr bestimmt das soziale, das politische und auch das räumliche Setting die Übersetzungsfunktionen, die situativ durch Schwellentiere eingenommen werden.8 Dieser Begriff des Liminalen kann sowohl für die vorgestellten Projekte als auch für die Naturgeschichte im weiteren Sinne aber noch mehr bedeuten  : So könnte er fruchtbar gemacht 6 Vgl. Boehrer, Bruce  : Introduction. The Animal Renaissance, in  : Ders. (Hg.)  : A Cultural History of Animals in the Renaissance, Oxford u. a. 2007, S. 1–26, hier S. 9. 7 Vgl. Donaldson, Sue/Kymlicka, Will  : Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Berlin 2013. 8 Vgl. Wischermann, Clemens  : Liminale Leben(s)räume. Grenzverlegung zwischen urbanen mensch­lichen Gesellschaften und anderen Tieren im 19. & 20. Jh., Vortrag auf der Konferenz Ideen und Praktiken für die räumliche Entgrenzung von Tier-Mensch-Verhältnissen, Kassel, 01.10.2015.

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werden für die Analyse der Produktionsweisen neuen Wissens über Einbindung von tierlichen Objekten – lebendigen und toten – bzw. für die Änderung in den Schau- und Darstellungsformen von Tieren, wie insbesondere anhand der in den Aufsätzen genannten Kanarienvögel und Conchylien gezeigt wird. Andersherum könnte man im Sinne der Human-Animal Studies, die eben auch den Menschen in die Beziehungskette einbauen, die Reise der menschlichen Akteure zwischen verschiedenen Sammlungen von Tieren zum Zweck der Systematisierung bzw. den Transport der Tierexponate selbst als einen Schwellenübertritt im räumlichen Zusammenhang begreifen, der gleichzeitig semantische Wirksamkeit entfaltet. Ein solcher Ansatz spiegelt sich etwa im Beitrag von Dominik Hünniger wider. Es gibt indes noch andere räumliche Zugänge zu beachten. Wir haben es bei den im Rahmen der Aufsätze vorgestellten Orten mit sehr speziellen Räumen zu tun, genannt sind Naturalienkabinette – und Kompilationen, Wunderkammern und Kuriositätenkabinette, die kulturgeographisch als more-than-human-places9 und als animalische Topologien gefasst werden können. Diese artikulieren sich auch in der spezifischen Haltung der lebenden oder in der Aufbewahrung der toten Tiere, die jeweils der semiotischen Bedeutung des Sammlungsgegenstandes einen Rahmen geben. Es ist als durchaus relevant anzusehen, dass es wiederum spezifische Tiere zu spezifischen Zeiten waren, die sich zum einen in die Produktion menschlicher Kultur, zum anderen in ihren jeweiligen Wissensordnungen eingeschrieben haben, und dass es dafür spatiale Strukturen gab, also die Platzierung, Replatzierung und Displatzierung von Tieren10. Im Rahmen der durch die Human-Animal Studies beeinflussten Tiergeographie unterschieden Chris Philo und Chris Wilbert ganz prominent und für die weitere Forschung zentral zwischen sogenannten animal spaces und den beastly places. Die ersten, also die animal spaces, weisen Tieren spezifische Orte zu, und zwar nach bestimmten menschlichen Taxonomien und Ordnungssystemen. Dass diese Orte sowohl reale Orte als auch narrative Orte umfassen bzw. die realen und narrativen Platzierungen miteinander verbinden, wird in den Beiträgen von Sebastian Schönbeck und Matthias Preuss deutlich. Unter den zweiten, also den beastly places, versteht man hingegen jene Orte, die die Tiere durch ihre agency, also ihre Handlungsmacht, und ihre   9 Vgl. Whatmore, Sarah  : Hybrid Geographies. Natures Cultures Spaces, London 2002. 10 Vgl. Philo, Chris/Wilbert, Chris  : Animal spaces, Beastly Places. An Introduction, in  : Dies. (Hg.)  : Animal Spaces, Beastly Places. New geographies of human-animal relations, London 2000, S. 1–35, hier S. 5.

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Interspezies-Beziehungen selbst kreieren. Dieses Spannungsverhältnis zwischen sogenannten natürlichen Tierräumen und kulturell aufgeladenen Orten menschlichen Nutzens und Gebrauchs ist für die Untersuchung der Begegnung mit neuen Tierarten, ihrer Erfassung, ihrem Transport zentral, wobei man sich hüten sollte, vorschnell die Räume als animal spaces zu klassifizieren und somit die tierlichen Handlungen im Prozess des Erkenntnisgewinnes zu verneinen. Zentral erscheint mir aber auch, welche speziellen Taxonomisierungen vorgenommen werden. Bereits bei der spezifischen Sammlung treten Ordnungsmuster zu Tage, die eben auch durch die spezifischen Örtlichkeiten des Aufeinandertreffens von Mensch und Tier, vom Lebendigen und Taxidermischen, Aufgespießten und Ausgestellten bestimmt werden. Hierin zeigt sich, dass die Legitimität bestimmter Wesensformen auch spatiale Momente hat. Erica Fudge weist uns im Übrigen darauf hin, dass das lebendige und das tote Tier als Kategorien eben nicht voneinander zu trennen sind,11 sondern sich in ihrer Bedeutungshaftigkeit und Wirkungsmacht ständig aufeinander beziehen.

Animal Agency  : Vernetzte Wirkungsmacht

Bernhard Gissibl hat kürzlich die animal agency, unter die sowohl die Handlungs- als auch die Wirkungsmacht von Tieren subsumiert wird, als den heiligen Gral der Human-Animal Studies bezeichnet.12 Kein anderer Topos der Mensch-Tier-Beziehung in der Frühen Neuzeit ist auf den ersten Blick so sehr dafür prädestiniert, mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) behandelt zu werden, wie das Sammeln und Bewahren von Dingen, Tieren und Pflanzen innerhalb bestimmter menschlicher Gruppen und deren Austausch zu bestimmten Zeiten. Im Latour’schen Sinne würde man dann danach fragen, wer und was genau das Kollektiv bestimmt, welches sich nach seiner symmetrischen Anthropologie aus Menschen und nicht-menschlichen Wesen zusammensetzt,13 und welche nicht-menschlichen Wesen eigentlich Menschen dazu 11 Vgl. Fudge, Erica  : Renaissance Animal Things, in  : Landes, Joan B. u. a.: Georgeous Beasts, University Park, PA 2014, S. 41–56, hier S. 42. 12 Gissibl, Bernhard  : Kommentar, Wisent-Reservat und UNESCO-Welterbe. Referenzen für den Bialowieza-Nationalpark (Belaweschskaja Puschtscha), 24.04.2015–25.04.2015 Gießen, in   : H-Soz-Kult (www.hsozkult.de/event/id/termine-27297, letzter Zugriff  : 10.08.2016). 13 Vgl. Latour, Bruno  : Das Parlament der Dinge  – Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.  M. 2010, S. 60.

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bringen, »Dinge zu tun«14. Doch erscheint mir gerade dieser Zugang zu agency in diesem Kontext problematisch. Den Grund dafür sehe ich in der Tatsache, dass die ANT wenig über die Qualität der Beziehungen und noch weniger über die spezielle Art der Wirkungen bzw. Handlungen, die mit agency umrissen werden, freilegt. Dennoch ist die Klärung der spezifischen agency, die den Conchylien, den Insekten, den Vögeln und Elefanten bzw. ihren Überresten zu eigen war, zentral, um die spezifischen Bedeutungen für die gesammelten und ausgestellten Tiere zu erklären. Ich würde argumentieren, dass diese Tiere wegen ihrer spezifischen Wirkungsmacht ausgewählt wurden, sei es, um das naturwissenschaftliche Interesse zu befriedigen, bestimmte taxonomische Lücken zu füllen oder weil sie sich eben besonders gut in den Naturalienkabinetten »machten«. Um der spezifischen Beziehung, die durch die Netzwerke und das Handeln produziert werden, einen qualitativen Aspekt zuordnen zu können, wird deshalb innerhalb der Human-Animal Studies mittlerweile zwischen relationaler agency, entangled agency, embodied agency und animal agency unterschieden.15 Im Folgenden wird jedoch lediglich auf die entangled agency als einen für mich für alle vorgestellten Projekte fruchtbaren Zugang eingegangen. Entangled agency setzt auf die Vernetzung der Akteure  – im Sinne von Akteur-Netzwerken wie auch Akteurs-Umwelten. Dieser Ansatz ist damit sowohl von den Science Studies wie von der Umweltgeschichte beeinflusst. Entangled agency verspricht ähnliche Zugriffe wie die ANT, erweitert sie aber um die distinktive Körperlichkeit, die hier zugrunde liegt und verschiedene Existenzformen umfasst, die durch die multiplen materiellen Praktiken hergestellt und bestimmt werden. In einer agency, die als immanent vernetzt betrachtet wird, sind die zusammenkommenden Kollektive oder Face-toFace-­Beziehungen als historisch bedingt und variabel zu betrachten. Damit können Handlungsspielräume bestimmter Spezies zu bestimmten Zeiten als agency und die Handlungsoptionen einzelner Individuen als Aktion definiert werden. Darüber hinaus lässt sich eine primäre Agency von einer kollektiven agency unterscheiden. Insbesondere wenn es um Verflechtungsgeschichte als entangled history16 geht, wie sie von der Globalgeschichte vertreten wird, müs14 Latour, Bruno  : Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 404. 15 Vgl. Roscher, Mieke  : Zwischen Wirkungsmacht und Handlungsmacht  – Sozialgeschichtliche Perspektiven auf tierliche Agency, in  : Balgar, Karsten u. a. (Hg.)  : Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency im Fokus der Human-Animal Studies, Bielefeld 2015, S. 43–67 16 Vgl. Eitler, Pascal/Möhring, Maren  : Eine Tiergeschichte der Moderne. Theoretische Perspektiven, in  : Traverse – Zeitschrift für Geschichte. H. 3 2008, S. 101.

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sen ja immer schon mehr als nur die menschlichen Handlungsträger*innen berücksichtigt werden. Diesem Sachverhalt wird in den Human-Animal Studies Rechnung getragen. Ganz wesentlich aber ist und bleibt die Frage an alle Projekte im Bereich der Erforschung der Naturgeschichte der Frühen Neuzeit nach der spezifischen Art der Akteure, die nicht-menschlich sind  – und ob diese nicht-menschlichen Lebewesen männlich oder weiblich waren.17

Animal Times  : Tierliche Eigenzeiten

Ich komme nun zum Topos des Zeitlichen, für den die Human-Animal Studies bislang zugebenermaßen mehr Fragen als Antworten hat, diese Fragen jedoch für akut hält. Im Beitrag von Silvia Flubacher klingt diese Beachtung der Zeitschichtung als prekäres Moment in der Betrachtung des Tieres an. Die Aufgabe der Historiker*innen und ihre Auseinandersetzung mit tierlicher Wirkungsund Handlungsmacht hat damit neben der räumlichen eine zentrale zweite Ebene, in der die zeitliche Verortung und Perspektive reflektiert werden muss. Zeit kann hier nicht als neutraler Background herhalten, als Konstante, hinter der über die Akteurseigenschaften verhandelt wird. In Bezug auf die tierzentrierten Zeitschichten und ihre Vermittlungen tauchen viele Fragen auf, die hier nur angerissen werden können  : Lassen sich die unterschiedlichen Zeitschichten unabhängig voneinander, also unabhängig von Zugehörigkeitskategorien zu bestimmten Spezies entwickeln und verwenden, stehen sie in einem Spannungsverhältnis miteinander, oder überlagern und ergänzen sie sich  ? Letztendlich stellt sich dann auch die Frage, ob, und gegebenenfalls wieweit, solche Auseinandersetzungen auf die Ordnung und Sortierung menschlicher Geschichte zurückwirken. Welche alternative, genealogische Lesart müsste etabliert werden, um einerseits statische Tierbilder zu hinterfragen und andererseits eine anthropozentrische wie auch eine biologistische Vereinnahmung evolutionärer Prozesse zu verhindern  ? Ohne die Beantwortung dieser Fragen einfordern zu wollen, möchte ich auf die immanente Kontingenz der Zeitlichen hinweisen bzw. dieses Argument der Verquickung aber auch Diskrepanzen von Tieren Zeiten und textimmanenten Bedeutungen unterstreichen.

17 Vgl. Sachse, Carola  : »Weibchen« oder »Männchen«  ? Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Beziehungen von Menschen und anderen Tieren, in  : Krüger, Gesine u. a. (Hg.)  : Tiere und Geschichte, Konturen einer Animate History, Stuttgart 2014, S. 79–104.

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Mieke Roscher

Animal Practices  : Zwischen Praxeologie und Dinglichkeit

Schließlich sollen noch die Aspekte der spezifischen Praktiken Erwähnung finden, die die Interaktionen zwischen Menschen und Tieren bestimmen. Im Rekurs auf Anthony Giddens, der Praktiken von Akteuren als weder von menschlicher Erfahrung allein noch von der sozialen Gesamtheit und ihren Strukturen bestimmt sieht, werden Bedeutungen erst im Handeln konstruiert und ständig neu entworfen.18 Angewendet auf die Human-Animal Studies bedeutet das, dass bei der Formierung menschlicher Kultur und Identitäten, die Kooperationen und Kollaborationen mit dem Tier  – allerdings auch die Reaktionen und Widerstände – als sowohl materiell wie kulturell immer schon dagewesen mitgedacht werden müssen.19 Ganz entscheidend wird deshalb der Fokus auch auf jene Praktiken gewählt, die die toten Tiere, ihre Körper, Häute, Gefieder usw. in die Erzählungen einzubeziehen vermögen, wie dies beispielsweise in den Aufsätzen von André Krebber und Dominik Hünniger stattfindet. Das Konservieren, Sezieren und Klassifizieren des toten Tiers müssen ebenso Berücksichtigung finden wie die Interaktion mit dem lebendigen Tier. Damit soll einer Hauptprämisse der Human-Animal Studies entsprochen werden, nämlich dass Tiere als aktive Präsenzen zu betrachten sind. Erica Fudge verwendet dafür den Begriff des Animal-Made-Object, um quasi dialektisch sowohl die Gegenstände, die aus Tieren produziert werden und ihre Objektivierung berücksichtigen zu können, um für beide den Praxisbegriff fruchtbar zu machen20. Damit wird auch die Ding-Theorie für die Human-Animal Studies interessant  : Dinglichkeit verändert durch Präsenz von Dingen soziale Gefüge. Auch das objektivierte Tier, das Tier als Ding, als Geschenk, als fossiler Fund ist in Praktiken eingebunden und so zu beschreiben. Es wertet Menschen auf, dient als soziale Referenz und fasziniert. Diese Praxen vom Tier her zu denken, von realen Tieren mit wirklichen körperlichen Präsenzen, eröffnet dabei neue Wege, die Verflechtungen zwischen menschlichen und tierlichen Welten sichtbar zu machen. Zu fragen wäre hier also, wie die Praktiken, die zwischen Dingen, Tieren und Menschen ablaufen, sich jeweils auf die Nutzung von Dingen, auf das Leben von Mensch und Tier auswirken.

18 Vgl. Giddens, Anthony  : The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge 1984, S. 2. 19 Raber, Karen  : Animal Bodies, Renaissance Culture, Philadelphia 2013. 20 Vgl. Fudge  : Renaissance Animal Things, S. 55.

Abbildungsnachweise Förschler/Mariss Abb. 1  : Musée d’art et d’histoire, Ville de Genève, inv. n°CR 0375. Photo  : Bettina Jacot-Descombes. Boscani Leoni Abb. 1  : Zentralbibliothek Zürich, STF II 8. Abb. 2  : Zentralbibliothek Zürich, ZEI_Njbl.21. Abb. 3  : Zentralbibliothek Zürich, ZEI_Njbl.22. Dolezel Abb. 1  : SLUB Dresden, Hist.Sax.G.260, http://digital.slub-dresden.de/id312185502, letzter Zugriff  : 26.10.2016. Abb. 2  : SUB Göttingen, 8 SVA II, 2135. Abb. 3  : Universitätsbibliothek Würzburg (63/L 17.2). Flubacher Abb. 1  : Universitätsbibliothek Basel, Hf VI 25  :15. Abb. 2  : Zentralbibliothek Zürich, Gal Tz 1129. Krebber Abb. 1  : Beer, Wolf Dietrich (Hg.)  : Maria Sibylla Merian. Schmetterlinge, Käfer und andere Insekten. Leningrader Studienbuch, Berlin 2011, Bildtafel 169|15. Abb. 2  : Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung Historische Drucke, Signatur 8 ZOOL VI, 41:1. Abb. 3  : Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung Historische Drucke, Signatur 8 ZOOL VI, 5183:2 RARA. Abb. 4  : Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung Historische Drucke, Signatur GR 2 ZOOL VI, 3904 RARA. Leonhard Abb. 1a  : Biblioteca Universitaria, ms. Aldrovandi 6, Bd. I, Bologna. Abb. 1b  : Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz. Abb. 2  : Marco Aurelio Severino  : Vipera Pythia, Patavia 1651, S. 218 (Archiv der Autorin). Abb. 3a  : Baldo Angelo Abbati  : Physici Eugubini de Admirabili Viperae, Urbino 1589, S. 80 (Archiv der Autorin). Abb. 3b  : Baldo Angelo Abbati  : Physici Eugubini de Admirabili Viperae, Urbino 1589, S. 84 (Archiv der Autorin). Abb. 4  : Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz. Abb. 5a  : Archiv der Autorin.

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Abbildungsnachweise

Abb. 5b  : Archiv der Autorin. Abb. 6a  : Royal College of Physicians, London. Abb. 6b  : Archiv der Autorin. Müller-Wille Abb.  1  : Linnean Society, London, Bibliothek und Archive, Linné-Sammlung, Signatur  BL83. Mit freundlicher Genehmigung der Linnean Society of London. Abb. 2  : Staatsbibliothek zu Berlin, Abteilung Historische Drucke, Signatur Lt 12373 R. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Abb. 3  : Staatsbibliothek zu Berlin, Abteilung Historische Drucke, Signatur Ma 3500. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Pawlowsky Abb. 1  : Département Cartes et plans, GE D-13901, Bibliothèque nationale de France. Abb. 2  : Département Cartes et plans, GE DD-2987 (9220), Bibliothèque nationale de France. Abb. 3  : Département Cartes et plans, GE D-14072, Bibliothèque nationale de France. Schönbeck Abb. 1  : Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur Lv 4005. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Abb. 2  : Staatsbibliothek zu Berlin, Abteilung Historische Drucke, Signatur gr.2« Le 1980. Mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek Berlin - Preußischer Kulturbesitz.

Autor*innen Prof. Dr. Simona Boscani Leoni ist seit Oktober 2013 SNF-Förderprofessorin an der Universität Bern, wo sie das Projekt »Kulturen der Naturforschung. Akteure, Netzwerke, Orte und Themen der wissenschaftlichen Kommunikation in der Frühen Neuzeit (17.  Jahrhundert bis ca.1830)« leitet. Sie hat an der EHESS in Paris in Geschichte des Mittelalters promoviert. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen gehören Essor et fonctions des images religieuses dans les Alpes. L’exemple de l’ancien diocèse de Coire (1150–1530 ca.) (Bern u. a. 2008  ; deutsche Übersetzung  : 2016) sowie der Sammelband Wissenschaft – Berge – Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung (Basel 2010). Dr. des. Julia Breittruck promovierte mit einer Arbeit mit dem Titel »Vogel-­Mensch-Beziehungen. Eine Geschichte der Haustiere und der Pariser Aufklärung« an der Universität Bielefeld. Seit 2015 arbeitet sie an einem neuen Leitbild für das Münchner Stadtmuseum. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Stadtgeschichte, der Geschichte von Netzwerken und von Kulturtechniken. Dr. Bettina Dietz ist Associate Professor für europäische Geschichte an der Hong Kong Baptist University  ; Forschungsschwerpunkte im Bereich der Wissenschafts- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit  ; aktueller Fokus auf der Botanik des 18.  Jahrhunderts, ihrem kollaborativen Arbeitsmodus und dementsprechenden Formen von Koautorschaft  ; vorher u. a. Arbeiten zu naturhistorischen Sammlungen im Frankreich des 18. Jahrhunderts und zur Gemengelage von Wissenschaft, Ästhetik und Konsum in diesem Kontext. Eva Dolezel studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur in Göttingen, München und Berlin. Sie war unter anderem als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Hygiene-Museum Dresden und als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung »Das Technische Bild« des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Ihre 2015 verteidigte Dissertation stellt die Situation der Berliner Kunstkammer um 1800 in einen Vergleich mit verschiedenen Museumsprojekten

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Autor*innen

des 18. Jahrhunderts. Derzeit plant sie ein Forschungsprojekt zur Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen in Halle. Dr. des. Silvia Flubacher befasste sich in ihrer 2014 an der Universität Basel eingereichten Dissertation mit Vorstellungen einer Ordnung der Tierwelt und Praktiken der Naturgeschichtsschreibung um 1700. Die Dissertation erfolgte im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Mitarbeit im Projekt »Wissenschaftsgeschichte und Geschichte des Wissens im Dialog« am Departement Geschichte der Universität Basel. Dr. Silke Förschler arbeitet an einer kunsthistorischen Habilitation mit dem Titel »Tiere in Bildern naturgeschichtlicher Ästhetik  : Spuren zwischen Leben und Tod«. Seit 2014 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im LOEWE-­ Schwerpunkt »Tier-Mensch-Gesellschaft« an der Universität Kassel. Promotion zu französischen Haremsdarstellungen mit postkolonialem und gendertheoretischem Schwerpunkt. 2010 ist ihre Promotion unter dem Titel Bilder des Harem. Medienwandel und kultureller Austausch im Reimer Verlag Berlin erschienen. Dr. Dominik Hünniger ist Geschäftsführer des Lichtenberg-Kollegs (Göttingen Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences). Nach einer Dissertation zur Diskurs- und Herrschaftsgeschichte von Tierseuchen im 18. Jahrhundert arbeitet er derzeit zur europäischen Wissensgeschichte der Entomologie und zu Praktiken naturhistorischen Sammelns um 1800. Dr. André Krebber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in Sozial- und Kulturgeschichte/Human-Animal Studies an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Kritischer Theorie, Wissenschaftsgeschichte und -philosophie der Frühen Neuzeit und Neueren und Neuesten Geschichte, Epistemologie und Ecocriticism. Zurzeit bearbeitet er ein Projekt, das tierlicher Spontaneität im Evolutionsdiskurs seit Darwin nachspürt, um den Einfluss nicht-menschlicher Tiere auf den Verlauf der Naturgeschichte auszuloten. Prof. Dr. Karin Leonhard ist seit 2014 Professorin für Kunstgeschichte/ Kunstwissenschaft an der Universität Konstanz, mit einem Schwerpunkt auf der niederländischen und englischen Kunstgeschichte sowie auf der Wissenschafts- und Wahrnehmungsgeschichte des 17.  Jahrhunderts. 2013 ist ihre

Autor*innen 

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Habilitationsschrift Bildfelder. Stilleben und Naturstücke des 17.  Jahrhunderts erschienen. Dr. Anne Mariss ist seit Oktober 2016 akademische Rätin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität Regensburg. Zuvor war sie als Postdoc an der Universität Tübingen tätig. Die Promotion erfolgte mit einer Arbeit zu naturhistorischen Praktiken auf Weltreisen am Beispiel von Johann Reinhold Forster an der Universität Kassel (»A World of new Things«. Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt a. M. 2015). Ihre Forschungsinteressen liegen auf der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, der Globalgeschichte sowie auf Fragen der materiellen Kultur.  Dr. Staffan Müller-Wille ist Associate Professor in the History and Philosophy of the Life Sciences und Associate Director von Egenis, Centre for the Study of the Life Sciences an der Universität Exeter sowie Honorarprofessor am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Er promovierte 1997 im Fach Philosophie an der Universität Bielefeld und war danach am Deutschen Hygiene-Museum in Dresden und am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig. Zentrale Publikationen sind Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme (zusammen mit Hans-Jörg Rheinberger  ; Suhrkamp 2009) und sowie eine Edition von Carl von Linnés Musa Cliffortina (zusammen mit Stephen Freer  ; IAPT 2007).« Irina Pawlowsky erforscht im Rahmen ihrer Dissertation Wissenstransfers zwischen Amerika und Europa anhand jesuitischer Kartographie des oberen Amazonasbeckens im 17. und 18.  Jahrhundert. Seit 2014 ist sie Kollegiatin im Graduiertenkolleg 1662 »Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800– 1800)« der Universität Tübingen. Matthias Preuss arbeitet an einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Dissertation zum wechselseitigen Implikationsverhältnis von Literatur und Ökologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er war von 2014 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Prof.  Dr.  Andrea Allerkamp an der Europa-Universität Viadrina und promoviert seit Herbst 2016 im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Das Dokumentarische. Exzess und Entzug« an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Teil des Nachwuchsforscher*innen-Netzwerks Cultural and Literary Animal Studies (CLAS).

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Autor*innen

Prof. Dr. Mieke Roscher ist seit 2014 Juniorprofessorin für die Geschichte der Mensch-Tier Beziehungen an der Universität Kassel und arbeitet zurzeit an einem Projekt zu einer »Politischen Tiergeschichte des Dritten Reiches«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Tierhistoriographie, insbesondere der Frage nach der historischen Handlungsmächtigkeit von Tieren, der Kolonial-und Geschlechtergeschichte sowie der Geschichte sozialer Bewegungen. Thomas Ruhland ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter im LOEWE-­ Schwerpunkt »Tier-Mensch-Gesellschaft« an der Universität Kassel im Teilprojekt »Die ›Sprache‹ der Insekten. Zur neuartigen Dignität des Unscheinbaren im 17. und 18.  Jahrhundert«. Er promovierte zur Naturgeschichte im Rahmen der protestantischen Indienmission im 18.  Jahrhundert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Pietismus- und Frömmigkeitsforschung sowie der Wissens- und Globalgeschichte mit Hinblick auf materielle Kultur und historische Naturaliensammlungen. Sebastian Schönbeck ist Doktorand an der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang von Poetik und Naturgeschichte in Texten der deutschen Aufklärung. Seine Forschungsinteressen liegen in folgenden Bereichen  : Wissensgeschichte und Poetologie der Tiere, Heinrich von Kleist, Gattungstheorie, Cultural Animal Studies und Ecocriticism.

JUDITH KLINGER, ANDREAS KRASS (HG.)

TIERE: BEGLEITER DES MENSCHEN IN DER LITERATUR DES MITTELALTERS

Für die Menschen im Mittelalter hat Gott, wie es in der Bibel geschrieben steht, die Tiere als Gefährten erschaffen. Doch bereits zu ihrer Zeit ist das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ambivalent. Nicht alle Tiere lassen sich vom Menschen in den Dienst nehmen, manche bedrohen sogar sein Leben und seinen Besitz – und können doch als Begleiter, Führer und Freunde auftreten. Von der immensen Bedeutung der Tiere erzählen uns die zahlreichen Geschichten in der mittelalterlichen Literatur, die von Haustieren wie Hund und Katze, aber auch von wilden Tieren wie Löwe und Wolf bevölkert werden. Das Buch nimmt Tiere des Hauses, des Waldes und der Luft in den Blick, erkundet aber auch die für das Mittelalter so wichtige Beziehung zwischen Ritter und Pferd. Es gewährt zugleich Einsichten in die vormoderne Tierkunde, die ganz andere Fragen stellte als die Zoologie unserer Zeit. 2017. 320 S. 14 S/W- UND 6 FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-50582-0

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MARION GINDHART, HANSPETER MARTI, ROBERT SEIDEL (HG.)

FRÜHNEUZEITLICHE DISPUTATIONEN POLYVALENTE PRODUKTIONSAPPARATE GELEHRTEN WISSENS

Als „polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens“ gehörten die disputationes zu den zentralen soziokulturellen Praktiken der Vormoderne. Hier wurden tradierte Lehrinhalte auf bereitet und neue Paradigmen erprobt, hier übte sich der Nachwuchs in den Formen akademischer Kommunikation. Die Thesendrucke, deren zeitgenössische Bezeichnung als dissertationes Differenzen gegenüber neueren Qualifikationsprozeduren verdeckt, dokumentieren in frappierender Anschaulichkeit die gelehrten Diskursformationen und Vermittlungsstrategien der Zeit. Zugleich zeigen sie in ihren Paratexten (etwa Widmungen oder Begleitgedichten), wie gelehrte Netzwerke und Systeme mäzenatischer Förderung funktionierten. Die Beiträge des Bandes gehen sowohl auf die Mechanismen des frühneuzeitlichen Disputationswesens an verschiedenen Universitäten wie auch auf fachspezifische Formen und Inhalte der Wissensgenerierung ein, wobei das Spektrum von Medizin und Naturkunde über Philosophie und Politik bis zu Rhetorik und Poetik reicht. 2016. 364 S. 26 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-50330-7

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