Zeitgeschichte der Dinge: Spurensuchen in der materiellen Kultur der DDR [1 ed.] 9783412511999, 9783412511067

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Zeitgeschichte der Dinge: Spurensuchen in der materiellen Kultur der DDR [1 ed.]
 9783412511999, 9783412511067

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ZEITGESCHICHTE DER DINGE ISBN 978-3-412-51106-7

ANDREAS LUDWIG (HG.)

Seit einiger Zeit rückt die materielle Kultur in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, denn es sind oft die belanglos erscheinenden Alltagsdinge, deren genaue Analyse Hinweise auf ihre sozialen, gesellschaftlichen und historischen Bedeutungen offenlegt. Sie werden damit allererst zu historischen Zeugnissen und gewinnen neue Aussagekraft. Die in diesem Band versammelten Beiträge machen die Alltagskultur und ihre Bedeutungsvielfalt als »Dingausstattungen« von Gesellschaft zum Thema. Damit wird die aktuelle Debatte um einen »material turn« in den Kulturwissenschaften hier erstmals für die Zeitgeschichte erkundet. Der Band versammelt dazu Beiträge mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven. Er thematisiert soziale Arrangements wie die Wohnung, das Büro und die Stadt in ihrer dinglichen Dimension, betrachtet die Fotografie als materielle Quelle und untersucht biographische Dinge sowie das Kriterium der Schönheit. In einem zweiten Teil fokussiert er Alltagsobjekte mittels detaillierter Spurensuchen und erkundet abschließend die politische und soziale Dimension der musealisierten Objektkultur.

ANDREAS LUDWIG (HG.)

ZEITGESCHICHTE DER DINGE SPURENSUCHEN IN DER MATERIELLEN KULTUR DER DDR

Andreas Ludwig (Hg.) unter Mitarbeit von Katja Böhme und Anna Katharina Laschke

ZEITGESCHICHTE DER DINGE Spurensuchen in der materiellen Kultur der DDR

Mit 158 Abbildungen

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gefördert von der VolkswagenStiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­https://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln  Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: konsument Versandhaus Karl-Marx-Stadt, 1967, Archiv Zentralkonsum eG, Berlin Korrektorat: Rainer Landvogt, Hanau Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51199-9

INHALT 9

Einleitung. Dinge in der Zeitgeschichte und Zeitgeschichte der Dinge Andreas Ludwig

TEIL 1: DINGE IN DER ZEITGESCHICHTE Dinge in der Perspektive auf die Gesellschaft 29

How did Material Culture Matter in the Khrushchev-Era USSR? Everyday aesthetics and the socialist culture of things Susan E. Reid

47

Politische Objekte – politisierte Objekte. Historische Kontexte und Bedeutungszuweisungen der materiellen Kultur in der DDR Andreas Ludwig

Material, Ästhetik, Gebrauch 65

Das Bild als Ding zwischen der zweiten und der dritten Dimension Annette Vowinckel

85

Be-Wundern. Die Grenzen von Wert, Schönheit und des Anderen in Museumsobjekten Jana Scholze

99

Berlin-Marzahn. Modernity, Socialism, and Material Rupture in the Plattenbausiedlung Eli Rubin

Das Soziale in den Dingen 117

Materielle Kultur, Dinge, Sozialgeschichte. Die Ausstellung »Lebensgeschichten« 1980 und das Konzept der Industriekultur Wolfgang Ruppert

133

Persönlich, nicht privat. Biografische Objekte als historiografische Quelle Katja Böhme

147

Menschen und Dinge im Büro. Zur Rationalisierung der Angestellten in den 1920er Jahren Anne Schmidt

TEIL 2: SPURENSUCHEN AM OBJEKT 161

Einführung. Spurensuchen am Objekt Andreas Ludwig

169

Es zählt, was zählt – Schaltkreise. Denk- und Dingbewegungen Katja Böhme

179

Kosmonaut-Festival-Maskottchen Linda Harteman

191

»Was Mutti macht, lernt man mit PIKO«? Spielzeugkasse Anna Katharina Laschke

205

Urgeschichte in der DDR (1968) Arne Lindemann und Joes Segal

213

Postmietbehälter Andreas Ludwig

223

Der zweite Blick. Dia-Umfüllkassette der Marke ORWO Florentine Nadolni

235

Vier Fundstücke im Depot. Dinge, Spuren und historische Erkenntnis Achim Saupe

253

Zur Kühlung erhitzter Gemüter. Der Querstromlüfter QL I des Staatlichen Kulturhauses Ernst Thälmann, Eisenhüttenstadt Anne Sudrow

265

Ein Souvenir und seine Geschichte Irmgard Zündorf

TEIL 3: ALLTAGS­SAMMLUNGEN 277

Einführung. Alltagssammlungen Andreas Ludwig

285

Kaffeesachen. Fußabdrücke in der musealen Sammlung Andreas Ludwig

303

Familiendinge. Zwischen Entbehrlichkeit und Bedeutsamkeit Anna Katharina Laschke

6

325

Flüchtige Dinge. Eine Verpackungsammlung Andreas Ludwig

337

Wohnkultur. Ein Selbstzeugnis der Aufbaugeneration Andreas Ludwig

355

Massenbedarfsgüter Andreas Ludwig

375

Autorinnen und Autoren

7

Warenpräsentation für Waschmittel, undatiert, Kaufhalle »fix«, Eisenhüttenstadt, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Fricke).

EINLEITUNG DINGE IN DER ZEITGESCHICHTE UND ZEITGESCHICHTE DER DINGE ANDREAS LUDWIG

Demokratie oder Diktatur, Konsumgesellschaft oder Mangelgesellschaft – dichotomische Zuschreibungen prägten die Fremdund Selbstbeschreibungen in der Systemauseinandersetzung im Kalten Krieg. Nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands und dem Ende der Blockkonfrontation blieben sie als Vergleichsmuster erhalten und bestimmten so in weiten Teilen die historische Perspektive auf die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Introspektive Blicke auf die jeweiligen Gesellschaften, also eine Analyse ihrer Binnenlogiken, in den Jahren nach 1990 vor allem die der DDR, waren dagegen zunächst seltener und mussten sich auch, unter anderem in der dominanten öffentlichen Debatte der DDR, behaupten und rechtfertigen. Das Alltagsparadigma und die Musealisierung der materiellen Kultur sind zwei Felder, die den Fokus auf einen solchen Blick von innen richten. Berührt werden damit zum einen historiografische Problemstellungen, zum anderen museale. Ihnen geht dieses Buch nach.

1  Martin Sabrow: Die DDR erinnern, in:

ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27, S. 18–20.

Mit dem Thema einer »Zeitgeschichte der Dinge« werden zwei Perspektiven verbunden, die der zeitgeschichtlichen, gesellschaftsgeschichtlich orientierten Forschung und die der materiellen Alltagskultur, wie sie sich heute, 30 Jahre nach dem Ende der DDR, in den Sammlungen von Museen findet. Die Auseinandersetzung mit der DDR und ihrer Gesellschaft steht heute an einem Umschlagspunkt: Indem individuelle Erinnerung und lebensweltliche Erfahrung aus und mit dieser Gesellschaft zunehmend verblassen, muss perspektivisch auf das zurückgegriffen werden, was an Quellen erhalten wurde. Dies können archivalische Unterlagen des Staates und seiner Institutionen sein, aber auch – und das wurde bislang nur selten berücksichtigt – Dinge, die einst zur Ausstattung des täglichen Lebens gehörten. Je nachdem können die inhaltlichen Schwerpunkte unterschiedlich ausfallen, Gewichtungen getroffen und Interpretationen angeboten werden. Auf eines der damit verbundenen Probleme hat Martin Sabrow hingewiesen, indem er die kaum miteinander verbundene, auch konfligierende Gedächtnisbildung mit den Begriffen Diktaturgedächtnis, Arrangementgedächtnis und Fortschrittsgedächtnis charakterisiert hat.1 Auch mit Blick auf die inzwischen breit ausgebaute Geschichtsschreibung zeigen Überblicksdarstellungen,

wie unterschiedlich die Perspektiven auf die DDR sein können, auch, weil sie auf so unterschiedliche Quellen wie staatliches beziehungsweise SED-eigenes Schriftgut, mündliche Geschichte oder gar eigene Erinnerung zurückgreifen.2 Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass die materielle Kultur des Landes, das, was hier seine Dingausstattung genannt werden soll, nicht thematisiert wird. Damit bleibt für die historische Analyse eine der grundlegenden lebensweltlichen Voraussetzungen außer Acht, die nicht nur alltagspraktische, sondern auch soziale, wirtschaftliche, kulturelle und nicht zuletzt politische Auswirkungen hatte. Dieses Feld bleibt bislang den Museen überlassen, deren »Geschichtsschreibung« sich medial in Ausstellungen ausdrückt und deren Sammlungen als Quellenfundus für eine »Zeitgeschichte in der Erweiterung« unabdingbar sind. So banal es klingen mag: Ohne Dinge bleibt der reine Gedanke. Allerdings wird auch auf dem Feld des Materiellen der zeitgeschichtliche Übergang von Gegenwart zu Vergangenheit deutlich. Weil die Sammlungen in den Museen immer nur einen Ausschnitt vergangener materieller Kultur geben können, stellt sich damit zum einen die Frage nach ihrer Repräsentativität, ob sie also einen adäquaten Eindruck einer vergangenen Dingausstattung der Gesellschaft bereitstellen können. Zum anderen werden die Dinge erklärungsbedürftiger: Das, was durch Gebrauch 10

Schaufenstergestaltung für Herrenbekleidung zum ­Maifeiertag, Kaufhaus »­Magnet«, Eisenhüttenstadt, 1968 (Foto: Fricke).

2  Vgl. als Beispiele für deutlich unter-

scheidbare Perspektiven Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR 1949–1990, 3., vollst. überarb. u. stark erw. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2013; Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 1998; Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008 (engl. 2005).

und Kommunikation als Objektwissen und -bedeutung Teil einer lebensweltlichen Praxis war, wird im Rückblick weniger (selbst) verständlich. Drittens schließlich verändern sich die Perspektiven des Interesses an den Dingen fortlaufend. Die hier angerissenen Fragen liegen dem vorliegenden Buch zugrunde. Im Vordergrund stehen Fragen nach den Möglichkeiten und der Reichweite materieller Kultur für eine zeitgeschichtliche Analyse, die durch exemplarische Untersuchungen an den materiellen Hinterlassenschaften erfolgt und die sich heute – 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution, dem Zusammenbruch der DDR und, damit verbunden, der Auflösung ihrer Gesellschaft und Lebenswelt – in einer musealen Sammlung wiederfinden. Die Perspektive ist dabei eine doppelte: Was kann materielle Kultur zu einer zeitgeschichtlichen Forschung beitragen und wie können materielle Objekte dafür als Quellen aufgeschlossen werden? Sowie: Wie weit tragen Museen als »materielle Archive« und was macht ihre besondere Qualität im Rahmen eines historischen Blicks auf Gesellschaft aus? In den folgenden Abschnitten wird dazu einleitend das Feld umrissen, auf dem sich die Untersuchung der »Dinge in der Zeitgeschichte« bewegt und das den Rahmen für die Beiträge dieses Bandes bildet.

3  In Anlehnung an Hans Linde: Sachdomi-

nanz in Sozialstrukturen, Tübingen 1972. 4  Sigfried Giedion: Die Herrschaft der

Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1987 (engl. 1948). 5  Vgl. u. a. Heinz-Gerhard Haupt, Claudius

Torp (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main/New York 2009; Alon Confino, Rudy Koshar: Régimes of Consumer Culture: New Narratives in Twentieth-Century German History, in: German History 19 (2001), H. 2, S. 135–161; Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017; Sheryl Kroen: Der Aufstieg des Kundenbürgers? Eine politische Allegorie für unsere Zeit, in: Michael Prinz (Hg.): Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn/ München/Wien/Zürich 2003, S. 533–564.

Die Dingausstattung der DDR Für eine Beschreibung dessen, was in der DDR an materieller Kultur vorhanden war, wird der Begriff der Dingausstattung gewählt.3 Er bezieht sich auf die physische Seite der Gesellschaft in ihrem alltäglichen Vorkommen und ihren Dingarrangements in Haushalten, Betrieben, Geschäften und auf der Straße. Gemeint ist mithin zweierlei: ein Blick auf die materielle Kultur aktueller oder latenter Gebrauchsgegenstände sowie der materielle Rahmen von Gesellschaft. Dingausstattung ist kein historiografischer Begriff, sondern greift auf eine soziologische Perspektive zurück: den von Alltagsphänomenen ausgehenden Analyseansatz Georg Simmels sowie auf Sigfried Giedions Ansatz einer anonymen Geschichte, dessen Grundlage die Alltagsdinge sind, die zu einer »Herrschaft der Mechanisierung« geführt hätten,4 also auf ein vom Materiellen ausgehendes Verfahren. Die Dingausstattung ist also gegenwartsbegleitend und zugleich historisch situiert und hat zur Herausbildung von Gesellschaften geführt, in denen der Mangel an Gütern über einen langen Zeitraum in ein Überangebot umgeschlagen ist. Dafür hat sich der Begriff Konsumgesellschaft etabliert,5 der nicht al11

lein das ausreichende Vorhandensein materieller Güter meint, sondern auch ein Paradigma, mit dem ein Gesellschaftsvertrag charakterisiert wird. Für die Bundesrepublik, wie für weite Teile Westeuropas, wird dieser qualitative Umschlag auf die 1950er bis 1970er Jahre datiert.6 Für die DDR lässt sich hinsichtlich der Ausstattung mit Gütern eine verzögerte Parallelentwicklung ausmachen,7 jedoch unter anderen politischen Voraussetzungen. Während im Westen die Verbindung von Konsumversprechen und parlamentarischer Demokratie Basis für die politische und ökonomische Rekon­struktion nach dem Zweiten Weltkrieg war, gilt für die DDR, und auch die anderen Staaten des Ostblocks, das Paradigma der Versorgung und planwirtschaftlichen Prämissen, das allerdings angesichts der Vorbildfunktion der Bundesrepublik auch unter dem Zwang eines konsumbezogenen Leistungsvergleichs stand.8 Konsumorte Das Verständnis der DDR als planwirtschaftliche, von Mangel geprägte Gesellschaft speiste sich nach 1990 nicht zuletzt aus Fotografien ihrer Warenpräsentation. Kaufhallen und Schaufenster belegten ganz augenscheinlich zweierlei: die Anhäufung immergleicher Waren in einem wenig Kaufanreiz bietenden funktionalen Ambiente sowie die Verbindung des Konsumangebots mit den aktuellen politischen Zielen des Staates. Es ist jedoch Skepsis angebracht, ob diese individuellen Repräsentationen der Konsumumgebung ein verlässliches Bild zeigen. Schaufenster wurden, wenn sie nicht vor dem Hintergrund einer kritischen Bestandsaufnahme des Zustands der DDR in den 1980er Jahren entstanden sind, vor allem im Zuge von Wettbewerben um eine gelungene Schaufenstergestaltung dokumentiert. Die Fotografien hatten mithin den Zweck, ein gewünschtes Idealbild zu belegen.9 Auch Aufnahmen aus Kaufhallen zeigen eine solche Perspektive, sie waren oft Werbeaufnahmen und sie zeigen lediglich einen Ausschnitt aus der Breite der Konsumorte, nämlich die seit den 1960er Jahren eingeführten Selbstbedienungsgeschäfte, wie sie vor allem in größeren Städten und Neubaugebieten errichtet worden waren.10 Sie verweisen auf die Modernisierungs- und Rationalisierungstendenzen des Handels. Von ihren spezifischen Dingausstattungen – Warenträger, Hinweisschilder, Werbeplakate, Verpackungen – ist das wenigste erhalten geblieben und eine historische Untersuchung muss von den partiellen Repräsentationen ausgehen, die uns, neben den oben genannten Fotografien,11 heute zur Verfügung stehen.

12

6  Wolfgang König: Die siebziger Jahre als kon-

sumgeschichtliche Wende in der Bundesrepublik, in: Konrad Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 84–99; Michael Wildt: Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt am Main 1996. 7  Vgl. hierzu Christopher Neumaier, Andreas

Ludwig: Individualisierung der Lebenswelten. Konsum, Wohnkultur und Familienstrukturen, in: Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 239–282; Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999. 8  Patricia Hogwood: »Red is for Love …«:

Citizens and Consumers in East Germany, in: Jonathan Grix, Paul Cooke (Hg.): East German Distinctiveness in a Unified Germany, Birmingham 2002, S. 45–60; Milena Veenis: Material Phantasies: Expectations of the Western Consumer World among East Germans, Amsterdam 2012. Einführend André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, aktual. u. bearb. Neuausg., Berlin 2007. 9  Katherine Pence: Schaufenster des sozia-

listischen Konsums. Texte der ostdeutschen »consumer culture«, in: Alf Lüdtke, Peter Becker (Hg.): Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 91–118. 10  Die verschiedenen Ausprägungen des

Dorfkonsums sowie die bestehenden »Tante-­ Emma-Läden« geben ein anderes Bild. 11  Hinzu kommen mit Blick auf das Kon-

sumgüterangebot, nicht jedoch auf seine tatsächliche Verfügbarkeit, die Versandhauskataloge der staatlichen Handelsorganisation (HO) und der Konsumgenossenschaften, die es zwischen 1956 und 1975 gab. 12  Georg C. Bertsch, Ernst Hedler, Matthias

Dietz: SED. Schönes Einheits Design, Köln 1990. Die dem Buch zugrunde liegende Ausstellung war eine Reaktion auf die Präsentation des offiziellen DDR-Designs im Design Center Stuttgart 1988, vgl. Amt für Industrielle Formgestaltung (Hg.): Design in der DDR. Projekte, Prozesse, Produkte. Materialien zu einer Ausstellung, Berlin (DDR) 1988. 13  Während die Warenkultur des Westens

in der DDR durch »Westpakete«, Intershop und Fernsehwerbung durchaus präsent war. 14  Vgl. Gewerbemuseum Basel, Museum

für Gestaltung (Hg.): Keinen Franken wert. Für weniger als einen Franken (Ausstellungskatalog), Basel 1987. Staunen war auch Ausgangspunkt für eine Sammlung von Alltagsobjekten der ehemaligen Ostblockländer, aus der 2002 das Wende Museum in Los Angeles hervorging, vgl. Justinian Jampol (Hg.): Beyond the Wall – Jenseits der Mauer. Art and Artifacts from the GDR – Kunst und Alltagsgegenstände aus der DDR, Köln 2014.

15  Monika Flacke: Alltagsobjekte der ehe-

maligen DDR. Zur Sammeltätigkeit des Deutschen Historischen Museums, in: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hg.): Probleme der Musealisierung der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte. Dokumentation einer Tagung des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung und der Hans-Böckler-Stiftung, Essen 1993, S. 57–61; Dieter Pesch, Sabine Thomas-Ziegler: Alltagsleben in der DDR. Vom Zusammenbruch des Dritten Reiches bis zur Wende, Köln, Bonn 1991 (Führer und Schriften des Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde in Kommern, Bd. 44). 16  Vgl. Deutsches Hygiene-Museum (Hg.):

Schmerz laß nach. Drogerie-Werbung in der DDR (Ausstellungskatalog), Berlin 1992. 17  Teils organisiert im Verein zur Doku-

mentation der DDR-Alltagskultur, Berlin; als Beispiel für die Spezialisierung dieser Privatsammlungen und ihre Kontextualisierung vgl. Ulrich Giersch (Hg.): Freude am Einkauf. Papiertüten in der DDR, Berlin 2015. 18  Vgl. Jonathan Bach: Die Spuren der DDR.

Von Ostprodukten bis zu den Resten der Berliner Mauer, Ditzingen, Stuttgart 2019 (engl. 2017), S. 68; das Übersichtsfaltblatt Alltag in der DDR. DDR-Museumsführer 2011 von Rügen bis zum Erzgebirge, listet ca. 30 Museen auf, die allerdings sehr unterschiedliche Schwerpunkte aufweisen. 19  Angela Jannelli: Wilde Museen. Zur Museo-

logie des Amateurmuseums, Bielefeld 2012. 20  Zum Begriff vgl. Maurice Halbwachs: Das

kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1985 (frz. 1939/1950); Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 21–61. 21  Pierre Nora: Zwischen Geschichte

und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte, in: ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11–33. 22  Manfred Sommer: Sammeln. Ein philo-

sophischer Versuch, Frankfurt am Main 2002; Justin Stagl: Homo Collector: Zur Anthropologie und Soziologie des Sammeln, in: Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen 1998, S. 37–54. 23  Zum Begriff Walter Benjamin: Der Sammler,

in: ders.: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920–1940, hrsg. von Sebastian Kleinschmidt, Leipzig 1984, S. 86–88. 24  Thomas Thiemeyer: Das Depot als

Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken, Köln/Weimar/Wien 2018. Allerdings ist auch das ursprünglich in volkskundlichen Museen angewandte »Stubenprinzip« verbreitet.

Musealisierung Versetzen wir uns in die Situation des Jahres 1990. Während Konsumgüter aller Art in den Geschäften der noch bestehenden DDR zu vergünstigten Preisen angeboten wurden, sammelten Interessierte sie bereits. Ein frühes Beispiel für solche Aktivitäten einer Umwertung in Form einer kulturellen Konnotation ist die Publikation »SED. Schönes Einheits Design«, die, auf einer Ausstellung von 1989 beruhend, in den frühen 1990er Jahren das Bild der DDR-Alltagskultur maßgeblich geprägt hat.12 In ihr wurden Alltagsgüter abgebildet, die, aus westdeutscher Perspektive, aufgrund ihrer Andersartigkeit und teilweise historisch anmutenden Gestaltung Interesse erregt hatten. Ausstellung und Buch zeigten durch Einzelobjekte das Bild einer Konsumgesellschaft, wenn auch nicht der eigenen, und bedeuteten die asymmetrische Konfrontation mit einer zugleich unbekannten wie ähnlichen Warenkultur,13 die zugleich auf ein breiteres Interesse an Konsumkultur und an einer Kritik der Warenförmigkeit verweist.14 Weitere Beispiele für frühe Musealisierungsaktivitäten sind eine Aktion zur Sammlung von DDR-Gebrauchsgütern durch das Deutsche Historische Museum oder die Musealisierung einer kompletten DDR-Wohnung aus dem Gebrauch heraus durch das Rheinische Freilichtmuseum Kommern.15 Es waren jedoch besonders die privaten Sammler, die durch die allgegenwärtige Entsorgung der DDR-Relikte angeregt wurden und ihre Sammlungen öffentlich präsentierten.16 Aus dieser Gruppe heraus17 entstanden die sogenannten DDR-Museen, deren Zahl auf über 20 geschätzt wird.18 Die Gründung solcher »wilder« Museen19 zeigt zum einen das Interesse an einer Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte aus einer lebensweltlichen Perspektive, sind diese Museen doch Materialisierungen eines kollektiven Gedächtnisses,20 indem sie auf Bekanntes rekurrieren. Sie sind damit zugleich Grenzgänge einer Erinnerungskultur, die zwischen den »milieux de mémoire« der generationellen Erinnerung und den »lieux de mémoire« des kulturellen Gedächtnisses angesiedelt sind.21 Zum anderen spiegeln die privaten DDR-­Museen eine ursprüngliche Form des Sammelns, also des Aufsammelns und Zusammentragens wider,22 dessen Expertenwissen lebensweltlich grundiert ist und dessen Interesse hierarchiefrei zu sein scheint: Alles ist wichtig, solange es aus der DDR stammt. Aus ihm kann eine »magische Enzyklopädie« erwachsen, also ein durch Sammlung entstehendes Ordnungssystem.23 Systematisierungsansätze, wie sie sich in den Expositionen dieser Museen finden, sind zumeist typologisch und spiegeln so die Tektonik des Sammlungsdepots.24 Sie sind Schatzkammern im Sinne einer Neugier auf das Zusammengetragene und des Staunens 13

über eine Warenwelt, Schatzkammern privater Geschichtsaneignung durch Dinganeignung. Sie als Ausdruck von »Ostalgie«, von Trauerarbeit oder von Alternativdeutungen der DDR-Geschichte zu interpretieren25 dürfte Motivation und Genese dieser Sammlungen weniger zutreffend erfassen als ein entstehendes Bewusstsein über die plötzliche Historizität einer Alltagswelt, deren Verschwinden mit Sammeln und Musealisierung beantwortet wird, ein Prozess, der unter dem Begriff der Kompensation verhandelt wird.26 Gesammelt und ausgestellt wird »Alltag«. Gemeint sind damit einerseits Objekte des Gebrauchs und andererseits die Behauptung, mit ihrer Präsentation könne ein Einblick in das »wirkliche Leben« geboten werden. Das Alltagsparadigma dieser »wilden« DDR-Museen folgt damit einem generellen Trend der Hinwendung zu einer »Geschichte von unten«, seit den 1980er Jahren in der Bundesrepublik wie in der DDR.27 Im Westen erfolgte sie unter anderem durch die inhaltliche Erneuerung und die Modernisierung der Präsentationsformen der Heimatmuseen28 sowie durch die in ihrer Gründungsphase befindlichen Industriemuseen.29 In der DDR entstand zeitgleich eine Ausstellung, aus der dann das Museum Arbeiterleben um 1900 hervorging.30 Die Musealisierung der Alltagskultur wurde nach 1990 auf die DDR übertragen. Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob das Alltagsparadigma durch die wilden DDR-Museen und ihre zumeist nichtakademischen Initiatoren bewusst rezipiert wurde, als Schlagwort genügte es jedoch, um das Sammeln solcher Objekte zu legitimieren und die außer Gebrauch geratene Massenkultur mit einer kulturell-historischen Bedeutung zu belegen. Auf lange Sicht hat sich »Alltag« als museale Kategorie in Bezug auf die DDR jedoch durchgesetzt, wenn auch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und vor allem nicht nur in den »wilden« Museen. Die museale Darstellung der DDR durch Alltagsgegenstände war Kern der Dauerausstellung und zugleich Sammlungsansatz des 2006 gegründeten und privat finanzierten DDR-Museums in Berlin. Im gleichen Jahr wurde die Novelle der Gedenkstättenkonzeption des Bundes verabschiedet, die die Alltagsperspektive auf Empfehlungen einer Expertenkommission hin in den Kanon förderungswürdiger Themen aufnahm.31 Als unmittelbare Folge dieser thematischen Öffnung gründete das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Berlin das Museum in der Kulturbrauerei, dessen Dauerausstellung »Alltag in der DDR« heißt.32 Mit diesem inflationären Gebrauch des Alltagsbegriffs ist in den Hintergrund geraten, dass es sich beim Alltagsparadigma nicht 14

25  Daphne Berdahl: ›(N)Ostalgie‹ for the

Present: Memory, Longing, and East German Things, in: Ethnos 64 (1999), H. 2, S. 192–211; Thomas Ahbe: Ostalgie als Laienpraxis. Einordnungen, Bedingungen, Funktion, in: Berliner Debatte INITIAL 10 (1999), H. 3, S. 87–97; Martin Blum: Remaking the East German Past: Ostalgie, Identity, and Material Culture, in: The Journal of Popular Culture 34 (2000), H. 3, S. 229–253; Paul Betts: The Twilight of the Idols: East German Memory and Material Culture, in: The Journal of Modern History 72 (2000), H. 3, S. 731–765; Nicolas Offenstadt: Le pays disparu. Sur les traces de la RDA, Paris 2018. Zur Musealisierung als Trauerarbeit vgl. Charity Scribner: Requiem for Communism, Cambridge, Mass./London 2003; eine Alternativdeutung zeigt Bach, Spuren, S. 58 ff. 26  Zur Kompensationstheorie vgl. Her-

mann Lübbe: Der Fortschritt von gestern. Über Musealisierung als Modernisierung, in: Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter, Jörn Rüsen (Hg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 13–38. 27  Zur DDR vgl. Jürgen Kuczynski: Geschichte

des Alltags des deutschen Volkes, 6 Bde., Berlin (DDR) 1980–1985; Sigrid und Wolfgang Jacobeit: Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes, 2 Bde., Leipzig, Jena, Berlin 1985 u. 1987; dies.: Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutschlands. 1900–1945, Münster 1995. 28  Vgl. zur Diskussion dieses Museumstyps

Gottfried Korff: Die Popularisierung des Musealen und die Musealisierung des Popularen, in: Gottfried Fliedl (Hg.): Museum als soziales Gedächtnis? Kritische Beiträge zu Museumswissenschaft und Museumspädagogik, Klagenfurt 1988, S. 9–23; Oliver Bätz, Udo Gößwald (Hg.): Experiment Heimatmuseum. Zur Theorie und Praxis regionaler Museumsarbeit, Marburg 1988. 29  Museum der Arbeit (Hg.): Europa

im Zeitalter des Industrialismus. Zur »Geschichte von unten« im europäischen Vergleich, Hamburg 1993. 30  Erika Karasek u. a.: Großstadtproletariat.

Zur Lebensweise einer Klasse (Ausstellungskatalog Museum für Volkskunde), Berlin (DDR) 1983. Das aus dieser Ausstellung entstandene Museum Berliner Arbeiterleben um 1900 widmete sich in den Jahren nach 1990 dem DDR-Alltag und bestand bis 1995. 31  Verantwortung wahrnehmen, Auf-

arbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 19. Juni 2008. Deutscher Bundestag, Drs. 16/9875; Die Arbeit der 2005/06 tagenden Expertenkommission ist dokumentiert in Martin Sabrow u. a. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007. 32  Hans Walter Hütter: Alltag in der DDR.

Neues Museum in der Kulturbrauerei, in: museumsmagazin 4/2013, S. 6–11.

um einen thematischen, sondern um einen theoretischen Zugriff auf Geschichte handelt. In diesem Zusammenhang war ein wesentliches Argument der Alltagsdebatte in der Bundesrepublik das Quellenproblem. Eine »Geschichte von unten« konnte, so die Argumentation, mittels offizieller Dokumente nur indirekt geschrieben werden, weshalb mündliche, bildliche und eben auch materielle Quellen in die Forschungsarbeit integriert wurden, was sich nicht zuletzt auf die Attraktivität von Lokalmuseen und auf das wesentlich auf Bildern und Objekten beruhende Medium der Ausstellung als Darstellungsform auswirkte. Hinzu kam, dass sich Alltagsgeschichte zum guten Teil auf Zeitgeschichte bezog, die Quellen also gleichsam noch in den Schränken und auf der Straße lagen.

33  Andreas Ludwig: »Objektiv vor diese Aufgabe

gestellt sind wir natürlich durch diese Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das steht fest.« Beobachtungen in Heimatmuseen der früheren DDR, in: WerkstattGeschichte 1, 1992, S. 41–45; Thalia Gigerenzer: Gedächtnislabore. Wie Heimatmuseen in Ostdeutschland an die DDR erinnern, Berlin 2013. 34  Vgl. dafür den Tagungsband Katharina

Flügel, Wolfgang Ernst (Hg.): Musealisierung der DDR? 40 Jahre als kulturhistorische Herausforderung, Bonn 1992. 35  Andreas Ludwig: Alltag, Geschichte

und objektbezogene Erinnerung. Bemerkungen zur Konzeption eines Museums der Alltagskultur der DDR, in: ders., Gerd Kuhn (Hg.): Alltag und soziales Gedächtnis. Die DDR-Objektkultur und ihre Musealisierung, Hamburg 1997, S. 61–81. 36  Der Begriff der Alltagskultur verweist

hier auf das im Gebrauch Befindliche.

Auch die Gründung des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, auf dessen Sammlungsbeständen die Beiträge des zweiten und dritten Teils dieses Bandes beruhen, ist Teil dieses langen Prozesses der Etablierung von Alltag als thematischer Kategorie, als Herangehensweise und als Perspektive. Einerseits wurden die Impulse der Diskussionen um Alltagsgeschichte in der Bundesrepublik aufgenommen, andererseits ist die Gründung des Museums eine Reaktion auf eine unmittelbare Abwendung der Museen in der ehemaligen DDR von der jüngsten Zeitgeschichte. Mit dem Ende der DDR lässt sich nämlich zunächst ein gegenläufiger Prozess beobachten. Die gewiss der offiziellen Geschichtsinterpretation folgenden zeitgeschichtlichen Ausstellungsabteilungen der historischen Museen der DDR wurden geschlossen und das Thema DDR, mit Fokus auf dessen Alltagskultur, erst 1999 zum zehnten Jahrestag der Friedlichen Revolution wieder aufgegriffen. Diese Entwicklung wird heute verstärkt als eine Funktion der Stadt- und Heimatmuseen als »Gedächtnislabore« interpretiert.33 Diese nach 1990 zunächst vermiedene Auseinandersetzung mit der DDR34 und das Pro­blem nicht vorhandener Quellen oder, mit Blick auf die Museen, nicht gesammelter Objekte waren Auslöser für einen Neuansatz: die Gründung des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, das sich als museales Dingarchiv und damit als dokumentarische Basis für Öffentlichkeit und Forschung verstand.35 Neben den in den Museen der DDR gesammelten zeit­ geschichtlichen Objekten und Dokumenten entstanden also nach 1990 museale Sammlungen mit einem Fokus auf die Alltagskultur, die eine Musealisierung aus dem Gebrauch heraus bedeuteten.36 Damit waren und sind theoretische Fragen nach der Funktionsweise der Dinge als Quelle und der Integration materieller Kultur in die (Zeit-)Geschichte verbunden, auf die im Folgenden eingegangen wird. 15

Materielle Kultur und Geschichte Ausgehend von der Annahme, dass Dinge konstitutiv nicht nur für individuelle lebensweltliche Praktiken, sondern auch für die von Gesellschaften sind, gelten die folgenden Abschnitte der Frage, wie solche Mensch-Ding-Gesellschaft-Beziehungen37 in der wissenschaftlichen Debatte thematisiert werden. Die Diskussionen um materielle Kultur haben seit den 1980er Jahren an Intensität zugenommen. Theoretische wie methodische Impulse kamen aus der Archäologie, der Volkskunde beziehungsweise empirischen Kulturwissenschaft, der Ethnologie, der historischen Anthropologie, der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und, als interdisziplinäre Herangehensweise, den Material Culture Studies.38 Wenn diese Ansätze im Folgenden kurz skizziert werden, so liegt dem eine geschichtswissenschaftliche Fragestellung zugrunde, die sich auf die Qualität der materiellen Kultur als Quelle bezieht. Die von Johann Gustav Droysen eingeführte Unterscheidung zwischen Dokument und Überrest,39 also zwischen intentional verfasster und nichtintentionaler Geschichtsquelle, impliziert, dass solche »Überreste« einerseits ursprünglicher in dem Sinne sind, dass ihnen keine explizite Wirkungsabsicht unterstellt wird, dass sie andererseits aber auch nur Verweise auf Geschichte enthalten, die es zu entschlüsseln gilt. Die durch Lorraine Dastons einflussreiches Buch viel zitierte Aussage »Things that talk«40 muss also dahingehend präzisiert werden, dass sie nicht von sich aus sprechen, sondern zum Sprechen gebracht werden müssen. Ihr Aussagewert für eine historische Kultur oder Gesellschaft beruht also auf ihrer Analyse und Kontextualisierung. Zunächst gilt es zu unterscheiden, ob Dinge in Augenschein ­genommen werden, die in Gebrauch sind, oder solche, die bereits gesammelt, archiviert, musealisiert sind. Letztere sind im Droysen’schen Sinne keine »Überreste« mehr, sondern gewissermaßen »Prozess-Objekte«. Sie wurden zusammengetragen, um Wissen zu generieren oder Bedeutung nachzuweisen. Sammlungen als Grundlage von Wissensproduktion41 – gleich ob sie im Aufbau befindlich oder bereits abgeschlossen und damit ­historisch sind – sind prozessorientiert. Zettelkästen, Zeitungsausschnittsammlungen, Objektsammlungen wurden angelegt, um Forschungsfragen nachzugehen und Wiederbefragungen zu ermöglichen. Die ­Objekte sind dabei epistemische Dinge, »Er­kenntnisobjekte«,42 deren Erforschung tendenziell nie ab­ geschlossen ist. Ein solches Konzept der Wissensproduktion aus Gegenständen der materiellen Kultur durch Neubefragung wird in der aktuellen Museumsdiskussion als reflexive Museologie ­diskutiert. Damit ist eine Prüfung der Sammlungsobjekte, ihrer Dokumentation und der Routinen ihrer Bewertung gemeint, 16

37  Die für die Auseinandersetzung

mit materieller Kultur zugrunde gelegte Mensch-Ding-Beziehung wird also um das Gesellschaftliche erweitert. 38  Stefanie Samida, Manfred K.H. Eggert, Hans

Peter Hahn (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/ Weimar 2014; Dan Hicks, Mary C. Beaudry (Hg.): The Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010; Chris Tilley u. a. (Hg.): Handbook of Material Culture, London u. a. 2006. Einen historischen Überblick über die Entwicklung der Material Culture Studies bietet Adrienne D. Hood: Material Culture: the object, in: Sarah Barber, Corinna M. Peniston-Bird (Hg.): History Beyond the Text. A student’s guide to approaching alternative sources, London/New York 2009, S. 176–198. 39  Johann Gustav Droysen: Historik, Bd. 1:

Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen Fassung (1857/58) und der letzten gedruckten Fassung von 1882, Stuttgart-Bad Cannstadt 1977. 40  Lorraine Daston (Hg.): Things

that Talk: Object Lessons from Art and Science, New York 2004. 41  Anke te Heesen, E.C. Spary: Sammeln

als Wissen (Einleitung), in: dies. (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001, S. 7–21. 42  Gottfried Korff: Von Saubohnen,

Kaffeelöffeln und epistemischen Dingen. Positionen und Perspektiven der Sachkulturforschung Wolfgang Jacobeits, in: Zeitschrift für Volkskunde 107 (2011), H. 2, S. 171–193, S. 188. Der Begriff der epistemischen Dinge geht auf Jörg Rheinberger zurück.

43  Ulfert Tschirner: Sammlungsarchäologie.

Annäherung an eine Ruine der Museumsgeschichte, in: Kurt Dröge, Detlef Hoffmann (Hg.): Museum revisited. Transdisziplinäre Perspektiven auf eine Institution im Wandel, Bielefeld 2010, S. 97–112. 44  James Clifford: Sich selbst sammeln,

in: Gottfried Korff, Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main/ New York, Paris 1990, S. 87–106, S. 91 ff. 45  Regine Falkenberg, Thomas Jander (Hg.):

Assessment of Significance. Deuten – Bedeuten – Umdeuten, Berlin 2018. 46  Michael Fehr: Müllhalde oder Museum.

Endstationen in der Industriegesellschaft, in: ders., Stefan Grohé (Hg.): Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 182–196, mit Bezug auf Michael Thompson: Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981. 47  Ulrike Langbein: Geerbte Dinge. Soziale

Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 24. 48  Thompson, Theorie, S. 24. 49  Igor Kopytoff: The Cultural Biography

of Things. Commodization as Process, in: Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 64–91.

die die Sammlungsarbeit von Museen ausmacht.43 Die Hypothese ist, dass (museales) Sammeln bereits Bewertungen impliziert, die eine Präformation des Wissens bedeuten.44 Dinge werden erstens unter fachspezifischen Fragestellungen gesammelt, für die sie dann als Beleg gelten, und zweitens wird diese Bedeutungszuweisung mitsamt ihren möglichen Interpretationsfehlern fortgeschrieben, weil die Dinge in eine Sammlungssystematik eingeordnet werden.45 Wenn die Dinge nicht als »epistemische« interpretiert und genutzt werden, beschränkt sich ihr kultureller Wert auf den Befund einer historischen Bedeutungszuweisung, auf Tradierung. Gesammelte, geordnete, musealisierte materielle Kultur gewinnt also durch (Neu-)Befragung ihren Wert als historische Quelle. Dies geschieht allerdings auf Grundlage einer selektiven Überlieferung, die, besonders mit Blick auf die Alltagskultur, den Weg vom Gebrauchsgegenstand zum kulturellen Objekt über eine »Müllphase« der völligen Entwertung nimmt.46 Für die DDR gilt weniger der Aspekt des mit diesem Konzept verbundenen Funktionsverlustes im Gebrauch als vielmehr der einer temporären kulturellen Entwertung der Konsumgüterausstattung im Zuge des Systembruchs 1990. Die »Müllphase« erweist sich hier nicht als Teil einer zeitlichen Abfolge, sondern als Gleichzeitigkeit zweier Prozesse, der Entsorgung und der Wiederaufwertung. Die Musealisierung des DDR-Alltags ist Teil einer kulturellen Neuinterpretation durch kuratorische Entscheidungen in den Museen. Da die musealen Alltagssammlungen zum Teil auf Schenkungen aus der Bevölkerung beruhen, ist zudem von einer intentionalen Traditionsbildung auszugehen, die sowohl eine soziale Reproduktion von Individuen47 und ihres nunmehr als »Geschichte« interpretierten früheren Umfelds bedeutet als auch eine soziale Kontrolle über die damit verbundenen Werte und Erfahrungen intendiert.48 Dennoch haben auch diese gesammelten Dinge etwas »Überrestliches«, indem sie ihren ursprünglichen Gebrauchszusammenhang nicht zwangsläufig preisgeben. Dies gilt insbesondere für die Alltagskultur, bei der ein Nutzwert im Vordergrund zu stehen scheint. Forschungen zur Designgeschichte, zur Konsumkultur und zum »Lebenslauf der Dinge«49 haben jedoch gezeigt, dass ein solcher Nutzwert vielschichtig und veränderlich sein kann. Diese Polyvalenz der Objekte erhält sich auch in präformierten Museums- und Forschungssammlungen, die somit lediglich eine von mehreren zeitlichen Schichten einer Dingpräsenz bedeuten. Es liegt nahe, dass Droysen mit seinem Begriff der Überreste weniger solche Sammlungen als vielmehr die Relikte einer historischen Zeit gemeint hat, gleich ob fundortgebunden oder in Sammlungen. 17

Lebenslauf der Dinge Unter der Breite der Zugriffe auf die materielle Kultur, die von der Archäologie, der Soziologie, der Ethnologie/empirischen Kulturwissenschaft sowie der historischen Anthropologie entwickelt worden sind und die sich seit einigen Jahren zu einem »material turn« (Dan Hicks) verdichtet haben, scheint das Konzept des »Lebenslaufs der Dinge«50 für einen historischen Zugriff naheliegend, denn es situiert die zunächst unüberschaubar scheinende Polyvalenz der Dinge in Zeit und Raum. Planung, Entwicklung und Konstruktion, Produktion, Distribution, Werbung und Warenpräsentation, Kauf und Gebrauch, Nutzung und Umnutzung, Bewertungen sowie schließlich ihre Außergebrauchnahme und Lagerung, ihre Entsorgung oder Zerstörung markieren die unterschiedlichen Stadien des Gebrauchs der Objekte materieller Kultur sowie ihre Situierung im privaten Umfeld und in der Gesellschaft. Dabei wechseln mit den Zeiten die Orte, vom Konstruktionsbüro und Werbeatelier in die Fabrik, zum Großhandel und in die Geschäfte, von dort in die Haushalte, Büros und Kindergärten und schließlich, über Keller, Dachböden und Lauben, auf die Mülldeponie, in den Antiquitätenhandel oder eben ins Museum. Damit bekommen die Objekte der industriellen Massenproduktion ein Itinerar ihres »Lebenslaufs«, zugleich aber auch unterschiedliche Rollen: Sie sind Produkt, Ware, Besitz, Gebrauchsgegenstand oder Erinnerungsstück, Relikt und Quelle. In der Forschung wird unter dem Begriff des Lebenslaufs Unterschiedliches verstanden. Im Zentrum stehen die Mensch-DingBeziehungen als eine Form der Kulturanalyse,51 die von einer gegenseitigen Beeinflussung ausgeht. Die Beziehung der Menschen zu den Dingen besteht aus Vorstellungen, Erfahrungen, Kenntnissen und Erinnerungen, die sich akkumulieren und Gebrauchsweisen und Dingbedeutungen hervorbringen. Funktionale und emotionale Aspekte fließen hier ineinander.52 Einflussreich ist die Theorie einer »agency«, die den Dingen einen der menschlichen Aktivität gleichwertigen Einfluss auf Handlungen zuschreibt,53 wenn nicht gar aufzwingt. Es gilt deshalb zu bedenken, dass Dinge auch einen spezifischen Gebrauch nahelegen, weil sie als Artefakte Werkzeuge sind, derer man sich bedient oder die umfunktioniert werden. In unserem Zusammenhang sind diese Dingkonzepte jedoch auch problematisch, weil sie stark von einem Handlungsbezug der Dinge ausgehen, das heißt ihren Gebrauch betonen, während ihre »stillgestellte« Existenz, sei es im Keller, als Vitrinenschmuck oder im Museum, unterschiedliche Zustände des Erinnerns, Vergessens oder der Interpretation in den Vordergrund stellen würde. Mit Blick auf einen »Lebenslauf« und damit eine zeitliche Abfolge soll deshalb an dieser Stelle die bereits 18

50  Der Begriff ist aufgrund seiner Nähe zur

menschlichen Biografie umstritten, teils wird stattdessen »trajectory« (Verlauf ) vorgeschlagen. 51  Chris Gosden, Yvonne Marshall: The

cultural biography of objects, in: World Archaeology 31 (1999), H. 2, S. 169–178, S. 169. 52  Andere Konzepte gehen von den Ding-

assemblagen des Individuums bzw. des Haushalts aus, vgl. dazu Tilmann Habermas: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt am Main 1999; Gert Selle: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, Frankfurt am Main/New York 1997. 53  Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel,

in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 37–51. Vgl. auch Simone Derix, Benno Gammerl, Christiane Reinecke, Nina Verheyen (Hg.): Der Wert der Dinge, Zeithistorische Forschungen 13 (2016), H. 3.

oben erwähnte Mülltheorie als Zeitmodell hervorgehoben werden, weil sie die Zeitphase zwischen Gebrauchsfunktion und Gedächtnisfunktion der materiellen Kultur in den Blick nimmt. Mit Bezug auf die Funktionsbeschreibung der Dinge ist die Unterscheidung zwischen »Interaktionsobjekten« und »Versammlungsobjekten« hilfreich,54 die die Gebrauchsperspektive von Bedeutungen und Bedeutungszuschreibungen unterscheiden hilft. Nicht jedes Objekt der materiellen Kultur wird als Werkzeug benutzt oder als bedeutungsvolles Ding versammelt, die Mehrzahl der Artefakte befindet sich in einem Zustand der Latenz. Gleich, ob materielle Infrastrukturen, raumbezogene Ausstattungen, Ansammlungen55 oder Museumsobjekte, werden die Dinge bei Handlungen aktiviert. Assemblage oder Sammlung »Bedeutung«, die einen so zentralen Platz bei der Analyse materieller Kultur einnimmt, entsteht also erst dadurch, dass einem Ding Aufmerksamkeit zugewendet wird. Dabei bleibt jedoch als Residuum die Frage nach der Vielfalt möglicher Deutungen, also der Perspektiven der Betrachtenden, sowie nach den vielen Dingen, die nicht beachtet werden.

54  Gustav Roßler: Designte Dinge und offene

Objekte. Theorieskizze für ein empirisches Projekt, Berlin 2015, Technical University, Technology Studies, Working Papers, 05/2015, S. 14. 55  Der Begriff umreißt Ansammlungen

von Dingen zum Ge- oder Verbrauch ohne die Absicht einer kulturellen Bedeutung, er steht damit im Gegensatz zur Sammlung. 56  Hans Peter Hahn: Der Eigensinn der Din-

ge – Einleitung, in: ders. (Hg.): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin 2015, S. 9–56. 57  Ebd., S. 34. 58  Judy Attfield: Wild Things: The Material

Culture of Everyday Life, Oxford 2000. 59  U. a. Daniel Miller: Stuff, Cambridge 2010,

S. 7, verweist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit, Recherchen materieller Kultur nicht thesengebunden, sondern offen, durch Nichtwissen getrieben, zu beginnen, vergleichbar dem Spurensucheparadigma, das der Fokus der Beiträge in Teil zwei dieses Bandes ist. 60  Hahn, Eigensinn, S. 50. 61  Katja Böhme, Andreas Ludwig: Lebenswelt-

liche Dingordnung. Zum Quellencharakter musealisierter Alltagsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen 13 (2016), H. 3, S. 530–542.

Um mit Letzterem zu beginnen, sei auf die These vom »Eigensinn« der Dinge verwiesen.56 Damit ist gemeint, dass die materielle Kultur einer Gesellschaft durch ihre »subtile Gegenwart«57 und die Dinge selbst durch ihre Ambivalenz charakterisiert sind. Je nach Situation fungieren sie als Werkzeuge, Erinnerungsdinge, Fetisch oder Produkt. Sie sind »wild things«,58 also Gegenstand potenzieller Adaption und Interpretation. Die Objekte der materiellen Kultur auf eine bestimmte Bedeutung festzulegen – wie dies durch ihre Kategorisierung in Museumssammlungen erfolgen kann – würde bedeuten, andere auszuschließen, was auch Konsequenzen für Auswahl und Methodik bei ihrer Analyse hat.59 Wenn wir materielle Kultur in diesem Buch als Quelle für einen geschichtswissenschaftlichen Zugriff auf Gesellschaft verstehen, entsteht demnach ein Dilemma: Durch die Polysemie, die »Wildheit« der Dinge und ihren Eigensinn eignen sie sich nicht als Beleg, sondern bedeuten eine Möglichkeit. Auflösen lässt sich dies wohl nur durch ein Kenntlichmachen der Perspektive, unter der die Dinge in Augenschein genommen werden,60 der Bedeutung, die sie für unterschiedliche Akteure haben, und durch Aussagen darüber, wie sie im Kontext zu anderen Dingen stehen. Eine dieser möglichen Perspektiven ist der individuelle Dingbesitz, wie am folgenden Beispiel verdeutlicht werden soll.61 Aus einer Schenkung an das Dokumentationszentrum wurde deut19

lich, dass aus der Perspektive der Schenkenden die Dinge drei lebensweltliche Bedeutungen hatten: erstens die Scheidung zwischen Produkten aus der DDR und aus der Bundesrepublik, zweitens eine zwischen Gebrauchsgütern, Erinnerungsobjekten sowie drittens die Entscheidung über musealisierungsfähige und damit kulturelle Objekte. Im Kontext der Dingassemblage62 eines privaten Haushalts – soweit er sich in der Schenkung spiegelt – stehen Objekte der materiellen Kultur der DDR zudem in einer biografischen Schichtung, indem auch ältere »Familienstücke« Teil der Haushaltsausstattung waren. Hier zeigt sich die Synchronität der Herkünfte, der Verwahrung und des Gebrauchs sowie die Einbettung der »DDR-Objekte« in eine längere zeitlich Perspektive. Implizit verweist diese intentionale und zeitlich geschichtete Dingansammlung auch auf die Funktion des Museums, das durch die Übernahme der Schenkung ebenfalls eine Blickfokussierung vorgenommen hat: Aus »Stuff« (Daniel Miller) werden Sammlungs- und Forschungsobjekte und damit die Gegenstände eines kulturellen Gedächtnisses – und damit immer auch Quellen. Das Beispiel stellt aber auch einen vermeintlichen Gegensatz zwischen lebensweltlicher Dingassemblage und durch Aufmerksamkeit fokussierter Sammlung infrage. Dinge sind zwar das »materielle Inventar von Lebenswelt«, haben aber keinesfalls immer den Charakter von Beiläufigkeit.63 Sie sind vielmehr Schichtungen von bewusstem Anschaffen, Entscheidungen von Nichtwegwerfen, von Nutzung und Erinnerung. Material Culture Studies und materielle Geschichte Im vorigen Absatz wurde das Ineinandergreifen verschiedener Zeitschichten, das Nebeneinander materieller Kulturen und die Prozesshaftigkeit von Dingwahrnehmung thematisiert, Themen, die sowohl in den Kulturwissenschaften wie in der Geschichtswissenschaft verhandelt werden. Eine Diskussion der Forschungslandschaft kann hier schon allein aufgrund ihrer Breite und Komplexität nicht erfolgen.64 Hinzuweisen ist jedoch, vor allem im Hinblick auf das Thema dieses Buchs, auf einige grundlegende Punkte. Die Material Culture Studies haben sich als erkennbar eigenständige Perspektive und fachlicher Diskussionszusammenhang spätestens seit den 1990er Jahren herausgebildet, obwohl ihre Ursprünge in Anthropologie, Ethnologie, Archäologie, Folk Studies oder Museologie65 schon länger zurückliegen. Was sie ausmacht, ist deshalb eine explizite Interdisziplinarität66 und ihre strenge Orientierung am materiellen Gegenstand, die sich unter anderem in der namensgebenden Zeitschrift »Journal of Material Culture« zeigt.67 Obwohl die Gegenstände ihrer Untersuchungen äu20

62  Hans Peter Hahn: Von der Ethnographie

des Wohnzimmers – zur »Topografie des Zufalls«, in: Elisabeth Tietmeyer, Claudia Hirschberger, Karoline Noack, Jane Redlin (Hg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, Münster u. a. 2010, S. 9–21; Gert Selle, Jutta Boehe: Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek bei Hamburg 1987. 63  Hahn, Eigensinn, S. 11, S. 14. 64  Sie ist bei Samida/Eggert/Hahn (Hg.),

Handbuch, und Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung, 2., überarb. Aufl., Berlin 2014, dokumentiert. 65  Hier verstanden als museums-

gebundene Forschung. 66  Die Herausgeber bevorzugen den Begriff

»undisciplined«, um die disziplinäre Offenheit der Material Culture Studies hervorzuheben, vgl. Haidy Geismar, Susanne Küchler, Timothy Carroll: Twenty Years On, in: Journal of Material Culture 21 (2016), H. 1, S. 3–7. 67  Erscheint seit 1996 und wird am

Department of Anthropology des University College London herausgegeben.

68  Anke Ortlepp, Christoph Ribbat,

Einleitung, in: dies. (Hg.): Mit den Dingen leben. Zur Geschichte der Alltagsgegenstände, Stuttgart 2010, S. 11. 69  Vgl. bes. Jules David Prown: Mind in

Matter. An Introduction to Material Culture Theory and Method, in: Winterthur Portfolio 17 (1982), H. 1, S. 1–19; Bill Brown: Thing Theory, in: Critical Inquiry 28 (2001), H. 1, S. 1–22; Edward McClung Fleming: Artifact Study. A Proposed Model, in: Thomas J. Schlereth (Hg.): Material Culture Studies in America, Nashville, Tenn. 1987, S. 162–173. 70  Vgl. die von National Museum of Man

in Ottawa herausgegebene Zeitschrift Material History Bulletin, 1976–1990. 71  Vgl. Karen Harvey (Hg.): History and Mate-

rial Culture. A Student’s Guide to Approaching Alternative Sources, London/New York 2009. Beispiele sind Alison J. Clarke: Tupperware: Vorstadt, Gesellschaft und Massenkonsum, in: Ortlepp/Ribbat (Hg.), Dinge, S. 155–186; Kaori O’Connor: Anthropology, Archaeology, History and the Material Culture of Lycra , in: Anne Gerritsen, Giorgio Riello (Hg.): Writing Material Culture History, London u. a. 2015, S. 73–91; Heike Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielfeld 2008.

®

72  Wolfgang Ruppert: Plädoyer für den

Begriff der industriellen Massenkultur, in: Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main/New York 1997, S. 563–582. Vgl. auch ders. (Hg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt am Main 1993. 73  Neue Zürcher Zeitung v. 11./12. Oktober

2003, zit. n. Gottfried Korff: Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen, in: Anke te Heesen, Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 89–107, S. 89. 74  Heinz-Gerhard Haupt, Claudius Torp:

Einleitung: Die vielen Wege der deutschen Konsumgesellschaft, in: dies. (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 9–24, hier S. 10.

ßerst heterogen sind, zeichnen sich diese Untersuchungen alle durch eine genaue »Ding-Lektüre« und eine gesellschaftliche Kontextualisierung aus.68 Vor allem methodisch sind die Ergebnisse im Kontext einer »Zeitgeschichte der Dinge« relevant, weil sie die Aussagefähigkeit(en) der materiellen Kultur durch eine »close description« (Clifford Geertz) ausloten. Das methodische Arsenal der Dinganalyse stammt jedoch weniger aus den neueren Material Culture Studies als aus älteren Ansätzen69 sowie einer museumsnahen, pragmatischen Herangehensweise.70 Die Nähe der Material Culture Studies zur (angelsächsischen) Ethnologie und Anthropologie bedingt eine große zeitliche und regionale Spannbreite und ist dem Verständnis von Kulturen verpflichtet, betrifft aber zeitgeschichtliche Themen seltener, hier vor allem mit einem Blick auf die Auswirkungen der Konsumgesellschaft und auf deren Objekte.71 Das spezifische Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu den Dingen ist deshalb nicht einfach zu bestimmen. Eine Orientierung bieten zunächst zwei Fragen: Welche Historikerinnen und Historiker beschäftigen sich mit materieller Kultur im Rahmen ihrer Forschungen und welche Perspektiven nehmen sie dabei ein? Dinge und Geschichte Die materielle Kultur insgesamt oder einzelne Objekte werden vor allem in der Konsumgeschichte, der Design- und der Technikgeschichte verhandelt. Im Zusammenhang dieses Buches soll der Blick zunächst auf die durch den Industrialisierungsprozess ausgelöste Massenproduktion von Gebrauchsgütern gelenkt werden, auf die Wolfgang Ruppert bereits früh hingewiesen hat.72 »Industrielle Massenkultur« bedeutete im Verlauf des späten 19. und des 20. Jahrhunderts eine tiefe Durchdringung der Gesellschaft mit industriell hergestellten Gütern mit qualitativen, aber auch rein quantitativen Folgen, indem allein für einen heutigen Haushalt der Besitz von etwa 10.000 Dingen angenommen wird.73 Ein Großteil von ihnen dürfte aus industriell hergestellten Konsumgütern bestehen, von Haushaltsgeräten über Möbel bis hin zu unscheinbaren Begleitern des täglichen Lebens wie Büroklammern. In der Forschung wird die steigende Verfügbarkeit von Waren mit dem Begriff der Konsumgesellschaft umrissen, es wird also ein allgemeines Entwicklungsmodell für das »lange 20. Jahrhundert«74 zugrunde gelegt, mit dem vor allem die westeuropäisch-nordamerikanischen Industriegesellschaften gemeint sind. Für die DDR dürfte der Begriff der Konsumgesellschaft in spezifischer Weise ebenfalls zutreffen. So orientierte sich die Rekon­ struktion der Wirtschaft an deren Entwicklungsstand vor der 21

Kriegswirtschaft, was sich in der Werbung mit charakteristischen Bezeichnungen wie »wieder da« ausdrückt. Gemeint ist damit ein Ende des lebensweltlich-konsumistischen Ausnahmezustands und die Rückkehr zur Normalität. Auch das für die DDR charakteristische Fortschrittsparadigma bezog sich auf den Konsumsektor, was sich unter anderem in den Statistischen Jahrbüchern regelmäßig am Beispiel von Produktionszahlen und dem Grad der Haushaltsausstattungen mit langlebigen Konsumgütern ausdrückte. Konsum war also der Nachweis von Fortschritt und Erfolg und wurde quantitativ bemessen. Andererseits war die DDR zunehmend planwirtschaftlich organisiert und am Versorgungsparadigma ausgerichtet. Das bedeutete eine politische Intervention in den Konsum und damit in die individuelle Dingausstattung, was zu Fehlentwicklungen und nachfolgenden korrigierenden Kampagnen führte, wie dem Programm der Massenbedarfsgüterproduktion nach dem 17. Juni 1953. Zudem veränderte sich das Angebot gravierend, vor allem durch die endgültige Verstaatlichung der zahlreichen privaten und halbstaatlichen Betriebe, die einen erheblichen Teil der Konsumgüter produziert hatten, im Jahr 1972. Ihr Ergebnis war eine Verarmung der Warenkultur. Gegen die Anwendung des Begriffs der Konsumgesellschaft spricht darüber hinaus eine Einbettung des Konsums in das Konzept der sozialistischen Lebensweise, in dem Konsum nicht Selbstzweck, sondern bewusstes, an gesellschaftlichen Zielen orientiertes Handeln in Planung, Produktion, Verkauf und Konsumption war. Der Blick auf Verkaufsziffern sagt also noch nichts über Konsumwünsche aus,75 Produktionszahlen noch nichts über Lücken in der Warenversorgung. Beide Aspekte bilden sich verdichtet in lebensweltlichen Feldern ab: In Arbeit, Freizeit und Haushalt entwickeln sich spezifische Dingagglomerationen, die Aussagen über Konsummöglichkeiten und -präferenzen ermöglichen. Im privaten Haushalt sammeln sich – neben Dokumenten, Gebrauchsutensilien, Erinnerungsstücken, für einen künftigen Gebrauch Bewahrtem und Vergessenem – auch zahlreiche Gerätschaften an, die insgesamt die Technisierung des Haushalts bedeuten, eine Entwicklung, die bis ins Kaiserreich zurückreicht und die, auch in der DDR, erst in den Nachkriegsjahrzehnten eine massive Dynamik entwickelte.76 Der private Haushalt als »Mikrokosmos der Technikanwendung«77 zeigt dies beispielsweise im Bereich der Haushaltsgeräte und der Konsumelektronik. Er zeigt aber auch Innovationsschübe, Austauschprozesse und Anschaffungshierarchien, die sich am Ende des Lebenslaufs der Dinge in Museumssammlungen wiederfinden. Was Orland unter dem Gesichtspunkt einer Konsumgeschichte der Technik skizziert, 22

75  Zu Anschaffungswünschen im Jahr

1988 vgl. Gunnar Winkler (Hg.): Sozialreport DDR 1990. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR, Stuttgart/ München/Landsberg 1990, S. 268. 76  Karin Zachmann: Mobilisierung der Frauen.

Technik, Geschlecht und Kalter Krieg in der DDR, Frankfurt am Main/New York 2004; dies., Ruth Oldenziel (Hg.): Cold War Kitchen. Americanization, Technology, and European Users, Cambridge, Mass./London 2009. 77  Barbara Orland: Haushalt, Konsum und

Alltagsleben in der Technikgeschichte, in: Technikgeschichte 65 (1998), H. 4, S. 273–295, S. 277.

ist zugleich eine dingzentrierte Kulturgeschichte von Lebensbereichen, die den Umgang mit Dingen einschließt, aber auch deren Eingliederung in vorhandene Dingwelten und deren Anpassung in technischer und räumlicher Hinsicht. Dies betrifft Raumausstattungen wie beispielsweise Küchenmöbel78 ebenso wie Raumnutzungskonzepte, die aufgrund neuer technischer Geräte angepasst werden müssen.79 All diese Veränderungen wurden, soweit sie nicht durch die Hülle des privaten Lebensraums, also Wohnungsschnitt und Wohnungsgröße, bedingt sind, durch gegenständliche Objekte hervorgerufen. Die Technisierung des Haushalts bewirkt also zweierlei: Die Dinge stehen nicht vereinzelt, sondern in einem Sinn- und Gebrauchszusammenhang und sie unterliegen einer zyklischen Erneuerung, die eine modifizierte und gegebenenfalls geschmacklich veränderte Dingwelt erzeugt. Dies sind keine anonymen Prozesse, denn die Veränderungen unterliegen individuellen Entscheidungen, aber auch politischen und wirtschaftlichen Planungen, wie sie die Designgeschichte herausgearbeitet hat.

78  So die Normierung von Großgerä-

ten und Küchenmöbeln zu einheitlichen Maßen, die sogenannte Ratio-Küche, oder die Entwicklung von Geräteschränken. 79  Das bekannteste Beispiel ist das Fernseh-

gerät, das die Organisation des Wohnzimmers verändert, aber auch bei der Konstruktion und Raumaufteilung von Möbeln, insbesondere der Schrankwand, berücksichtigt wird. 80  Zur historischen Entwicklung und

Produktübersicht vgl. Heinz Hirdina: Gestalten für die Serie. Design in der DDR 1949–1985, Dresden 1988. 81  So jedenfalls die Darstellung von

Hirdina, die damit der offiziellen Narration des Amts für Industrielle Formgestaltung folgt und eine Untersuchung der betriebseigenen Gestalterbüros ausklammert. 82  Zu den Auswirkungen im Bereich der

Konsumgüter aus Kunststoff vgl. Katja Böhme, Andreas Ludwig (Hg.): Alles aus Plaste. Versprechen und Gebrauch in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2012.

Designgeschichte interessiert sich für diejenigen Objekte der ­materiellen Kultur, die professionell gestaltet wurden, also nicht für anonyme Massenware der Industrieproduktion. Für ­unseren Zusammenhang, die materielle Kultur der DDR, ist wiederum die staatliche Planung symptomatisch, denn sie bezog sich auch auf die Gestaltung von Gebrauchsgütern, inklusive der Einführung neuer Ausbildungsgänge für Industriedesigner. Mitte der 1950er Jahre implementiert, standen bis Ende der 1960er Jahre Konsumgüter im Fokus staatlicher Planung.80 Diese Konsum­ (güter)bezogenheit deckt sich mit den politischen Prämissen einer konsumorientierten Wirtschaftspolitik, die jedoch in den 1970er Jahren abebbte, vor allem hinsichtlich ihres Innovationspotenzials. In der Designgeschichtsschreibung richtete sich die Aufmerksamkeit in der Folge auf die Gestaltung von Investitionsgütern.81 Auch aus diesem Grund schien Beobachtern von 1990 das Erscheinungsbild der DDR-Produkte veraltet. Dem anonymen Design, also dem überwältigenden Teil der industriellen Massenproduktion, hat sich die Designgeschichte bislang nicht gewidmet, sie kennzeichnet jedoch exemplarische Entwicklungsschwerpunkte, die die Konsumgüterproduktion der DDR charakterisieren, und sie verweist auf die unterschiedliche Rolle, die professionell gestaltete Dinge als massenhaft produzierte Gebrauchsgüter in der DDR spielten82 und die den Anspruch einer gesellschaftspolitisch induzierten Moderne spiegelt.83

83  Zum DDR-spezifischen Konzept der

Moderne vgl. Katherine Pence, Paul Betts (Hg.): Socialist Modern. East German Everyday Culture and Politics, Ann Arbor 2008.

Die skizzierten historiografischen Zugriffe gewähren jedoch noch keinen Einblick in die Gemengelage der Dingausstattung der 23

DDR, weder ihre generelle Komposition noch ihre lebensweltlich-individuelle Dimension. Zu Recht hat Peter Hübner auf den Gebrauchs- und Verwahrkontext hingewiesen, der sich mit der Objektkultur verbindet.84 Wie die hier aufgeführten Beispiele zeigen, lassen sich historische Prozesse mittels einer Einbeziehung der materiellen Kultur in die Argumentation exemplifizieren, Dinggeschichten können aber auch Ausgangspunkt sein, indem sie kontextualisiert und so Grundlage einer dichten Beschreibung85 werden. Um diese Polarität der Perspektiven aufzulösen, soll hier auf Überlegungen hingewiesen werden, die für eine integrierte Herangehensweise hilfreich sein können. Mit ihrer Aufforderung zu einer »History from Things« haben der Historiker Stephen Lubar und der Anthropologe und Materialforscher W. David Kingery, ganz in der Tradition der amerikanischen Material Culture Studies, für eine von den Objekten der materiellen Kultur ausgehende Geschichtsschreibung plädiert.86 Die Historikerinnen Adrienne D. Hood und Annette C. Cremer haben diesen Ansatz differenziert und unterscheiden eine Forschung mit, über oder durch Objekte87 und das zu untersuchende (materielle) Ding als Prisma für unterschiedliche Fragestellungen und mit unterschiedlichen Ergebnissen. Das Ergebnis ist allerdings keine durchgängige Narration, sondern eine beabsichtigte Irritation, bei der auf die Gleichzeitigkeit von Bedeutungen und die Parallelität möglicher Interpretationen aufmerksam gemacht wird. Das Objekt als Beleg zeigt also immer nur eine von mehreren Möglichkeiten und es ist eine Stärke des forschenden Umgangs mit materieller Kultur, scheinbare Eindeutigkeiten infrage zu stellen. Dinge stehen als Quelle jedoch niemals vereinzelt, sondern sind in einen Kontext eingebunden, der auch Quellen bildlicher, schriftlicher und gegebenenfalls mündlicher Art hervorbringt. Insofern ist materielle Kultur eine Ergänzung der bildlichen und der Schriftkultur und ihre Bedeutung wird zunächst vor allem im Ausgleich von Defiziten anderer Überlieferungen gesehen.88 Diese Vorstellung einer Kompensation von Lücken reicht jedoch nicht weit genug, denn Dinge evozieren auch Fragen und verweisen auf Zusammenhänge, die anderswo keine Beachtung gefunden haben, manchmal auch nicht formulierbar sind. In diesem Sinne sind sie explorative Dinge und die materielle Kultur als Ganzes das Feld materieller Evidenz, gleich, ob sich die Dinge im Gebrauch oder im Museum befinden.

84  Hübner bezieht sich auf das Konsumgut

Schrankwände, die »Sarkophage sozialistischer Objektkultur« seien, vgl. Peter Hübner: »Revolution in der Schrankwand«? Die Objektkultur des DDR-Alltags und ihre Musealisierung in der Perspektive sozialhistorischer Forschung, in: Gerd Kuhn, Andreas Ludwig (Hg.): Alltag und soziales Gedächtnis. Die DDR-Objektkultur und ihre Musealisierung, Hamburg 1997, S. 152–169, S. 162. 85  Der Begriff ist hier sowohl metho-

disch, nach Clifford Geertz, gemeint als auch hinsichtlich der Darstellung. 86  Stephen Lubar, W. David Kingery (Hg.):

History from Things. Essays on Material Culture, Washington, D.C. 1993. 87  Hood, Culture; Annette Caroline Cremer:

Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutschland, in: dies., Martin Mulsow (Hg.): Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 9–21. 88  Hierzu einführend Leora Auslander:

Beyond Words, in: The American Historical Review 110 (2005), H. 4, S. 1015–1045.

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Über dieses Buch Alle hier versammelten Beiträge entstanden im Rahmen des Forschungsprojekts »Materielle Kultur als soziales Gedächtnis einer Gesellschaft«, das Teil der Förderinitiative »Forschung in Museen« der VolkswagenStiftung war und von Katja Böhme, Anna Katharina Laschke und Andreas Ludwig bearbeitet wurde. Mit ihm wurde der Sammlungsbestand des Eisenhüttenstädter Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR auf seine Funktion als »Dingarchiv« untersucht, also auf seine Möglichkeiten, Quellen für die Zeitgeschichte bereitzustellen, und zugleich unter der Frage, welche geschichtswissenschaftlichen Analysemöglichkeiten für die Einbettung der Museumssammlung in die zeitgeschichtliche Forschung bestehen. In einem ersten Abschnitt geht es um die Fragen, welchen Beitrag die materielle Kultur für die Zeitgeschichte leisten kann, was von ihr erwartet wird und wie die jeweiligen fachspezifischen Per­ s­pektiven formuliert werden. Die Beiträge dieses Teils entstanden im Ergebnis und auf Grundlage von Vorträgen der Tagung »Dinge in der Zeitgeschichte« am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Die Tagung galt der gemeinsamen Verstän­ digung über die materielle Seite der Geschichte und der Formulierung von Sichtweisen und Erwartungen an materielle Quellen, wie sie sich aus der Verortung in unterschiedlichen historischen (Sub-)Disziplinen ergeben. Die Titel der einzelnen Abschnitte, »Dinge in der Perspektive auf die Gesellschaft«, »Material, Ästhetik, Gebrauch« sowie »Das Soziale in den Dingen«, skizzieren diese Perspektiven. In einem zweiten Abschnitt wird die Aussagefähigkeit von materiellen Objekten auf die Probe gestellt, indem zwei methodische Zugriffe miteinander verbunden werden: das in der Geschichtswissenschaft verortete mikrogeschichtliche Spurensicherungsparadigma und das mit der Auseinandersetzung mit der materiellen Kultur verbundene Problem der Polyvalenz der Dinge, also ihrer Mehr- oder auch Vieldeutigkeit. Anhand von Fallstudien über unterschiedlichste Einzelobjekte, die im Rahmen des dreitägigen Workshops »Spurensuche am Objekt« direkt aus den Museumssammlungen des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR heraus entwickelt wurden, wird gleichsam ein Perspektivwechsel vollzogen: Zentrum und Ausgangspunkt ist das im »Dingarchiv« bewahrte Objekt, das von den Autor*innen in jeweils unterschiedlicher Weise analysiert und kontextualisiert wurde, um daraus Themen und Fragestellungen zu entwickeln. In einem dritten Abschnitt werden Sammlungskomplexe musealisierter Alltagskultur in Form von Sammlungsinspektionen in den Blick genommen, die im Objektfundus des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt bewahrt 25

werden. Hier geht es um die Frage, welche Formen eines »Korpus« von materiellen Quellen die Museumssammlung bietet. Konvolute, thematische Verdichtungen und Überlieferungszusammenhänge werden dabei als mögliche Strukturierungen des weiten Feldes der Alltagskultur und ihrer »wilden« Komposition erörtert. Über das Einzelobjekt hinaus wird die Qualität einer solchen musealen Sammlung als Dingarchiv geprüft und die Frage, wie materielle Kultur zeitgeschichtliche Fragestellungen beantworten helfen und auch neue Perspektiven auf die Geschichte entwickeln kann, erörtert. Die Herausgeber*innen möchten an dieser Stelle für die vielfältig erfahrene Unterstützung für ihr Projekt danken. Der Dank gilt unserem Projektpartner, dem Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt, das einen unkomplizierten Zugang zu seinen Sammlungen gewährt hat und alltagspraktische Hilfestellung und Arbeitsmöglichkeiten bot. Das Leibniz-­Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam bot seine Forschungsinfrastruktur und hier fanden wir im Kreise aufgeschlossener, kritischer und neugieriger Kolleg*innen eine hilfreiche und ermutigende Diskussionsumgebung. Der explorative Charakter des Projekts erforderte eine Suchbewegung, deren Herausforderungen dank der Vortragenden und Diskutierenden auf den Workshops und während der Tagung immer wieder Fragen eröffneten und Orientierung boten. Ohne die Bereitschaft der Autor*innen, dies auch zu verschriftlichen, wäre dieser Band nicht zustande kommen. Schließlich gilt unser Dank der ­VolkswagenStiftung für die Möglichkeit, die verschiedenen Zugänge zur materiellen Alltagskultur zu erproben. Materielle Kultur und die Museumssammlung als Dingarchiv bilden ein »Dispositiv« (Michel Foucault) für eine Verortung der Dinge in der Zeitgeschichte, zu deren Erkundung wir die Leserinnen und Leser nun einladen.

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TEIL 1

  DINGE IN DER ZEITGESCHICHTE

DINGE IN DER PERSPEKTIVE AUF DIE GESELLSCHAFT

A glazed china cabinet and bookcase from the 1960s still present in a khrushchevka interior in Kaluga in 2005 (Copyright: Susan E. Reid).

HOW DID MATERIAL CULTURE MATTER IN THE KHRUSHCHEV-ERA USSR? EVERYDAY AESTHETICS AND THE SOCIALIST CULTURE OF THINGS SUSAN E. REID

How did matter matter in the Soviet socialist past? And why should it matter today, to historians of the Soviet experiment? What are the benefits of engaging in the »archaeology of state socialism,« attempting, that is, to interpret and understand Soviet society through its artefacts, material traces, and spaces?1 This paper focuses on the material culture of private, domestic space in the USSR after Stalin, in the late 1950s to the 1970s, a period that saw rapid and radical transformations in the material environment of everyday life. Arguably one of the most significant developments of this period was the new priority that the party-­ state and centrally planned economy gave to improving mass living standards and addressing the chronic problem of housing. A campaign launched in 1957 by Nikita Khrushchev set in train the mass industrialized construction of separate apartments in large self-contained mikroraiony (microdistricts), to which millions of »new settlers« (novosely) relocated over the next decade.2 I will outline some ways in which the study of material environments, objects, collections and arrangements of things can allow us access to aspects of the vernacular experience of this late Soviet wave of modernization which other methods and sources alone cannot reach, helping us to investigate historical changes in consciousness, sense of self, and interpersonal relationships.

1  Victor Buchli, An Archaeology of So-

cialism (Oxford: Berg, 1999). 2  »O razvitii zhilishchnogo stroitel’stva v

SSSR,« 31 July 1957, Sobranie postanovlenii pravitel’stva SSSR, no. 9 (1957); Mark B. Smith, Property of Communists: The Urban Housing Program from Stalin to Khrushchev (DeKalb: Northern Illinois University Press, 2010).

The historiography of the Khrushchev Thaw, until recently largely based on textual sources, has been written primarily in terms of the agency and views of the intelligentsia and party elite. In the rhetoric of the Communist Party of the Soviet Union, and in the discourses of Soviet architects, designers and aesthetic philosophers, material culture was invested with ideological significance and pedagogical effectiveness in preparing the material and social premises for the transition to full Communism. But this is only part of the story. A material culture approach to history can go beyond examining authoritative discourses, policies, conditions of production and intended consequences (for example of the new state housing), to consider how the material effects of power – such as the spaces and things produced as a result of party decrees

and economic planning and invested with authoritative intentions – were used, adapted, appropriated, combined, misused or repurposed, according to the needs, desires and tastes of inhabitants and users.3 Material as well as visual sources can compensate for the lack of a written record in relation to everyday history and the lives of »ordinary people,« enabling the study of historical subjects and areas of life that have been »hidden from textual history.«4 Thus the »material turn« further advances the shift away from writing »history from above« – as if history was made only by those at the top, with power and authority – towards »history from below,« which seeks out the agency, experience and subjectivity of »ordinary people«: makers, users and consumers. How were artefacts and environments, that were designed as expressions and instruments of power and as agents of regime-led socialist modernization, consumed, repurposed, misused, or rejected? While the home is generally considered the »private sphere,« a realm of relative autonomy, the construction of millions of new flats made every aspect of the home a matter of intense public concern, in which numerous specialists were involved. Everyday life, in Dorothee Wierling’s balanced definition, is: »the domain in which people exercise a direct influence – via their behavior – on their immediate circumstances. Yet, to a substantial degree, that everyday world is determined by others. Everyday action takes place under a set of overall conditions that are not subject to its influence.«5 Making home in state housing, individuals and households exercised agency within material and discursive »structures« that were invested with the agency, values and intentions of others, including party officials, ideologues, and the range of specialists who shaped and mediated it. Social housing and consumer goods, produced according to state plans and to designs of central institutes, played a significant role in structuring and mediating relations both vertically, between the individual and the state, and horizontally, between members of society.6 This chapter will first set out the authoritative, ideological-philosophical discourses around the meaning and aesthetics of things.7 Second, it will turn to the view from »below,« from the perspective of users and everyday practices. This division is a contingent analytical structuring device rather than an impermeable divide; the uses and meanings of things, and even their material qualities themselves, were constructed in the interaction between these factors.8 In focusing on material culture, I aim to bring together into the same frame the »macropowers affecting changing state fortunes,« and »the micropowers at work in everyday life.«9 Relations between these two perspectives – from »above« and »below,« the30

3  Michel de Certeau, The Practice of Everyday

Life (Berkeley: University of California Press 1984); John Fiske, Understanding Popular Culture (London: Routledge, 1989); Nelly Oudshoorn and Trevor Pinch, eds, How Users Matter: The Co-Construction of Users and Technology (Cambridge, Mass.: MIT Press, 2003). 4  Sheila Rowbotham, Hidden from History: 300

Years of Women’s Oppression and the Fight Against It (London: Pluto Press, 1975); Catherine Armstrong, Using Non-Textual Sources: A Historian’s Guide (London: Bloomsbury 2016), 98; Ludmilla Jordanova, The Look of the Past: Visual and Material Evidence in Historical Practice (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 2012). 5  Dorothee Wierling, »Everyday Life and

Gender Relations: On Historical and Historiographical Relationships,« in Alf Lüdtke, ed., The History of Everyday Life: Reconstructing Historical Experiences and Ways of Life, transl. W. Templer (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1995), 149–67, 151. 6  Cf. Stephen Kotkin, Magnetic Moun-

tain: Stalinism as a Civilization (University of California Press, 1995), 21. 7  Susan E. Reid, »Cold War in the Kitchen:

Gender and the De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev,« Slavic Review 61, no. 2 (2002): 211–52. 8  Ekaterina Gerasimova and Sofia Chuikina,

»Obshchestvo remonta,« Neprikosnovennyi zapas, no. 34 (2004); Sergei Alasheev, »On a Particular Kind of Love and the Specificity of Soviet Production,« in Glenn Adamson, ed., The Craft Reader (Oxford: Berg, 2010), 287–96; Susan E. Reid, »Makeshift Modernity: DIY, Craft and the Virtuous Homemaker in New Soviet Housing of the 1960s,« International Journal for History, Culture, and Modernity 2, no. 2 (2014): 87–124; Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More: The Last Soviet Generation (Princeton, NJ: Princeton University Press 2006). 9  Buchli, Archaeology, 3; Daniel Miller,

»Appropriating the State on the Council Estate,« Man 23 (1988), 353–72; idem, Material Cultures: Why Some Things Matter (University of Chicago Press, 1998); idem, »Accommodating,« in Colin Painter, ed., Contemporary Art and the Home (Oxford: Berg, 2002), 115–30.

ory and practice, macro and micro – were negotiated in people’s homes, decorating practices, domestic consumption and everyday interactions with spaces and things. In socialist modernity, no less than in the consumer culture of the capitalist West, the acquisition, arrangement, repair, and ridding of domestic furnishings and displays played a crucial role in the production and maintenance of self-identity, even in over-determined surroundings that represented the agency of others.

10  »Everyday Aesthetics in the Modern

Soviet Flat,« funded by The Leverhulme Trust (2004–07) and AHRC (2008). Interviews were conducted in St. Petersburg, Kaluga, Kazan’, Samara, Kovdor, Apatity, and Tartu. 11  The narrative nature of oral history

responses is particularly significant (and problematic) because of the onus placed on narrativization of the self both in theories of the modern self and in consumer culture, e. g. Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity: Self and Society in the Late Modern Age (Cambridge, UK: Polity Press, 1991), 80; Don Slater, Consumer Culture and Modernity (Cambridge, UK: Polity Press, 1997), 91–2. 12  Alyssa Grossman, »Forgotten Domestic Ob-

jects,« Home Cultures 12, no. 3 (2015): 291–310; Rachel Hurdley, »Dismantling Mantelpieces: Narrating Identities and Materializing Culture in the Home,« Sociology 40, no. 4 (2006): 721–2 of 717–33; Nicolette Makovicky, »Closet and Cabinet: Clutter Cosmology,« Home Cultures 4, no. 3 (2007): 290 of 287–310. 13  Sarah Pink, Doing Sensory Ethnography,

2nd edn (Los Angeles: Sage, 2013). 14  Leora Auslander, »Beyond Words,« The

American Historical Review 110 (2005), no. 4: 1016–7 of 1015–45; Introduction, in Anne Gerritsen and Giorgio Riello, eds, Writing Material Culture History (London: Bloomsbury, 2015), 2; Judy Attfield, Wild Things: The Material Culture of Everyday Life (Oxford: Berg, 2000).

The paper draws on a project in which I explore the agency, choices and experience of »new settlers«, in regard to homemaking and decorating, consumption and display, and how they account for these. Over seventy semi-structured oral history interviews were conducted between 2004 and 2007, with individuals – mostly women born between the 1920s and early 1940s – who had moved to new, »khrushchevki« separate apartments in a range of cities across the former Soviet Union during the 1960s.10 The interviews were conducted in their homes amidst their accumulated possessions and displays. While oral history was a key part of my methodology,11 a reliance solely on verbal accounts tends to privilege conscious intentions and already narrativized memories over motives and emotions that may be harder to put into words, or which may even be suppressed from conscious thought.12 If we are interested in questions about subjectivity and emotional experience and in the effects of historical changes on individuals’ sense of self, oral narratives have some limitations because self-identity and a changing self and self-other relations are not only worked out and articulated in verbal narratives; they are also objectified and produced in relations with things, material environments and practices. This is where material culture history comes into its own, requiring an engagement with visual and sensory ethnography.13 As part of the data production, the objects and displays formed the focus of the conversations and were photographed. By attending to material self-presentation and aesthetic practices of display in the late Soviet home, in combination with listening to how the authors of these displays account for them in oral narratives, the project seeks to open up some of the complexities and contradictions of how historical subjects experienced this period of rapid but uneven state-led modernization, how they accommodated and made sense of or mitigated these changes, and how they negotiated between plural and heterogeneous norms in »making themselves at home.« Objects and material environments do not simply »reflect« historical processes as mere effects or traces of historical events, but are active agents, »tools through which people shape their lives,« as Leora Auslander has put it. They »create social positions and even (some argue) the self itself.«14 Domestic material culture, in conjunction with oral narratives, may 31

serve as a source through which we can try to understand historical subjectivity. As Auslander also notes, »material culture consists not only of things but also of the meanings, values, associations, and memories they hold for people.«15 The reluctance of modern historians to make use of material or visual sources has been underpinned by a suspicion that, requiring interpretation, they were too subjective and unverifiable. Now, precisely the polysemy, subjectivity, and sensual qualities of things, and their function as mnemonics, are made productive for a new history which recognizes that subjective and sensory experiences are important parts of human life and should, therefore, matter to historians.16 Producing a socialist material culture: the view »from above« The power of a transformed material environment to engineer social transformation was an article of faith in Bolshevik Russia after the Revolution. In this regard it shared in the widespread utopian impulse of the international Modern Movement between the wars, but the instrumentalization of the material environment as a socializing force in the new USSR also had specific philosophical premises in Marx’s materialist explanation of historical change. According to Marx, »the transformation of any society should be revealed by the changing relations of persons to objects within it.«17 Marxist-Leninist teleology posited an important relationship between material culture and the construction of Communism and of its ideal subject, the »new Soviet person.« The Bolshevik Revolution of 1917 seemed to offer conditions to break radically with the past and remake the world anew, according to rational, materialist and socialist principles. Avant-garde artists and cultural theorists around the magazine LEF (Left Front of the Arts), such as Boris Kushner, Boris Arvatov and Vladimir Tatlin, threw themselves into the transformative project of creating a new society and a new type of human being through mater­ ial means: by seeking to define a new, socialist material culture and socialist object.18 The task of artists, architects and other specialists in the material environment, according to this »Productivist« platform, was to transform the material culture of everyday life (byt), and to define the nature of »non-market objects,« as distinct from commodities. The restructuring of subject-object relations under socialism was, in part, a design problem, for the desired non-fetishistic relations with things were to be »organized« by the formal and material qualities of the objects themselves.19 New terms were coined for the analysis of socio-cultural relations with things, such as »material installation« (material’naia ustanovka), the »culture of the thing« (veshchevaia kul’tura), as well as »material culture« (material’naia kul’tura).20 32

15  Auslander, »Beyond Words,« 1016–7;

Marius Kwint, Christopher Breward, Jeremy Aynsley, eds, Material Memories: Design and Evocation (Oxford: Berg, 1999); Mihaly Csikszentmihalyi and Eugene Rocheberg-Halton, The Meaning of Things (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 1981). 16  Auslander, »Beyond Words,« 1016–7; Steven

Lubar and W. David Kingery, eds, History from Things: Essays on Material Culture (Washington, D.C.: Smithsonian Institution, 1993); Karen Harvey, ed., History and Material Culture: A Student’s Guide to Approaching Alternative Sources (London: Routledge, 2009). Examples of the sensory turn in history and the convergence of everyday history with anthropology include: Mathiew P. Romaniello and Tricia Starks, eds, Russian History through the Senses (London: Bloomsbury, 2016); Choi Chatterjee et al., eds, Everyday Life in Russia Past and Present (Bloomington, Ind.: Indiana University Press, 2015). 17  Karl Marx, Capital: A Critique of Political

Economy vol. 1 trans. B. Fowkes (New York: Penguin Books 1990 [1887]); Jean and John L. Comaroff, »Goodly Beasts, Beastly Goods: Cattle and Commodities in a South African Context,« American Ethnologist 17, no. 2 (1990): 196 of 195–216, cited by Jennifer Patico, Consumption and Social Change in a Post-Soviet Middle Class (Stanford, Cal.: Stanford University Press, 2008), 2. 18  Christina Kiaer, Imagine No Possessions:

The Socialist Objects of Russian Constructivism (Cambridge, Mass.: MIT 2005); Margaret Rose, Marx’s Lost Aesthetic (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 1985). 19  Boris Arvatov, »Everyday Life and the

Culture of the Thing,« October 81 (1997), 119–28. 20  Selim Khan-Magamedov, Arkhitektura

sovetskogo avant-garda, http://www.alyoshin.ru/ Files/publika/khan_archi/khan_archi_1 _073.html, last accessed 06/09/2018.

21  Jerome M. Gilison, The Soviet Im-

age of Utopia (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1975), 9. 22  E.g. Aleksandr Saltykov, »Pervyi

vsesoiuznyi s’’ezd sovetskikh khudozhnikov,« Iskusstvo, no. 3 (1957): 3–36. 23  Karl Marx, »Economic and Philosophical

Manuscripts,« in David McLellan, ed., Karl Marx: Selected Writings (Oxford: Oxford University Press, 1977), 82; Karl Marx and Friedrich Engels, Iz rannykh proizvedenii (Moscow, 1956); Saltykov, »Pervyi vsesoiuznyi s’’ezd.« According to Khrushchev, nothing was more beautiful than unalienated labor: Nikita S. Khrushchev, »Sovetskoe iskusstvo obogashchaet dukhovnuiu sokrovishchnitsu vsego chelovechestva,« in idem, Vysokoe prizvanie literatury i iskusstva (Moscow: Pravda, 1963): 155, 160–1. 24  Susan E. Reid, »Destalinization and Taste,

1953–1963,« Journal of Design History 10, no. 2 (1997): 177–202; James Scanlan, Marxism in the USSR (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1985): 293; Andrei Burov, Esteticheskaia sushchnost’ iskusstva (Moscow: Iskusstvo, 1956); Semen Rappoport, Tvorit’ mir po zakonam krasoty (Sovetskii kompozitor, 1962); Nina Dmitrieva, O prekrasnom (Moscow: Iskusstvo, 1960). 25  Rappoport, Tvorit’ mir, 8, 64–6; Editorial,

»Istoricheskii s”ezd stroitelei kommunizma,« Iskusstvo, no. 11 (1961): 2–8; Editorial »Kommunizm i iskusstvo,« Kommunist, no. 8 (1961): 3–10. 26  »Kommunizm v nastoiashchii istoricheskii

period vystupaet na mirovoi arene ne tol’ko kak novyi sotsial’no politicheskii stroi, no i kak novaia estetika.« D. Kozlov, »Kommunizm i iskusstvo,« typescript of speech, GARF f. 9547 (Znanie), op.1, d. 1185: »Stenog. seminara-soveshchaniia po voprosam propagandy literatury i iskusstva, 17/10/1960,« ll.11–32. 27  Viktor Vanslov, »Iskusstvo i vsestoronnee

razvitie lichnosti,« Iskusstvo, no. 3 (1962): 2–6; Vl. Zimenko, »Chelovek, kharakter, obraz,« Iskusstvo, no. 1 (1962): 5–6; V. Ustinov, Ob esteticheskom vospitanii (Leningrad: Lenizdat, 1961); Editorial, »Istoricheskii s”ezd: 2–8; Editorial »Aktual’nye voprosy estetiki v svete novoi Programmy KPSS,« Voprosy filosofii, no. 9 (1962): 3–14; »Program of the CPSU« (1961) 249, 255–6. 28  N. Parsadanov, »Programma KPSS i zadachi

sovetskogo iskusstva,« Tvorchestvo, no. 11 (1961): 1–4; Iu. Filatov, »Veshchi, sovremennost’, zhivopis’,« Zvezda, no. 2 (1961): 176–9. 29  »Pervyi vsesouznyi s”ezd’ sovetskikh

khudozhnikov,« Iskusstvo, no. 3 (1957): 14–16 of 3–36; Rose, Marx’s Lost Aesthetic; K. Marks [Marx], F. Engels, Ob iskusstve (Moscow: 1957) v. 1, 141; Dmitrieva, O prekrasnom.

This radically transformative program, linking societal and psychological renovation to material revolution, was suppressed under Stalin. But after his death in 1953, utopian aspirations for the progressive social role of material culture were revived and received particular attention in the context of public discussions of the draft Third Party Programme (dubbed the »Communist Manifesto of the present day«) between 1959 and 1961.21 Revisiting the Productivist ideas of the 1920s, philosophers, utopian architects and authors of popular advice ascribed considerable ideological and moral significance to the material environment of everyday life as a means to direct behavior and (re-)structure consciousness and social relations; it was a powerful agent of socialist modernization, of social and psychological transformation.22 By the same coin, however, an unreconstructed material environment could also potentially obstruct progress and perpetuate throwbacks to the pre-revolutionary past. Specialist discourses about the fashioning of things and spaces were informed by renewed attention, in the late 1950s–60s, to Marx’s early writings (published in a new edition in 1956) on the role of material making in becoming truly human. In his Economic and Philosophical Manuscripts, Marx had paid attention to questions of aesthetic sensibilities and beauty. While animals might build dwellings for themselves, they only produced to satisfy immediate needs, whereas »man fashions things according to the laws of beauty.«23 The emphasis on the aesthetics of the everyday material environment was central to Khrushchev-era utopianism.24 Numerous works were published with titles such as On Beauty, or Create the World According to the Laws of Beauty. They made proclamations such as »Communism is not only the abundance of material blessings. It is also the realm of the beautiful;«25 and, »Communism in the present period enters the world stage not only as a new social-political order but also as a new aesthetic.«26 The transition to full Communism demanded that all aspects of Soviet life must become more beautiful and that each Soviet person should develop heightened aesthetic sensibility.27 In the cultivation of a new aesthetically conscious Soviet person, an important role was assigned also to the aesthetics of everyday life and domestic material culture.28 In accordance with Hegelian dialectics of subject and object, at the same time as material things objectified human feelings and worldview, they also produced, or at least conditioned, them.29 As millions of people moved into new flats and began to furnish them with a mix of old and new things, the aesthetics of ­everyday life were recognized as a matter of crucial significance for the suc33

cess of the Soviet project; the new domestic interior was a site for education of the new person in the final push towards Communism. Everyday, utilitarian objects, while meeting everyday practical needs, were also tasked with the utopian, future-oriented mission of developing the all-sided individual, the new socialist subject. Thus the decoration of the new apartment must »raise the culture of the Soviet person, and take part in the upbringing of the constructors of communist society.«30 Architects, artists, and philosophers claimed that this gave them, as specialists on aesthetics, an essential role in determining standards of taste. Good design of exemplary modern furniture and decorative items for the new flats was vital, given the push to mass production both of new housing and of furniture; a fault in the prototype would be multiplied million-fold.31 Such arguments underpinned the birth of the Soviet discipline of design or Technical Aesthetics, whereby a new set of specialists aspired to set standards for mass production.32

30  Editorial, »Kommunizm i iskusstvo,« 5–6. 31  K. Zhukov, »Tekhnicheskaia esteti-

But the furnishing and decoration of new flats were not only a problem of design and mass production but also one of mass consumption; and even the centrally planned command economy could not command consumption.33 Aesthetic specialists recognized that, for better or worse, their jurisdiction was limited behind the closed doors of individual apartments, where »the last word belongs to the occupant.«34 This was a cause for anxiety. Would »new settlers« aspire to the same standards as those the intelligentsia experts and designers prescribed? Or would the new, separate flats call forth vestigial »petit-bourgeois« instincts, private property values, insatiable demand for consumer goods, and commodity fetishism?35 »The hypertrophy of interest in the individual dwelling is inclined to engender an antisocial, anti-­ communist mindset,« warned one philosopher of the material environment.36 Would-be Soviet consumers were admonished to consume »rationally,« in moderation, and with taste, and were cautioned against irrational, »petit-bourgeois« acquisitiveness and fetishism; things must be kept in their place as »slaves not masters.«37 To ensure that citizens settling into new flats would make the right choices, exhibitions, magazines and television issued advice on good and bad taste in home decorating, and disseminated examples of ideal, cultured interiors furnished in a new rationalist, modern style developed in the late 1950s, dubbed the »Contemporary Style.« A version of the international modernist aesthetic of the post-war period, the Contemporary Style called for simple lines and unadorned surfaces, for rational designs that facilitated serial, machine production and the use of man-made materials.38 34

ka i oborudovanie kvartir,« Tekhnicheskaia estetika, no. 2 (1964): 1 of 1–2. 32  Susan E. Reid, “Khrushchev Modern:

Agency and Modernization in the Soviet Home, Cahiers du Monde russe 47 (1), 227–268. On the foundation of the design institute VNIITE see Raymond Hutchings, Soviet Science, Technology, Design (Oxford: Oxford University Press, 1976). 33  Fuller argumentation in Reid, »Khrushchev

Modern,« 227–268; and Susan E. Reid, »Cold War Binaries and the Culture of Consumption in the Late Soviet Home,« Journal of Historical Research in Marketing 8, no. 1 (2016): 17–43. 34  E.g. RGALI, f. 2329, op. 4, ed. khr. 1388,

ll. 51–2 (N. Luppov, Stenog. sobraniia … po obsuzhedeniu vystavki »Iskusstvo – v byt!« 6 June 1961); Irina Voeikova, »Vasha kvartira,« Rabotnitsa, no. 9 (1962): 30. 35  Fuller argumentation in Reid, »Cold

War in the Kitchen,« 211–52. 36  Cited by Iu. Gerchuk, »S tochki zreniia

shestidesiatnika,« Dekorativnoe iskusstvo SSSR (henceforth DI SSSR), no. 7 (1991), 9; K. Kantor, »Veshchi i sotsial’nye otnosheniia,« in Kantor, Krasota i pol’za (Moscow, 1967), 228 ff., with reference to a 1922 lecture by Boris Kushner, »Proizvodstvo kul’tury.« 37  Iu. Filonovich, »Veshchi – ne khoz­

iaeva, a slugi!,« Izvestiia, no. 163 (1959), 4; B. Brodskii, »Novyi byt i kamufliazh meshchanstva,« DI SSSR, no. 8 (1963), 23–8; Reid, »Cold War in the Kitchen,« 211–52. 38  Iurii Gerchuk, »The Aesthetics of Everyday

Life,« in Susan E. Reid and David Crowley, eds, Style and Socialism: Modernity and Material Culture in Post-War Eastern Europe (Oxford/New York: Berg, 2000), 81–100.

Thus, in the early 1960s, material culture – especially that of the new, separate apartments – was ascribed a specific and vital role in preparing Soviet society for the transition to Communism, marked by the masses’ accession to abundance and beauty. The neo-Marxist, neo-Productivist utopian platform among Soviet philosophers and aestheticians in the Thaw, concerned with material culture and everyday aesthetics, was a significant intellectual development and provided the theoretical underpinning for the establishment of the Soviet design discipline in this period. However, we cannot assume that »ordinary people« saw things in the same way, or that practice matched blueprint. The latter assumption, common to the »Totalitarian« school, has been much critiqued, not least because it denies any space for the agency of »ordinary people« and social forces.39 The meanings things held for users were not necessarily the same as those they held for designers, producers, economists, and ideologues. To what extent – if at all – did these authoritative, utopian, Marxist »meanings of things« pervade everyday relations with objects in the »private« space of the home, where the specialists’ purview was limited? How and to what extent did new settlers appropriate the new approved style into their homes and assimilate it to their sense of self? We turn now from top-down, authoritative discourses and the utopian, socially transformative intentions invested in the built space of khrushchevki, to the perspective from »below,« and the questions: what did ordinary people do in practice behind the closed doors of their new flats; and how do they account for change?

39  E.g. Sheila Fitzpatrick, ed., Stalin-

ism: New Directions (London and New York: Routledge 2000). 40  For further discussion see: Susan E. Reid,

»Everyday Aesthetics in the Khrushchev-Era Standard Apartment,« Etnofoor 24, no. 2 (2012), 79–107; Susan E. Reid, »Kak obzhivalis’ v pozdnesovetskoi modernosti« [»Making Oneself at Home in Late Soviet Modernity«] in A. Pinsky, ed., Posle Stalina: pozdnesovetskaia sub”ektivnost’, 1953–1985 gg. [After Stalin: Subjectivity in the Late Soviet Union, 1953–1985] (St. Petersburg Press, 2018), 352–97.

»Everyday Aesthetics« A central aim of the larger project on which this paper draws was to test how the »Soviet ideal home« was realized in practice; how actual historical subjects, rather than the abstractions imagined by planners and ideologues, made the standard spaces of new flats into home. What, if any, attention did they pay to the prescriptive discourses of good taste, rationality and modern beauty, exemplified by the Contemporary Style? Or did they operate with different criteria of order, beauty, and taste? Did they share the experts’ concern with aesthetics and faith in the transformative agency of things? How did the material culture of domestic everyday life change in the 1960s, what did it mean to »ordinary people,« and what can it tell us about how they experienced the rapid modernization of the Khrushchev era? In this brief paper there is only space for three examples of objects and arrangements that emerge from the interviews and interiors as especially salient: beds, rugs, and photographs as material objects.40 35

»New Furniture for the New Flat,« Ogonek, No. 11, 1959. Showing examples of new lightweight and convertible furniture designed for the new flats.

Beds and the modernization of the culture of sleep Attitudes and practices were in the process of transformation in the course of the 1960s–70s. New moralities of consumption began to contend with established dispositions. A shift from »filling essential needs« to a form of »modern consumption« can be examined in regard to one of the »essential« items of the home, as a place of rest: beds.41 Beds – metal bedsteads – were, in the 1950s, an item of furniture that one would expect to have for life, only replacing the mattress periodically. Even when informants say they brought »nothing« to the new apartment, they often make an exception for the bed. They represent beds as a matter of primary necessity when they first moved in. When asked, »what did you buy first?,« they reply, »a bed of course.« The need for sleep seems so natural and essential that the equipment for it may also be taken for granted. Yet even regarding 36

41  A fuller version of this discussion

appears in »Cold War Binaries,« 33–36.

Metal bedstead. Photo for Everyday ­Aesthetics, Kaluga, 2005. (Copyright: ­Susan E. Reid).

42  Irene Cieraad, »Sleeping Around: the

Bed from Antiquity to Now,« Journal of Design History 20, no. 2 (2007): 177–78. 43  Buchli, Archaeology: 88–9; Lidiia Chizhikova,

»Zhilishche russkikh,« in M. Rabinovich, ed., Material’naia kul’tura kompaktnykh etnicheskikh grupp na Ukraine (Moscow: Nauka, 1979).

sleep, needs are culturally constructed, as comparison with other cultures shows, and are subject to change over time.42 Beds are not simply physical supports for sleeping but are imbricated in cultural practices, social relations and systems of meaning. Thus the bed and associated practices serve as a useful case study to track changing consumption behavior. The bed was identified as a prime target for modernization and rationalization in the Khrushchev era, resuming the 1920s campaign for the »new way of life« and »new person.« Design and taste reformers were especially concerned to root out domestic practices of displaying wealth and status, and these included the treatment of the bed. In the traditional Russian and Tatar home, the bed would be set aside during the day as a permanent fixture in the room, the support for a display of wealth and good housekeeping, materialized in puffed-up feather pillows and fine white lace, known as shishki (cones).43 A number of my informants recall this practice of creating »show beds,« and some (from rural backgrounds), such as Nina, a Russian, and Fatyma, a Tatar, both of whom moved to Kazan’ from the countryside, still continued to make shishki in the mid-2000s. 37

This treatment of the bed as a site for display of family wealth and of the housewife’s labor (embroidery, laundry, tidying, good housekeeping) was condemned in the late 1950s for its irrational waste of space and elevation of display over function, its un-socialist claims to status through material possessions, and its unreconstructed identification of women with bourgeois property relations and unproductive labor in the private home.44 The show bed became associated with the past, with »petit-bourgeois« values and philistine bad taste (meshchanstvo), and with everything that was backward and rural; it was the antithesis of the modern, urban, socialist civilization, which the new flats and Contemporary Style were supposed to promote and represent. A focus on domestic material culture and conversations about it reveals that in some ways citizens voluntarily espoused and sought to realize in their own homes the authoritative image of socialist modernity. In the modern furniture sets produced under the auspices of the Contemporary Style, the traditional iron bedstead was replaced by a low wooden divan, which could be used as a seat during the day. This displacement was rationalized as a response to the need to make efficient use of space, for all rooms in the flats were used for multiple purposes night and day. However, the purge of the bed as a permanent fixture in the room was also ideological, reflecting two principles which the Bolsheviks had shared with broader modernist tendencies: the rejection of non-functional, conventionalized display of prosperity; and the suppression of rest in favor of constant activity, wakefulness and mobility. In the 1920s, Constructivist (Productivist) artists had designed transformable furniture for the new active person; the suppression of sleep was marked by the fact that its equipment was hidden away during the day or converted into furniture for daytime, waking use.45 Resuming aspects of the earlier utopian campaign for physical as well as political mobilization, the modernizing specialists of the Khrushchev era set out to replace traditional furniture types by light, low and often multipurpose, convertible ones that made efficient, »rational« use of space and materials. If my subjects had brought an old metal bedstead to the new apartment, many soon replaced it by the new furniture type. By the late 1950s, they had begun to discard metal bedsteads by choice in exchange for the modern furniture type serving the same function, the low wooden divan that could be converted into a settee for daytime use. While the old beds continued to serve the physiological need of accommodating sleep, just as they always had, they no longer fulfilled cultural needs associated with »fashion« and with achieving a »contemporary« interior and modern lifestyle. 38

44  Iu. V. Sharov, and G. G. Poliachek, Vkus

nado vospityvat’ (Novosibirsk: Novosibirskoe knizhnoe izdatel’stvo, 1960); Stephen Harris, »Moving to the separate apartment: building, distributing, furnishing, and living in urban housing in Soviet Russia, 1950s–1960s,« PhD Diss. (University of Chicago, 2003): 529. 45  Olga Matich, »Remaking the Bed: Utopia

in Daily Life,« in John E. Bowlt and Olga Matich, eds, Laboratory of Dreams (Stanford, Cal.: Stanford University Press, 1996), 59–78; Irene Cieraad, »A Nation under Reconstruction Never Sleeps: the Rise and Fall of the Dutch Wall Bed,« Journal of Design History 18, no. 2 (2005), 167–77.

Roza’s divan and rug. Photo for Everyday Aesthetics, Kazan’, 2005. (Copyright: ­Susan E. Reid).

Nina – poor, provincial, and with little education – dismissed the notion of »fashion« in regard to her homemaking. With time, however, her spending power increased: »Somehow we got by. And we even managed to put away money in the [savings] book.« Within a few years of her moving in in 1965, and just a few years after divans on wooden frames began to appear in the early 1960s, she also replaced the iron bed. The descent of her once-valued metal bed down the career ladder of things was marked by its relegation from the urban apartment to the dacha (in other cases the bed was handed down to relatives in the countryside) and then being stolen for scrap metal. Interviewer: Why did you throw out the iron beds? Was it uncomfortable? Nina: No not because of that. Yes, of course, people already started to buy wooden ones. It [the bed] was already old. Then we took it to the [dacha] garden. And there it was stolen for the metal. […] We moved in with a metal one. So it was metal. Some had [wooden divans] earlier. Those who were able to. Those who had money bought furniture. It was always in the shops.

Another, Mariia, also specifically cited changing fashion as a reason for replacing her old bedstead by the new type of divan: »We decided that beds were not fashionable.« Leningrad teacher, Ev39

geniia, meanwhile picked up a bed on a dump. Someone else had thrown it out because they were already moving on to buying divans. Rugs Galina (born 1950, with higher education) describes from memory a typical traditional interior from her Leningrad childhood in the 1950s–60s: »On the wall was a rug – that was the done thing. It was thought that it was cold to sleep otherwise, or some such thing. There were also some pictures and photographs.«46 In the traditional Russian and Tatar interior, the focal element was a large rug hung on the wall behind a divan. Rugs used in this way were condemned by modernist advice in the Khrushchev era as backward-looking, unhygienic, oriental dust-catchers. Some of my informants concurred with this view. Yet rugs were still sought after by almost all the homemakers in my study, as essential material of homeyness and markers of prosperity in accordance with traditional norms of proper homemaking (uiutnost’), still mandatory even when they moved to new prefabricated flats with their modern, industrial aesthetic. The interiors indicate the kinds of negotiations homemakers had to engage in. Rugs were a site of conflict among family members, between old and new consumption priorities and home-decorating practices. For example, Roza, a Tatar living in Kazan’, rejected the practice of hanging rugs on the wall, just as the authoritative prescriptions of contemporary good taste demanded. However, in spite of her own preference to adopt the modern, Contemporary Style, she had to hang rugs to accommodate her Dagestani mother-in-law’s criteria of a proper home.47 This exemplifies the limitations of considering only the top-down, specialist discourses available to historians in published and archival textual documents. A whole complex of factors interacted and met in people’s domestic interiors, and homemakers confronted contradictory norms. The new dictates of good, modern taste in home decorating prescribed a radical renewal of domestic material culture.48 But for homemakers it was not so simple; they had to negotiate between the new norms and material structures, their own material possibilities, and their unconsciously acquired dispositions and assumptions about homeyness, propriety and taste. They also had to accommodate the strictures of other authorities, closer to hand than the anonymous experts, concerning propriety and »how it is done.«49 Many spoke of familial, intergenerational contentions over the aesthetics of the home, consumption priorities, and markers of household identity and prosperity, and of how they had to accommodate their own desire for a modern 40

46  Galina, St. Petersburg, interviewed

2007 for »Everyday Aesthetics.« 47  Susan E. Reid, »This is Tomorrow:

Becoming a Consumer in the Soviet Sixties,« in Anne E. Gorsuch and Diane Koenker, eds, The Socialist Sixties: Crossing Borders in the Second World (Bloomington, Ind.: Indiana University Press, 2013), 25–65. 48  E.g. I. Odintsova, »Veshchi v nashem bytu,«

Sovetskaia torgovlia, no. 7 (1961): 51 of 51–3. 49  Pierre Bourdieu, The Logic of Practice

(Stanford, Cal.: Stanford University Press, 1980); Reid, »Communist Comfort;« Joseph S. Berliner, Foreword, in James R. Millar, ed., Politics, Work and Daily Life in the USSR: A Survey of Former Soviet Citizens (Cambridge, UK: Cambridge University Press, 1987).

interior with the preferences and notions of propriety of the older generation (often sharing the same roof, despite the principle of nuclear family allocation).50 In practice, the modernizing vertical authority of party and specialists had to compete with the conservative social authority of the older generation.51 Photographs as material culture In addition to rugs, there were further negotiations to be made concerning the choice of what to hang on one’s walls and how to hang it.52 Photographs, along with other pictures in domestic interiors, should be considered not only as images, but as material objects and sets of practices.53 Photographic display practices emerge from the evidence of the apartment walls and the interviews as a matter of significance and anxiety for my informants in relation to social distinctions and a changing sense of self. They materialize diachronic and synchronic, self-other relations in terms of sameness or difference. Even as their content – portraits of family members, dead and alive – was directed at continuity and preservation of memory,54 photographic displays also mark changes through time.

50  Analysing similar conditions under late

socialism in Slovakia, Makovicky denies that choice played any part for her informants, or that aesthetic choices in the home were a matter of negotiation. Makovicky, »Closet.« 51  Stephen Lovell, »Soviet Russia’s Older

Generations,« in idem, ed., Generations in Twentieth-Century Europe (Houndsmill: Palgrave Macmillan, 2007), 205–226. 52  An earlier version of this discussion

appears in Russian in Reid, »Kak obzhivalis’ v pozdnesovetskoi modernosti«, 352–97. 53  Elizabeth Edwards and Janice Hart, eds,

Photographs, Objects, Histories: On the Materiality of Images (London: Routledge, 2004); cf. Rebecca Empson, Harnessing Fortune: Personhood, Memory, and Place in Mongolia (Oxford: Oxford University Press, 2011). 54  Elizabeth Edwards, »Photographs as

Objects of Memory,« in Kwint et al., eds, Material Memories, 221 of 221–236. 55  Tat’iana, Kovdor, interviewed

2007 for »Everyday Aesthetics.«

My oldest informants recalled that it was »fashionable,« in their lifetime, to have photographic collages or oklady (iconostases): arrangements of a large number of family photographs on the wall, sometimes contained within a rectangular frame. Anna F. (­Kovdor), born in 1919, had left her impoverished village in the South West of Russia when she was eighteen years old to move to the Far North in search of income, self-betterment and opportunity, and she had trained as an aircraft engineer. In the ­mid-2000s she still had photos of family members on the wall, hung in frames that her husband had made. Raisa (Kaluga) also came from a very poor rural background, but was a generation younger than Anna F. She recalls that photographs of family – grandparents, aunts, parents – mounted on card or board, in wooden frames of different sizes, had been »fashionable« in the post-war period. However, some time before 1968 they had »suddenly disappeared.«55 Similarly, Zinaida (Kovdor) associated the practice of hanging photographs with her childhood home where she remembered »oklady« of photos on the wall. As an adult this was something she never practiced, she emphasizes; it had no part in her homemaking or her self-construction. Zinaida: I never hung photos. Although when I was a child we had these big oklady and all the photos were there on the wall. Interviewer: But you didn’t want to do it here? Z: No. 41

I: You didn’t like it? Why? Z: I don’t know. Evidently things had changed, so to speak … it was mother’s apartment. Well, how to put it, everybody had them and clearly everyone imitated one another. I don’t know. Here we didn’t. We didn’t hang any pictures at all.

As in the case of beds, Zinaida and others explain the disappearance of photo-oklady in terms of »fashion,« implying that it was a matter of imitation of others.56 Some of my St. Petersburg intelligentsia informants, such as Anna A., had no photos on the walls. »There were definitely never any photos. […] Somehow it wasn’t done [to put them] on the walls.« Interviewer: So why weren’t there any photos? In your family, back when you lived in Orenburg, did you have photos? Anna: Never, never. Anna’s daughter: Well it depends on the family. I: Because in a lot of people’s [homes] they’ve kept whole iconostases. A: Well you know, no. […] I remember of course that on the sideboard there were very fine frames. There were photos there, I suppose, of father. Daughter: They were displayed … A: But never on the walls.

Conscious of their cultural capital and the cultured, modern tastes this presupposed, Anna and her daughter make clear the social stigma attached to display practices: putting photos on the wall was the kind of thing that other people did – those who also hung rugs on the wall; it was a lower class or »rural« practice and, as such, backward and old fashioned.57 Asked why she did not hang photos on the walls, Tat’iana, who had moved to the city of Kaluga from a village, replied unequivocally: »That was in the countryside; there were my mother’s photos hanging there. She came here, my mum died here, and I left the photograph of her, of course, but I hung it in my own bedroom, my own. I didn’t hang anything in the girls’ room.« Rejecting the practice, she separated herself from her rural mother and from her own rural origins, thus shoring up her sense of herself as a modern urban dweller. To hang photos was rural culture and, she says, »after all, it’s the city here.« Thus, the material culture of photographic display emerges as a divider between past and present selves and between self and others, along generational and urban/rural lines, as well as those of class and education. The ways they discuss their own and other people’s aesthetic and consumption decisions indicate a strong sense of hierarchical stratification or distinction on the basis of cultural capital. 42

56  Svetlana in Apatity, interviewed 2007

for »Everyday Aesthetics,« also explains the passing of this practice in the same way. 57  Cf. Leonid Nevler, »Vse gorazdo slozh-

nee …,« DI SSSR, no. 3 (1963): 29–32.

Few wall displays of family photographs were still extant by the time of the interviews, having become unfashionable in the 1960s–70s. Photo for ­Everyday ­Aesthetics, Tartu 2006. (Copyright: ­Susan E. Reid).

58  E.g. Anneta, Kaluga, takes out her

»nenagliadnaia« (beloved), an old photo-­ postcard of Brigitte Bardot, from her cabinet to show the interviewer. 59  Photographs, once a prestigious luxury

commodity, became commonplace, part of mass visual culture. Igor’ Narskii, Fotokartochka na pamiat’: semeinye istorii. Fotograficheskie poslaniia i sovetskoe detstvo (Cheliabinsk: Entsiklopediia, 2008). See also V. Shlapentokh, Public and Private Life of the Soviet People: Changing Values in Post-Stalin Russia (Oxford: Oxford University Press, 1989); N. A. Aralovets, Gorodskaia sem”ia v Rossii, 1927–1959 gg. (Tula: Grif i K, 2009), 228–9; Kent Geiger, »The Family and Social Change,« in Cyril Black, ed., The Transformation of Russian Society: Aspects of Social Change Since 1861 (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1960), 447–58.

Given the close connection between photos, memory and self-identity, Tat’iana’s account also suggests another process at work. This was not so much to do with large categories such as class, as the basis of identity, but more with personal relationships and a subjective sense of self. The single photograph of her mother, which survived this purge, now hung in her personal space, the bedroom. The iconostasis of photos that had once hung on the walls of the household’s shared space, the zal (parlour), had laid out family identity in terms of genealogy and generations for all who lived there and for their visitors to see. With its removal, the »public« display of dynasty – defining who one is through one’s heredity and relations to past generations – was replaced by a more selective, immediate and intimate display of a single photo of her mother, which migrated to the more »private« space of her bedroom. In other cases, photos were kept, unframed, behind the glazed doors of the cabinet, to be taken out occasionally, shown and held.58 The disappearance of the family tree from the wall coincided approximately with the period of moving to new flats designed for single nuclear families, and the consequences of that move: the separation (in some cases) from the older generation, loosening hold of tradition, and purge of old material culture.59 43

Conclusion Why then should material culture matter to the historian of Khrushchev-era Soviet Union? First, enormous significance and agency were ascribed during the Khrushchev era to material conditions in the project of social transformation. While textual sources (contemporary publications and archival sources) can tell us much about these authoritative positions and intentions, they are less informative about how they were realized on the ground. Domestic material culture and the way occupants of state housing negotiated domestic architectural space can be a useful prism to study both micro and macro processes within the same frame. Material culture, as a historical source, and material culture history, as a methodology, can help us access aspects of popular agency in and experience of this period of intensive modernization and transformation of the material environment. In combination with other types of sources, material culture affords us a glimpse of how the intensive modernization that took place in the Soviet Union after Stalin was experienced and also produced in everyday life, and enhances our understanding of the meanings which this process had in »ordinary people’s« lives and in their sense of self. I affords a more nuanced understanding of the nature of Soviet »consumer society« based primarily on an idealized image of consumption in the USA. Material culture – taken in combination with how subjects talk about it – allows us insights into self-ascribed identities and social distinctions (class) on grounds of taste and preferences in home decorating and consumption. It can help us to draw out how people felt about themselves, their relations to others, aspirations and social mobility, for example, the changes associated with the move from countryside to the city. It also problematizes the idealized picture presented by authoritative contemporaneous sources, allowing us to trace the tensions between forces of continuity and change, the contradictions between different authorities and macro »structures,« as well as the emergence of new attitudes towards consumption, and new identities. It takes us away from questions about how change was supposed to happen and prescriptions for how people should embrace modernity, towards understanding how, in everyday practice, they struggled with the relations between old and new material culture, horizontal as well as vertical authorities, and how they appropriated or accommodated the material givens of their lives.

44

Titelseite des Brigadetagebuchs der Brigade »Junge Generation« der Textilverkaufsstelle 603 der Konsumgenossenschaften, »Kaufhaus für die Dame«, Eisenhüttenstadt, 1965/66, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

POLITISCHE OBJEKTE – POLITISIERTE OBJEKTE HISTORISCHE KONTEXTE UND BEDEUTUNGSZUWEISUNGEN DER MATERIELLEN KULTUR IN DER DDR ANDREAS LUDWIG

1  Martin Blum: Remaking the East German

Past: Ostalgie, Identity, and Material Culture, in: The Journal of Popular Culture 34 (2000), H. 3, S. 229–253; Jonathan Bach: »The Taste Remains«: Consumption, (N)Ostalgia, and the Production of East Germany, in: Public Culture 14 (2002), H. 3, S. 545–556; Thomas Ahbe: Ostalgie als Laienpraxis. Einordnungen, Bedingungen, Funktion, in: Berliner Debatte INITIAL 10 (1999), H. 3, S. 87–97. 2  Vgl. am Beispiel eines verbreiteten

elektrischen Haushaltsgeräts: Kommen Rührgeräte in den Himmel? Ein Film über Nachhaltigkeit, Deutschland 2016, 94 Minuten, R.: Reinhard Günzler. 3  Zur anhaltenden Verfestigung dieses Bildes

vgl. die Rezension von Lothar Heinke: Wiedersehen mit Praktica & Co., in: Der Tagesspiegel, 14. Dezember 2017, über Justinian Jampol, Wendemuseum (Hg.): Das DDR-Handbuch. Kunst und Alltagsgegenstände aus der DDR, Köln 2017, in der als Abbildungen der Buchtitel mit Staatssymbol und ein Trabant erscheinen. 4  Nach Pierre Nora sind sie offenbar zugleich

Objekte des kommunikativen wie des kulturellen Gedächtnisses. Vgl. seine Unterscheidung zwischen lieux und milieux de mémoire in: Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990 (frz. 1984/86), S. 11. 5  In Anlehnung an Hans Linde: Sachdomi-

nanz in Sozialstrukturen, Tübingen 1972.

In den vergangenen gut 25 Jahren und auch noch aktuell gibt es Dinge, die in der Retrospektive mit der DDR in Verbindung gebracht werden und als Leitfossilien einer vergangenen Gesellschaft fungieren: Der Trabant, der Plattenbau, bestimmte Gerichte werden im kommunikativen Gedächtnis territorial, einer historischen Zeit, einem politischen, staatlichen oder lebensweltlichen Kontext zugeordnet. Diese an Dinge gebundene Erinnerung wurde in der öffentlichen Diskussion unter dem Begriff der »Ostalgie«1 gefasst. Gemeint war damit der Verdacht einer unkritischen oder unpolitischen Erinnerung an die DDR, die sich an Filmen, Musik und vor allem an Dingen festmacht. Als Erinnerungsanker und Kommunikationsauslöser fungierend, seien sie individuell-lebensweltlich fundiert und damit selektiv. Was an dieser Interpretation dingbezogener Erinnerung wichtig ist, ist der Hinweis auf die nachträgliche Bedeutungszuweisung, die eine kulturelle Aufwertung oder auch schlichtweg eine Umdeutung2 mit sich bringen kann. Es stellt sich deshalb die Frage, inwieweit diese popularkulturell konnotierten Erinnerungsobjekte3 des kommunikativen Gedächtnisses4 spezifisch für die DDR als Staat und als Gesellschaft waren. Immerhin stellen sie lediglich einen kleinen Ausschnitt aus der Dingwelt des Alltags in der DDR dar und somit wird der weitaus größte Teil der materiellen Kultur außer Betracht gelassen. Diese retrospektive Blickrichtung soll im Folgenden umgekehrt werden: Gefragt wird nach der expliziten und immanenten Bedeutung von Dingen während ihres Gebrauchs, also in der DDR. Es geht deshalb nicht um individuelle Erinnerungsobjekte der Gegenwart, sondern um deren zeitgenössische Funktion. Diese Perspektive soll noch weiter zugespitzt werden, indem der Frage nachgegangen wird, ob und wie sich die Objekte der materiellen Kultur der DDR, jenseits der Beiläufigkeit der Dingausstattungen,5 von denen anderer Gesellschaften unterschieden, wie sie in ihrer Funktion auf die konkrete Situation in der DDR bezogen und mithin in einem historischen Kontext verortbar waren. Dies scheint aus zweierlei Gründen notwendig, um, erstens, die Perspektive einer nachträglichen Bedeutungszuweisung zu ver-

lassen und, zweitens, die Gesellschaftsspezifik der DDR auf dem Feld der materiellen Kultur zu präzisieren. Gibt es also, jenseits der mit anderen Gesellschaften vergleichbaren Dingausstattungen, etwa Konsumgütern und dergleichen, eine Objektkultur, die spezifisch war und in der die DDR als Staat und Gesellschaft erkennbar ist? In den folgenden Abschnitten wird es dabei um einen wesentlichen Teilaspekt gehen, um Dinge und ihre politische Dimension in der DDR. Gemeint sind damit einerseits Objekte, an denen politische Botschaften und Bedeutungen aufgrund ihrer Bildsprache und des erkennbaren Herstellungs- und Verwendungszusammenhangs direkt ablesbar sind, andererseits Alltagsobjekte aus der Dingwelt der DDR, deren politische Bedeutung offiziell kommunikativ hergestellt wurde.6 Diese Unterscheidung in »politische Objekte« und »politisierte Objekte« ist im Einzelfall nicht immer klar zu treffen, soll jedoch helfen, unterschiedliche Strategien von Vergesellschaftung zu verdeutlichen. Die Frage nach dem Politischen in der materiellen Kultur der DDR wäre Zeitgenossen unmittelbar evident gewesen, denn häufig wurde die Produktion banaler Konsumgüter und deren Markteinführung in Zeitungen und Zeitschriften wahlweise als Erfüllung des Volkswirtschaftsplans, als Erfolg des Sozialismus, als Beitrag zum Friedenskampf bezeichnet oder mit ähnlichen propagandistischen Formulierungen in Verbindung gesetzt. Die hier untersuchten Beispiele entstammen jedoch einer Museumssammlung, die nach 1990 mit dem Fokus auf Alltagskultur angelegt wurde und die zu guten Teilen aus Schenkungen aus der Bevölkerung besteht.7 Aus der Betrachtung dieser Sammlung, in der erkennbar mit Indizien des Politischen versehene Objekte in auffälliger Zahl vorhanden sind, ergab sich die Vermutung, dass die Dimension des Politischen nicht nur aus einer retrospektiven Perspektive, sozusagen als Sammlungssediment, sondern auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Situierung im DDR-Alltag zeithistorisch und lebensweltlich spezifisch ist. Dies provoziert auch die Frage nach der Anwesenheit politischer Konnotationen als Normalität und nach ihrer Internalisierung durch Gewöhnung. Politische Objekte »Politische Objekte«, deren politische Konnotation offensichtlich ist, finden sich in den alltagskulturellen Museumssammlungen nach einer überschlägigen Zählung zu Tausenden. Die Fahnen, Wimpel, Plakate, Gastgeschenke und Auszeichnungen, bis hin zu Widmungen in Buchgaben, bilden eine eigene Objektkultur als Träger von Symbolen des Staates, der Parteien und 48

6  Objekte, die aufgrund ihrer Materialität, und

damit der wirtschaftlichen und produktionstechnischen Gegebenheiten, eindeutig der DDR zuzuordnen wären (z. B. Textilien auf Grundlage von Malimo-Technik oder Kunststoffartikel) werden hier ebenso wenig berücksichtigt wie Objekte eines oppositionellen Kontextes, die noch einer eigenen Untersuchung bedürfen. 7  Andreas Ludwig: Alltag, Geschichte und

objektbezogene Erinnerung. Bemerkungen zur Konzeption eines Museums der Alltagskultur der DDR, in: ders., Gerd Kuhn (Hg.): Alltag und soziales Gedächtnis. Die DDR-Objektkultur und ihre Musealisierung, Hamburg 1997, S. 61–81.

8  Rainer Gries: Dramaturgie der Utopie.

Kulturgeschichte der Rituale der Arbeiter-und-Bauern-Macht, in: Peter Hübner, Christoph Kleßmann, Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 191–214. 9  Alf Lüdtke: »Helden der Arbeit« – Mühen

beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 188–213, S. 188. 10  Zur individuellen Bedeutung des privaten

Dingbesitzes vgl. Tilmann Habermas: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt am Main 1999. 11  Der Begriff der »Repräsentationskultur«

bezeichnet dabei jedoch nicht nur anlassbezogene materielle Ausstattungen, sondern auch die visuell-dinghafte Repräsentation des Staates auf Alltagsgegenständen. 12  Die Sammlungsstrategie des Dokumenta-

tionszentrums sah bewusst keine typologische Auswahl vor, d. h., die musealisierten Objekte beruhten auf Relevanzentscheidungen der Schenkerinnen und Schenker, vgl. Andreas Ludwig: Alltagskultur der DDR. Konzeptgedanken für ein Museum in Eisenhüttenstadt, in: Bauwelt 85 (1992), H. 21, S. 1152–1155.

Massenorganisationen und der offiziellen Anlässe. Diese Objekte beinhalten dabei zweierlei: erstens Botschaften ihres Handlungszusammenhangs, der oftmals ritueller Natur war.8 An Staatsfeiertagen, auf Parteitagen oder anlässlich der Übergabe von Auszeichnungen verbanden sich Objekt und Handlung. Die Dinge gehörten also in einen konkreten zeremoniellen Zusammenhang und sie wurden über den direkten Anlass hinaus langfristig verwahrt, bildeten damit einen tendenziell dauerhaften Bestandteil des privaten Dingbesitzes. Dadurch verweisen sie, zweitens, anlassbezogen wie auf Dauer, auf den Geber, der für die Produktion und Verteilung verantwortlich war. Angesichts der eindeutig identifizierbaren Auftraggeber, der schieren Menge und typologischen Vielfalt der Objekte sowie deren Vorkommens auch in privatem Besitz stellte sich zunächst die Frage, ob es sich bei den politischen Objekten um Materialisierungen einer »durchherrschten Gesellschaft«, so der von Alf Lüdtke eingeführte Begriff,9 handelt – Dinge also, die zum einen mit der klaren Botschaft der Gegenwärtigkeit von Macht und ihren Institutionen aufwarteten und als solche wahrgenommen werden sollten. Zum anderen stellt sich die Frage, ob sich die intendierte eindeutige politische Funktion dieser Objekte in ihrem Verwahrkontext gleichermaßen eindeutig darstellte oder ob sie, integriert in einen lebensweltlichen Erinnerungskontext, eine Art Beiläufigkeit annahmen. Mutierten die Dinge also von einer intendierten Botschaft zu einem individuellen Besitz, dessen Bedeutung sich allerdings vorerst nur durch die Dauerhaftigkeit der Inkorporation erschließt?10 Aus einer historischen Perspektive handelte es sich bei den politischen Objekten um die Materialisierungen einer Repräsentationskultur11 mit einer klar identifizierbaren visuellen Sprache. In den musealen Sammlungen ist diese materielle Repräsentationskultur schließlich auf Dauer gestellt. Die politischen Objekte der DDR bilden dabei einen bereits auf den ersten Blick auffallenden Teilbestand, nicht nur in den hier untersuchten Sammlungen des Eisenhüttenstädter Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, sondern auch in anderen Museen. Exemplarisch sollen einige dieser »politischen Objekte« vorgestellt werden, um die Spannbreite dieser Dingwelt, aber auch die über sie erkennbaren Handlungen und die verschiedenen Ebenen der mit ihnen verbundenen Botschaften zu verdeutlichen. Bei allen vorgestellten Beispielen handelt es sich um Massenobjekte, die sich in privatem Besitz befanden.12 Das erste und offenkundigste Beispiel sind Ausweise. Ihre Vielzahl ist ebenso auffallend wie auch die Verwendung von Staatssymbolik exzessiv, nicht nur aus der Perspektive des post49

Streichholzetikett, Konsum-­Zündwarenfabrik Riesa, 1959, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Der ­Anlass des 10-jährigen Bestehens der DDR wird durch die Verwendung der Nationalfarben und der Figur einer eine Eiche pflanzenden Frau, die Zukunft und Dauerhaftigkeit symbolisierten, bildhaft in Szene gesetzt. Das gleiche Motiv findet sich im Übrigen auch auf den 50-Pfennig-­Stücken der Bundesrepublik Deutschland.

nationalen Zeitalters. Das Staatssymbol trugen über 30 Jahre, von 1959 bis 1989/90, nicht nur Reisepass und Personalausweis, sondern auch zahlreiche Berechtigungs- und Qualifikationsnachweise wie Fahrerlaubnis, Ausweise für Gruppenleiter und Helfer von Ferienlagern und die Teilnehmerhefte der Kinder, Wehrdienstund Sozialversicherungsausweise,13 Mitgliedsausweise der Stadtverordnetenversammlungen, Qualifikationsnachweise14 oder Neuererpässe15, die damit alle den Status eines staatlichen, Bedeutsamkeit vermittelndem Dokuments erhalten. Diese Bedeutung wurde auf die Trägerinnen und Träger übertragen und anlassbezogen öffentlich gemacht, indem die Dokumente in einem feierlichen Akt öffentlich überreicht und bei Bedarf vorgezeigt wurden, was ihre Träger zu beauftragten Funktionsträgern oder Mitgliedern einer approbierten Gemeinschaft machte. Ebenso wurde das Staatssymbol durch Praxis angeeignet, wie das Frontispiz zu diesem Beitrag zeigt. Die Brigade »Junge Generation« einer Textilverkaufsstelle der Konsumgenossenschaften in Eisenhüttenstadt schmückte mit ihm das Titelblatt ihres Brigadetagebuchs und machte damit dieses Dokument des inner- und zwischenbetrieblichen Leistungsvergleichs und der Planerfüllung, und zugleich ihrer eigenen Arbeitsleistung, zu einem Beitrag zum Ganzen. Die Verwendung des Staatswappens bedeutete nicht nur eine symbolhafte Verdichtung staatlicher Präsenz und Bezugnahme, sondern auch die Behauptung von staatlicher Souveränität und 50

13  Der »Ausweis für Arbeit und Sozialver-

sicherung« enthält Eintragungen zu den Beschäftigungsverhältnissen sowie über ärztliche Behandlung, Kuren, Vorsorge usw. und ist das Nachweisheft für Rentenzahlungen. 14  »Nachweisheft für berufsbegleitende

Qualifikationen«. Das Motto ist ein Leninzitat: »Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Wirtschaftsordnung«. 15  Nachweisheft für Erfindungen, Patente

und betriebliche Verbesserungsvorschläge.

Eigenständigkeit. Dies wird deutlich, wenn man die Symbolverwendung mit der Zeit vor 1959 vergleicht. Vor der Einführung des aus Hammer, Zirkel und Ährenkranz zusammengesetzten Staatswappens nutzte die DDR lediglich die schwarz-rot-goldene Trikolore als seit den Befreiungskriegen demokratisch konnotierte Nationalfarben, dies allerdings, im Gegensatz zur Bundesrepublik, oftmals in Verbindung mit der politischen Botschaft von Frieden, Aufbau, Fünfjahrplan der Volkswirtschaft und gesamtdeutschem Anspruch.

16  Haus des Reisens und Alexanderplatz,

Berlin, Puzzlespiel, 200 Teile, Annaberger Puzzle, VEB Plasticart Annaberg-Buchholz, undatiert (1980er Jahre). 17  Vgl. Rita Aldenhoff-Hübinger: »Achtung,

Chemischreinigung!« Handwerk und Dienstleistung in der DDR, in: Dokumentationszen­ trum Alltagskultur der DDR (Hg.): Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin 1999, S. 105–112, S. 108. 18  Außer der FDJ (Blau) und den »bewaffneten

Organen« (Grün) wurde Rot nicht nur von der SED, den Gewerkschaften und Volkseigenen Betrieben, sondern auch ohne Institutionenkennzeichnung verwendet. Zur gesellschaftsstrukturierenden Rolle der Institutionen und (Massen-) Organisationen vgl. M. Rainer Lepsius: Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: Kaelble/ Kocka/Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte, S. 17–30.

Eine zweite Objektgruppe bildet sich aufgrund ihrer Farbgebung heraus: die Farbe Rot als Symbol für die revolutionäre Arbeiterbewegung. In der Ikonologie der offiziellen Feierlichkeiten im öffentlichen Raum der DDR ist das Fahnenmeer präsent, bei dem neben der Nationalflagge ebenbürtig auch die Rote Fahne gezeigt wurde. Diese anlassbezogene Repräsentation der revolutionären Tradition wurde durch Fotografie auf Dauer gestellt und massenhaft in verschiedenen Kontexten reproduziert, etwa in Büchern, Publikumszeitschriften und dem Fernsehen. Sie findet sich auch, als Beispiel für einen Alltagsgegenstand, auf einem Puzzlespiel,16 das das moderne Stadtzentrum Berlins zeigt. Auf einer ersten Bildebene ist die neu erbaute sozialistische Hauptstadt durch Hochhäuser und Geschäftsbauten am Alexanderplatz repräsentiert, jedoch gerahmt durch Blumenrabatten als Symbol für Friedfertigkeit und Blüte sowie einen Fahnenschmuck aus Nationalflagge und Roter Fahne – ein hochsymbolisches Arrangement aus Moderne, Frieden und Sozialismus, den Schlagworten der Zeit, mit dem sich puzzelnde Bürger an langen Winterabenden auseinandergesetzt haben mochten. Damit unterschied sich dieses Bild auch von den zahlreichen altertümlichen Berolinensien, die als Souvenirs in Umlauf waren, und näherte sich der massenmedialen Präsentation Berlins als Hauptstadt der DDR an. In Rot gehalten sind auch zahlreiche Objekte der politischen Repräsentationskultur, nicht nur der der SED, etwa Wimpel, Auszeichnungsmappen und Ordensschachteln, Delegiertenmappen, Bildalben, Brigadetagebücher und Repräsentationskartons. Sie bildeten eine eigene Produktkultur, die von privaten und vergenossenschaftlichten Handwerksbetrieben hergestellt wurde.17 Zugleich sind sie Objekte eines öffentlichen Aktes der Übergabe von Auszeichnungen, bei Delegationstreffen und der Repräsentation der Staats- und Gesellschaftsorganisation der DDR und ihrer Institutionenordnung.18 Die Farbe Rot markiert eine politische Verortung im Alltag, indem sie bei öffentlichen Anlässen verwendet wird, und objektgebunden wird sie eine farblich markierte, ja konnotierte Gabe, die durch Übergabe in persönlichen 51

Besitz gelangt und dort dauerhaft inkorporiert wird. Die »politischen Objekte«, identifizierbar durch Symbolsprache, Bildlichkeit und Objekttyp, sind als Teil eines identifizierbaren Handlungskontextes in der Schnittmenge von Individuum und öffentlichem Leben situiert. Damit sind nicht notwendig Rituale gemeint, die Rainer Gries als Herstellung von Gemeinschaftlichkeit zwischen Herrschern und Volk charakterisiert,19 sondern eher eine über Dinge vermittelte Rahmensetzung, die politische Ziele und gesellschaftliche Normen unzweifelhaft kommuniziert, sie aber zugleich konsumierbar macht und durch Dingbesitz und Dinganeignung in das individuelle Leben inkorporiert. Weniger durch Signet- und Farbsymbolik als durch bildhafte Konkretion erscheint der Staat durch die Verbreitung seines Gesellschaftsbildes auf Massenobjekten, wie an einigen Beispielen im Folgenden gezeigt wird. Der ab 1971 in Umlauf gebrachte 10-Mark-Geldschein der DDR bildet auf seiner Rückseite eine junge Frau ab, die an einer modernen Steuerungsanlage arbeitet. Das Motiv nimmt das für die DDR spezifische gesellschaftliche Ziel einer Emanzipation der Frau über Berufsarbeit auf. Auf der Vorderseite des Geldscheins ist Clara Zetkin abgebildet, einflussreiche Politikerin der SPD und später KPD und 1910 Mitinitiatorin des Internationalen Frauentags. Das eindeutige Motiv der Emanzipation der Frau durch Berufsarbeit wird verstärkt durch eine weitere Narration, die der Moderne in der Produktion. Gezeigt wird nicht eines der verbreiteten weiblichen Berufsfelder in Handel oder sozialen Diensten, sondern die Zielperspektive einer Qualifizierung weiblicher Arbeitskräfte zur Meisterung der »wissenschaftlich-technischen Revolution«. Zum Gesellschaftsbild der DDR gehört die Arbeit als Kern der Gesellschaftsordnung und der Selbstverwirklichung. Dieser Vergesellschaftungskern erscheint unter anderem auch in der bildhaften Narration eines Stundenplans, den der VEB Kohlehandel Neubrandenburg 1962 als »Werbegeschenk« herausgegeben hat. Die Bildgeschichte zeigt den Weg der Kohle vom Bergmann bis hin zum gemütlich im Sessel sitzenden, Zeitung lesenden Bürger und verweist damit darauf, dass hinter jeder Alltagssituation die Arbeit anderer steht. Diese enge Verbindung von Individuum und Staat, Arbeit und Gesellschaft wird als kollektives Denken zum Erziehungsziel und zur Norm. Dafür steht als Objekt mit explizitem Handlungsbezug das sogenannte »Brigadetagebuch«, das kurz nach Beginn der Brigadebewegung 1959 als schriftliches Protokoll aus der Arbeitswelt im Zuge eines organisierten Leistungsvergleichs ein52

19  Dies würde nach Gries ein gegensei-

tiges Einverständnis in Sinn und Bedeutung der Handlung voraussetzen.

Stundenplan mit Werbung für die Bevorratung mit Kohle, VEB Kohlehandel Neubrandenburg, 1962, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Der Stundenplan richtete sich an die Eltern und zeigt auf der Rückseite den folgenden Reim: »Der Kumpel schafft von früh bis spät / Damit es allen besser geht. / Ihr könnt ihn wirksam unterstützen, / Nur müßt die Sommerzeit ihr nützen! / Drum liebe Eltern, denkt daran: / Schafft Winterkohle jetzt heran! / Wir bitten euch, befolgt den Rat, / Ihr spart viel Zeit und Geld / Für euch und unseren Staat.«

20  Peter Hübner: Konsens, Konflikt und

Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945–1970, Berlin 1994; Märkisches Museum, Museum Berliner Arbeiterleben: Manöver Schneeflocke. Brigadetagebücher 1960–1990, Berlin 1994. 21  Jörg Roesler: Berichtsbuch, Beschwerde-

schrift oder Bilderfolge? Unterschiedliche Vorstellungen zum Inhalt von Brigadetagebüchern in den Anfangsjahren der »sozialistischen Kollektive«, in: Ruth Reiher, Antje Baumann (Hg.): Vorwärts und nichts vergessen. Sprache in der DDR – was war, was ist, was bleibt, Berlin 2004, S. 206–214.

geführt wurde. Es enthält Bezüge zur Planerfüllung, aber auch zu politischen Ereignissen, zur Persönlichkeitsentwicklung einzelner Brigademitglieder sowie zur Praxis der Gemeinschaftlichkeit in Beruf und Freizeit.20 Die einzelnen Brigadebücher sind unterschiedlich ausgeführt. Einige enthalten kritische Kommentierungen zur Haltung der Brigademitglieder, unterschiedslos alle Bücher harmlose Berichte über gemeinschaftliche Unternehmungen sowie Eintragungen zu politischen Ereignissen, beispielsweise Parteitagen der SED. Sprachlich herrscht der Berichtsstil vor, wobei ironische Kommentierungen des inneren Brigadelebens vorkommen. Das Brigadebuch war als Werkzeug zur Reflexivität einer Gruppe, eines Kollektivs gedacht, enthält aber ebenso symbolische Elemente der Verpflichtung zum Bericht, zur öffentlichen Nachweisführung der Leistungen der Brigade gegenüber der Betriebsleitung. Da sich ein gut geführtes Brigadetagebuch positiv auf die Vergabe der Auszeichnung »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« auswirken konnte, war es weit verbreitet und auch bezüglich der Themenwahl (»sozialistisch arbeiten, lernen und leben«) und äußeren Gestalt – in rotes Kunstleder gebundene Mappe mit goldenem Aufdruck, mit eingelegtem Papierblock, der durch Buchbinderschrauben festgehalten war – weitgehend standardisiert.21 Das Brigadetagebuch gibt in seiner protokollierenden Mischung aus erforderlichen Berichten, zustimmenden Stellungnahmen, kritischen Einwendungen und Banalem aus dem 53

Brigadeleben nicht nur einen Einblick in die Routinen, mit denen einer Erwartungshaltung begegnet wird, sondern hat aufgrund seiner Permanenz der Nachweisführung und der Öffentlichkeit der Einträge einen hohen Symbolgehalt. Es ist ein Objekt, das Herrschaftsverhältnisse und Vertragsbeziehungen beschreibt, die durch wiederholende Praxis gefestigt werden. »Politische Objekte« sind also Materialisierungen von Herrschaft in einem konkreten historischen Kontext. Sie wurden von der Herrschaftsebene in großen Stückzahlen produziert und distribuiert und ihre Herstellung ist ein eigenes Produktionssegment. Es entsteht damit eine eigene Produktkultur für eine klar umreißbare Politik, Staatlichkeit und Gesellschaftsstruktur, also eine spezifische materielle Kultur. »Politische Objekte« sind Gegenstände, die Herrschaft auch tatsächlich ausübten, indem sie benutzt wurden, sei es im Zuge symbolischer Handlungen, sei es beim Bezahlen, beim Anzünden des Ofens, beim Spieleabend oder bei der Organisation des Schülerlebens. Sie sind in Alltagsroutinen eingebundener materieller Bestandteil des Gesellschaftsziels einer Integration des Individuums in die Kollektivität des Lebens. »Politische Objekte« sind damit Teil von Lebenswelt. Ihre Produktion und ihre Verteilung erfolgten ebenso intentional wie planhaft und damit können sie, jenseits ihrer reinen Gebrauchsfunktion, als Materialisierungen von Herrschaft interpretiert werden, die eng an historische und gesellschaftliche Kontexte gebunden waren. Jenseits der Intentionalität ihrer Auftraggeber muss allerdings offen bleiben, wie diese politischen Objekte wirkten. Wurde die rote Mappe mit dem Staatssiegel bei der Übergabe einer Auszeichnung als explizite Gratifikation des Staates DDR entgegengenommen? Wurde das Bild auf der Streichholzschachtel überhaupt wahrgenommen? Festhalten lässt sich, dass diese Dinge nicht nur aufbewahrt wurden und damit in eine private materielle Umgebung inte­griert waren, sondern auch als »DDR-Dinge« an ein Museum abgegeben wurden. Sie gehörten als Sedimente eines Lebens in der DDR gleichsam »dazu«, das Politische durchdrang in symbolischer und materieller Form den Alltag, ob eher beiläufig oder als Erinnerungsobjekt, die individuelle Dingausstattung. Politisierte Objekte Dem steht eine zweite Gruppe von Objekten der materiellen Kultur gegenüber, die ich als »politisierte Objekte« bezeichnen möchte. Damit sind Dinge des Alltags gemeint, die unter spezifischen historischen Konstellationen der DDR-Entwicklung entstanden sind und mit einer politischen Bedeutung kommunikativ aufgeladen 54

Zündholzetiketten, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: ­Andreas Ludwig).

wurden. Im Gegensatz zu den »politischen Objekten« sieht man ihnen eine politische Konnotation nicht notwendigerweise an, man muss sie lesen können. Ihr Symbolgehalt ist weniger deutlich, ihre Integration in die Alltagswelt gestaltet sich subtiler und oftmals sind sie erst durch die zeitgenössische Formulierung eines politischen Kontextes als »politisierte Objekte« identifizierbar. Es stellt sich damit die Frage, ob sie von den Zeitgenossen als unzweifelhaft politisch kontextualisiert erkennbar waren und auch so wahrgenommen wurden. Viele der im Folgenden untersuchten Alltagsdinge erweisen sich erst in der Rückschau als charakteristisch für eine Politisierung des Alltags, teils weil sie in der historischen Forschung als Bestandteil der materiellen Kultur der DDR identifiziert werden, teils weil sie in ihrer musealisierten Form als verdichtete thematische Sammlung zugänglich sind, während sie zeitgenössisch nur vereinzelt und in einem Gebrauchszusammenhang auftauchten. Ein solches Objekt, das den Unterschied zwischen Alltagsgebrauchsgegenstand und musealer Sammlung als Vergegenwärtigung verdeutlicht, sind die Etiketten von Streichholzschachteln. Die auf dem Bild erkennbare Zusammenstellung zeigt eine private Sammlung, die sowohl auf den Gebrauchs- wie den Sammlungszusammenhang des Alltagsobjekts Zündholzschachtel verweist. 55

Der Gebrauchszusammenhang zeigt sich in den auffälligen Abnutzungsspuren der Etiketten. Der Sammlungszusammenhang zeigt sich darin, dass die Zündholzschachteln nach Verbrauch bewahrt und ihre Bildseiten zu Sammlungszwecken herausgeschnitten wurden. Das Bild zeigt auf einer ersten Ebene eine für die 1950er Jahre typische Zusammenstellung, wenn man so will eine »Haushaltsmischung« der zu dieser Zeit verbreiteten Bildmotive. Hier finden sich Standardetiketten (»Sicherheitszündhölzer«) neben Aufbaumotiven (»Wir bauen Deutschland schöner«), Werbung für die staatliche Handelsorganisation HO, Hinweise zum Ankauf von Kaninchenfellen und Altstoffen sowie Verhaltensregeln zu Brandschutz und Verkehrssicherheit. Alle Motive wurden von Ministerien, staatlichen Betrieben oder Massenorganisationen bei den Zündholzherstellern22 in Auftrag gegeben. Was heute als objektbasierte kulturgeschichtliche Übersicht über kommunikative Vermittlung erscheint, war ursprünglich die mit der Nutzung eines Alltagsgegenstands verbundene Konfrontation mit Botschaften über Ziele, Möglichkeiten und Normen.23 Damit zeigt sich nicht nur ein sehr weiter und stark aufgefächerter Politikbegriff, sondern auch die mit der Handhabung des Objekts verbundene Beiläufigkeit zeitgenössischer Information, die jeweils, je nach Füllgrad der Schachtel, etwa 40 Mal wirksam werden konnte. Allerdings war diese spezifische Bildpolitik auf die 1950er und 1960er Jahre beschränkt. Seit den 1970er Jahren findet sich auf Streichholzschachteln nur noch kulturhistorische, touristische und Wirtschaftswerbung, vor allem von Exportbetrieben.24 Auf einer zweiten Ebene bildet das Foto den Vorgang des Sammelns ab, des Zusammentragens verstreuter Objekte,25 der aufgrund des geringen Preises des Sammlungsobjekts als Laienpraxis verbreitet war, jedoch in Zusammenhang mit der Emission neuer Bildmotive stand und deshalb auch eine historisch begrenzte Praxis war.26 Eine zeithistorische Qualität erreicht das Alltagsobjekt durch eine mehrfache zeitliche Situierung: die ursprüngliche Bildproduktion sowie einen doppelten Vorgang des Sammelns, zunächst durch eine private Aktivität, dann durch den Übergang dieser Privatsammlung in eine Museumssammlung. Diese doppelte Qualität der Beiläufigkeit der Nutzung und der zeithistorischen Konnotierung in der Museumssammlung zeichnet auch das Alltagsobjekt Warenverpackung aus. Warenverpackungen dienen nach landläufiger Definition dem Schutz des Produkts und haben darüber hinaus eine konkurrierend-werbende Funktion.27 In der DDR gilt das nur eingeschränkt, wie aus den zahlreichen rein funktionalen, oft nur auf Schrift reduzierten Warenverpackungen ersichtlich ist.28 Was an 56

22  Hauptproduktionsorte waren Riesa und Cos-

wig. Zur Zündholzindustrie vgl. Wolf-Rüdiger Reinhardt: Deutsche Zündholzfabriken AG Werk Coswig/Anhalt 1945–1992. Teil 1: Chronik der Fabrik 1945–1998, Teil 2: Zündholzetiketten-Katalog 1945–1990, Sassenburg 1998. 23  Silke Eilers: Offizielle Identitäts-

symbolik. Gedenk- und Jahrestage auf Zündholzetiketten der DDR, in: Horch und Guck 62 (2008), H. 4, S. 36–39. 24  Vgl. Analyse der bei Reinhard, Zündholz-

fabriken, Teil 2, veröffentlichten Etiketten. Eine Begründung für die thematische Engführung seit den 1970er Jahren konnte in den Quellen bislang nicht gefunden werden. 25  Manfred Sommer: Sammeln. Ein philo-

sophischer Versuch, Frankfurt am Main 2002. 26  Die Phillumenisten, Sammler von Zündholz-

etiketten, waren im Kulturbund der DDR organisiert, jedoch öffentlich weit weniger präsent als Briefmarkensammler. Ein organisierter Vertrieb druckfrischer Etiketten fand erst ab 1965 statt, vgl. Berliner Zeitung, 24. Oktober 1965. 27  Zur Diskussion in der DDR vgl. Die

Verpackung. Zeitschrift für neuzeitliches Verpackungswesen, Leipzig 1960–1992. 28  Vgl. als Beispiel: Vom Apfelgetränkt bis

Zucker. Standardisierte Verpackungen kommen auf den Markt, in: Neue Werbung 11 (1964), H. 12, S. 27–29. Dagegen betont Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003, dass in der DDR eine, auch über Verpackungen vermittelte, Entwicklung zum Markenprodukt betrieben wurde.

Behelfsverpackung Haushalt-Folien­­schweißgerät, VEB Elektro­schweiß­ maschinen­werk Aue, 1988, Doku­ mentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

Glühlampenverpackung des Berliner Glühlampenwerks (BGW) mit dem ­Signet der Volkseigenen Betriebe (VEB), undatiert (1949–1963), Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: ­Andreas Ludwig). Das Werk war vor seiner Verstaatlichung ein Osram-­Betrieb, was sich noch in der teilweise übernommenen Verpackungsgestaltung zeigt.

29  Güteklassen S, 1 und 2, jeweils

in einem Dreieck angegeben. 30  Der Begriff bezeichnet die überplanmäßige

Produktion von Konsumgütern für die Bevölkerung etwa durch Investitionsgüter herstellende Betriebe in den 1970er und 1980er Jahren.

dieser Stelle interessiert, sind die auf der Packung aufgedruckten Informationen, die normale Konsumgüter historisch kontextu­ alisieren: Kommuniziert wurde für den Konsumgüterbinnenmarkt erstens der Hinweis auf die Eigentumsform des Betriebs, sowohl in Schriftform als auch durch das Signet der Volkseigenen Betriebe (VEB), und zweitens ein Preisaufdruck, der einen festgelegten Einheitlichen Verbraucherpreis (EVP) nachweist, der seit Aufhebung des sogenannten doppelten Preissystems nach dem Ende der Rationierungen galt. Drittens wurde auch die Qualität gekennzeichnet, falls diese im Zuge eines Klassifizierungsverfahrens durch die staatliche Gütekontrolle durch das Deutsche Amt für Material- und Warenprüfung (DAMW) festgelegt worden war.29 Ebenso wurde in Einzelfällen eine Verknüpfung zur Produktion hergestellt, indem beispielsweise Produkte als Ergebnis der sogenannten Konsumgüterproduktion,30 aber auch die Qualität der Warenverpackung (»Behelfsverpackung«) gekenn57

zeichnet wurden. Diese Aufdrucke können zum einen als Nachweis von Transparenz gelesen werden, zum anderen jedoch erzählen sie die Geschichte einer verstaatlichten und geplanten Wirtschaft. Im Rückblick stellt sich die Frage, ob diese Hinweise bewusst wahrgenommen und sie im Laufe der Zeit internalisiert wurden, um schließlich als Normalität zu gelten. Ein weiteres Beispiel: Über Spielzeug vermittelt sich eine Einübung in die Gesellschaft. Am Beispiel des Metallbaukastens, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland durch die Firmen Märklin und Stabil bekannt gemacht wurde und auf dem britischen Meccano-Baukasten beruhte,31 zeigen sich Kontinuität wie auch Adaption eines verbreiteten Spielzeugs. In der DDR wurden Metallbaukästen von mehreren Firmen angeboten und auch im Schulunterricht eingesetzt. Dort dienten sie der Vermittlung praktisch-konstruktiver Aneignung und als Vorbereitung auf eine spätere Berufstätigkeit.32 Diese konkrete, auf die DDR bezogene Berufsorientierung zeigt sich in der Verpackungsgestaltung eines Baukastens aus den 1950er Jahren, in der ein Geschwisterpaar vor einem Abraumbagger des Braunkohlentagebaus zu sehen ist, zeitgleich mit dem »Kohle- und Energieprogramm« der DDR, das einen massiven Ausbau der Braunkohleförderung als Energiebasis bewirkte. Der Metallbaukasten ist jedoch auch in einer weiteren Perspektive ein politisiertes Objekt, das Gesellschaftsvorstellungen vermittelt. Das klassische Jungenspielzeug erfuhr eine 58

Sonneberger Metallbauskasten »­Piccolo«, VEB ­Injecta Steinbach/Thür., nach 1955, Dokumentationszentrum ­Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

31  Ulf Leineweber: Baukästen! Technisches

Spielzeug vom Biedermeier bis zur Jahrtausendwende (Ausstellungskatalog Staatliche Museen Kassel), Kassel 1999, S. 1040–1953; Jörg Feldkamp (Hg.): Legen, stecken, schrauben – spielend bauen. Begleitschrift zur Ausstellung des Industriemuseums Chemnitz gemeinsam mit dem Deutschen Spielemuseum e. V. vom 15. November 1998 bis zum 31. Januar 1999, Chemnitz 1998. 32  Baukasten »Der junge Konstrukteur«,

Hersteller: Hans Wünsch Spielwarenfabrikation Niederwiesa/Sa., um 1957, im robusten Holzkasten, ganz offensichtlich für den Schulgebrauch vorgesehen.

Senderskala (Ausschnitt) des Rundfunkapparats »Super 6450«, Elektroapparatewerk Treptow, 1952, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Auf der Senderskala werden noch westliche Radiosender wie Straßburg, Saarbrücken, ­Südwestfunk oder AFN angezeigt.

Senderskala (Ausschnitt) des Rundfunkapparats »Minetta«, VEB Stern-Radio Sonneberg, 1973/74, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: ­Andreas Ludwig). Die Senderskala enthält nur noch Radiostationen der  DDR und des Ostblocks.

geschlechterbezogene Erweiterung, indem hier auf dem Verpackungsdeckel erstmals ein Mädchen abgebildet war, auch wenn es (noch) nur zuschaut. Erst in den 1970er Jahren bauen Mädchen selbst, wie an den Verpackungsgestaltungen der Baukastenserie »VERO construc« erkennbar ist.33 Dieses Systemspielzeug wurde im Zuge einer Modernisierungswelle der Spielzeugindustrie in den 1960er Jahren34 entwickelt und zeigte erstmals konstruierende Mädchen. Ein Bezug auf die politisch und aus wirtschaftlichen Gründen geförderte Integration und Qualifikation weiblicher Berufstätiger ist hier, wie auch schon bei der oben genannten Gestaltung des Geldscheins, augenfällig. Konstruktives Spielzeug dient also sowohl der Einübung in die Industriearbeit wie auch der Berufsorientierung, Zwecken, die den zeitspezifischen Bedürfnissen der DDR angepasst waren.

33  VERO construc, mehrere Baukästen ab 1968,

Hersteller: VERO Vereinigte Erzgebirgische Spielwarenwerke Olbernhau, Gestaltung: Helmut Flade. Der Baukasten basierte im Rückgriff auf der für die erzgebirgische Spielwarenindustrie typischen Materialbasis Holz. 34  Vgl. Dokument zur Entwicklung der

Spielwarenindustrie im Bezirk Suhl, o. O., o. J. (1960). Ich danke dem Deutschen Spielzeugmuseum, Sonneberg, für die Zurverfügungstellung dieser Quelle.

Ein letztes Beispiel für politisierte Objekte sind Radios. Hier richtet sich der Blick auf die Rundfunkskalen, die den Hörerinnen und Hörern einen Blick auf die Welt als Möglichkeit akustischer Teilnahme am Weltgeschehen eröffneten. Das hier als Beispiel gewählte Radio des Typs »Minetta« aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre erweist sich als ein Objekt des Übergangs. Einerseits ist es, angesichts der zum Zeitpunkt seiner Produktion bereits flächendeckenden Versorgung mit UKW-Programmen, technisch veraltet, denn es kann lediglich Mittel- und 59

Kurzwelle empfangen. Andererseits führt es durch diese technische Beschränkung die Praxis der Senderbenennung weiter, auf die bei UKW verzichtet wurde. Deutlich zu erkennen ist die politische Konnotation des Objekts auf der Senderwahlskala. Aufgeführt werden Radiostationen aus der DDR sowie aus anderen sozialistischen Staaten, während die auf Mittel- und Kurzwelle ebenfalls, je nach Standort oft problemlos, zu empfangenden westlichen Rundfunkstationen nicht angezeigt werden. Damit wurde die verbreitete Praxis verlassen, die wichtigsten Radio­sender ungeachtet ihres Standorts anzuzeigen, wie dies noch in den 1950er und, wenn auch abnehmend, in den 1960er Jahren der Fall war. Es blieben nur noch Sender aus der sozialistischen Welt markiert, statt die von Hilversum, Paris, Frankfurt oder AFN erfuhren Radionutzer nun die Frequenz von Moskau, Prag und Warschau. Vermutlich war mit diesem visuellen Verschwinden der (westlichen) Welt keine Veränderung der Hörgewohnheiten verbunden.35 Erinnerungsobjekte oder historische Objekte? Die exemplarische Analyse von Objekten der materiellen Kultur unter der Perspektive ihrer historischen Situierung und ihrer gesellschaftlichen Spezifik hat für die DDR ein besonderes Gewicht des Politischen ergeben. Damit unterscheidet sich die materielle Kultur der DDR-Gesellschaft von der anderer, vergleichbarer Gesellschaften, obwohl ihre »Dingausstattung« mit Gebrauchsgegenständen typologisch, funktional weitgehend gleich und ästhetisch ähnlich gewesen sein dürfte. Die Besonderheit besteht zum einen darin, dass es eine eigene Objektkategorie gibt, die das politische System, die Institutionenordnung und die mit ihr verbundenen Routinen spiegelt. Diese »politischen Dinge« haben einerseits rein quantitativ ein besonderes Gewicht innerhalb der museal überkommenen materiellen Kultur, sie machen andererseits einen Unterschied etwa zu westlichen Industriegesellschaften aus, in denen diese demonstrative politische Staatlichkeit meist fehlt.36 Eine zweite Objektkategorie sind Gebrauchsgegenstände, deren Bedeutung aufgeladen ist und die deshalb als »politisierte Dinge« bezeichnet werden. Ihre Politisierung ergibt sich aus diskursiven Bedeutungszuweisungen sprachlicher, bildlicher und symbolhafter Art innerhalb des Kommunikationsraums DDR. Staatliche Verfasstheit, eine spezifische Organisationskultur und eine politisierende Bedeutungsaufladung alltagsweltlicher Güter machen die hier behandelten Objekte zu historisch identifizierbaren Quellen. Es stellt sich abschließend die Frage nach dem Verhältnis von Intention und Wirkung. Haben die politischen und die politisierten Objekte der DDR so gewirkt, wie sie es sollten? Wurden ihre gesellschaftspolitische Funktion und ihre historische Konnota60

35  Michael Meyen: Das unwichtige Medium.

Radiohören in der DDR, in: Klaus Arnold, Christoph Classen (Hg.): Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR, Berlin 2004, S. 341–356, S. 347, weist für die Zeit ab Mitte der 1970er Jahre sogar steigende Hörerzahlen für westliche Rundfunksender nach. Für die 1950er Jahre liegen keine gesicherten Angaben vor, jedoch dürfte während der Zeit des Kalten Krieges die Zahl der RIAS-Hörer hoch gewesen sein. Dieser Sender ist auf den Skalen der DDR-­ Radios aus politischen Gründen nicht vertreten. 36  Ausnahmen wie die Schweiz oder die

USA wären ein Untersuchungsgegenstand des nationalen Symbolgebrauchs.

tion von den Zeitgenossen wahrgenommen? Wir wissen, dass die zunehmend zentralisierte Warenproduktion der DDR Wunschbilder von westlichen Produkten hervorgebracht hat, Schlaraffenlandvorstellungen, die nach 1990 Ernüchterung bewirkten, wie Milena Veenis untersucht hat,37 genauso, wie das Projekt einer eigenständigen, spezifisch sozialistischen Konsumgesellschaft38 aus dieser Perspektive immer kritisiert wurde. Dies verweist darauf, dass die DDR-Herkunft der Dinge durchaus präsent war. Gegenüber diesen zeitgenössischen Kontexten ergibt sich in der Rückschau ein ganz anderes Bild, das auch die Musealisierung der DDR umfasst. Das Verhältnis zu den Dingen bestimmt sich, über die Intention der Produzenten und Auftraggeber hinaus, aus den Formen ihrer Aneignung. Der Status und die Bedeutung der Dinge ändern sich im Verlauf ihrer Produktion, Distribution, Nutzung und Interpretation.39 Aneignungsprozesse verlaufen immer individuell, wenn auch kontextabhängig, sie sind Teil der Persönlichkeitskonstitution und wirken damit ebenso subtil, wie sie veränderlich sind. Das Politische in den Objekten der DDR geht also weit über die Intentionalität und Symbolhaftigkeit hinaus, auch wenn man das an den Dingen selbst nicht immer erkennen kann. Aus zeitgeschichtlicher Perspektive stellt sich deshalb die Frage nach der Wirkmächtigkeit der Dinge, nicht nur im Sinne von Latour als »Akteure«,40 sondern auch ihrer Aneignungen und Interpretationen im zeitlichen Verlauf.

37  Milena Veenis: Consumption in

East Germany. The Seduction and Betrayal of Things, in: Journal of Material Culture 4 (1999), H. 1, S. 79–112. 38  Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis.

Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999. 39  Chris Gosden, Yvonne Marshall: The

cultural biography of objects, in: World Archaeology 31 (1999), H. 2, S. 169–178. 40  Bruno Latour: Eine neue Sozio-

logie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007.

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MATERIAL, ÄSTHETIK, GEBRAUCH

Bild einer Frau im Hochformat, Rückseite (Flohmarkt, Tel Aviv, April 2016).

DAS BILD ALS DING ZWISCHEN DER ZWEITEN UND DER DRITTEN DIMENSION ANNETTE VOWINCKEL

Im vordigitalen Zeitalter waren Bilder überwiegend dreidimensional, und das nicht nur in Form von Skulpturen. Sie wurden in Höhlen auf Felsen oder in Kirchen an die Wände gemalt, so dass der Bildträger Teil des Bildes wurde. Praktisch gesprochen hätte man keine Höhlenmalerei und kein Fresko an einen anderen Ort bringen können, ohne den Felsen oder die Wand zu zerstören. Für die Alte Geschichte hat das eine ganz praktische Konsequenz, nämlich dass in ihrem Quellenfundus Reliefs und Mosaike den größten Raum einnehmen – sie hatten eine deutlich bessere Aussicht, erhalten zu bleiben, als zum Beispiel auf Papyrus gemalte Bilder, die nur selten die Jahrtausende überlebten. Dass dabei oft auch die Farbe auf der Strecke blieb, lässt uns heute zum Beispiel die griechische Antike als eine einheitlich in Sandsteinfarbe getauchte Epoche erscheinen. Diese Bauhaus-Version der Vergangenheit allerdings ist eine Fiktion, denn antike Skulpturen wurden bunt bemalt und erst die Verwitterung der Farbe ließ die monochromen Skulpturen zurück. Die Renaissance hat mit dem Ölgemälde ein hochmobiles und vergleichsweise langlebiges Bildformat erfunden, das zwar drei­ dimensional ist, das aber durch massenhafte Reproduktion ab dem späten 19. Jahrhundert eine Verflachung ins Zweidimensionale erfahren hat. Wer heute ein Gemälde in der dritten Dimension erfahren möchte, muss ins Museum gehen. Der Mehrwert ist, dass wir dort die tatsächliche Größe, den Rahmen und die Struktur der Oberfläche wahrnehmen können, was bei fotografischen Reproduktionen gerade nicht der Fall ist: Sie zeigen nur die Farbwerte des Bildes und sie werden mitunter den Normgrößen der Postkarte, des Plakats, des Buchs oder des Bildschirms angepasst. Walter Benjamin hat bekanntlich als Erster darauf hingewiesen, dass durch die Möglichkeit der technischen Reproduktion das Bild seine Aura verliert: Um die Mona Lisa zu sehen, müssen wir nicht mehr nach Paris pilgern, Eintritt für den Louvre zahlen, um uns dann von ihr be- oder verzaubern zu lassen. Wir können uns eine Postkarte kaufen oder das Bild googeln, und dadurch wird das Bild schnöde und gewöhnlich. Anderen Bildmedien ist die Möglichkeit der Reproduktion aber bereits einprogrammiert, zum Beispiel der Radierung, dem Holz-

schnitt oder der Fotografie. Eine Druckplatte kann Abzüge liefern, bis sie abgenutzt ist, von einem Negativ können wir Abzüge machen, bis es irgendwann zerfällt. Für all diese Bildmedien, die wir zunächst als zweidimensional wahrnehmen, gilt, dass sie eigentlich Objekte sind, die in einer dreidimensionalen Welt hergestellt und benutzt werden. Für die Reproduktion einer Radierung braucht man einen Druckstock und so ein Druckstock ist ein recht großes Ding, das nicht in jede Abstellkammer passt. Ein Vergrößerungsgerät, wie man es zur Herstellung eines Papier­abzugs vom Negativ braucht, ist zwar etwas kleiner, aber auch dafür braucht es Platz und eine komplexe Ausstattung. Selbst die digitale Fotografie, im Prinzip eine Ansammlung von Nullen und Einsen, ist abhängig von dreidimensionalen Dingen. Um eine Aufnahme zu machen, brauchen wir eine Kamera, um sie zu speichern, ein Speichermedium, und um sie anzusehen einen Monitor, ein Smartphone oder einen Drucker. Für das 21. Jahrhundert wird die digitale Fotografie sicher die wichtigste Bildquelle sein, für das 20. Jahrhundert ist es das analoge Foto. Wenn wir uns mit der Dreidimensionalität und Dinghaftigkeit von Bildern beschäftigen, liegt es also nahe, sich gerade diese Fotografien genauer anzusehen und zu überlegen, was wir dazulernen, wenn wir uns von der Idee der reinen Bildhaftigkeit lösen und sie als Dinge oder Gegenstände betrachten. Um dies anschaulich zu machen, möchte ich anhand einiger ausgewählter Fotografien zeigen, wie sich unsere Wahrnehmung Fotografie verändert, wenn wir sie als Gegenstand kategorisieren. Ich beginne mit einer Beschreibung der Bilder als Bilder, bevor ich in einem zweiten Schritt auf ihre Materialität eingehen und im dritten Schritt versuchen werde, sie zu kontextualisieren und Schlüsse zu ziehen für einen weiteren Umgang mit Fotografien als Quellen. Dies entspricht meiner eigenen wissenschaftlichen Biografie als Bildhistorikerin, nicht als Historikerin der Dinge. Vor allem bei den ersten beiden Bildern nimmt die Beschreibung verhältnismäßig viel Raum ein, da ich mit Ulrike Pilarczyk der Meinung bin, dass sie die für die bildwissenschaftliche Arbeit unverzichtbare Transformation des Visuellen in einen Text leistet, um das zuvor nur bildhaft Präsente wissenschaftlicher Reflexion, das heißt der theoretischen Arbeit, zugänglich zu machen. Und gerade weil Fotografien alltäglicher Wahrnehmung so nahe sind und man daher meint, sogleich erfassen zu können, was man sieht, bedarf es dabei einer analytischen Distanz, einer künstlich hergestellten Befremdung gegenüber dem Dargestellten.1

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1  Ulrike Pilarzcyk: Grundlagen der seriell-­

ikonografischen Fotoanalyse. Jüdische Jugendfotografie in der Weimarer Zeit, in: Jürgen Danyel, Gerhard Paul, Annette Vowinckel (Hg.): Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017, S. 75–99, S. 83.

Wenngleich ich mit der Bildinhaltsanalyse beginne, ist es doch das Ziel dieses Textes, deren Grenzen abzustecken und zu zeigen, dass die aus der Materialität der Fotografien gewonnenen Informationen integraler Bestandteil nicht nur der Quellenkritik, sondern auch und gerade der Sinngebung sind. Umgekehrt formuliert: Wo immer wir auf eine Analyse der materiellen Beschaffenheit und Überlieferung von Fotografie verzichten, verschenken wir sinnstiftendes Potenzial. Auf die Frage, welche Folgen die Digitalisierung von Bildarchiven in diesem Kontext hat, werde ich noch zurückkommen. Zwei Porträts Die ersten beiden Bilder weisen gewisse Ähnlichkeiten auf: Beide zeigen eine Person im Hochformat, beide wurden außerhalb geschlossener Räume aufgenommen, bei beiden handelt es sich um Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die im Abzug einen leichten Sepiaton angenommen haben. Das erste Foto zeigt einen Mann auf einem Gehweg in einer Stadt. In der linken Bildhälfte am Straßenrand ist ein gepflanzter Baum zu sehen; rechts erkennt man Häuser, die offenbar in einer europäischen oder vielleicht amerikanischen Stadt stehen. Der Mann trägt eine Hose mit Bügelfalte und ein Jackett mit Einstecktuch sowie eine Krawatte, darunter ein weißes Hemd und in der Hand einen Hut. Auf der rechten Jackettseite trägt er einen Anstecker, dessen Funktion oder Bedeutung nicht erkennbar ist. Sein Haar ist kurz geschnitten und er ist frisch rasiert. Im Hintergrund ist eine Frau in einem Sommerkleid und mit einem leichten Hut zu sehen, was darauf schließen lässt, dass die Aufnahme bei wärmeren Temperaturen gemacht wurde. Allerdings gibt es keine scharfen Schatten, es dürfte also bedeckt gewesen sein. Zudem wurde die Aufnahme im Schatten der Häuser gemacht. Das Bild ist zentralperspektivisch aufgebaut, der Fluchtpunkt liegt etwa hinter dem Kopf des abgebildeten Mannes, der zwar in die Kamera blickt, aber nur andeutungsweise lächelt. Sein rechtes Bein ist leicht angewinkelt und der Fuß hebt sich vom Boden, so dass der Anschein entsteht, der Mann gehe auf die Person mit der Kamera zu. Die Arme hängen jedoch bewegungslos herab und möglicherweise handelt es sich auch eher um eine Pose, denn der Mann ist sich durchaus bewusst, dass er fotografiert wird. Man könnte auch sagen: Es handelt sich um ein gestelltes Foto, nicht um einen Schnappschuss. Bei der Straße handelt es sich um eine belebte Ladenstraße. Auf der rechten Seite sind mindestens acht Personen zu sehen, die gut 67

Foto eines Mannes im Hochformat (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

gekleidet sind – die Frauen in gemusterten Kleidern, die Männer in Anzügen und zum Teil mit Hut. Links im Hintergrund sind ebenfalls Menschen auf der Straße und auf dem Bürgersteig zu sehen. Bei dem Baum in der Bildmitte könnte es sich um eine Akazie handeln, die erst wenige Meter hoch gewachsen und an einen stützenden Pfahl gebunden ist. Sie gibt vage Hinweise auf das Alter der Stadt und stadtplanerische Aktivitäten, konkret auf Begrünungsmaßnahmen. Das zweite Foto zeigt eine Frau, die sich stehend an ein Auto lehnt. Sie trägt eine helle Bluse mit einem um den Kragen gebundenen Tuch und einen dreiviertellangen Rock mit einem passenden Gürtel, der wegen einer längs fallenden Falte zunächst aussieht wie eine weite Hose. An den Füßen trägt sie sommerliche Schuhe aus zweierlei Leder, die vorn offen sind. Das rechte Bein hat die Frau nach hinten angewinkelt, so dass es vom Rock verdeckt wird. Einen Arm hat sie auf die Motorhaube gelegt, der zweite hängt entspannt herab. Die Frau lacht und auf den ers68

Foto einer Frau im Hochformat (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

ten Blick sieht es aus, als blicke sie dabei in die Kamera. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass sie knapp links an der Kamera vorbeiblickt. Am linken Bildrand ist ein lang gezogener schwarzer Schatten erkennbar – möglicherweise der Schatten einer weiteren Person, die mit dem Rücken zur Kamera steht und auf die der Blick der Frau gerichtet ist.

2  Für diesen Hinweis danke ich meinem

Kollegen Jürgen Danyel, der die Radkappe des Wagens identifizieren konnte.

Im Hintergrund ist ein Haus zu erkennen, in dem sich unter einem überhängenden Dach eine Art Regal oder Schrank und darunter eine halbhohe Mauer befinden. Wenn man das Schild, das an dem auskragenden Dach hängt, stark vergrößert, kann man die Schrift erkennen: »No glasses or coffee mugs to be taken from counter. Ask for containers to …« – das letzte Wort ist nicht erkennbar. Das Foto wurde also in einem englischsprachigen Land aufgenommen, möglicherweise auf dem Parkplatz einer Raststätte. Da es sich bei dem Auto um ein Modell des Autoherstellers Packard handelt, ist es recht wahrscheinlich, dass das Bild in Nordamerika aufgenommen wurde.2 Auch dieses Bild wurde 69

bei schönem Wetter, aber ohne direkte Sonneneinstrahlung aufgenommen. Das alles können wir anhand der digitalen Versionen der Bilder erkennen; diese digitalen Kopien verraten uns aber nichts, was über den reinen Bildinhalt hinausgeht: nichts über die Größe, die Art des Fotopapiers, den Erhaltungszustand oder den Sammlungskontext, und sie zeigen uns auch nur die Vorder- und nicht die Rückseite des Bildes (es sei denn, sie wird mit digitalisiert, was selbst in vielen Bildarchiven nicht der Fall ist). Zusätzliche Informationen lassen sich durch eine Betrachtung der Originale gewinnen, womit in diesem Fall nicht die Negative gemeint sind. Als Originale bezeichne ich hier die mir vorliegenden Abzüge, die sich durchaus von anderen unterscheiden dürften, sofern es überhaupt weitere Abzüge gibt. Beide sind etwa gleich groß (6 mal 8 cm beziehungsweise 6 mal 8,8 cm) und haben einen weißen Rand – der erste Abzug ist zackig geschnitten oder gestanzt, der zweite geradkantig. Beide Abzüge sind leicht gebogen, woraus wir schließen können, dass sie zuletzt einzeln oder in einem Stapel aufbewahrt wurden und nicht aus einem Album stammen oder vor längerer Zeit daraus entfernt wurden.3 Auffällig ist bei dem ersten Foto, dass die rechte Seite schief ist – es wurde also sicher nicht mechanisch gestanzt, sondern eher manuell beschnitten. Beide Abzüge sind auf der Rückseite beschriftet. Auf der vergilbten und leicht fleckigen Rückseite des ersten Fotos findet sich ein lilafarbener Stempel mit Namen, Adresse und Telefonnummer eines Geschäfts, nämlich »Sport-Film« in der Warschauer Marszałkowskastraße 129. Offenbar wurde der Abzug von diesem Geschäft hergestellt und vor dem Verkauf gestempelt. Mit Bleistift sind ferner sechs Ziffern auf der Rückseite des Fotos vermerkt (»374300«), bei denen es sich nicht um ein Datum handeln kann, weil es keinen 37. Tag oder 43. Monat im Jahr gibt. Es könnte eine Telefonnummer sein – sollte das zutreffen, wäre es vermutlich eine Warschauer Telefonnummer, da keine Vorwahl angegeben ist. Eine Datierung ist anhand dieser Angaben nur sehr eingeschränkt möglich: Das Bild dürfte nach dem Aufstieg des Telefons zu einem geschäftlichen Kommunikationsmittel und nach dem Paradigmenwechsel zur Farbfotografie, also grob geschätzt zwischen 1930 und 1970 entstanden sein. Denkbar wäre es, das auf dem Foto erkennbare Straßenbild mit anderen Fotografien abzugleichen, um den genauen Standort zu bestimmen. So einfach dies ist, wenn bekannte Gebäude, Brücken 70

3  Zu Fotoalben als historischen Quellen vgl.

Cord Pagenstecher: Private Fotoalben als historische Quelle, in: Zeithistorische Forschungen 6 (2009), H. 3, S. 449–463, http://www. zeithistorische-forschungen.de/3–2009/id=4629, letzter Zugriff: 01.03.2017; Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München/Berlin 1995; ders.: Die Bildwelt der Knipser. Eine empirische Untersuchung zur privaten Fotografie, in: Fotogeschichte 14 (1994), H. 52, S. 59–68. Speziell zur Privatfotografie im Zweiten Weltkrieg vgl. Bernd Boll: Vom Album ins Archiv. Zur Überlieferung privater Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg, in: Anton Holzer (Hg.): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003, S. 167–178; Petra Bopp: Fremde im Visier. Private Fotografien von Wehrmachtssoldaten, in: ebd., S. 97–117.

oder sonstige Sehenswürdigkeiten im Bild sind, so schwierig und aufwendig dürfte dies indes bei einer Fotografie sein, die in einer Wohn- oder Ladenstraße in einem weniger bekannten Ort aufgenommen wurde. Auch das zweite Foto ist auf der Rückseite beschriftet, und zwar mit Füller in Schreibschrift: »Euch, meinen Lb., zur Erinnerung. Lotte. Juni, 1949« (siehe das Frontispiz zu diesem Beitrag). Oberhalb der Schrift ist die Nummer 164 aufgedruckt, möglicherweise ein Stempel des Fotolabors. Das Foto wurde also mit Sicherheit vor Juni 1949 aufgenommen, und entweder die abgebildete Person ist Lotte oder das Bild wurde von einer Person namens Lotte verschenkt oder beides. Der Hinweis »zur Erinnerung« zeigt an, dass der Empfänger oder die Empfängerin anwesend war, als das Bild gemacht wurde, und dass dies zum Zeitpunkt der Übergabe des Abzugs nicht allzu lange her war. In jedem Fall aber können wir sagen, dass es sich – obwohl das Bild in einem anglofonen Land gemacht wurde – bei Sender und Empfänger um Deutsch sprechende Personen handelte. Um die Fotos einordnen zu können, wird nun der Überlieferungskontext interessant. Beide Fotos habe ich im August 2016 auf dem Flohmarkt in Tel Aviv gekauft. Sie befanden sich in einer großen Kiste, in der nach meiner groben Schätzung etwa 2000 lose Fotografien zum Kauf angeboten wurden. Nach Auskunft des in Jerusalem ansässigen Händlers, der jeden Mittwoch auf dem Jerusalemer und jeden Freitag auf dem Tel Aviver Flohmarkt seinen Stand aufbaut, stammten die Bilder aus Haushaltsauflösungen. Es gibt also aller Wahrscheinlichkeit nach keine familiäre oder freundschaftliche Verbindung zwischen den beiden abgebildeten Personen.

4  Vgl. Michael Thompson: Rubbish Theory.

The Creation and Destruction of Value, in: Encounter, Juni 1979, S. 12–24. Thompson geht hier allerdings nicht auf den Umgang mit Fotografien ein, sondern untersucht beispielhaft den Wert von Londoner Wohnhäusern. Vgl. auch ders.: Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value, New York/Oxford 1979.

Gleichwohl lässt der Flohmarkt als Fundort einen neuen Möglichkeitshorizont für den Entstehungskontext der Bilder aufscheinen, die nun ebenso als Überreste wie als bewusst tradierte Erinnerungsstücke erscheinen. Als wohlbehütete Gegenstände familiärer Erinnerung waren sie offenbar nicht mehr gefragt, doch die Frage, warum sie beim Trödler landeten, wird sich kaum beantworten lassen. Wenn wir davon ausgehen, dass Gegenstände, deren Gebrauchswert verfällt, in einer »Müllphase« entsorgt und allenfalls nach deren Abschluss Gegenstand der kulturellen Überlieferung oder gar Musealisierung werden,4 ist dies doch bei privaten Fotografien anders zu bewerten als bei Gegenständen wie Möbeln, Kleidung oder Werkzeug (und vielleicht eher vergleichbar mit wertvollem Schmuck). Fotografien unserer Vorfahren sind immer auch Teil unserer eigenen Biografie; sie geben Auf71

schluss über physiognomische Ähnlichkeiten, Wohnorte und Status, also über unsere biologische und soziale Herkunft. Sie werden deshalb mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit als häusliche Gebrauchsgegenstände »entsorgt«, nämlich nur dann, wenn es keine Nachfahren mehr gibt oder diese – aus welchen Gründen auch immer – kein Interesse mehr an ihrer Familie ­zeigen. Tatsächlich ist der Fundort in diesem Fall aber auch Anlass für begründete Spekulationen: Bei dem namenlosen Mann wird es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen polnischen Juden handeln, der nach Palästina beziehungsweise Israel ausgewandert ist, und das Foto, auf dem er zu sehen ist, wird von ihm selbst, einem Freund/einer Freundin oder einem Familienmitglied dorthin mitgenommen worden sein. Bei der zweiten Person könnte es sich um eine deutsch-jüdische Frau handeln, die nach Nordamerika übergesiedelt ist und das Bild von dort aus an Freunde oder Verwandte in Israel geschickt hat. Denkbar ist auch, dass »Lotte« zu Besuch in den USA war und das Foto selbst nach Israel mitgenommen hat. Diese Mutmaßungen erlaubt aber allein die Kombination von rückseitiger Beschriftung und Fundort Tel Aviv. Völlig offen bleibt die Frage, warum die Bilder zusammen mit Tausenden anderer Fotos auf dem Flohmarkt landeten und warum sie nicht innerhalb einer Familie weitergegeben wurden. Und hier kommt auch eine ethische Frage ins Spiel: Ist es überhaupt legitim – und nicht vielmehr voyeuristisch –, die Bilder von Menschen mit möglicherweise tragischen Schicksalen für wissenschaftliche und publizistische Zwecke zu verwenden und sie völlig loszulösen von den Biografien der abgebildeten Menschen, die dagegen keinen Einspruch erheben können? Müsste man nicht versuchen, Angehörige ausfindig zu machen und von ihnen die Zustimmung zur Publikation einzuholen? Schließlich haben die abgebildeten Personen das Recht am eigenen Bild, das nach dem Tod für begrenzte Zeit auf die Nachfahren übergeht; zudem haben die Fotografen beziehungsweise deren Nachfahren das Urheberrecht – und könnten gegen eine Veröffentlichung rechtlich vorgehen oder dagegen aus persönlichen Gründen intervenieren. Sie könnten aber auch biografische Informationen beisteuern und Geschichten über die abgebildeten Personen erzählen, die durch eine Kette von Zufällen zum Gegenstand dieses Beitrags wurden. Die Arbeit mit Bildern aus unbekanntem Privatbesitz bleibt also in mehrfacher Hinsicht eine Gratwanderung, und das hat mit der Materialität der Bilder weniger zu tun als mit ethischen und juristischen Fragen. 72

Jerusalem, Stadtansicht vom Ölberg (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

Luftaufnahme einer Stadt aus dem Flugzeug (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

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Aus der Dunkelkammer Trotz der genannten Schwierigkeiten habe ich mich entschlossen, eine Reihe von weiteren Fotos zu besprechen, die ich im Sommer 2016 auf dem Tel Aviver Flohmarkt gekauft habe. Sie zeigen auf je unterschiedliche Weise, wie die materielle Beschaffenheit einer Fotografie ihre Deutung und Einordnung beeinflussen kann. Das Erste ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die Jerusalem vom Ölberg aus zeigt. Im Vordergrund sind die Gräber des Friedhofs am Westhang des Ölbergs zu erkennen, dahinter die Franziskanerkirche Dominus flevit und noch etwas weiter hinten die russisch-orthodoxe Maria-Magdalena-Kirche mit ihren charakteristischen Zwiebeltürmen. Der Felsendom als signifikantestes Bauwerk der Stadt und auch die Altstadtmauer sind nicht zu sehen, sie liegen links des gewählten Bildausschnitts. Der etwa 8 mal 10 cm große Abzug ist rückseitig handschriftlich mit einem blauen Kugelschreiber und in hebräischer Sprache beschriftet: »Jerusalem 1972«, darunter die Ziffer »5«. Von den ersten beiden Fotografien aus der Flohmarktkiste unterscheidet sich dieser Abzug dadurch, dass er auf dickerem Fotopapier gemacht wurde und dass er an drei Seiten einen dunklen Rand aufweist. Erst bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass eine andere Fotografie aus derselben Kiste einen ähnlichen dunklen Rand an der Oberkante aufweist. Aufgenommen wurde das Bild durch das Fenster eines Flugzeugs, das entweder gerade gestartet ist oder sich im Landeanflug befindet, denn die Häuser einer Großstadt sind gut zu erkennen. Vor dem Fenster fällt ein schwarzer Schatten ins Auge – möglicherweise das Rotorblatt eines Propellers. Um welche Stadt es sich handelt, konnte ich nicht feststellen. Allerdings scheint es, dem Baustil und der Straßenführung nach zu urteilen, nicht Tel Aviv zu sein, und auch Haifa oder Jerusalem scheiden aus, die beide auf bergigem Terrain liegen und keine größeren Verkehrsflughäfen haben. Da dieser Abzug nicht beschriftet ist, bleibt die Frage, um welche Stadt es sich handelt, offen. Diese Fotografie einer Stadt aus der Vogelperspektive hat exakt das gleiche ungewöhnliche Format (7,5 mal 10,5 cm) und ist auf dem gleichen Material abgezogen wie die Aufnahme vom Ölberg. Das Papier fühlt sich eher ungewöhnlich an: Es ist weder matt noch glänzend, sondern etwas dazwischen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei den Abzügen um zwei Fotos aus einer Hand handelt und dass sie nicht in einem Fotogeschäft, sondern in einer privaten Dunkelkammer vergrößert und abgezogen wurden. Der Fotograf wäre demnach ein engagierter Hobbyfotograf. Dass 1972 schon viel in Farbe fotografiert wurde, würde diese Ver74

mutung im Umkehrschluss bestätigen, denn das Entwickeln von Farbfotografien in der heimischen Dunkelkammer war deutlich aufwändiger und wurde nur von wenigen Hobbyfotograf(inn)en praktiziert. Wer also die üblichen Farbfotos machte, entwickelte sie nicht zu Hause, und wer zu Hause entwickelte, entschied sich eher für Schwarz-Weiß. Dass beide Bilder von ein und derselben Person gemacht worden sein könnten, wäre mir trotz der offensichtlich touristischen Motive sicher nicht aufgefallen, wenn sie nicht exakt die gleiche Größe und Materialität hätten. So aber lässt sich ein Zusammenhang diagnostizieren, der gleich ein ganzes Narrativ nach sich zieht: Der Kontext dieser Fotografien könnte eine Urlaubsreise nach Israel gewesen sein, die im Flugzeug begann und endete und die die reisende Person unter anderem nach Jerusalem führte. Eine Suche nach weiteren Fotografien aus dieser Serie könnte weiteren Aufschluss bringen. Nach dem Sechstagekrieg Mein nächstes Beispiel aus dem Flohmarktbestand zeigt zwei Männer und zwei Frauen an einem trockenen Flussbett (Wadi) in einer Wüstenlandschaft. Alle vier sind leger gekleidet. Einer der Männer hat ein Fernglas in der Hand, der andere hat eine Kamera über der Schulter hängen und hält vor sich zwei Stäbe, möglicherweise eine Art Stativ. Eine der Frauen richtet gerade ihre (Sonnen-) Brille. Die vier befinden sich offenbar auf einem Ausflug; wer die fotografierende Person ist, bleibt unklar. Auf der Rückseite ist mit einem Stempel das Datum vermerkt: Es ist der 21. August 1967. Viel interessanter ist hier aber ein ganz anderer Umstand, nämlich dass die Rückseite des Fotos merkwürdig gestreift ist. Unter den Bildern in der großen Kiste fanden sich noch zwei weitere, die die gleichen Querstreifen aufweisen und den gleichen Stempel tragen; erst auf den zweiten und dritten Blick fiel mir auf, dass sie auch die gleichen Personen zeigen. Auf einem von ihnen sind die beiden Frauen zu sehen, die nicht an den abgewendeten Gesichtern, wohl aber anhand der Kleider identifiziert werden können. Auf diesem Bild ist im Hintergrund ein Schild mit der Aufschrift »Tulkarm Municipality« zu erkennen. Tulkarm ist eine arabische Kleinstadt am westlichen Rand der Westbank, die Israel gut zwei Monate zuvor im Sechstagekrieg erobert und besetzt hatte. Die Stadt liegt weniger als 15 km von der israelischen Küstenstadt Netanja entfernt und war deshalb für israelische Reisende leicht erreichbar. Ein weiteres Foto zeigt wieder die beiden Frauen in Begleitung von zwei Männern, von denen einer jedoch auf keinem der beiden anderen Bilder zu sehen ist – er trägt eine Brille und eine kurze Hose. Er könnte das Bild in Tulkarm aufgenommen haben, auf dem er selbst nicht zu sehen ist. Dieses 75

Zwei Männer und zwei Frauen in einem Wadi, Vorder- und Rückseite (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

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Zwei Frauen und ein Mann vor dem Rathaus von Tulkarm, Rückseite mit Stempel: »21 AUG 1967« (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

Zwei Männer und zwei Frauen in der Arava-Senke (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

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Foto dürfte, der Landschaft nach zu urteilen, in der Arava-Senke zwischen Israel und Jordanien aufgenommen worden sein, die zum Teil ebenfalls in der besetzten Westbank liegt. Bei diesen Bildern fällt es schwer, nicht die historische Situation zur Sprache zu bringen, in der sie aufgenommen wurden. Im Juni 1967 begann Israel einen Präventivkrieg gegen die Nachbarstaaten Ägypten, Jordanien und Syrien, nachdem der ägyptische Präsident die Straße von Tiran für die israelische Schifffahrt gesperrt und einen massiven Truppenaufmarsch an der Grenze in Gang gesetzt hatte. Israel gewann den Krieg innerhalb weniger Tage und wurde dadurch über Nacht zur Besatzungsmacht. Das von der israelischen Armee kontrollierte Gebiet umfasste nun neben dem im Unabhängigkeitskrieg von 1947/48 erkämpften Territorium auch Ostjerusalem, das Westjordanland, die Golanhöhen, den Gazastreifen und die Sinaihalbinsel. Diese Gebiete wurden bald zum Ziel von Ausflügen, die wiederum Anlass für fotografische Aktivitäten waren. Bei unseren Bildern handelt es sich vermutlich um solche, die während einer Fahrt durch die Westbank gemacht wurden. Diese Strecke von Tulkarm im Westen zum Toten Meer im Osten und zurück eignet sich durchaus für einen Tagesausflug. Neben den beiden gerade beschriebenen Fotografien fand sich in der Flohmarktkiste auch eine Aufnahme von einem Paar, das sich hinter der Kühlerhaube eines amerikanischen Autos und vor dem Ortseingangsschild von Madschdal Schams, einer drusischen – bis 1967 syrischen – Stadt in den Golanhöhen, positioniert hat. Die in dieser Zeit entstandenen Bilder zeigen eine gewisse Neugier auf Landschaften und die Bevölkerung dieser Gebiete, gelegentlich aber auch das, was Mary Louise Pratt als colonial gaze und John Urry als tourist gaze bezeichnet haben: Die Reisenden blicken auf das Neue als etwas Fremdes, das es zu erkunden, zu erobern, zu vereinnahmen gilt.5 Hier geht es indes weniger um die Perspektive der Fotografierenden als vielmehr um die Materialität der Bilder. Bei den Querstreifen auf der Rückseite der drei Fotos handelt es sich, so meine Vermutung, um Klebstoffreste aus selbstklebenden Fotoalben, die in den 1970er und 1980er Jahren im Handel waren. In jedem Fall zeigen sie, dass die Bilder aus einer Serie stammen – und ohne diese materielle Querverbindung hätte ich den Zusammenhang zwischen diesen Fotografien möglicherweise ebenso wenig bemerkt wie den zwischen den beiden oben besprochenen aus der Dunkelkammer eines Hobbyfotografen. Hinweise darauf, wer die Bilder in ein Album geklebt hat und warum sie daraus wieder entfernt wurden, habe ich nicht. Da sich einzelne Fotos leichter und mit größerem Gewinn auf Flohmärkten verkaufen als vollständige Alben, könnte sie der Händler 78

5  Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. Travel

Writing and Transculturation, New York 1992; John Urry: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies, London 1990. Zur privaten Reisefotografie vgl. Cord Pagenstecher: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950–1990, Hamburg 2003; Birgit Mandel: Wunschbilder werden wahr gemacht. Aneignung von Urlaubswelt durch Fotosouvenirs am Beispiel deutscher Italientouristen der 50er und 60er Jahre, Frankfurt am Main u. a. 1996.

Ein Paar vor einem Auto am Ortseingang von Madschdal Schams, (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

selbst entfernt haben. In jedem Fall aber zeigen die Klebestreifen an, dass diese Bilder einmal für so erinnerungsträchtig befunden worden waren, dass sie in ein Album geklebt wurden. Gewöhnliche und ungewöhnliche Materialitäten Abschließend möchte ich noch drei Bilder zeigen, die ebenfalls aus der Flohmarktkiste stammen und die je ganz spezielle materielle Spuren aufweisen. Dabei handelt es sich einerseits um Gebrauchsspuren, andererseits um Spezifika, die sich aus dem Produktionskontext ergeben. Das erste zeigt zwei Reiter und eine Reiterin auf Pferden vor einem einstöckigen Flachdachbau. Der Abzug ist an der unteren linken Ecke abgeknickt – man kann das besser fühlen als sehen; dies ist ein Hinweis darauf, dass das Bild mit Fotoecken in ein Album geklebt worden war, bevor es jemand wieder herauslöste. Zudem hat das Bild einige weiße Flecken, die wahrscheinlich durch das Aneinanderkleben von Fotos infolge von Nässeeinwirkung entstanden sind. Möglicherweise wurde das Foto bereits vor längerer Zeit aus einem Album entfernt und unter ungünstigen Bedingungen gelagert, bevor es in der Flohmarktkiste landete; jedenfalls weisen die übrigen Bilder keine solchen Schäden auf. Solche Gebrauchsspuren sind aber nicht ungewöhnlich und entstehen durch den ganz normalen Umgang mit Fotografien, die in Alben geklebt und daraus auch wieder herausgelöst oder unter widrigen Bedingungen gelagert werden. 79

Doppelporträt, Vorder- und Rückseite (Flohmarkt, Tel Aviv, August 2016).

Ein weiteres Bild ist ein Doppelporträt von zwei Frauen, das auf der Rückseite den Aufdruck »Address – Adresse« (vermutlich englisch und französisch oder deutsch) sowie »stamp here« trägt; es handelt sich also um eine Fotografie, deren Abzug rückseitig als Postkarte gestaltet wurde. Verwendet wurde sie als solche jedoch nicht. Vielmehr ist das beschädigte Papier der Rückseite ein Zeichen dafür, dass das Foto mit Klebstoff in ein Album, ein Tagebuch oder Notizbuch geklebt und dann wieder herausgelöst wurde. Diese Art von Materialität ist etwas ungewöhnlicher und verweist auf die Praxis, Fotografien als Postkarten zu verwenden, 80

die mit dem völligen Verschwinden der Postkarte selbst auch verschwunden sein wird. Das letzte Foto ist sowohl im Format als auch in der Papierqualität ungewöhnlich und erweist sich laut rückseitigem Aufdruck als ein Sammelbild, das einer Zigarettenschachtel der israelischen Marke Dubek beigelegt wurde. Zu sehen sind darauf »Miss Salomon und ihr Fechtteam« – sie sind Teil einer Reihe über »Wachdienst und Sport« (‫)משמר וספורט‬. Hier handelt es sich eher um ein von einem professionellen Fotografen angefertigtes Bild als um einen familiären Schnappschuss. Anhand des Bildinhalts ist allerdings nicht erkennbar, dass es sich um ein bedrucktes Sammelbild handelt, und schon gar nicht, dass es einer Zigarettenschachtel beigelegt wurde. Dass es unter Privatfotografien in der Flohmarktkiste gelandet ist, ist die Folge einer Fehlbewertung und erklärt sich möglicherweise dadurch, dass es zusammen mit Privatfotos einer der abgebildeten Fechterinnen aufbewahrt wurde. Quellenkritik der Fotografie Alle an den Abzügen dieses Bestands erkennbaren Spuren verweisen darauf, dass die Fotografien in anderen Kontexten überliefert wurden als in dem einer Flohmarktkiste. Sie waren Teil von familiären Fotoalben oder Sammlungen, einige von ihnen könnten gerahmt oder verschenkt worden sein, andere wurden kommerziell vervielfältigt. Teil der Quellenkritik ist deshalb immer die Frage, was wir eigentlich mit Sicherheit über die Provenienz einer Fotografie sagen können, und oft genug sind wir dabei auf Spekulationen angewiesen, die allenfalls mehr oder weniger plausibel sind. In jedem Fall aber bietet die Fotografie als Ding und Gegenstand bessere und belastbarere Hinweise auf den Entstehungsund Überlieferungskontext als ein Digitalisat – vor allem dann, wenn nur die Vorderseite eines Bildes gescannt wurde.6

6  Vgl. den von Elke Bauer betreuten Themen-

schwerpunkt: Analoge Fotografie im digitalen Zeitalter. Eine Herausforderung für Bildarchive und Geschichtswissenschaft, in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015), H. 2, S. 314–343, http://www.zeithistorische-forschungen. de/2–2015/id=5231, letzter Zugriff: 15.07.2019.

Die Flohmarktkiste ist insofern eine besondere Herausforderung, als darin Fotografien unterschiedlichster Herkunft nach Kriterien zusammengeworfen wurden, die mit Herkunft und Bildinhalt wenig zu tun haben. Sie alle stammen aus Privathaushalten, bei deren Auflösung es offenbar niemanden gab, der die Fotos hätte aufheben wollen. Die Tragik einer verlorenen Lebensgeschichte wird durch das Verscherbeln auf dem Flohmarkt noch verstärkt: Hunderte Biografien werden hier Unbeteiligten zum Kauf angeboten, die nichts über die abgebildeten Personen wissen. Für den Händler ist dies ein Geschäft, wenngleich die hier gezeigten Fotografien erschwinglich waren – der Preis für ein Bild lag im Schnitt bei zwei Schekel, umgerechnet etwa 50 Eurocent. Das mag daran liegen, dass die Kiste wenig Spektakuläres enthielt. 81

Auffällig viele Bilder zeigten Purimfeste und Familienfeiern (Hochzeit, Geburtstag, Bar-Mizwa/Bat-Mizwa) sowie Urlaubsreisen, die normalerweise nur für die Abgebildeten selbst und ihre Freunde und Familien von Interesse sind – oder aber für eine seriell-ikonografische Analyse, wie Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner sie praktizieren.7 Sie werfen einen systematischen Blick auf ebenjene Fotografien, die einzeln wenig Aussagekraft haben, dafür aber interessant werden, wenn man sie in großer Zahl betrachtet. Dann nämlich geben sie Aufschluss über Praxen des Feierns oder des Reisens, über Kleidungskonventionen und Frisuren oder über die Interieurs bestimmter Räume, zum Beispiel von Klassenzimmern. Es geht, mit anderen Worten, gerade um das Überpersönliche der Aufnahmen und damit um eine Form von Evidenz, die in der longue durée entsteht und das Augenblickhafte der Fotografie überwindet. Fazit Fotografiegeschichte ist nicht nur Bildgeschichte, sondern auch eine Geschichte der Dinge. Die materielle Beschaffenheit von Abzügen samt rückseitigen Beschriftungen gibt wichtigen Aufschluss über Inhalt, Bedeutung und Kontext fotografischer Quellen und im Idealfall auch über die verwendete Kamera, das Filmmaterial, die Vergrößerungstechnik, die Verwendung und Aufbewahrung sowie den zeitlichen und räumlichen Kontext einer Aufnahme. Von Bedeutung sind diese Aspekte vor allem dann, wenn wir es mit Beständen unbekannter Herkunft zu tun haben. Wir sind also gut beraten, Fotografien einer ebenso akribischen Quellenkritik zu unterziehen wie Textquellen, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Bildinhalt, sondern auch im Hinblick auf Materialität, Provenienz und lebensweltliche Verwendung. Doch auch wenn alle Möglichkeiten der kritischen Analyse und Kontextualisierung ausgeschöpft sind, bleibt – wie auch bei schriftlichen Quellen – eine Lücke zwischen Material und Narrativ, die geschlossen werden muss. Fotografien wie die, die im August 1967 in den von Israel besetzten Gebieten gemacht wurden, laden nachgerade dazu ein, sie zu Geschichten zu verarbeiten und den als »kolonial« oder »touristisch« konnotierten Blick auch als ein Instrument der Neugier, der Erkundung und der Offenheit für Unbekanntes zu begreifen. Durch die Abwesenheit eines belegbaren Narrativs eröffnen die Bilder einen Imaginationsraum, dem der Roman womöglich eher angemessen ist als das historische Sachbuch. Dann ginge es nicht darum zu erzählen, »wie es eigentlich gewesen«, sondern wie es hätte gewesen sein können. Die Personen auf den Bildern sind zwar nicht fiktiv, wohl aber bleibt alles, was wir ohne weitere Informationen über sie schreiben könnten, Spekulation. 82

7  Vgl. Ulrike Pilarczyk, Ulrike Mietzner:

Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungsund Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005; vgl. auch Pilarzcyk, Grundlagen.

Der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung bleibt indes nichts, als sich an das zu halten, was solche Bilder trotz allem bieten: Informationen über Sehgewohnheiten und die Wahl von Motiven und Posen, über Kleidungs- und sonstige Stile, über zwischenmenschliche Beziehungen und die Verwendung von Abzügen für praktische Zwecke. Die größte Herausforderung aber liegt darin, sich den Grenzen der Möglichkeiten von Wissenschaft zu stellen und sich dadurch das Staunen zu bewahren über das, was die Bilder uns zeigen und wie sie es zeigen: nämlich unvermittelt, nichtsprachlich, haptisch und mitunter irritierend schön.

83

Ólafur Elíasson: The Weather Project, Tate Modern, London, 2003. Foto: Ólafur Elíasson.

BE-WUNDERN DIE GRENZEN VON WERT, SCHÖNHEIT UND DES ANDEREN IN MUSEUMSOBJEKTEN JANA SCHOLZE »[…] der Eindruck, den sie [Kunstwerke] machen, ist besonderer Art, und was durch sie in uns erregt wird, bedarf noch eines höheren Prüfsteins 1 und anderweitiger Bewährung.«

Museen als Schatzkammern zu beschreiben ist nicht unüblich. Dabei wird nicht nur auf den materiellen Wert von Museumssammlungen verwiesen, sondern auf Qualitäten wie Kunstfertigkeit, Materialien, Handwerkstechniken, doch ebenso auf Beziehungen zu Personen, Ereignissen und Orten, die als bedeutend, außergewöhnlich und erinnerungswürdig eingeschätzt werden. Objekte, denen solche Attribute zugeschrieben werden, rufen bei Betrachtern gewöhnlich Bewunderung hervor. Dieser hauptsächlich emotionalen Reaktion wird jedoch von Kuratoren und Akademikern im Allgemeinen selten Beachtung geschenkt, da sie schwierig in Worte zu fassen und zu verallgemeinern ist. Die Historikerin Caroline Walker Bynum kritisiert diese Vernachlässigung als »A philosophical understanding of wonder as ignorance rationalized or erased by knowledge, a wondering desire that collects and appropriates what it endeavors to know or projects its self onto an imagined other, a passion that reduces to a startle response at the unfamiliar […].«2

1  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: i.c. in:

Georg Friedrich Wilhelm Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 10: Vorlesungen über die Aesthetik, 1. Band. Hrsg. von H.G. Hotho, Berlin 1835, S. 14. 2  Siehe https://www.historians.org/about-­

aha-­and-membership/aha-history-andarchives/­presidential-addresses/caroline-­ walker-bynum, letzter Zugriff: 26.04.2018. 3  Dieser Text nimmt meinen Vortrag »Objects

of Wonder. The Edges of Value, Beauty and the Other« auf der Tagung des Forschungsprojektes »Materielle Kultur als Soziales Gedächtnis einer Gesellschaft« am 14. und 15. Oktober 2016 in Potsdam zur Grundlage. Ich danke dem Visual & Material Culture Research Centre der Kingston School of Art für die großzügige Übernahme der Übersetzung.

Doch: Ist das Bewundern tatsächlich nur Emotion ohne Wissen, die individuell zu unterschiedlich ausfällt, um sie in den Diskurs um Objektbeziehungen einzubringen? Könnte das Bewundern vielmehr eine essenzielle Form der Annäherung und sogar Aneignung von Objekten sein? Könnte Bewundern andererseits von Geschichten und Narrativen ablenken, in welche Objekte in Ausstellungen eingebunden werden? Dieser Text ist ein Versuch, der Frage nachzugehen, welche Rolle das Sich-Wundern und das Bewundern in der Auseinandersetzung mit Objekten im Museum spielen.3 Es ist hinreichend bekannt, dass Walter Benjamin zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Abhandlung zur technischen Reproduzierbarkeit von Objekten den Begriff der Aura neu definierte. Er identifizierte als wesentlichen Unterschied zwischen Kunstwerk und Reproduktion »das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich be-

findet«.4 Benjamin begründete, dass die Beziehung eines Objektes zu einem spezifischen Ort oder Kontext es in dessen Geschichte einschreibt. Ein Prozess, der Spuren hinterlässt, die von Historikern und Kuratoren gelesen, analysiert und dokumentiert werden. Doch dieser Ort, das »Hier und Jetzt« eines Objekts‚ begründet für Benjamin auch seine »Echtheit« und rechtfertigt folglich die Bezeichnung des Objekts als Original. Er schreibt: »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft.«5 Diese Zeugenschaft verleiht dem Objekt Autorität, die Benjamin schließlich im Begriff der Aura »als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«6 zusammenfasst. Diese Unnahbarkeit des Objektes, welche es schwer zu fassen und begreifen macht, bezeichnet Benjamin als Kultwert. Historisch wurde der Kultwert als Instrument der Magie und des Rituals verstanden und erlaubte, die Bedeutung des Objektes im Wunderbaren, Übernatürlichen und sogar Sakralen zu suchen. Kontemplation wurde als Methode der Annäherung und Interaktion mit dem Kunstwerk – dem Gegenstand kontemplativer Versenkung – beschrieben. Der öffentliche Ort für diese Art von Kontemplation waren zunächst Kirchen mit ihren ikonografischen Programmen, die in Skulptur, Malerei, Wandteppich oder architektonischem Detail ihren Ausdruck fanden. Museen konnten diese Funktion zum Teil übernehmen, indem sie ähnlich architektonisch imposante und mit – wenn auch weniger dramatischem – Ritual gefüllte Räume schufen. Der entscheidende Unterschied zwischen Kirche und Museum liegt im beabsichtigten Ziel der Kontemplation. Im Museum gilt die Kontemplation in erster Linie den Objekten selbst und keiner übernatürlichen Macht, die angeregt und intensiviert durch Kontemplation der Bildprogramme erreicht werden soll. Hier werden die Objekte betrachtet, bewundert und bestaunt, um schließlich studiert und in Beziehungen zu anderen Objekten, Kontexten sowie Werten gebracht zu werden. Kommen das Sich-Wundern und die Bewunderung aus dem Unnahbaren? Ist das Unnahbare die Ferne, die uns zum Bewundern, Betrachten und schließlich Erkennen animiert? Wie entsteht diese Ferne? Das Betrachten der Installation »Weather Project« von Ólafur Elíasson in der Tate Modern im Jahre 2003/2004 wurde von Rachel Cooke in der englischen Tageszeitung »The Guardian« (19. Oktober 2003) folgendermaßen beschrieben: »At the preview, people made their way towards Olafur Eliasson’s strangely humbling installation – a giant yellow circle suspended in a red-black sky – 86

4  Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter

seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von Detlev Schoettker, Frankfurt am Main 2007, S. 12. 5  Ebd., S. 14. 6  Ebd., S. 16.

slowly and deliberately, their mouths open in wonderment, like pilgrims. Behind me, a startled schoolgirl caught sight of the spectacle. ›Look!‹ she whispered, yanking at her friend’s arm. ›The SUN!‹ Her tone was reverential, amazed. The ordinary had been rendered extraordinary – numinous, even – and she was seeing it with bright, new eyes.«7 Das Überwältigende ist schon Teil des Kunstwerks: Eine riesige Sonne scheint in der dunklen Turbinenhalle der Tate Modern aufzusteigen. Es stimuliert Staunen, welches verstärkt wird von Ungläubigkeit, etwas Bekanntes wie die Sonne, an einem Ort zu finden – dem Innenraum eines Museums –, der an der Wahrnehmung, Sonne zu erfahren, zweifeln lässt, da die Erfahrung unmöglich scheint. Da Museum grundsätzlich diese Verschiebung von gewöhnlichen oder natürlichen Kontexten von Objekten bedingt, könnte man schlussfolgern, dass eine solche Reaktion des Zweifelns, Staunens und Sich-Wunderns erwartet und sogar vorausgesetzt werden kann. Das Unfassbare schließt das Unnahbare ein, eine Distanz, die Begehren und Wunsch zu bedingen scheint. Cookes Schlussfolgerung, »the ordinary had been rendered extraordinary«, belegt die Bedeutungsverschiebung, welche dem Gewöhnlichen außergewöhnliche Qualitäten zuschreibt. Sie bestätigt präzise Benjamins Definition »der Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag«.

7  Rachel Cooke: The Brightest and the Best,

in: The Observer, 19. Oktober 2003, https:// www.theguardian.com/theobserver/2003/oct/19/ features.review17, letzter Zugriff: 01.02.2018. 8  Michel Foucault: Andere Räume, in: Karl-

heinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34–46, S. 39.

Die Bedeutungsverschiebung wird von der Kontextverschiebung ausgelöst, wobei das Objekt seinen ursprünglichen Funktionszusammenhang verlassen muss und von diesem entlastet wird. Das Museum als der neue Ort wird durch die Repräsentation und den Verweis auf jene anderen Orte definiert, jedoch als Netz von Verbindungen und Beziehungen wahrgenommen, weswegen es nicht mit jenen Orten verwechselt werden kann. Nur durch diese Abstraktion kann die Verfremdung des Objektes erzielt werden, welche Grundlage des Staunens zu sein scheint. Michel Foucault beschrieb solche Orte – einschließlich des Museums – als Heterotopien: »[…] Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«8 Diese Räume sind sowohl Verweis auf andere Orte als auch in diesem Verweis intrinsisch sie selbst. Besonders Museen und Bibliotheken sind als Heterotopien auch durch die Repräsentation von Zeit und Prozessen gekennzeichnet, was Foucault als »Heterochronien« beschreibt. Doch wiederum gilt die Zeitkomponente nicht nur dem Raum und seinen Elementen, sondern bietet selbst eine spezifische Zeiterfahrung. Fou87

cault argumentiert: »Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.«9 Im Museum existieren für Objekte, Besucher, aber auch die Innen- und Außenräume andere Regeln als an den Orten des Alltags. Diese Konventionen sind vornehmlich den räumlichen Gegebenheiten geschuldet und resultieren in einer dem Museum eigenen Zeit- und Raumerfahrung. In diese werden die Museumsobjekte eingebettet, was eine Wahrnehmung der Objekte vergleichbar jener in Alltagssituationen unmöglich macht. Das Zeigen, Verweisen und Deuten der Objekte wird daher als Verschiebung und Verfremdung der pragmatischen Alltagserfahrung verstanden. Doch obwohl alle Museumsobjekte diesen Prozess der Orts- und Zeitverschiebung durchlaufen, lösen nicht grundsätzlich alle Objekte Staunen, Sich-Wundern und Bewundern aus. Dies ist zum Teil Museumskonventionen geschuldet, die das Andere und Außergewöhnliche im Museumskontext erwarten lassen. Zum anderen binden Rezeptionstraditionen Objekte in spezifische Bedeutungszusammenhänge, welche das Betrachten und Lesen von Objekten dominieren können. Diese Bedeutungen sind allerdings nicht stabil und können im Verlauf der Geschichte vergessen werden und verloren gehen, durch neue Zusammenhänge mit anderen Deutungen überlagert oder durch neue ersetzt werden. Benjamin betont die Flexibilität dieser Beziehung, wenn er schreibt: »Die Einzigartigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas außerordentlich Wandelbares.«10 Durch unterschiedliche Rezeptionstraditionen kann ein Objekt mehrere, sogar gegensätzliche Bedeutungen erhalten und folglich entsprechende Reaktionen hervorrufen. Das Symbol des Sonnenrades beispielsweise wurde jahrtausendelang bei Buddhisten und Hindus als Symbol des Glücks verehrt, bevor es durch den Nationalsozialismus zum Symbol schlimmsten menschlichen Verbrechens wurde. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist, dass ein Objekt durch diese spezifischen Rezeptionstraditionen in bestimmten Betrachtern Staunen, in anderen Grauen auslösen kann. Reisende machen genau jene Erfahrungen, wenn sie auf ihnen bekannte negative Symbole treffen, denen im neuen Kontext offensichtlich positive Bedeutungen zugeschrieben werden. Das Staunen und Sich-Wundern ist hier weniger Bewundern als Unglauben, Verwunderung, verbunden mit Gefühlen des Unheimlichen, nicht wirklich Zulässigen. Die Frage ist jedoch, gilt diese Reaktion dann tatsächlich dem Objekt oder hauptsächlich seinem Symbolgehalt? Ruft jedes dieser Symbole unabhängig von Material, Technik, Kunstfertigkeit des Objektes 88

9  Ebd., S. 43. 10  Benjamin, Kunstwerk, S. 17.

Cord-Chair, 2009–10 (Photo: Yoneo Kawabe)

diese Reaktion hervor oder spielt das Objekthafte und Objekt­ spezifische eine Rolle? Der »Cord-Chair« des japanischen Designstudios nendo ist zunächst ein schlichter Holzstuhl mit schmaler Lehne, doch wird dem Betrachter der äußerst dünne und daher fragile Rahmen schnell bewusst. Beim näheren Hinschauen scheint es fast unmöglich, dass Sitz und Lehne von vier so außergewöhnlich dünnen Beinen getragen werden können. Hier wird Staunen und Bewundern von der rationalen Analyse des Objektes hervorgerufen, die sich auf den Vergleich mit Bekanntem stützt und zu der Schlussfolgerung tendiert, dass ein solcher Stuhl materiell und funktional nicht möglich scheint. Das Gefühl des Zweifels stimuliert beim Betrachter Sich-Wundern und Sich-Verwundern, er wird jedoch durch den Museumskontext dazu animiert, das Unglaubliche und Unwahrscheinliche im Außergewöhnlichen zu akzeptieren. Die Erfahrung lehrt, dass Museum sich dem Anderen verschreibt, wobei selbst das Alltägliche, wie vorher beschrieben, ins Außergewöhnliche verwandelt werden kann. Demzufolge kann der Cord-Chair als lediglich anderer Stuhl wahrgenommen werden. Das Staunen ist nicht unmittelbare emotionale Reaktion, sondern scheint abhängig von dem Erkennen zu sein, dass eine so fragile Struktur unmöglich scheint. Das Sich-Wundern führt 89

hier zu der konkreten Frage nach der Technologie oder Methode, die eine solche Struktur möglich macht. In unserem Beispiel verbirgt der gewöhnlich scheinende Stuhl eine unerwartete Struktur, denn das Holz ist nicht Grundmaterial, sondern nur eine dünne Furnierschicht, welche einen Stahlrahmen verkleidet. Nur Sitz und Lehne sind aus solidem Ahornholz. Den einzigen Hinweis auf den Stahlrahmen allerdings gibt die Unterseite der Stuhlbeine, welche die dünne Holzschicht um den Stahlkern preisgibt. Das Beispiel zeigt, dass Sich-Wundern und Bewundern der Verwunderung geschuldet sein kann über etwas, dass gemäß den Alltagserfahrungen unmöglich oder äußerst unwahrscheinlich zu materialisieren ist. Ein solches Objekt wird als Außergewöhnliches oder Absonderliches wahrgenommen, wofür beispielhaft die Objekte der Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts stehen. Der Historiker Stephen Greenblatt identifiziert Kunst- und Wunderkammern als Orte, in denen »the cult of wonder«11 praktiziert wurde. Diese Prä-Museumsräume waren durch ihre auf engem Raum ausgestellten Sammlungen bemerkenswerter Fundstücke aus der ganzen Welt gekennzeichnet, was in der Renaissance dazu führte, sie als Mikrokosmos von Welt zu beschreiben. Die Organisation innerhalb dieser Sammlungen basierte nicht auf Wissenssystemen, sondern folgte einer Faszination für die materielle Welt, unterteilt in Naturalia, Artificialia und Scientifica (Naturphänomene, Kunstwerke und wissenschaftliche Instrumente und Modelle). In der deutschen Sprache sind allerdings diese »Wunderräume« auch als Kuriositätenkabinette bekannt, was die Definition dieser Orte von der Erfahrung im Raum zu einer Beschreibung der Objekte an sich verschiebt. Als Kuriositäten repräsentieren die Objekte das Merkwürdige, Spektakuläre, Bizarre und Fremde. Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp beschreibt die Motivation dieser Praxis als Vorgehen, »um der Spielfähigkeit der Natur das Assoziationsvermögen der Augen zur Seite zu stellen […] Der Anspruch des Spielerisch-Zweckfreien half, die Balance zwischen Anwendung und Grundlagenforschung, Lust und Effekt, Freiheit und Zweckgebundenheit zu halten und die Naturgeschichte nicht etwa im Telos des puren Nutzens aufgehen zu lassen.«12 Die Intention, die natürliche und die von Menschenhand hergestellte Welt zu repräsentieren, vereinigte so das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen, das Rationale mit dem Verspielten und das Bekannte mit dem Fremden. Somit präsentieren diese Arrangements nicht nur ein Konzept von Welt, sondern stimulieren ein spielerisches, individuelles Suchen und Testen von Objektbeziehungen und möglichen Bedeutungen. Diese Prozesse 90

11  Stephen Greenblatt: Resonance and

Wonder, in: Ivan Karp, Steven D. Lavine (Hg.): Exhibiting Cultures: The Poetics and Politics of Museum Display, Washington, D.C./London 1991, S. 42–55, S. 50. 12  Horst Bredekamp: Antikensehnsucht

und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993, S. 70 f.

der Auswahl, Interpretation und Ausstellung antizipieren spätere Museumspraktiken, zielen aber trotz der vergleichbaren Vorgehensweise scheinbar auf einen gegensätzlichen Zweck ab. Auf der einen Seite haben wir Vergnügen und Verspieltheit, die zu fragilen Schlussfolgerungen führen, und auf der anderen Seite sorgfältige Betrachtungen und wissenschaftliche Analyse. Experimentelle Schlussfolgerungen stehen erprobten Argumenten gegenüber und eine Offenheit möglicher und sogar zufälliger Deutungen trifft auf den Wunsch nach finalen Aussagen. Mit der Entstehung wissenschaftlicher Museen scheint die Bewunderung zugunsten der Wissensweitergabe aufgegeben worden zu sein, was die Ziele und Intentionen vieler zeitgenössischer Institutionen bestätigen. Der Museumsdiskurs der vergangenen Jahrzehnte hat jedoch gezeigt, dass das Museum entscheidend an Attraktivität verlieren würde, wenn es nur als ein Ort reiner Lehre wahrgenommen werden würde. Um diese zwei Qualitäten von Museumsobjekten beschreiben und unterscheiden zu können, führte der amerikanische Historiker Stephen Greenblatt im Kontext von Kunstausstellungen die Begriffe »resonance« und »wonder« ein: By resonance I mean the power of the displayed object to reach out beyond its formal boundaries to a larger world, to evoke in the viewer the complex, dynamic cultural forces from which it has emerged and for which it may be taken by a viewer to stand. By wonder I mean the power of the displayed object to stop the viewer in his or her tracks, to convey an arresting sense of uniqueness, to evoke an exalted attention.13

13  Greenblatt, Resonance, S. 42 [Übersetzung

der Autorin: Mit Resonanz meine ich die Macht des ausgestellten Objekts, über seine formalen Grenzen hinaus in die weitere Welt hineinzugreifen, um in dem Betrachter die komplexen und dynamischen kulturellen Kräfte heraufzubeschwören, aus denen es entstanden ist und deretwegen es von dem Betrachter zur Deutung herangezogen wird. Mit Verwunderung meine ich die Macht des ausgestellten Objekts, den Betrachter zum Stehenbleiben zu veranlassen, ein atemberaubendes Gefühl der Einzigartigkeit zu vermitteln und eine erhöhte Aufmerksamkeit hervorzurufen].

Mit »resonance« wird der semiotische Charakter von Objekten beschrieben, da sie als Zeichen und Symbole für komplexe Ideen, Erscheinungen oder Ereignisse von Welt wahrgenommen werden können, auf welche sie verweisen oder welche sie repräsentieren. Seiner linguistischen Bedeutung folgend, kann demnach »resonance« als Reaktion oder Antwort auf etwas Stimmiges und Vollständiges interpretiert werden. »Wonder« dagegen verweist auf intrinsische Qualitäten des Objektes selbst, welches zunächst für nichts anderes als sich selbst steht. »Wonder« ruft Reaktionen von Staunen, In-Bann-gezogen-Werden und Bewundern hervor, die zunächst in einem sinnenden, kontemplativen Zustand verharren, bevor sie zu Fragen nach Wissen anregen können, aber nicht zwingend führen müssen. Dieser Zustand des Sich-Wunderns und Bewunderns ist grundverschieden von dem am Beispiel des CordChair beschriebenen Prozess, welcher das Erkennen von Differenzen voraussetzt, um über das Sich-Wundern die Auseinandersetzung mit dem Objekt zu intensivieren. Der Unterschied scheint 91

in der Unmittelbarkeit der Reaktion zu liegen, deren Ausmaß und Heftigkeit Greenblatt passend mit den Worten beschreibt: »to stop the viewer in his or her tracks«, was an die bekannte Passage des französischen Philosophen René Descartes erinnert, welcher Verwunderung als erste aller Leidenschaften definiert: Wenn ein Objekt uns beim ersten Entgegentreten überrascht und wir urteilen, daß es neu ist […], bewirkt das, daß wir uns über es wundern und erstaunt sind. Da das jedoch auftreten muß, bevor wir überhaupt erkennen, ob dieses Objekt uns angenehm ist oder nicht, ergibt sich für mich, daß die Verwunderung die erste aller Leidenschaften ist. So hat sie auch kein Gegenteil, denn, wenn das Objekt, das sich uns darbietet, nichts in sich besitzt, was uns überrascht, sind wir darüber keineswegs erregt und betrachten es ohne Leidenschaft.14

Descartes unterscheidet zunächst einfach, dass es Objekte gibt, die Verwunderung auslösen, und solche, die dies nicht tun. Diese Unterscheidung folgt gemäß Descartes einem Urteil über die Qualitäten »überraschend« und »neu« oder an anderer Stelle »außergewöhnlich« und »selten«. Descartes definiert »Verwunderung« als eine »plötzliche Überraschung der Seele, die dafür sorgt, dass man diejenigen Objekte aufmerksam betrachtet, die selten und außergewöhnlich erscheinen.«15 Verwunderung als erste Leidenschaft sichert somit, dass wir uns Objekten zuwenden und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Im Zusammenhang mit Descartes’ Betonung der ersten Konfrontation mit einem Objekt stellt sich die Frage, ob diese Reaktion nur einmal und beim ersten Gegenübertreten erlebt werden kann oder ob sie wiederholbar ist. Verwunderung als erste Reaktion im Umgang mit Alltagsobjekten auszuschließen scheint schon allein aus praktischen Gründen geboten zu sein. Sie werden benutzt, wobei sich unsere Aufmerksamkeit in erster Linie der Funktionalität und ihrer Erhaltung widmet. Verwunderung scheint hier hauptsächlich ausgelöst zu werden, wenn Dinge nicht funktionieren oder verändert sind: Das Messer schneidet nicht, die Schrankwand ist von Schimmel befallen. Wenn wir im Gegensatz Museumsobjekte als das Andere und Besondere betrachten, sollten sie per definitionem Verwunderung hervorrufen. Wie bereits bemerkt, sind Museumsobjekte nicht nur durch sich selbst anders und besonders, sondern in der ersten Konfrontation hauptsächlich aufgrund ihres Kontextes und der Beziehung zu den umgebenden Objekten und Subjekten. Der Hauptauslöser von Verwunderung liegt allerdings wahrscheinlicher in der Verschiebung des Funktionszusammenhangs der Objekte, der im neuen Kontext vernachlässigt werden kann und umdefiniert wird. Das Objekt wird somit immer schon 92

14  René Descartes: Die Leidenschaf-

ten der Seele. Hrsg. u. übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1984, S. 95. 15  Ebd.

als das Andere wahrgenommen, wobei nach Descartes allerdings nur Objekte mit gewissen Attributen (neu, überraschend, außergewöhnlich, selten) Verwunderung auslösen. Diese Attribute sind jedoch eher undeutlich, als dass sie präzise Qualitäten beschreiben. Verschiebung als Methode ist hingegen durch die Motivation geprägt, durch Transformation eines Objekts von einem Gewöhnlichen zu einem Außergewöhnlichen eine neue Erfahrung und Anregung zu bieten, durch die hervorgerufene Überraschung oder sogar Irritation. Die Sonne erwartet man am klaren, blauen Himmel, doch nicht im Innenraum eines Museums. Wenn sie jedoch im Museum erscheint, löst dies Überraschung aus, der – allerdings nicht zwingend – das Erkennen der Kontextverschiebung, basierend auf dem Wissen und der Erfahrung mit diesem Objekt, folgen kann. Die Überraschung ist aber stimulierender Faktor, der von Sich-Wundern zu Sich-Verwundern und selbst Bewundern führen kann, um schließlich Fragen, intensive Auseinandersetzung und Aneignung zu stimulieren und formale oder konzeptionelle Aspekte zu rezipieren. Wenn wir in der Auseinandersetzung mit Objekten Prozesse des Bewunderns und des Verwundert-Seins unterscheiden, die zum einen eine unmittelbare emotionale Reaktion in einem eher kontemplativen Zustand erzeugen und andererseits aus dem Hinterfragen des Bekannten zu Fragen des Unbekannten führen, dann müssen wir noch eine weitere Variante unterscheiden, die eine objektintrinsische Reaktion beschreibt. Ähnlich der von Benjamin als Aura definierten Qualität, beobachtet der britische Designer Jasper Morrison eine Wirkung, die von speziellen Objekten ausgeht: 16  Siehe www.readingdesign.org/super-normal,

letzter Zugriff: 15.09.2016. [Übersetzung der Autorin: Vor einiger Zeit fand ich einige alte, schwere, handgeblasene Weingläser in einem Trödelladen. Zuerst war es ihre Form, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, aber langsam wurden sie durch ihre tägliche Benutzung zu mehr als nur einer schönen Form, und ich nehme ihre Präsenz auf andere Art und Weise wahr. Wenn ich jetzt eine andere Art von Glas beim Tischdecken verwende, habe ich das Gefühl, dass in der Atmosphäre des Tisches etwas fehlt. Und wenn ich sie wieder verwende, kehrt die Atmosphäre zurück; jeder Schluck Wein ist ein Vergnügen, auch wenn es kein besonders guter Wein ist. Wenn ich einen Blick auf diese Gläser im Regal werfe, strahlen sie etwas Gutes aus. Diese atmosphärische Stimmung stellt die mysteriöseste und am schwersten fassbare Qualität von Objekten dar].

A while ago I found some heavy old hand-blown wine glasses in a junk shop. At first it was just their shape which attracted my attention, but slowly, using them every day, they have become something more than just nice shapes, and I notice their presence in other ways. If I use a different type of glass, for example, I feel something missing in the atmosphere of the table. When I use them the atmosphere returns, and each sip of wine is a pleasure even if the wine is not. If I even catch a look at them on the shelf they radiate something good. This quota of atmospheric spirit is the most mysterious and elusive quality in objects.16

Morrisons »atmospheric spirit« ist eine Eigenschaft des Objekts, die dessen Präsenz verstärkt und die Emotionen auslösen kann. Diese Reaktionen übersteigen an Bedeutung nicht nur 93

die Funktionalität des Objekts, sondern auch seine Ästhetik. Es scheint wichtig zu betonen, dass »atmospheric spirit« nicht gleichzusetzen ist mit der Ästhetik eines Objekts, da diese nur eine – wenn auch wichtige – Eigenschaft des Objektes beschreibt. Allein die Beziehung zwischen Funktion und Ästhetik wird von einer Vielfalt von Faktoren bestimmt, die formaler, struktureller, materieller und konzeptioneller Art sein können, doch sich ebenso auf haptische, sensorische und olfaktorische Qualitäten beziehen können. Diese Eigenschaften scheinen alle Einfluss auf Morrisons »atmospheric spirit« oder Präsenz zu haben, doch diese in keiner Weise zu bestimmen. Morrison betont, dass diese Eigenschaft am rätselhaftesten und am schwersten zu fassen und zu beschreiben ist, was auf die Wahrnehmung einer emotionalen Reaktion verweist, welche – wenn überhaupt – nur höchst individuell beschrieben und interpretiert werden kann. Der Kulturhistoriker Peter De Bolla geht sogar so weit, den Zustand der Verwunderung als Prozess der emotionalen Reaktion von der Auseinandersetzung mit dem Objekt zu trennen: »Being in wonder is a kind of contemplation without object, a suspension in attentive inattention; I am at the same time completely absorbed and distracted.«17 Dieser Zustand, »suspension in attentive inattention«, scheint sich zugleich dem Objekt zu widmen und sich diesem zu entziehen. Das Objekt ist Auslöser und in einem gewissen Ausmaß sogar Mittelpunkt der emotionalen Reaktion, welche aber grundsätzlich zum Betrachter zurückführt. Diese Rückbindung zum Betrachter ist demnach der Grund, warum die Beschreibung der Erfahrung zutiefst individuell ist. Greenblatt beschreibt diesen Prozess als Reflexion auf die eigene und nicht eine andere Kultur und schlussfolgert: The knowledge that derives from this kind of looking may not be very useful in the attempt to understand another culture, but it is vitally important in the attempt to understand our own. For it is one of the distinctive achievements of our culture to have fashioned this type of gaze, and one of the most intense pleasures that it has to offer. This pleasure does not have an inherent and necessary politics … [but] derives at least in part from respect and admiration for the ingenia of others. This respect is a response worth cherishing and enhancing.18

Was Greenblatt hier beschreibt, ist der Effekt von »wonder« – und dies kann verallgemeinert werden –, Respekt und Bewunderung zu erzeugen, welche beide Potenzial für Aufmerksamkeit, Befragung, Reflexion, Anerkennung und Ablehnung freisetzen können. Die wichtige Unterscheidung ist jedoch hier, dass sich diese Auseinandersetzung nicht notwendigerweise auf das Objekt und den Kontext, auf welchen es verweist, bezieht, sondern sich in ers94

17  Peter De Bolla: The State of Wonder, in:

Sandra H. Dudley (Hg.): Museum Objects. Experiencing the Properties of Things, London/ New York 2012, S. 158–160, S. 159. [Übersetzung der Autorin: Verwundert zu sein ist eine Art der Reflexion ohne Objekt, eine Unentschiedenheit in achtsamer Unaufmerksamkeit; ich bin gleichzeitig vollkommen vertieft und abgelenkt]. 18  Greenblatt, Resonance, S. 53 [Übersetzung

der Autorin: Das Wissen, das von dieser Art der Betrachtung herrührt, mag nicht sehr hilfreich bei dem Versuch sein, eine andere Kultur zu verstehen, aber es ist von großer Bedeutung für das Verstehen unserer eigenen Kultur. Denn es ist eine der besonderen Errungenschaften unserer Kultur, diese Art der Betrachtung hervorgebracht zu haben, und eines der intensivsten Vergnügen, das sie zu bieten hat. Dieses Vergnügen verfügt über keine inhärenten und notwendigen Regeln … (sondern) basiert zumindest teilweise auf dem Respekt und der Bewunderung für die Genialität des anderen. Dieser Respekt ist eine Reaktion, die es wert ist, bewahrt und verstärkt zu werden].

19  Passend schreibt auch Greenblatt nicht nur

Objekten sondern sogar dem Museum selbst die Fähigkeit zu, Verwunderung auslösen können. Er beschreibt das Museum of Modern Art in New York als »einen der großartigen zeitgenössischen Orte – nicht zum Hören von miteinander verknüpften Stimmen (Resonanz) … sondern zum intensiven und tatsächlich verzauberten Betrachten«, was ermöglicht, dass es zu einem »Moment der Verwunderung kommt«. Vgl. Greenblatt, Resonance, S. 49. 20  Boris Groys: Going Public, Berlin/New York

2010, S. 11 [»… um einen ästhetischen Genuss jeglicher Art zu erleben, muss der Betrachter ästhetisch gebildet sein, und diese Bildung reflektiert notwendigerweise das soziale und kulturelle Milieu, in das die/der Betrachter(in) hineingeboren wurde und in dem sie oder er lebt«]. 21  Greenblatt, Resonance, S. 51 [»das Herz des

Mysteriums in der Einzigartigkeit, Authentizität und visuellen Kraft des Meisterwerks, welches im Idealfall auf eine Weise ausgestellt wird, so dass sich sein Charisma verstärkt sowie der Blick des Betrachters gefangen und die Intensität seines Blickes belohnt wird, um die künstlerische Genialität zu manifestieren«].

ter Linie an den Betrachter selbst richtet. De Bolla betont, dass dieser angeregte Zustand kulturell konditioniert ist. Der Ort des Museums und seine ausgewählten Sammlungen erlauben demnach Wahrnehmungen und Emotionen, die dem Erleben ähnlicher Objekte an anderen Orten nicht vergleichbar sind.19 Wenn solche Reaktionen jedoch kulturell konditioniert sind, sollte eine solche Erfahrung trainiert und folglich durch häufige Auseinandersetzung intensiviert werden können. Der Kunst- und Medientheoretiker Boris Groys argumentiert in Bezug auf die ästhetische Erfahrung: »… in order to experience aesthetic enjoyment of any kind, the spectator must be aesthetically educated, and this education necessarily reflects the social and cultural milieus into which the spectator was born and in which he or she lives …«20 Demnach ist die ästhetische Erfahrung an den kulturellen und sozialen Kontext eines Betrachters gebunden und durch ihn begrenzt. Groys spricht damit der ästhetischen Erfahrung die Fähigkeit ab, sich außerhalb des Bekannten zu bewegen. In seiner Begründung der ästhetischen Erfahrung als kultureller Konditionierung in der Auseinandersetzung mit Objekten verschiebt Groys zugleich die lange unangefochtene Begründung der entscheidenden Rolle des Meisterwerks und des Künstlers als genialer Schöpfer, was noch Greenblatt mit den Worten beschreibt: »the heart of the mystery lies with the uniqueness, authenticity, and visual power of the masterpiece, ideally displayed in such a way as to heighten its charisma, to compel and reward the intensity of the viewer’s gaze, to manifest artistic genius.«21 Demnach würde sich die Erfahrung von Wunder in gleichem Maße und mit Nachdruck auf den trainierten Blick verlassen, der das Wahrgenommene nicht in Fakten und Daten übersetzt, sondern zu einer emotionalen Reaktion führt. Ich möchte allerdings behaupten, dass der Unterschied zwischen Wunder und ästhetischer Erfahrung in der Objektbezogenheit zu liegen scheint, wobei Letztere direkt an das Objekt gebunden ist. Im Falle von »wonder« scheint das Objekt eher nur Auslöser einer Reaktion zu sein, die dann außerhalb des Objekts wirkt, wie Morrison treffend beschreibt. Das Beispiel von nendos CordChair zeigt, dass selbst die Motivation eines Objektes einem Interesse am Außergewöhnlichen geschuldet sein kann – dies allerdings nicht zum Selbstzweck, sondern als Anreiz zum Innehalten, Studieren, Zweifeln, Reflektieren. Der Stuhl kann als Versuch verstanden werden, Verwunderung zu stimulieren und die emotionale Reaktion in eine Auseinandersetzung zu überführen, die weniger als poetischer Kommentar verstanden werden, sondern vielmehr zu allgemeinen, kritischen Fragen führen kann: Wann ist ein Stuhl ein Stuhl? Welche Funktion ermöglicht er, wie und 95

warum? Kann Stuhl auch etwas anderes als Sitzmöbel sein? Somit besteht der Wert der Erfahrung von Wunder nicht in einer Bestätigung des Bekannten, sondern in der Ermöglichung von Offenheit, die Vorstellungen auslöst, Verbindungen auflöst, neue Kombinationen findet und letztendlich einen neuen Kontext und neue Interpretationen ermöglicht. In diesem Zusammenhang ist es noch einmal wichtig, auf Groys zu verweisen, der uns erinnert, dass die Provokation ebenso Bestandteil der Konfrontation sein kann wie das Vergnügen: »[…] the artist is a supplier of aesthetic experiences, including those produced with the intention of frustrating and modifying the viewer’s aesthetic sensibility.«22 Diese Erweiterung – so soll hier behauptet werden –, die auch das Sich-Wundern nicht nur als positive Reaktion versteht, sondern auch als eine, die Ablehnung und Abscheu umfassen kann, ist wichtig, wenn Objekte als kritischer Kommentar, Spekulation oder Provokation verstanden werden sollen. Durch die Komplexität unserer materiellen Welt haben nicht nur die Grenzen zwischen Materiellem und Immateriellem, Synthetischem und Natürlichem, Original und Kopie, Realem und Digitalem, Produkt und System an Unschärfe zugenommen, sondern ist auch der Status des Objekts diffus geworden. Es kann in verschiedenen Medien auftauchen, verschiedenste temporäre und andere permanente Formate umfassen, sichtbar, doch auch unsichtbar sein. Die Flexibilität des Objektes führt dazu, dass Sich-Wundern in verschiedensten Orten und Formen auftreten kann und scheinbar selbst an Schärfe verloren hat. Eine detaillierte Analyse dieser neuen Situation kann im Rahmen dieses Textes leider nicht gegeben werden, doch wird diese nicht mehr notwendigerweise ihren Fokus auf die materielle Erscheinung in einem spezifischen Kontext richten, sondern auf die Positionierung des (materiellen oder digitalen) Objektes innerhalb des ästhetischen Felds und dessen Beziehung zu kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen, um Objekte als Manifestation von Welt und Selbst zu verstehen. Sich-Wundern, Ver- und Bewunderung scheinen sich hier weniger auf die Präsenz des Objektes zu beziehen, sondern auf seine zeitspezifische Konditionierung (contemporary conditioning): »[…] a shock-like encounter with the ›real‹ that is supposed to rescue people from their contemplative passivity and move them to action«.23 Grundsätzlich scheint die Unmöglichkeit einer exakten Spezifizierung der Ursachen des Sich-Wunderns sowie der Messung, Darstellung, Prognose und Planung der Effekte ein fundamentaler Aspekt der Faszination und Stimulation solcher emotionalen Erfahrungen zu sein. Das Museum als kultureller Ort mit 96

22  Ebd. [»Der Künstler ist ein Anbieter

ästhetischer Erfahrungen, einschließlich derer, die mit der Intention erzeugt werden, Frustration hervorzurufen oder die ästhetische Sensibilität des Betrachters zu modifizieren«]. 23  Groys, Going, S. 36 [»eine schockähn-

liche Konfrontation mit dem ›Realen‹, von der erwartet wird, dass sie die Menschen vor ihrer gedankenverlorenen Passivität rettet und zur Aktivität verleitet«].

seinen spezifischen Objekten bietet solche Erfahrungen nicht nur an, sondern übt sie in gewisser Weise auch ein. Diese Konditionierung kann allerdings begrenzend wirken. Dass sich Sich-­ Wundern in Sich-Verwundern oder in Bewundern wandeln kann, liegt – wie wir gesehen haben – an dem auslösenden Element, welches eine rein emotionale Reaktion in einen reflektierenden Zustand führen kann. Da der Zustand des Sich-Wunderns vor der Meinungsbildung und dem Wissenserwerb liegt, ist er meist durch die simultane Erfahrung von Oppositionen geprägt: Überraschendes ist auch schockierend, Wünschenswertes auch etwas abstoßend, Unwiderstehliches ist gleichzeitig abweisend, was De Bolla treffend schreibt: »[…] it leaves me wanting more but also slightly relieved when the moment has passed.«24

24  De Bolla, State, S. 159.

97

Marzahn, 1984 (Foto: Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf/Breitenborn)

BERLIN-MARZAHN MODERNITY, SOCIALISM, AND MATERIAL RUPTURE IN THE PLATTENBAUSIEDLUNG ELI RUBIN

On April 11, 1977, the Workers’ Brigade »Adolf Dombrowski« from the Tiefbaukombinat Berlin began excavating the first foundation of Berlin-Marzahn, which would become the largest Plattenbausiedlung in East Germany, and eventually, in all of Europe. From the late 1970s until 1990, tens of thousands of workers from around the GDR descended on the sleepy village of Marzahn, nestled in the far northeastern corner of Berlin, along the Wuhle river, which forms the border with Brandenburg. There, this army of workers built an entire city upon the grüne Wiese on the edge of Berlin. Originally planned for 35,000 residents, the Plattenbausiedlung begun in Marzahn spilled out into neighboring villages, including Hellersdorf, Ahrensfelde, Lichtenberg, and Hohenschönhausen. Eventually, they housed over 400,000 people in 202,164 apartments.1 Considered as a single city, it would have been the third largest in East Germany. Out of a tabula rasa, the socialist planned economy built a hypermodern socialist city, seemingly unburdened by the legacies of the capitalist past which shaped the older city centers. There, the future of socialism was meant to unfold, as the working class could finally move out of its infamous Mietskaserne and into a new space, one with no memory, and no links to a history that predated socialism. There, the new generation of socialist children could become the first to grow up in a space and a community with no connection to capitalism.

1  These figures come from Günter ­Peters,

Hütten, Platten, Wohnquartiere: Berlin-­ Marzahn: Ein junger Bezirk mit altem Namen (Berlin: MAZZ, 1998). 2  Eli Rubin, Amnesiopolis: ­Modernity,

Space, and Memory in East Germany (Oxford: Oxford University Press, 2016).

This essay briefly recounts the planning and construction of Marzahn and the experiences of some of the hundreds of thousands of residents who moved there in the late 1970s and 1980s. It is based on archival and oral history research conducted for a book.2 It argues that in Marzahn, socialism appropriated modernist urban planning concepts associated with the CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne), and thus created a space that was both socialist and modern. Furthermore, it argues that this association was not only one of convenience. Rather, that both the East German state in the 1970s and modern urban planning were engaged in a utopian project of »erasing« the past by building completely new cities from scratch away from the old city where the traces of the pre-socialist past were permanently inscribed. Thus,

the claim here is that the experience of East Germans who moved to Marzahn was an experience of profound rupture and reorientation. Their new surroundings at least partially severed their »mnemotopographical« links to the older urban (and rural) spaces in which the memories of their past and Germany’s past were intertwined. Rupture, then, helped clear the way for them to create a well-functioning socialist community within the Plattenbausiedlung, one centered on children and families, and to reach a fairly successful realization of the so-called sozialistische Lebensweise. The GDR faced a severe housing crisis in the 1960s, which was a culmination of a lack of state investment in housing stretching back to the Great Depression. Though the Third Reich had made plans to invest in a Housing Program, encapsulated in Albert Speer’s Germania plan which aimed to move hundreds of thousands of workers to new cities in the east and the south of Berlin, it had never followed through on these plans. The destruction of the war in Berlin, in particular, exacerbated the shortage that had carried over from the Depression and the Third Reich, and the imperatives of Stalinism in the late 1940s and early–mid1950s meant that most resources were directed towards building heavy industry and prestige projects like Stalinallee.3 As of 1955, the GDR was only spending ten per cent of its overall budget on housing, and by 1959 Walter Ulbricht had to admit that the GDR had a housing shortage of 570,000 units.4 To a significant degree, the lack of investment in housing was intertwined with a stylistic debate which took place in the GDR, known as the Formalism Debate. Under the leadership of Kurt Liebknecht, the East German Deutsche Bauakademie (the country’s central architectural organization) rejected mass-produced, prefabricated housing (what was called »formalism«) using instead traditional materials which proved to be too expensive and thus yielded far too few new dwellings.5 The rejection of modernists such as Mart Stam who were heirs of the Bauhaus and the CIAM, in shaping the aesthetic look, feel, and spatiality of everyday life in the new socialist republic, was a stand in for a bigger historical and ideological clash within socialism, one that dated back to the 1920s and 30s in the USSR and even earlier: is socialism a utopian movement which seeks to wipe the slate clean from the past, or is it a working class movement rooted in the traditions, cultures, and spaces of workers and peasants, a view often associated with »socialist realism«? Was the role of the socialist state to transform the working class by erasing the vestiges of capitalism and fascism and building – literally and figuratively – something new in its place? 100

3  Joachim Palutzki, Architektur in der

DDR (Berlin: Reimer, 2000), 60–64. 4  Hansjörg Buck, Mit hohem Anspruch

gescheitert. Die Wohnungspolitik der DDR (Münster: Lit, 2004), 179; this is from the 3rd Baukonferenz, May 6–7, 1959. 5  For more on the »formalism debate« as it

was euphemistically termed by the Party, see Wolfgang Thöner, »From an ›Alien, Hostile Phenomenon‹ to the ›Poetry of the Future‹: On the Bauhaus Reception in East Germany, 1945–70« in Bulletin of the German Historical Institute, Bulletin Supplement 2 (2005): 115–38; Eli Rubin, Synthetic Socialism: Plastics and Dictatorship in the German Democratic Republic (Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2008), 46–48, and specifically on architecture and urban planning, 81–85; and Virág Molnár, Building the State: Architecture, Politics, and State Formation in Postwar Central Europe (New York: Routledge, 2013), 39–40.

In the late 1950s and early 1960s, the modernists clearly won this debate. Once Stalin died in 1953, socialist realism fell out of favor in the USSR, especially once Khrushchev issued his famous call for housing to be constructed »better, cheaper, and faster« in the USSR and the socialist world. The pressure to abandon prestige projects and focus on providing modern, comfortable housing for all citizens eventually worked its way from Moscow to Berlin, resulting in a sea change of policy. However, the East German leadership did not only react to the winds of change coming from the Soviet Union – they were pressed by the awful living conditions that their own population experienced. Substandard housing was the number one source of complaint letters, and it was an experience that defined everyday life in the GDR for millions of East Germans. Their experiences matter here, and are part of the focus of this essay – not simply that they were bad, but the way in which they were bad. To understand the experience of material, spatial, and phenomenological rupture and transformation, which is the main theme of this essay, we must understand the material and spatial dimensions of the domestic worlds that many East Germans inhabited before that transformation. Among the hundreds of thousands of East Berliners who lived in the substandard housing created by the GDR’s neglect were Elisabeth Albrecht, a librarian, and her son Stefan, who lived in a building in Prenzlauer Berg that had been a 19th century working class slum, or Mietskaserne. »The building was still damaged from the war,« Albrecht recalled, adding that »the plaster was crumbling and the bricks had cracks in them which were only plugged with foil.« To make matters worse, Albrecht recalled, »by the end of the 1970s, my son and I began to experience frequent headaches. We often felt faint and sick.« Measurements showed elevated carbon monoxide levels, and the building was condemned eventually.6

6  Elisabeth Albrecht, »Balkonblick nach

zwanzig Jahren,« in Katrin Rohnstock, ed., Marzahn erzählt: (keine) Platten-Geschichten, (Berlin: Rohnstock-Biografien, 2004), 33. 7  Gerda Marin, »Ich habe hier immer gerne

gelebt,« in Ylva Queisser and Lidia Tirri, eds, Allee der Kosmonauten: Einblicke und Ausblicke aus der Platte (Berlin: Kulturring, 2005), 81. 8  Jürgen Hinze, »Das grüne Ungeheuer,«

in Rohnstock, ed., Marzahn, 64.

Gerda Marin, who worked at the state fashion institute, suffered from tuberculosis and claimed that the cause was the lack of fresh air, and the damp and cold conditions in her two-room apartment in Prenzlauer Berg, what she called »Berlin conditions.« Not only that, but she just never liked or saw any charm in the plaster faux ornamentation, hardwood floors that echoed through the building when anyone walked on them – the oldness of this interior was not to her taste, and was part and parcel of the poor sanitation of the building.7 Jürgen Hinze lived with his wife and two children in a tiny apartment in a Mietskaserne on Zionskirchstraße in 1975, built in 1862, which he claimed was »practically a ruin, dark and drafty,« with »water running down walls.« The living conditions he claimed were »catastrophic.«8 And in 1975, Barbara and Ralf 101

Diehl lived in a one-room apartment in Friedrichshain with their young son Dieter. Because the entire family slept in the one room, the only place for Barbara and Ralf to go to read a book, or talk, after Dieter went to bed was the tiny, cramped kitchen. The apartment had no warm water and no toilet, and only a window that opened on to a dark and narrow Hinterhof. The stressful conditions were hard on the family; Dieter had trouble adjusting at his Kita, and Rolf and Barbara quarreled frequently. Yet for the Diehls, the Hinzes, the Albrechts, the Marins, massive wheels had been set in motion in 1973 which would result in them moving over the next five years to a brand new apartment in a brand new city – Marzahn. It was in October 1973 that the SED’s Politbüro announced the Wohnungsbauprogramm, a massively ambitious policy which called for »solving once and for all the dwelling problem as a social problem.«9 It did so by proposing the building or modernizing of three million apartments by 1990– 800,000 by 1980 – which would provide every East German with a modern abode, which would conform to a modern Existenzminimum, including enough space, sunlight, warm water, private toilets, electricity and heat.10 It was focused especially in Berlin, where 200,000 to 230,000 apartments were planned between 1976 and 1990.11 The Wohnungsbauprogramm was the »Kernstück« of the signature policy of the Erich Honecker regime, the Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik, often referred to as »real existing socialism,« a series of policies that sought to bring East Germans out of the era of »building socialism« – an era of struggle and sacrifice – into a modern, socialist existence in all facets of life.12 As the single greatest capital investment in all of East Germany’s history – by one estimate totaling 390 million Marks14 – the Wohnungsbauprogramm was intended not only to merely build dwelling units, but to treat dwelling and everyday life holistically, as one comprehensive social problem. At the center of the Wohnungsbauprogramm was the Marzahn development on the northeast edge of Berlin. Here, new residents experienced a transformation of their spatial and sensory worlds which not only represented but helped affect the broader social and psychological transformation that was the broader goal of socialism in East Germany. To borrow Ed Soja’s phrase, the Plattenbausiedlung of Marzahn created a new »socio-spatial dialectic,«15 in which the new environmental impacted the human subjects within it, and the human subjects also changed and constructed that new environmental to reflect the values of the society they 102

9  Christa Hübner, Herbert Nicolaus, and

Manfred Teresiak, 20 Jahre Marzahn – Chronik eines Berliner Bezirkes (Berlin: Heimatsmuseum Marzahn, 1998), 20. 10  Buck, Anspruch, 389. 11  Peters, Hütten, 89. 12  Wolfgang Junker, Das Wohnungsbau-

programm der Deutschen Demokratischen Republik für die Jahre 1976 bis 1990 (Berlin: Dietz, 1973), 13, cited in Joachim Tesch, Der Wohnungsbau in der DDR 1971–1990: Ergebnisse und Defizite eines Programms in kontroversen Sichten (Berlin: Gesellschaftswissenschaftliches Forum e.V. & Helle Panke, 2001), 11. 13 Hübner, Nicolaus and Teresiak, 20 Jahre, 10. 14  Emily Pugh, Architecture, Politics, and

Identity in Divided Berlin (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2014), 289; also Regine Grabowski, »Wohnungspolitik,« in Günter Manz, Ekkehard Sachse and Gunnar Winkler, eds, Sozialpolitik in der DDR: Ziele und Wirklichkeit (Berlin: Trafo, 2001), 227–242, 234. 15  Edward W. Soja, Postmodern Geographies:

The Reassertion of Space in Critical Social Theory (New York: Verso, 2011), see chapter three generally on his idea of the socio-spatial dialectic.

A massive construction site – Marzahn under construction, Dokumentations­ zentrum Alltagskultur der DDR.

16  Peters, Hütten, 103. 17  Bernd Engling, »’ne Echte Pflanze aus

Berlin,« in Bezirksamt Marzahn von Berlin, ed., 1979–1999: 20 Jahre Bezirk Marzahn von Berlin (Berlin: MAZZ Verlag, 1999), 87. 18  Marte Kühling, »Weiße Fahnen,

hohe Prozente – Anekdoten,« in Bezirksamt Marzahn, ed., 1979–1999, 63. 19  Bärbel Felber, 1979–1999. 20 Jah-

re Marzahn (Berlin: Pressestelle Bezirksamt Marzahn, 1999), 9.

were helping to build – that of a community strongly influenced by socialism. The transformation that the new residents experienced upon moving to Marzahn began for many the first time they drove into what was a massive construction site. Many left their homes in the old inner city of Berlin, or small towns elsewhere in the country, and were suddenly confronted with tens of thousands of workers, working in three shifts, on an assembly line: towering cranes, mounted on tracks, lifted prefabricated concrete and rebar panels which had been delivered from a factory in nearby Falkenberg, as workers welded them into place. These Tiefbaubrigaden excavated almost two million cubic meters of soil,16 transforming the idyllic, pastoral fields into an unrecognizable landscape of mud and clay. Dr. Bernd Engling, upon moving to Marzahn, compared the surroundings to the surface of the moon; Werner Hinkel described seeing his lone apartment block amidst the disturbed earth like »seeing a post jutting out of a giant wasteland.«17 There were no streets, and no street signs, and no natural markers or identifiers – every aspect of the built and natural environment had been reduced to a zähflüssiger Brei, according to the first mayor of Marzahn, Gerd Cyske.18 Rubber boots were the most important possession that Marzahners had – they came to refer to this primordial era as the Gummistiefelzeit19 – and it was said in Berlin that one could always identify Marzahners on the S-Bahn by the mud 103

on their shoes20 and by the Gummistiefel they carried with them, which came to be known as »Marzahn foot condoms.«21 The fact that children were ubiquitous in Marzahn made life especially difficult for parents – strollers were almost useless,22 and small children would sink in the mud to the point where they couldn’t move and had to be rescued.23 And yet for most Marzahners, the move to the Plattenbausiedlung, still in its becoming, was a welcome transition. The mud, the unending construction noise, the disorientation was part of a process of ending a chapter in their life, a chapter associated with older buildings and older spaces, and beginning a new chapter, a new narrative. Rather than depressing, the mud was often seen as a primordial ooze, in which anything could and would grow. As Christian Domnitz, who was a young boy in the 1970s, recalled about this time: »all over, concrete pieces shot up out of the ground … when I was at home with my family, and I gazed out the window, I did not see trees growing, as elsewhere; I saw dwellings growing. There were more and more, they grew all around, and they grew higher and higher.«24 Indeed, for Domnitz and for other children, the massive transformation of the construction site was a dream come true:

»Primordial Ooze« – children playing in the construction site in Marzahn (Foto: Bezirksmuseum MarzahnHellersdorf, Jürgen Nagel).

20  Kühling, »Fahnen,« 63. 21  Peters, Hütten, 108. 22  Interview with Rainer Nordmann,

March 22, 2008, Berlin-Marzahn. 23  Annaliese Suck, »Knirpsenrettung,« in

Bezirksamt Marzahn, ed., 1979–1999, 45.

All around we found a gigantic adventure playground (Abenteuerspielplatz): pieces of cement shot out of the ground everywhere. Rough and 104

24  Domnitz, »Jetzt packen wir hier alles zusam-

men,« in Rohnstock, ed., Marzahn, 41–44, 41.

raw towers, entirely empty of people. We played in the chaos in between. Because of the clayish soil, the water did not drain well. Giant, turgid (aufgewühlte) puddles formed between the construction pits, piles of earth, and gravel piles. We played our own kind of construction (Tiefbau), and connected the puddles with canals. The point [of the game] was to channel as much water as possible in wide, fast streams.25

Here, what stands out in Domnitz’s memory, is not just the fact that he and other school children were finding ways to adapt their imaginative play to the massive upheavals of their physical world, but that they saw the overturned and churned earth and water much as the socialist state saw it – as infinitely plastic and mal­ leable. This, of course, is not an unusual or specifically socialist sentiment in children. The universal appeal of sandboxes, sandcastles, or molding clay (such as Play-Doh) attest to the particular dialectic formed between sediment (sand, clay etc.) which is both natural and malleable, and the childhood imagination. However, it was the project of the socialist state that dug up that soil, created the piles and pits and puddles, a project flowing from many of the same impulses that lay at the heart of children at play in sandboxes or on the beach. In turn, the children recreated the same impulse to build anew amidst a primordial ooze, as if they were refracting the mission of the State into their own play worlds.

25  Ibid. 26  Tesch, Wohnungsbau, 28. AWGs were the

more common route for getting an apartment in Marzahn, though they did not account for the majority of apartment acquisitions through the rest of the republic. Also see Larrie Benton Zacharie, ed., Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (Saarbrücken: Verpublishing, 2012). 27  André Steiner, The Plans that Failed: An

Economic History of the GDR (Trans. Ewald Osers. New York: Berghahn, 2010), 146.

It was not only the primordial ooze of the construction site that signified rebirth – for many new Marzahners, their move to the Plattenbausiedlung was deeply intertwined with actual birth – the birth of their children and thus the beginning of a new chapter in their lives, one that would be a new chapter at the same time in the live of their nation. One of the common methods for getting a new Marzahn apartment was to sign up through the Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) through their workplace, or directly from the State.26 However, one way to dramatically boost one’s chances of moving to the front of the line was to have children. In keeping with one of the core principles of »real existing socialism,« which was support for families with children,27 families who had or were expecting children and had cramped, inadequate, or nonexistent living space were given priority. For this reason, having children and moving to the modern, unrecognizable world of Marzahn often went hand in hand for the new Marzahners. This was true, for example, of Gabriele Franik. Franik, pregnant with twins, applied for a three-bedroom apartment in Marzahn in 1980, knowing that the tiny single-room apartment in Lichtenberg where she lived with her husband Stefan and their two-year-old son would be far too small for the 105

growing family. Though her AWG made her wait until she was nine months pregnant – just being pregnant was not enough, you needed to prove you had actual babies28 – she got the news that she had received the apartment while on bedrest in the hospital.29 She was so excited, that she ignored medical advice and, together with her husband in their car, set out from Charité to Marzahn: »He drove and drove. We emerged in a giant construction site: our way was lined with cranes. Everywhere stood just begun Plattenbauten. There were no streets for far and wide. Mountains of sand towered, a gigantic wasteland of mud (Schlammwüste), nowhere a tree, or even a shrub.«30 As they reached their new building at 43 Ludwig-Renn-Straße, with the upper stories still under construction, Franik recalled both the sensation of being enormously pregnant with twins and the freshness and newness of her surroundings – not only the mud, but the smell of fresh cement and paint everywhere in the air, a combination of sensations that produced a kind of euphoria: My heart was in my throat with excitement, my knees shook, as I left the car and we walked up to the second floor together, the building still smelling of cement and paint. My husband opened the door to our new apartment and … A giant empire appeared, with enough room for five family members. Central heating, warm water from the wall, and a six-meter-long balcony! This is what happiness looks like.31

The Franiks were not alone in having children, especially twins. Because so many East Germans were able to get Marzahn apartments because of having or expecting children, Marzahn quickly became the kinderreichste Bezirk in the GDR. As Anke S., a teacher – one of hundreds hastily recruited to Marzahn – recalled, »with the apartments being completed, came the moving vans. And with the moving vans, came ever more children.« For these children, moving into a Plattenbau meant having their own room, which was a profound spatial and material transition for them. Indeed, as the phenomenologist Gaston Bachelard has argued, the spaces that characterize childhood homes have a defining effect on the personalities and sense of self that children develop as adults. What a child’s room, for instance, looked like (if a child has their own room, or space, at all); whether there was a cellar, and whether the cellar was dark and scary or a space of safety and magic; whether there was light, and what the views out the window were, views which populated the long hours of childhood ennui on rainy or lazy summer days; what kind of furniture existed in relationship to the angles and dimensions of the 106

28  This was confirmed by several interview

partners, including in an interview with Rainer Nordmann, Berlin, April 22, 2008. 29  Gabriele Franik, »Was heißt Gemini?,« in

Rohnstock, ed., Marzahn, 77–83, 79–80. 30  Ibid., 80. 31  Ibid., 81.

home; how a child’s parents and siblings existed in relation to all these factors – all can come to fundamentally shape a childhood and a personality.32 For children, Bachelard argues, spaces take on a mythical perspective. For the children of Marzahn the phenomenology of their new childhood spaces was an important part of the story of building a socialist future as well. Their generation, the generation born in the 1970s, in the era of »real existing socialism« and the Wohnungsbauprogramm, was the first generation that would be born into a material world with no traces to the pre-capitalist past. Their childhood spaces would not be old, they would not be linked to the capitalist past, they would be thoroughly socialist spaces.

32  See Gaston Bachelard, The Poetics of Space.

Transl. Maria Jolas (Boston: Beacon, 1969). 33  Interview with Barbara Die-

hl, Berlin, February 20, 2008. 34  Albrecht, »Balkonblick,« 36. 35  Detlef Habrom, »Orangen gegrillt,

Cordhose gewässert, Brand erfolgreich bekämpft,« in Rohnstock, ed., Marzahn, 64. 36  Isolde Baumgarten, »Küche und Bad

mit Fenster sagte uns zu,« in Queisser and Tirri, eds, Allee, 31. For more on plastics in the GDR, see Rubin, Socialism; also Katja Böhme and Andreas Ludwig, eds, Alles aus Plaste. Versprechen und Gebrauch in der DDR (Cologne/Weimar/Vienna: Böhlau, 2012).

This was the case for the Diehl family, who received an apartment on the Allee der Kosmonauten in Marzahn in 1980. In the new place, Barbara and Ralf finally had their own room, and so did their son Dieter. With a space of his own, according to his mother, Dieter blossomed. They furnished his room with a children’s bedroom set purchased from the »House of Children« store in Strausberg, just outside Berlin, a state-run store that served as one of the main consumption centers for children’s goods. There, using her state-issued credit as part of the Honecker regime’s policies, she was able to purchase a desk, a bed, a dresser, all made in the modern, pressed wood laminate style which the Hellerau workshop had famously come to incorporate into its repertoire. She also got him Max und Moritz books (among others), and lots of plastic toys, including a plastic dump truck which mirrored the armada of dump trucks hauling sandy märkisch soil out of the thousands of foundations being dug all around their building. The plastic truck became his favorite toy, as he recreated massive construction sites in his own room, using figurines and lego-like plastic building sets.33 Nor was he alone – upon moving to her Marzahn apartment, Elisabeth Albrecht bought her son Stefan a plastic dump truck, which also became his favorite possession.34 Detlef Habrom, who moved to Marzahn with his wife and two stepsons from a one-room apartment in Karlshorst, which he described as »far too small,« also recalled that his stepsons loved to use the long entry corridor in their new Plattenbau apartment to race and crash the same plastic trucks »for hours at a time,« the slick PVC flooring providing an excellent surface for the toys’ polyethylene wheels.35 Isolde Baumgarten also remembered the long corridor with its slick PVC flooring as a favorite space for playing with toy cars, trucks and other playthings.36 The children of Marzahn were growing with Marzahn; they created their childhood worlds as the Plattenbausiedlung itself was 107

created. This was illustrated by Ilka Jütte, the two-year-old daughter of Gerd Jütte, a drill press operator at the VEB Machine Tool Factory in Marzahn and member of his factory Party chapter, the Salvador Allende Collective, and his wife Carola, who worked for the GDR state export organization. The Jüttes were one of the first residents of Marzahn, moving from a one-room slum apartment in Pankow to Marzahn in late 1977, they were interviewed by the local paper Der Neunte, with the focus on the adorable blonde haired Ilka. The article, entitled »Ilka wächst mit,« recounted a visit to Ilka’s new room, furnished with newly purchased furniture, a small table, a chalkboard easel, stuffed animals and art supplies. As the newspaper made clear, she and Marzahn shared a similar narrative, one that met and crossed over in the coziness of her own bedroom on the 9th floor of a QP 71 Plattenbau tower: »Ilka has grown sleepy,« the article stated; »from playing, and from the many new impressions. From children grow great people. In time, perhaps, she will tell her own children about the district Berlin-Marzahn and its origins. Ultimately, the two of them are growing up together!«37 Returning the next year to see how, in fact, Ilka and Marzahn had grown in the previous year, the same publication described her life in her bedroom, now she filled it with her own self: Ilka, who got out of bed not long ago, has begun to draw from her imagination on her chalkboard (Schiefertafel). She begins to babble excitedly, and tells us how Santa already came to her Kindergarten with a sleigh, two horses and bi-i-i-ig sack, and gave gifts to all the children, because they had all been so good; and how they had gone to the senior center and sung to the grandmas and grandpas, who loved it, and – and – and!! Happy childhood; it makes a visitor happy to be able to share the experience.38

Eight years later, the popular East German home journal Kultur im Heim visited with the Jüttes one more time. Ilka, 11, belonged to her local Sporting Club (TSC) and played on a volleyball team; her father Gerd was now a representative for the municipal district council, and her mother Carola was an important figure in the PTA (Elternaktiv).39 The buildings, the community, and the child plus her family had all grown with each other. 37  Rudolf Bensel, »Ilka wächst mit: Arbeiter-

The world that these children were born into, or grew up in, was radically different from the one in which their parents had lived. Their parents were the »GDR Generation,« as Dorothee Wierling has termed it – born around the end of the War and the founding of the GDR, they had no personal memories of any other po108

familie Jütte hielt Einzug in Berlin-Marzahn,« Der Neunte, Vol. 2, no. 3 (February 2, 1978), 1. 38  Lilo Erbstößer, »1 Jahr danach …,« Marzahn

aktuell, Vol. 2, no. 17 (December 21, 1978), 4. 39  »Leben in Marzahn,« Kul-

tur im Heim 1986, no. 2, 3.

litical or economic system other than the GDR, and the GDR spanned their childhoods and the first part of their adult lives. Yet, as this essay has explained, they still primarily lived in the spaces of the old, pre-GDR world. The ghosts of their family’s past, with all its traumas and unpleasant memories shaped by war, fascism, and capitalism, were bound to the spaces in which these chapters in their family stories took place.40 Their children, those born in the 1970s and 1980s, if they got an apartment in Marzahn, were among the first to grow up with no mnemotopographical connection to the past.

40  For more on this argument and examples of

how painful memories were embedded within the old spaces, see Rubin, Amnesiopolis, 81–83. 41  Lothar and Helena Hepner, »Im

Altbau wurde gar nicht saniert,« in Queisser and Tirri, eds, Allee, 87. 42  Interview with Johann and Sofia

Schöring, Berlin, May 23, 2008. 43  Interview with Evelyn Mar-

quardt, Berlin, May 26, 2008.

The spatial and material reality of the Plattenbausiedlung created an almost completely new phenomenological and sensory world contrasted profoundly with the old spaces of the Elendsviertel from which many had moved. The simple fact of living in vertical towers alone presented residents with a new sensory world. No longer living in cramped, dark Mietskasernen, Marzahners suddenly had wide-open views of the surrounding countryside, often of both sunsets and sunrises, and a completely new sense of orientation within the geography and topography of the landscape; especially for those in the upper stories of a WBS 70 eleven-story, or the 22-story QP 71 towers (of which only a few were built in Marzahn), the view outside the window every morning was not just one of the Kiez or the Hinterhof, but of the Fernsehturm rising in the distance to the west, the Müggelturm to the south,41 and the glacial Barnim high plain stretching off to the east, towards the Oderbruch. This was the experience of Johann and Sofia Schöring, when they moved to Marzahn from Pankow in 1983, where they had been living in a passageway apartment with no windows that they described as »miserable.« Living on the 7th floor of a QP 71 building, with windows and a balcony facing towards the East, they saw sunrises and rainbows – not for the first time, but on a daily basis, and from a majestic and unfettered vantage point. They documented these with their camera and saved the images in a photo album.42 They were not the only ones to incorporate a record of a new Sinnenwelt, a new sense of meteorology and altitude within the arc of their lives; other Marzahners did the same, such as Evelyn Marquardt, who also documented the stunning displays of rainbows from her WBS 70 balcony, which faced southeast.43 On the ground, outside their buildings, Marzahners not only passively experienced a change in their material and spatial environment, they participated in making and shaping that new environment. One of the most common ways in which this happened was the Mach mit! program, run through the National Front, which was ubiquitous throughout the GDR, but especially active 109

in new Plattenbausiedlungen.44 Mach mit! actions took place every two weeks in the planting season, were coordinated between the communal associations, the Berlin Magistrat, and the VEB Office of Green Space (VEB Grünflächenamt, part of the WBK overseeing the whole project), accounting for »many thousands of square meters of green space,« according to one official with the Green Space Office.45 Klaus Hölgermann recalled the Mach mit! days as a kind of foundational myth, with honest labor yielding results and a well-deserved reward: The residents were ready to join in. One didn’t need a lot of convincing. The tasks were organized here, in the building. On this or that day, for example in May, it would be announced: »In 14 days we’re getting bushes and trees delivered. You are to see to it that they are planted.« And it worked. We got started at eight in the morning, and we worked straight through to 11:30 am. And when we finished something, we went and grabbed a case of seltzer, or two, and also perhaps a crate of beer. It was all work, sweat, and beer!46

For many Marzahners, this communal action in helping to co-­ create their new space had several effects. One was to create a new way of experiencing the flow of time. This was the experience of Elisabeth Albrecht, who planted poplar trees along with her neighbors outside her WBS 70 11-story building on FranzStenzer-Straße. She could watch as the shrubs and saplings that 110

Double rainbow over Marzahn (Foto: Evelyn Marquardt).

44  See Jan Palmowski, Inventing a So-

cialist Nation: Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945–1990 (New York: Cambridge University Press, 2009), chapter 5, for a more in-depth discussion of the role of Mach mit! in creating – or not – a sense of community or »Heimat.« 45  Manfred Bluhme, »Erinnerungen,« in

Bezirksamt Marzahn, ed., 1979–1999, 54. 46  Bezirksamt Marzahn, ed., 1979–1999, 119.

they all planted put down roots, and began to fill in and mature. For her, watching the small poplar that she planted below her 9th story balcony was a way of marking time; as the poplar grew taller over the years, so too did her son Stefan. By the time he was old enough to leave home, the poplar had grown almost up to her balcony: »but in the meantime, the poplar that I planted during those days [when he was a child] has reached all the way to me, almost growing into my window. It is now 21 years old.«47 In this way, several new time-strands were created upon moving into Marzahn, all of which were related to each other, and to spatiality: trees, apartment buildings, and children. Together, they all told a story of regeneration and new beginnings. Furthermore, the shared foundational experience contributed to a sense of communitarianism that certainly seemed to reflect the socialist Lebensweise that the SED had striven for so many years to bring about. Residents of Marzahn recalled strong communal associations, especially centered around their building’s Hausgemeinschaft. The Hausgemeinschaften and their main organizing committees, the Hausgemeinschaftsleitung in most buildings organized festivities frequently, holding parties for International Children’s Day, Fasching, Himmelfahrt, birthday parties, Jugendweihe and Namensgebung celebrations, welcome-back parties for young men returning from the service, and more.48 Residents organized events for Volkssolidarität and coordinated with the Gesellschaft für Deutsche-­Sowjetische Freundschaft.49 Though they received a budget from the National Front, and used the spaces provided to them by the State’s construction of physical space – for example, the communal rooms in the WBS 70 or the greenways outside the buildings – the residents alone created a sense of collectivity and even spontaneity in their buildings. Karin Hinkel remembered the residents of the 20th floor where she lived having spontaneous parties:

47  Albrecht, »Balkonblick,« 37. 48  Wohnbezirksausschuss 103 der Nationalen

Front, »Hausgemeinschaften auf Parteitagskurs: Vielfältige Initiativen im Wohngebiet,« Marzahn aktuell, Vol. 4, no. 14 (July 3, 1980), 4. 49  Ibid. 50  Bezirksamt Marzahn, ed., 1979–1999, 121. 51  Ibid.

Overall, we partied a lot. Never planned it, just did it. We’d meet up in the hallway on the 20th floor, and that’s how it would start. Everyone brought a chair, and with the kids we’d do something for Fasching, or we’d organize Jugendlichen-Diskos for the older kids. Or, right in front on the greenway, there would be kids’ parties, sometimes in conjunction with the school nearby. And there would be a lot of baked treats. There was a real sense of geselliges Zusammensein in the building.50

Jasper Oelze recalled that the Stimmung in his building was »great, and we had lots of fun« at these events.51 Jutta and Joachim Kretzschmar agreed, saying »When it came to communal festivals, 111

it didn’t matter if you had helped clean the stairwell or not, every doorbell was rung. There were a few people who organized it all … we had a cook in the building, as well as the director of the shopping mart, and that was reason enough to throw a party.«52 According to a 1980 study by Loni Niederländer at the Humboldt University’s Institute for Marxist-Leninist Sociology, two thirds of the residents overall reported that they would leave their key with at least one neighbor, and in the five-story WBS buildings the atmosphere was even more trusting – 95 per cent reported they trusted their neighbors enough to leave a key with them.53 Overall, 60 per cent of the residents studied reported that mutual help between neighbors was »common.«54 Katrin Brandtstadt recalled that her building was a »great community,« and Elisabeth Westermann described her 22nd floor as »definitely having a Kiez feeling; people would meet in the hallway or in the stairwells, say hello, and we had trust, we’d look after each others’ kids.«55 Of course, there was a darker side to the experience of rupture and new beginning that defined Plattenbausiedlungen like Marzahn. Being part of a tight-knit community also brought with it a kind of claustrophobia, in part because so many of the families that moved in were part of one kind of privileged group or another. Many were either Party members, worked for the State, Party, or police. One apartment building was known as the »red house« by its own residents, because there were so many Party members there.56 Some residents of Marzahn who felt alienated by the influx of loyal, happy believers in socialism referred to the new developments as a »den of Party bosses« (Gegend von Parteibonzen).57 What the Niederländer study found was that only 5 per cent of residents described the atmosphere in their building as »bad;« 24 per cent said they did not »yet« have a sense of well-being in their apartments, though none said the »did not« have a sense of well-being at all.58 The State Security was deeply interested in the Marzahn project, as well as other Großsiedlungen like Leipzig-Grünau and Dresden-­ Gorbitz. The verticality of the living towers not only permitted great views of sunsets and rainbows, it also allowed for excellent vantage points for observation. Out in the open green spaces between the high rise WBS 70s, it was almost impossible to keep comings and goings secret from inoffizielle Mitarbeiter.59 The Stasi especially liked that most of the buildings in Marzahn were mass-produced, meaning if they had the blueprints to one, they could confidently enter any building and know their way about – even creating a training manual for surveillance and clandestine 112

52  Verein Kids & Co., Marzahn-Südspitze.

Leben im ersten Wohngebiet der Berliner Großsiedlung (Berlin: Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf Abt. Ökologische Stadtentwicklung, 2002), 54. 53  Loni Niederländer, »Forschungsbericht

zum 1. Intervall der Untersuchung ›Wohnen 80 – Marzahn.‹ Zur Entwicklung eines Neubaugebietes der Hauptstadt der DDR, Berlin.« (Berlin: Humboldt Universiät, 1981), Pt II, 228. This copy of the study was found in the Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf. 54  Niederländer, »Forschungsbericht« 39. 55  Interview with Katrin Brandtstadt and

Elisabeth Westermann, Berlin, April 22, 2008. 56  Irmgard Steinbach, »Diesen Z ­ eiten sind

Gott sei Dank vorbei!,« in ­Queisser and Tirri, eds, Allee, 46. 57  Domnitz, »Packen,« 42. 58  Niederländer, »Forschungsbericht,« 37 and 54. 59  BStU Außenstelle Leipzig, MfS BV Leipzig

VIII 367 »Aufenthaltsstützpunkte in den Wohnkomplexen Leipzig-Grünau,« 15, and BStU Außenstelle Leipzig, BV Leipzig KD Leipzig Stadt 388–02, »Vorschlag zum gemeinsamen Aufklären der Personen, die vermutungsweise nachrichtendienstliche Beobachtung des GSSD-Objektes Schönau durchführen,« December 1985, for some examples. See in general on the topic of the Stasi in Plattenbausiedlungen Rubin, Amnesiopolis, ch. 5.

action in WBS 70 buildings in Marzahn to be used by agents and informers deployed there.60 The creation of Plattenbausiedlungen like Marzahn was not reducible to a standard top-down narrative, however. Though it is tempting to see such a history within the framework of either Staat or Partei on the one hand and Gesellschaft on the other, the experiences of ordinary East Germans reveal a narrative which moves beyond this framework. Yes, the Stasi did spy on Marzahners, and yes, the State and Party did ordain Marzahn’s creation as part of a top-down program. Yet, Marzahners played an active role in creating their new environment, and created a community which modeled collective behavior and a sozialistische Lebensweise. To the extent that they were truly impacted, shaped, and changed by the State, it was through the physical, material changes that they experienced moving from cramped Mietskaserne or other traditional surroundings into a space which was thoroughly modernist, and which closely followed the vision of Le Corbusier and the CIAM. In this way, socialism and modernity had its most profound impact on them.

60  See BStU MfS HA VIII 5192; Jugendkollek-

tiv des Referates 4 der Abteilung 3, »Dokumentation über den Stadtbezirk Berlin-Marzahn.«

113

DAS SOZIALE IN DEN DINGEN

Der Konsumladen des Schuckert’schen Werkes, 1908. Diese Fotografie dokumentiert zweierlei Ebenen der sozialen Realität. Großunternehmen boten in solchen Konsumläden gängige Objekte des Arbeiterbedarfs an, Ausstattungstücke und Waren eines kargen materiellen Lebens. Es ist kein Zufall, dass im Bild überwiegend Frauen einkaufen. Dies entsprach der Arbeitsteilung in den Geschlechterrollen (Foto: Siemens Historical Institute).

MATERIELLE KULTUR, DINGE, SOZIALGESCHICHTE DIE AUSSTELLUNG »LEBENSGESCHICHTEN« 1980 UND DAS KONZEPT DER INDUSTRIEKULTUR WOLFGANG RUPPERT

Einleitung Dieser Text zeichnet die Entstehung einer Sozialgeschichte nach, die auch die materielle Kultur des Lebens thematisiert. Im ersten Teil skizziere ich daher die Ausgangspunkte, unter denen ich in den späten 1970er Jahren begann, mich als Historiker mit Artefakten der materiellen und visuellen Kultur zu beschäftigen. Ihr Einbezug als Quellen für sozial- und kulturgeschichtliche Fragen war für die deutsche Geschichtswissenschaft völlig unüblich.1 Diese Artefakte erweiterten die Quellenbasis für Erkenntnisse zur Arbeitswelt, Lebensweise und Alltagskultur insbesondere der Menschen aus den »Unterschichten«. In einem zweiten Teil skizziere ich, wie in dieser Zeitphase die materielle Kultur verstärkt historisiert und aus der »Modernität« der Gegenwart ausgeschieden wurde. Dies stellte den unmittelbaren Anlass dar, visuelle und materielle Spuren zu sichten und sie als Anschauungsobjekte zur Markierung unterschiedlicher Lebensverhältnisse in der Gesellschaft zu sammeln. Der dritte Teil umreißt die Entstehung und Konzeption der historischen Ausstellung »Lebensgeschichten« als Veranschaulichung meines Konzeptes Industriekultur im Sommer 1980.2 Ihr Untertitel »Zur deutschen Sozialgeschichte 1850–1950« beinhaltete die Zielrichtung der an ein breiteres Publikum gerichteten Ausstellung.

1  Demgegenüber hatten französische His-

toriker der »Annales« wie Fernand Braudel die materielle Kultur als aussagefähig in wissenschaftliche Darstellungen einbezogen. 2  Sie bildete den Abschluss meiner Arbeit

in Nürnberg 1978 bis 1981, während der Konzeptionierungsphase des Museumsprojekts Industriekultur. Danach wurden dort andere, eher ästhetische Perspektiven betont.

In diesem Aufsatz geht es darum, mein damaliges Erkenntnisinteresse und das zunächst experimentelle Ziel festzuhalten, Dinge der Industriekultur als ausstellungs- und museumswürdige Artefakte zu behandeln und in der Perspektive ihrer sozialgeschichtlichen Aussage zu präsentieren. Hierzu ist eine erneute Sichtung der Dokumente aus dieser Arbeitsphase erforderlich. Das von mir herausgegebene Katalogbuch zur Ausstellung von 1980 beinhaltet mit seinen neun Kapiteln meinen Denkansatz, der sich nicht zuletzt aus dem Material ergab. Bereits in der Gestaltung des Buchtitels sollten markante Erscheinungsformen der materiellen Kultur von Protagonisten in ihrer Selbstdarstellung für den Fotografen veranschaulicht werden. Die persönlichen Dinge dieser Menschen, die in die Porträtfotografien eingegangen sind, repräsentierten soziale

Unterschiede aus verschiedenen kulturellen Zeitphasen und sozialen Lebensorten.3 Um die Voraussetzungen meines Forschungsansatzes in der Perspektive von sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen ­erkennbar zu machen, rekonstruiere ich zunächst maßgebliche Impulse in der historischen Konfiguration zwischen 1978 und etwa 1981 sowie meinen damaligen Erfahrungshorizont als His­ toriker. Dingwelt und historische Konfiguration Aus heutiger Sicht ist zu erkennen, dass sich die damals neue Wahrnehmung von materieller Kultur als Teilvorgang eines umfassenderen historischen Prozesses begreifen lässt. Dem sich verstärkenden Umbruch in der materiellen Kultur der Lebenswelt lagen Verschiebungen in den Modernitätsstandards zugrunde. Sie beinhalteten sowohl eine Beschleunigung des Umlaufs der Dinge des Alltagskonsums, mit der Tendenz zur Wegwerfkultur, die sich seit den 1960er Jahren verbreitet hatte, erwiesen sich aber auch als Teil einer innovativen Umstrukturierung der Industriegesellschaft selbst, mit der Einführung neuer Steuerungstechniken in der Arbeitswelt und Maschinenparks. Hierdurch wurden seit den 1970er Jahren weitreichende Veränderungen der Qualifikationsprofile bei Arbeitnehmern mit daraus folgenden sozialgeschichtlichen Transformationen ausgelöst. Die Rationalisierung und Automatisierung von Arbeitsabläufen senkte fortlaufend den Anteil von Handarbeit bei der Produktion der Dinge. Die Zahl der Arbeiter sank erheblich.4 Die Erfindung der »Mikrochips« in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und deren Produktion in Großserien symbolisierte den Beginn der Digitalisierung, dieser grundlegenden dritten industriellen Revolution in der Technik, Arbeits-, Lebenswelt und Kultur. Sie hatte die Neukonstruktion sowohl von Maschinen als auch von Gebrauchsobjekten im Alltag zur Folge.5 Die technischen Veränderungen spiegelten sich Ende der 1970er Jahre bereits in der Einführung neuer Waagen und Kassen für Einzelhandelsgeschäfte, die in ihrer Konstruktion von älteren mechanischen Apparaten auf eine »elektronisch« gesteuerte, auf »Chips« aufgebaute Funktionsweise umgestellt wurden. Fernschreiber wurden seit den 1980er Jahren sukzessive durch Computerkommunikation mit E-Mail-Verkehr ersetzt und schließlich ausgeschieden. Das geistig-kulturelle Umfeld Ich hatte mich in meiner Dissertation als Historiker an der Universität München in den siebziger Jahren mit dem Verhältnis von Aufklärung und der entstehenden bürgerlichen Kultur im 118

3  Wolfgang Ruppert (Hg.): Lebensgeschichten.

Zur deutschen Sozialgeschichte 1850–1950, Opladen 1980. Die Texte sollten für eine breite Leserschaft, insbesondere auch aus der Nürnberger Arbeiterschaft, lesbar sein. Dies erforderte eine Schreibweise, die auf eine anschauliche Narration und den Verzicht auf wissenschaftliche Begrifflichkeit ausgerichtet war. Ein ausgearbeiteter Vortragstext über die Arbeit an der Ausstellung reflektierte hierzu methodische Aspekte. Vgl. Wolfgang Ruppert: Lebensgeschichten. Bericht über ein Nürnberger Ausstellungsprojekt, in: Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung. Vorträge der Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Freiburg i. Br. vom 16. bis 18. März 1981, Freiburg 1982, S. 242–254; Wiederabdruck in Wolfgang Ruppert (Hg.): Erinnerungsarbeit. Geschichte und demokratische Identität in Deutschland, Opladen 1982, S. 157–171. 4  Als Überblick zur Arbeiterschaft und der

Arbeiterbewegung entstand Wolfgang Ruppert (Hg.): Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum »Wirtschaftswunder«, München 1986, Begründung dieser Vergegenwärtigung S. 11–19. 5  Ich habe an den Schluss meines Buches eine

Fotografie der Platte mit mikroelektronischen »Chips« eines Fernschreibers der Firma Siemens gestellt, vgl. Wolfgang Ruppert: Die Fabrik. Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, München 1983, S. 305.

18. Jahrhundert beschäftigt.6 Diese Arbeit war konventionell angelegt und beruhte ausschließlich auf schriftlichen Quellen. An diesem Thema interessierte mich der Zusammenhang von gesellschaftlichem Wandel und neuen Kulturformen, aber auch die Entstehung eines reflexiven Bezugs zu den materiellen Formen in der Aufklärungsbewegung. Dieses an gesellschaftliche Grundlagen gebundene Verständnis von Kultur als Ausdruck von menschlicher Erfahrung und Alltagsbewältigung in den unterschiedlichen sozialen Kontexten bildete auch in meiner Nürnberger Phase einen heuristischen Hintergrund. Es erschien mir ein spannendes Untersuchungsfeld, welche Formen von Kultur aufgrund welcher verfügbaren Ressourcen mit der Klassenbildung im Industrialisierungsprozess hervorgebracht und transformiert werden konnten.

6  Die Arbeit ist 1981 bei Campus, dann 1984

unter dem Titel »Bürgerlicher Wandel. Die Geburt der modernen deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert«, als Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, erschienen. 7  In den 1980er Jahren orientierte sich

die Geschichtswerkstättenbewegung an der Entdeckung der »Geschichte vor Ort« unter neuen Erkenntnisinteressen. 8  Wolfgang Ruppert: Zum Verhältnis von

Kultur und Geschichte. Am Beispiel der Ausstellung über den bayerischen Kurfürsten Max Emanuel 1976 in Schleißheim bei München, in: Vorgänge, H. 24 (1976): Die Rolle der Kultur, S. 87–91. »Die Staufer« wurden 1977 in Baden-Württemberg ins breitere öffentliche Bewusstsein gehoben, für 1981 bereits die Preußenausstellung in Berlin geplant. Dieser Trend betonte die monarchische Tradition und adlige Herrschaft in der staatlichen Territorienbildung. 9  Vor diesem Hintergrund schrieb ich im

November 1976 einen Kulturkommentar unter dem für mich programmatischen Titel »Geschichte als Aufklärung«, gesendet im Hörfunk des Bayerischen Rundfunks, Bayern 2.

In den sechziger und siebziger Jahren dominierte die »Strukturgeschichte« beispielsweise Werner Conzes. Daneben wurden abweichende Themen in Nischen der wissenschaftlichen Forschung vorangetrieben. So gab es in den siebziger Jahren Bemühungen zur Erweiterung des Themenfeldes in der Geschichtswissenschaft, um die unbekannte und »verschüttete« Geschichte der Menschen auch an regionalen Quellen zu erforschen, beispielsweise der Arbeiterbewegung, der gesellschaftlichen Stellung von Frauen, der »Hexen« und »Hexenmeister« oder der »Jakobiner« des ausgehenden 18. Jahrhunderts.7 Aber die Geschichte der materiellen Kultur wurde nahezu ausschließlich in den methodisch wie habituell abgegrenzten Erkenntnisperspektiven der Volkskunde und der Kunstgeschichte behandelt. Im populären Geschichtsbild dominierte eine Welle von historischen Ausstellungen zu Herrscherdynastien. 1976 war im Schloss Schleißheim bei München eine breit angelegte Präsentation zum bayerischen Herrscherhaus »der Wittelsbacher« und zu dessen staatsbildender Bedeutung zu sehen. Sie präsentierte die Adels- und Schlosskultur mit ihrer vom höfischen Kunsthandwerk gestalteten materiellen Kultur in Architektur, Malerei, Möbeln, Gartenkunst.8 Ich warf dieser Perspektive eine implizite unkritische Verklärung von vordemokratischen Leitbildern vor. Meine damalige Auffassung zielte darauf, neben die Geschichte absolutistischer Herrschaft vom 16. bis 18. Jahrhundert auch die Geschichte der beherrschten Menschen, ihrer sozialen Schichten in der Gesellschaft, ihrer Lebensumstände und Kulturformen zu stellen.9 Dies schloss die Fragen der »Ungleichheit« der Menschen in ihren Entfaltungschancen, Lebensverhältnissen und Kulturen, aber auch die Frage nach der Vorgeschichte der Demokratie im 20. Jahrhundert ein. 119

Da ich mich an einer Initiative zur Stärkung eines demokratischen Geschichtsbewusstseins in Bayern beteiligt hatte, war ich gebeten worden, eine Arbeitsgruppe in der kulturpolitischen Gesellschaft zum Thema »Kultur und Geschichte« zu organisieren.10 Aus einem Treffen ergab sich eine mehrjährige Zusammenarbeit mit Hermann Glaser, damals Kulturreferent der Stadt Nürnberg. Die Problemlage Mit diesen Erkenntnisinteressen entwarf ich im Sommer 1978 zunächst ein Buchkonzept mit einer gesellschaftsorientierten Perspektive auf die Stadtgeschichte. Darin konkretisierte ich den Topos »der Menschen« im urbanen Raum als eine sozialgeschichtliche Hierarchie von Unternehmern, Handwerkern, Angestellten, Arbeitern und Dienstmädchen, mit jeweils eigenen Lebensformen und kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten auch in materieller Kultur, in Tradierungen sowie strukturellen Mustern und Grenzen der Lebensführungen.11 Parallel hierzu erarbeitete ich im Sommer 1978 – zunächst im Werkvertrag – ein Konzept zur Begründung eines Museumsprojektes »Nürnberg im Maschinenzeitalter«. Meine Expertise bildete zusammen mit Texten anderer Autoren eine Denkschrift des Schul- und Kulturreferates für den Stadtrat der Stadt Nürnberg.12 Das Projekt wurde im Oktober 1978 für eine einjährige Erprobungsphase mit 100.000 DM ausgestattet.13 Der Wandel der materiellen Kultur als Erfahrung Der unmittelbare Anlass des Projektes ergab sich aus dem Obsoletwerden zahlreicher Artefakte aus früheren Modernitätsstufen der materiellen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Er bezog sich zudem auf eine besondere kulturelle Konfiguration in der regionalen Kultur. In Nürnberg hatte sich eine romantische Erinnerung an die mittelalterliche, handwerkliche und vorindustrielle Stadtkultur als regionale Eigenidentität tradiert. Diese Erzählung war in das Geschichtsbild der deutschnationalen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts eingegangen. Daneben hatte diese Industriestadt in Bayern jedoch auch eine »moderne« kollektive Identität hervorgebracht, als Ort von erfinderischen Unternehmern, insbesondere in der Maschinenbau- und Elektroindustrie. Ausdruck und Symbol des innovativen Geistes war der Bau der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth von 1835.14 Aus diesem technischen Bedarf hatte sich eine Industrie mit spezifischer Kompetenz der Eisenverarbeitung und des Apparatebaus entwickelt. Diese Realität des 19. und 20. Jahrhunderts, mit all ihren Konflikten, galt es auch im Geschichtsbewusstsein zu stärken.

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10  Als Buch dokumentiert in: Martin Gregor-­

Dellin, Wolfgang R. Langenbucher, Volker Schlöndorff (Hg.): Das andere Bayern. Lesebuch zu einem Freistaat, München 1976. Von 1976 an leitete ich diese AG in Kooperation mit dem Kunsthistoriker Detlef Hoffmann, damals Historisches Museum der Stadt Frankfurt am Main. 11  Hermann Glaser, Wolfgang Ruppert,

Norbert Neudecker (Hg.): Industriekultur in Nürnberg. Eine deutsche Stadt im Maschinenzeitalter, München 1980, unter der Mitarbeit zahlreicher Autoren aus dem Nürnberger Raum. Glaser war damals Kulturdezernent, Neudecker Pressechef der Stadt Nürnberg. 12  Schul- und Kulturreferat der Stadt Nürnberg

(Hg.): Nürnbergs Industriekultur. Eine Denkschrift zur kulturpolitischen Erschließung einer wichtigen Epoche der Stadtentwicklung, Druckschrift der Stadt Nürnberg 1978, S. A2–A46. 13  Damit arbeitete ich ab Dezember 1978 als

erster Wissenschaftler, ab Juli 1979 bis Juli 1981 als Projektleiter Museum Industriekultur. 14  Die Ausstellung des Centrums In-

dustriekultur »Zug der Zeit – Zeit der Züge« zum Jubiläum 150 Jahre deutsche Eisenbahn wurde unter der Leitung von Hermann Glaser und Klaus-Jürgen Sembach 1985 ein populäres Ereignis.

Artefakte In der Zeitgenossenschaft der späten 1970er Jahre ergab sich zunehmend die Frage, wie man mit obsolet werdenden Artefakten umgehen sollte, die aus der industriellen Zeit stammten, den technisch überholten Ausrüstungen von Werkstätten oder von alten Tankstellen, die angesichts der technischen Modernisierungen von Maschinenausstattungen funktionslos geworden waren. Wie konnte man nach der Auflassung von Fabriken als Produktionsorten mit den Gebäuden und Arealen verfahren, mit den Alltagsdingen aller Art, für die es in den ökonomischen Gebrauchszwecken im Alltagsleben keine »Verwendung« mehr gab? Hatten diese Objekte der materiellen Kultur einen kulturellen »Wert«, sollten sie gerettet werden oder waren sie lediglich »Gerümpel«, wertloser »Abfall«?15 Waren die Industrieareale dem völligen Verschwinden preisgegeben?16

15  Ina-Maria Greverus: Kultur und Alltagswelt.

Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie, München 1978, S. 29 ff. 16  Zum Thema Abfall in kulturwissenschaft-

licher Perspektive vgl. Susanne Hauser: Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale, Frankfurt am Main/New York 2001. 17  Es spricht viel dafür, dies als eine Gegen-

bewegung zum Durchbruch der »Wegwerfgesellschaft« der sechziger Jahre zu sehen, die die schnelle Auflösung von Bindungen an die Alltagsobjekte als Folge von beschleunigten Produktzyklen und Vermodungen zum hegemonialen kulturellen Muster des Objektbezugs der Menschen gemacht hat. 18  Für eine emotional-romantische Entwicklung

im Zeitgeist wurde der Begriff »Nostalgie« eingeführt. Umfassender dazu Hermann Lübbe: Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz/Wien/Köln 1983. 19  Zum Wandel der Bedeutungszuschreibungen

an die unterschiedlichen Formen von künstlerischer Arbeit Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2017. 20  Unter der Leitung des Direktors Wend Fi-

scher begann dort in den späten sechziger Jahren im Medium von Ausstellungen eine reflexive Auseinandersetzung mit der Ästhetik »der Moderne«, von Gebrauchsdingen und Architektur.

Darüber hinaus bildeten die zahlreichen erhaltenen Objekte aus der historistischen Kultur des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen vielfältigen Fundus zur Geschichte der Dinge, der Kleidung und der Bildkultur in Deutschland. Mobile Einrichtungsgegenstände und Objekte wurden seit den siebziger Jahren verstärkt auf Trödelmärkten und in Raritätenhandlungen verkauft. Diese waren als temporäre Umschlagplätze neu entstanden, meist von Privatleuten und kleinen Händlern betrieben.17 Die dort angebotenen »Fundstücke« dienten vielfach neuen Gebrauchszwecken und Verwendungen, häufig als Dekorations­ objekte in Kneipen, Geschäften und Wohnungen, je nach dem individuellen Geschmack ihrer Nutzer.18 Die volkskundlichen Museen hatten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem Artefakte der verschwindenden und romantisch verklärten »alten« bäuerlichen Welt gesammelt. Die Kunstmuseen prüften damals Objekte nach ihrem Bezug zu bekannten »Künstlern«, beziehungsweise kunstgewerblichen Werkstätten, und deren künstlerische Bedeutung für die kunsthandwerkliche »Hochkultur«.19 Lediglich in München hatte »Die Neue Sammlung« als Museum für »angewandte Kunst« bereits seit den 1950er Jahren ihren Sammlungsbereich auch für gut gestaltetes Design sowie zur Präsentation serieller Industrieprodukte erweitert.20 Bei dem neuen musealen Projekt ging es somit darum, die neuartige Form eines Erinnerungsspeichers der materiellen Kultur zu den Transformationen der Technik-, Sozial- und Kulturgeschichte des Industriezeitalters zu institutionalisieren.

121

Auf dem Weg zu einem musealen Konzept Die erste Arbeitsphase musste sich erst auf die Konturierung einer Sammlungsstrategie für die materielle Kultur und die ­Sicherung von dinglichen Spuren der Alltagswelt richten. Der Arbeitsprozess im »Projekt Museum Industriekultur« bestand daher zunächst darin, die wissenschaftliche Grundlegung für das Programm eines Museums voranzutreiben und eine Sammlung aufzubauen, in einer systematischen Folge aus Sichtung von Objekten, deren technischer Identifizierung, der Erhellung ihrer ­kulturellen Kontexte, ihrer Herkunft und Herstellung, sowie deren Eigentums- und Gebrauchszusammenhang (Provenienz) zu dokumentieren.21 Die Konzeptualisierungsarbeit für das »Projekt Museum Industriekultur« richtete sich darauf, aus den vielfältigen Artefakten des Industriezeitalters die unterschiedlichen Modernitätsstufen von Objektgenerationen der materiellen Kultur zum Anschauungsund Reflexionsgewinn für die eigene Gegenwart zu rekonstruieren. Es galt, diese für zukünftige Generationen zu dokumentieren. In dieser Phase konkretisierte ich den Denkansatz der »Industriekultur« als Kulturarbeit in aufklärerischer Perspektive, wie die »Süddeutsche Zeitung« festhielt: »Industriekultur als Bewahrung der Alltagskultur: durch Sammlung, Arbeit in den Schulen und schließlich Ausstellungen. Das didaktische Prinzip des Projektes zielt also in die Richtung, Geschichte eine Sozialisationsfunktion übernehmen zu lassen (Wolfgang Ruppert), sich den Spuren der Vergangenheit in ›kritischer Sympathie‹ zu nähern und sinnlich das eigene Herkommen zu erfahren«.22 Die Zeugnisse der »eigenen« Geschichte sollten daher insbesondere die Lebenswelt der breiten Bevölkerung des Nürnberger Stadtraums sowie deren kulturelle Transformationen im Industrialisieurngsverlauf umfassen. Ausgehend von meiner Expertise für die Denkschrift formulierte ich leicht variierende Konzeptionspapiere für das Museum Industriekultur.23 Eine Vielzahl unterschiedlicher Artefakte wurde aus der Stadtöffentlichkeit als bewahrenswert vorgeschlagen. Beispielsweise ersetzte eine Lebkuchenfabrik ihren Maschinenpark, der aus den 1920er Jahren stammte, durch eine nunmehr mit neuer elektronischer Steuerungstechnik ausgestattete Fabrikanlage. Lebkuchen besitzen für die regionale Wirtschaft und die Eigenidentität Nürnbergs eine erhebliche Bedeutung. Für exemplarische Maschinen musste ein Depot geschaffen werden. Der Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« war zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik noch nicht eingeführt.24 122

21  Im regionalen Raum stellte die Gründung

des Germanischen Nationalmuseums 1853 zur Präsentation von national-kulturellen Artefakten ein Beispiel für den Dreiklang von Sammlung, Bewahrung und Ausstellung in der Institution Museum dar. Dort war auch eine Sammlung volkskundlicher Artefakte entstanden. 22  Claus Heinrich Meyer: Das Alltägliche

bewahren. Nürnberg plant ein Museum der Industriekultur, in: Süddeutsche Zeitung, 19. April 1979. Zum allgemeinen methodischen Problem Wolfgang Ruppert: Der verblassende Reiz der Dinge. Die Produktion von Bedeutung als Teilschicht der Objektgeschichte in der industriellen Massenkultur, in: Gerd Kuhn, Andreas Ludwig (Hg.): Alltag und soziales Gedächtnis. Die DDR-Objektkultur und ihre Musealisierung, Hamburg 1997, S. 217–229. 23  Erste Fassung publiziert in Ruppert (Hg.),

Lebensgeschichten, S. 135–156; als Vorabdruck in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/82 (1982), S. 3–11. Nach meinem Weggang zitierte Glaser bei Vorträgen aus diesem Konzeptionspapier, allerdings unter Weglassung meines Autorennamens, vgl. Hermann Glaser: Kulturgeschichte von Unten – Das Centrum Industriekultur in Nürnberg, in: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hg.): Geschichte der Arbeit im Museum, Recklinghausen 1987, S. 83 f. 24  Bahnbrechender Impuls Maurice Halbwachs:

Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967 (frz. 1939/1950). Zu einem Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaft avancierte das kollektive Bewusstsein erst mit der Taschenbuchausgabe (Frankfurt am Main 1985) und den späteren Arbeiten von Jan und Aleida Assmann zum kulturellen und kommunikativen Gedächtnis.

Faltblatt der Projektgruppe Industriekultur, 1979.

25  Zu dieser ersten Präsentation entstand mit-

hilfe einer bis dahin unbeachteten Fotografie von selbstbewussten Facharbeitern ein schönes Plakat »Nürnbergs Industriekultur«. Die Fotografie war 1891 beim Umzug der Maschinenfabrik von Cramer-Klett in Nürnberg in ein neues Fabrikareal entstanden. Ich hatte sie kurz zuvor im Unternehmensarchiv gefunden. 26  Später zum Lesen von Fotografien als visuelle

Quelle Wolfgang Ruppert: Photographien als sozialgeschichtliche Quellen, in: Geschichtsdidaktik 11 (1986), H. 1, S. 62–76; ferner ders.: Bilder vom Kaiserreich. Sozial- und politikgeschichtliche Aussagen in Fotografien, in: Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870–1970, hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit Klaus Honnef, Rolf Sachsse und Karin Thomas, Köln 1997, S. 21–30.

Im Mai 1979 wandte ich mich als Projektleiter mit einem ersten Sammlungsaufruf an private Haushalte, im Familienbesitz überlieferte Objekte, Fotografien und Dokumente aus Nürnbergs Industriekultur und dem häuslichen Leben der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Ein Saal über dem Gostner Hoftheater eignete sich dazu, um sukzessive mit der Ausstellung exemplarischer Objekte Arbeitsziele und -strategie des »Projektes Museum Industriekultur« in einer ersten kleinen Ausstellung mit Werkstattcharakter zu konkretisieren. Hier wurden für einige Monate Dinge inszeniert und deren Bedeutung mit Erläuterungen zu den strukturellen Kontexten für Interessierte veranschaulicht. In öffentlichen Archiven der Stadt fanden sich beispielsweise eindrucksvolle Fotografien, die bislang unbeachtet abgelegt worden waren, an denen die Veränderungen des Raumes außerhalb der Stadtmauern während der Urbanisierung durch Anlage von Straßen und eine sukzessiven Bebauung mit Häusern abzulesen waren.25 Aus den neuen Fragen ergab sich eine bisher nicht erkannte Aussagefähigkeit dieser Dokumente. Fotografien zu lesen setzte Erfahrung und methodische Reflexion voraus.26 Das empirische Sammeln erforderte die einordnende Auseinandersetzung mit der sich zunehmend weitenden Vielfalt materieller Spuren. Sie zog Detailforschung zu ihrem jeweiligen Eigenwert und ihren Bedeutungen nach sich. Bei der Suche nach 123

wissenschaftlicher Literatur war schnell deutlich geworden, dass in der geschichtswissenschaftlichen Forschung größte Desiderate in Hinblick auf die Bearbeitung materieller Kultur festzustellen waren. Die Detailforschung konnte nur durch interdisziplinären Einbezug von je partiellem Wissen aus Geschichtswissenschaft, Volkskunde, Technik-, Design- und Kunstgeschichte erfolgen. 1979 konnte ich mit der inhaltlichen Konzeption des »Nürnberger Gesprächs« in diesem Jahr einen geschichtswissenschaftlichen Rahmen für mein Thema »Geschichte und demokratische Identität« formulieren.27 Es war möglich, in einer eigenen Sektion Wissenschaftler zu Vertiefungen des Themenfeldes »Industriekultur« zu versammeln.28 Für die langfristige Etatisierung des Projektes im städtischen Haushalt über das Jahr 1979 hinaus musste der Stadtrat der Stadt Nürnberg gewonnen werden.29 Wir unternahmen mit dem Kulturausschuss eine Reise zu internationalen Bezugspunkten des »industrial heritage«, wie Ironbridge in England, aber auch zur Abteilung serielle Kultur im Centre ­Georges-Pompidou in Paris, um das Problemverständnis der Stadträte zu erweitern. Während dieser Reise fiel im September 1979 in Nürnberg die Unternehmensentscheidung, das Eisenwalzwerk Tafel zu schließen.30 Damit konnte ein authentisches Betriebsgelände museal erschlossen werden 31 Sozialgeschichte in den Lebensgeschichten Um den Aufbau des Projektes Industriekultur in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen und dessen kulturelle Bedeutung für das kollektive Gedächtnis zu konkretisieren, stand für Sommer 1980 eine erste größere Ausstellung an. Wie konnte die Konzeption einer historischen Ausstellung aussehen, die nicht allein auf die Anschauungskraft der Dinge setzte, sondern diese als Quelle für historische Erkenntnis behandelte und in strukturelle Zusammenhänge stellte? Meine Arbeitsidee richtete sich darauf, anhand von Lebensgeschichten aus dem urbanen Raum der Stadt Nürnberg unterschiedliche soziale Lagen in der deutschen Sozialgeschichte zu exemplifizieren und sozialgeschichtlich markante Lagen mit ihren Dingen zu erhellen. Dieses Konzept musste erprobt werden – zunächst mit offenem Ausgang. Der Zeitraum für die Ausstellungsvorbereitung umfasste nur wenige Monate, vom Frühjahr bis zum Sommer 1980.32 Erfahrungsgemäß zeigen qualitative Fallstudien zu Individuen häufig innere Brechungen und eine überraschende kulturelle Vielschichtigkeit menschlicher Realität, die von den strukturellen Idealtypen der statistischen Sozialgeschichte abweicht. Eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen des Ausstellungs124

27  Das Nürnberger Gespräch stellte seit den

1960er Jahren eine bei Intellektuellen und Wissenschaftlern der Bundesrepublik bekannte Gesprächsveranstaltung der Stadt Nürnberg zu »Fragen der Zeit« dar. Ausgearbeitete Vorträge in Ruppert (Hg.), Erinnerungsarbeit. 28  In dieser Sektion sprachen Michael Stürmer

zur Handwerkskultur des 18. Jahrhunderts, Klaus Tenfelde zu Arbeiterkultur, Lutz Niethammer zur Oral History, Bernward Deneke und Gottfried Korff zu Familienfotos als Materialien zu einer historischen Anthropologie, Gottfried Korff und Christoph Stölzl zu Glanz und Elend historischer Ausstellungen, Hans Joas zur Psychohistorie – Von der Gewinnung individueller Identität aus der Kultur. 29  Der organisatorische Aufbau erfolgte

im Verlauf des Jahres 1979 mit der Einstellung von Mitarbeitern aus ABM-Mitteln, wodurch eine erste Arbeitsteilung in der Projektgruppe möglich wurde. 30  Dieses Werksareal diente seit seiner Um-

nutzung im Verlauf der 1980er Jahre als Sitz des heute existierenden Museums Industriekultur. 31  Im Verlauf der 1970er Jahre hatte sich eine

internationale Fachdiskussion zum »industrial heritage« entwickelt, dem die Ironbridge zugerechnet wurde, und in einer Vereinigung von national organisierten »Delegationen« institutionalisiert (The International Committee for the Conservation of the Industrial Heritage). In diesem Jahrzehnt verlor eine große Zahl von Gebäuden der arbeitsbezogenen Großarchitektur ihre Funktion, nicht nur durch »Zechensterben« des Bergbaus im Ruhrgebiet. Umnutzungen für kulturelle Zwecke wurden auch in Deutschland häufiger. Ein bekanntes Beispiel ist die Zeche Zollern II in Essen, die in den sechziger Jahren stillgelegt wurde, wegen ihres architekturgeschichtlich wertvollen Portals schließlich jedoch erhalten und umgewidmet wurde. Die deutsche Delegation setzte sich daher mehrheitlich aus Bergbauspezialisten zusammen. Mit meinem anders gelagerten Forschungsansatz wurde ich 1980 kooptiert. Mein Bericht zur Industriearchäologie erschien in der Süddeutschen Zeitung im September 1980, eine erweiterte Fassung als »Industriearchäologie. Überlegungen zum gegenwärtigen Stand einer neuen museumswissenschaftlichen Disziplin«, in: arbeiten+lernen. Die Arbeitslehre, 4 (1982), H. 21, S. 48 f. 32  Die Ausstellung »Lebensgeschichten« war

von August bis Mitte September 1980 in der Norishalle, einer städtischen Kunsthalle, in Nürnberg zu sehen, Eröffnung am 31. Juli 1980.

konzeptes »Lebensgeschichten« bestand somit darin, dass sich für einzelne Lebensläufe ein möglichst dichter Bestand von materiellen und visuellen Quellen erhalten hatte. Immer sind überlieferte Dinge, Fotografien und Schriftstücke, Fragmente aus Lebenszusammenhängen erst durch Wissenssynthesen als Relikte von Alltagsstrukturen zu lesen. Das Stadtarchiv Nürnberg, relevante Firmenarchive und private Familiennachlässe wurden herangezogen. Es zeigte sich, dass breitere Quellenbestände keineswegs häufig gesammelt waren. Für Unternehmer hatten sich exemplarische Dinge, Dokumente und Fotografien als Zeugnisse von den Gründern in den eigenen Firmenarchiven erhalten. Beispielsweise fand sich der Nachlass von Sigmund Schuckert im Siemens Archiv München, da die beiden elektrotechnischen Firmen fusioniert hatten und die Firma Schuckert im Siemenskonzern aufgegangen war. Dieser Bestand enthielt auch Dinge und Fotografien.33

33  Siemens Archiv München,

Nachlass Schuckert. 34  Ruppert (Hg.), Arbeiter, S. 199–206. 35  Der Begriff Alltag bedarf der Differenzie-

rung und inhaltlichen Strukturierung entlang sozialer Lagen, um ihn aus seiner Beliebigkeit zu befreien. Er gewinnt gerade dann erschließende Qualität, wenn es gelingt, die systematischen sozialgeschichtlichen Kategorien zu differenzieren und deren Formen der Alltagskultur zu bestimmen, in Arbeit, Freizeitgestaltung, den Formen des Zusammenlebens und der dazu verfügbaren materiellen Kultur, vgl. Ruppert (Hg.), Lebensgeschichten, S. 243; Greverus, Kultur, S. 93 f. 36  Die Frankfurter Allgemeine Zeitung über-

schrieb ihre Ausstellungsbesprechung am 5. September 1980 mit »Der fiktionale Proletarier«.

Ganz anders sah die Quellenlage für die Arbeiter der ersten Generation bis 1880 aus. Diese hatten als einzelne Menschen ihr Leben meist in ärmlichen Umständen gestalten müssen. Ihre materielle Lebenswelt bestand häufig lediglich aus spärlichem Besitz von billigen Objekten, die entlang der Grundbedürfnisse Essen, Schlafen und Wohnen »angeschafft« worden waren.34 Sie wurden genutzt, solange sie tauglich waren, und dann meist als vernutzt weggeworfen. Diese Spuren, Haushaltsausstattungen wie Teller, Petroleumlampe und -kanne sowie Kleider, kennzeichnen mit ihrem Gebrauchszusammenhang die Erfahrungen des Alltags von »kleinen Leuten«. Sie bildeten die strukturelle »Normalität« ihrer Lebenszusammenhänge und die jeweils spezifische Alltagsgestaltung ab.35 Ihren Hinterlassenschaften war von öffentlichen Archiven bis ins späte 20. Jahrhundert keine Bedeutung zuerkannt worden. Für Arbeiter mussten daher aus vereinzelten Spuren Kollektivbiografien konstruiert werden.36 Eher erhalten hatten sich nützliche Dinge wie Werkzeuge. Auch diese waren vielfach nicht Individuen, sondern primär einem ­spezifischen funktionalen Zweck bei Arbeitsabläufen von Handarbeitern zugeordnet. Sie wurden von Berufskollegen weiter­ verwendet. Facharbeiter symbolisierten die Eigenidentität ihres Berufes, die sich aus den noch weitgehend handwerklich geprägten Fähigkeiten zur Umformung von Werkstoffen speiste. Vom Grad der individuellen Kompetenz hing in der Maschinenfabrik wiederum die Höhe der Entlohnung ab. Facharbeiter mit besonderem »Können«, wie Former oder Gießer mit einem in langfristiger Praxis erworbenen Erfahrungswissen, waren schwieriger ersetz125

bar und wurden in der Regel besser bezahlt. Auf Fotografien aus der Maschinenfabrik von Cramer-Klett von 1891 repräsentierten die unterschiedlichen Arbeitergruppen ihre jeweiligen identitätsstiftenden Befähigungen in der Arbeitsteilung von Umformungsprozessen zur Herstellung eines Produkts. Sie symbolisierten ihre Stellung in der Metallverarbeitung, indem sie sowohl Werkzeuge als auch Produkte, als Chiffren ihrer Fähigkeiten, ins Bild hielten. Bei der Erarbeitung der Ausstellung erwies es sich zunehmend als produktiv, nach sozialgeschichtlichen Kriterien ausgewählte Lebensgeschichten zugrunde zu legen. Diese waren als Narrative darstellbar, über kognitive Lektüren von Texten und durch die erkennende visuelle Betrachtung von Fotografien sowie materiellen Objekten durch Anschauung verbunden. Sie konnten in der Folge von jeweils in sich geschlossenen Ausstellungseinheiten nachvollzogen werden. Mit der Begehung durch die Besucher ordneten sich die dargestellten Protagonisten mit ihren unterschiedlichen sozialen Orten plastisch nacheinander zu einer inszenierten Erzählung. Dies implizierte den Vergleich der je anders geprägten Dingwelten. Einführungstafeln boten Grundinformationen zu den Kapiteln für die Besucher an. Objekttexte erläuterten Gebrauchskontexte, Herkunft und Produktionsjahr der Dinge sowie deren Stellenwert in technischen Entwicklungen. Daraus ergab sich die Wahrnehmung der Differenzen im Zeitverlauf sowie der je eigenwertigen kulturell-dinglichen Merkmale der unterschiedlichen Lebensorte. Der 126

Die Hammerschmiede 1890. Die auf körperlicher Kraft beruhenden Arbeitsvorgänge formten die ­Körper und das Selbstbewusstsein dieser ­Arbeitergruppe (Foto: Historisches Archiv MAN AG Nürnberg).

Komfort des Unternehmers Cramer-Klett und die karge Dingwelt der »kleinen Leute« mit ihrer relativen Armut standen einander gegenüber. Sie repräsentierten die Klassengesellschaft des deutschen Kaiserreichs. Sozialgeschichtliches Wissen der späten siebziger Jahre Ich band einige Nürnberger Autoren in das Projekt ein, die fachliches Wissen mitbrachten.37 Der Stand der Sozialgeschichte hielt Ende der 1970er Jahre primär einen Fundus an breit gestreuten Grunddaten zu den Strukturen der Gesellschaft bereit. Gerhard A. Ritters und Jürgen Kockas »Deutsche Sozialgeschichte« versammelte aussagekräftige Quellentexte, die in narrativer Form Schilderungen zu sozialgeschichtlichen Lebens- und Arbeitsorten zugänglich machten. Daneben bot das »Sozialgeschichtliche Arbeitsbuch« zum Zeitraum 1870 bis 1914 sozialstatistisches Material in tabellarisch-quantitativer Exaktheit zu Industrie- und ­Erwerbssektoren, Beschäftigungsverhältnissen, Anteilen der Geschlechter sowie zum Urbanisierungsverlauf, wie es von den im 19. Jahrhundert eingerichteten statistischen Ämtern aufbereitet worden war,.38 Es blieb zu erkunden, wie sich die allgemeinen statistischen Merkmale zur dinglichen und visuellen Lebensrealität der gestalteten Kulturformen verhielten. Die abstrakte Formel von der »sozialen Ungleichheit« spiegelte sich in vielfältigen Varianten und Mischungen von materieller Kultur in der Lebenswirklichkeit. Diese qualitative Dimension der Lebensgeschichten mit ihren Spuren galt es zu veranschaulichen.39

37  So den Volkskundler Bernward Deneke, die

Historiker Dieter Rossmeisl, Peter Fleischmann, Erhart Hertrich, Manfred Brösame sowie die Kulturpädagogin Cornelia Julius. 38  Gerhard A. Ritter, Jürgen Kocka (Hg.):

Deutsche Sozialgeschichte. Dokumente und Skizzen, Bd. 2: 1870–1914, München 1974; Gerd Hohorst, Jürgen Kocka, Gerhard A. Ritter (Hg.): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 1975. 39  Diese Zuwendung zu Lebensgeschich-

ten in der Perspektive der Sozialgeschichte entsprach in etwa auch dem Stand der Soziologie, die sich in diesen Jahren von rein quantitativen Methoden hin zu qualitativen Fragestellungen und Zugriffen öffnete, vgl. Soziologie des Lebenslaufs, hrsg. u. eingeleitet von Martin Kohli, Darmstadt 1978.

Die Hierarchie in der Gesellschaft und die Ungleichheit drückten sich zwischen 1850 und 1950 nicht zuletzt in der unterschiedlichen Verfügung der Menschen über materielle Ressourcen, Entfaltungschancen und Handlungsspielraum aus. Die neun in sich geschlossenen biografischen Einheiten repräsentierten in ihrer Aussagekraft jeweils typische Phasen des sozialen Wandels im Modernisierungsprozess. Im Folgenden soll die Darstellung von sozialen Lagen an einigen lebensgeschichtlichen Narrativen nachvollzogen werden. Der erfolgreiche Unternehmer und Fabrikherr Theodor Cramer-Klett (1817–1884) Die Gründung der Maschinenfabrik von Cramer Klett vollzog den industriellen Wachstumsprozess der 1840er und 1850er Jahre auf der Basis der neuen technischen Möglichkeiten der Eisenverarbeitung mit. Der Aufbau einer »Eisengießerei und Maschinenfabrik« beruhte auf dem unmittelbaren Eisenbahnbedarf. Bald stellten die Eisenkonstruktionen von Brücken (Großhesselohe bei München, Rheinbrücke bei Gustavsburg) für den Ausbau der 127

Infrastruktur zur Beschleunigung der Mobilität im Deutschen Reich ein Geschäftsfeld dar. Das Unternehmen Cramer-Klett errichtete 1854 mit dem »Glaspalast« in München eine Glas-Eisen-­ Konstruktion für die erste Industrieausstellung in Deutschland, nach dem Vorbild des Crystal Palace für die erste Weltausstellung 1851 in London. Diese neuartige mobile Halle galt als Symbol »des Fortschritts«, der durch innovative Technik und Wirtschaftsausbau in Gang gekommen war. Im Nachlass von Cramer-Klett fand sich ein Porträt des in den 1870er Jahren nobilitierten Unternehmers, auf dem er eine Abbildung des Glaspalastes als seines prestigereichsten Projektes einer modernen Architektur auf dem Schoß hält. Sein neu errichtetes Palais war in dem bei vermögenden Eliten damals modischen Klassizismus errichtet. Die Ausstattung orientierte sich an der Adelskultur und deren Leitbildern. Fotografien zeigen eine Innenraumgestaltung mit Sitzmöbeln als adeligen Salon, mit einem großformatigen Landschaftsbild und Kronleuchter. Den Gegenpol zu diesem kulturellen Muster bildete jedoch der familiäre Erinnerungskult an einer zentralen Wand. In einer schmückenden Umrahmung hing ein Gemälde, das den Schwiegervater des Fabrikgründers noch als schriftkundigen Kaufmann zeigt. Kollektivbiografie I: Die frühe Arbeiterschaft Sie musste ohne breitere Nachlässe zu einzelnen Menschen und ohne individuell zuordenbare Dinge auskommen. Von den meist als Handwerker und Hilfsarbeiter in den Fabriken Arbeitenden erhielten sich lediglich vereinzelte schriftliche Spuren wie Zeugnisse der beschäftigenden Firmen, Meldedokumente oder amtliche Eintragungen. Für diese Arbeitergeneration in der Frühphase der Industrialisierung blieben Werkzeuge die wichtigsten Spuren ihres Arbeitsalltags, die von ihrer Existenz zeugten. Diese Objekte belegten in ihrer roh geschmiedeten Form selbst eine vorindustriell-handwerkliche Herstellung. Somit verwiesen diese Arbeitsobjekte in der Ausstellung auf das individuell angeeignete Erfahrungswissen, die kollektiven Fähigkeiten ihrer Nutzer, die vielfach bereits Handarbeit mit frühen Maschinen wie Dampfhämmern verbanden. Diese Arbeitskompetenz begründete ihre sozialgeschichtliche Stellung. Vom Handwerker zum »Fabricant dynamo-elektrischer Maschinen« Sigmund Schuckert vollzog in den 1870er Jahren einen Aufstieg vom innovativen Handwerker zum expansiven elektrotechnischen Unternehmer. In seinem Nachlass befanden sich Bilder und Alltagsdinge als fragmentarische Spuren aus seinen unterschiedlichen 128

biografischen Phasen. Fotografien, die ihm offensichtlich etwas bedeuteten, repräsentierten wichtige lebensgeschichtliche Orte und individuelle Erlebnisse. Ein frühes Porträtfoto von 1864 zeigte den Handwerker, ein weiteres Foto der 1870er Jahre den Erfinder in seiner Werkstatt im Liegestuhl beim Ausruhen. Das erhaltene Auftragsbuch seines Unternehmens für 1883/84 belegt die Käufer seiner »Maschinen für Glühlichtbeleuchtung«, die von Betrieben der Textil- und Maschinenbauindustrie bestellt wurden, um die Beleuchtung der Arbeitssäle in Fabriken zu elektrifizieren. Der Unternehmer präsentierte sich auf der Ersten Elektrotechnischen Ausstellung 1891 in Frankfurt am Main bereits standes­ gemäß, zusammen mit bürgerlich gekleideten Ingenieuren. Darüber hinaus hatte er seine wichtigsten Produkte der 1890er Jahre dokumentiert, so Messgeräte (Voltmeter) zur Kontrolle der Strom­­ versorgung von elektrischen Anlagen. Die Fotografien einer »Elektrischen« aus den 1890er Jahren sowie eines riesigen Scheinwerfers, den er auf der Weltausstellung in Chicago 1893 vorführte, weisen ihn als erfolgreichen Produzenten der Innovationen von technischer Kultur aus. An persönlichen Dingen erhielten sich ein Koffer sowie die Pfeife Schuckerts mit dem Turnergruß. Schuckert muss bereits früh über einen eigenen Fotoapparat verfügt haben. Von ihm sind Fotos von einer Urlaubsreise 1887 ins Gebirge erhalten, die ihn mit Gattin in offener Landschaft vor der »Franzenshöhe«, aber auch rudernd auf einem See zeigen.

40  Beim Umzug in ein neues Produktionsareal

wurden alle Abteilungen des Cramer-Klett’schen Werkes fotografiert. Diese fotografische Quelle habe ich später breiter in meinem Buch »Die Fabrik« einbezogen. Werksarchiv MAN Augsburg, Album Cramer-Klett.

Arbeiter-Kollektivbiografie II: 1880–1912 Die erhaltenen Spuren der Arbeiterschaft aus dieser zweiten Zeitphase sind wesentlich zahlreicher. So kann eine Folge von fotografischen Aufnahmen der verschiedenen Abteilungen der Maschinenfabrik von Cramer-Klett, die später in der Maschinenfabrik Augsburg Nürnberg (MAN) aufging, in ihrer Aussagefähigkeit für die spezifischen Prägungen der unterschiedlichen Gruppen von Fabrikarbeitern durch ihre Berufe gelesen werden.40 Hierbei lassen sich die Fotografien als Quelle für die Formierung von Individuen zu Kollektiven, in gemeinsamen mental-kulturellen Mustern der Arbeiterkultur lesen. Die unterschiedlichen Körpersprachen symbolisieren jeweils eigene Muster einer berufsgeprägten Arbeiterkultur. Die Hammerschmiede repräsentieren ihre Eigenidentität in einem durch Kraftanstrengung entwickelten Körperbau und mithilfe ihrer Werkzeuge, den unterschiedlich großen Hämmern und Zangen, sowie der damit gefertigten Produkte, beispielsweise geschmiedeten Kupplungshaken von Eisenbahnwaggons. Dagegen präsentierten sich die Schlosser mit 129

einem – im Vergleich – zurückgenommenen Körperausdruck, mit kleinen Hämmern und filigranen Werkstücken wie Laternengehäusen oder mit Ornamenten in geschmiedeten Gittern. Für diese Zeit entdeckten wir ein einzelnes Ausgabenbuch im Stadtarchiv Nürnberg als Quelle für eine Existenz im Prekariat. Der Hilfsarbeiter Johann Fiesenig hatte seine Lebensführung mit Einkünften und Ausgaben genau festgehalten, da er bis ins hohe Alter arbeiten musste und es auch bei äußerster Sparsamkeit nur mühsam schaffte, »über die Runden zu kommen«. In der Fotografie eines Ladens für den Arbeiterbedarf um 1900 (siehe Frontispiz) wurden die Alltagsdinge des Konsums dieser Arbeitergeneration festgehalten.41 Neben Textilen, Kannen, Trinkgefäßen sind hier bereits zwei moderne Fahrräder als dingliche Wunschobjekte zu sehen. Sie hängen von der Decke herab und veranschaulichen den Übergang dieser Objektgeschichte von einem Sportgerät des Bürgertums in die baldige Verfügbarkeit der Arbeiterschaft, als deren zunächst wichtigstes Verkehrsmittel. Städtischer Rechtsrat Die Prägekraft des kaiserlichen Obrigkeitsstaates mit symbolischen Formen von Gebärden und Kleidersprache hat sich bei dem Chef der Ordnungsbehörden und der städtischen Polizei von Nürnberg eindrucksvoll objektiviert. Sein Zylinder, sein Monokel, sein Frack zeigen ihn als einen Angehörigen des akademischen Bürgertums in den strengen kulturellen Leitmustern des »Wilheminis­mus«. Dieser hohe Beamte konnte nach der Revolution von 1918 keinen positiven Bezug zur demokratischen Repu­ blik und der Machtteilhabe der Arbeiterschaft entwickeln. Daneben halten weitere Lebensgeschichten Informationen zu einem »Postadjunkten« und zu einem Angestellten fest. Sie zeigen die Lebensräume des Kleinbürgertums mit auskömmlichen, aber bescheidenen Ausstattungen der Lebensführung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine der in der Ausstellung versammelten Lebensgeschichten veranschaulicht die Lebensbedingungen eines Dienstmädchens, das in seiner anschließenden Lebensphase durch Heirat als Hausfrau und Mutter in der Familie aufging. Es repräsentierte die etwa 10 Prozent Dienstboten in der städtischen Bevölkerung. Da Dora D. um 1980 über keinerlei Objekte aus ihrer Dienstbotenkammer verfügte, konnte deren Einrichtung mithilfe ihrer Beratung für die Ausstellung aus »Fundstücken« rekonstruiert werden.42 Diese Lebensgeschichte entstand, wie auch die des Drehers und schließ130

41  Ruppert (Hg.), Lebensgeschichten, S. 81. 42  Die Bearbeiterin Cornelia Julius hatte

Mitte der 1970er Jahre mit unterschiedlichen Studien der Oral History begonnen und sie in Arbeitsheften des Kunstpädagogischen Zentrums Nürnberg dokumentiert.

lich Bevollmächtigten der IG Metall Otto K., als Oral-History-­ Dokument des Protagonisten als Zeitzeugen. Die Begehung dieser Ausstellungsanordnung verdeutlichte die unterschiedlichen kulturellen Erscheinungsformen von Menschen, die sich in ihrer Kleidersprache, der Symbolik ihrer Körpersprache, ihren Lebensräumen, aber ebenso den jeweiligen Dingwelten und dem jeweiligen Konsum unterschieden. Die symbolisch gestalteten Objekte, Kleider und Alltagsdinge weisen zudem epochentypische Alltagsästhetiken im Zeitverlauf aus. Sie variierten ferner zwischen der Dokumentation einerseits kollektiver sozialgeschichtlicher Muster und andererseits den kulturellen Individualisierungen. Aus diesen Fragmenten ergab sich ein Panorama der unterschiedlichen Lebensorte über 100 Jahre hinweg.43 Ausblick Von der Erfahrung mit solchen Artefakten ausgehend, habe ich seit 1980 die Zusammenhänge der materiellen Kultur mit der Kultur- und Sozialgeschichte in unterschiedlichen Studien bearbeitet. Deren Perspektiven möchte ich abschließend zumindest benennen.

43  Der Verleger Edmund Budrich be-

richtete, dass sich sein Verlag mit der Publikation der »Lebensgeschichten« zu einem sozialwissenschaftlichen Fachverlag entwickelt hatte, von dem insbesondere für die Biografieforschung Anstöße ausgingen. Textteile wurden bis zur Gegenwart in zahlreichen Schulbüchern abgedruckt. 44  Vgl. Ruppert, Fabrik. 45  Vgl. Ruppert (Hg.), Arbeiter. 46  Dokumentiert in Wolfgang Ruppert

(Hg.): Studentische Erkundungen zur Kulturgeschichte der Dinge. Arbeitshefte zur industriellen Massenkultur (Arbeitsstelle für kulturgeschichtliche Studien, Universität der Künste Berlin), Berlin 2005. 47  Wolfgang Ruppert (Hg.): Fahrrad,

Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge, Frankfurt am Main 1993, und ders. (Hg.): Chiffren des Alltags. Erkundungen zur Geschichte der industriellen Massenkultur, Marburg 1993. 48  Die Ausstellung wurde 1998 in der

»Schwarz’schen Villa«/Kulturamt des Bezirks Berlin-Steglitz und im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt gezeigt. Vgl. das forschungsorientierte Katalogbuch Wolfgang Ruppert (Hg.): Um 1968. Die Repräsentation der Dinge, Marburg 1998.

Mein Buch »Die Fabrik« führte 1983 die Studien zur Arbeitswelt fort.44 In meine Seminare im Studiengang Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld von 1983 bis 1988 floss die Dimension der materiellen Kultur bereits als Teilebene meiner Ansätze zu einer neuen Kulturgeschichte ein. 1986 habe ich ein Kapitel zur materiellen Kultur der Arbeiter in den von mir herausgegebenen Band »Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur« aufgenommen.45 Seit 1988 konnte ich dieses Forschungsfeld an der Universität der Künste Berlin schließlich systematischer weiterentwickeln. Beispielsweise bot ich über zehn Jahre hinweg ein Seminar an, in dem die Studierenden unter Einbezug der wissenschaftlichen Literatur ein Ding ihrer Wahl ausforschten.46 Ich konnte eine Reihe von Tagungen zur Kulturgeschichte der Dinge veranstalten. Aus der Tagung von 1990 zur »industriellen Massenkultur« gingen mit »Fahrrad, Auto, Fernsehschrank« und »Chiffren des Alltags« zwei Bücher hervor.47 1998 dokumentierte die Ausstellung »Um 1968. Die Repräsentation der Dinge« die enormen Veränderungen in der Dingwelt, die im Verlauf der späten sechziger Jahre in Westberlin und in Westdeutschland begannen und im Verlauf der Studentenbewegung auch mit neuen Lebenskonzepten und damit verbundenen Leitbildern der materiellen Kultur einhergingen.48

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Das Leben als Sammlung von Dingen – hier: eine lose Fotosammlung, unsortiert aufbewahrt in einem Pappkarton. (Foto: Stephanie Neumann)

PERSÖNLICH, NICHT PRIVAT BIOGRAFISCHE OBJEKTE ALS HISTORIOGRAFISCHE QUELLE KATJA BÖHME

Spuren In der Erzählung »A Scandal in Bohemia« (1891/92), einer bekannten Sherlock-Holmes-Geschichte des Schriftstellers Arthur Conan Doyle, lässt dieser seinen berühmten kriminologischen Helden eine Methode vorführen, bei der Schlüsse auf biografische Zusammenhänge durch das genaue Studieren von Dingen gewonnen werden. Die Erzählung mag für diesen Aufsatz als Ausgangspunkt dienen, um einige Überlegungen über das Potenzial und die Grenzen von Dingen als Quelle für eine sozialgeschichtlich fundierte Biografieforschung anzustellen. Der Arzt Dr. John Watson stattet seinem Freund Sherlock ­Holmes, so beginnt die oben genannte Erzählung, nach längerer Zeit einen Besuch ab. Einige Veränderungen haben sich zum Zeitpunkt des Besuches im privaten Leben John Watsons ereignet. Doch noch bevor Watson selbst seinem Freund die neuen Entwicklungen seines Lebens schildern kann, wird er sogleich Zeuge und Objekt von Holmes’ »Methode«. »Der Ehestand bekommt dir«, bemerkte er. »Watson, du mußt, seit wir uns zuletzt sahen, mindestens siebeneinhalb Pfund zugenommen haben.« »Sieben«, entgegnete ich. »Ich hätte es ein bißchen höher geschätzt, Watson – gerade nur eine Kleinigkeit mehr. Und du dokterst wieder, wie ich sehe. Du hattest mir gar nicht erzählt, daß du deine Praxis wieder aufnehmen wolltest.« »Woher weißt du es dann?« »Ich sehe es, ich ziehe meine Schlüsse. Woher weiß ich, daß du vor kurzer Zeit stark verregnet worden bist und daß du ein sehr unge­ schicktes und nachlässiges Dienstmädchen hast?« »Mein lieber Holmes, das geht zu weit!« rief ich. »Vor ein paar hundert Jahren hätte man dich gewiß als Hexenmeister verbrannt! Es stimmt, daß ich Donnerstag aufs Land hinaus mußte und völlig aufgeweicht nach Hause kam, aber da ich mich seither immerhin umgezogen habe, begreife ich nicht, woraus du es ersiehst. Was unsere Mary Jane betrifft, ist sie unverbesserlich, und meine Frau hat ihr bereits gekündigt, aber auch da ist mir nicht klar, woran du es bemerkst.« Er rieb leise lachend seine langen, nervösen Hände. »Nichts könnte

einfacher sein«, sagte er. »Meine Augen sagen mir, daß dein linker Schuh an der Innenseite, gerade wo die Flamme sie beleuchtet, sechs parallele Schnittspuren zeigt. Offenkundig hat jemand auf höchst nachlässige Weise mit einem Messer am Rand der Sohle herumgekratzt, um den Schmutz zu entfernen. Daher meine doppelte Schlußfolgerung, daß du erstens bei besonders garstigem Wetter unterwegs warst und zweitens ein besonders schlimmes Muster des Londoner schuheaufschlitzenden Dienstbotenstandes in deinem Haus beherbergst. Und was deine Praxis betrifft – wenn ein Herr meine Wohnung betritt, der nach Jodoform riecht, einen schwarzen Silbernitratfleck auf dem rechten Zeigefinger hat und dessen Zylinderhut seitlich ausgebaucht ist, damit man sieht, wo er sein Stethoskop aufbewahrt –, müßte ich wahrhaftig sehr dumm sein, um in ihm nicht sofort einen aktiven Vertreter des Ärztestandes zu erkennen.«1

Dinge sind verräterisch. Das wird in dieser kurzen Kostprobe Holmes’schen Deduzierens deutlich. Aber was besonders ins Auge springt, ist die genaue Beobachtung, die hier als eine analytische Methode präsentiert wird, um biografische Details eines Lebens zu rekonstruieren: das Schlussfolgern aus Spuren. In seinem bekannten Aufsatz »Spurensicherung«2 identifizierte der Historiker Carlo Ginzburg 1979 dieses Verfahren als wissenschaftliches Paradigma und bezeichnete es als »Indizienparadigma«. Es gewann im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung, als auch die Semiotik Einzug in die Humanwissenschaften hielt und Symptome, Spuren und Indizien zur Rekonstruktion von Einzelfällen nutzte. In seinem Aufsatz zeigte Carlo Ginzburg anhand von Sherlock Holmes, dem Kunstphilosophen Giovanni Morelli und Sigmund Freud, wie sich das Indizienparadigma etablierte und damit ein Verfahren, das seinen Fokus nicht auf das Ganze, sondern einzelne Details richtet. Der von Ginzburg angeführte Kunsttheoretiker Giovanni Morelli stellte zwischen 1874 und 1876 in unterschiedlichen Museen Europas die Zuordnung von Gemälden zu einzelnen Malern richtig, indem er Ohren, Fingernägel und Hände auf den Gemälden genau untersuchte und miteinander verglich.3 Diese Methode stützt sich dabei nicht nur auf Details, sondern ihr liegt, wie Ginzburg zeigt, eine grundsätzlichere Annahme darüber zugrunde, wie Zusammenhänge sichtbar werden können: Es sind die Nebensächlichkeiten, das scheinbar Triviale, das, was eher als niedrig und unwichtig erscheint, worin sich nach Ginzburg und seinen »Spurenlesern« Morelli, Holmes und Freud der eigentliche Charakter einer Person, eines Phänomens oder eines Stils zeigt.4 Oder anders gesagt, es ist das Unbewusste, der Mo134

1  Arthur Conan Doyle: Ein Skandal in

Böhmen, in: ders.: Sherlock-Holmes-­ Geschichten, aus dem Englischen von Trude Fein, München 1993, S. 7–38, hier S. 9 f. 2  Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger

entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7–57. 3  Ebd., S. 8 ff. 4  Ebd., S. 16.

ment, in dem das bewusst kontrollierte Handeln des Individuums nachlässt, das sich in den Spuren, Indizien, Symptomen ablesen lässt. Dr. Watson hat zwar keinerlei Hemmungen und sogar die Absicht, seinem Freund Sherlock Holmes seine neuen beruflichen und privaten Entwicklungen zu offenbaren, aber es sind der Schmutz an seinen Schuhen, die Beule an seinem Zylinder und der Geruch nach einem stark riechenden Desinfektionsmittel, die, bevor er noch mit seiner Selbstauskunft beginnen kann, bereits die für Holmes entscheidenden Indizien liefern. Dinge sind eben verräterisch, genauso wie Gesten und andere Details, wenn man sie, wie Sherlock Holmes, zu lesen vermag. Es kann also durchaus erfolgversprechend sein, das scheinbar Triviale, das Sammelsurium an Dingen, Kleinigkeiten bis hin zum Müll eines Menschen unter die Lupe zu nehmen,5 um Erkenntnisse über das individuelle und soziale Leben einer Person, einer Gruppe oder gar einer Gesellschaft zu gewinnen. Was wir hier lernen können, ist, dass das genaue Beobachten zu Erkenntnissen führen kann, die nicht zu gewinnen wären, wenn man allein auf das »Offenkundige« schaut, und Dinge gelten, insbesondere in der Geschichtswissenschaft nicht zuletzt aufgrund ihrer Alltäglichkeit, häufig als Tand, Tinnef und Trivialität.

5  Andreas Ludwig: Materielle Kultur, Version:

1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 30. Mai 2011, http://docupedia.de/zg/ludwig_materielle_kultur_v1_de_2011, DOI: http:// dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.300.v1. 6  Vgl. hierzu den wichtigen Impuls des

Aufsatzbandes: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971.

Biografische Dinge Doch werden wir bei aller Faszination für die detektivischen Fähigkeiten von Sherlock Holmes nach einigem Überlegen merken, dass seine Methode zwar durchaus Ähnlichkeiten zu unserem Arbeiten als Historiker*innen aufweist, wir uns aber eingestehen müssen, dass ein Großteil seiner Schlüsse zwar »schlüssig«, nicht aber so zwingend ist, wie uns der Autor glauben machen will. Die Spuren an Watsons Schuhen könnten, salopp gesprochen, natürlich durchaus auch von einem Garteneinsatz oder einem Waldspaziergang herrühren und sind keineswegs eindeutige Beweise. Zudem setzen die Schlussfolgerungen ein umfassendes Vorwissen von Sherlock Holmes über seinen Freund Watson voraus, über das wir als Historiker*innen mitunter nicht verfügen, wenn wir den Forschungsblick auf Individuen in der Zeitgeschichte richten. Das Entscheidende aber erscheint mir: Unser Erkenntnisinteresse zielt nicht auf die Entschlüsselung von Privatheiten, wir wollen keinen Täter überführen (zumindest in der Regel nicht), wir wollen keinen Ehebruch aufdecken und wir wollen, auch wenn die Psychoanalyse für die Geschichtswissenschaft vielleicht eine größere und produktive Rolle spielen könnte, als sie es bisher tut,6 nicht das Privatleben, Traumata und psychologische Abgründe aufdecken, 135

wir wollen gerade nicht »psychologisieren« (das gebietet auch der Respekt vor unseren Zeitzeug*innen). Um dieser Gefahr zu entgehen, müssen wir präziser formulieren, wie Dinge als Quellen eingesetzt werden sollen und welchen Erkenntnisbeitrag persönliche, lebensgeschichtlich bedeutsame Dinge, jene individuellen Besitztümer, die ich hier als biografische Objekte bezeichnen möchte, leisten sollen. Biografische Zusammenhänge können auf unterschiedliche Weise hergestellt werden, etwa in Form von Familienerzählungen, autobiografischen Texten, Fotoalben. Bei der Analyse solcher biografischer Erzählungen ist zu berücksichtigen, dass das biografische Selbstverständnis einer Person ein retrospektives kognitives Konstrukt ist, in dem aus lebensgeschichtlichen Ereignissen erst sinnhafte Erfahrungen gebildet werden, diese in einen temporalen und kausalen Zusammenhang gebracht und in der Regel auf einen teleologischen Endpunkt hin organisiert werden. In ihrer Linearität liegt mithin ein wesentliches Merkmal der meisten biografischen Erzählweisen und auch eine Begrenzung ihrer Aussagekraft. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Analyse materieller Objektbestände als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion biografischer Erzählungen eine besondere Bedeutung. Im Gegensatz zum autobiografischen Erzählen ermöglichen Dinge einen nicht­ linearen Zugriff auf die Biografie von Individuen. Zunächst verweist ihr Vorhandensein auf eine Relevanz und ihr zum Teil bewusster Einsatz zur Gestaltung des eigenen Lebensraumes auf eine zeichenhafte Aussagekraft in Bezug auf die Biografien ihrer Besitzer*innen. Dabei können Objekte die lebensgeschichtliche Narration untermauern, in ihrer Funktion als Erinnerungsobjekte eine persönlich-familiäre Geschichtserzählung perpetuieren, sie können dieser aber auch zuwiderlaufen. Die Präsenz der »Dinge des Lebens« kann eine alternative Geschichte erzählen, Verdrängtes, Gewöhnliches, emotional Aufgeladenes, sogar Tabus in die eigene Biografie integrieren, ohne sie explizit ausformulieren zu müssen. Zudem birgt – insbesondere in ihrer Erscheinungsform als Ansammlung – die Dingwelt nichthierarchisierte Biografieerzählungen, die erst freigelegt werden müssen. Gerade weil die Gruppierung der Dinge nicht – wie in Biografieerzählungen üblich – chronologisch erfolgen muss (von der Geburt bis zur Gegenwart), sondern im Hinblick auf Materialitäten und Wertigkeiten, persönliche und berufliche Beziehungen, Hobbys, alltägliche Gebrauchsgüter und Gewohnheiten, Geschlechter­ arrangements etc. vorgenommen werden kann, werden neue, bio136

grafisch bedeutsame Themenfelder des Lebens repräsentierbar, die in sprachlich strukturierten Narrationen mitunter nicht zum Vorschein kommen. Die Dinge können also ebenso als Ausdruck einer Sprachlosigkeit verstanden werden wie als materialisierter Erzähler von Unausgesprochenem. Damit haben sie das Potenzial, »andere Geschichten« zu generieren.7

7  Das deckt sich auch mit den Erfahrungen des

Ethnologen Andreas Kuntz, der bei Interviews im Arbeitermilieu, die er im Abstand von neun Jahren durchführte, feststellen konnte, dass die lebensgeschichtlichen Erzählungen sich kaum geändert hatten, während die Erzählungen zu den Objekten vielseitige, neue Aspekte zutage brachten. Vgl. Andreas Kuntz: Biographie und biographisches Objekt. Zur Bedeutung von Erinnerungsgegenständen in lebensgeschichtlichen Berichten, in: Olaf Bockhorn, Helmut Eberhart (Hg.): Auf der Suche nach der verlorenen Kultur. Arbeiterkultur zwischen Museum und Realität, Wien 1989, S. 165–183; ders.: Zur objektbestimmten Ritualisierung familiärer Geschichtsarbeit. Drei Beispiele zum Thema Erinnerungsgegenstände und Lebensgeschichte, in: BIOS 2 (1989), S. 207–220; ders.: Erinnerungsgegenstände. Ein Diskussionsbeitrag zur volkskundlichen Erforschung rezenter Sachkultur, in: Ethnologia Europaea 20 (1990), S. 61–80. 8  Das Projekt »Things happen« untersucht

am Schnittpunkt von Kulturwissenschaft, Erinnerungsforschung und Fotografie den Zusammenhang von Biografie und objektbasierten Erinnerungsprozessen im Übergang von der DDR zur postsozialistischen Gesellschaft. Dazu werden Menschen zu persönlich bedeutsamen Erinnerungsdingen interviewt und der Prozess in einer fotografischen Dokumentation begleitet. Das Projekt stellt dabei die Mensch-Ding-Beziehung in den Fokus und betrachtet die materiellen Objekte bewusst nicht als isolierte Sachzeugen, sondern als Material, das in der Interaktion mit seinen Besitzern zur aussagefähigen Quelle wird. Die Fotografien von Stephanie Neumann nehmen dabei eine zentrale ergänzende Forschungsperspektive ein, die im Gegensatz zur klassischen fotografischen Sachzeugendokumentation in der Museumssammlung den Kontext des Objektes, das Arrangement innerhalb spezifischer Dingensembles, die Aufbewahrungssituation (zwischen offener Präsentation und der temporären Unsichtbarkeit in Kellern und Kisten) sowie das unmittelbare Handling (Berührungen, Distanzeinnahme) in das Untersuchungsmaterial aufnimmt. Damit entsteht ein eigener Quellenbestand, der zu den Interviews in Beziehung gesetzt werden kann und diese ergänzt. 9  Die Namen sind anonymisiert.

Ich möchte anhand von drei Beispielen nun skizzieren, welche Funktion biografische Dinge für Individuen übernehmen können und inwiefern sie Rückschlüsse auf gesellschaftliche und historische Kontexte erlauben. Alle drei Beispiele betreffen Menschen, die einen Teil ihres Lebens in der DDR verlebt haben. Alle Beispiele stehen im Kontext eines 2015 initiierten Interviewprojektes mit der Fotografin und Interaction-Designerin Stephanie Neumann, in dessen Rahmen die befragten Zeitzeug*innen aufgefordert wurden, drei Objekte auszuwählen, die für sie und ihr Leben in der DDR bedeutsam waren. Nach einer entsprechenden Vorlaufzeit wurden die Zeitzeug*innen für ein Interview zu den ausgewählten Dingen in ihrer Wohnung aufgesucht. Es ging dabei dezidiert nicht um das DDR-Typische, sondern um biografisch bedeutsame Objekte, die mit dem Leben in der DDR in Verbindung gebracht werden. Im Zuge des Interviews sind der Aufbewahrungsort sowie der Umgang mit den Objekten fotografisch dokumentiert worden. Dabei konnte die Methode des fotografischen Forschens exploriert werden.8 Wie die Beispiele zeigen werden, offenbaren auch der gegenwärtige Umgang mit den Dingen und deren Einbettung in den persönlichen Lebenskontext biografische Deutungsstränge, die Rückschlüsse auf frühere und gegenwärtige Aneignungen der sozialen Wirklichkeit durch den Dinggebrauch erlauben. Allein die unterschiedlichen möglichen Aufbewahrungsorte, die von der »Verbannung« in die hinterste Ecke eines Dachbodens bis zur öffentlichen Zurschaustellung in einer Vitrine oder der sorgsamen Aufbewahrung in einer »Schatzkiste« reichen konnten, verweisen auf eine spannungsvolle Praxis des Zeigens und Verbergens. Thomas G. und George Orwells »Farm der Tiere« Da ist zunächst Thomas G.,9 er ist 53 Jahre alt, katholisch, arbeitet als Ingenieur und lebt heute mit seiner Frau in Berlin-Adlershof. Die DDR erlebte er als Kind, Jugendlicher und junger Familienvater, dann kam die Wende. Die Auswahl der drei für ihn bedeutsamen Objekte trifft er sorgsam und nach langem Abwägen: Sie fällt auf eine Schallplatte des Dresdner Kreuzchores mit geistlicher Vokalmusik von Heinrich Schütz, auf eine Sammlung privater Schmalfilme, die sein eigenes Leben und das seiner Kinder dokumentieren, und auf das Buch »Farm der Tiere«, das er 1983, wäh137

rend seiner Zeit als Bausoldat, von einem Freund geliehen bekam, Seite für Seite abfotografierte und liebevoll zu einem Büchlein zusammenband. Die drei Dinge stehen, wie das anschließende Interview zeigte, für bestimmte Lebensphasen und Lebensthemen seiner Biografie. Sie sind nicht gänzlich der Gebrauchsfunktion entzogen, so wird die Platte noch gehört und die Filme werden zur Tradierung und Konsolidierung des Familiengedächtnisses einmal im Jahr gemeinsam geschaut. Orwells Buch »Farm der Tiere« nimmt dabei eine besondere Stellung ein. Es handelt sich um ein »verbotenes« Buch, das in der DDR nicht erscheinen durfte. Erst im Januar 1990, während die DDR noch existierte, erschien es als letztes Buch der »Schwarzen Reihe« im Verlag Volk und Welt. Thomas G. besitzt auch dieses Heft, es steht neben seinem selbst gefertigten Exemplar im Bücherregal.10 Für Thomas G. ist es Ausdruck einer persönlichen Emanzipation von staatlicher Bevormundung, der er auch durch seine Entscheidung, Bausoldat zu werden, Ausdruck verleiht. Das Buch steht zugleich für ein soziales Milieu der DDR, von jungen Männern, die in definierter Distanz zum Staat standen und sich gegenseitig mit Literatur versorgten. Dem Bild von der DDR als Leseland11 wird durch dieses Objekt eine neue Dimension gegeben. In seiner Materialität wirft das Buch auch ein weiteres Thema auf: die eingeschränkte Kopier- und Vervielfältigungspraxis in der DDR und den daraus entstehenden Eigensinn des Do-it-yourself. Der Aufwand, mit dem das Buch erstellt wurde, steht in engem Verhältnis zu dem Wert, den es heute für Thomas G. noch hat. Ausführlich berichtet er über die komplizierten und langwierigen Vorgänge des Fotografierens, Entwickelns und Zusammenbindens des Buches. Unscharfe Stellen wurden mit schwarzem Stift nachgezeichnet. Das Buch ist ein Unikat. Aber es steht auch für eine bestimmte Praxis der Selbstbestimmung in der DDR. Ein Buch wie Thomas’ »Farm der Tiere« könnte man sich sehr gut als Exponat in einer der vielen heute kuratierten DDR-Ausstellungen als Beleg für oppositionelle Lesegewohnheiten in den 1980er Jahren vorstellen, und dann auch noch von einem Bausoldaten. Doch genau eine solche Lektüre greift zu kurz. Im Gespräch mit Thomas wird deutlich, dass er sein illegales Kopiervorhaben sowie die verbotene Lektüre keinesfalls als politischen Akt auffasst,12 sondern als schlichte Reaktion auf das begierige Leseinteresse eines jungen Heranwachsenden. Auch seine Entscheidung, Bausoldat zu werden, spielt er ein wenig herunter, 138

10  Dokumente aus dem Verlagsnachlass von

Volk und Welt, die im Literaturarchiv der Akademie der Künste liegen, erhellen leider nicht die genauen Umstände und den Einfluss der veränderten politischen Bedingungen die dazu beitrugen, dass dieses Buch noch erscheinen konnte, ja vielleicht sogar erscheinen musste. 11  Dass die durch die SED-Staatsführung be-

triebene Selbstinszenierung der DDR als »Leseland« nicht unreflektiert übernommen werden darf, sondern notwendiger Korrekturen sowie Ergänzungen bedarf, ist in der Forschung zur Verlags-, Bibliotheks- und Rezeptionsgeschichte von Literatur in der DDR bereits deutlich geworden. Als eine wichtige Ursache für eine weit verbreitete Lesebegeisterung ist dabei insbesondere der Wunsch nach Literatur, die den DDR-­ Leser*innen von der Zensur vorenthalten wurde, identifiziert worden. Vgl. dazu z. B. Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997. 12  Nicht alle Orwell-Leser hatten ein so glimpf-

liches Schicksal wie Thomas G. Der Besitz des Buches konnte bis zur Verhaftung führen. Baldur Haase etwa ist aufgrund des Besitzes eines Orwell-Buches ins Gefängnis gekommen und zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Vgl. hierzu Baldur Haase: George Orwells Bücher und wie sie Orwells Leser in der DDR ins Zuchthaus führten, Erfurt 2005 und ders.: Verführt durch »Schmutz und Schund«. Mein Orwell, in: Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, S. 168–174.

»Farm der Tiere«, selbst angefertigte Buchkopie (Foto: Stephanie Neumann).

13  Die Einzelerfahrung belegt hier zum

einen die Grenzen der Verallgemeinerungsfähigkeit dessen, was als oppositionell erlebt und empfunden wurde, zum anderen die Willkür als Mittel diktatorischer Herrschaft.

als Christ kam der Armeedienst für ihn einfach nicht in infrage. Er habe auch keine nennenswerten Repressalien oder Benachteiligungen dadurch erlitten.13 Thomas und seine Frau zeigen eine regelrechte Bescheidenheit, wenn sie sich selbst als »zu unpolitisch« kritisieren, dabei haben sie ’89 an Demos teilgenommen, Kalender der oppositionellen Umweltbibliothek im Keller aufgehoben und für das Neue Forum unterschrieben. Diese Aktivitäten, die sie deutlich von der DDR-Mehrheit abheben, halten sie selbst für »nicht der Rede wert«. Hier liegt eine staatsdistante Haltung vor, die nicht Teil des eigenen Selbstbildes geworden ist. Thomas war politischer, als er es selbst wahrnimmt. Kathrin G. und das »amerikanische Schwein« Kathrin G. ist 53 Jahre alt, Krankenschwester, aufgewachsen in Leipzig in einem bürgerlichen Haushalt. Ihr Vater war Architekt, die Familie war kulturell sehr gebildet, legte wert auf bürgerliche Manieren und war nicht in der SED. Westliche Verwandtschaft war vorhanden und Besuch aus dem Westen nicht selten. In den 1970er Jahren kam ein junger amerikanischer Fotograf zu Besuch, von ihm erhielt Kathrin, sie war noch Jugendliche, später ein Paket aus den USA geschickt, darin war das »amerikanische Schwein«. Das Objekt ist grell und von einer gewissen Monstrosität. Dass es das »amerikanische Schwein« genannt wird, entbehrt nicht 139

Ein sperriges Objekt: das »amerikanische Schwein« (Foto: Stephanie Neumann).

einer gewissen Doppelbödigkeit. Dem ersten Eindruck nach könnte es sich bei dem kitschigen, ja geradezu obszönen Spielzeug um ein kindliches Sehnsuchtsobjekt handeln, das aufbewahrt wurde, weil es für den attraktiven und unerreichbaren Westen stand, verkörpert durch einen amerikanischen Besucher, der ein kindgerechtes Geschenk übersandte. Doch das »amerikanische Schwein« ist ein sperriges Objekt, es ist so gar nicht kuschelig und nostalgisch und die emotionale Bindung von Kathrin zu diesem Objekt erscheint mehr als ambivalent. Während sie darüber spricht, hält sie stets schützende Distanz zu dem Ding. Das Objekt wird nicht ein einziges Mal während des Gespräches berührt. Ist es ihr peinlich? Kathrin besteht darauf, dass das Objekt hauptsächlich wegen ihrer Kinder aufbewahrt werde, die es als Kuriosität betrachten würden und ihre Mutter davon abhielten, es wegzuschmeißen. Andererseits aber hat sie es für das Interview ausgewählt. Erst mit der Zeit wird erkennbar, dass dieses bizarre Kuscheltier ein »verfehltes Objekt« ist, um das selbst es gar nicht geht. Es verweist auf etwas anderes, dass das Objekt selbst gar nicht dazustellen vermag: nämlich das Erwachsenwerden durch die Beziehung zu dem amerikanischen Fotografen, 140

von dem es kommt. Beinahe beiläufig erwähnt Kathrin einen Briefwechsel mit ihm, den sie erst sehr spät herausholt. Hier wird erkennbar, dass die Brieffreundschaft mit dem deutlich älteren Fotografen keineswegs auf ihre Kindheit, sondern vielmehr ihre Jugend verweist und recht intensiv war. Der Fotograf schrieb der jungen Kathrin nicht nur Briefe, sondern schickte ihr auch DIN-A4-Fotoabzüge, die New Orleans und andere amerikanische Städte zeigen. Die Briefe sind sorgsam abgeheftet und schon etwas abgegriffen, die Fotos haben Löcher, weil sie vermutlich im jugendlichen Zimmer aufgehängt wurden. Das Schwein hingegen ist kaum berührt, es lädt auch nicht dazu ein. Es ist eigentlich eine Zumutung für Kathrin: Eine Beziehung, die sie in die Erwachsenenwelt begleitete, wird hier auf ein Spielzeug reduziert und katapultiert sie in die, wie sich herausstellt, belastete Kindheit zurück. Das Schwein ist ein Objekt, von dem man sich befreien muss, aber es wird bewahrt, weil es für den Ausblick und die erweiterte Perspektive, die Sehnsucht nach Kunst, Ferne, Emanzipation steht, die der Fotograf für sie verkörpert. Es ist, wie im Übrigen auch die anderen Objekte von Kathrin, eine Abkehr von ihrer intellektuell-bürgerlichen Familie. Während vieles in ihrer Wohnung auf diese bildungsbürgerliche Herkunft in der DDR verweist, beschreiben die von ihr ausgewählten Objekte einen individuellen Abstoßungsprozess aus diesem Milieu. Hier sind es die Details, die dem Gros der vorhandenen Objekte eine andere Erzählung beifügen. Dinge – Ebenen kultureller Erfahrung Bevor noch ein letztes Beispiel vorgestellt wird, soll eine kurze Zäsur dazu dienen, eine notwendige methodische Reflexion einzuschieben. Die bisher angeführten Fälle machen bereits deutlich, dass eine wesentliche Herausforderung für die Analyse biografischer Objekte darin besteht, die individuellen Dinginterpretationen, die man an ihnen anstellt, nicht im Rahmen bloßer Individualgeschichten zu belassen, sondern sie in einen größeren historiografischen Kontext zu stellen. Selbstverständlich werden Dinge niemals nur individuell verwendet, sondern ihr Gebrauch stellt sich stets als ein kultureller Aneignungsprozess dar und ist damit prinzipiell gesellschaftlich rückgebunden. Aber wie sind kulturelle und individuelle Ebene miteinander verknüpft?

14  Gert Selle: Produktkultur als Aneignungs-

ereignis zwischen industrieller Matrix, sozialen Normen und individuellem Gebrauch. Überlegungen eines kulturarchäologischen Amateurs, in: Wolfgang Ruppert (Hg.): Chiffren des Alltags. Erkundungen zur Geschichte der industriellen Massenkultur, Marburg 1993, S. 23–48.

Der Designtheoretiker Gert Selle hat dazu ein theoretisches Angebot gemacht, das drei Ebenen kultureller Erfahrung im Umgang mit Dingen (im Zeitalter der industriellen Massenkultur) unterscheidet.14 Er demonstriert an sich selbst und einer abgebrochenen Fallstudie, dass Produktkultur aus einem Aneignungsprozess entsteht, der auf drei Ebenen stattfindet. 141

Zum einen identifiziert Selle eine Ebene der epochalen Aneignungsprozesse von Industriekultur, die durch die gesamte Gesellschaft erfolgen und denen sich (etwa infolge von Modernisierungsschüben, wie sie die Elektrifizierung oder die Computerisierung darstellen) niemand entziehen kann. Es folgt als zweite Ebene der soziale Ausdifferenzierungsprozess besonderer Deutungs- und Umgangsmuster mit Dingen. Schließlich, drittens, gibt es die individuelle Auslegung innerhalb teilhabender Gebrauchsbiografien. Ohne die Summe von individuell gelebten Interpretationen des Dinggebrauchs würden nach Gert Selle weder die sozialen Gebrauchsmuster noch die dahinter liegende gesamtindustrielle Grundmatrix gesellschaftlichen Verhaltens einer Epoche tatsächlich gelebt und realisiert werden. Dem mag man zustimmen, aber reicht es nicht aus, die Dingerfahrungen von Gesellschaften auf der Makro- und Mesoebene zu analysieren? Häufig wird dieses Vorgehen in der kulturgeschichtlichen Analyse erfolgreich praktiziert: Gesamtgesellschaftliche Innovationen, etwa die Motorisierung der Gesellschaft durch Autos oder die Rationalisierung der Küche durch Haushaltsgeräte, werden unter anderem daraufhin untersucht, wie gesellschaftliche Gruppen auf bestimmte Dingentwicklungen reagieren, welche Bilder von Gebrauchsmustern erzeugt werden, so dass im Ergebnis eine differenzierte Sozialgeschichte anhand von Aneignung und Gebrauch entstehen kann. Was vermag die Analyse von Einzelfällen, von biografischen Aneignungen von Dingen dem noch hinzuzufügen? Zunächst realisiert und reproduziert jeder Lebenslauf die kulturelle Aneignung von Dingen. Unser individueller Dinggebrauch ist also immer zugleich an die Vorgänge, wenn man so will, höherer Ordnung gekettet: Jedes Individuum muss gewissermaßen bestimmte Formen des Dinggebrauchs »mitleben«15; die Digitalisierung ist so eine Entwicklung, der man sich im Grunde nicht entziehen kann. Es ist aber nicht nur der Dinggebrauch selbst, der nachvollzogen wird, auch die damit verbundenen sozialen Bilder und Zuordnungen zu Gruppen, Schichten oder exklusiven Kreisen werden im Dinggebrauch inszeniert und Zugehörigkeiten oder Abgrenzungen untermauert. Dennoch kann das Individuum die Gegenstandsbeziehungen individuell interpretieren; das sehen wir zum Beispiel bei dem Buch »Farm der Tiere«. Dieser Umstand weist auf einen Spielraum des persönlichen Verhaltens und Interpretierens hin und hier wird es interessant, wenn es um biografische Objekte geht. »So können individuelle Aneignungsgeschichten«, konstatiert Gert Selle, »sich partiell dem Druck allgemeiner industriegeschichtlicher Zumutungen entziehen oder sich ihnen bereitwillig öffnen; sie können gegen ein soziales Aus142

15  Ebd., S. 29.

drucksinteresse opponieren oder sich ihm aktiv unterordnen.«16 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Ebene der lebensgeschichtlichen Dinganalysen ihre Relevanz. Ich möchte diese sich verschränkenden Ebenen an einem letzten Beispiel andeuten. Sabine R.s »Kaufmannsladen« Sabine ist 38 Jahre alt. Zur Zeit der Wende war sie elf. Die DDR hat sie ausschließlich als Kind erlebt. Aus dieser Zeit besitzt sie noch einige Objekte. Sabine hat einen sehr reflektierten Umgang mit ihren Dingen, das Sprechen darüber fällt ihr nicht schwer. Ihr wichtigstes Überbleibsel aus der Kindheit ist ein Kaufmannsladen, ein Spielzeug, das bis heute als Klassiker gilt.17

16  Ebd. 17  Vgl. hierzu Manfred Bachmann, Wolfram

Metzger: Vom Marktstand zum Supermarkt. Der Kaufladen in Puppenwelt und Wirklichkeit. Katalog zur Ausstellung des Badischen Landesmuseums im Schloss Bruchsal, Karlsruhe 1992. 18  Selle, Produktkultur, S. 34. 19  Wobei die Marke Persil im VEB Wasch-

mittelwerk Genthin auch in der DDR weiterhin produzierte, was seinen Niederschlag auch in kleinen Persilpackungen für den Spielgebrauch fand. vgl. Jörg Bohn: Spielzeugkaufläden der Nachkriegszeit, http://www.puppenhausmuseum.de/text-1.html, letzter Zugriff: 07.05.2018. 20  SuRalin war eine Knetmasse, die sich durch

Aushärtung im Ofen zu lang haltbaren Formen oder Figuren ausformen ließ, herstellender Betrieb war der VEB Spielwaren Waltershausen. Eine ganze Palette an Do-it-yourself-Spielfiguren, etwa Nachbildungen für westliche Brettspiele wie Monopoly oder Saga-Land, zeugt vom Potenzial des Materials für Manifestation und Kompensation nicht verfügbarer Konsumwünsche im Alltag. Vgl. Sebastian Wenzel: ­Ge­sellschaftsspiele in der DDR. Auferstanden aus Kopien, Spiegel Online vom 21. ­Oktober 2011, http://www.spiegel.de/einestages/gesellschaftsspiele-in-der-ddr-a-947364.html, letzter Zugriff: 07.09.2018.

Der Kaufmannsladen ermöglicht eine kulturelle Erfahrung par excellence. Er ist eines der frühsten symbolischen Spiel-Werkzeuge, um Konsum als gesamtgesellschaftliches Verhalten einzuüben. Dabei wird das Produktrepertoire aktualisiert an die Gesellschaftsformen angepasst. Es gehört zum Kern der Kaufmannsläden, dass sie in Miniatur die reale Produktwelt kopieren, um möglichst eins zu eins auf den echten Kaufakt vorzubereiten. Auf der Ebene der industriellen Epochen-Matrix, wie Gert Selle sie nennt, bedeutet Aneignung hier also »gesellschaftliche Einverleibung im Sinne von Verkörperung und Bewußtsein des historischen Standes der Werkzeugentwicklung«.18 Das heißt hier, das Einkaufen und das Bezahlen mit Geld an einer Kasse wird als die gesellschaftlich anerkannte Form der Produktaneignung definiert und spielerisch konsolidiert. Auf der Ebene der sozialen Ingebrauchnahme wird die Nutzung aus der Sicht konkurrierender Klassen, Schichten und Gruppierungen realisiert. Das trifft auch beim Kaufmannsladen zu. Er war in der DDR ein Standardspielzeug mit den üblichen Ostprodukten wie Ata, Spee und Riesaer Nudeln, konnte aber zum Beispiel durch Westprodukte ergänzt werden, etwa Persil-Packungen.19 In Sabines Fall erweiterten die Eltern die Produktpalette durch Bananen und Apfelsinen, die sie selbst aus Suralin20, einem dem westdeutschen Fimo vergleichbaren Knetstoff, bastelten, obwohl es sie im realen Handel nur selten gab. Auch im Kinderzimmer wurde durch die Eltern also eine Konsumnorm formuliert, die im Widerspruch zur konkreten Wirklichkeit in der Gesellschaft stand. Schließlich ermöglicht der Kaufmannsladen auch den Einbau in die unverwechselbar einmalige Erfahrungsbiografie des Individuums. Der Gebrauchswert besteht hier in der individuellen Interpretation einer Sache als persönliches Lebensmittel. Für Sa143

bine teilt sich ihre Erfahrung in eine Zeit, in der sie das Spielzeug konkret nutzte, und die heutige, in der, wie sie sagt, der Kaufmannsladen neben ihrer Puppe Mareike »eingesargt« in der Abstellkammer liegt. »Wenn sich Objekte von mir trennen, macht mir das Schmerzen, dann denk ich, bleiben sie bitte lieber in der Kammer und gut.«21 Der Kaufmannsladen hat für sie in erster Linie einen Erinnerungswert. Er bildet eine Brücke zu ihren heute getrennt lebenden Eltern, die in seinen Ausbau gemeinsame Arbeit gesteckt haben, und steht für die Zeit, als ihre Familie noch intakt war. Darüber hinaus ist der Kaufmannsladen anhand der Produktkultur sichtbarer Zeuge für ihre DDR-Sozialisation.

Objekt: Konsumsozialisation und Familiending: der Kaufmannsladen (Foto: Stephanie Neumann).

Schlussbemerkung Biografische Dinge, die Untersuchung der individuellen Gebrauchsaneignungen im Lebensverlauf also, können einen Beitrag zur Erforschung der materiellen Kultur in ihrer historischen Entwicklung leisten. In den Einzelfällen reichert sich ein über das isolierte Erleben hinausreichendes Erfahrungsmaterial an, das, obwohl es aus einer Ich-Geschichte der Ingebrauchnahme stammt, doch zugleich ein Echo auf die industrielle und soziale Matrix darstellt. Es bleibt die große Herausforderung der geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, die Verzahnung dieser Ebenen so herauszuarbeiten, dass erkennbar wird, welche Wucht die Materialität 144

21  Interview v. 21. April 2015.

des Alltags entwickeln konnte und kann und dass man gut daran tut, die Dinge nicht aufgrund ihrer gelegentlichen Beiläufigkeit und angeblichen Banalität zu unterschätzen. In dem je individuellen Modus, mit dem der Einzelne mit dem Alltagsding umgeht, mit der Art und Weise, wie er es in sein Leben einbindet, gebraucht, deutet und im Zeitverlauf umwidmet und neu aneignet, stößt er zugleich auf eine konkrete historische Situation, die ihm Wahrnehmungen, gesellschaftliche Beziehungen, Gebrauchsmuster »abverlangt«. Vor diesem Hintergrund bleibt die Diagnose von Sigfried Giedion hilfreich, dass »in ihrer Gesamtheit […]« gerade »die bescheidenen Dinge unsere Lebenshaltung bis in ihre Wurzeln erschüttert«22 haben. Biografische Dinge können darüber hinaus vertiefte Kenntnisse über Biografien und die Veränderung ihrer Muster liefern, denn sie repräsentieren jene Aspekte einer Biografie, insbesondere des Konsums und der alltäglichen Lebenswirklichkeit, die von lebensgeschichtlich interviewten Personen selten ausformuliert werden, weil sie ihnen zu banal erscheinen. Zugleich können Dinge Erzählauslöser für eher unbewusste Teile der Biografie, sogenannte »hidden biographies«, sein. Sie stehen manchmal sogar für das, was noch nicht gesagt werden kann oder will. Mit den Dingen kommt so unter anderem das Unbewusste in die biografische Erzählung; es liegt nicht im Ding selbst, sondern offenbart sich im Umgang mit dem Ding, dem Ort, an dem es aufbewahrt wird, und dem, was darüber erzählt oder eben auch nicht erzählt wird.

22  Sigfried Giedion: Die Herrschaft der

Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt am Main 1982, S. 20.

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MENSCHEN UND DINGE IM BÜRO ZUR RATIONALISIERUNG DER ANGESTELLTEN IN DEN 1920ER JAHREN ANNE SCHMIDT

However, I will press the argument in another way by saying that, analytically, what counts as a person is an effect generated by a network of heterogeneous, interacting, materials. […] It says [the argument, A. S.] that people are who they are because they are a patterned network of heterogeneous materials. If you took away my computer, my colleagues, my office, my books, my desk, my telephone I wouldn’t be a sociologist writing papers, delivering lectures, and producing ›knowledge‹. I’d be something quite other – and the same is true for all of us. So the analytical question is this. Is an agent an agent primarily because he or she inhabits a body that carries knowledge, skills, values, and all the rest? Or is an agent an agent because he or she inhabits a set of elements (including, of course, a body) that stretches out into the network of materials, […] that surrounds each body?1

1  John Law: Notes on the Theory of the

Actor-Network: Ordering, Strategy, and Heterogeneity, in: Systems Practice 5 (1992), H. 4, S. 379–393, hier S. 383 f. 2  Law, Notes, S. 385 f. Einführend zu

verschiedenen Subjekttheorien: Wiebke Wiede, Subjekt und Subjektivierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 10. Dezember 2014, http://docupedia.de/ zg/wiede_subjek_v1_de_2014, DOI: http:// dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.572.v1; sowie: Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2007. 3  Zum Handlungskonzept der ANT siehe

Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Berlin 2010, S. 81 ff.; A. Mol: Actor-Network Theory: sensitive terms and enduring tensions, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 50, S. 253–269.

Das Zitat stammt von dem britischen Soziologen John Law. Pointiert fasst er zusammen, wie Vertreter der Akteur-NetzwerkTheorie (ANT) menschliche Akteure konzipieren. Auf Abstand geht Law gegenüber zwei Subjektkonzeptionen: Zum einen distanziert er sich von Entwürfen, die den Menschen per se als ein autonomes, handlungsfähiges und mit einem rationalen Wesenskern ausgestattetes Subjekt begreifen. Zum anderen grenzt er sich von kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien ab, die Akteure als relativ stabile, fest umgrenzte, individuelle Personen fassen, deren Verhaltensweisen durch vorgängige soziale Strukturen bestimmt oder determiniert werden.2 Akteure, so schlägt Law stattdessen vor, sollten – zu heuristischen Zwecken – als hybride Entitäten betrachtet werden, die in heterogenen Netzwerken hergestellt und durch diese in ihren Rollen fixiert und stabilisiert werden. Menschliche Akteure, das ist eine Grundannahme der ANT und anderer ähnlicher Ansätze, sind auf die Kompetenzen einer Vielzahl von Dingen angewiesen, um Handlungen, einschließlich ihrer reflexiven, Bedeutung produzierenden Dimensionen, vollziehen zu können. Der Umkehrschluss lautet nun nicht, dass Dinge eigenständig handeln. Handlungen werden vielmehr durch ein komplexes Zusammenspiel von Menschen und Dingen ermöglicht. Sie werden durch hybride Kollektive und Netzwerke hervorgebracht.3

Diese Überlegungen aufgreifend, möchte ich im Folgenden analysieren, wie in deutschen Büros in den 1920er Jahren rationelles Arbeiten durchgesetzt und effiziente Angestellte hergestellt werden sollten, und damit der Frage nachgehen, wie sich zeitgenössische Rationalisierungsprogramme im Büro materialisierten. Zunächst gehe ich knapp auf die Geschichte der Büroarbeit und auf die Geschichte der Rationalisierungsprogramme ein. Anschließend wird das Büro als ein sozio-technisches Arrangement untersucht, in dem und durch das Menschen als gut organisierte, produktive und effiziente Angestellte in Erscheinung treten sollten. Abschließend wird es um einige weitere Effekte der und Reaktionen auf die Rationalisierungsmaßnahmen gehen. Büroarbeit Büroarbeit war um 1900 nichts Neues. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert lassen sich in den westlichen Industriegesellschaften jedoch Entwicklungen beobachten, die die Büroarbeit entscheidend veränderten, mit nachhaltigen Auswirkungen für und auf die dort Beschäftigten.4 Die Büroarbeit nahm in diesem Zeitraum stark zu, nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, sondern auch in der Privatwirtschaft. Die Anzahl der in den Büros Beschäftigten multiplizierte sich und wuchs prozentual rascher als die der Arbeiter.5 Parallel dazu veränderten sich die Arbeitsverhältnisse: Die überschaubaren, engen personalen Bindungen wurden, wenngleich nicht überall und nicht stets im gleichen Ausmaß, ersetzt durch eine Vielfalt von Beziehungen und durch komplexe Hierarchien. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Handlungsgehilfen noch wie die Lehrlinge in den Familienverband aufgenommen worden, wo sie Kost, Logis und eine Beihilfe zur Existenz erhielten. Sie begriffen sich als Angehörige des kaufmännischen Standes und betrachteten ihre abhängige Stellung als eine Station auf dem Weg zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit. Für die Angestellten traf dies nicht mehr zu. Sie waren und blieben in der Regel abhängig Beschäftigte, die allenfalls Aufstiegshoffnungen hegten.6 Damit nicht genug: Das Büro wandelte sich von einem Ort, an dem Männer arbeiteten, zu einem Ort, an dem immer mehr und schließlich überwiegend Frauen arbeiteten. Und schließlich avancierten die Büroarbeit und die Büroangestellten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand betriebswissenschaftlicher Forschungen und vielfältiger Rationalisierungsmaßnahmen – Entwicklungen, die die Arbeit im Büro nachhaltig veränderten und erhebliche Folgen für die Angestellten hatten.7

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4  Als einführender Überblick: Hans Joachim

Fritz: Menschen in Büroarbeitsräumen. Über langfristige Strukturwandlungen büroräumlicher Arbeitsbedingungen mit einem Vergleich von Klein- und Großraumbüro, München 1982 5  Die Zahl der in der Industrie und im Handel

beschäftigten Verwaltungskräfte verfünffachte sich von 1882 bis 1907. Vgl. dazu: Hans Speier: Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 1918–1933, Göttingen 1977. 6  Speier, Angestellte, S. 22, macht darauf

aufmerksam, dass wenige Jahre vor der Jahrhundertwende noch fast die Hälfte der männlichen Verkäufer freie Station hatte. Dazu auch: Fritz, Menschen, S. 69–93. 7  Zu den Veränderungen auch: Delphine

Gardey: Culture of Gender, and Culture of Technology. The Gendering of Things in France’s Office Spaces between 1890 and 1930, in: Helga Nowotny (Hg.): Cultures of Technology and the Quest for Innovation, New York u. a. 2006, S. 73–94, hier S. 73–74.

Rationalisierungsprogramme und die Rationalisierung des Büros in den 1920er Jahren Auch Rationalisierungsdebatten und Rationalisierungsverfahren waren um 1900 nichts Neues.8 Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde die Frage, wie sich durch betriebsorganisatorische Maßnahmen Kosten einsparen ließen, intensiver diskutiert. Durch den Aufbau »rationeller Betriebe« sollten Industrieund Handelsunternehmen, aber auch Handwerksbetriebe in die Lage versetzt werden, sich angesichts des scharfen Wettbewerbs und unbeständiger wirtschaftlicher Entwicklungen behaupten zu können.9 Anders als in den USA, wo die Diskussionen anderthalb Jahrzehnte später einsetzten und sich dann auf die Arbeitsund Werkstattorganisation konzentrierten, befasste sich die frühe deutsche Rationalisierungsliteratur vorrangig mit der Gesamt­ organisation der Unternehmen.10 Die Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre setzte unter dem Einfluss von Taylorismus, Fordismus, angewandter Psychologie und Arbeitswissenschaft ergänzende Schwerpunkte: Das Interesse konzentrierte sich jetzt vorrangig auf Verfahren zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Arbeitskraft und der Arbeitsmittel.

8  Philipp Sarasin: Die Rationalisierung des

Körpers. Über »Scientific Management« und »biologische Rationalisierung«, in: Michael Jeismann (Hg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt am Main 1995, S. 78–115, hier S. 81. 9  Ein frühes Beispiel aus dem Einzelhandel:

Johannes Iversen: Die deutsche Charkuterie, Wurst- u. Fleischwaren-Fabrikation. Kurzgefaßtes Handbuch des rationellen Betriebs, Leipzig 1888. Zu den strukturellen wirtschaftlichen Entwicklungen und zur Wahrnehmung der Krisenhaftigkeit: Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Dritter Band: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 547–610. 10  Jürgen Kocka: Industrielles Manage-

ment: Konzeptionen und Modelle in Deutschland vor 1914, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56 (1969), H. 3, S. 332–372. 11  Philipp Sarasin hat auf Unterschiede in

den Rationalisierungsprogrammen und -verfahren aufmerksam gemacht. Während für Ford die Rationalisierung der Arbeitsabläufe vorrangig war, spielte für Taylor und die Arbeitsphysiologen die Rationalisierung der Körper der Angestellten eine wichtige Rolle. Sarasin, Rationalisierung, S. 85–93.

Die neueren Rationalisierungskonzepte erörterten, wie Arbeitsabläufe etwa durch Arbeitsteilung im Büro optimiert werden konnten. Mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wurde in den 1920er Jahren der Frage geschenkt, wie sich Körper und »Seele« der Büroangestellten mithilfe gestalteter Räume und diverser Artefakte so organisieren ließen, dass die Angestellten als rationelle Arbeitssubjekte in Erscheinung treten konnten.11 An der Wissensproduktion wie an der Vermittlung der verschiedenen Rationalisierungsprogramme arbeiteten neben Ingenieuren, Psychologen und Arbeitswissenschaftlern viele andere Akteure mit: »Efficiency«-Berater informierten über Rationalisierungsmaßnahmen zur Steigerung der Effektivität und Effizienz der Angestellten. Diese Literatur, geschrieben für leitende Angestellte oder leitende Beamte, aber auch für Eigentümer kleinerer und mittelständischer Unternehmen, vermittelte praxisnah die Erkenntnisse der Psychologen und Arbeitswissenschaftler. Handbücher und neu gegründete Branchen- wie Bürofachzeitschriften taten dasselbe. Sie informierten ferner über die neuesten Büromöbel, Büromaschinen und andere Büroutensilien. Diese wurden wiederum von einer Vielzahl von Büroausstattungsunternehmen hergestellt und in Warenkatalogen angeboten, die einmal mehr die Notwendigkeit der Rationalisierung begründeten und erläuterten, wie sie gelingen könne. Welche Empfehlungen sprachen die Experten nun aus? Wie sollte das »ideale Büro«, das effizientes Arbeiten ermöglichen und rationelle Angestellte hervorbringen sollte, aussehen? 149

Konsens bestand unter zeitgenössischen Büroexperten zunächst darüber, dass ein »rationelles Büro« in eigens dafür eingerichteten Räumen untergebracht werden müsse. Die oft engen, dunklen, verstreut, meist in behelfsmäßigen Gebäuden wie Lagerhallen beherbergten, mit ausrangierten Möbeln notdürftig eingerichteten Büroräume sollten exakt kalkulierten und planmäßig arrangierten Arbeitsplätzen weichen.12 Einstimmigkeit herrschte auch darüber, dass im eigentlichen Büro, in dem »denkende Arbeit« verrichtet wurde, Ruhe herrschen müsse. Deshalb empfahlen die Experten, die besser qualifizierten Angestellten in anderen Räumen unterzubringen als die »billigen, oberflächlichen und halbausgebildeten Mädchen«, die mechanisch an Schreibmaschinen arbeiteten. Durch diese Maßnahme sollte sichergestellt werden, dass die »mittleren Kräfte« nicht durch »das Getöse von Zungen und Metallteilen« gestört wurden.13 Die »mittleren Kräfte« wiederum sollten nach Möglichkeit alle in einem Raum, dem eigentlichen Büro, zusammengefasst werden, in dem sie nicht laut sprechen, auffällig lachen oder mit den Türen werfen durften.14 Diese Großraumbüros, die mal mehr, mal weniger groß waren, wurden, vorausgesetzt, die Betriebsleitung erwies sich nicht als beratungsresistent, hell gestrichen. Für die Decken empfahlen die Experten ein Schneeweiß und für die Wände ein »lichtes, frohes Gelb«. »Genügend Arbeitslampen« und möglichst viele große Fenster sollten Licht in die Büros bringen. Die großen Fenster, »[g]eriffeltes Fensterglas (damit niemand hinaussehen kann)« wurde empfohlen, ermöglichten zudem ein ständiges Lüften.15 Knarrende Dielen wurden durch Linoleumböden ausgewechselt. Gummimatten oder Kokosläufer verhinderten ablenkende und damit störende Nebengeräusche.16 Die Arbeitsplätze wurden so gruppiert, dass Angestellte, deren Tätigkeiten direkt aneinander anschlossen, in unmittelbarer Nähe zueinander platziert wurden. Kurze Wege, so nahm man an, sparten Zeit, störten den Arbeitsfluss nur geringfügig und verhinderten Unruhe.17 Kurze Wege, helle Räume, gute Beleuchtung und frische Luft sollten der Bequemlichkeit dienen, die aufgrund neuester arbeitsphysiologischer Erkenntnisse für ungemein wichtig erachtet wurde. Physiologische und psychologische Tests hatten gezeigt, dass Unbequemlichkeiten am Arbeitsplatz »Unlust« evozierten und die »Arbeitsfreude« stark beeinträchtigten. Diese, so bestätigten Psychologen, sei jedoch für die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Angestellten überaus wichtig. Unbequemlichkeiten würden die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Arbeit ablenken und damit ein konzentriertes Arbeiten erschweren. Unbequemlichkeiten hätten zur Folge, dass die Angestellten mehr »Kraft« und »Energie« aufwenden müssten, 150

12  Karp Wallon: Kontormaschinen. Hand-

buch der neuzeitigen maschinellen Hilfsmittel und ihrer Verwendung im Kontor, Stuttgart 1922, S. 1 f.; Carl Schnell-Koch: Neuzeitliche Bureau-Organisation, in: Die Reklame (1925), Sonderheft Das Büro, S. 33–36; Herbert N. Casson: Das ideale Büro, Berlin 1928, S. 11 f.; Hans Peter Treichler: Vom Kontor zum Office, in: NZZ Folio, Oktober 2003, S. 33–40; Delphine Gardey: Männliche Räume – weibliche Räume: Die Entwicklung der Büroarbeit 1850–1940, in: Herbert Lachmayer, Eleonara Louis (Hg.): Work & Culture. BÜRO – Inszenierung von Arbeit, Klagenfurt 1998, S. 51–56, hier S. 51; Johanna Hofbauer: Raum als geronnenes Denken. Büroorganisation vom Fabrikmodell zur Kulturlandschaft, in: ebd., S. 303–309. 13  Casson, Büro, S. 17 f. Zur Klassifizierung

der Angestellten: Fritz Giese: Menschen­ behandlung beim Büropersonal, in: Werksleiter (1928), H. 5, S. 146–150. Deutlich wird hier, dass die Angestellten keine homogene Gruppe waren. Zur »Vielfalt der Angestellten«: Speier, Angestellte, S. 22–43. 14  Casson, Büro, S. 11. 15  Ebd., S. 12; Teuber-Ost: Raum, Möbel und

Werbung, in: Die Reklame (1925), Sonderheft Das Büro, S. 36 f.; Giese, Menschenbehandlung, S. 148 (zum geriffelten Fensterglas). 16  Casson, Büro, S. 13; Teuber-Ost, Raum, S. 36. 17  Casson, Büro, S. 11 f.

um sich zu disziplinieren und aufmerksam ihre Arbeit zu verrichten. Diese zusätzliche Kraftaufwendung ließe sie schneller ermüden und minimiere das Leistungsvermögen der Angestellten. Ermüdung und verringertes Leistungsvermögen würden sich wiederum negativ auf die »Arbeitsfreude« auswirken.18 »Energetisches Denken«, Überlegungen zur Umwandlung, zum Erhalt und zum Verbrauch von Energie, und damit Wissen aus der Physik prägte den Blick auf den Menschen und bestimmte die Rationalisierungsdiskurse der 1920er Jahre. Es galt, die »Kraft« oder die »Energie« der Arbeitssubjekte nicht übermäßig zu beanspruchen, sie nicht zu »vergeuden«, denn, so lehrte die Thermodynamik, sie war nicht erneuerbar.19

18  Teuber-Ost, Raum. Dazu mit Blick auf die

Arbeiterschaft Sabine Donauer: Emotions at Work – Working on Emotions: The Production of Economic Selves in Twentieth-Century ­Germany, Diss. FU Berlin 2013, http://www. diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_ 000000100445, letzter Zugriff: 20.10.2017. 19  Zum Einfluss der Thermodynamik auf die

Rationalisierungsdebatten: Anson Rabinbach: Ermüdung, Energie und der menschliche Motor, in: Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, S. 286–312. Deutlich wird hier auch, dass schon für die Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre der »Mensch im Mittelpunkt« stand und dem »Faktor Mensch« nicht erst durch das Personalmanagement der Nachkriegszeit Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dazu: Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014. 20  Anonymus: Messebericht über die

»Staro«-Metallwarenfabrik G.m.b.H., Berlin N 65, Müllerstraße 151, in: Büro-Bedarf-Rundschau 20 (1927), S. 199. Zu ergonomischen Stühlen und der Büroarbeit heute siehe die instruktive Studie von Robert Schmidt: Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012, S. 130–152. 21  Casson, Büro, S. 14. 22  Ebd., S. 13.

Große, helle und ruhige Räume reichten nicht aus, um ein Büro zu einem »idealen Büro« zu machen, das effiziente Angestellte produzierte. Ergonomische Sitzmöbel, die auf der Grundlage arbeitswissenschaftlicher Studien dem Körper der Angestellten angepasst wurden, hielten die Angestellten zu einer »vorbildlichen, rationalisierten, hygienisch günstigen und bequemen Körperhaltung« an und sollten so Konzentration befördern, einem vorzeitigen Ermüden entgegenwirken und »Arbeitsfreude« bestärken.20 Die hohen Stehpulte, die in den älteren Büros oft Rücken an Rücken aufgestellt worden waren, wurden spätestens in den 1920er Jahren durch flachere Schreibtische ersetzt. Herbert Casson, ein auch in Deutschland viel gelesener »Efficiency«-Berater, erläuterte, warum: »Sie [die hohen Stehpulte, A. S.] verführen zu sehr zur Unterhaltung da die Leute einander gegenübersitzen, und die Schübe sind allzugut geeignet mit allerlei Papierchen und Überbleibsel gefüllt zu werden.«21 Die Stehpulte untergruben offensichtlich Rationalisierungsabsichten und mussten deshalb die Büros verlassen. Die modernen, flachen Schreibtische wurden paarweise nebeneinander platziert. Durch die Anordnung der Tische wurden die Körper der Angestellten so arrangiert, dass diese in einer von ihren Arbeitskollegen abgewandten Haltung arbeiteten. Schreibtischaufsätze fixierten die Körper zusätzlich. So sollte unterbunden werden, dass die Angestelltenkörper – etwa durch Blickkontakt – kommunikative Signale absonderten, die die Aufmerksamkeit der anderen erregten, wodurch, so hieß es, »Gedankensammlung« gestört werde und die Güte und Menge der Arbeit hinter dem Möglichen zurückbleibe.22 Breite Durchgänge zwischen den Schreibtischpaaren erlaubten ein müheloses und wenig störendes Durchschreiten des Büros. Zusammen mit der Beleuchtung und der Anordnung des Mobiliars stellten sie Sichtbarkeit her. Diese versetzte die Geschäftsführung oder den Bürovorstand in die Lage, 151

die Arbeit der Angestellten mühelos zu überwachen.23 Die durch An- und Verordnungen hergestellte Übersichtlichkeit und die mithilfe diverser Artefakte hergestellte Ruhe im Büro erleichterten es den Vorgesetzten zudem, sich, wenn nötig, Aufmerksamkeit zu verschaffen. Im modernen Büro ließen sich mühelos Anweisungen erteilen. Entscheidender war jedoch, dass es dieses sozio-technische Arrangement erlaubte, einzelne Angestellte vor allen Augen zu tadeln oder zu loben. Das für alle vernehmbare Loben, das in dieser Form nur im modernen Büro möglich war, sollte den Wettbewerb anregen, den persönlichen Ehrgeiz jedes Einzelnen anstacheln und auf diese Weise ebenfalls zur Optimierung der Arbeitsergebnisse beitragen.24 Diverse zusätzliche Dinge zogen in den 1920er Jahren, und zum Teil schon früher, in die Büros ein, um die Leistungsfähigkeit und Effizienz der Büroangestellten zu erhöhen. Sie wurden fortwährend weiterentwickelt und immer neue Erfindungen kamen auf den Markt. Deshalb gingen einzelne Verlage dazu über, statt gebundener Handbücher Leitfäden für Büroeinrichtungen in Karteiform herauszubringen, da man diese schnell und günstig aktualisieren konnte.25 Neben unterschiedlichen Schranksystemen vervollständigten Büromaschinen und Organisationsgeräte die Ausstattung. Rechen-, Statistik-, Kopier- und Adressiermaschinen, Registrierkassen und Geldzählgeräte, Rohr- und Seilpostanlagen, Förderbänder und Aktenaufzüge, schallgedämpfte Telefonzellen, »ohne Polsterung und deshalb hygienisch einwandfrei«, sowie Zeitkontrollapparate gehörten dazu. Bleistifte und Notizblöcke, »Augenblickshilfen für die Festhaltung von Ideen«, moderne, sparsame und materialschonende Bleistift-Anspitzer, die das mühselige, zeitaufwendige und die Hände beschmutzende Spitzen mit dem Messer überflüssig machten, Anfeuchter und Büroklammern hatten auf vielen fortschrittlichen Bürotischen im wahrsten Sinne des Wortes einen festen Platz. Tages-, Wochen- und Monatsmappen hielten, bei vorschriftsgemäßem Gebrauch, die Angestellten an, pünktlich ihre Aufgaben zu erledigen. Briefkörbe und Vorordner, Ringordner und Schnellhefter ermöglichten eine zuverlässige und effiziente Erledigung der Geschäftskorrespondenz. Flexible Loseblattbücher ersetzten die alten fest gebundenen Geschäftsbücher und ermöglichten ein flexibleres Arbeiten. Buchführungssysteme, mit programmatischen Namen wie Taylorix, hielten Einzug in das moderne Büro.26 Für unverzichtbar hielten die Effizienz- und Unternehmensberater schließlich die Kartei, die in den 1920er Jahren in allen größeren Büros zu finden war.27 Ohne ihre Mitarbeit, so hieß es, könnten »Wurstelroutinen« im Büro nicht überwunden wer152

23  Ebd., S. 11 f. 24  Zur Funktion des Lobens und Aus-

zeichnens: Casson, Büro, S. 85–88; Giese, Menschenbehandlung, S. 149 f; zum Loben und zum kompetitiven Führungsstil allgemein Speier, Angestellte, S. 178, Anm. 26. 25  Ludwig Brauner: Illustriertes Büroma-

schinen-Dauer-Lexikon in Kartothekform und Bezugsquellen-Kartei für Organisations-Geräte, Berlin 1927, Kartei II. 26  Zum System Taylorix speziell: Brauner,

Illustriertes Büromaschinen-Dauer-Lexikon, Kartei 6/5; zu den vielfältigen Bürodingen und Büromaschinen ders. sowie Wallon, Kontormaschinen. 27  Brauner, Illustriertes Büromaschinen-Dauer-­

Lexikon, Kartei 18, der auch einen Überblick über die verschiedenen Systeme bietet.

Anzeige »doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen!« aus: Büro-Bedarf ­Rundschau 20 (1927), H. 8, o. S.

den.28 Besonders gebräuchlich waren Blockkarteien (Flach- oder Staffelkartei). Sie bestanden in der Regel aus Registerkarten sowie normierten, festen Karteikarten, die vorschriftsmäßig beschriftet werden sollten, meist gelocht waren, mit einer Eisenstange zusammengehalten und in Karteikästen aufbewahrt wurden. Karteien wurden für diverse Zwecke angelegt: In den Büros größerer Firmen waren Geschäfts-Karteien, Personal-Karteien, Kunden-Karteien, Adress-Karteien, Bezugsquellen-Karteien und Lager-Karteien üblich. Diese konnten bei regelkonformem Gebrauch vieles: Sie erfassten mithilfe der Angestellten Daten. Karteien befähigten dazu, Unmengen an Informationen und an Dingen zu ordnen, diese zu erinnern und ohne Zeitverzögerung zu finden. Sie verschafften Übersicht und erlaubten Kontrolle, sie unterstützten Berechnungen und sie stellten für diverse Planungsprozesse die notwendigen Informationen zuverlässig zur Verfügung.

28  Casson, Büro, S. 38.

Die Kartei, in der sich – wie in vielen anderen Dingen auch – zeitgenössische Rationalisierungsprogramme materialisierten und durch die diese Programme vermittelt wurden, konnte offensichtlich vieles. Aber sie konnte es nicht allein. Ebenso wenig konnten die Büroangestellten ohne die Kompetenzen der Kartei den Rationalisierungsanforderungen entsprechen und als gut organisierte, tüchtige, aufmerksame, leistungsfähige und effiziente Subjekte in Erscheinung treten. Erst in ihrer Verbindung war es Artefakten und menschlichen Akteuren möglich, die Programme zu realisieren. In den Verbindungen blieben die Akteure wie die Arte153

Anzeige »Inhand-Sichtkartei«, aus: Büro-Bedarf Rundschau 20 (1927), H. 10, o. S.

fakte allerdings nicht unverändert: Durch die Verbindungen von Artefakten und menschlichen Akteuren entstanden temporär neue Körper mit erweiterten Fähigkeiten, etwa Angestellte mit einem externalisierten Supergedächtnis, der Kartei. In den Verbindungen wurden darüber hinaus die Artefakte wie die menschlichen Akteure selbst modifiziert. Die Handhabung der Kartei zum Beispiel erforderte, aufgrund der materialen Struktur des Artefakts, von den menschlichen Akteuren verschiedene Anpassungen. Während das gebundene Geschäftsbuch einen sequenziellen Zugriff nahelegte, empfahl die Kartei eine übergeordnete Perspektive, eine überschauende Draufsicht, so der Kulturwissenschaftler Markus Krajewski.29 Der Umgang mit der Kartei beanspruchte ferner eine auf das Artefakt abgestimmte Motorik. Schließlich erzwang die Handhabung einmal mehr die Fokussierung der Aufmerksamkeit und damit eine spezifische Disziplinierung der Wahrnehmung und des Denkens. Durch den sich kontinuierlich wiederholenden Umgang mit der Kartei sollte diese Kompetenz, die Fähigkeit, Aufmerksamkeit herzustellen und längere Zeit zu fokussieren, eingeübt und Routine werden. Effekte und Reaktionen Dass mit der Rationalisierung der Büroarbeit, dem Einzug der Maschinen und anderer Artefakte in die Büros eine Entwertung der Arbeit einherging, haben bereits historische Akteure diskutiert, gefürchtet und kritisiert. Und sie haben auch schon be154

29  Markus Krajewski: Zettelwirtschaft.

Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, Berlin 2002, S. 152.

obachtet, dass im Zuge dieser Entwertung die Büroarbeit immer häufiger von Frauen übernommen wurde.30 Die historische Forschung schloss sich dieser Interpretation weitgehend an.31 Die Historikerin und Soziologin Delphine Gardey hat kritisiert, dass die Darstellungen zu einer technikdeterministischen Perspektive und zu starken Verkürzungen neigen. Sie unterstellen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Entwicklung und Implementierung neuer Technologien einerseits und sozialen Veränderungen andererseits. Weil die Mensch-Ding-Interaktionen, in denen Menschen wie Dinge sich wechselseitig ermächtigen und Kompetenzen entfalten, nicht in den Blick genommen werden, erscheint die Technik als die eigentlich treibende Kraft des sozialen Wandels. Eine solche Interpretation versäumt es aber, die Rolle technischer Objekte bei der Formung von Verhaltensweisen, von sozialen Rollen und des Sozialen genau zu verstehen. Gardeys Untersuchungen zeigen, dass mit der Implementierung neuer Technologien keineswegs per se eine Entwertung der Arbeit verbunden war. Anhand der Geschichte der Rechenmaschine, des Telefons oder des Diktiergeräts macht sie deutlich, wie Maschinen im Verlauf ihrer Implementierung zu »›boss’s‹ technologies« avancierten, die Kapazitäten von Personen (sprich Männern) in leitender Stellung erweiterten, so dass diese ihre Führungsfunktionen effizienter ausüben konnten.32

30  Giese, Menschenbehandlung;

Speier, Angestellte, S. 66–74. 31  So etwa Fritz, Menschen, u. a. S. 95–122. 32  Vgl. Gardey, Culture. 33  Zum Konzept des Eigensinns einführend:

Thomas Lindenberger: Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2. September 2014, http://docupedia.de/zg/lindenberger_eigensinn_v1_de_2014, DOI: http://dx.doi. org/10.14765/zzf.dok.2.595.v1. Zum Wandel der Bedeutungen von Artefakten im Prozess ihrer Aneignung und zum nichtintendierten Gebrauch von Artefakten siehe u. a. Paul du Gay, Stuart Hall, Linda Janes, Hugh Mackay, Keith Negus: Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London 1997. 34  Zum Schreibtisch als Papierkorb

sowie zu Anpassungen und Kontrollen: Casson, Büro, S. 13 f., 51–54.

Nimmt man die Kritik an technikdeterministischen Interpretationen ernst, liegt es nahe, nicht von vornherein davon auszugehen, dass die oben beschriebenen Rationalisierungsprogramme ohne Anpassungen realisiert werden konnten und die neuen Artefakte immer so gebraucht wurden, wie es den Intentionen der Entwickler, der Produzenten oder der Geschäftsführung entsprach (deren Absichten wiederum nicht immer übereinzustimmen brauchten). Man muss nicht lange suchen, um in den Quellen Hinweise zu finden, die »Eigen-Sinn« erkennen lassen und die Vermutung nahelegen, dass die Dinge mitunter auf »nichtintendierte« oder sogar »oppositionelle« Weise benutzt wurden.33 Ein solcher Gebrauch, etwa die Nutzung des Schreibtisches als »Papierkorb«, konnte wiederum zur Folge haben, dass sozio-technische Arrangements modifiziert, Schreibtische zum Beispiel ohne Schranktüren produziert und regelmäßige Schreibtischkontrollen durch Bürovorsteher vorgenommen wurden.34 Auch der Psychotechniker Fritz Giese räumte in einem Artikel aus dem Jahr 1928 ein, dass die Abwehrhaltung von Angestellten gegenüber Rationalisierungsmaßnahmen groß sei. Er empfahl eine Reihe von Verfahren und Anpassungen, um der Rationalisierung gleichwohl zum Erfolg zu verhelfen: Statt Seilpostanlagen, die offensichtlich starke Assoziationen an die Fließbandarbeit in den Werkstätten weckten und den um Abgren155

zung von der Arbeiterschaft bemühten Angestellten deshalb als ehrenrührig erschienen, riet Giese zur Nutzung von Rohrpostanlagen. Rohrpostanlagen würden entsprechende Ideenverbindungen nicht so stark hervorrufen und seien deshalb beliebter.35 Ferner riet der Psychologe dazu, die »Rationalisierung im Bürobetrieb« nicht schrittweise durchzusetzen. »Menschenbehandlungstechnisch« sei es »für den Anfang klug«, den ganzen Betrieb »durcheinanderzuwerfen« und bis zu den Bezeichnungen der Berufsgruppen alles neu zu ordnen. Die »Umstellungsbereitschaft« würde auf diese Weise stark erhöht. Die Gewährung von Vorrechten, etwa die Errichtung eines »Kasinos« »nur für Angestellte«, sollte ebenfalls helfen, Widerstände abzubauen, die auf die Angst vor der »Proletarisierung« zurückgeführt wurden.36 Giese erläuterte auch, welche Gruppen von Angestellten sich der Rationalisierung vor allem verweigerten. Die unqualifizierten Hilfsarbeiter, in den 1920er Jahren häufig aus Arbeiterfamilien stammende weibliche Angestellte, gehörten nicht dazu. Nicht wenigen »mittleren Kräften«, den »zahllosen, proletarisierten Akademikern«, die »starke Vorerwartungen« hegten und einen »überspannten Ehrgeiz« hatten, sowie den »älteren leitenden Kräften«, fiel, so hieß es, »die Umstellung schwer«. Die einen fühlten sich innerlich »gekränkt« oder »verstimmt«; die anderen schienen zu alt, um sich auf die Neuerungen einzulassen und aus ihnen Nutzen zu ziehen. Giese empfahl, sie, wenn möglich, zu entlassen.37 Hieraus ableiten zu wollen, die Mehrzahl der Angestellten habe aufgrund von Abstiegsängsten die »Rationalisierung des Büros« abgelehnt, greift zu kurz. Die Erfolgs-Ratgeber aus den 1920er Jahren, die sich häufig explizit an mittlere und höhere männliche Angestellte wandten und von denen einige in hoher Zahl verkauft wurden, legen die Vermutung nahe, dass zumindest Teile der Angestelltenschaft der Rationalisierungsbewegung Positives abgewinnen konnten und an der Realisierung der Programme engagiert mitwirkten. Die oft von (ehemaligen) Angestellten für die »wirklich tüchtigen« Angestellten geschriebenen Ratgeber unterstellten diesen einen ausgeprägten Aufstiegswillen und erklärten diesen zugleich zur Norm. Sie unterwiesen ihre Leser in Praktiken und Techniken der »Selbst-Rationalisierung«, klärten aber auch über neue Bürodinge auf und empfahlen deren vorschriftsgemäßen Gebrauch, weil die Angestellten, so die Beteuerungen, auf diese Weise mehr leisten konnten und sich dadurch ihre Aufstiegschancen verbesserten.38 Voraussichtlich wurden diese Beteuerungen zumindest teilweise für plausibel gehalten und die neuen Büromaschinen und Artefakte auch als Vehikel betrachtet, um die eigene Leistungsfähigkeit zu optimieren und beruflich aufzusteigen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass sich im Prozess der 156

35  Giese, Menschenbehandlung, S. 148. Zur

Abgrenzung der Angestellten von der Arbeiterschaft u. a. Speier, Angestellte, S. 66–74. 36  Giese, Menschenbehandlung, S. 148–150. Auf

diese Angst führte auch Speier den Widerstand zurück, vgl. Speier, Angestellte, S. 66–74. 37  Giese, Menschenbehandlung, S. 147 f. 38  Herbert Casson schrieb eine Vielzahl entspre-

chender Ratgeber. Ein noch in den 1920er Jahren viel gelesener und empfohlener Ratgeber war Felix Notvest: Tüchtige junge Kaufleute gesucht! Ein Ruf unsrer Zeit, Stuttgart 1912; ein richtiger Kassenschlager war: Gustav Großmann: Sich selbst rationalisieren. Mit Mindestaufwand persönliche Bestleistung erzeugen, Stuttgart 1927.

Aneignung die Skripte oder Handlungsprogramme der Artefakte ändern und erweitern konnten. Die Dinge, die implementiert wurden, um rationelles Arbeiten und effiziente Angestellte zu generieren, wurden teilweise zu Dingen, die auch den beruflichen Aufstieg und Erfolg ermöglichen sollten.39 Schluss Der vorliegende Aufsatz schließt an Studien zur Genese und zum Wandel von Arbeitssubjekten an. Er hat Rationalisierungsprogramme und deren Materialisierungen in den 1920er Jahren in den Blick genommen und exemplarisch gezeigt, welche unterschiedlichen Bedeutungen Artefakte und Maschinen für die Genese rationeller Angestellten hatten. Dabei ging es nicht darum, ein eigenständiges Handeln der Dinge zu behaupten und einer technikdeterministischen Perspektive das Wort zu reden. Ebenso wenig wurden die skizzierten Veränderungen auf die Intentionen einzelner Akteure oder Akteursgruppen allein zurückgeführt. Vielmehr sollte erkennbar werden, wie in komplexen Interaktionen zwischen Dingen und Menschen Handlungen ermöglicht und Kompetenzen von Menschen und Dingen entwickelt wurden, wie im Zusammenspiel von Menschen und Dingen Arbeitsroutinen geformt und soziale Asymmetrien stabilisiert wurden.

39  Zum Konzept des Handlungspro-

gramms: Bruno Latour: Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie, in: Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 483–528.

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TEIL 2

  SPURENSUCHEN AM OBJEKT

EINFÜHRUNG SPURENSUCHEN AM OBJEKT ANDREAS LUDWIG

1  Verstanden als typologische Viel-

falt, nicht als Gesamtmenge. 2  Es wird geschätzt, dass ein durchschnitt-

licher Haushalt über 10.000 Dinge verfügt, vgl. Neue Zürcher Zeitung v. 11./12. Oktober 2003, zit. n. Gottfried Korff: Betörung durch Reflexion. Sechs um Exkurse ergänzte Bemerkungen zur epistemischen Anordnung von Dingen, in: Anke te Heesen, Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 89–107, S. 89. Die Menge der in DDR-Haushalten vorhandenen Objekte dürfte, wenn überhaupt, nur geringfügig geringer gewesen sein. 3  Zum Prozess der Musealisierung von Massen-

kultur vgl. Michael Fehr: Müllhalde oder Museum. Endstationen in der Industriegesellschaft, in: ders., Stefan Grohé (Hg.): Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 182–196. 4  Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt

in 100 Objekten, München 2011 (engl. 2010).

Die materielle Kultur als Dingausstattung einer Gesellschaft besteht, insbesondere im zeitlichen Rahmen des 20. Jahrhunderts mit der Ausformung von Konsumgesellschaften auf Grundlage industrieller Produktion, aus Hunderttausenden von Objekten,1 die in den unterschiedlichsten Gebrauchszusammenhängen verwendet werden.2 Ein kleiner Teil von ihnen wird Bestandteil von Museumssammlungen3 und hier wiederum gerät nur ein Bruchteil in das Aufmerksamkeitsspektrum der Forschenden. In den folgenden Beispielen soll nachvollzogen werden, auf welche Weise die Dinge in den Fokus einer näheren Betrachtung rücken und welche Aussagekraft sie für eine zeithistorische Analyse haben. Erstens formuliert die Untersuchung von einzelnen Objekten eine spezifische Blickrichtung auf eine historische Gesellschaft: Nicht die Gesamtheit ihrer materiellen Ausstattung, die zu generalisierenden Charakterisierungen wie Konsumgesellschaft, Mangelgesellschaft oder planwirtschaftliche Versorgungsgesellschaft führt, steht hier im Zentrum, sondern der einzelne Gegenstand und die Frage nach seiner Funktion und Bedeutung für eine historische Analyse. Der Ansatz, Kulturen, und damit Geschichte, anhand einzelner Gegenstände erzählen zu können, ist durch Neil MacGregors »Geschichte der Welt in 100 Objekten« faszinierend erprobt worden.4 Vorausgesetzt ist jedoch, dass über die ausgewählten Objekte viel bekannt ist und auf dieser Grundlage Kulturgeschichte letztlich neu, aber nicht grundsätzlich anders erzählt wird. Die materielle Kultur hat in dieser Geschichtserzählung damit eine dienende Funktion, schon allein, weil für viele Epochen ausschließlich gegenständliche Quellen vorliegen. Für das 20. Jahrhundert und die Zeitgeschichte stellt sich die Situation anders dar, hier liegt eher eine schwer zu beherrschende Menge an Quellen unterschiedlichster Art vor und Objekte der materiellen Kultur scheinen auf den ersten Blick vor allem als Belege interessant, eben als Materialisierungen. Dennoch lässt diese Betrachtungsweise den Umstand außer Acht, dass die Dinge nicht nur eine einzige Bedeutung haben, ein Umstand, der mit dem Begriff der Polysemie der Objekte oder der Bezeichnung »wilde Dinge« gekennzeichnet wird. Hier setzen die folgenden Beiträge an. Wenn materielle Kultur als Quelle definiert und zur Grundlage und zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht wird, gilt es

also, sich zunächst klarzumachen, dass ein objektzentriertes Vorgehen die Entscheidung darüber bedeutet, ob mit Objekten, über Objekte oder durch Objekte geforscht werden soll.5 Zweitens verdeutlicht die vom Objekt ausgehende Analyse das jeweils individuelle Forschungsinteresse, indem nachvollziehbar wird, welcher Stellenwert dem Objekt als Quelle beigemessen, wie der Untersuchungsgegenstand identifiziert wird und wofür das Objekt exemplarisch steht. Ein objektzentriertes Vorgehen hat noch weitgehend experimentellen Charakter und deshalb sollen hier noch einmal die grundlegenden Fragen formuliert werden: Wie können Informationen aus dem Objekt selbst herausgelesen werden, wie Informationen zum Objekt gefunden und in einen historischen Kontext gesetzt werden? Wie wird mit der oft genannten Polyvalenz6 der Objekte umgegangen? Lassen sich vom Einzelobjekt aus Schlüsse auf Gesellschaft ziehen? Und schließlich: Welchen Einfluss haben die Perspektiven der Forschenden auf die Ergebnisse eines solchen objektzentrierten Vorgehens? Dinge kommen nicht vereinzelt vor. Lebensweltlich sind sie Bestandteil von Dingensembles, zum Beispiel eines Hausstands, durch den sie Teil einer gegenseitigen Referenzstruktur sind. Zugleich sind innerhalb eines solchen Dingensembles einzelne Objekte hervorgehoben, indem ihnen eine besondere Aufmerksamkeit zugewandt ist, und zwar aus einer Vielzahl von Gründen. Dinge haben Erinnerungswert, sie sind Teil von Nutzungsroutinen,7 sie werden versammelt und verwahrt, weil sie Teil einer Identitätskonstruktion sind,8 Dinge werden vererbt und können damit als Teil einer familialen Traditionsbildung fungieren. Bereits beim Erben tritt jedoch eine Funktionsänderung ein, aus den Alltagsgegenständen werden Erinnerungsstücke, die Perspektive auf die Dinge wird eine historische. Öffentlich und institutionell gerahmt wird dieser Übergang durch die Musealisierung, einen Vorgang, den James Clifford als Authentifizierung mit transitorischen Eigenschaften bezeichnet hat.9 Die Beglaubigung des Objekts als authentisch erfolgt hier durch eine Institution, die das kulturelle Erbe verkörpert, aus Gebrauchsgut wird, direkt oder über Umwege, Kulturgut.10 Es erfolgt durch diesen Übergang zunächst eine Dekontextualisierung, dann eine Rekontextualisierung. Damit wird das Objekt tendenziell in einen Kanon aufgenommen, der, unabhängig von den disziplinären Parametern, durch museale Dokumentation und wissenschaftliche Analyse bestätigt wird. 162

5  Annette Caroline Cremer: Zum Stand der

Materiellen Kulturforschung in Deutschland, in: dies., Martin Mulsow (Hg.): Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln/ Weimar/Wien 2017, S. 9–21, S. 17. Vgl. auch den Ansatz von W. David Kingery: Introduction, in: ders. (Hg.): Learning from Things. Method and Theory of Material Culture Studies, Washington, D.C./London 1996, S. 1–15. 6  Vgl. Judy Attfield: Wild Things: The Material

Culture of Everyday Life, Oxford 2000. 7  Zur Dingaufmerksamkeit vgl. Gert Selle,

Jutta Boehe: Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek bei Hamburg 1987. 8  Tilmann Habermas: Geliebte Objekte.

Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt am Main 1999. 9  James Clifford: Sich selbst sammeln, in:

Gottfried Korff, Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main/ New York, Paris 1990, S. 87–106, S. 95. 10  Fehr, Müllhalde.

Wie eine solche Analyse angelegt wird, hängt von der Perspektive der Forschenden und ihrem Quellenverständnis ab. Es sei an dieser Stelle noch einmal an die oben genannte Unterscheidung erinnert, Geschichte mit Objekten, über Objekte oder durch Objekte zu schreiben. Gegenüber Konzepten, die Dinge als Leitfossilien für eine Gesellschaftsform interpretieren (Ruppert), sie als konkrete Materialisierungen einer Gesellschaft interpretieren oder als Symbolträger für eine Kultur, soll mit den folgenden Beiträgen ein Perspektivwechsel erprobt werden, bei dem Geschichte vom Objekt ausgehend, also nicht mit Objekten, sondern durch Objekte, entwickelt wird. Für diese Analyse kann auf eine Reihe von Vorschlägen zum methodischen Vorgehen zurückgegriffen werden.

11  R[ichard] Elliott u. a.: Towards a Material

History Methodology, in: Susan M. Pearce (Hg.): Interpreting Objects and Collections, London/New York 1994, S. 109–124, S. 116 (zuerst in: Material History Bulletin 22 [Fall 1982]), S. 31–40. Eine Einführung in die Entwicklung methodischer Analysemodelle bietet Adrienne D. Hood: Material Culture: the object, in: Sarah Barber, Corinna M. Peniston-Bird (Hg.): History Beyond the Text. A student’s guide to approaching alternative sources, London/New York 2009, S. 176–198. 12  E. McClung Fleming: Artifact

Study. A Proposed Model, in: Winterthur Portfolio 9 (1974), S. 153–173.

In einer Kooperation zwischen Museumsfachleuten und Historikern entstand eine Analysemethodik zur »materiellen Geschichte«, die auf drei Schritten mit jeweils fünf Kategorien aufbaut.11 Die drei Schritte betreffen die beobachtbaren Daten, die vergleichbaren Daten und ergänzende Daten. Beobachtbare Daten sind alle direkt am Objekt ablesbaren Informationen; der Vergleich betrifft Hersteller, Nutzer und vergleichbare Objekte und dient damit einer Einordnung in die materielle Kultur; unter ergänzenden Daten werden schriftliche, bildliche und mündlichen Quellen zum Objekt verstanden, sie betreffen also die über die materiellen Objekte hinausgehenden Kontexte sozialer, kultureller und historischer Art. Die Fragekategorien sind jeweils Material, Konstruktion, Funktion, Provenienz und Bewertung. Sie sind wie folgt definiert: »Material« fragt nach am Objekt erkennbaren Materialien, ihrer Qualität und Herkunft und dem Einfluss, den die Materialität auf die Konstruktion und Gestaltung des Objekts ausübt. »Funktion« fragt nach den Gründen, warum ein Objekt hergestellt wurde, und nach der Gebrauchsfunktion. Unter Provenienz wird sowohl nach dem Produktionsort und dem Hersteller als auch nach dem Nutzer (den Nutzern) und dessen sozialem und beruflichem Hintergrund gefragt. »Bewertung« schließlich meint den Nutzen, den kulturellen, finanziellen und sozialen Wert, der dem Objekt durch die Nutzer und die ihn umgebende Gesellschaft beigemessen wird. Eng an die museumsspezifische Objektforschung angelehnt ist das Analysemodell des Historikers und Mitarbeiters am Winterthur Museum McClung Fleming.12 Er definiert Geschichte, Material, Konstruktion, Design und Funktion als die fünf grundlegenden Eigenschaften eines Objekts, die in vier sukzessiven Analyseschritten zu berücksichtigen seien: die »Identifikation«, also die Beschreibung des Objekts, die Evaluation, worunter Ver163

gleich und Einordnung zu verstehen sind, die Kulturanalyse (cultural analysis), also die Beziehung zwischen Objekt und umgebender Kultur, sowie die Interpretation, verstanden als aktuelle Bedeutung (significance). Einfacher strukturiert ist der Vierschritt der Objektanalyse, den Vicky Coltman im Anschluss an ältere Überlegungen der amerikanischen Material Culture Studies vorschlägt.13 Unterschieden wird in vier Untersuchungssegmente: »Objecthood«, Produktion, Konsumption und Nachleben. Unter Objecthood wird nicht primär die Forschung am Objekt verstanden, sondern die Klärung von Fragen nach Typ, Alter und Bedeutung. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage nach dem »Nachleben«, also der Zeit nach Produktion, Konsumption und Gebrauch, worunter sowohl eine Musealisierung wie andere Formen kultureller Inwertsetzung gemeint sein können. In der Tradition der europäischen Volkskunde und ihrer Sachkulturforschung steht das Analysemodell von Nils-Arvid Bringéus,14 wobei hier die Bedeutungsebene gegenüber der Objektanalyse in den Vordergrund tritt. Bringéus unterscheidet in eine Kontextuelle Perspektive, die unter anderem den »Lebenslauf der Dinge« umfasst, eine Instrumentelle Perspektive, also eine mit Handlungen verbundene Funktion der Objekte, eine Symbolkommunikative Perspektive, das heißt eine der sozialen und räumlichen Umwelt angepasste Betrachtung und Nutzung von Objekten, sowie eine Wertende Kulturperspektive, die sich auf eine aktuelle Bedeutung als Museums- oder Forschungsobjekt bezieht. Ein ähnliches, jedoch das Artefakt einbeziehendes Analysemodell hat der Volkskundler Hermann Bausinger unter dem Begriff der Ding­ bedeutsamkeit entwickelt.15 Er unterscheidet zwischen einer Analyse der Materialität, die Gestalt, Form und Stofflichkeit umfasst, einer der Potenzialität, die Funktion und historisch-kulturelle Aufladung beinhaltet, und einer Analyseebene der Aktualisierung, die Gebrauch und Sinngebung meint. Gemeinsam ist diesen Analyserastern materieller Kultur, dass sie ausgehend vom konkreten Gegenstand eine Kulturanalyse anstreben. Beobachtung am Objekt, vergleichende Einordnung sowie Analyse des Kontextes können als gemeinsamer Nenner festgehalten werden. Es handelt sich um Idealtypen, Verfahren, die jedes für sich logisch erscheinen, jedoch zwei Probleme umgehen, die mit der Analyse materieller Kultur einhergehen: die Polysemie des Objekts, also dessen multiple Bedeutungen in unterschiedlichen Funktions- und Interpretationskontexten, und die interessegeleitete Betrachtungsweise der Forschenden. Beide 164

13  Viccy Coltman: Material Culture and the

History of Art(efacts), in: Anne Gerritson, Giorgio Riello (Hg.): Writing Material Culture History, London u. a. 2015, S. 17–31, S. 25, mit Bezug auf einen Untersuchungsleitfaden von C.F. Montgomery aus dem Jahre 1961, wieder veröffentlicht in Thomas Schlereth (Hg.): Material Culture Studies in America, Nashville 1982, S. 143–152. 14  Nils-Arvid Bringéus: Perspektiven des

Studiums materieller Kultur, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 29 (1986), S. 159–174, S. 163 ff. 15  Hermann Bausinger: Ding und Be-

deutung, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 58 (2004), H. 3, S. 193–210.

hängen zusammen, indem die mehrfache Bedeutung eines Objekts einerseits von seinen Funktionen, dem Gebrauch und der diversen Integration des Gegenstands in soziale Kontexte abhängt, andererseits diese Vielfalt in der Analyse auch unter dem »fokussierten Blick«16 der Forschenden nur unvollkommen abgebildet werden kann. Worauf sich dieser fokussierte Blick richtet, hängt von Kenntnissen und Interessen ab. Es handelt sich bei der objektzentrierten Analyse vermutlich nicht um eine »wilde Semiose«,17 sondern eher um ein Wechselverhältnis von gezielter Dingaufmerksamkeit und einer prismatischen Funktion des Objekts,18 die die Aufmerksamkeit in verschiedene Richtungen lenken kann, sich jedoch nicht darin erschöpfen kann, das Objekt lediglich als Ausgangspunkt zu nehmen. Objektzentrierte Analyse spricht den Objekten ein »Vetorecht« der materiellen historischen Quelle zu.19

16  Mieke Bal: Kulturanalyse, hrsg. und

mit einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef, Frankfurt am Main 2002, S. 16. 17  Aleida Assmann: Die Sprache der Dinge.

Der lange Blick und die wilde Semiose, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main 1988, S. 237–251. 18  Cremer, Stand, S. 17. 19  Gudrun M. König: Das Veto der Dinge.

Zur Analyse materieller Kultur, in: Die Materialität der Erziehung: Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte (Zeitschrift für Pädagogik. Beiheft, Bd. 58), Weinheim und Basel 2012, S. 14–31. 20  Selle/Boehe, Leben; Gert Selle: Sieben-

sachen. Ein Buch über die Dinge, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 29.

Mit Blick auf die zeitgeschichtliche Quellenfunktion materieller Kultur stellt sich die Frage, wie weit und wohin ein solcher objektzentrierter Ansatz führt. Dies sollen die Beiträge des folgenden Abschnitts ausloten. Sie entstanden aus einem Experiment heraus: Interessierte Kolleginnen und Kollegen waren eingeladen, sich drei Tage lang mit einem ausgewählten Objekt auseinanderzusetzen und eine Spurensuche mit offenem Ausgang zu erproben. Vereinbart war ein Dreischritt: Die Teilnehmenden wurden gebeten, in den Sammlungsdepots des Dokumentationszentrums bis zu drei Objekte herauszusuchen, Dinge, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Diese freie, neugier- und interessegeleitete Auswahl beruhte auf der Annahme, dass so etwas wie Dingaufmerksamkeit20 nicht unterschiedslos auf alle Objekte trifft, sondern entweder neugiergetrieben, auf einem ästhetischen oder taktilen Impuls beruhend, oder im Anschluss an ein Erkennen, mithin auf Vorwissen und Erfahrung aufbauend, entsteht. Wie angesichts der überwältigenden Vielfalt der im Sammlungsdepot versammelten Objekte eine solche Auswahl getroffen wurde, unter welchen Kriterien Entscheidungen gefällt wurden, war höchst unterschiedlich und sollte zur Klärung des Ausgangspunkts für die folgenden Analyseschritte ausformuliert werden. In einem zweiten Schritt wurden die Objekte »ausgelesen«, das heißt physische Merkmale wie Form und Material notiert, nach Spuren gesucht und über mögliche Funktionen nachgedacht, gleichsam ein Protokoll des Erkennbaren angefertigt. Auf dieser Grundlage erfolgten erste Recherchen zu Funktion und Kontexten mithilfe der Museumsbibliothek, des Internets und, im Sinne eines kooperativen Forschens, des gegenseitigen Austauschs. In einem dritten Schritt schließlich wurden die Teilnehmenden gebeten, einen ersten, vorläufigen Text als Ausformulierung und Zusammenfassung ihrer 165

Arbeitsschritte, Erkenntnisse und offenen Fragen zu verfassen. Sehen, Beschreiben und Analysieren sind aufeinander bezogene Teilvorgänge, die Evidenz erzeugen und als »description« die Grundlage für den interpretierenden Umgang mit der (materiellen) Quelle bilden.21 Wie im Zeitraffer wurde damit eine Methode erprobt, die im wissenschaftlichen Diskurs seit dem Erscheinen von Carlo Ginzburgs Texten über die Spurensuche22 in den 1980er Jahren immer wieder zitiert, auch theoretisch reflektiert,23 aber kaum erprobt wurde. Spurensuche, so Ginzburg, erfordert genaues Hinsehen, das Aufspüren von Hinweisen (Spuren) als Verweise auf etwas Abwesendes, zum Beispiel Handlungen, etwas Verstecktes, nicht Formuliertes oder schlichtweg Alterungsprozesse, die Hinweise auf Nutzung oder physisches Überleben der Objekte geben.24 Spurensuche erfordert ein gleichsam kriminologisches Herangehen, den Spuren muss gefolgt werden, wenn man Schlüsse ziehen will. Das Erkennen von Spuren erfordert jedoch nicht allein unterschiedslose Aufmerksamkeit, sondern auch Spürsinn, der immer auch auf Kenntnissen beruht. Wenn man so will, bedeutet das Spurenlesen eine Annäherung an die Polyvalenz der Objekte. Die mikrohistorische Spurensuche ist offen, indem sie ihren Gegenstand nicht als Beleg nimmt, sondern aus ihm heraus eine Geschichte (auch mehrere Geschichten) entwickelt, die Unbekanntes zutage fördert, Kontexte erkennbar und Verborgenes erzählbar macht. Anders als bei der kriminalistischen Spurensuche, deren Ziel der Beweis ist, ist die historiografische Spurensuche eine Methode, die Offenheit in Ziel und Ergebnis einfordert, den Blick weitet und zunächst eine Gleichrangigkeit der aufgefundenen Spuren markiert. Dies in der Hoffnung, dass am Ende nicht ein Entweder-oder (wie in der kriminalistischen Spurensuche) oder ein Nachweis, sondern eine Komplexität, eine mehrfache Kontextualisierung stehen kann, die der Bedeutungsvielfalt der materiellen Kultur entspricht. Doch ist das wirklich so? Die im Folgenden versammelten Texte, Ausarbeitungen der im Workshop notierten Hinweise, zeigen, dass die mikrogeschichtliche Methode der Objektanalyse nicht nur sehr unterschiedliche Ergebnisse erbringen kann, sondern vor allem eine große Diversität der Aufmerksamkeit für die Dinge, auf die hier abschließend verwiesen werden soll. Objekten, die mit dem Blick der Kennerin erkannt und für die Analyse aufgegriffen wurden, stehen solche gegenüber, die unbekannt waren und Neugier herausforderten und bei der Untersuchung auf eine historische Praxis verwiesen. Es wurde eine überraschende Provenienz 166

21  Ludmilla Jordanova: The Look of the Past.

Visual and Material Evidence in Historical Practice, Cambridge 2012, S. 17 ff. 22  Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der

Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 61–96. 23  Sybille Krämer: Was also ist eine Spur? Und

worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme, in: dies., Werner Kogge, Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 11–33. 24  Detlef Hoffmann: Zeitgeschichte aus

Spuren ermitteln. Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt aus, in: Zeithistorische Forschungen 4 (2007), H. 1/2, S. 200–210.

publizierter Geschichtsbilder entdeckt, hinter dem industriell-­ seriellen Objekt eine zweite Ebene der Informationsbeschaffung, und schließlich bildeten Objekte aus der Museumssammlung den Anlass zur Reflexion über Spurensuchebewegungen als Erkenntnismethode. Damit gehen die im Folgenden zusammengestellten Beiträge über die objektfokussierte, oft dokumentationsförmige museale Objektforschung hinaus und schließen an geschichtswissenschaftliche Fragestellungen an, markieren also gleichsam eine Situierung der materiellen Kultur im historischen Feld, das durch sie erschlossen wird.

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Nur Zählwerke und Schaltkreise: Das museale Objekt, isoliert und ohne Bezüge, erscheint zunächst nicht willig zu sprechen und kontextarm, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Katja Böhme).

ES ZÄHLT, WAS ZÄHLT – SCHALTKREISE DENK- UND DINGBEWEGUNGEN KATJA BÖHME

Der Weg zum Objekt: Wer sucht wen? Das Zusammentreffen von Objekt und Forschendem ist ein Schlüsselmoment: Wer dem musealisierten Objekt gegenübertritt, findet es bereits in einer Ordnung vor. Das Objekt ist in eine Umgebung gesetzt, die nicht seine natürliche ist. Die Bewegung der Forscherin ist geprägt von eigenen Pfaden, die biografisch, intellektuell und kulturell beschritten wurden. Im Spielzeugraum kommen die eigene Kindheit, das Interesse für das Spiel als kulturelle Praxis mit geradezu anthropologischer Dimension und die Vorliebe für Miniaturabbildungen des realen Erwachsenen­lebens im Kleinen zusammen. Wie spiegelt sich die Gesellschaftsgeschichte in der Miniaturkopie des Kinderspielzeugs, welche Utopien werden hier skizziert, welches Modernebild entworfen, welche Alltagspraxen eingeübt und welche gesellschaftlichen Rollen prädisponiert? Wie sozialistisch ist die Kinderwelt, wie international und modernistisch das vermittelte Alltagsbild, das mit dem Spiel-Werkzeug eingeübt werden soll? Im Regal steht das ausgewählte Objekt neben einem Kindercomputer mit dem Namen »PIKO-Dat«, offenbar handelt es sich um eine Reihe von Geräten, mit denen Kinder für die Computerisierung der Arbeits- und Denkabläufe sensibilisiert werden sollten, vollplastifiziert, modern, möglicherweise auch für den Export bestimmt. Daneben steht ein Gerät, das offenbar kein Fertigerzeugnis ist. Es ist massiv, aus Sperrholzplatten zusammengezimmert, lackiert und mit Schaltern und nebeneinander montierten Zählwerken versehen. Seine Do-it-yourself-Optik, die Abweichung vom fertigen staatlich gebilligten Produktdesign, ist bestechend.

1  Ausführlich zur Genese des Begriffs als

geschichtswissenschaftliche Kategorie, insbesondere auch in der Anwendung auf die DDR: Thomas Lindenberger: EigenSinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2. September 2014, http://docupedia.de/zg/ lindenberger_eigensinn_v1_de_2014, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.595.v1. 2  Ebd.

In Bezug auf die DDR wirkt der sogenannte »Eigensinn«1 – in der um seine Mehrdeutigkeit beraubten Variante der Individualität alltäglichen Verhaltens2 – als Kategorie faszinierend, scheint er doch die Existenz einer letzten Bastion der Selbstbehauptung gegen die hierarchischen Machtstrukturen der DDR-Gesellschaft zu garantieren. Aber kann sich Eigensinn »materialisieren« und drückt er sich in Bastelarbeiten des Alltags aus? Ist er Ausdruck von Autonomie in einem Bereich, der der staatlichen Kontrolle entzogen ist, eigenmotiviert und in Eigenregie gestaltet? Oder ist

das Do-it-yourself bloß der Beleg eines gesellschaftlichen Mangels, eine Notlösung in Ermangelung von alternativen Fertigprodukten? Das Ding: Was machst du? Mit Fragen treten wir als Historiker*innen an unsere Quellen heran und wir haben sie an unserem Quellenmaterial zu prüfen, um gegebenenfalls formulierte Hypothesen zu korrigieren oder diese festigen zu können. Wir werden in den Archivakten nach Belegen suchen, werden Zeitzeug*innen befragen und deren Aussagen interpretieren. Das Objekt als historiografische Quelle ist potenziell ebenso redselig oder stumm wie ein Zeitzeuge und ebenso inhaltlich gehaltvoll oder unergiebig wie ein schriftliches Archivkonvolut. Sein Potenzial birgt das Objekt in seinen Spuren; sie zu lesen erfordert ebenso Methode, Vorwissen und Übung wie die Lektüre einer alten Handschrift. Die Spur, das Objekt – und das Spüren, eine Tätigkeit – gehen nach Sybille Krämer eine elementare Beziehung ein. Sie weist darauf hin, dass diese auf das Objekt bezogene Tätigkeit des Spürens nicht auf das Herstellen von Spuren bezogen ist, sondern auf die Deutung der Spuren, das Verfolgen einer Fährte also.3 Das Objekt, das sich hier zur Untersuchung darbietet, scheint übersät von Spuren. Allein der starke Abnutzungscharakter, das zusammengezimmerte Erscheinungsbild weckt den Eindruck, dass sich die Methode des Spurenlesens an diesem Objekt gut wird erproben lassen. In der Hoffnung, etwas über die Computerisierungsbilder von Kindern und Jugendlichen der frühen 1980er Jahre herausfinden zu können, war die Wahl auf diesen selbst gezimmerten Spielzeugcomputer gefallen. Etwas über die Kontexte des Eigenbaus, gegebenenfalls die pädagogischen Motivationen und das didaktische Leitbild herauszufinden leitete den Auswahlprozess und lenkte die ersten Analyseschritte. Im Prozess der Betrachtung dann stellt sich eine Sperre zwischen Betrachterin und Objekt ein. Wer sperrt sich hier gegen wen? Dass gar nicht herauszulesen ist, wie dieses Objekt eigentlich genutzt worden ist, wie und wozu man es bedienen sollte, löst Irritation aus. Wofür die Schalter zu gebrauchen waren, was auf dem aus 30 in fünf Reihen montierten Zählerwerken bestehenden ›Bildschirm‹ zu verfolgen oder zu berechnen ist, wird plötzlich zu einer großen Terra incognita. Betrachtet man das ganze Objekt als Spur, als einen zurückgelassenen Abdruck einer einstmaligen Handlungspraxis, zu der das 170

3  Sybille Krämer: Was also ist eine Spur? Und

worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme, in: dies., Werner Kogge, Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 11–33, hier S. 13.

Objekt herausforderte, so ist man damit konfrontiert, dass ebendie Handhabung des Gerätes, seine Funktion, sich nicht unmittelbar erschließt, sie ist im Objekt als solchem nicht unmittelbar präsent: Die Abwesenheit eines intentionalen Gebrauchs und das Fehlen eines kenntnisreichen Nutzers, der den Umgang noch beherrschen würde und den Zweck des Gerätes kennen würde, führen vor Augen, dass ihre Funktion keine selbstverständlich zugängliche Eigenschaft von Dingen ist. Ihre Lesbarkeit erfordert Kenntnisse der Forschenden. Wer einen selbst gebauten Kindercomputer untersuchen will, so denke ich plötzlich, benötigt also Grundkenntnisse von selbst gebauten Computern, von Schaltkreisen, Elektrobasteleinen und Ähnlichem. Meine Technikaffinität entlarvt sich nun ein Stück weit als eine Mythologisierung und Idealisierung von Technik- und Modernitätsdiskursen, als Science-­ Fiction-Romantik. Das direkte Basteln mit Kontakten, Sicherungen, Trafos und Ähnlichem ist mir völlig unzugänglich, ein Spezialwissen, das ich nicht besitze und das sich nun wie eine Wand vor mir auftut, die mich von dem Ding trennt. Es wird, so affin es mir anfänglich schien, nun umso opaker und fremder. Erster Zugang: Inbetriebnahme Am Anfang steht die Suche nach Elektro-Bastelanleitungen im umfangreichen Literatur- und Dokumentenbestand des Dokumentationszentrums, ohne Erfolg. In Ermangelung weiterer Wege schalte ich das Gerät zunächst an, eine Annäherung, die im Übrigen höchst selten in Museumsdepots praktiziert wird. Warum eigentlich? Oben links geht eine rote Leuchte an, offenbar ist das Objekt noch funktionsfähig. Wenn die Tasten auf dem Schaltpult betätigt werden, steigt das jeweils korrespondierende Zählwerk auf dem Pult um eine Ziffer. Erst durch das eigene Probieren verringert sich die Scheu vor dem technischen Mechanismus. Der Begriff Computer weicht an diesem Punkt der Spurensuche dem der Zählmaschine, die Funktion ist dadurch eingegrenzter. Aber was wurde hier gezählt? Und wozu? Die Zeichen am Objekt erscheinen weiterhin kryptisch. Die Schalter auf dem Pult sind mit Pflasterstreifen beklebt und be­­schriftet, einer eher improvisiert erscheinende Kennzeichnungsart: Unter den ersten fünf Schaltern sind folgende Abkürzungen angebracht: Ges  K  J  E  (Lücke)  Neu Unter den Reihen 2 und 3 sind ebenfalls Pflasterstreifen, allerdings unbeschriftet. 171

Schalter 1 in Reihe 4 ist mit einer römischen III beschriftet und mit VI1. In Reihe 5 sind unter den beiden ersten Schaltern die Zahlen I und II gedruckt, die beiden weiteren auf Pflaster mit IV und VZ. In der Beschriftung sind zwei Zeitebenen erkennbar. Die Druckbeschriftung (I und II) ist eine ursprüngliche, die mit Pflastern zum Teil darübergeklebte (Ges, K, J, E, Neu, III, IV, VZ, VI1) scheint nachträglich aufgebracht worden zu sein. Möglicherweise änderten sich die Kategorien, die gezählt werden sollten. Die Kenntnis des Schenkers/der Schenkerin könnte den Funktionskontext erhellen, diese/r bleibt allerdings in Ermangelung einer Inventarnummer unzugänglich. Handelt es sich wirklich um ein Spielzeug? Es gibt auf der Pultfläche Aufkleber, die klar einen kindlichen Gebrauchskontext vermuten lassen. In den Ecken befinden sich kleine Aufdrucke von Katzen und Schmetterlingen, zwei Abziehbilder mit Kleeblättern und einem lesenden Mädchen. Aber es lässt sich nur schwer vorstellen, dass kleine Kinder dieses große Gerät zum Zählen benutzt haben könnten. Noch viel weniger, dass es von ihnen gebaut wurde. Eine neue Spur: der Nutzungskontext Auf der Rückseite des Objektes befindet sich ein Aufkleber, der auf die Stadtbezirksbibliothek Friedrichshain verweist. Möglicherweise also war das Objekt im Bestand einer Bibliothek. Aber wofür wurde es verwendet? Sollten Buchbestände gezählt werden? Oder Bibliotheksbesucher? Ist das Gerät die Arbeit der Elektrobastel-AG einer Schule, von Lehrlingen in der Bibliothek oder als Planerfüllung im sozialistischen Schülerwettbewerb der Messe der Meister von morgen? Nimmt man den vermutlichen Nutzungsort als neue Spur in die Betrachtung der anderen Spuren am Objekt auf, lässt sich eine neue Hypothese formulieren: Es handelt sich um eine mechanische Zählmaschine, mit der die täglichen Ausleihen nach den Gruppen, so vermute ich, Kinderliteratur (K), Jugendliteratur (J), Erwachsenenliteratur (E), Gesamtausleihen (Ges), Neuanschaffungen (Neu) täglich gezählt wurden. Dies macht die Abkürzungen plausibel, erklärt jedoch noch nicht die auf der einen Seite im Vergleich zur Strichliste aufwendige, zum anderen im Hinblick auf ein modernes Datenerfassungssystem recht primitive Maschine. Offenbar konnte das Gerät nicht rechnen. Als komplementäre Quellen zum Objekt selbst suche ich Informationen darüber, welche Daten in Bibliotheken der DDR er172

hoben wurden, welche statistischen Daten also gefragt waren. Wollte man das Leseverhalten ermitteln, um daran einen bedarfsorientierten Neuerwerb von Literatur auszurichten? Oder wurden die Bibliotheksbesucher, die täglich kamen, gezählt: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Neuanmeldungen. Solche Zählungen machen aber im Grunde nur Sinn, wenn sie täglich erhoben ­werden. Das Recherchefeld: öffentliche Leihbibliotheken in Ostberlin Neben Beständen des Landesarchivs Berlin und Publikationen zur Bibliotheksgeschichte Berlins4 war die Suche nach ehemaligen Mitarbeiter*innen der Friedrichshainer Bibliotheken eine vielversprechende Spur. Eine Anfrage an die Stadtbezirksbibliothek Friedrichshain-Kreuzberg mit beigefügter Abbildung des Objektes wird bereits am Folgetag zur großen Überraschung der Forschenden positiv beantwortet. Man habe sich unter Kolleg*innen aus der ehemaligen DDR umgehört und könne meine Vermutungen bestätigen, dass mit den Abkürzungen K, J, E, Ges die Benutzer*innengruppen Kinder, Jugendliche, Erwachsene und die Gesamtzahl erhoben wurden. Außerdem gibt man mir die Kontaktdaten eines Mitarbeiters, Herrn H.s, der sich an den Apparat erinnern könne und bereit sei, mir nähere Auskunft zu erteilen. Eingetaucht im Spielzeugland, finde ich mich nun in der Welt Ost-Berliner Bibliothekare wieder und lerne Friedrichshainer Bibliotheksgeschichte, Betriebsalltag in Erwachsenen- und Kinder- und Jugendbibliotheken und den technischen Stand der damaligen Datenerfassung in Leihbibliotheken kennen. Ein recht genaues Bild vom Gebrauch der Zählmaschine lässt sich nach einem Gespräch mit Herrn H. nun zeichnen.

4  Götz von Coburg: Lesen in Berlin. Ge-

schichte der öffentlichen Bibliotheken von 1850 bis 1980, Berlin (West) 1980; Beiträge zur Berliner Bibliotheksgeschichte, hrsg. vom Bibliotheksverband der Deutschen Demokratischen Republik, Bezirksgruppe Berlin, 1981–1989; Helmut Göhler (Hg.): Alltag in öffentlichen Bibliotheken der DDR. Erinnerungen und Analysen, Bad Honnef 1998. 5  Herr H. erwähnt in einem Interview v.

7. Juli 2015, dass nach der Wende kurzzeitig die Strichliste zur Erfassung statistischer Daten wieder eingeführt wurde, bis man diese durch eine EDV-basierte Erhebung ablöste.

Das Gerät, das zur Erfassung von Besucher*innen sowie Ausleihen diente und als statistisches Instrument die Strichliste5 ablöste, stand in der Friedrichshainer Erwachsenenbibliothek E5 in der Boxhagener Straße 23. Sie war eine kleine Zweigbibliothek unter insgesamt acht Erwachsenen- und sieben Kinder- und Jugendbibliotheken im Bezirk Friedrichshain, die der in der Mollstraße befindlichen Pablo-Neruda-Bibliothek unterstanden. Eröffnet wurde sie 1951 als Ladenbibliothek, ihre Schließung erfolgte 1996. An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick in die Geschichte des Bibliothekswesens Friedrichshains zu werfen. Die erste Volksbücherei wurde bereits 1866 in der Langen Straße 76 (in der Nähe des heutigen Ostbahnhofs) eröffnet und steht im Kontext der sogenannten Bücherhallenbewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1902 erfolgte ihre Verlegung in die Straßmannstraße. Die dortige Bibliothek verfügte über eine Lesehalle und eine Ju173

gendausleihe.6 In den 1930er Jahren gab es fünf Volksbüchereien und zwei Kinderlesehallen. Der Nationalsozialismus sowie der Krieg prägten auch die Bibliothekslandschaft des Bezirkes. Die Bombenangriffe zerstörten in Friedrichshain die Hälfte der Wohngebäude, wovon auch Bibliotheken betroffen waren. Im September 1945 wurden drei Büchereien neu beziehungsweise wieder eröffnet und das Versorgungsnetz langsam wieder aufgebaut. Der große Teil faschistischer Literatur wurde ausgesondert, aber auch durch entliehene und gestohlene Bücher war der Bestand zunächst dezimiert. Um die Versorgung der lokalen Bevölkerung niedrigschwellig zu gewährleisten, entschied man sich, auf eine zentrale Großbücherei zu verzichten und »lieber 20 kleine Büchereien«7 zu eröffnen. Diese entstanden in den folgenden Jahren unter anderem in ehemaligen Kneipen und Läden, aber auch als Bibliotheksneubauten in der Frankfurter Allee und der Wedekindstraße. In den 1970er Jahren konstatierte man ein wachsendes Lesebedürfnis und eröffnete die Pablo-Neruda-Bibliothek in der Mollstraße, die auch eine Phonothek umfasste. Eine Statistik aus dem Jahr 1983 weist für die Ladenbibliothek in der Boxhagener Straße 23 1852 Benutzer*innen aus, in der Mollstraße 15.608. 49.308 Entleihungen stehen 309.845 in der Hauptbibliothek gegenüber. Nicht zuletzt umfassen die Bestände der kleinen Bibliothek in der Boxhagener Straße nur ein Achtel der großen Bibliothek.8 174

Ein ›antiquarisches‹ Ensemble: die Zählmaschine am originalen ­Standort und in uriger Umgebung zwischen Kachelofen und Schreibmaschine. (Foto: Jürgen Hecker)

6  Jürgen Hecker: Die Notwendigkeit einer

bedarfsgerechten Strukturentwicklung und effektiven Arbeitsorganisation der Stadtbezirksbibliothek Berlin Friedrichshain, ms. Diplomarbeit v. 7. Januar 1985, S. 12. 7  Walter Hauke: Die Entwicklung der

Berliner Volksbüchereien von 1945–1950, in: Magistrat von Groß-Berlin (Hg.): Festschrift der Stadt Berlin zum hundertjährigen Bestehen der Volksbüchereien, Berlin (DDR) 1950, S. 27–48, hier S. 34. 8  Privatbestand von Herrn H.

Neben Größe und Bestand dürften auch der Zustand der Räumlichkeiten sowie die technische Ausstattung zwischen Hauptbibliothek und der kleinen Zweigbibliothek differiert haben. Während die 1974 neu eröffnete Pablo-Neruda-Bibliothek über ein damals modernes Fotoverbuchungssystem verfügte, arbeitete die Zweigbibliothek noch mit der Klappkartenverbuchung.9 Aber nicht nur das Verbuchungssystem der Boxhagener Straße mutet, zumindest im Vergleich, aufwendig an. Die Zählmaschine selbst erweckt ebenfalls nicht den Eindruck eines hochmodernen statistischen Erfassungssystems. Es handelt sich aber nicht, wie man denken könnte, um ein selbst gebautes Gerät, sondern das Gerät wurde, so findet Herr H. durch Telefonate mit ehemaligen Kolleg*innen heraus, wahrscheinlich von einer lokalen Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) für mehrere Zweigbibliotheken in Friedrichshain produziert, auch von einem Ingenieur aus Treptow ist die Rede, aber der Name kann nicht ermittelt werden. Täglich wurde die Ausleih- und Benutzerstatistik erhoben und dann handschriftlich notiert. Jedes Jahr um Weihnachten wurde das Gerät auf null gestellt. An das Geräusch, das die zurücklaufenden Zählwerke dabei machten, können sich die damaligen Mitarbeiter*innen noch gut erinnern.

9  1995 stellt eine Untersuchung im Prozess der

Zusammenführung der Berliner Bibliotheken fest, dass das Fotoverbuchungssystem in Ost-Berlin im Gegensatz zu den West-Berliner Bibliotheken noch die Ausnahme war. Vgl. Dorothea Katharina Schulze: Projektmanagement im Bibliothekswesen, dargestellt am Beispiel des Verbundes Öffentlicher Bibliotheken Berlins (VÖBB), Berlin 2005, S. 39. 10  Roswitha Kuhnert: Kinderbibliotheksarbeit

in der DDR, in: Peter Vodosek, Konrad Marwinski (Hg.): Geschichte des Bibliothekswesens in der DDR, Wiesbaden 1999, S. 99–116, S. 104. 11  Privatbestand von Herrn H.

Statistik und Kontrolle Die Zählmaschine und ihre Anwendung stehen im Kontext einer Geschichte der Statistik als Mittel der Kontrolle. Die Bibliotheken waren eingebunden in das planwirtschaftliche System und konnten über das Mittel der statistischen Selbstauskunft kontrolliert werden. »Benutzer-, Bestands- und Entleihungszahlen waren Bestandteil des Volkswirtschaftsplans«, erinnert sich die Leiterin einer Kinderbibliothek. »Meine Kollegen stöhnten, wenn die Planerfüllung zur Prüfung anstand, und das geschah am Monatsende, mindestens aber am Quartalsende.«10 Leider sind keine Statistiken für die Bibliothek E5 erhalten, in der die Zählmaschine stand. Allerdings gibt es zahlreiche ausgefüllte Monatsberichte der Bibliothek E1 in der Straßmannstraße.11 Vorangestellt wurde den Bögen, die in einem Ordner gesammelt wurden, eine Anleitung zur richtigen statistischen Erfassung. Dieser ist zu entnehmen, dass es um drei große Bereiche ging: die Bestandsentwicklung, die Entwicklung der Leser*innenschaft und die Ausleihen selbst. Jedem Bogen wurde noch eine handschriftlich verfasste kurze Auswertung beigefügt. Dass die Bibliotheken die Verantwortung für die Planerfüllung nicht allein bei sich verorteten, sondern externalisierten und schlagfertig als Kritik ›nach oben‹ zurückgaben, zeigt etwa ein Kommentar auf dem statistischen Bogen im Februar 1970. Dort 175

Berichtspflicht – Statistikbogen aus einer Berliner Zweigbibliothek, 1970, ­Privatbesitz.

stellte das Bibliotheksteam in der Straßmannstraße nur ein »befriedigendes« Ergebnis bei der Entwicklung der Nutzer*innenzahlen fest. »Zum Teil katastrophale Straßenverhältnisse« würden »viele Leser vom Besuch der Bibliothek abhalten«, mutmaßt man. Außerdem sei die »ohnehin schon geringe Sichtwerbung noch eingeschränkt, da wir Wahlplakate im Schaukasten anbringen mussten.«12 Die Politisierung der Bibliothek als öffentlicher Raum geriet also durchaus in Widerspruch mit den Interessen der Bibliothekar*innen. Auch die unzureichende Befriedigung von Anschaffungswünschen der Leser*innenschaft gab man den vorgesetzten Stellen weiter. Das betraf allerdings keinesfalls in irgendeiner Weise politisch pikante Literatur, sondern die pragmatische Nachfrage nach ökonomischer Fachliteratur oder englischen und französischen Wörterbüchern. Der Mythos vom Leseland DDR konkretisiert sich in der Zählmaschine in erster Linie als bürokratische Praxis zur Erfassung des Nutzungsverhaltens der lesenden DDR-Bevölkerung, wobei es einer weitergehenden Recherche bedürfte, um zu bewerten, mit welcher Intention diese Daten tatsächlich erhoben und wie sie ausgewertet wurden. Vor allem aber wurden sie, so lassen es die den Statistiken beigefügten Kommentare andeutungsweise erkennen, als Mittel zur Kontrolle des eigenen Personals aufgefasst, das die Planerfüllung belegen beziehungsweise die Planverfehlung zu rechtfertigen hatte. Plädoyer für das Unerwartete Die Spurensuche ist ein prinzipiell offener Prozess, manche Spuren laufen ins Leere, andere führen zu einer qualifizierenden Informationsdichte und lassen Schlussfolgerungen zu. Die Materialität der Dinge fordert vielleicht mehr, als es das schriftliche Wort tut, das kreative Vorwegnehmen und Spekulieren heraus. Die Fragen an das Objekt sind dabei – dies formuliere ich selbst176

12  Statistik der Bibliothek E1 v.

Februar 1970, privat.

kritisch und zugleich als Überzeugungstäterin – von eigenen Vorlieben und favorisierten Themenschwerpunkten geprägt. Der »Spielzeugcomputer« war ein Wunschobjekt und eine der eigenen Affinität zu Modernisierungsvisionen geschuldete Projektion gewesen, begünstigt durch die unkorrekte, wenngleich in jeder Hinsicht sinnvoll erscheinende Einordnung in den Spielzeugbestand des Museums. ›Aufgewacht‹ bin ich an der Ausleihtheke einer Bezirksbibliothek. Gerade durch das Spannungsverhältnis, das sich aus der (in seiner Rustikalität und dem Improvisationsgrad) einem Spielzeug entsprechenden Anmutung des Objektes und der Herrschaftsfunktion eines bürokratischen Arbeitsmittels, als das sich die Zähl­maschine im Laufe der Spurensuche entpuppte, ergab, entsteht eine Mehrdeutigkeit des Objektes, die die anfängliche Faszination dennoch einzulösen vermochte.

177

»Wenn ich einmal groß sein werde, fliege ich in den Weltenraum« – ein kleiner Kosmonaut als Festival-Maskottchen zum 30. Jahrestag der DDR, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Linda Harteman).

KOSMONAUT-FESTIVAL-MASKOTTCHEN LINDA HARTEMAN »Wenn ich einmal groß sein werde, flieg ich in den Weltenraum, seh den Strahlenkranz der Erde, wahr wird dann mein Kindertraum. Oft schon schau ich zu den Sternen, aus dem All grüßt uns Salut, denn wer startet in die Ferne, der braucht Wissen, Kraft und Mut. Ich will immer fleißig lernen, wissen wie die Welt gebaut, fliegen will ich zu den Sternen, 1 als ein Forschungskosmonaut«

Das Archiv des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt umfasst etwa 170.000 Objekte aus dem Alltag der Deutschen Demokratischen Republik – es ist überwältigend und spannend zugleich. Die Aufgabe, sich drei Objekte auszusuchen und sich auf »Spurensuche« zu begeben, ist eine Herausforderung, der ich versuche so offen wie möglich zu begegnen. Und doch ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich gerne ein Objekt finden möchte, dass inhaltlich zu meinem Forschungsinteresse an der Stadtentwicklung und -geschichte von Frankfurt (Oder) passt. Relativ schnell entdecke ich eine gelbe Plaste-­Tasche mit Aufdruck des Fußball-Clubs »FC Vorwärts Frankfurt« und werde neugierig auf die Geschichte des Vereins. Dann aber sehe ich diese kleine Figur im Archivregal, sie lacht mich förmlich an – freundlich, ich finde sogar ein wenig frech – mit den angewinkelten Armen und den blauen Augen. Ich greife sofort zu. Auch das Verpackungsdesign und die Typografie der Beschreibung sprechen mich sofort an. Ich entscheide mich spontan, ohne lange zu überlegen, was mich im Detail an diesem Gegenstand interessiert.

1  Rundfunk-Kinderchor Berlin: Wenn

ich einmal groß sein werde. In: Die Erde dreht sich linksherum, LP, AMIGA VEB Deutsche Schallplatten, Berlin (DDR) 1978; https://www.youtube.com/watch?v=O4Owo_rjy1s, letzter Zugriff: 04.11.2018.

Im Bereich »Spielwaren« gibt es diese Figur gleich zwei Mal, aber mit Unterschieden: die eine in der Farbe hellbeige, originalverpackt und scheinbar ungeöffnet, die andere in der Farbe braun und ohne Verpackung. Als Objekt wähle ich die originalverpackte Figur aus, da auf der Verpackung viele Hintergrundinformationen (Hersteller, Kontext, Preis etc.) zu finden sind. Auch wenn man vermutlich noch freier nach Spuren suchen könnte, wenn die Verpackung nicht schon so viele Hinweise liefern würde – später werden sich die Informationen noch als hilfreich herausstellen.

Objektbeschreibung Ich habe mich – laut Verpackung – für eine kleine Kosmonautenfigur entschieden. Die Verpackung setzt sich aus einem transparenten Kunststoffbeutel, in den die Figur eingehüllt ist, und einem Pappteil zusammen. Letzteres hält den Beutel zusammen, der mit einer Heftklammer verschlossen wurde, und wirbt für den Inhalt der Verpackung und den Anlass ihrer Herstellung. Auf dem schmalen Karton ist eine Art Regenbogen in den Farben rot, orange und gelb abgebildet. Auf der Vorderseite steht in Druckbuchstaben: KOSMONAUT FESTIVAL MASKOTTCHEN. VEB SONNI. BETRIEB KLEINPUPPEN LICHTE/ THÜR. In der rechten Ecke findet sich der Kaufpreis EVP 7,– M und auf der Rückseite ein kreisrundes Logo. Es besteht aus einem einer Blume nachempfundenen Zeichen, in dessen Mitte das Staatswappen der DDR abgebildet ist, und dem Schriftzug: »Nationales Jugendfestival der DDR, 30 Jahre DDR«. Das Material der Figur ist offensichtlich Kunststoff, hier vermutlich Polyethylen.2 Die kleine Figur trägt einen verzierten Anzug und einen Helm. Sie hat einen relativ großen Kopfumfang (Helmumfang) von 18 cm im Vergleich zu der gesamten Körperlänge von 16 cm. Auch der vorstehende Bauch der Figur wirkt verhältnismäßig überdimensioniert, ebenso wie die Schuhe. Die Kunststoffpuppe scheint innen hohl zu sein, sie lässt sich an Bauch und Kopf leicht eindrücken. Der Kopf mit Helm lässt sich drehen, sonst sind keine Teile beweglich. Die Figur ist farblich fast komplett einheitlich gestaltet: Ich würde sie als hellbeige mit einem leichten rötlichen Farbstich beschreiben. Lediglich das Gesicht ist etwas anders gestaltet und einer hellen Hautfarbe nachempfunden. Diese Gesichtsfarbe wurde vermutlich von Hand aufgetragen, sie wirkt ungleichmäßig und geht an einigen Stellen über die Gesichtsfläche hinaus. Die Augen der Figur bestehen aus kleinen, runden Plastikaufsätzen. Die blaue Farbe der Iris wird intensiviert durch die strahlenförmige Anordnung von wechselnd dunkelblauen und hellblauen Streifen rund um die dunkelblaue Pupille – das Blau wirkt dadurch noch stärker und kristallartiger. Eine angedeutete hellbraune Haarsträhne lugt unter dem Helm hervor. Deren Farbe wurde vermutlich ebenfalls von Hand aufgetragen. Das Gesicht wirkt insgesamt sehr rund und kindlich. Der Mund hat keine Oberlippe; er besteht nur aus einer Unterlippe, wobei die Mundwinkel leicht nach oben zeigen – es scheint, als ob die Figur lächelt. Die Nase steht etwas hervor, kleine runde Nasenlöcher sind ebenfalls angedeutet. Auf dem Helm der Figur befindet sich – leicht erhaben – in großen Druckbuchstaben der Schriftzug »DDR«.

2  Diesen Hinweis gibt mir die Workshop-­

Kollegin Katja Böhme.

180

Kosmonaut Festival Maskottchen, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Linda Harteman).

Auf dem farblich einheitlich gestalteten Raumanzug sind über der Brust und an der Hüfte Gurte sowie Trennnähte und Reißverschlüsse angeordnet und in der Mitte befindet sich ein angedeuteter Verschluss mit einem kleinen Ring, mit dem er scheinbar zu öffnen ist. Die Figur trägt auf der linken Seite ihres Anzugs, fast auf der Höhe der Schulter, das Staatswappen der DDR: ein kleiner Kreis, in der Mitte Hammer und Zirkel. Der Anzug hat leichte Wölbungen und Einkerbungen an Schultern, Ellbogen, Knien und am Hinterteil, die auf einen Arbeitsanzug mit Schutzvorrichtungen schließen lassen. Die aufliegenden Hände zeigen nur vier Finger – der fünfte, wahrscheinlich der Daumen, ist nicht zu sehen. Kontextualisierung Ich beginne nun meine Recherche im Internet: Finde ich Einträge zu dem kleinen Kosmonauten? Ich gebe die Hinweise, die auf der Verpackung zu finden sind, in die Suchmaske ein: Ich suche nach dem »Kosmonaut Festival Maskottchen« und nach dem »VEB Sonni Kosmonaut«. Auf welchen Internetseiten wird der kleine Kosmonaut zu finden sein? Welchen Bezug stellen sie her? Was kann ich über den Volkseigenen Betrieb »Sonni« herausfinden? Kann ich die Gestalter*innen ausfindig machen und Informatio181

nen aus erster Hand erhalten, zum Beispiel wie der Auftrag zustande kam und was der kleinen Figur als Vorlage diente? Was lässt sich über das Nationale Jugendfestival 1979 nachlesen? Wie kam es zu der Auswahl des Kosmonauten als Maskottchen? Finde ich jemanden, der mir etwas über den kleinen Kosmonauten erzählen kann? Später suche ich nach Querverweisen, die neue Fragen aufwerfen. Ich sehe mir Filmdokumentationen im Internet an und suche in Bibliotheken nach Büchern und Zeitungsartikeln, die mir weitere Hinweise zu dem kleinen Kosmonauten liefern oder die bestimmte Begriffe genauer erklären. Ich telefoniere mit Zeitzeugen und nehme Kontakt zu Mitarbeiter*innen des Sonneberger Spielzeugmuseums sowie dem Thüringischen Staatsarchiv Meiningen auf. Eines der ersten Ergebnisse, das ich zum eingegebenen Such­ begriff »VEB Sonni Kosmonaut« finde, ist eine Abbildung des Kosmonauten neben zwei weiteren, kleineren Kosmonauten und einer – vermutlich gebastelten – Rakete auf der Internetseite des Nürnberger Spielzeugmuseums. Im Rahmen der ­Ausstellung »made in GDR – DDR-Spielzeug für die Welt« (November 2014– März 2015) wurde ein Begleitprogramm für Kinder mit dem Titel »Astronauten, Kosmonauten und fliegende Hunde« angeboten; Kinder konnten hier in einer Mitmachaktion eine Ost-West-­ Rakete bauen.3 Schon der Titel der Veranstaltung wirft neue Fragen auf: Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen einem ›Kosmonauten‹ und einem ›Astronauten‹? Die Begriffe sind aus dem Altgriechischen hergeleitet, kósmos = Weltall, ástron = Stern, naútes = Seemann,4 und kamen über das Russische beziehungsweise das Englische in den deutschen Sprachgebrauch. Im Onlinelexikon Wikipedia finde ich folgende Erklärung: Die beiden Weltmächte Sowjetunion (UdSSR) und USA lieferten sich einen Wettstreit in Sachen Raumfahrt. Die Bezeichnung »Kosmonaut« wurde in den 1950er Jahren in der Sowjetunion (UdSSR) geprägt. Als »Astronauten« wurden die Weltraumfahrer der amerikanischen Raumfahrtbehörde (NASA) ab dem 1. Dezember 1958 bezeichnet. In Sachen Wettstreit um die Erkundung des Weltalls legte die UdSSR vor: Der Kosmonaut Juri Gagarin flog am 16. April 1961 als erster Mensch in den Weltraum und umrundete einmal die Erde.5 Die »Bruderstaaten« Sowjetunion und Deutsche Demokratische Republik feierten Gagarins Erdumrundung und benannten später zahlreiche Straßen, Schulen und Kindergärten nach ihm. So 182

3  Spielzeugmuseum, Nürnberg, Aus-

stellung »made in GDR«, Mitmachaktion, 31. Januar 2015: »Astronauten, Kosmonauten und fliegende Hunde«. 4  Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 5.,

überarb. Aufl., Mannheim 2003, S. 171, S. 952. 5  Artikel »Raumfahrer«, https://de.wikipedia.

org/wiki/Raumfahrer, letzter Zugriff: 19.07.2019.

Wandbild am Vereinshaus »Kosmonaut«, Schwedt/Oder. (Foto: Linda Harteman)

6  Andreas Sawall: Krieg der Bauten. Wett-

kampf der Architekten im geteilten Berlin. ZDF TV-Dokumentation, 2. November 2014, Minute 15:05–15:35 und Minute 15:41–15:43. http://www.zdf.de/dokumentation/krieg-derbauten-­wettkampf-der-architekten-im-geteiltenberlin-35609584.html, letzter Zugriff: 03.11.2018.

trägt auch eine (ehemalige) Oberschule im V. Wohnkomplex von Eisenhüttenstadt den Namen des sowjetischen Raumfahrers. Ein aus Keramikfliesen gefertigtes Wandbild ziert die Außenwand der Schule. Das Werk des Dresdner Künstler Friedrich Kracht zeigt in Etappen die »Entwicklung der menschlichen Gesellschaft« – vom Urmenschen bis hin zum Kosmonauten. Dieses Bild betrachteten wir im Rahmen einer Exkursion durch den vom Abriss gezeichneten Teil der Stadt. Auch die Außenwand des Vereinshauses »Kosmonaut« in Schwedt/Oder steht im Zeichen der »Weltraum-Eroberung«. Sie zeigt eine große, farbige Abbildung eines Kosmonauten: Die 30-minütige TV-Dokumentation »Krieg der Bauten« (2014) von Andreas Sawall zeigt, dass jeder Triumph der Sowjetunion über die USA in Sachen Weltraumunternehmungen Spuren in den Stadtbildern hinterlassen hat. Laut Dokumentation zeigt sich das auch in der Hauptstadt der DDR, Ost-Berlin: »An keinem Gebäude lässt sich heute die sozialistische Aufbruchstimmung so plastisch ablesen wie am Café Moskau an der Karl-Marx-Allee – auf dem Dach das Modell des ersten Sputnik-Satelliten. Wer den Kosmos erobert, dem gehört die ganze Welt«.6 Juri Gagarin wurde also gefeiert und trug ab 14. April 1961 den Titel »Held der Sowjetunion«. Er besuchte auf Einladung von 183

Walter Ulbricht am 17. Oktober 1963 mit seiner Kollegin Walentina Tereschkowa (der ersten Frau im Weltraum) die DDR und wurde begeistert von Groß und Klein empfangen. Sie waren zu Besuch in Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz) und in Erfurt, dort malten Schulkinder im Rahmen eines Wettbewerbs den Weltraumflug von Tereschowka und Gagarin nach. In beiden Städten wählte eine Jury jeweils sechs Bilder aus. Der Preis: Am 18. Oktober 1963 konnten die Kinder ihre Kunstwerke im Fernsehen präsentieren und ihre Bilder wurden von den anwesenden »Weltraum-Stars« kommentiert und signiert.7 Das Kinderlied »Wenn ich einmal groß sein werde« (Zitat am Anfang des Textes), gesungen vom Rundfunk-Kinderchor Berlin, handelt von diesem Traum, ein Weltraumkosmonaut zu werden, und wie man ihn erreichen kann. »Die Kinder in der DDR wurden vom Kosmonautenfieber angesteckt und vergnügten sich in Klubs künftiger Kosmonauten. Mit selbst gebastelten Raumanzügen, Helmen und Raketen spielten sie die Abenteuer der Helden des Kosmos nach. In den Kosmonautenklubs der DDR entstanden Modelle von Raketen und Raumkapseln«.8 Rüthers beschreibt weiter, welchen Nutzen die Politik an der Verbindung »Kind und Kosmos« gehabt haben soll: 184

Selbst gebauter Kosmonautenhelm aus einer Jugendeinrichtung in Frankfurt (Oder), Dokumentations­ zentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

7  Mitteldeutscher Rundfunk (MDR),

Zeitreise: Kinder malen den Weltraumflug (18. Oktober 1963), https://www.mdr. de/zeitreise/video-205194_zc-9291bc85_zs6c7954ac.html, letzter Zugriff: 03.11.2018. 8  Monica Rüthers: Lauter kleine Gagarins.

Kosmosfieber im sowjetischen Alltag, in: Thomas Myrach u. a. (Hg.): Science & Fiction. Imagination und Realität des Weltraums, Bern/ Stuttgart/Wien 2009, S. 219–240, S. 235.

Zur Ikonografie der Kosmonauten gehörte standardmäßig die Abbildung im Kreis von Kindern. Vieles spricht dafür, dass mithilfe solcher Bilder Kindheitsutopien instrumentalisiert wurden, um Macht zu legitimieren. Die Verbindung von Kind und Kosmos sprach Hoffnungen auf Neubeginn und utopische Zukunftsfantasien an. Die Kombination brachte die Erneuerung des Sozialismus und den Neubeginn der Menschheit in einen direkten Zusammenhang: Beides waren Zukunftsprojekte. Kometengleich wies der Sputnik den Weg. Die Kinder von heute würden morgen den Kosmos erobern. Die Raumfahrt war ›Traum aller Kinder‹ und Gagarin das Vorbild, dem die Kinder in Klubs künftiger Kosmonauten nacheiferten.9

Laut Rüthers waren neben den Pionierorganisationen – welche für die Organisation der Freizeit zuständig waren – Kindermedien wie Bücher, Zeitschriften und Filme die wichtigste Vermittlung für die Begeisterung an der Raumfahrt.

9  Ebd., S. 229. 10  Deutsches Historisches Museum

Berlin, Ausstellung Lebensstationen in Deutschland 1900–1993. Zeughaus Berlin, 26. März–15. Juni 1993, Bereich: Deutsche Demokratische Republik, Kindergarten, Spielzeugpuppe »Kosmonaut«, http://www. dhm.de/archiv/ausstellungen/lebensstationen/3_29.htm, letzter Zugriff: 24.03.2015. 11  Mitteldeutscher Rundfunk (MDR),

Zeitreise: Sigmund Jähn, http://www. mdr.de/zeitreise/ddr/sigmund-jaehn124. html, letzter Zugriff: 03.11.2018. 12  Straßengeschichte: Allee der Kosmonau-

ten, Berliner Morgenpost, v. 26. April 2011, https://www.morgenpost.de/printarchiv/ berlin/article104941800/Allee-der-Kosmonauten.html, letzter Zugriff: 03.11.2018.

Ich suche weiter nach dem kleinen Kosmonauten und finde auf der Website des Deutschen Historischen Museums, Berlin, eine Abbildung der gesuchten Figur und folgende Beschreibung: »Die Puppe trägt einen Kosmonautenanzug, auf dem sich das Staatswappen befindet, sowie einen Helm, der mit der Aufschrift ›DDR‹ versehen ist. Im Rahmen des Interkosmos-Programms der sozialistischen Länder nahm Sigmund Jähn, Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee, 1978 als erster DDR-Kosmonaut an Bord von Sojus 31 an einem Weltraumflug teil. Die Puppe erinnert an dieses Ereignis.«10 Die Sowjetunion hatte am 13. Juli 1976 den am Interkosmos-Programm beteiligten Partnerländern (so auch der DDR) ein Angebot gemacht: Sie könnten eigene Kosmonauten in Sojus-­ Raumschiffen zur Orbitalstation Saljut 6 mitfliegen lassen. Die DDR wählte vier Kandidaten aus, die am 10. November 1976 in das sowjetische Kosmonautenausbildungszentrum reisten. 15 Tage später stand die Entscheidung fest, zwei Kandidaten hatten es in die engere Auswahl geschafft, einer davon war Sigmund Jähn. Jähn startete am 26. August gemeinsam mit Waleri Fjodorowitsch Bykowski, Kosmonaut der Sowjetunion, in dem sowjetischen Raumschiff »Sojus 31« zur russischen Orbitalstation »Saljut 6«. Sie umkreisten in knapp acht Tagen 125 Mal die Erde.11 Tageszeitungen wie »Neues Deutschland« titelten: »Der erste Deutsche im All ein Bürger der DDR«, Jähn und Bykowski wurden als Helden ausgezeichnet und gefeiert. Auch dieser Triumph hinterließ Spuren im Stadtbild: Straßen und Schulen wurden nach Jähn benannt. Die ehemalige »Springpfuhlstraße« in Berlin-Marzahn wurde zu Ehren der beiden Weltraumfahrer am 22. September 1978 in »Allee der Kosmonauten« umbenannt.12 185

Auch der Autor Bernd Havenstein hat sich mit dem kleinen Kosmonauten beschäftigt. In seinem Buch »DDR-Spielzeug« befindet sich eine Abbildung der Figur – hier in einem blauem Raumanzug. Havenstein schreibt: Hier ist dem – leider bisher unbekannt gebliebenen Schöpfer oder der Schöpferin – eine sympathische Puppe gelungen. Diese bescheiden und freundlich lächelnde Figur im Raumanzug verkörpert fast sinnbildhaft auch die Eigenschaften des ersten Deutschen im All – Sigmund Jähn. Denn der ist seit seinem Raumflug bis in die heutige Zeit ein Mensch ohne Starallüren geblieben. Und wie seine Ausflüge in die Talkshow-Welt des Fernsehens zeigen, ein Mann mit überraschendem Humor.13

Nachdem ich im Internet lese, dass Sigmund Jähn am Rande von Berlin lebt und auch eine Autogrammadresse im Netz zu finden ist, schreibe ich ihm einen Brief. Vermutlich kennt Herr Jähn die Puppe und kann etwas über sie erzählen? Vielleicht kennt er den oder die Gestalter*in? Ich versehe den Brief mit einem Foto der Figur, Rückumschlag und meiner Telefonnummer. Sigmund Jähn meldet sich telefonisch. Er erklärt, dass er die Puppe zwar kennt, aber eigentlich nichts dazu sagen könne. Er selbst habe den kleinen Kosmonauten damals nicht so gerne gesehen, da er häufig auf seinem Kopf Autogramme schreiben musste, was sich, weil der Kopf nicht besonders groß war, als sehr schwierig dargestellt habe. Zum »Sandmännchen« hätte er etwas erzählen können, sagt Sigmund Jähn noch – denn das hatte er sogar mit in den Weltraum genommen.14 Mit dem kleinen Sandmann im Raumanzug der sowjetischen Kinderfunkpuppe Mascha, die sein sowjetischer Kollege Waleri Bykowski im Gepäck hatte, wurde eine Sendung für das Kinderfernsehen gefilmt, in der Sigmund Jähn die beiden Puppen eine »kosmische Hochzeit« feiern ließ. Dieses Ereignis, das laut Jähn »eine besondere Überraschung für unsere Kinder« sein sollte, wurde live ins DDR-Fernsehen übertragen. Die in den Weltraum gestarteten und von Sigmund Jähn vermählten Originalfiguren zeigt das Militärhistorische Museum der Bundeswehr, Dresden, in der Dauerausstellung.15 Während der Erdumrundung am 27. August 1978 hatte Jähn der Tageszeitung »Neues Deutschland« erklärt, dass er den Weltraumflug »dem 30. Jahrestag der Gründung der DDR« widmen würde, der am 7. Oktober 1979 gefeiert werden sollte.16 Auch das »Nationale Jugendfestival der DDR«, das vom 1. bis 3. Juni 1979 in Berlin stattfand, stand im Zeichen des Jahrestags der Staatsgründung: 186

13  Bernd Havenstein: DDR-Spiel-

zeug, Köln 2009, S. 31. 14  Persönliche Kommunikation der Autorin

mit Sigmund Jähn, August 2015. 15  Rundfunk Berlin Brandenburg: Der

Sandmann, Folge 192, Mascha, 1978, https://www.sandmann.de/elternseite/ unser_sandmaennchen/fuhrpark/beitraege/ mascha.html, letzter Zugriff: 03.11.2018. 16  Ich widme meinen Flug dem 30. Jahrestag

der Gründung der DDR, meinem sozialistischen Vaterland. Erklärung von Oberstleutnant Sigmund Jähn vor dem Start, in: Neues Deutschland v. 27. August 1978.

»Hunderttausende Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) gestalteten vom 1.–3. Juni 1979 im 30. Jahr der Deutschen Demokratischen Republik, das Nationale Jugendfestival in der Hauptstadt Berlin zu einem mitreißenden Bekenntnis zu ihrem sozialistischen Vaterland.«17 Der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend gibt nach den Feierlichkeiten dieses bunt bebilderte, in fünf Sprachen übersetzte Buch heraus. Zu sehen sind viele feiernde, flanierende Jugendliche – es wird getanzt, musiziert und gelacht.

17  Zentralrat der Freien Deutschen Jugend

(Hg.): Nationales Jugendfestival der DDR 1979; Verbandstreffen der FDJ, Dresden 1979, S. 3. 18  Arno Schwarze, Alfred Bosecker: Festi-

val-Souvenirs, in: Spielzeug von heute. Fachzeitschrift der Spielzeugindustrie der Deutschen Demokratischen Republik, 20 (1979), H. 2, S. 24. 19  Persönliche Kommunikation der Autorin

mit Sonja Gürtler, Deutsches Spielzeugmuseum, Sonneberg, Oktober 2015. 20  Inge Zips (Hg.): Spielzeugmacher – aktive

Gestalter der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Die Geschichte unseres Werdens und Wachsens. Kommission für Betriebsgeschichte i. A. der Betriebsparteiorganisation des VEB Sonni Sonneberg, Stammbetrieb des VEB Kombinat Spielwaren Sonneberg, o. O., 1986, S. 65.

Aber der kleine Kosmonaut ist im gesamten Buch nicht zu finden. Er diente dem Nationalen Jugendfestival in Berlin als Maskottchen und wurde im Volkseigenen Betrieb (VEB) »Sonni« hergestellt. Die Zeitschrift »Spielzeug von heute« schreibt im Februar 1979: »Auch der VEB Kombinat Puppen und Plüschspielwaren ›Sonni‹ Sonneberg unterstützte das Nationale Jugendfestival Pfingsten in Berlin. Im Betriebsteil 2 wurden 10 000 Souvenirs gefertigt, die der Bezirksdelegation der FDJ zur Verfügung gestellt wurden.«18 Ich nehme Kontakt zum Sonneberger Spielzeugmuseum auf. Die Mitarbeiterin Sonja Gürtler, zuständig für die Sammlung des Museums, gibt mir folgenden Hinweis:19 In einem Heft über die Betriebsgeschichte des VEB ›Sonni‹ Sonneberg wird der kleine Kosmonaut erwähnt, ebenso auch ein kleiner Kosmonautensandmann: »Das gemeinsame Weltraumunternehmen von UdSSR und DDR wurde gewürdigt durch die umgehende Entwicklung der neuen Souvenirs ›SONNI-Kosmonauten‹ und ›SONNI-Kosmonautensandmann‹ durch die Brigade ›Käthe Kollwitz‹ Forschung und Entwicklung«.20 Frau Gürtler schreibt außerdem, dass sich die Akten zur Sonni-Geschichte in den Archiven Meinigen und Suhl befinden. Ich nehme also Kontakt zu den Archiven auf, um mehr über die Geschichte des kleinen Kosmonauten zu erfahren. Der Leiter des Thüringischen Staatsarchivs Meiningen, Dr. Norbert Moczarski, unterstützt meine Recherche: Ich erhalte Einsicht in Aktennotizen, welche insbesondere die Herstellung der Kosmonautenfiguren protokollieren. Die Notizen beschreiben vor allem, welche Schwierigkeiten im Vorfeld zu klären waren: Herr Luther, der Kombinatsdirektor des VEB Kombinats Sonni, erhält am 29. September 1978 folgende mit Schreibmaschine beschriebene Seiten des stellvertretenden Betriebsdirektors Fritsch der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) Spielwaren: »Laut Weisung des Generaldirektors der VVB Spielwaren soll der Betrieb VEB SONNI Kleinpuppen Lichte von Januar – April 1979 200 000 Stück Kosmonauten Größe 16 cm entsprechend des 187

von uns entwickelten Modells fertigen.«21 Fritsch schreibt weiter, dass sich in der Vergangenheit wie auch in dem laufenden Jahr 1978 immer wieder betriebliche Engpässe im Bereich Malerei ergeben hätten. Der kleine Kosmonaut müsse ja schließlich »diesen Fertigungsbereich durchlaufen«. Er führt aus, welche Auswirkungen die Fertigung von 200.000 Kosmonauten für den gesamten Spielwarenbetrieb hätte und welche Veränderungen beim Standardsortiment notwendig wären: »Es ergeben sich also Disproportionen in der gesamten Fertigung […]«, diese würden sich auf die Produktion des Standardsortiments auswirken. Bestimmte Arbeitsgänge würden schlicht wegfallen, wenn die Arbeitskräfte mit dem Bemalen der Kosmonauten zu tun hätten.22 Die Kosmonautenfiguren sollen, so erfahre ich weiter, in den Grundfarben weiß oder orange »geliert« werden. Die Farbe besteht aus einer PVC-Paste. Das Gesicht des Kosmonauten ist – laut Schreiben von Herrn Fritsch – »fleischfarbig« mit Farbspritzverfahren aufzubringen, dafür würden vier Arbeitskräfte benötigt. »Für die Produktion von Kosmonauten werden 4 AK in der Farbspritzerei benötigt. […] Um eine Planerfüllung für das Jahr 1979 zu gewährleisten oder Ihrerseits eine Planminderung nicht auszusprechen, sind wir bereit, über mögliche Lösungsvarianten mit Ihnen zu beraten.« In einer weiteren Aktennotiz vom 14. November 1978 erklärte der Haupttechnologe Zapf, dass der Spritzprozess zu rationalisieren, das heißt mechanisch durchzuführen sei. Im Betrieb Lichte solle eine »einfache Versuchsvorrichtung erstellt und erprobt« werden, dann könne festgelegt werden, wie diese »konstruktiv optimal zu gestalten und zu realisieren« sei.23 Allerdings warte man noch auf einen Import, der dieses Problem lösen könnte: eine Farbspritz-Vorrichtung aus der BRD (vgl. ebd.). Die Protokolle machen deutlich, dass die Produktion des kleinen Kosmonauten von mehreren Faktoren abhing. Es gab zu ­wenige Arbeitskräfte, die den Bereich Malerei abdeckten, die ­angeforderte hohe Stückzahl der Figuren machte eine mechanische Herstellung unausweichlich, dafür fehlten aber offensichtlich die Vorrichtungen. Was nicht herauszufinden ist: wie viele Kosmonauten tatsächlich hergestellt wurden. Laut der Zeitschrift »Spielzeug von heute« waren 10.000 Stück produziert ­worden, die im Staatsarchiv vorliegenden Aktennotizen und Schriftwechsel erwarten eine Produktion von 200.000 Figuren. Ob die »Planerfüllung« doch nicht gewährleistet werden konnte? Herr Moczarski schreibt, dass in den Vorgängen nicht erkennbar sei, wer die Kosmonautenpuppe gestaltet hat. Ich könne das Archiv in Suhl aufsuchen, der Aktenbestand des VEB Sonni Kleinpuppen Lichte gelte aber als vernichtet.24 188

21  Thüringisches Staatsarchiv Meiningen,

VEB Kombinat Sonni Sonneberg Nr. 80, Fritsch, VVB Spielwaren, an Luther, Generaldirektor VEB Kombinat Spielwaren »Sonni«, v. 29. September 1987, Zusammenstellung Akten zum Vorgang produktionstechnischen Herstellung Kosmonautenpuppen, 19 S., S. 17. Ich danke Herrn Dr. Norbert Moczarski für die Zurverfügungstellung als PDF. 22  Ebd. 23  Ebd., Aktennotiz über die Aussprache am

31.10.78 – Absicherung des Auftrages über 200.000 Stck. Kosmonauten im Betrieb Lichte – Zusammenstellung Akten zum Vorgang produktionstechnischen Herstellung Kosmonautenpuppen, S. 4. 24  Persönliche Kommunikation der Autorin

Dr. Norbert Moczarski, Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Oktober 2015.

Bei Havenstein finde ich folgende Hinweise zum Betrieb »VEB Sonni«: »Mit dem Jahr 1972 wurden in Sonneberg, Königssee und Waltershausen alle noch privaten Puppenbetriebe in VEB umgewandelt, welche sich ab Mitte der 70er Jahre als selbstständige Betriebe oder Betriebsteile im [neu] gegründeten VEB Kombinat Sonni wiederfanden.«25 Der neue Name des Betriebs war ab diesem Zeitpunkt »VEB Kombinat Puppen und Plüschspielwaren Sonni Sonneberg«.26 Ab 1959 fungierte der Betrieb mit dem Firmenzeichen, wie es auf der Verpackung des Kosmonauten zu sehen ist: »Der Name ›Sonni‹ erschien nun in Verbindung mit einer kleinen Puppenfigur«.27 Gestaltet wurde das Firmenzeichen von dem parteieigenen Werbebetrieb DEWAG Karl-Marx-Stadt in Zusammenarbeit mit der Illustratorin Inge Uhlich. Ich suche die Illustratorin im Internet und finde einige Kinderbücher, die sie gestaltet hat. Unter anderem das Buch »Unsere Heinzelmännchen«. Ich stelle eine große Ähnlichkeit zu dem kleinen Kosmonauten fest: Die auf dem Buchcover abgebildeten Kinder haben große, runde Köpfe und freundlich lächelnde Gesichter. Ich suche im Internet nach einer Adresse oder Telefonnummer und werde fündig. Die freundliche Frau am Telefon ist zwar die Illustratorin der Kinderbücher, sie hat aber nicht die Vorlage des kleinen Kosmonauten entworfen. Leider kann sie mir bei meiner Recherche nicht weiterhelfen, sie würde es gern, sagt sie. Die Hoffnung, den Gestalter oder die Gestalter*in der Puppe zu finden, scheint sich nicht mehr zu erfüllen. Sonja Gürtler vom Museum in Sonneberg schreibt, dass sehr viele ehemalige Gestalter*innen nicht mehr aufzufinden sind. Meine Spurensuche am Objekt Kosmonaut endet an dieser Stelle, die Grenzen der Recherche scheinen erreicht. Am Beispiel eines kleinen Kosmonauten – der als Festival-Maskottchen für das Nationale Jugendfestival der DDR 1979 entwickelt wurde – wird deutlich, welche Ausmaße der Wettstreit um die Weltraum-›Eroberung‹ in Zeiten des Kalten Krieges hatte. Der Stolz der ›Bruderstaaten‹ Sowjetunion und Deutsche Demokratische Republik auf die Leistungen ihrer Kosmonauten – Gagarin, Jähn und weitere – ließ sich nicht verbergen und zeigte sich im Stadtbild sowie in Kinderhand. 25  Havenstein, DDR-Spielzeug, S. 31. 26  Simone Tippach-Schneider: Das große

Lexikon der DDR-Werbung. Kampagnen und Werbesprüche, Macher und Produkte, Marken und Warenzeichen, Berlin 2002, S. 320. 27  Ebd., S. 319 f.

189

PIKO Mechanik, Registrierkasse 25/5026, 1970er Jahre, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

»WAS MUTTI MACHT, LERNT MAN MIT PIKO«? SPIELZEUGKASSE ANNA KATHARINA LASCHKE

Mitten in den Forschungen zu Ausstattungen von FamiliengründerInnen der späten DDR steckend, überrascht mich die Auswahl eines DDR-Kinderspielzeugs für den Methodenworkshop zum Spurenlesen wenig – gehör(t)en Spielzeuge doch zu vergangenen, gegenwärtigen und vermutlich auch künftigen familialen Ding-Welten. Spielzeuge sind aber weit mehr als nur Freude bringender, nicht zweckgerichteter Zeitvertreib: Sie bilden die Welt der Großen im Kleinen ab, zeigen reale oder ideale Situationen, sollen Fertigkeiten und Fähigkeiten entwickeln helfen und strukturieren den Alltag und das Spiel von Kindern. Seit Jahrhunderten sind sie damit auch etablierte Instrumente der Aneignung und Einübung sozialer Normen und Praktiken von und in Gesellschaften. Dass Spielzeuge folglich kulturhistorische Quellen sein können, scheint naheliegend. Doch was lässt sich an einer solchen Quelle genau erkennen? Materialisieren sich die (historische) Gesellschaft, ihre Ansprüche und Lebenswirklichkeiten im oder am Objekt selbst? Und wie können vorhandene (Gebrauchs-)Spuren konkret am »Objekt Kasse« in den »Zustand der Lesbarkeit« versetzt werden, um im Anschluss die »Realität[en] hinter der sichtbaren Oberfläche«1 zu erfassen? Kurzum: Wie materialisiert sich der sozialistische Staat DDR in der ausgewählten Spielzeugkasse der Firma PIKO? Diesen Fragen soll mithilfe der Methodik des Spurenlesens nachgegangen werden. Im Folgenden werden das ausgewählte Objekt untersucht und mögliche Ausdeutungen der gefundenen Spuren aufgezeigt, um die Grenzen und Möglichkeiten der Methode zu erproben.

1  Nora Hannah Kessler: Dem Spuren-

lesen auf der Spur. Theorie, Interpretation, Motiv, Würzburg 2012, S. 96.

Fundort Museumsdepot Ent-zeitlicht und ent-räumlicht, als geschenktes Objekt Teil einer Museumssammlung von Alltagsobjekten der DDR, eingeordnet in einem Raum mit Spielzeug – so finde ich die Kasse neben Spar­dosen und einem kleinen Einkaufskorb aus Draht. In daneben stehenden Schränken stoße ich auf Miniatur-Pappschachteln sowie auf weitere Waagen und Kassen, in Form, Farbe und Maßstab verschieden. Aufgrund der Einordnung der Kasse samt der sie umgebenden Objekte vermute ich kurzerhand, dass sie zur Aus-

stattung eines Kinderkaufmannsladens gehört hat. Ich rätsele jedoch, ob das Tastenfeld, mir in seiner Gestaltung unbekannt, ein Hinweis auf ein Mehr an Funktion(en) ist. Auch die reduzierte, klare Formensprache sticht mir, die aus ihrer Kindheit grellbunte Spielkassen einer US-amerikanischen Spielzeugfirma erinnert, sofort ins Auge. Fast nüchtern wirkt das Design, schlicht und funktionell – ich vermute, dass die Kasse aus den 1960er oder 1970er Jahren stammt. Doch wie funktioniert sie genau und worin unterscheidet sie sich von den mir bekannten Modellen? Welche Spuren kann ich entdecken und wie lassen sich diese auslesen? Materialbefund: Spuren und Funktionen Die Kasse weist eine Tastatur mit 27 Tasten, eine umseitig einsehbare Preisanzeige und eine ausziehbare Lade mit verschieden großen Fächern für die Aufbewahrung von Kleingeld und Scheinen auf. Sie misst (Tiefe × Breite × Höhe) 19,6 × 18,0 × 17,3 cm und wiegt rund 750 g. Die Kasse ist aus Kunststoff gefertigt, vermutlich aus dem in der DDR häufig verwendeten Polystyrol2, und in den Farben Silber, Hellgrau, Anthrazit, Weiß und Rot, teilweise mit schwarzer Aufschrift gehalten. Vorne, auf dem roten Kunststoff, ist das in silbern glänzenden Lettern angebrachte Herstelleremblem zu lesen: »PIKO Mechanik«. Das Ziffernfeld besteht aus 27 weißen Tasten, auf denen schwarze Zahlen eingestanzt sind. Die Ziffern sind leicht vertieft, nicht nur 192

Herstellersignet und Bruchstelle an der Kassenlade, ein Zeichen für häufigen Gebrauch, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

2  Den Hinweis zur Materialität verdanke ich

Katja Böhme. Das Thermoplast Polystyrol sei der »Kunststoff der kleinen und großen Massenartikel«, vgl. Katja Böhme: Das Material, in: dies., Andreas Ludwig (Hg.): Alles aus Plaste. Versprechen und Gebrauch in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 39–71, hier S. 47. Polystyrol war aufgrund seiner kostengünstigen Herstellung dominierend in der DDR.

Klingelmechanik an der Unterseite des Geräts, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

sicht-, sondern auch fühlbar und unterschiedlich stark abgenutzt. Bei Tastendruck stellt sich oben in der Preisanzeige die jeweils eingegebene Zahl von 0 bis 9,99 ein. Beträge können eingegeben, aber nicht automatisch addiert werden und durch Druck auf die Taste »–« links vom Zahlenblock kann die Preisanzeige auf null gesetzt werden. Eine anthrazitfarbene, rechts vom Tastenfeld platzierte Taste mit einem nach unten zeigenden Pfeil ist defekt, war aber vermutlich für das Öffnen der Kassenlade konzipiert. Eine oben links angebrachte Klappe stellt sich bei näherer Betrachtung als Vorrichtung für das Einsetzen einer Papierrolle heraus. Da keine Druckvorrichtung erkennbar ist, wurde die hier einzulegende Rolle wohl mit der Hand beschrieben, um eine Art Bon zu erstellen. Anschließend öffne ich die Kassenlade, wobei ein leises Klingelgeräusch ertönt – typisch für sogenannte Registrierkassen. Im Inneren der Lade finde ich noch schwer lesbare Stempelabdrücke. Ich entziffere »MINI MARKT« und vermute hinter »xx.05.83/5« ein Datum – ein Hinweis auf das Spiel mit der Kasse zu Beginn der 1980er Jahre? Auf der Unterseite der Kasse ist die Inventarnummer des Museums angebracht. Mit dieser vermutlich aktuellsten Spur am Objekt beginne ich. Spur: Inventarnummer Die Nummer verweist auf den heutigen Museumskontext, in dem das Objekt Teil einer Museumssammlung zur DDR-Alltagskultur 193

ist, und sie liefert in diesem konkreten Fall einen Hinweis auf die SchenkerInnen der Kasse: In den Eingangsbüchern des Museums wurden zu den Objekten/Konvoluten mehrheitlich die Namen und Kontaktdaten der Schenkenden eingetragen. Hierüber kann ich die ehemaligen Besitzer der Spielkasse, eine Familie aus Guben in Brandenburg, ausfindig machen und zu »ihrem« Objekt befragen. Sie berichten, dass sich neben einer Sammlung alter Radios sehr viel Spielzeug unter den geschenkten Dingen befunden habe.3 Ihre Kinder (ein Mädchen, ein Junge) hätten immer reichlich Spielzeug besessen, weswegen sich das Paar heute auch nicht mehr an den genauen Preis oder den Anschaffungsort der Kasse erinnern könne. Anhand eines privaten Fotoalbums rekonstruieren wir jedoch, dass die Kasse gemeinsam mit einer Waage, einem Einkaufskörbchen aus Draht, diversen Miniaturschachteln aus Pappe und Spielgeld Anfang der 1980er Jahre unter dem Weihnachtsbaum lag. Ihre Tochter habe damit gerne »Kaufmannsladen« gespielt, der Sohn eher weniger, und das Paar erinnert sich, dass sie einige Zeit sehr häufig bei ihr »einkaufen gehen mussten«.4 Auf meine Nachfrage hin besehen sie sich auch die Stempelabdrücke im Inneren der Lade und vermuten, dass ihre Tochter hier mit einem Datumsstempel »herumprobiert« habe. Sie sind sich jedoch unsicher, ob es im Kaufmannsladenzubehör solche Stempel gegeben habe.5 Der von den ehemaligen NutzerInnen beschriebene häufige Gebrauch zeigt sich auch darin, dass erstens das damals mitgeschenkte Zubehör (Spielgeld etc.) »zerspielt« wurde und später nicht mehr an das Museum gegeben werden konnte, und zweitens an den am Objekt selbst vorgefundenen Abnutzungsspuren. Dieses intensive Benutzen spricht aber auch für das Funktionieren der Kasse und ihren Spielwert, wenngleich die Phase der Nutzung zeitlich begrenzt war und sich das Spiel alsbald erschöpfte. Da das Objekt aufgrund seiner eingeschränkten Funktion und starren Materialität ferner wenig zum lebenslangen Lieblingsobjekt taugte, trennte sich das Paar, dessen Kinder zum Zeitpunkt der Schenkung längst erwachsen waren, schließlich auch von der nicht mehr benutzten Kasse. Neben den gewonnenen Einblicken in die familiale Ding-Welt einer Familie der späten DDR und dem Erforschen eines Teils der Objektgeschichte finde ich einige meiner anfangs getätigten Vermutungen bestätigt: Tatsächlich war die Kasse in den 1980er Jahren in Gebrauch und gehörte, worauf bereits die Einsortierung im Museumsdepot hatte schließen lassen, zur Ausstattung eines Kinderkaufmannsladens.

194

3  Die beiden Gespräche fanden am 19. Ja-

nuar 2017 im Dokumentationszentrum in Eisenhüttenstadt und am 30. Mai 2017 in Guben, Brandenburg, statt. 4  Wörtliche Zitate entstammen dem

Interview am 19. Januar 2017. 5  Eine spätere Onlinerecherche (Suchbegriff

»Minimarkt DDR«) löst diese Frage und ergibt, dass es sich bei »Minimarkt« um ein DDR-Spiel für den Kaufmannsladen handelt. Angeboten werden hier Warenminiaturverpackungen ohne Inhalt für den »kleinen Kaufmann«, darunter auch Kassenblöcke und ein Stempel, der zu dem aufgefundenen Abdruck in der Kassenlade passt. Vgl. hierzu bspw. die Onlinedatenbank des DDR Museums Berlin, https://www.ddr-museum.de/en/ objects/1013765, letzter Zugriff: 25.08.2017.

Kassierplätze, Kaufhalle Marchwitzastraße, Berlin-Marzahn, 1983, Archiv Zentralkonsum eG.

6  Andreas Ludwig: KONSUM. Konsumgenos-

senschaften in der DDR. Hrsg. vom Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Köln/ Weimar/Wien 2006, hier S. 29; vgl. hierzu auch ebd., S. 34 und Christopher Neumaier, Andreas Ludwig: Individualisierung der Lebenswelten. Konsum, Wohnkultur und Familienstrukturen, in: Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 239–282, hier S. 245. 7  Ludwig, Konsum, S. 31.

Spur: Funktion Während die Kontaktaufnahme mit den Schenkern anlief, widmete ich mich bereits einer weiteren Spur aus dem Materialbefund. Es sind die Vorrichtung für das Einsetzen einer Papierrolle (Bon) und das Klingeln beim Öffnen der Lade, die mich auf die Fährte der realen Registrierkassen bringen. Die Geschichte der ostdeutschen Registrierkassen ist dabei nicht ohne die ab Mitte der 1950er Jahre angestrengte Modernisierung der DDR-Geschäfte und die Einführung der Selbstbedienung zu denken: Die bestehenden Verkaufsstellen sollten erneuert, das gesamte Handelssystem umstrukturiert werden. Ziel der Selbstbedienungseinführung war ein »höherer Warenumsatz pro Verkaufsstelle bei gleichzeitiger Personalersparnis und der Möglichkeit, zu einer Verkürzung der täglichen Einkaufszeit zu gelangen. Die Umrüstung von Verkaufsstellen in Selbstbedienungsgeschäfte […] wurde zum Parameter des Fortschritts im DDR-Einzelhandel […].«6 Diese Umstellung auf Selbst- und/oder Teil-Selbstbedienung bedingte aber auch eine neue Ausstattung der Geschäfte, darunter »griffhohe Warenregale, mobile Verkaufsständer, Einkaufskörbe, Registrierkassen und Kühltruhen«.7 195

Insbesondere die Einführung der Registrierkassen gestaltete sich jedoch problematisch: Da zu Beginn der Verkaufsstellenumrüstung nicht genügend Registrierkassen zur Verfügung standen, wurden zunächst vorhandene Additionsmaschinen umgerüstet, bis 1958 eine neue Registrierkasse der VEB Secura produziert wurde.8 Wesentliche Neuerungen der Registrierkassen waren, dass die Addition mechanisch erfolgte und der Käufer am Ende seines Einkaufs keine handgeschriebene Quittung mehr bekam, sondern einen gedruckten Bon. Wenngleich das Kinderspielzeug nur über einen Bruchteil der originalen Registrierkassenfunktionen9 verfügt, bildet es die damals neu geschaffenen Einkaufsrealitäten nach und spiegelt den Anspruch der DDR auf modernen Konsum. Was sollte nun aber an und mit einem in dieser Art gestalteten Spielzeug, der Kasse, spielerisch erlernt werden? In der DDR firmierte die Erziehung der Kinder zu »sozialistischen Persönlichkeiten« als übergeordnetes Ziel für die Politik und war als gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Familien und staatlichen Betreuungsanstalten gemeinsam zu leisten. Ein entscheidender Grundsatz sozialistischer Pädagogik sei die »Verbindung von Bildung und Erziehung mit dem sozialistischen Leben«10 gewesen. Spielzeug als »materielle[r] Grundlage des Spiels«11 komme dabei eine große pädagogische Bedeutung zu und es stelle eine »aktive Form der kindlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt«12 dar. Die Spielzeuge müssten »funktionstüchtig« sein, den Kindern helfen, »Spielideen zu verwirklichen«, und dazu taugen, »die geistige Entwicklung des Kindes positiv«13 zu beeinflussen. Dass die DDR-Erziehung »stark auf das Kollektiv als Handlungsrahmen abzielte«14, unterstreicht den Spielwert der PIKO-Kasse: Im Spiel mit Kasse und Kaufmannsladen wurde nämlich nicht nur das »Zusammenspiel im kindlichen Kollektiv«15 in einer Art Rollenspiel ermöglicht, sondern auch die soziale Praxis des Konsumierens (Nachahmung von Ein- und Verkauf, Umgang mit Waren und Geld) nachgestellt und eingeübt. Da dies aber allgemein für das Spiel mit Kaufmannsläden16 gelten kann, stellt sich die Frage: Was ist nun das Sozialistische an der Spielzeugkasse? Ich begebe mich auf die Suche nach der Unterschiedlichkeit von Ost- und West-Kaufmannsläden. Zunächst ergibt diese, dass westdeutsche Hersteller der gleichen Zeit mitunter recht ähnliche Kassen produzierten.17 In Ermangelung entsprechender Darstellungen über DDR-Kaufmannsläden stoße ich auf die Website des Spielzeugsammlers Jörg Bohn.18 Dieser beschreibt, dass nicht selten im Osten produzierte Kaufläden in den Westen exportiert wurden und dort Einzug in westdeutsche Kinderzim196

8  Laut Geschäftsbericht des Verbands deutscher

Konsumgenossenschaften (VdK) wurden 1957 2608 Kassen bei 32.000 Verkaufsstellen angeschafft, 1958 schließlich 1800 weitere, vgl. Geschäftsbericht des VdK 1958, S. 80 ff. und Geschäftsbericht des VdK 1959, hier S. 69, zit. n. Ludwig, Konsum, S. 32 f. 9  Vgl. zur Funktion und zu Registrier-

kassen des VEB Secura auch die vom VEB Bürotechnik herausgegebene Broschüre »Praktische Hinweise für den Einsatz von Secura-Registrierkassen«, 1965. 10  Manfred Berger: »Wie kann ich mit meinen

Kräften meinem sozialistischen Vaterland dienen?« Ein Beitrag zur Geschichte des Kindergartens in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands und in der DDR (1945–1990), abrufbar unter http://www.kindergartenpaedagogik.de/1239.html, letzter Zugriff: 04.09.2017. 11  Zitate nach Irmgard Klassen: Zur Bedeutung

des Spiels und des Spielzeugs, in: form+zweck 1970, H. 2, S. 29 f.; vgl. hierzu auch Horst Burkhardt: Spielen – aber mit dem richtigen Spielzeug, in: Spielzeug von heute 4 (1967), S. 10–13. 12  Klassen, Bedeutung, S. 29 f. 13  Ebd. 14  Neumaier/Ludwig, Individualisierung, S. 274. 15  Klassen, Bedeutung, S. 29. 16  Vgl. zur Geschichte der Kauf(manns)läden

für Kinder Alice Wagner, Botho Wagner: Puppenstuben, Puppenhäuser. Küchen, Kaufläden und Zubehör aus drei Jahrhunderten, München 1996, S. 146 ff.; Jörg Bohn, Regina Laser: Kaufläden der Nachkriegszeit, in: Trödler & Sammler-Journal, Februar 2005, S. 70–78; Karla Winkler, Helga Müller-Schnepper (Red.): Kaufläden. Kinderwelt und Wirklichkeit. Begleitheft zur Sonderausstellung im Schwäbischen Volkskundemuseum Oberschönenfeld 1993–1994, Gessertshausen 1993; Manfred Bachmann, Wolfram Metzger: Vom Marktstand zum Supermarkt. Der Kaufladen in Puppenwelt und Wirklichkeit. Katalog zur Ausstellung des Badischen Landesmuseums im Schloss Bruchsal, Karlsruhe 1992, S. 23 ff. Diese Darstellungen beziehen sich fast ausschließlich auf die westdeutschen Kinderkaufläden. Die Geschichte der DDR-Läden wird zumeist ausgeklammert. 17  Ein Beispiel hierfür ist eine bei On-

linerecherchen gefundene Spielkasse der Firma Geobra, die in Material, Form, Gestaltung und Funktion große Ähnlichkeiten mit der PIKO-Kasse und nur ein abweichend gestaltetes Tastenfeld aufweist. 18  Vgl. hierzu bspw. die Website des

Sammlers Jörg Bohn, auf der vielfältige Ost- und West-Kinder-Kaufmannsläden dargestellt sind, abrufbar unter http://www. puppenhausmuseum.de/spielzeugausstellung.html, letzter Zugriff: 04.09.2017.

mer hielten.19 Der Unterschied sei jedoch, dass in den westdeutschen Kinderkaufläden Konsumartikel bekannter Marken zu finden gewesen seien, während sich das Angebot in den ostdeutschen Pendants vor allem auf Waren des täglichen Bedarfs beschränkt habe.20 Die Unterschiedlichkeiten in den realen Konsumkulturen21 von Ost und West schlugen sich folglich auch im Spielzeug nieder.

19  Ebd. 20  Bohn merkt an, dass durch Westpakete

oder aber Nachbau auch oftmals westdeutsche Markenprodukte und/oder Verpackungen Aufnahme in die Warenwelten der ostdeutschen Spielzeug-Kaufmannsläden fanden. 21  Ina Merkel spricht für die DDR von einer

ganz eigenen »Konsumkultur«, die sich von einer Konsumgesellschaft westlichen Typs unterscheide, vgl. Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, hier S. 24–27. 22  Wolfram Metzger: Einführung, In: Bach-

mann/Metzger, Marktstand, S. 9–23, hier S. 10. 23  Eintrag »PIKO« in: Stefan Sommer: Das

große Lexikon des DDR-Alltags. Von Aktivist und Altstoffsammlung über Dederon, Kaufhalle, Rondo und Subbotnik bis zum Zirkel schreibender Arbeiter, Berlin 2003, S. 405. 24  Zur historischen Entwicklung des Sonne-

berger Spielzeugs und der Spielzeugherstellung in dieser Region vgl. Renate Hahn, Otto Hahn (Hg.): Sonneberger Spielzeug – Made in Judenbach. 300 Jahre Spielzeugherstellung an der alten Handelsstraße, Münster u. a. 2010. 25  Vgl. hierzu Egon Jacobi: Von der Firmen-

gründung PIKO bis zu Wende, in: René F. Wilfer (Hg.): Das PIKO-Buch. 50 Jahre PIKO Modellbahnen, Nürnberg 1998, S. 66–71, hier S. 66. 26  Anlässlich des 20. Jahrestags der Gründung

der DDR präsentierte der Betrieb 1969 den »piko dat«, einen batteriebetriebenen Spielzeugcomputer zum Selberbauen, anhand dessen »[…] Kinder und Jugendliche mit den Anwendungsmöglichkeiten der Elektronenrechner vertraut gemacht werden [sollten].« Vgl. Eintrag »Piko«, in: Simone Tippach-Schneider: Das große Lexikon der DDR-Werbung. Kampagnen und Werbesprüche, Macher und Produkte, Marken und Warenzeichen, 2. Aufl., Berlin 2004, S. 266–269, S. 269.

Kurzum: Diese Befunde bekräftigen die eingangs formulierte ­Annahme, dass Spielzeuge »Indikator[en] gesellschaftlicher Verhältnisse« sind und als »ethnographische Spezifika«22 auf historische Wirklichkeiten verweisen. Sie zeigen zudem, wie stark das Objekt mit der es umgebenden »Realität« verwoben ist: So ist die PIKO-Kasse nicht nur ein alltägliches Kinderspielzeug, sondern vielmehr ein kulturgeschichtlich bedeutsames Relikt der Geschichte des Konsums in der DDR. Sie verweist darauf, dass die DDR trotz ihrer antikapitalistischen Propaganda ein auf monetäre Werte rekurrierendes Wirtschaftssystem hatte und dieses bis in die Spielzeugwelten hinein transportierte. Dass das Verhältnis der DDR zum Konsum dabei ebenso wechselhaft wie widersprüchlich war, zeigt sich auch anhand der Spielzeugindustrie der DDR, die zwar einerseits in dem, was sie produzierte, an politische Ideale der DDR gebunden, andererseits aber auch an internationalen Trends und größtmöglichem Absatz interessiert war. Dies führt abschließend zur Spur des Herstellers: »PIKO«. Spur: Logo »PIKO Mechanik« PIKO, abgeleitet von »Pionier Konstruktion«, ist der Markenname des VEB Piko Sonneberg, der einer der »bedeutendsten Spielwarenproduzenten in der DDR« war.23 Die Betriebsgeschichte liefert zahlreiche Bezüge zur DDR-Geschichte und findet ihre Anfänge in der Nachkriegszeit, in der die sowjetische Militäradministration in Deutschland eine eigene ostdeutsche Produktion von Modelleisenbahnen anordnete. 1948 begann das Chemnitzer Gerätewerk, eigentlich Hersteller von Messinstrumenten, mit der fabrikmäßigen Herstellung von Spielzeugeisenbahnen aus Metall. Später wurde die Spielzeugstadt Sonneberg in Thüringen als neuer Standort für die Miniatureisenbahn-Fertigung auserkoren.24 1962 wurde aus dem VEB Feinmechanik Sonneberg und dem Betriebsteil »Modellbahn« des VEB EIO (Elektroinstallation Oberlind) der VEB Piko Sonneberg gegründet.25 Ab 1966 produzierte dieser auch mechanisches und elektromechanisches Spielzeug und sollte »den Bedarf an Spielwaren und Modellbahnen zunächst in der DDR und später auch im sozialistischen Ausland decken.«26 1972 197

wurde der VEB Piko Sonneberg schließlich Kombinat und stellte in großem Umfang Küchen- und Haushaltsgeräte als Spielzeug für Kinder her.27 PIKO, mittlerweile Leitbetrieb für mechanisches und elektromechanisches Spielzeug, bestand 1989 schließlich aus 15 Betriebsteilen mit etwa 1000 Beschäftigten. 1992 wurde der Betrieb privatisiert und ist heute unter PIKO Spielwaren GmbH zu finden.28 Auf der Suche nach Informationen zum Sortiment jenseits der Modellbahnen wende ich mich an die heutige PIKO GmbH. Da diese, wie viele ehemalige DDR-Betriebe, über kein eigenes Firmenarchiv verfügt, werde ich erst im Spielzeugmuseum Sonneberg fündig: Im Exportprospekt »Für den Puppenhaushalt. Spielzeug aus der DDR« von 1974 wird PIKO-Spielzeug angeboten, darunter neben Waschmaschine und Staubsauger auch die ausgewählte »Registrierkasse 25/5026«29. Mit diesen Produkten des »­PIKO-Minitechnikprogramms« seien Spielmittel geschaffen worden, »die instruktiv und leicht faßbar mit der modernen Haushaltstechnik vertraut machen […], in Anlehnung an großtechnische Vorbilder frei nachgestaltet […]«, und deren Materialien »strapazierfähig und pflegefreundlich« seien.30 Der Hersteller wird mit »VEB Kombinat PIKO« angegeben, was darauf verweist, dass die Kasse nach der Kombinatsbildung Anfang der 1970er Jahre und vor dem 1981 erfolgten Zusammenschluss zum Kombinat Spiel­waren Sonneberg produziert worden sein muss. Ein weiterer Hinweis für die Produktion der Kasse in den 1970er Jahren ist auch das Logo »PIKO Mechanik«, das auf die Herstellung im VEB PIKO Mechanik Eisfeld verweist.31 Da sich die Literatur zu PIKO vorwiegend auf die Modellbahnproduktion konzentriert, suche ich im Thüringer Staatsarchiv nach Betriebsunterlagen und werde im Staatsarchiv Meiningen fündig. So wird die Registrierkasse im PIKO-Planentwurf bereits für das Jahr 1972 neben einem Rechenspiel und einer Spüle aufgeführt. Allerdings wird darauf verwiesen, dass die »Werkzeuge für die Registrierkasse nicht vor dem II. Quartal 1972 zur Verfügung [stünden]«, es an Spritzgusskapazitäten mangele und daher noch »eine Korrektur des vorliegenden Planentwurfs […] vorgenommen werden [müsse].«32 Wie spätere Produktionsabrechnungen aber erkennen lassen, wurden ab 1974 schließlich pro Jahr 30.000 »Registrierkassen 5026« zu einem Betriebspreis von 18,63 Mark pro Stück produziert.33 Der in der DDR festgesetzte Einheitliche Verbraucherpreis (EVP) ist allerdings nicht, wie sonst für die meisten ostdeutschen Produkte damals üblich, an der Kasse selbst angebracht. So werde ich schließlich in der Objektdatenbank des DDR Museums Berlin 198

27  Ebd. 28  Vgl. zur Geschichte von PIKO auch die

Dokumentation »Mitteldeutsche Markenzeichen. Piko – kleiner Maßstab – großer Erfolg«, https://www.mdr.de/suche/video-312456_zc-13f2fa39_zs-8454ba72.html, letzter Zugriff: 22.07.2019, und den Wikipedia-Eintrag zu PIKO, https://de.wikipedia. org/wiki/Piko, letzter Zugriff: 23.08.2017. 29  Exportprospekt »Für den Puppenhaushalt.

Spielzeug aus der DDR« (1974), der u. a. auch in englischer Sprache erschien. Die für die Registrierkasse im Prospekt angegebene Nummer »25/5026« verweist auf zweierlei: Einerseits nennt sie die Artikelnummer der Kasse (5026), andererseits scheint die »25« das PIKO-Minitechnikprogramm zu bezeichnen. So wird beispielsweise der Waschautomat der Minitechnik-Reihe unter der Nr. »25/5025« angeboten. Diese Produktnummer ist aber an der im Museum gefundenen Kasse selbst nicht angebracht. 30  Jedoch konnte dieses Verkaufsversprechen

oft nicht eingelöst werden: Die überwiegend aus Plastik gefertigten Haushaltsgeräte waren nicht nur bruchanfällig, sondern vor allem Kälte und Feuchtigkeit führten immer wieder zu einem Aussetzen der Funktionen der elektromechanischen Spielzeuge, Reklamationen waren daher nicht selten, vgl. PIKO. Spielzeug aus Sonneberg, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): abc des Ostens. 26 Objektgeschichten, Cottbus 2003, S. 36–37, S. 36. 31  Zum Kombinat Piko Sonneberg mit

dem Stammbetrieb Sonneberg gehörte neben dem VEB Piko-Elektrik Meiningen auch der VEB Piko-Mechanik Eisfeld, vgl. Tippach-Schneider, Lexikon, S. 269. 32  Landesarchiv Thüringen, Staatsarchiv Mei-

nigen (im Folgenden: LATh-StA Meiningen), Bestand: VEB Piko Sonneberg, Nr. 359, nicht pag., hier: Planentwurf 1972, S. 4, S. 20. 33  Zum Vergleich: Vom Waschautomaten 5025

wurden im gleichen Jahr 76.260 Stück hergestellt (Betriebspreis: 26,39 Mark), gefolgt von den Nähmaschinen mit Fußpedal (5020) und ohne (5018): 57.250 und 47.000 Stück/Jahr, die Betriebspreise sind mit 27,76 und 25,00 Mark angegeben. Die hohen Produktionszahlen für die letztgenannten Produkte, die zudem mehrfach mit Messepreisen der DDR ausgezeichnet waren, lassen vermuten, dass diese Erzeugnisse vermutlich sowohl im In- als auch im Ausland Verkaufsschlager waren. Die Kasse selbst ist weder mit Preisen ausgezeichnet worden noch belegen ihre eher mittelmäßigen Produktionszahlen eine außergewöhnliche Beliebtheit. Siehe hierzu LATh-StA Meiningen, Bestand: VEB Piko Sonneberg, Nr. 359, u. a. Produktionspläne 1974 ff.

Exportkatalog »Für den Puppenhaushalt. Spielzeug aus der DDR«, 1974, Deutsches Spielzeugmuseum, Sonneberg.

34  »DDR-Spielzeugkasse« samt Verpackung,

siehe hierzu Objektdatenbank des DDR-Museums Berlin, abrufbar unter https://www. ddr-museum.de/de/objects/1012593, letzter Zugriff: 20.06.2017. Zuvor hatten Recherchen in anderen Museumsbeständen, u. a. in der Objektdatenbank museum-digital.de, leider keine Ergebnisse erzielt. 35  Vgl. hierzu den Eintrag auf dem online

zugänglichen DDR-Lexikon, abrufbar unter http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr. pl?G%FCtezeichen, letzter Zugriff: 07.09.2017. 36  Zumal es nicht nur diese eine Spielkasse in

der DDR gab: Ein etwas weniger modern gestaltetes Modell wurde bspw. im Herbst/Winter-Katalog 1972/73 des Konsument Versandhauses für nur 5,50 Mark angeboten, vgl. Katalog Konsument Versandhaus, Herbst/Winter 72/73, darin die Registrierkasse (BNr. 348905), S. 112 f. 37  Siehe hierzu Arno Schwarze: Unse-

re internationalen Handelspartner, in: Spielzeug von heute 1 (1968), S. 3 ff.

­fündig.34 Ein ­Etikett auf einem zur Kasse gehörenden Karton gibt preis, dass diese der Güteklasse 1 zugeordnet war (ein Erzeugnis von guter Qualität, das dem Durchschnitt des Weltmarktes entsprach35) und 27 Mark (EVP) kostete. Zum Vergleich: Waschmaschinen des Minitechnikprogramms kosteten bis zu 45 Mark – für manche DDR-Bürger beinahe ebenso viel, wie sie monatlich an Miete für ihre Wohnung bezahlen mussten. Ist der hohe Preis der Minitechnik-Artikel damit nur ein Verweis auf die Weitergabe höherer Produktionskosten eines technisch aufwendiger gestalteten Spielzeugs?36 Er ist zugleich ein Indikator dafür, dass die Minitechnik-Spielzeuge nicht in Kitas oder Schulen zum Einsatz kamen, denn sonst wären sie durch staatliche Subventionen nicht so teuer gewesen. Dass die Produkte der Minitechnik-Reihe – wie ca. 40 Prozent der DDR-Spielwarengesamtproduktion seit Mitte der 1960er Jahre37 – auch ins Ausland verkauft wurden, belegt nicht nur der oben genannte Exportkatalog von 1974. Weitere Indizien hierfür sind, dass der Preis nicht am Objekt selbst, sondern auf einem auf den Karton gesondert aufgeklebten Etikett angebracht war, oder der angebrachte Hinweis, dass das Produkt »Made in GDR« sei. Auch PIKO-Betriebsunterlagen von 1972 geben preis, dass der Export, sowohl ins sozialistische als auch in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, »zu Lasten des Bevölkerungsbedarfs« (und »in 199

Abstimmung mit der VVB«38 [Vereinigung Volkseigener Betriebe]) erfolgt sei. Konkret heißt das, dass der Export (NSW und SW) an PIKO-Produkten mit 118,7 Prozent übererfüllt wurde, wohingegen der Bevölkerungsbedarf nur zu 82 Prozent gedeckt wurde.39 Sekundärquelle: Verpackungsgestaltung Den entscheidenden Input für eine mögliche weitere Stoßrichtung meiner Recherchen erhalte ich schließlich durch einen Zufallsfund: Als ich die zur Kasse gehörende Verpackung nochmals betrachte, fällt mir die Bildgestaltung eines auf der einen Seite abgedruckten Fotos auf. Hier wird eine Einkaufssituation mit Kindern nachgestellt, bei der ein Mädchen an der Kasse sitzt, während ein Paar, bestehend aus einem lächelnden Jungen und einem Mädchen, bei ihr einkauft. Da neben der »Schutzfunktion einer Verpackung« auch die »werbepsychologischen und pädagogischen Gesichtspunkte bei der Verpackungsgestaltung […]«40 eine Rolle spielten, frage ich mich, was hier kommuniziert werden soll.

38  Begründungen zum Produktionsplan

(1972), LATh-StA Meiningen, Bestand: VEB Piko Sonneberg, Nr. 359, nicht pag. 39  Leider sind keine konkreten Export-

Dass auf der Abbildung ein Mädchen an der Kasse sitzt, kann zunächst einmal als Hinweis auf die vom Staat gewollte und geförderte Berufstätigkeit von Frauen in der DDR interpretiert werden. Wird hier aber lediglich auf eine ideale Situation (berufstätige Frau im Sozialismus) verwiesen oder auch die Realität abgebildet, war also das Gros der DDR-Frauen berufstätig und, genauer, waren die meisten Handelsangestellten weiblich? Nach einer Suche in den Statistischen Jahrbüchern der DDR und einschlägiger Literatur werden diese Vermutungen bestätigt: Zu Beginn der 1970er Jahre waren um die 70 Prozent der Angestellten in den Verkaufsstellen der DDR tatsächlich weiblichen Geschlechts.41 Gleichzeitig verdiente ein/e Handelsangestellte/r im Jahr 1974 nur durchschnittlich 767 Mark pro Monat, was rund 100 Mark unter dem durchschnittlichen Monatseinkommen aller Arbeiter und Angestellten in Volkseigenen Betrieben lag.42 Damit ist die PIKO-Registrierkasse also, anders als die sonstigen Produkte des Minitechnikprogramms, ein berufsbezogenes weibliches Spielzeug. Nun aber daraus zu schließen, dass das Spiel mit der Kasse vorwiegend Mädchen an ein mögliches, wenn auch schlecht bezahltes Berufsfeld heranführen sollte, greift zu kurz. Gerade wenn Literatur zu historischen Kaufmannsläden rezipiert wird, ist erkennbar: Der Kaufmannsladen sollte spielerisch die Freude an zukünftigen Tätigkeitsfeldern, an Haushaltspflichten und an Arbeit vermitteln und diente weniger der Erziehung zu einem konkreten Beruf. Doch auch wenn in der Literatur keine Einigkeit darüber herrscht, ob das Spiel mit dem Kaufmannsladen ursprünglich nun Jungen zur Arbeit oder Mädchen zur Haushaltspflicht (Einkaufen) erziehen sollte, wird deutlich, dass das 200

zahlen in den Archivunterlagen auszumachen; vgl. hierzu Produktionsabrechnung des Betriebs für das Jahr 1974, LATh-StA Meiningen, VEB Piko Sonnenberg, Nr. 359. 40  Gerd Jahrmarkt: Gutes Verpacken

hilft auch gut verkaufen, in: Spielzeug von heute 4 (1967), S. 21 f., hier S. 21. 41  1972 waren es 69,69 Prozent, 1973

dann 70,76 Prozent und 1974 70,97 Prozent. Vgl. hierzu Statistisches Jahrbuch der DDR, Bd. 1973 bis 1975, je S. 16–20. Abrufbar unter: http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN514402644, letzter Zugriff: 20.06.2017. 42  Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR,

Bd. 1976, S. 70. Der Handel wies zudem sehr schlechte Arbeitsbedingungen auf: Schwere körperliche Arbeit bei geringem Ansehen, lange Arbeitszeiten (auch Wochenendarbeit), eine daraus resultierende hohe Fluktuation der Belegschaft, die Gemengelage von Macht und Ohnmacht bezüglich der Warenzu- und -verteilung u.v.m.; vgl. hierzu Ina Merkel: »Wer nie vorm Konsum Schlange stand …«, in: Ludwig, Konsum, S. 81–88, hier S. 87 f. Nicht umsonst gab es bereits 1967 eine gemeinsame Konzeption des Ministeriums für Handel und Versorgung und des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuß, die die Förderung der Frauen und Mädchen im sozialistischen Binnenhandel zum Thema machte, in ihrer Umsetzung jedoch nur schleppend vorankam. Siehe hierzu Ministerium für Handel und Versorgung und Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuß (Hg.): Gemeinsame Konzeption des Ministeriums für Handel und Versorgung und des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuß zur Förderung der Frauen und Mädchen im sozialistischen Binnenhandel, Berlin (DDR) 1967.

Spielzeug eindeutig rollenspezifische Lernziele transportiert(e). Wenn nun auf dem PIKO-Karton ein Mädchen arbeitend dargestellt wird, dann ist dies einerseits ein Verweis auf das Ideal der werktätigen sozialistischen Frau, andererseits bildet es ostdeutsche Lebenswirklichkeiten ab.

43  Ab den 1970er Jahren wurden hierfür die

Schwerpunkte der Frauen- und Familienpolitik verschoben. Waren bislang vor allem die »Steigerung der weiblichen Berufstätigkeit« und die »berufliche Qualifizierung von Frauen« Ziel gewesen, konzentrierte sich die DDR nun auf die »Steigerung der Geburtenrate«, vgl. Neumaier/ Ludwig, Individualisierung, S. 273. In der Folge wurden vor allem sozialpolitische Maßnahmen ergriffen, die die Vereinbarkeit von weiblicher Berufstätigkeit und Familie ermöglichen sollten. Vgl. hierzu Barbara Hille: Familie und Sozialisation in der DDR, Opladen 1985, S. 67 ff.; Norbert F. Schneider: Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970– 1992, Stuttgart 1994, S. 67 ff.; Gisela Helwig: Frau und Familie: Bundesrepublik Deutschland – DDR, 2., völlig überarb. Aufl., Köln 1987, S. 66 ff. Die gewünschten Erfolge blieben jedoch aus, die bekämpften traditionell-bürgerlichen Rollenmuster erwiesen sich als langlebig. 44  Vgl. hierzu Tippach-Schnei-

der, Lexikon, S. 268. 45  Anzeige für PIKO-Bausteine in: Spiel-

zeug von heute 2 (1973), Titelrückseite. 46  Der Begriff wurde einer Anzeige für

die Puppe »Andrea«, hergestellt vom VEB Kombinat Puppen und Plüschspielwaren »Sonni«, entnommen; vgl. Spielzeug von heute 1 (1975), o. S. (letzte Seite). 47  Was Mutti macht, lernt man mit Piko, in:

Spielzeug von heute 2 (1972), S. 24 f., hier S. 24. 48  LATh-StA Meiningen, Bestand: VEB

Piko Sonneberg, Nr. 123, Begründung des Perspektivplanangebots 1971–1975, S. 6. 49  Spielzeug von heute, 2 (1972), S. 24.

Einkaufen war ein wesentlicher Teil der Hausarbeit, für den die Ostdeutschen durchschnittlich mehr als eine Stunde pro Tag aufwenden mussten. Jedoch zielt die auf dem Karton dargestellte Szene weniger auf eine reale Situation als vielmehr auf die im Sozialismus geförderte und geforderte berufliche und private Gleichberechtigung von Frauen und Männern samt der gerechten Teilung der Haushaltspflichten.43 Dass es nachweislich jedoch die DDR-Frauen waren, die in ihrer »zweiten Schicht« Haushalt und Familien versorgten, materialisiert sich bis in das Spiel der ostdeutschen Kinder und die Miniaturwelt des Spielzeugs. Während der »PIKO Junge«44 ab Mitte der 1960er Jahre für die Miniatureisenbahn wirbt und während in PIKO-Spielzeug-Anzeigen die männlichen »Baumeister« und »Architekten von morgen«45 mit Bausteinen, Autos oder Rechengeräten experimentieren, kommt die »Puppenmutti«46 mit Rührgerät, Waschmaschine und Staubsauger ihren Haushaltspflichten nach. Ein weiterer Hinweis auf die auf Mädchen zugeschnittenen Produkte sind die vorwiegend weiblichen Namen für die Haushaltsgeräte (Handmixer »Katja«, Küchenmaschine »Katrin« oder die Nähmaschinen »Elektra« und »Gabriela«), während beispielsweise die Bohrmaschine des Programms »hobby« heißt. Zwar sei das PIKO-Programm potenziell für »alle Kinder«47 gestaltet – doch sowohl die Bildsprache in diesen Anzeigen und auf dem Karton der Kasse als auch der gefundene Vermerk in PIKO-Betriebsunterlagen sprechen eine andere Sprache: Der Schwerpunkt bei den elektromechanischen Erzeugnissen liegt auf »Haushalt- und Küchengeräten für Mädchen«48 (Hervorhebung durch Autorin). Im Sinne des Slogans »Was Mutti macht, lernt man mit PIKO«49 muss es, gerade in Bezug auf den Haushalt, also wohl treffender heißen: Was Mutti macht, lernt frau mit PIKO. Fazit Die Methode Spurenlesen am Objekt sensibilisiert für Materialitäten und ermöglicht einen materialbasierten Zugang zu den Welten ›dahinter‹. Wie gangbar und wie ergiebig ein solcher Weg ist, hängt sicherlich von den Forschenden selbst und ihrer Bereitschaft ab, sich auf diese Methode fernab eines gewohnten (Aus-) Lesens einzulassen. War ich zunächst durchaus ratlos, wie ich aus Gebrauchs- und Abnutzungsspuren am Objekt weiterführende Informationen generieren könnte, hatte ich später große Mühe, 201

einen zusammenhängen Text zur PIKO-Kasse zu schreiben. Stetig kamen mehr Informationen hinzu, die Erkenntnisse verzweigten und verzahnten sich immer weiter. Dass das Spurenlesen letztlich hier in einer Verschriftlichung mündet, ist dabei Fluch und Segen zugleich: Wird einerseits durch die Darstellung der Blick der Forschenden samt ihrer Perspektive nachvollziehbar, fallen zugleich andere mögliche Querverbindungen weg. Daher gilt es zu überlegen, ob sich nicht alternative, beispielsweise webbasierte, Darstellungsformen für das Spurenlesen anbieten, die diese Verknüpfungen (Netzwerkstruktur) erkennen ließen.

202

Thematischer Diakasten für Unterrichtszwecke, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

URGESCHICHTE IN DER DDR (1968) ARNE LINDEMANN UND JOES SEGAL

Erste Spuren Bei der Begehung des Depots des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt fiel ein kleines Holzkästchen auf. Es ist quadratisch, besitzt eine Grundfläche von 7 mal 7 cm und eine Höhe von 6 cm. Der Deckel des Kästchens besitzt ein schwarz-weißes Muster aus Meladur (Formica), der Boden ist aus Sperrholz. In dem Kästchen befinden sich elf Dias, die von einem Abstandshalter aus weißer Pappe aufrecht gehalten werden. Eine Inventarnummer auf dem Boden gibt einen Hinweis auf den Zweck des Diakästchens. Es stammt aus der Schulmediensammlung des ehemaligen Landkreises Beeskow, war also für den Einsatz im Unterricht bestimmt. Dies bestärkt auch ein auf das Kästchen geklebtes gelb umrandetes Papier. Es trägt den Namen des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts zu Berlin (DPZI) und dessen Logo sowie die Angabe »Urgesellschaft Kl. 5, 2. R 771, 11 Bilder«. Die Dias waren also für den Schulunterricht der 5. Klasse bestimmt, wo, das bestätigt ein kurzer Blick in die Geschichtslehrbücher der DDR, die Geschichte der Urgesellschaft den Auftakt des chronologisch aufgebauten Geschichtsunterrichts gab. Das 1949 gegründete DPZI hatte die Aufgabe, die pädagogische Forschung in der DDR anzuleiten und zu koordinieren sowie Lehrpläne auszuarbeiten und Materialien für den Schulunterricht zu entwerfen. Es war dem Ministerium für Volksbildung direkt untergeordnet und fungierte damit als staatsnahes Kontrollorgan für die ideologiegetreue Unterrichtsgestaltung in der DDR.1 Die Diareihe wurde vom DPZI zusammen mit einem erläuternden Beiheft im Jahr 1968 herausgegeben.

1  Zur Geschichte des DPZI vgl. Nicole

Zabel: Zur Geschichte des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts der DDR. Eine institutionsgeschichtliche Studie, Diss. TU Chemnitz 2009, https://tu-dresden. de/gsw/ew/ibbd/sp/ressourcen/dateien/ forschung/online-archiv/Dissertation_zabel. pdf?lang=de, letzter Zugriff: 12.08.2018.

Inhalt der Dias Die weitere Spurensuche konzentrierte sich zunächst auf die Inhalte der Dias. Diese sind von 1 bis 11 durchnummeriert, fünf davon sind schwarz-weiß, sechs farbig, und sie lassen sich grob in drei Kategorien aufteilen. Drei Dias, und zwar Nr. 7, 8 und 9, zeigen wissenschaftliche Zeichnungen und Fotografien von urgeschichtlichen Steinwerkzeugen, einmal kombiniert mit einer bildlichen Erläuterung der Herstellungstechnik dieser Artefakte (Nr. 10). Auf zwei weiteren Dias werden einmal im Original, Nr. 11, und einmal in einer Umzeichnung, Nr. 3, Felsbilder aus der Altsteinzeit gezeigt. Bei den Darstellungen auf den restlichen sechs Dias, von denen fünf farbig sind, handelt es sich um szeni-

sche Rekonstruktionen urgeschichtlichen Lebens. Gerade diese Lebensbilder provozierten eine Reihe von Fragen, zum Beispiel zur Rolle der Urgesellschaft in der Geschichtsauffassung des Historischen Materialismus. Gab es eine Romantisierung dieser Urepoche der Menschheit als »ursozialistische Gemeinschaft«, wie von Karl Marx angedeutet? Welche zeitgenössischen Ideen und Werte wurden auf die Urzeit zurückprojiziert? Vergleicht man die Darstellungen auf den Dias mit den Lebensbildern und Grafiken in den Schulbüchern oder den Ausstellungen der Urgeschichtsmuseen in der DDR, halten sie zunächst wenig Überraschendes bereit. Die durchnummerierten Bilder sind chronologisch geordnet. Sie behandeln die menschliche Entwicklung von der Alt- bis zur Jungsteinzeit, die Epochen, die die Marxisten als die Zeit der Herausbildung und Blüte der klassenlosen Urgesellschaft ansahen. Der Urgesellschaft kam in der marxistisch-­ leninistisch Geschichtsvermittlung der DDR die Aufgabe zu, die Funktionsweisen einer klassenlosen Gesellschaft und die komplexe Theorie des Historischen Materialismus leicht verständlich zu erläutern. In der Urgesellschaft, davon gingen die Prähistoriker und Geschichtsdidaktiker der DDR aus, ließen sich die Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Vorgänge in aller Einfachheit und Unkompliziertheit zeigen, weswegen diese Epoche auch ganz am Anfang der Geschichtsvermittlung in den Schulen der DDR stand. Schon die Klassiker des Marxismus-Leninismus sahen in der Urgesellschaft quasi eine »naive Version« der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus. Friedrich Engels hatte in seinem von Lenin als »eines der grundlegenden Werke des modernen Sozialismus«2 gerühmten Werk »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« die Urgesellschaft als »wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit« beschrieben. Hier ging alles ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse […] seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht […]. Obwohl viel mehr gemeinsame Angelegenheiten vorhanden sind als jetzt – die Haushaltung ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch, der Boden ist Stammbesitz, nur die Gärtchen sind den Haushaltung zugewiesen –, so braucht man doch nicht eine Spur unsres weitläufigen und verwickelten Verwaltungsapparats. […] Arme und Bedürftige kann es nicht geben – die kommunistische Haushaltung und die Gens kennen ihre Verpflichtungen gegen Alte, Kranke und im Krieg Gelähmte. Alle sind gleich und frei – auch die Weiber.3 206

2  W.I. Lenin: Über den Staat, in: Werke,

Bd. 29, Berlin (DDR) 1984, S. 463. 3  Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie,

des Privateigentums und des Staats (1884), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 21, 5. Auflage (unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962), Berlin (DDR) 1975, S. 95 f.

»Leben der Pflanzer und Tierhalter nach Funden von Kolonischtschina I am Dnepr (UdSSR)«, Bild 6 der Diareihe, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

Für die Erzählung der Geschichte der Urgesellschaft in der DDR bildeten Engels’ Ausführungen den engen Rahmen. Im Historischen Materialismus stellte darüber hinaus das dialektische Zusammenwirken von ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen die Triebfeder aller menschlichen Entwicklung, allen Fortschritts und damit aller Geschichte dar. Entsprechend zeigen die Lebensbilder auf den Dias die Menschen der Steinzeit stets für ihren Lebensunterhalt arbeitend: Sie sammeln, jagen, fischen, stellen Steinwerkzeuge und Waffen her und bauen später, in der Jungsteinzeit, Getreide an. Es werden weiterhin Hinweise auf das Zusammenleben der Menschen gegeben. Sie sammeln und jagen gemeinsam. Ihre Tätigkeiten, ihre Kleidung und ihr Habitus lassen keine Hierarchien erkennen. Sie leben gemeinsam, erst in Höhlen, später in Strohhütten, am Ende der Steinzeit in festen Behausungen. Diese Behausungen zeichnen sich durch gleiche Bauart und Größe aus, was wiederum die Egalität der Urgesellschaft verdeutlicht. Alle Aspekte der Lebensbilder auf den Dias können als ikono­ grafisch für die Darstellung der Urgesellschaft in der DDR bezeichnet werden. Diese bewegte sich spätestens seit den 1960er Jahren auf ganzer Linie im von den Klassikern abgesteckten Rahmen des marxistisch-leninistischen Geschichtsbilds und somit im Fahrwasser der von der SED vorgegebenen Geschichtspro207

paganda. Dies macht auch das Beiheft deutlich, das zur »Lichtbildreihe Urgesellschaft« vom DPZI herausgegeben worden war und das sich ebenfalls im Depot des Dokumentationszentrums in Eisenhüttenstadt befand. Hier heißt es, dass »die Bilder der Lichtbildreihe für die Teilaufgaben der Vorstellungsbildung, der Erkenntnisgewinnung und der Herausbildung der Fähigkeit des marxistischen historischen Denkens sowie zur ideologischen Erziehung der Schüler eingesetzt werden [können]«. Und zur ideologischen Stoßrichtung führt das Beiheft weiter aus: »Mit Hilfe des Bildmaterials der Lichtbildreihe ist nachzuweisen, daß der Fortschritt der Menschheit sich in dem Maße vollzog, wie sie ihre Arbeit, ihre Produktionsinstrumente und ihr Wissen vervollkommnete. […] Unter den Bedingungen des Gemeineigentums und der darauf fußenden Gleichberechtigung aller Menschen […] kam der Nutzen des Fortschritts allen Menschen zugute«.4 Neue Spuren Entsprachen die Bildmotive und die vom DPZI damit in Verbindung gebrachte ideologische Konnotation noch dem bekannten geschichtspropagandistischen Kanon in der DDR, erregten die Dias auf andere Weise Aufmerksamkeit. Die Abbildungen wirken wie zusammengewürfelt, uneinheitlich in Darstellungsform und Stil. Sie gehören darüber hinaus nicht zur typischen, oft wiederkehrenden Bildauswahl, die in den Schulbüchern und Museumsausstellungen Verwendung fand. Ein Blick in den Bildnachweis des Beihefts brachte schnell eine Erklärung für diese Beobachtung, aber auch eine neue Spur. Die für die Dias verwendeten Abbildungen stammen aus sieben unterschiedlichen Publikationen. Zunächst wird hierdurch die stilistische Uneinheitlichkeit der Reihe erklärlich. Interessant ist aber, dass die Bilder zum Großteil aus Publikationen westdeutscher beziehungsweise westeuropäischer Verlage stammen. Allein vier der sechs Lebensbilder sind aus dem 1961 vom britischen Prähistoriker Stuart Piggott herausgegebenen Bestseller »The Dawn of Civilization« entnommen. Das Buch, das schon im selben Jahr in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Die Welt aus der wir kommen« im Münchener Verlag Droemer Knaur erschien, erlebte in Deutschland bis Anfang der 1980er Jahre noch mehrere Neuauflagen. Mit über 400 Seiten und dabei 975 Abbildungen, davon 172 in Farbe, zeichnete es für einen breiten Leserkreis ein lebendiges Bild der frühen Menschheitsentwicklung. Hier steht die Frage im Raum, warum das DPZI in Publikationen des Klassenfeinds »wilderte«? Lässt sich hier gar fehlende ideologische Standhaftigkeit vermuten? Letzteres sicherlich nicht. Die DDR-Prähistoriker rezipierten schon früh die britische archäo208

4  Waldemar Waade: Beiheft zur Lichtbildreihe

Urgesellschaft, R 771, Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut, o. O., Berlin (DDR), 1969, S. 12, S. 16. Hier findet sich auch der Hinweis, dass die Diareihe 1968 entwickelt wurde; vgl. ebd., S. 17. Zum Thema waren weitere didaktische Anschauungsmaterialien verfügbar: eine Lichtbildreihe »Urgemeinschaft I: Aus dem Leben der Jäger und Sammler« und ein Wandbild »Siedlungsstätte der Jäger und Sammler«.

logische Forschung, da diese sich in Teilen intensiv sozial- und wirtschaftshistorischen Fragen widmete. Vorreiter war hier der Archäologe V. Gordon Childe, der bereits in den 1930er Jahren versucht hatte, für die Ur- und Frühgeschichte des europäischen Kontinents eine Sozialgeschichte zu entwerfen. Childe berief sich dabei vor allem auch auf die Arbeiten des Ethnologen Lewis H. Morgan, der mit seinem 1877 erschienenen Werk »Ancient Society« einen ersten Entwurf einer sozioökonomisch orientierten Frühgeschichte der Menschheit vorgelegt hatte. Morgans Werk rezipierte später Engels bei der Ausarbeitung seines »Ursprungs« intensiv. Die Arbeiten der britischen Archäologen boten damit diverse Anknüpfungspunkte für das zentral mit der sozioökonomischen Entwicklung argumentierende Geschichtsbild des Marxismus-­ Leninismus. Die Übernahme von Bildern aus britischen Publikationen stand demnach nichts im Wege. Hier sei darüber hinaus angemerkt, dass die Annahme einer egalitären Gesellschaftsform in der Steinzeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts weitestgehend Konsens in der europäischen Forschungslandschaft war. Die intensivere Beschäftigung der modernen Archäologie mit sozioökonomischen Fragen setzte aber erst nach dem Krieg in Großbritannien und, ideologischen Vorgaben folgend, in den osteuropäischen Ländern sowie der DDR ein. In der Diareihe aus dem Dokumentationszentrum zeigt beispielsweise ein Bild, das aus dem Buch Piggotts stammt, die Nr. 5, eine Rekonstruktion des zyprischen Dorfes Khirokitia. Khirokitia wurde zwischen 1934 und 1946 ausgegraben. Das Dorf bestand, so die Ergebnisse der damaligen Ausgräber, aus diversen Rundhütten, die in ihrer Bauweise und Größe alle gleich waren. Die Bewohner waren bereits sesshaft, ernteten Wildgetreide und hielten Vieh, kannten aber noch keine Keramik. Das zyprische Dorf stand damit für einen Zwischenschritt vom Jäger- und Sammlertum zur »voll ausgeprägten« bäuerlichen Lebensweise. Die gleich großen, aus Lehm errichteten Hütten wurden dabei als Beweis für eine egalitäre Sozialstruktur der Dorfbevölkerung gedeutet. So weist auch das Beiheft zur Diareihe explizit auf diesen Zusammenhang hin. Khirokitia entwickelte sich zum vielfach angeführten Syno­nym für die vermeintlich in der steinzeitlichen Urgesellschaft herrschende soziale Gleichheit. Auch in den Museen der DDR taucht das zyprische Dorf in diesem Zusammenhang in Lebensbildern und Dioramen häufig auf. Abschließend führt die Diareihe zu der letztendlich hier nicht mit Sicherheit zu beantwortenden Frage, warum das DPZI hier 209

nicht komplett auf die in der DDR beziehungsweise im Ostblock produzierten Bilder zurückgriff. Lediglich ein Lebensbild, die Nr. 2, ist eine Eigenproduktion des DPZI. Ein zweites, die Nr. 10, stammt von dem bekannten tschechischen Maler Zdeněk Burian, dessen Bilder, mit denen beispielsweise das Jugendweihe-­ Geschenkbuch »Weltall Erde Mensch« umfangreich bestückt war, jedem ehemaligen DDR-Bürger vertraut sind. Vielleicht lag es zunächst daran, dass der Autor des »Beihefts« und vermutlich auch der Diareihe, Waldemar Waade, kein Prähistoriker war. Waade war Geschichtsdidaktiker und lehrte an der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Die zunächst intensive Zusammenarbeit zwischen Geschichtsdidaktikern und Prähistorikern in den 1950er Jahren lockerte sich anscheinend in den 1960er Jahren immer mehr, so dass Waade vielleicht die an den führenden Urgeschichtsmuseen in Halle, Weimar oder Potsdam immer wieder neu entwickelten musealen Präsentationen nicht mehr systematisch rezipierte. Hier wäre aber eine Spurensuche weiter auszudehnen. Das unscheinbare Diakästchen mit seiner kleinen Sammlung bildlicher Darstellungen zur Urgeschichte überrascht somit weniger durch seine Bildmotive, deren Auswahl und Zusammenstellung, erläuternd begleitet durch das Beiheft, eine deutlich marxistisch-leninistische Geschichtsanschauung vermitteln. Vielmehr 210

»Die Rekonstruktion basiert auf zyprischen Funden aus der Zeit um 5500 v. u. Z. [vor unserer Zeitrechnung]«, Bild 5 der Diareihe, Dokumentationszentrum ­Alltagskultur der DDR.

»Grab eines Mammutjägers«. Reproduk­ tion eines Gemäldes von Zdenêk Burian nach Funden in Brno, CˇSSR. Bild 10 der Diareihe, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

legt es eine interessante Spur zu der Frage, wie einheitlich und gelenkt die didaktische Formulierung des Geschichtsbilds zum Ende der 1960er Jahre in der DDR tatsächlich war. Die Bildauswahl der Diareihe erweckt den Anschein, zumindest für die zugegeben wenig im geschichtsdidaktischen Fokus der Staatsmacht stehende »Geschichte der Urgesellschaft«, dass die im Bildungsbereich agierenden Einrichtungen wenig miteinander kommunizierten. So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass kurz nach Erscheinen der Diareihe das DPZI im Zuge der dritten Hochschulreform aufgelöst wurde. In die in seiner Nachfolge gegründete Akademie der Pädagogischen Wissenschaften setzte die DDR-Führung zumindest die Hoffnung, den Bereich der päda­gogischen Wissenschaft und Forschung leichter unter ihre zen­trale Planung, Anleitung und Kon­ trolle zu bringen.5

5  Vgl. Zabel, Geschichte, S. 360.

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Postmietbehälter aus Vulkanfiber, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

POSTMIETBEHÄLTER ANDREAS LUDWIG

Die rote, leicht verbeulte Kiste steht im oberen Fach des Lagerregals im Raum »Verpackungsmittel« des Museumsdepots. Sie sticht aus Einwickelpapier und Dreieckstüten, die »Guten Einkauf« wünschen, heraus. »Postmietbehälter« verrät ein Stempelaufdruck, der sofort Neugier erweckt, weil er angesichts des täglich anfallenden Verpackungsmülls an ökologisch nachhaltiges Handeln denken lässt. Oder handelt es sich um ein frühes Exemplar der heutigen gelben Normverpackungen der Post, also eher eine Form der Transportrationalisierung? Der Gedanke an Abfallvermeidung und Dienstleistung kommt auf: Könnte es sich um eine verschüttete »Vorgeschichte der Gegenwart« oder, besser, einer sinnvollen Zukunft handeln? Die Recherche beginnt mit einer Untersuchung am Objekt selbst. Die Kiste, in Augenschein genommen Die Kiste ist 52 cm × 37 cm groß, 36 cm hoch und wiegt 2,5 kg. Sie hat einen Deckel, der locker auf dem Behältnis sitzt. Geöffnet, präsentiert sich das Innere in einem warmen, strahlenden Rot, deutlich intensiver als die nun verblasst erscheinende Außenseite. Kiste und Deckel bestehen aus einem vielleicht 2 mm starken, leicht biegsamen Material, das eine matte Oberfläche hat. Man kann es leicht abwischen, um den groben Staub zu entfernen, der sich im Museumsdepot darauf angesammelt hat. Mittels Nieten ist das Material in Form gebracht und man sieht der Kiste an, dass es sich deren Klammergriff nur widerstrebend anpasst. Dadurch machen Karton und Deckel einen rohen Eindruck, die Kiste hat etwas Provisorisches, vor allem vor dem visuellen Erfahrungshintergrund heutiger perfekt angepasster Warenverpackungen. Dieser rohe, funktional-fabrikmäßige Eindruck wird durch zahlreiche Gebrauchsspuren verstärkt. Eine Seitenwand ist mit Spritzern befleckt, offenbar eine ölhaltige Flüssigkeit, auf einer anderen sind mit schwarzer Ölkreide vermutlich Versandhinweise der Post geschrieben worden, deren Bedeutung sich für den Laien nicht entschlüsselt: 16/12 und 529. Ein Lieferdatum, eine Postleitzahl? Auf dem Deckel ist das Anbringen von Absender- und Empfängerangaben vorgesehen, deren mehrlagige Reste nun nach Spuren untersucht werden: Ein Paket wurde am 16. November 1975 aus Potsdam geschickt und erhielt die Sendungsnummer 825. Eine Nummer 529 ging aus Hohenstein ab. War das die handschriftliche 529 in Ölkreide, die zunächst als mögliche Postleit-

zahl erschien? Ein Irrweg, wie sich herausstellte, denn eine solche Postleitzahl gab es in der DDR nicht. Reste von Adressaufklebern lassen Fantasien aufkommen, wer wohl was in diesen Paketen verschickt haben mag. Eine Frau Schild, so weit lässt sich noch entziffern, hat ein Paket ins Sanatorium Raupennest nach Altenberg im Erzgebirge bekommen. Brauchte sie frische Kleidung? Nachfragen sind nicht möglich, denn die Provenienz dieses Objekts ist nicht dokumentiert.1

Reste von Adressaufklebern auf dem Postmietbehälter, Dokumenta­ tionszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

Aufdrucke des Herstellers verraten, um was es sich bei der Kiste handelt: einen »Postmietbehälter« vom »Typ F«. Was war ein Postmietbehälter? Der stimulierende, weil unbekannte Begriff »Postmietbehälter« lässt sich mittels einer Literaturrecherche konkretisieren. Zunächst wurden Lexika konsultiert: Im Meyer-Universallexikon von 1975 steht der Eintrag »Postmietverpackung« zwischen »post meridiem« und »postmortal«: »[…] ein stapelbares Verpackungsmittel aus Hartpappe oder Vulkanfiber, das, in unterschiedlichen Größen (Typen) hergestellt, im DDR-Inlandsverkehr von der Post vermietet wird.«2 Einige Jahre zuvor lautete der noch etwas präzisere Eintrag: »Mietverpackung aus Hartpappe, Vulkanfiber, Leichtmetall, Plaste oder ähnlichem Material; in unterschiedlicher Größe und Form (6 Typen) hergestellt; von der Deutschen Post gegen geringe Gebühr vermietet.«3 Im Vergleich der Einträge fällt 214

1  Andere Postmietverpackungen, die sich im

Sammlungsbestand des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR befinden, verweisen auf Schenkungen aus Privathaushalten. 2  Meyers Neues Lexikon in 18 Bänden, 2., völlig

neu bearb. Aufl., Leipzig 1975, Bd. 11, S. 115. 3  Meyers Neues Lexikon in acht Bän-

den, Leipzig 1963, Bd. 6, S. 658.

sofort auf, dass in dem früheren Text Postmietbehälter aus Kunststoff und Leichtmetall aufgeführt wurden, die Mitte der 1970er Jahre bereits fehlen. Um genauere Daten zu recherchieren, wurde ein Speziallexikon zurate gezogen, das detailliertere Informationen enthält: »Postmietbehälter: Verpackungsmittel aus Hartpappe oder Vulkanfiber, die die DP zum Zwecke des Versendens von Kleingütern auf dem Postwege an Bürger und Betriebe vermietet werden; 1975 ersetzt durch die neue Bez. Postmietverpackung, siehe Art. ›Postmietverpackungsverkehr‹«.4 Nun gibt es also bereits einen zweiten recherchierbaren Begriff und einen ersten Datierungshinweis: Der rote »Postmietbehälter« in der Museumssammlung wurde vor 1975 produziert. Das Lexikon führt im Weiteren die Anfang der 1980er Jahre aktuellen Größen der verschiedenen Standardpakete auf: Unser durch Aufdruck identifizierter Typ F ist einer von zwei Postmietbehältern aus Vulkanfiber und hat in etwa die Maße, die als Standard angegeben werden: 50 × 35 × 35 cm. Zur Erinnerung: Gemessen wurden 52 × 37 cm Grundfläche und 36 cm Höhe. War die Herstellungsgenauigkeit etwas großzügig, ist das Standardmaß ein Innenmaß? Der Lexikoneintrag verrät weiterhin, dass der Typ F seit 1977 nicht mehr hergestellt wurde, die Produktion eines weiteren aus Vulkanfiber hergestellten Behälters, des Typs D, wurde 1979 eingestellt. Es verblieben Anfang der 1980er Jahre nur noch Postmietverpackungen aus Karton, die dauerhafteren Materialien scheinen zu diesem Zeitpunkt also bereits aus dem Verkehr gezogen worden zu sein. Was nach Ansicht der Post in den Mietkartons befördert werden sollte, oder auch nicht, listet das Lexikon ebenfalls auf – offenbar beruhend auf einer Verordnung der Deutschen Post. Der Postmietbehälter eigne sich für den Versand von »Textilien, Holzwaren, Elektroartikel[n], Kleineisenteile[n], Werkzeuge[n] u. a.«, nicht jedoch für »unverpackte Gebrauchtwäsche, infektiöses Untersuchungsmaterial«.5

4  Gerhard Rehbein (Hg.): transpress

Lexikon Post. Post und Fernmeldewesen, Berlin (DDR) 1982, S. 519 f. 5  Ebd. 6  Anordnung über die Einführung des Post-

mietbehälter-Verkehrs v. 10. März 1955, in: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen der Deutschen Demokratischen Republik Nr. 13 v. 1. April 1955.

Gehen wir noch ein wenig mehr ins Detail: Die Verordnung der Deutschen Post zur Einführung des Postmietbehälter-Verkehrs gibt Auskunft über das Prozedere und lässt Rückschlüsse auf den Zweck dieses neuen »Dienstzweiges« zu.6 Postmietbehälter sind Leihverpackungen, die für Paketsendungen innerhalb der DDR zur Verfügung gestellt werden. Sie können auf jedem Postamt, das auch Pakete annimmt, gegen eine Gebühr von 50 Pfennig entliehen werden, die bei Rückgabe erstattet wird. Der neue Postdienst war für gewerbliche Zwecke vorgesehen, wobei man auch von Bestellungen von über 500 Stück ausging. Um den 215

Umlauf der Kartons flüssig zu gestalten, wurden eine Frist von zwei Tagen für Packen und Entpacken gesetzt sowie Verzugsgebühren und Schadensersatzleistungen festgelegt. Nach ersten Erfahrungen wurden dann die Mietgebühr für einige der zunächst in vier Größen ausgegebenen Kartons auf 30 Pfennig gemindert, die Fristen auf sechs Tage verlängert, der Postmietverkehr auch für private Nutzer zugelassen7 sowie die Zahl der Behältertypen auf sechs erhöht.8 Für nicht zurückgegebene Verpackungen wurden Strafgebühren erhoben, über deren Höhe sich aber nichts finden lässt. Kleine Geschichte des Postmietbehälters Um der Sympathie auslösenden Idee nachzugehen, es könnte sich bei der Leihverpackung um ein Produkt von Nachhaltigkeit und Abfallvermeidung handeln, verlagerte sich die Recherche auf die Behörden, die für den Postmietbehälter verantwortlich gewesen sein könnten. Aus den Akten des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen, des Ministeriums für Leichtindustrie, des Ministeriums für Materialwirtschaft, des Volkswirtschaftsrates sowie der Staatlichen Plankommission der DDR, die sich im Bundesarchiv befinden, konnten die Hintergründe der Einführung der Postmietverpackung sowie die Umstände ihrer Produktion rekonstruiert werden. Der bereits 1950 diskutierte, aber zunächst nicht weiter verfolgte Einsatz von Leihverpackungen bei der Post9 gewann im Frühjahr 1953 aktuelle Bedeutung. Ausgelöst durch einen Verbesserungsvorschlag, wurde der Beschluss des ZK der SED vom 3. Februar 1953 über einen »Feldzug für strengste Sparsamkeit«, in dem neben der Durchsetzung von Arbeitsnormen, Leistungslohn und Steuererhöhungen für die Privatwirtschaft auch Materialeinsparungen gefordert worden waren,10 nun vom Ministerium für Post- und Fernmeldewesen aufgenommen. Leihverpackungen sollten zur Einsparung von Verpackungsmaterial für die gesamte Wirtschaft führen und aus inländischen Rohstoffen hergestellt werden.11 Noch für den Herbst 1953 waren erste Versuche vorgesehen.12 Das Projekt, das nunmehr, nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 als »Durchsetzung des neuen Kurses im Verpackungswesen« bezeichnet wurde,13 musste angesichts der Materialknappheit an Kartonagen und Schwierigkeiten, einen geeigneten Herstellerbetrieb zu finden, immer wieder verschoben werden,14 bis schließlich der Postmietverkehr schrittweise ab dem 1. April 1955 eingeführt werden konnte. Die Resonanz war anfangs gering, weshalb Zeitungsanzeigen geschaltet, Werbeplakate, Handzettel sowie Aufkleber für Briefkästen hergestellt wurden. Die Postämter wurden aufgefordert, mit den Betrieben in ihrem Einzugsbereich Kontakt aufzu216

7  Anordnung Nr. 228/1955, in:

ebd., Nr. 27 v. 23. Juli 1955. 8  Erhard Eulitz: Der Postmietbehäl-

ter – ein Beitrag der Deutschen Post zur erleichterten Beförderung von Waren, in: Die Deutsche Post 1 (1956), H. 1, S. 11–13. 9  Bundesarchiv (im Folgenden BArch),

DM 3 (Ministerium für Post- und Fernmeldewesen)/3816, Vermerk v. 25. September 1953. Die hier und im Folgenden zitierten Akten sind sämtlich unpaginiert. 10  Feldzug für strengste Sparsamkeit, in:

Neues Deutschland, 4. Februar 1953. 11  BArch, DM 3/3816, Vermerk v. 28. Mai 1953. 12  Ebd., Vermerk v. 22. September 1953. 13  Ebd., Einladungsschreiben zur

­Sitzung am 20. Oktober 1953. 14  Ebd., Schreiben an das Ministerium für

Leichtindustrie v. 20. Dezember 1954; Einladungsschreiben v. 16. November 1954.

nehmen, um sie für den Postmietverkehr zu gewinnen. Seitens der Wirtschaft wurde die Zurückhaltung in Schreiben an die Post gleich mehrfach begründet: Man habe genug Verpackungsmaterial vorrätig – eine vielsagende Aussage über Hortungsgewohnheiten in der Mangelwirtschaft –, die Kartongrößen seien ungeeignet für einen sicheren Versand, die Kosten für ein Paket im Vergleich zum Bahntransport zu hoch.15 Die Post suchte nun weitere Kunden und fand sie in der Bevölkerung. Die Post in Thüringen empfahl Urlaubsreisenden, ihr Gepäck in Postmietbehältern vorauszuschicken, der Postbezirk Magdeburg schlug sogar vor, den Postmietverkehr an Postämtern an den Grenzübergangsstellen einzuführen, damit die vom Zoll zurückgewiesenen Waren zurückgeschickt werden könnten.16

15  BArch, DE 3 (Ministerium für Materialwirt-

schaft)/2940, Sammlung von Antwortschreiben von Industriebetrieben über ein Interesse an Nutzung des Postmietbehälterverkehrs, 1956. 16  BArch, DM 3/3816, Bericht der Postdirektion

Meinigen v. 30. November 1955; Bericht der Postdirektion Magdeburg v. 25. Juli 1955. 17  BArch, DM 3/28084, Schreiben der Plan-

kommission v. 27. September 1960; vgl. statistische Übersichten über den Postmietverkehr zwischen 1955 und 1963 in: BArch, DM 3/28085. 18  BArch, DM 3/13554, Schreiben an das

Nach Überwindung dieser Anfangsschwierigkeiten stieg der Postmietverkehr stetig an und erfreute sich bei der Bevölkerung zunehmender Beliebtheit.17 Die Zahl der im Umlauf befindlichen Behälter stieg von 300.000 Ende 1955 auf 700.000 im Jahr 1963.18 Im Jahr 1967 nutzten 2700 Betriebe den Postmietbehälterverkehr.19 Die gesichteten Unterlagen vermitteln jedoch den Eindruck, die Post habe dieser Dienstleistung eher distanziert bis ablehnend gegenübergestanden: Bereits bei der Einführung der Postmietbehälter wurde darauf verwiesen, dass es sich um eine Auflage der Plankommission handle,20 und beklagt, dass Lagerund Transportmöglichkeiten überlastet seien und der »normale« Paketverkehr beeinträchtigt werde. Es könne daher nicht Aufgabe der Post sein, ständig Nebenleistungen zu übernehmen.21 Die Post strebte deshalb ab 1967 an, die Postmietbehälter bis 1970 abzuschaffen, was aber aufgrund des anhaltenden Mangels an Verpackungsmaterial und damit des Einspruchs des Ministeriums für Leichtindustrie nicht erfolgte.22

ZK der SED v. 2. Dezember 1958. 19  Ebd., Vermerk v. 2. Oktober 1967. 20  BArch, DE 3/2940, Schreiben des Ministers

für Post- und Fernmeldewesen an den Minister für Leichtindustrie v. 22. August 1956. 21  BArch, DM 3/13554, Vermerk

v. 2. Oktober 1967. 22  Ebd., Schreiben des Ministeriums für

Leichtindustrie v. 14. Februar 1967. 23  Ebd., Bericht der Postdirektion

Erfurt v. 24. Juli 1969. 24  Ebd., Vermerk v. 24. März 1975. 25  BArch, DM 3/28085, Leitstelle Standar-

disierung, Abschlussbericht 1962, S. 6. 26  BArch, DM 3/13554, Vermerk

v. 20. Oktober 1967.

Dennoch kam es zu Einschränkungen, meist aufgrund logistischer Probleme oder weil nicht genügend Postmietbehälter vorhanden waren.23 Auch nahm die Zahl der gewerblichen Nutzer schlagartig ab, als durch eine Änderung der Gebührenordnung Postpakete nur noch 10 anstatt 20 kg Gewicht haben durften.24 Diese Einschränkung betraf vor allem die gewerblichen Nutzer, um die man sich zuvor so intensiv bemüht hatte. Einzelne Behälterformate hatten sich für bestimmte Industriezweige als besonders geeignet erwiesen, so etwa die Typen D und F für die Konfektionsindustrie und der Typ C2 für Druckereien und Papierwarenhersteller.25 Damit wird deutlich, dass Postmietbehälter für bestimmte Industriezweige eine gängige Versandart geworden waren, die neben den Bedarf der Bevölkerung getreten war, der 15 Prozent ausmachte.26 217

Obwohl Postmietbehälter sich nach einer längeren Anlaufphase gut etabliert hatten, kam es wiederholt zu Engpässen, die vor allem auf Produktionsproblemen beruhten. Diese betrafen nicht nur die – gescheiterte – Einführung von standardisierten Verpackungen und zusammenfaltbaren Kartons,27 sondern vor allem auch die Herstellung der besonders nachgefragten Behältertypen D und F aus Vulkanfiber. Mal stockte die Produktion, weil nicht genügend Nieten hergestellt und verarbeitet werden konnten, ein anderes Mal, weil Reparaturkapazitäten eingeschränkt waren und staatliche Betriebe diese Aufgabe nicht mehr übernahmen.28 Die Herstellung und Reparatur dieser Behälter beruhte auf den Kapazitäten einer einzigen Produktionsgenossenschaft des Handwerks, der PGH Treuen/Vogtl., die über Nietenmaschinen verfügte. Vor allem aber war Vulkanfiber ein knappes Gut, so dass wiederholt zu wenig Behälter geliefert wurden. Im Jahr 1958 beispielsweise lag die Jahresproduktion von Vulkanfiber bei 2700 t und damit 600 t unter dem Bedarf, wobei allein für die Mehrproduktion von Dauerverpackungen (also Postmietbehältern) 700 t benötigt wurden, um die generellen Versorgungslücken bei Verpackungsmitteln zu schließen.29 1959 mussten deshalb ersatzweise Behälter aus Pappe hergestellt werden.30 Das Material und sein Produzent Damit richtet sich der Blick auf das Material selbst und seinen Produzenten. Bei der Vulkanfiber handelt es sich um einen halbsynthetischen Stoff, der seit 1859 aus einer Verbindung von Zellulose auf Baumwollbasis31 und Zinkchlorid hergestellt wurde. Das Zinkchlorid weicht die Zellulosefaser auf und spaltet sie teilweise, so dass die Fasern miteinander verkleben. Das Zinkchlorid wird anschließend ausgewaschen und die Vulkanfiber getrocknet und gepresst.32 Die Eigenschaften der Vulkanfiber sind überzeugend: Das Material hat eine hohe mechanische Festigkeit, ein relativ geringes Gewicht, bietet eine gute elektrische Isolation (beim Postmietbehälter nicht so wesentlich), es brennt schwer und wirkt funkenlöschend, ist antistatisch, stabil und elastisch. Man kann es biegen, stanzen, schneiden, bohren, fräsen, schleifen und kleben. Aus Vulkanfiber werden unter anderem hergestellt: Koffer, Riemen, Zahnräder, Knöpfe, Mützenschirme, Feuerwehrhelme, Geschirrgriffe, Schleifscheiben, Bremsbeläge, Stanzteile aller Art, vor allem Dichtungen, Elektroinstallationsmaterial, das Material dient als Trennfolie für Laminate und schließlich als isolierende Unterfolie für Gitarrentonabnehmer – ein echter Alleskönner also, der auch heute noch produziert und vor allem für Dichtungen und zur Isolation von elektrischen Strömen angewendet wird.

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27  Standardisierung Verpackung. Mittei-

lungsblatt der Zentralstelle Standardisierung Verpackung, 2 (1962), H. 4, S. 3 f.; vgl. die Vorgänge im Zuge von Standardisierungsvorhaben in BArch, DM 3/28084 und DM 3/28085. 28  BArch, DM 3/28085, Leitstelle Standar-

disierung, Abschlussbericht 1962, S. 5, S. 9. 29  BArch, DE 4 (Volkswirtschaftsrat der

DDR)/8041, Bericht v. 15. Dezember 1958. 30  BArch, DM 3/13554, Schreiben an das ZK

der SED v. 2. Dezember 1958, Entwurf. 31  In der DDR weitgehend durch Zellu-

lose aus Stroh und heimischen Bäumen ersetzt, vgl. BArch, DF 4 (Ministerium für Leichtindustrie)/55187, Jahresbericht 1952 der Forschungs- und Entwicklungsstelle VEB Vulkanfiberfabrik Werder. 32  Alle Angaben nach Karlheinz Neuschiffer:

Vulkanfiber, in: Ullmanns Encyklopädie der technischen Chemie, 4., neubearb. und erw. Aufl., Weinheim 1983, Bd. 23, S. 747–750.

Vergleichsprobe der Farbtreue von Vulkanfiber für den Export ins westliche Ausland, undatiert, Bundesarchiv, BArch DE 4/8041 (Volkswirtschaftsrat der Deutschen Demokratischen Repu­blik), Besondere Vorgänge 1960–1963, e) ­Vulkanfiberfabrik Werder, o. Pag.

33  Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, 1949 ge-

gründete Organisation für die wirtschaftliche Integration der Staaten des Ostblocks. 34  Eine Übersicht zur historischen Entwicklung

enthält der Eintrag: Adolf-Damaschke-Straße 56–58. Vulkanfiber-Fabrik, in: Marie-Luise Buchinger, Marcus Cantz (Hg.): Landkreis Potsdam-Mittelmark. Teil 1: Nördliche Zauche (Denkmaltopographie der Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Brandenburg, 14.1), Worms 2009, S. 577–580. Zur Geschichte der Fabrik nach 1990 vgl. Stadtarchiv Werder, Sig. 49.910/17, Zeitungsausschnittsammlung, Betriebe, Vulkanfiber, 1989–2012.

Vor diesem Hintergrund stellt sich unter anderem die Frage, warum die Deutsche Post seit den späten 1970er Jahren auf die Produktion von Mietbehältern aus Vulkanfiber verzichtet hat. Waren sie so robust, dass man keinen Ersatz benötigte? Wurde die Produktion aus kosten- oder materialökonomischen Gründen eingestellt? Es gab in der DDR und im gesamten RGW33 nur einen einzigen Betrieb, der Vulkanfiber hergestellt hat, die Firma Martin Schmid Erben in Werder an der Havel. Sie wurde 1916 als erste Vulkanfiberfabrik in Deutschland gegründet, als kriegsbedingt US-amerikanische Importe entfallen waren und das kriegswichtige Material im Lande hergestellt werden musste. 1945 in eine Sowjetische Aktiengesellschaft überführt, wurde die Fabrik 1948 zum Volkseigenen Betrieb verstaatlicht.34 Der nunmehrige VEB Vulkanfiber-Fabrik Werder deckte mit 275 Beschäftigten im Jahr 1958 den gesamten Inlandsbedarf der 219

DDR-Industrie und exportierte in das sozialistische Wirtschaftsgebiet.35 Die Einführung des Postmietbehälterverkehrs bedeutete für die Fabrik eine erhebliche Produktionsauflage, die auf ca. 1000 t pro Jahr geschätzt wurde.36 Das war aufgrund des sonstigen Industriebedarfs, der 4000 unterschiedliche Produkte umfasste,37 offenbar nicht zu schaffen, insbesondere weil es immer wieder zu Produktionsproblemen kam. So verschlechterte sich 1959 plötzlich die Qualität des Papiers, das als Ausgangsmaterial für die Vulkanfiberproduktion notwendig war, so dass die Produktionsnorm im Folgejahr nur mit 61 Prozent erfüllt werden konnte.38 Einen Ersatzlieferanten gab es in der DDR nicht. Als ab 1960 der Export in das kapitalistische Ausland aufgenommen wurde, erwies sich die Färbung als unzureichend, so dass die Erlöse um 30 Prozent unter dem Möglichen lagen.39 Letztlich reichten die Produktionsmengen niemals aus, so dass ein permanenter Mangel an Postmietbehältern bestand. Grund für die Einstellung der Produktion von Postmietbehältern aus Vulkanfiber waren jedoch weder Produktionsengpässe noch Qualitäts- oder Kapazitätsprobleme, sondern eine Änderung der Postregularien für den Paketversand: Seit 1976 durften Pakete statt 20 kg nur noch 10 kg schwer sein und dies machte den Einsatz von großen Mietverpackungen aus Vulkanfiber sinnlos.40 Es kann nur darüber spekuliert werden, was in den folgenden Jahren mit den Postmietverpackungen aus Vulkanfiber geschah. 220

Postmietbehälter aus Graupappe, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

35  BArch, DE 4/8041, Bericht über die

Möglichkeit der Produktionssteigerung von Vulkanfiber zur Herstellung von Koffern und Postmietbehältern v. 15. Dezember 1958. 36  BArch, DE 3/2940, Plankommission, Nie-

derschrift einer Besprechung im Ministerium für Post- und Fernmeldewesen am 11. November 1955 betreffend Postmietbehälter. 37  4000 Produkte aus Vulkanfiber, in:

Neue Zeit, 25. Oktober 1984, S. 6. 38  BArch, DE 4/8041, Diskussionsbeitrag

des Parteisekretärs in der Vulkanfiber-Fabrik Schlunke vor der Bezirksdelegiertenkonferenz der IG Druck und Papier am 29./30. Juli 1961. 39  Ebd., Schreiben der DIA Holz und Papier

an den Volkswirtschaftsrat v. 10. April 1962. 40  BArch, DM 3/13554, Vermerk v. 24. März

1975. Zur Begründung der 10-kg-Gewichtsgrenze vgl. Moderne Zustellverfahren sparen Zeit und Wege. Interview mit Hauptdirektor G. Viehweg, Ministerium für Post- und Fernmeldewesen, in: Neue Zeit, 26. April 1975.

Musste der Postmietverkehr nunmehr gänzlich mit den kleineren, jedoch deutlich weniger haltbaren Leihverpackungen aus Karton, der sogenannten Graupappe, auskommen? Wurden Behälter aus Vulkanfiber weiterhin verwendet, wenn auch unter Einhaltung der halbierten Gewichtsgrenze? Wurden sie nach und nach oder auf einen Schlag ausgesondert? In den Quellen finden sich zu diesen Fragen keine Hinweise. Was bleibt, ist die »rote Kiste«, die aus Privatbesitz in den Sammlungsbestand des Museums gekommen ist. Eine Bilanz Die durch die rote Kiste im Museumsdepot angeregte Spuren­ suche hat tief in die Wirtschafts- und Konsumgeschichte der DDR geführt. Vor dem Hintergrund aktueller ökologischer Debatten als möglicher Beitrag zur Abfallvermeidung imaginiert, konnte der Postmietbehälter als Produkt des Sparsamkeitsregimes in der DDR identifiziert werden, als eine Materialisierung politischer Vorgaben im Rahmen des »Aufbaus des Sozialismus« in den Jahren 1952/53, als Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Bürokratien und als Beispiel für Produktions- und Logistikprobleme in der Planwirtschaft. Der Blick auf das Objekt entwickelte eine örtliche wie zeitliche Dimension, führte in eine kleine, in den Quellen kaum behandelte Fabrik und in die Dynamik der Verarmung einer Produktkultur in der DDR. Obwohl seit Mitte der 1950er Jahre die beschränkte Eignung von Pappe als Material für Postmietbehälter immer wieder Gegenstand aktenmäßiger Dokumentationen war und Vulkanfiber sich als die bessere Alternative zeigte, blieb genau dieses Verschleißprodukt als Ergebnis von Bemühungen um Materialeinsparung übrig – eine graue ­Schachtel.

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Dia-Umfüllkassette (Foto: Armin Herrmann).

DER ZWEITE BLICK DIA-UMFÜLLKASSETTE DER MARKE ORWO FLORENTINE NADOLNI

Objekte rufen Assoziationen und Erinnerungen hervor, sie geben Impulse zu vertiefender Betrachtung und Untersuchung. Meine Auswahl des Objektes »Dia-Umfüllkassette« erfolgte aufgrund des Markenaufdrucks ORWO und des Interesses an der gebrauchsgrafischen Gestaltung dieser Marke sowie am gesamten Corporate Design des Foto- und Filmherstellers der DDR, des VEB Film­fabrik Wolfen. Die Auswahl einer Dia-Umfüllkassette ist damit in gewisser Weise als exemplarisch zu betrachten, da auch ein anderes Objekt der Markenfamilie ORWO, etwa die Verpackung eines Tonbands oder eines Fotofilms, als Untersuchungsgegenstand aus dem Depot des Dokumentationszentrums für Alltagskultur der DDR hätte ausgewählt werden können. Im Mittelpunkt meiner Objektgeschichte stehen folglich die Markengeschichte und die Markengestaltung von ORWO, die eng mit der Geschichte Deutschlands und seiner Teilung verbunden sind. Nach einer ersten Untersuchung am Gegenstand ergab sich, überraschend und von der gebrauchsgrafischen Fragestellung abweichend, eine weitere Spur aus dem Objekt selbst. Die im Inneren der Umfüllkassette befindliche Diaserie zeigt die 3. Porträtfotoschau der DDR und verweist damit auf Fotografie in der DDR. Bevor die beiden benannten Aspekte vorgestellt werden, erfolgt zunächst eine detaillierte Objektbeschreibung. Festgehalten werden Aussehen, Maße, Material, Aufschrift und die Funktion – Informationen, die das Objekt unmittelbar preisgibt, die sich aus seiner materiellen Erscheinung ablesen lassen und zu ersten Schlussfolgerungen führen. Das Ding an sich – eine Objektbeschreibung Die Dia-Umfüllkassette ist ein dreidimensionales Objekt in schmaler, rechteckiger Grundform. Es besteht aus einem aus Kunststoff gefertigten, schwarzen Unter- und einem transparenten Oberteil in den Maßen 205 × 58 × 58 mm. Das Oberteil lässt sich vom Unterteil abheben und gewährt damit Zugriff auf den Inhalt: 36 kleine Fächer, in die Diarahmen eingesetzt werden können. In der Kassette befindet sich ein mehrfarbig bedrucktes Einlegeblatt aus Papier in den Maßen des Kassettenoberteils. Das Einlegeblatt kann entnommen werden und ist auf doppelte Größe ausfaltbar. Es fungiert zum einen als Teil der Objektverpackung und Produktkennzeichnung und zum anderen als Bedienungsanleitung und als selbst auszufüllende Inhaltsliste für den Nut-

zer. Im Sichtbereich ist es im oberen Bereich durch Streifen in den Farben Blau, Weiß, Gelb und Rot gestaltet. In dessen Mitte ist das Markenzeichen ORWO gesetzt. Des Weiteren ist die Vorderseite mit dem Produkttitel »Dia-Umfüllkassette«, mit den Herstellerangaben »Made in GDR« und »VEB ORWO-Plast Schmölln Betrieb im VEB Fotochemisches Kombinat Wolfen« bedruckt.1 In der linken unteren Blatthälfte befinden sich Nummern, die auf den Artikel und den Hersteller verweisen, am rechten unteren Rand die Preisangabe »EVP M«. Der ursprüngliche Preis ist mit einem Preisaufkleber »4,–« überklebt. Faltet man die Vorderseite auf, so zeigt sich eine vorgedruckte, 36-zeilige Inhaltstabelle zum Selbstausfüllen. Die Rückseite des Einlegers ist mit einer Bedienungsanleitung bedruckt, die in drei Schritten und anhand von Text und Bild die Verwendung der Umfüllkassette erläutert. Die hier untersuchte Kassette war als Langmagazin konzipiert, so dass die darin verwahrten 36 Kleinbilddias direkt, mit einem Handgriff in den Schlitten beziehungsweise Transporteur eines entsprechenden Diaprojektors umgefüllt werden konnten. Neben den aufgedruckten Informationen sind auf dem Einlegeblatt handschriftliche Notizen zu finden. So ist das Einlegeblatt oben rechts mit dem Titel »3. Porträtschau der DDR (2)« beschrieben. Der gleiche Hinweis findet sich auf einem Aufkleber am Unterteil der Kassette. Auf dem Plastikoberteil zeigt sich zudem ein kleiner weißer Aufkleber mit der Nummer 22. In der Kassette befinden sich 23 Diarahmen, die aus grauem Kunststoff gefertigt sind und auf denen das Signet der Marke Pentacon mit seinem stilisierten Dresdner Ernemannturm eingeprägt ist. Darüber hinaus sind die Dias am äußeren Rand handschriftlich mit den Nummern 2.1 bis 2.22 markiert. Gegen Licht gehalten, zeigt das erste Dia eine »Folie« mit dem Titel der Serie »3. Porträtfotoschau der DDR«. Alle anderen Bilder zeigen Fotografien von Porträtfotos von verschiedenen Menschen vor verschiedenen Hintergründen. Die Objektbeschreibung abschließend lassen sich folgende erste Schlussfolgerungen, Interpretationen und Spuren festhalten: Die Dia-Umfüllkassette ist ein Objekt aus dem 20. Jahrhundert, das auf »vor-digitale« Zeiten verweist, in denen fotografische Reproduktionen in Diarahmen gefüllt, mittels Diaprojektoren vergrößert und auf eine Bildwand projiziert wurden. Auf diesem Wege konnten sie zu Lehrzwecken oder im privaten Kreis einer größeren Gruppe von Menschen gezeigt werden. 224

1  Der VEB ORWO-Plast Schmölln war seit

dem Jahr 1970 Teil des VEB Fotochemischen Kombinats Wolfen; vgl. Rainer Karlsch, Paul Werner Wagner: Die AGFA-ORWO-­ Story. Geschichte der Filmfabrik Wolfen und ihrer Nachfolger, Berlin 2010, S. 166.

Es ist davon auszugehen, dass die Dia-Umfüllkassette der Marke ORWO massenhaft und für eine private Verwendung produziert und auch exportiert wurde. Auf eine seriell-industrielle Fertigung lassen Hersteller- und Artikelnummer schließen; auf einen internationalen Absatzmarkt verweist die englische Kennzeichnung »Made in GDR«. Von einer privaten und freien Verwendung ist auszugehen, da die Dia-Umfüllkassette eine offene Inhaltsliste mit sich führt, die vom Nutzer selbst auszufüllen ist. Die Umfüllkassette kann damit Behältnis für Dias unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Inhalts sein. Die Suche nach Vergleichsobjekten und nach bereits von anderen Museen erhobenen Informationen auf der Internetplattform »museum digital« zeigt einen Eintrag zu einem ähnlichen Objekt der Sammlung des Industrie- und Filmmuseums Wolfen, der auf das mögliche Herstellungsjahr 1987 deutet.2 Die im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR vergebene Inventarnummer für das Objekt »6536/04-DDR« verliert sich zwar im Eingangsbuch, verweist aber auf eine umfangreiche Berliner Schenkung, die Hunderte Lehrmaterialien zu verschiedenen Themen umfasst.3 Auch wenn aus dem Inventarbuch nicht genau hervorgeht, um welche Medien es sich handelt – Buch oder Dia –, liegt die Vermutung nahe, dass die Diaserie zur 3. Porträtfotoschau der DDR Teil dieses Konvolutes ist und als Lehrmittel erstellt und zu diesem Zweck verwendet wurde. Auch der Fundort im Depot des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR lässt diese Vermutung zu. Dort war die Dia-Umfüllkassette samt Inhalt in einem von zwei Schränken mit Diakästen zu verschiedenen schulischen Themengebieten untergebracht. Allerdings unterscheidet sich die hier untersuchte Diaserie in ihrer Herstellung von anderen. Sie ist privat fotografiert und einmalig erstellt worden. Es wäre denkbar, dass dies durch eine Lehrperson geschehen ist. Seriell produzierte Diaserien zu Lehrzwecken hingegen nennen den Herausgeber, sind etikettiert und zumeist in eigens dafür hergestellten Dia-Behältnissen verstaut.

2  Industrie und Filmmuseum Wolfen, Dia-Um-

füllkassette, https://www.museum-digital.de/ nat/index.php?sv=Dia+Umf%C3 %BCllkassette&done=yes, letzter Zugriff: 14.09.2018. 3  Im Inventarbuch ist der Nummer 6536/04-

DDR »Die Geschichte der Germanen« zugeordnet. Sie ist wie zahlreiche vorhergehende und auf sie folgende Nummern Teil der gleichen Schenkung an Lehrmaterialien.

Die Marke ORWO – Geschichte und Gestaltung ORWO ist eine Wortmarke, die als Abkürzung für »Original ­Wolfen« steht. Sie ist die Kennzeichnung für Produkte des VEB Filmfabrik Wolfen, des Herstellers für Foto- und Filmmaterial der DDR. Die Marke ORWO wurde 1964 eingeführt und löste den ursprünglichen, bis dahin verwendeten Herstellernamen Agfa – Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation – ab. Unter diesem wurden im sachsen-anhaltinischen Wolfen seit 1909 Fotound Filmmaterialien produziert. Die Agfa war in den 1920er Jah225

Anzeigenwerbung für »Agfacolor-Ultra« in: Sibylle, 1958, H. 4.

ren nach Eastman Kodak zweitgrößter Rohfilmproduzent der Welt und stellte ein Drittel des weltweiten Kinofilms her.4 In den 1930er Jahren wurde das Agfa-Color-Neu-Verfahren entwickelt, das sowohl bei Farbfotos als auch Farbkinofilmen angewandt werden konnte und nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit in den Filmstudios Einzug hielt.5 Die Aufgabe der international etablierten und erfolgreichen Marke Agfa vonseiten des VEB Filmfabrik Wolfen ist auf die deutsche Teilung nach 1949 zurückzuführen, in deren Folge sich die Agfa-Werke sowohl in Ost- wie in Westdeutschland befanden. Zwischen ihnen bestanden ein Lieferungsabkommen über Rohfilme und Materialien, aber auch Unstimmigkeiten über die Nutzung des Warenzeichens. Im Jahr 1956 wurde in einem Vertrag zwischen beiden Agfa-Standorten die gemeinsame Nutzung des Namens vereinbart. Es etablierte sich eine Aufteilung des Handels, nach der Agfa-Wolfen die RGW-Staaten6 belieferte und Agfa-­ Leverkusen den westeuropäischen Markt. Anhaltende Streitfälle, 226

4  Karlsch/Wagner, AGFA-ORWO-Story, S. 56. 5  Ebd., S. 99. 6  RGW – Rat für gegenseitige Wirtschafts-

hilfe der sozialistischen Länder, darunter die Sowjetunion, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechoslowakei, DDR, Kuba, Vietnam, Mongolei, 1949 in Reaktion auf den Marschallplan entstanden.

wie etwa um den Handelspartner Indien und dessen Filmindus­ trie, die bis 1989 von Agfa-Wolfen, später ORWO beliefert wurde, bestärkten jedoch das Streben nach Unabhängigkeit vom Leverkusener Standort. Um diese zu erlangen, wurde in Wolfen ab 1962 intern an einem Konzept für die Umstellung des Waren­zeichens gearbeitet und 1964 die Marke ORWO inklusive eines konsequent neuen Erscheinungsbildes der Produktverpackungen und der Werbung auf der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt. Zur Einführung der neuen Marke und des neuen Corporate Designs wurde eine mehrere Millionen umfassende Werbe­kampagne in 57 Ländern durchgeführt. Die Marke ORWO und die ­Wolfener Filmprodukte konnten sich in der Folge weltweit, vor allem im sozialistischen Handelsraum etablieren. Darüber hinaus fanden Produkte wie Fotopapiere und Schwarz-Weiß-Filme auch weiterhin im westeuropäischen Markt Absatz. Das 1964 veröffentlichte neue Corporate Design des Filmherstellers stammt vom Dessauer Grafiker Ernst Schneider. Der 1924 geborene Schneider studierte 1953 bis 1956 an der Fachschule für angewandte Kunst, der späteren Fachschule für Werbung und Gestaltung (FWG) in Berlin-Oberschöneweide. Zunächst für die Handelsorganisation (HO) Dessau tätig, war er ab 1957 und bis 1966 Chefgrafiker des VEB Filmfabrik Wolfen. Im Zentrum der neuen Gestaltung stand die Buchstabenmarke ORWO, die aus Großbuchstaben und in zwei Zeilen gesetzt ist. Die sich gegenüberliegenden »O« sowie die markanten, fetten Grotesktypen bilden ein starkes Logo, das wiedererkennbar ist und auf jedem Produkt des Herstellers – Fotofilm, Röntgenfilm, Kinofilm, Fotopapier, Fixiersalz, Entwickler, Magnetbänder, Kassetten etc. – verwendet wurde. Begleitet wurde das Markenzeichen von einem Farbkonzept, das auf das jeweilige Produkt und dessen Verpackungen angepasst war. Wiederkehrend sind dabei die Farben Gelb, Rot und Blau, wie sie sich auch auf der Dia-Umfüllkassette zeigen. Insgesamt traten die neue Marke und die dazugehörige Verpackungs- und Werbegestaltung modern, klar und funktional auf.

7  O. Bärwinkel: ORWO eine neue Verpa-

ckungsreihe, in: Neue Werbung. Fachzeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Werbung, 12 (1965), H. 3, S. 36–40. 8  Ebd., S. 36.

Unter dem Titel »ORWO eine neue Verpackungsreihe« wurden in der »Neuen Werbung – Fachzeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Werbung« das neue Warenzeichen und die neu gestaltete Produktlinie vorgestellt.7 In seiner dort abgedruckten Rede begründete der Ökonomische Direktor des VEB Filmfabrik Wolfen, Bärwinkel, die Neueinführung der Marke mit der Unabhängigkeit von der Leverkusener Agfa AG.8 Er äußerte sich zudem optimistisch, dass sich ORWO auf dem Weltmarkt durch227

Präsentation der Marke ORWO und der neu gestalteten Produktlinie in: Neue Werbung. Fachzeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Werbung, 1965, H. 3, S. 39.

setzen und sich zu einem Begriff deutscher Wertarbeit etablieren werde. Bezüglich der farblich reduzierten Gestaltung der SchwarzWeiß-Film-Packungen sowie zum Markenslogan sagte Bärwinkel: »Wir glauben, daß eine solche Gestaltung ohne jeden farbigen oder formalen Ballast unserem wissenschaftlich-technischen Zeitalter entspricht. Auch unser Slogan ›ORWO-Film – ein Zeugnis schöpferischer Tradition‹ verzichtet aus ähnlichen Einsichten bewußt auf jeden marktschreierischen oder reißerischen Ton.«9 Damit folgt Bärwinkel einer kontinuierlichen Praxis, Werbung in der DDR durch eine Betonung der Information zu definieren und sie damit von westlicher, vermeintlich verführender Werbung abzugrenzen. Neben der »Neuen Werbung« wird auch in anderen Fachpublikationen das von Ernst Schneider für den VEB Filmfabrik Wolfen entworfene Corporate Design als beispielhaft erwähnt und abgebildet, so etwa 1970 in »Die Schutzmarke« im Verlag Die Wirtschaft, Berlin, sowie im Überblickswerk »Gebrauchsgrafik in der DDR«, 1975 erschienen im Verlag der Kunst, Dresden. 228

9  Ebd., S. 40.

Werbeanzeige, Das Magazin 1964, H. 6.

Der charakteristische und wiedererkennbare Markenauftritt sowie der konsequente, geschlossene Einsatz auf Produktverpackungen und Werbematerialien zeugen von einer hohen gebrauchsgrafischen Qualität und einem strategischen Marketing, das bis zum Ende der DDR beim international agierenden Filmhersteller zur Anwendung kam. Die Neueinführung der Marke ORWO fiel in eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, der Entwicklungen einer modernen Konsumgesellschaft wie Selbstbedienung, Versandhauskataloge, Anzeigen- und Fernsehwerbung mit sich brachte. Vor allem, aber nicht nur für den Export wurden in dieser Zeit aufwendige Produkterscheinungsbilder und Werbekampagnen entwickelt. Neben ORWO ist in diesem Zusammenhang die Kosmetikmarke »Florena« beispielhaft anzuführen, die in den späten 1960er Jahren unter dem Slogan »… und Sie fühlen sich wohl in Ihrer Haut« in Anzeigen, Fernsehwerbung und Plakaten ihre Produkte, etwa die der westdeutschen »Nivea« ähnliche Universalcreme, propagierte. Als einflussreicher Gebrauchsgrafiker nicht nur auf dem Gebiet der Marken- und Warengestaltung dieser Zeit sei Klaus Wittkugel an dieser Stelle erwähnt. Mit seinem 229

reduzierten Verpackungsentwurf für den Filmhersteller »dekopan« aus den späten 1950er Jahren, in dessen Mittelpunkt schlicht das »d« des Produktnamens stand, knüpfte Wittkugel unverkennbar an Gestaltungstraditionen des Bauhauses und des Werkbundes an. Unter anderem mit dieser sachlichen, funktionalen Verpackungsgestaltung wirkte Wittkugel vorbildhaft auf andere Grafikdesigner in der DDR, wie es auch die Betrachtung des auf Buchstaben konzentrierten Logos ORWO erkennen lässt. Die 3. Porträtfotoschau der DDR – Inhalt der Dia-Umfüllkassette Eine zweite Spur der Objektanalyse führt zum Inhalt der Diakassette. In ihr befinden sich 23 Dias, die im Zusammenhang mit der 3. Porträtfotoschau der DDR stehen, wie der abgebildete Titel des ersten Dias nahelegt. Genauer betrachtet handelt es sich bei den Diainhalten um Abbildungen der im Rahmen der Porträtfotoschau ausgestellten Porträtfotos. Während die Fotografien der Ausstellungsfotos in eher mittlerer Qualität erscheinen – so ist etwa die Ausschnittwahl verschieden und nicht immer exakt –, weisen die abgebildeten Porträtfotos an sich eine hohe ästhetische Qualität auf. Erste Recherchen lassen beispielsweise Fotografien Christian Borcherts erkennen. Die 3. Porträtfotoschau der DDR wurde von der Gesellschaft für Fotografie im Kulturbund der DDR veranstaltet und fand 1986 zunächst im Ausstellungszentrum Fučíkplatz, Dresden, und darauf folgend im Ausstellungszentrum am Fernsehturm Berlin statt. Begleitend zur Ausstellung wurde ein Katalog herausgegeben, der Informationen zur Schau und zu den vertretenen Fotografen enthält.10 Im Vorwort des Katalogs wird deutlich, dass es sich um eine Ausstellung und einen Wettbewerb handelte, an dem sowohl professionelle Fotografen als auch Amateure teilnahmen. Der hintere Katalogteil diente als Ausstellungsverzeichnis und gibt Aufschluss darüber, dass in der Publikation nur ein Bruchteil der tatsächlich ausgestellten Fotografien abgebildet ist. Es finden sich unter den Ausgestellten, Abgebildeten und Erwähnten Sibylle Bergemann, Ute Mahler, Sven Marquardt, Christian Borchert, Roger Melis oder Ulrich Wüst – professionelle Fotografinnen und Fotografen, die mit ihren Arbeiten auch heute noch den Blick auf die DDR, ihren Alltag und ihre Menschen prägen. Im Mittelpunkt der Schau stand die Schwarz-Weiß-Porträtfotografie der DDR in ihren vielfältigen Ausprägungen. Gezeigt wurden Einzel- und Gruppenporträts sowohl im Arbeits- als auch im privaten Kontext, alte und junge Menschen, Arbeiter, Künstler, Angestellte, Sportler. 230

10  Gesellschaft für Fotografie im Kultur-

bund der DDR: 3. Porträtfotoschau der DDR, Dresden/Berlin (DDR) 1986.

Katalog der 3. Porträtfotoschau der DDR 1986, Titelseite.

Vergleicht man nun die 23 in der Umfüllkassette befindlichen Dias mit dem Ausstellungskatalog, so finden sich nur wenige Übereinstimmungen der Diabildinhalte mit den im Katalog abgebildeten Fotografien. Das heißt, dass der Fotograf und Urheber der Dias eine andere Auswahl an Bildern getroffen hat, als es die Autoren des Katalogs getan haben. Während sich unter den Dias beispielsweise zwei Bilder mit je zwei Fotografien von Christian Borcherts Familienporträts befinden, werden diese im Katalog nicht gezeigt und auch im Ausstellungsverzeichnis nicht aufgeführt. Verweisend auf die eingangs geschilderte handgeschriebene Beschriftung der Kassette mit dem Titel »3. Porträtfotoschau der DDR (2)«, muss davon ausgegangen werden, dass weitere Dias zur Schau existieren und an dieser Stelle folglich kaum Aussagen zu Vollständigkeit und Auswahl getroffen werde können. Unsicher bleibt, für welchen Anlass die Diaserie erstellt und in welchem Zusammenhang sie gezeigt wurde. Wie eingangs bereits 231

angesprochen, verweisen die Inventarnummer und die örtliche Nähe im Depot auf eine größere Schenkung von Lehrmaterialien. Das lässt auf eine Nutzung der Diaserie und der Dia-Umfüllkassette im Unterricht schließen. Es kann also vermutet werden, dass sie von einer Lehrperson stammt, die die Porträtfotoschau besucht, diese abfotografiert und für den Unterricht aufbereitet hat. Das ist insofern interessant, als die Umfüllkassette samt Inhalt die Schlussfolgerung erlaubt, dass neben vorgefertigten Lehrmedien und -inhalten auch individuell erstelltes Material und selbst gesetzte Themen Eingang in den Unterricht fanden. Zusammenfassung Die von dem Objekt »Dia-Umfüllkassette der Marke ORWO« ausgehenden Ausführungen abschließend, lässt sich festhalten, dass die Auswahl des Objektes aus dem Depot des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR nicht zufällig geschah, sondern auf ein Vorinteresse an der gebrauchsgrafischen Gestaltung einer bekannten Marke der DDR zurückzuführen ist. Diesem Interesse folgend, fokussierte die Objektgeschichte auf die Unternehmensgeschichte des VEB Filmfabrik Wolfen, vormals Agfa, und auf die Gestaltung der Marke ORWO. Daneben ergab sich unabhängig vom ursprünglichen Interesse eine weitere thematische Spur aus dem Objekt selbst. Die sich aus der Diaserie ergebende Spur zur Fotografie in der DDR konnte an dieser Stelle nur skizziert werden. Sie verweist auf die vom Kulturbund der DDR veranstalteten Ausstellungen zur Porträtfotografie, an denen sowohl professionelle Fotografen als auch Laien teilnahmen. Die Fotoschau kann daher als ein Instrument zur Förderung von Berufs- und Amateurfotografie verstanden werden. Ein weiterer Aspekt ergab sich aus dem vermuteten Entstehen und dem vermuteten Zweck der Diaserie. Sowohl das Inventarbuch als auch der Fundort im Depot lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Diaserie selbstständig und einmalig von einem Lehrer erstellt und, ergänzend zu vorgefertigtem Lehrmaterial, im Unterricht eingesetzt wurde. Es zeigt sich, dass das Objekt eine Vielzahl an Spuren und Verweisen in sich trägt, den in verschiedenen Objektgeschichten – Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte, Gebrauchsgrafik, Fotografie, Technik und Kunst, Erstellung von Unterrichtsmaterialien, serielle Produktion und individuelle Nutzung – nach­ gegangen werden kann. Dinge vermögen den Blick auf sich zu ziehen; sie geben Anlass zu Gesprächen und Recherchen und initiieren damit einen Unter232

suchungsprozess, der in viele Richtungen laufen und bis in die Tiefe verfolgt werden kann. Sie verweisen auf weitere Objekte und Quellen, die ein Thema immer näher umkreisen und dichter beschreiben können. Diese Eigenheit der Objekte und Dinge ist nicht nur für die wissenschaftliche Untersuchung aufschlussreich, sondern auch für museale Darstellungen ergiebig, die mittels verschiedener Anordnungen und Kompositionen der Objekte zu vielschichtigen Lesarten und Wahrnehmungen anregen können. Eingefügt in verschiedene Objekt-Settings, kann die hier behandelte ORWO-Dia-Umfüllkassette sowohl ein Exponat zur Veranschaulichung von gebrauchsgrafischen Traditionen und Trends der Markengestaltung sein als auch ein materielles Zeugnis der Technikgeschichte sowie illustratives Beispiel für die individuelle Erstellung von Lehrmaterialien in der DDR.

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Quartett »Aus der Arbeit der Kriminalpolizei«, Abschnitt A, Karte 1, »Marxismus-Leninismus«, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Achim Saupe).

VIER FUNDSTÜCKE IM DEPOT DINGE, SPUREN UND HISTORISCHE ERKENNTNIS ACHIM SAUPE

Wie Dinge sind Spuren vielschichtige Phänomene. Zu den wichtigsten Attributen der klassischen Spur, etwa der Spur auf dem Waldboden oder am Strand, gehören die Abwesenheit derer, die diese Spur hinterlassen haben, ihre weitgehende Unmotiviertheit und ihre Vergänglichkeit.1 Spuren können sowohl retrospektiv, wie in der Kriminalistik, der Archäologie, der Psychoanalyse und den Geschichtswissenschaften, als auch zukunftsdeutend, wie in der Mantik, der »Kunst des Sehers«, gelesen werden. Mit dem Spurenlesen ist zudem der »Spürsinn« und das »feine Gespür« verbunden und damit Fragen der Routine, der Erfahrung und des Taktes. So liest der erfahrene Jäger anhand der Spur, welches Tier wann vorübergelaufen ist, und Kriminalisten werden sich ebenso wie Historiker*innen aufgrund ihrer Erfahrung entscheiden müssen, welche Spuren überhaupt relevant sind, um eine Tat zu rekon­ struieren. Im Gespräch gibt es zudem das spürende Feingefühl, mit dem bestenfalls Situationen gemeistert werden können, in denen unsere Kommunikation zu scheitern droht. Gemeinsam ist allen Spuren, dass sie in »sichtschwachen Situationen«2 eine orientierende Funktion haben und praktisches und theoretisches Handeln herausfordern. In eine derartige sichtschwache Situation bringt mich der dem Artikel zugrunde liegende Workshop im Depot des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. Der Auftrag ist zwar klar benannt: Was können wir historisch oder historiografisch Relevantes über Dinge herausfinden, wenn wir Methoden der Spurensuche nutzen? Dazu gilt es zunächst einmal, die hier aufbewahrten Dinge als Spuren für weiterreichende Erzählungen zu erfassen.

1  Sybille Krämer, Werner Kogge, Gernot

Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt am Main 2007. Vgl. meine Rezension in: literaturkritik.de (2008), Nr. 5, http:// www.literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id=11849, letzter Zugriff: 25.03.2017. 2  Wolfram Hogrebe: Orientierungstech-

niken: Mantik, in: Krämer/Kogge/Grube (Hg.), Spur, S. 281–292, hier S. 289.

Das Depot ist in einer ehemaligen Schule aus Fertigbauweise untergebracht, der Verfall kratzt an den von Graffiti geschmückten Platten. Ich gehe durch eine Tür. Langsam entfalten sich die Dinge des Depots, gruppiert in bestimmte Bereiche des Alltagslebens, ausgestellt in Serien und puren Häufungen, teils verborgen in Bananenkartons. Das DDR-Alltagsleben oder, besser, dingliche Überreste des Lebens in der DDR und Nicht-mehr-Gebrauchtes finden in diesem Gebäude eine neue Ordnung: Heimschmuck, Optik, Uhren, Wandbilder, Kleinmöbel, Heimtextilien, Fuß-

bodenbeläge, Elektrogeräte, Unterhaltungselektronik im Erdgeschoss; im ersten Stock komme ich zunächst an Spielwaren und Freizeitgerät vorbei, um über den Lagerplatz für Tonträger und Fototechnik in den Raum für Agitation und Propaganda (»Sichtwerbung«) zu kommen. Von dort aus gehe ich an den Unterrichtsmitteln mit alten Karten vorbei in einen Raum, der auffällig riecht: Hier finden sich Chemikalien, Körperpflege- und Medizinartikel, aber auch Nahrungs- und Genussmittel. Von dort aus geht es zurück in einen Raum mit Kleidung, Schuhen, Schmuck und Täschnerware. Stumme Zeugen, die aber schon durch die Anordnung des Magazins und seine Typologien beginnen, miteinander zu kommunizieren – oder doch zumindest leise zu tuscheln. Die Räume und Regale bilden kleine, sinnliche Mikrokosmen. Das Einzelding will nicht alleine sein. Ich beginne mich zu fragen, was für ein Objekt oder welche Objekte ich für die Untersuchung auswählen soll: Ein paar Dinge sprechen mich aus ästhetischen Gründen an, andere erinnern mich offensichtlich an etwas. Ich mache Fotos. Die Zeit läuft davon. Welchen Spuren soll ich folgen, welche vernachlässigen? Und welche soll ich durch meine Auswahl selber für den Leser legen? In welche Bereiche der DDR-Alltagskultur möchte ich mich begeben, ohne allzu abgetretene Pfade der Forschung zu betreten? Ich gehe hinunter in den Keller, vorbei an den Bauresten und Bauplatten, den demontierten WCs, an Bauholz, Rasenmähern und Gartengeräten, hin zum Raum mit dem Hausrat, dem Geschirr, den Bestecken und Töpfen. Dieser Raum hat mich schon beim ersten Besuch vor zwei oder drei Jahren fasziniert, insbesondere die bunten Stapel von Kompottschälchen aus feinster Plaste. Mein Blick fällt auf Gewürzdosen in verschiedensten Ausführungen. Erinnerungen an meine Kindheit im Ruhrgebiet werden wach, die mich schon seit dem gestrigen Blick aus dem Hotelzimmer auf das Stahlwerk gepackt haben: Da ist doch dieses viel zu kleine Aufbewahrungsbehältnis für fünf verschiedene Gewürze, welches wir auch zu Hause hatten. Das Depot der Dinge hat mich offensichtlich an einen anderen Ort und in eine andere Zeit versetzt und auf eine Spur gebracht, die mich – wenn man so will – zunächst zu mir selbst führt. Angesichts der Vielfalt der Sammlung und meiner Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Kriminalliteratur und Geschichtswissenschaft wird mir schnell klar,3 dass meine Dingrecherche entgegen dem »Auftrag« nicht an einem einzelnen Objekt beziehungsweise einer klar begrenzten Objektgruppe stehen bleiben wird. Mich interessiert weniger der mikroskopische Blick auf ein Ding (um von dort aus auf Produktionsweisen und ihren ge236

3  Achim Saupe: Der Historiker als De-

tektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld 2009.

Gewürzdose »Würzkörner«, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Achim Saupe).

sellschaftlich-politischen Rahmen etc. zu schließen), sondern ich möchte einer Spur von Ding zu Ding folgen und Verweise herstellen, die gegebenenfalls über die Anordnung der Dinge in der Sammlung hinausgehen. Das wird mich vom persönlichen Erinnerungsding des Gewürzregals zu vier weiteren Objekten führen: Objekte, die die Sinne ansprechen, die auf den Unterschied von Ding- und Wortbedeutung beziehungsweise von materiellen und schriftlichen Zeugnissen verweisen, sowie auf Alltagsobjekte und politische Objekte. Was mich interessiert, ist der Sprung von der Spur zur Interpretation anhand vermeintlich »stummer Zeugen«. Geschmack aus der Dose Der Blick fällt nun zuerst auf eine Aufbewahrungsdose, auf der »Würzkörner« steht. Oberhalb der Aufschrift ist ein Bastkorb abgebildet, in dem ein üppiger Gartenstrauß mit wunderbaren Blüten zu finden ist. »Würzkörner« – das ist ein merkwürdiges Wort aus einer vergangenen Epoche, so scheint mir. Ist das eine jener Wortneuschöpfungen des DDR-Alltags? Es gibt mindestens zwei Versionen dieses Plastikdöschens im Depot, eines mit braunem Deckel, eines mit blauem, auf dem auch Rezept-Tipps stehen. Letztere gibt auch einen Hinweis darauf, was in dieser Dose aufbewahrt werden soll: Wacholderbeeren, Senfkörner und Piment. 237

Ich lasse mich auf das Experiment des Spurenlesens und die Idee einer »dichten« Dingbeschreibung ein. Ich ziehe die weißen, dünnen Stoffhandschuhe an und greife zu Lupe, Lineal und Waage. Die Gewürzdose hat eine Höhe von 9,8 cm, ist 7,5 cm im Durchmesser, fasst 300 ml und hat, wie ich dem Boden entnehmen kann, 1 Mark (Ost) gekostet. Wann war das wohl, wann wurde sie gekauft, wer hat sie genutzt, wer hat sie dem Dokumentationszentrum geschenkt? Die Dose – aus Polystyrol, wie mir die Experten sagen – ist überraschend leicht, sie wiegt 46 g und ist damit eigentlich zu leicht, um ein ideales Aufbewahrungsgefäß zu sein. Der Deckel zum Aufstecken ist dementsprechend auch schon angeschlagen und weist drei Risse auf, die vielleicht durch Verkanten von Deckel und Dose, vielleicht durch einen Fall auf den Küchenoder Depotboden entstanden sein mögen. Trotz ihrer Einrisse bewahrt die Dose einen merkwürdigen, etwas dumpfen Geruch, der jedoch kaum Rückschlüsse auf die darin aufbewahrten Gewürze zulässt. Vielleicht ist es auch nur der etwas dumpfe Duft des Depots, der einem in konzentrierter Weise entgegenschlägt. Erinnert werde ich dabei an intensivere Geruchserlebnisse, die ich mit der DDR verbinde: jene Linoleumböden, die in den Zügen der Bahn, Behörden und Universitäten ausgelegt waren. Die Dose wird nun zur Erinnerungs- und Projektionsfläche, zum Hypothesengenerator. 238

Rezeptvorschläge auf der Rückseite der Gewürzdose, Dokumen­ tationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Achim Saupe).

Gewürzbeutel, Thurm & Wunder Nachf., Böhlitz-Ehrenberg/Leizpig, vor 1964, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

Obwohl sie ein Massenprodukt ist, verspricht die Gewürzdose auch etwas Individualität, schließlich ist ihre Aufschrift »per Hand« geschrieben worden. Hier tun sich Widersprüche auf; auch, da dem Produkt aus Plaste, letztlich Erdöl, mit seinem Strauß Blumen ein »Zurück zur Natur«-Bewusstsein eingeschrieben zu sein scheint. Der Modernität von Plaste und Elaste und dem »Versprechen«4 auf Zukunft war hier offensichtlich ein merkwürdiges Traditionsbewusstsein mitgegeben.

4  Katja Böhme, Andreas Ludwig (Hg.):

Alles aus Plaste. Versprechen und Gebrauch in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2012. 5  Dass die Küche der DDR nicht nur

provinzielle Hausmannskost bot, behauptet rückblickend für die 1980er Jahre, in denen auch Auberginen und Zucchini auf den Tisch gekommen sein sollen, Ute Scheffler (Hg.): Alles Soljanka oder wie? Das ultimative DDR-Kochbuch 1949–1989. Mit einem Vorwort von Peter Schroth, 10. Aufl. (völlig überarb. u. aktual. Neuaufl.), Leipzig 2010. Das wäre freilich zu überprüfen: Kochzeitschriften waren in der DDR an jedem Kiosk erhältlich, darin wurden durchaus auch ausländische Gerichte vorgestellt. Nicht alle darin genannten Zutaten waren jedoch immer verfügbar, so dass bisweilen »heimische« Alternativen genannt wurden. Ich danke Andreas Ludwig für diesen Hinweis.

Die Rezepthinweise versprechen darüber hinaus deutsche Hausmannskost: Kräuter und Kartoffelsuppen (dazu Wacholderbeeren); Fischmarinaden, Einlegen von Gurken, aber auch »Mixed Pickles« (dazu Senfkörner); Piment zum Fisch, an Soßen, Suppen und Braten aller Fleischarten, für Salate, Sülzen und Kohl­ gemüse. Von heute aus gesehen erscheinen die Jahrzehnte der DDR furchtbar provinziell, auch wenn das weitgehend für die Bundesrepublik gelten kann: Die Möglichkeiten zu würzen sind vielfältiger geworden, auch wenn DDR-Gewürzpackungen bisweilen exotische Bilder boten, die an koloniale Traditionen anschlossen. Adaptiert wird nun die italienische, französische, chinesische, indische, marokkanische und türkische Küche, aber weniger die ungarische, bulgarische, polnische und russische.5 239

Ob das Wort »Würzkörner«, ein Sammelbegriff für verschiedene Gewürze, im allgemeinen Sprachgebrauch verankert war, kann kaum geklärt werden. »Gewürzkörner«, auch das ein Wort fast außer Gebrauch, also Piment, Nelkenpfeffer beziehungsweise Allgewürz, findet sich in den digitalisierten Beständen der DDRPresse der Staatsbibliothek genau zwei Mal, zunächst in einem Rezept der »Neuen Zeit«, in der man zu Beginn des Jahres 1982 schreibt: »Nach Braten und Süßigkeiten der Festtage sehnen wir uns nach einer Mahlzeit, die so herzhaft wie einfach ist. Bereiten wir Kartoffeln zu, aber nicht nur mit Salz, sondern […] mit Äpfeln [und] mit Blutwurst«. Also: 1 kg Kartoffeln, Salz, 500 g Äpfel, ½ Lorbeerblatt, 3 Gewürzkörner, 50 g Speck, ½ Zwiebel, 1 Eßl. Butter, Zucker, Blutwurst. Die geschälten Kartoffeln in ¾ l kochendem Salzwasser ansetzen, dabei Lorbeerblatt und Gewürzkörner zugeben. Nach 6 bis 8 Min. Kochzeit die geschälten, vom Kernhaus befreiten Apfelstücke unterrühren und zugedeckt garen. Speck- und Zwiebelwürfelchen braten und ebenso wie die Butter unter das zerstampfte Gericht mischen. Mit Salz und Zucker abschmecken und mit gebratenen Blutwurstscheiben anrichten.6

Die zweite Erwähnung stammt aus dem »Neuen Deutschland« aus dem Februar 1990. Der Katerstimmung der Genossen soll ein ganzer Esslöffel Gewürzkörner Abhilfe schaffen beziehungsweise jene selbst gemachte Leber- oder »Fettwurst« schmackhaft machen, die der Krimischreiber, Krimikritiker und gleichzeitige MfS-Abteilungsleiter Günter Ebert in einem seiner Bücher empfiehlt. Das weiß eine Rezension mit dem Titel »Literatur und Leberwurst« zu berichten.7 Bei den Rezepten wurde offensichtlich an Produkte gedacht, die der heimatliche Boden des Arbeiter-und Bauern-Staates hergab. Überhaupt Heimat: Warum heißt es im Erdgeschoss des Depots »Heimtextilien« und »Heimschmuck« – und nicht einfach Textilien, Wandschmuck und Tapeten?8 Daraus könnten sich neue Lesespuren ergeben: Heidegger schießt mir durch den Kopf, der in einem Text über »Sprache und Heimat« sicherlich einen traditionellen Topos bedient hat, aber dort dem andernorts von ihm selbst gewürdigten »Zeug« bei der Ausbildung von Identitäten aus dem Weg gegangen ist.9 Es gelte also, vom Gewürzregal ausgehend dem Heimatbegriff in der DDR, dem »Zu-Hause-Sein« auf die Spur zu kommen und den Geschmack der DDR nachzuvollziehen.10 Die (abwesenden) Würzkörner und der unbestimmbare Dosenduft sind Proust’scher Anlass für Erinnerungen, Recherchen und Assoziationen, sie haben eine »Erinnerungsver240

6  Ein Essen ›aus dem Hut‹. Kartoffeln

und was der Vorrat bietet, in: Neue Zeit, 9. Januar 1982, S. 8, http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/­ ?purl=SNP2612273X-19820109-0-8-133-0, letzter Zugriff: 03.11.2018. 7  Literatur und Leberwurst, in: Neues Deutsch-

land, 24. Februar 1990, S. 14, http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/­ ?purl=SNP2532889X-19900224-0-14-346-0, letzter Zugriff: 03.11.2018; siehe zu Günter Ebert auch die Informationen in der bibliografischen Datenbank »Wer war wer in der DDR«, http:// www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-warwer-in-der-ddr-%2363 %3B-1424.html?ID=663, letzter Zugriff: 03.11.2018. Zur Verflechtung von Kriminalliteratur, »Kritik« und staatlichen Behörden in der DDR siehe: Saupe, Historiker, S. 343–373. Dass es sich bei Ebert um einen höherrangigen Offizier des MfS handelte (Ernennung zum Oberst 1985), stellt sich erst im Verlauf der Recherchen für diesen Artikel heraus. 8  Dass es sich dabei um Fachbegriffe aus

dem Handel handeln soll, wie mir Andreas Ludwig nahelegt, oder aber einfach um eine »museumsfachliche, interne Nomenklatur«, wie Katja Böhme anmerkt, mag sein. Hier geht es jedoch um den Prozess des Befremdens und den offenen Nachvollzug von Assoziationen im Rahmen einer Spurensuche. Dabei kann man sicherlich auch auf den Holzweg geraten. 9  Martin Heidegger: Sprache und Hei-

mat, in: Hebbel-Jahrbuch 1960, Heide in Holstein 1960, S. 27–50. 10  Jan Palmowski: Die Erfindung der

sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag, Berlin 2016 (engl. 2009); Thomas Schaarschmidt: Regionalkultur und Diktatur. Sächsische Heimatbewegung und Heimat-Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ/DDR, Köln/Weimar/ Wien 2004. Dem Geschmack der Heimat wird nachgegangen in Joachim Klose (Hg.): Wie schmeckte die DDR? Wege zu einer Kultur des Erinnerns, Leipzig 2010.

anlassungsleistung« und offenbaren »mnemotechnischen Energien« (Aby Warburg).11 Als Dinge und Wort sind sie Signifikanten einer verloren gegangenen Zeit. Kontexte und Intentionen Hier kommt Melancholie auf. Und ich werde mir bewusst, dass meine Spurensuche, meine Assoziationen und tastenden Interpretationen recht Bekanntes zutage fördern. »Ausgelesen« ist das Objekt sicherlich noch nicht, doch meine Recherchen scheinen sich rhizomatisch zu verzweigen. Von der Gewürzdose führen – neben anderen, nicht weiter verfolgten Spuren – Pfade zur Heimatverbundenheit in der DDR oder zur Geschichte der Esskultur. Dazu fällt mir eine Camping-Garnitur ins Auge, auf der folgende Worte zu lesen sind: »camping, weekend, picknick«.

11  Gottfried Korff: Zur Eigenart der Museums-

dinge, in: ders., Museumsdinge: deponieren – exponieren. Hrsg. von Martina Eberspächer, Gudrun M. König, Bernd Tschhofen, Köln/ Weimar/Wien 2002, S. 140–145, hier S. 142. 12  Christopher Görlich: Urlaub vom Staat. Tou-

rismus in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2012. 13  Gerlinde Irmscher: Vergnügen an der frischen

Luft. Camping in der DDR, in: Ulrike Häußer, Marcus Merkel (Hg.): Vergnügen in der DDR, Berlin 2009, S. 373–384; Heike Wolter: »Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd«. Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 266–279; Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007; und den Selbsterfahrungsbericht von Uwe Blontke: Ostalgie-Camping. Camp-Erlebnisse in der DDR, Stuttgart 2007. 14  Nora Hilgert: Unterhaltung, aber sicher!

Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis »Stahlnetz« und »Blaulicht« 1958/59–1968, Bielefeld 2013, S. 167 f. 15  Vgl. Matthias Judt (Hg.): DDR-Geschich-

te in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 2013, S. 206. Siehe auch die Holztafel »Wie herrlich ist die Camping-Welt« des DDR Museums Berlin (Inventarnummer: 1014734), welche von selbigem als eines seiner »fünf skurrilsten Objekte« eingeschätzt wird: Museums-News, 3. August 2015, Unsere fünf skurrilsten Objekte, http://www.ddr-museum. de/de/blog/museumsnews/unsere-fuenf-skurrilsten-objekte, letzter Zugriff: 03.11.2018. 16  Ich erfahre später von Andreas Ludwig,

dass es sich hierbei inklusive der gestrichenen »1« um das offizielle Gütezeichen der DDR handelt, das es in den Stufen 2, 1 und S gab.

Ist das eine Anglisierung des DDR-Sprachgebrauchs, ein Ausbruch aus der Welt der Würzkörner? Die Bilder zeigen Tannengehölz, einen lustigen Vogel auf einem Picknickkorb, eine gedeckte Picknickdecke mit Eiern in Eierbechern, Wurst, eine bauchige Weinflasche, Blumen, ein Zwanziger-Jahre-Auto und eine Frau und einen Mann, die aus einem Zelt hervorkommen. Die Leidenschaft für Camping in der DDR ist in der Tourismusgeschichte wiederholt besprochen worden. Hier äußerten sich Natur- und Freiheitsliebe im »Urlaub vom Staat«12, und zwar gerade für Familien mit mehreren Kindern, auf die die Angebote der FDGB-Ferienheime nicht zugeschnitten waren.13 Das Bild des Campers in der DDR war dabei durchaus facettenreich: So findet sich in der Krimiserie »Blaulicht« in Folge 23 in den 1960er Jahren ein junger, paddelnder Kommissar, der auf dem Zeltplatz in einen Kriminalfall verwickelt wird,14 während 1988 der »Eulenspiegel« von der alkoholseligen Gesellig- und auch Spießigkeit des Zeltens berichtet.15 Offensichtlich weckt das Campingbesteck also mehrfache Anknüpfungspunkte an mein erstes Objekt. Doch gibt es wohl noch einen weiteren Grund dafür, dass ich es als zweites Objekt meiner Spurensuche wähle: Ich erwarte nämlich, dass es relativ schwierig sein wird, darüber überhaupt etwas herauszubekommen. Denn das Objekt hat keinen Verweis auf einen Hersteller, wie mir mit dem Blick auf die dreiteilige Hülle aus PVC-beschichteter Pappe auffällt. Innen befinden sich ein Dosenöffner, ein Korkenzieher und zwei Messer. Eines hat einen Holzgriff, auf der Klinge steht die Bezeichnung »Rostfrei« mit einem eingravierten, dreieckigen Logo.16 Das andere Messer hat einen Plastikgriff. Beide sind mit einer zweizackigen Spitze ausgestattet, um Wurst und andere Dinge aufzuspießen. Der Dosenöffner aus Stahl ist sehr schwer und gar nicht aus seiner Lasche herauszuziehen. Mit dem Alter 241

Camping-Garnitur, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Achim Saupe).

Campingbesteck: zwei Messer, Dosen- und Flaschenöffner, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Achim Saupe).

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Grafische Wandgestaltung, Leipziger Messe, um 1960, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

17  So gut scheint der Sammlermarkt für

Campingbesteck nicht zu sein, denn ich finde es auch noch fast ein Jahr später im Angebot von eBay, und zwar mit dem Hinweis, dass es sich bei dem angebotenen Stück um eine Auflage handelt, die die Leipziger Messe als Werbegeschenk verteilt habe. Aufgedruckt ist dort im Gegensatz zum Objekt der Sammlung das »MM«-Zeichen der Leipziger Messe. Aus einem Buch erfahre ich zudem mehr über die Kunststoffcampingartikel-Produktion der DDR, die wohl größtenteils in das westliche Ausland exportiert wurde. Das schließen die Autoren u. a. aus der Tatsache, dass es verhältnismäßig wenige Campingartikel, insbesondere Campingkoffer, in das Dokumentationszentrum geschafft haben, vgl. Böhme/Ludwig (Hg.), Plaste, S. 134–139. Siehe in diesem Zusammenhang auch den Bericht über die Campingmesse aus dem Jahr 1960 von Dieter Brückner: Weißer Sand und weiße Segel, in: Neues Deutschland, 10. September 1960, S. 6, http://zefys. staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP2532889X-19600910-0-6-0-0, letzter Zugriff: 03.11.2018. Gleich darunter findet sich in derselben Ausgabe des »Neuen Deutschland« der Berliner Aufmarschplan für den Internationalen Gedenktag für die Opfer des Faschismus am kommenden Tag. 18  Datum der Eintragung in die Findbücher des

Dokumentationszentrums: 23. November 2006.

scheint er festgeklebt zu sein, vielleicht hat sich auch die Lasche zusammengezogen. Ist das Camping-Set überhaupt gebraucht worden? Recherchen in Sachen Campingbesteck: Erste Anhaltspunkte gibt es auf eBay, hier wird das »DDR Camping Besteck VEB DREKO Picknick Garnitur 4 tlg.« für 19,90 Euro angeboten, und zwar in einer Variante, die es als Werbegeschenk der Leipziger Messe auszeichnet.17 Wie wären Forschergenerationen vor uns derartige Spurensuchen angegangen? Das Internet als Austauschbasis für die verschiedensten Sammler ermöglicht es, an ihrem antiquarischen Interesse, das auch die abwegigsten Dinge betrifft, teilzuhaben, ohne dass man dafür auf Messen oder Flohmärkte gehen muss. Gleichzeitig befördert es auch einen gewissen Recherche-Wahn, glaubt man doch, dass immer noch mehr herauszubekommen sein müsste. Zurück zu den Dingen: Das etwas klebrige Material hat an den beiden Außenseiten auf der Längsseite Riffelungen von ca. 1,2 cm, die nicht nur der Biegung des Materials zugutekommen, sondern es auch griffig machen. Im Verlauf der Ermittlungen stellt sich heraus, dass das Picknickbesteck von einem Herrn B. am 8. August 2006 aus Frankfurt (Oder) zusammen mit einem Antennenverstärker im Wert von EVP 199,00 M (gekauft 1975) dem Dokumentationszentrum geschenkt wurde.18 Warum gerade diese 243

Thermonata Heißluftschweißgerät für Plaste, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Achim Saupe).

beiden Produkte? Waren sie typisch für seine Erinnerungen an die DDR? Oder war das eher eine Zufallsauswahl?19 Des Weiteren bekomme ich noch heraus, dass sich ein vergleichbares Camping-Set auch in den Beständen des DDR Museums in Berlin befindet. Zudem hat offensichtlich das zum Teil translozierte Metallhandwerksmuseum in Steinbach-Hallenberg (Thüringen) die komplette Produktpalette des VEB Dreko aus den Jahren 1958 bis 2002.20 Mit ihrem Musealisierungs- und Bewahrungsinteresse stehen die privaten Schenker jedenfalls nicht allein. Kitten und Kombinieren – Heißluftschweißgeräte und das Quartett »Aus der Arbeit der Kriminalpolizei« Dass ich noch ein »Heissluftschweissgerät für Plaste«, ein »Ther­ mo­nata« des VEB Schloma wähle, liegt also wohl daran, dass ich die unterschiedlichen Dinge und Spuren, die in den Alltag der DDR und über ihn hinaus führen, irgendwie wieder zusammenkitten möchte. Das Gerät, das mich an selten funktionierende Heißklebepistolen aus dem Westen erinnert, wäre sicherlich auch ein gutes Einstiegsobjekt, um sich mit der Kultur des Selbermachens, des DIY, in der DDR zu beschäftigen.21 Das ist freilich ein ebenso oft thematisiertes Feld wie das des Essens und Campens, zumindest in den Erzählungen über die DDR, in der sich – Folge der Mangelwirtschaft, Verzeichnungen im Zeichen der vermeintlichen Ellbogengesellschaft nach 1990 – alle Nachbarn gegenseitig halfen. Doch tatsächlich findet sich im Annoncenteil der »Neuen Zeit« ein Angebot – »Gilt immer!« –, dass ein Herr S. aus Magdeburg an Wochenenden mit seinem Heißluftschweißgerät PVC-Folien in der Stärke von 1,2 bis 2,0 mm in Schwimmbecken verschweißen könne.22 244

19  Die Auswahl, die die Schenker getroffen

haben, erscheint ebenso kurios wie interessant: Das beweisen auch jene aus Lieberose, die nicht nur die Würzkörner-Dose, sondern zugleich Haarlack, Kleider, Blusen und anderes abgegeben haben. Unter den Kolleginnen und Kollegen vor Ort ist es ausgemachte Sache, dass kurze lebensgeschichtliche Interviews die »stummen Zeugen« des Depots zum Sprechen bringen würden und man sie schon bei der Abgabe hätte führen müssen. 20  Siehe http://www.metallhandwerks-

museum.de/ sowie: Denkmalgeschütztes Gebäude. Altes Haus rollt über die Straße, in: Rheinische Post, RP Online, 8. Mai 2005, online unter: http://www.rp-online.de/panorama/ deutschland/altes-haus-rollt-ueber-die-strasse-­ aid-1.1603143, letzter Zugriff: 03.11.2018. 21  Dazu gab es mit »practic« eine eigene

Zeitschrift in der DDR. Siehe auch: Andreas Ludwig: DIY for the Plan, http://www.invent­ ingeurope.eu/story/diy-for-the-plan, letzter Zugriff: 25.03.2017, sowie Reinhild Kreis: Why not buy? Making Things Oneself in an Age of Consumption, in: Bulletin of the German Historical Institute 56 (Spring 2015), S. 83–97. 22  Siehe Neue Zeit, 6. April 1985, S. 15,

http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ ddr-presse/ergebnisanzeige/?purl=SNP261 2273X-19850406-0-15-0-0, letzter Zugriff: 03.11.2018. Bin ich hier ganz beiläufig auf einen Hinweis auf Schwarzarbeit in der DDR gestoßen – oder legalisiertes »Scharwerken«, d. h. bezahlte und offiziell erlaubte Nebenarbeit? Einer Schattenökonomie in der Planwirtschaft?

Außenansicht/Innenansicht – Quartett »Aus der Arbeit der Kriminalpolizei«, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Achim Saupe).

23  Stefan Wolle: Die heile Welt der

Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Berlin 1998.

Noch bevor ich das Gerät im Kellerraum für »Heimwerker und Freizeitgerät« aus einer Bananenkiste herausgezogen hatte, war ich in den Raum mit den Spielsachen zurückgekehrt, mit einem Gefühl latenten Unwohlseins: Hatte ich nicht das Wesen der DDR als Parteidiktatur, als »Unrechtsstaat« völlig außer Acht gelassen, was mich doch in den Räumen zur Propaganda oder an den Gedenk-Gläsern aus den SED-Bezirksabteilungen angesprungen hatte? War ich etwa auf die »heile Welt der Diktatur«23 hereingefallen? 245

In einem Schrank mit Legespielen wurde ich fündig und fand ein ideologisch konnotiertes Ding, welches zudem die Möglichkeit bot, über die Arbeit von Historikern als Spurensucher, -sicherer und -leser und ihre Einbindung in Interpretations- und politische Machtkontexte nachzudenken: das Quartett »Aus der Arbeit der Kriminalpolizei«, welches, wie herauszubekommen ist, noch 1989 im Verlag für Lehrmittel Pößneck erschien, in der Altenburger Spielkartenfabrik hergestellt wurde und im Bestand der Stadtbibliothek Berlin Mitte war.24 Das Spielkartenformat ist wie bekannt Höhe × Breite: 10 × 7 cm, mehrfarbiger Farboffsetdruck, geklebte und gestanzte Pappe, alle 32 Spielkarten schaffen es in der Schutzverpackung auf eine Höhe von 1,8 cm und insgesamt 86 g.25 Ob mit ihm gespielt wurde, sei dahingestellt. Das »Lehrquartett für Kinder von 10 Jahren an« befindet sich in einer grünen Schutzpackung, auf der eine im Tweed daherkommende Katze mit Brille abgedruckt ist. Angespielt wird offensichtlich auf Sherlock Holmes, Vater aller empirisch, »wissenschaftlich« vorgehenden Spürnasen. Der Entwurf stammt von einem Hans (Georg) Stengel, als Texter wird ein gewisser Waldi Wendler genannt.26 Dass die Kriminalpolizei nicht allein auf die Bekämpfung sozialistischer Restkriminalität27 ausgerichtet, sondern immer auch repressives Instrument sozialistischer Ordnung gewesen ist, wird gleich im ersten Bild deutlich. So heißt es auf Karte 1 »Marxismus-Leninismus« des Quartetts A »Ausbildung zum Kriminalisten«: »Ein Kriminalist muß in erster Linie ein politisch denkender und handelnder Mensch sein, dem es ein Bedürfnis ist, fundierte weltanschauliche Kenntnisse des Marxismus-Leninismus zu besitzen und im Interesse der Arbeiterklasse und ihrer Partei zu handeln.« Zudem gehören zum ersten der acht Quartette Kenntnisse der Kriminalistik, ein sportlich trainierter Körper und eine Schießausbildung, »um unsere Bürger bei gefährlichen Angriffen auf ihr Leben zu schützen«. Quartett B behandelt die verschiedenen Berufsperspektiven von der »diensthabenden Truppe« bis zum Untersuchungsführer, C die Technik der Kriminalpolizei vom Einsatzfahrzeug über die Fotoausrüstung und das Mikroskop bis zum subjektiven Porträt – im westdeutschen Sprachgebrauch das Phantombild. Quartett D widmet sich unterschiedlichen Spurentypen (Werkzeugspur, Fahrzeugspur, Blutspur, Fingerspur), E zeigt verschiedene Vorgehensweisen bei der Sicherung von Spuren, F, G und H die Feststellung und Verhinderung von Straftaten sowie taktische Methoden: kriminalistische Beobachtung, Durchsuchung und Beschlagnahmung, Vernehmung und schließlich Fahndung. 246

24  Aufgenommen in das Inventar wurde

es 2006 mit der Inventarisierungsnummer 9055/06-DDR. Da die Bibliothek umziehen musste, hatte eine Bibliothekarin den Kontakt zum Dokumentationszentrum aufgenommen und eine Reihe von Büchern und Spielen abgegeben. Das Quartett hat es auch in den Bestand des Deutschen Historischen Museums geschafft und befindet sich mit der Inventarnummer MK 90/1579 in der Sammlung »Ende der DDR«; siehe http://www.dhm.de/ datenbank/dhm.php?seite=5&fld_0=AK101275, letzter Zugriff: 01.06.2016. 25  Dass Quartette definitorisch nicht zu den

eigentlichen »Spielkarten« gehören, entnehme ich der entsprechenden Fachliteratur für Sammler, vgl. Franz Braun: Die Spielkarten in der DDR, 2. Aufl., Köln 2000; Birgit Berndt: Ein gemischtes Blatt. Auf den Spuren der Spielkarten, Stralsund 2011. Ein Blick über die dort versammelten Blätter verweist darauf, dass immer wieder historische Motive (»August der Starke und seine Zeit«, aufgelegt 1985 und 1988; zur 750-Jahr-Feier Berlins »Nikolaiviertel«, Erscheinungsdatum 1987) oder erotische Motive (»Sweetheart«, aufgelegt 1970 und 1988) auf Skat- und Doppelkopfblätter gedruckt wurden, also auch hier Aspekte der Geschichts- und Alltagskultur entdeckt werden können. Auch Karten mit Erntemaschinen (»Fortschritt III«) oder mit Motiven des VEB Kombinat Kali finden sich, die als Werbegeschenke der Betriebe genutzt wurden. 26  Von Hans (Georg) Stengel – ist es tatsächlich

derselbe? – findet sich im Bestand des DHM, Inventarnummer DG 65/195, noch ein Flugblatt mit einem Spottgedicht auf fehlendes politisches Engagement mit dem Titel »Parteilos« aus dem Jahr 1949, http://www.dhm.de/datenbank/ dhm.php?seite=5&fld_0=D2A02042, letzter Zugriff: 01.06.2016. Über den Mann mit dem wie ein Pseudonym anmutenden Namen Waldi Wendler ist herauszubekommen, dass er auch an einem Buch der Publikationsabteilung des Ministeriums des Innern mitwirkte: Rudolf Herrmann, Waldi Wendler: Strafprozessuale und taktisch-methodische Grundfragen der Freiheitsentziehung im Ermittlungsverfahren, 2., überarb. Aufl., Berlin (DDR) 1988. 27  In der Utopie der Aufbauzeit der DDR

ging man davon aus, dass Kriminalität in der verwirklichten kommunistischen Gesellschaft eigentlich keine Rolle spielen sollte. Mit dem allgemeinen Utopieverlust des Realsozialismus der 1970er Jahre fiel auch diese Hoffnung.

28  Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der

Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78–125. 29  Ilko-Sascha Kowalczuk: Legitimation

eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 1997. 30  Mario Kessler: Jürgen Kuczynski – ein

linientreuer Dissident?, in: Utopie kreativ Nr. 171 (2005), S. 42–49, hier S. 48. 31  Jürgen Kuczynski: Werden und Arbeits-

weise des Schriftstellers Georges Simenon, in: ders.: Jahre mit Büchern, Berlin u. Weimar 1986, S. 201–218. Bei dem Text handelt es sich weitgehend um ein um einige Gedanken erweitertes Exzerpt des Buches: Georges Simenon, André Gide: Briefwechsel, Zürich 1977. 32  Vgl. Saupe, Historiker, S. 361–370. 33  Ulrich Schulz-Buschhaus: Formen

und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay, Frankfurt am Main 1975, S. 167. 34  Jürgen Kuczynski: Geschichte des

Alltags des deutschen Volkes, Bd. 6: Nachträgliche Gedanken, Berlin (DDR) 1985, S. 116; alle weiteren Zitate ebd.

Spurensuche als detektivische Praxis Diese polizeilichen Techniken und Befugnisse gehen weit über diejenigen von Historikerinnen und Historikern hinaus. Das hat diese nicht davon abgehalten, die historische Forschung immer wieder in Analogie mit kriminalistischen Praktiken zu setzen – wobei freilich nicht der ideologisch verdächtige, staatstreue Polizist, sondern der unabhängige Detektiv Pate stehen musste. Das damit verbundene Konzept der Spurensuche ist am prominentesten von Carlo Ginzburg thematisiert und in jüngerer Zeit als basale Erkenntnisweise für ganz verschiedene Wissenschaften hervorgehoben worden.28 Während bei Ginzburg Sherlock ­Holmes die historische Ermittlungstätigkeit verkörperte, hatten sich zuvor Marc Bloch und R.G. Collingwood an den Romanen Agatha Christies orientiert, um ihre Forschungsmethoden zu erläutern. Und auch in der DDR-Geschichtswissenschaft findet sich mit dem »Parteiarbeiter an der historischen Front«29 beziehungsweise »linientreuen Dissidenten« und »kritischen Gläubigen«30 Jürgen Kuczynski ein Historiker, der sich im Rahmen seiner methodo­logischen Reflexionen von der Kriminalliteratur anregen ließ. So fallen in die Zeit der Bearbeitung seiner sechsbändigen »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes« (1980–1985) in dem 1982 verfassten Textfragment »Werden und Arbeitsweise des Schriftstellers Georges Simenon« Äußerungen über das Verhältnis von Detektiv und Historiker.31 Die Beschäftigung mit dem Alltag und den alltäglichen Dingen scheint über die Systemgrenzen hinaus einen detektivisch-suchenden Blick geradezu zu befördern. Kuczynski fasziniert an den Kommissar-Maigret-­Romanen jedoch weniger die empirische, spurengeleitete Herangehensweise (beziehungsweise die epistemologische Seite des Spurenlesens) als vielmehr eine soziale Enquête, in der über das aufzuklärende Verbrechen hinaus eine (parteiliche) Gesellschaftsanalyse betrieben wird.32 Zudem findet der kleinbürgerlich-verständnisvolle Blick Maigrets auf die »Atmosphäre des Alltäglichen«33 Kuczynskis Interesse. Das psychologische Einfühlungsvermögen Simenons, der »sichere und disziplinierte In­stinkt« beziehungsweise die »physiologische Intuition« sollte auf die Geschichtsschreibung übertragen werden, zumal sich ­Simenons Detektivromane durch ein »ungewöhnliches Geschehen mitten am Alltag« auszeichnen würden.34 Dies lief auf ein etwas konventionelles Einfühlungsparadigma hinaus, wenn ­Kuczynski hervorhob, dass der »Historiker des Alltags« mit »Liebe«, mit »Mitfreuen« und »Mitleiden« schreiben müsse und etwa die »sorgenden Gedanken« einer »Arbeiterin im 20. Jahrhundert im Kapitalismus« »mitansehen«, »mitfühlen« und »mitschmecken« müsse. Bei so viel erdrückender Liebe für die Ausgebeuteten – sprich Paternalismus – musste andernorts dann die kriminalistische Hard-boiled-Variante herhalten, um die Ge247

schichtspolizei wieder in die Spur zu bringen: So heißt es bei Kuczynski auch, man müsse »Statistiken berechnen, Dokumente zitieren, eisig kühle rationale Überlegungen anstellen«.35 Spurensuche jenseits von Indizienbeweisen Die detektivisch-kriminalistische Idee des Spurenlesens bleibt für die historischen Wissenschaften verlockend und doch stößt die Analogie oft genug an ihre Grenzen. Als erkenntnisleitendes Modell ist das Spurenlesen zunächst einmal reichhaltiger, als dass es auf die Lösung und Aufklärung eines (existenziellen) Falls, die kausale Verkettung von Tatsachen, auf das »Verhör der Quellen« oder eine soziale Enquête eingeschränkt werden könnte.36 Dies führt mich zu fünf abschließenden Bemerkungen. Spuren verweisen erstens immer auf den Kontext ihrer Entdeckung. Meist werden Spuren wahrgenommen, weil sie eine gewohnte Ordnung stören und deshalb auffällig werden. Dass die hier besprochenen Dinge herausgegriffen wurden, lag weniger daran, dass sie besonders augenfällig waren, als daran, dass sie Verwunderung auslösten, indem etwa fremd anmutende Worte auffielen oder aber kleine »Paradoxien der Moderne« (Naturerzeugnisse in Plastikbehältern oder Plastikutensilien für das Campen in der Natur) Anlass für weitere Nachforschungen waren. In der zeitgeschichtlichen Wunderkammer des Museumsdepots mussten mich die Dinge affizieren und ansprechen, nicht zuletzt als materielles, (an)ästhetisches Ding. Und selbstverständlich mussten sie den Anschein wecken, dass sie etwas über die Geschichte des Alltags in der DDR und über die DDR-Gesellschaft erzählen konnten. Mein »vagabundierender«37 Blick führte mich dabei in fremde und näher liegende Welten und warf mich auf mich selbst zurück. Die Auswahl der Dinge, die in der herkömmlichen historischen Forschung eine Sache der Heuristik ist, der Entwicklung der Forschungsfrage im Hinblick auf konsultierbare Quellenbestände – und in der Sprache der Kriminalistik eine Sache des Falls –, hing im Laborversuch des Workshops von verschobenen Parametern ab. Nicht ein spezifisches Thema (also Herrschafts-, Alltags- oder Gesellschaftsschichte der DDR am Beispiel von Essen, Tourismus, Heimwerken und der Popularisierung der Arbeit staatlicher Organe) war der Ausgangspunkt, sondern quasi ein Fall ohne Fall, bei dem es die Spur der Dinge (und damit ihren Kontext und ihre Aussagekraft) erst zu finden und zu konstruieren galt. Zweitens erschließen Spuren Zusammenhänge in Raum und Zeit: Kriminalfilme oder Detektivromane führen vor, dass an einem Objekt zahlreiche Spuren ablesbar sind (Fingerabdrücke, Ge248

35  Von hier aus lassen sich auch Reflexionen

darüber anschließen, welche Konsequenzen die (übermäßige) Lektüre von Kriminalliteratur auf historiografische Narrative hat. Bei Simenon und Kuczynski kann man mit einiger Berechtigung behaupten, dass beide eher kompilatorisch arbeiten. Eine Spuren suchende Argumentation und Blickbewegung wird man in der mehr als Quellensammlung denn als Monografie daherkommenden »Geschichte des Alltags des deutschen Volks« jedenfalls vermissen. 36  Kriminalistisch inspirierte Geschichts-

methodologien haben darüber hinaus oft zu einem mehr oder minder eindimensionalen Empirismus, manchmal sogar Positivismus geführt, indem sie stets auf die Rekonstruktion eines Tathergangs rekurrierten. Zur ersten Position neigt Ginzburg, zur zweiten etwa Ernst Bernheim, vgl. Achim Saupe: Zur Kritik des Zeugen in der Konstitutionsphase der modernen Geschichtswissenschaft, in: Martin Sabrow, Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 71–92. 37  Maurice Agulhon: Der vagabundie-

rende Blick. Für ein neues Verständnis politischer Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1995, S. 7–13.

walteinwirkung usw.), und doch geht es im Wesentlichen um die Darstellung eines Ermittlungsprozesses, der nicht am einzelnen Objekt haltmacht, sondern verschiedene Objekte und ihren Gebrauch in Beziehung setzt. Die Provenienz eines einzelnen Massenguts im Rahmen einer Spurensuche zu ermitteln erschien deshalb – um es überspitzt auszudrücken – als red herring, als falsche Fährte. Als Teil einer seriellen Produktion hatten die ausgewählten Dinge zunächst einmal einen exemplarischen Wert.38 Ein Werkcharakter im emphatischen Sinne ließ sich ihnen kaum zuweisen. Als Zeugnis verwiesen die Dinge hier hingegen nicht auf Ereignisse, sondern auf Praktiken des Alltags – würzen, kampieren, handwerken, spielen und fahnden – und damit auf Tätigkeiten, die in bestimmten kultur-, sozial- und alltagsgeschichtlichen Begründungszusammenhängen relevant sein können. In einer »sichtschwachen Situation« entwickelte sich anhand eines suchenden Blicks von Objekt zu Objekt so die Idee, nicht Informationsspuren an einem einzelnen Ding abzulesen oder eine »Dingbiografie« zu rekonstruieren, sondern über eine Kombination von unterschiedlichen Dingen auf die Spur historischen Spurenlesens zu kommen. Was für ein Zufall war es da, auf ein metareflexiv nutzbares Objekt zu stoßen – das Kriminal-Quartett.

38  Vgl. die Dingepistemologie von bei Thomas

Thiemeyer: Werk, Exemplar, Zeuge. Die multiplen Authentizitäten der Museumsdings, in: Martin Sabrow, Achim Saupe (Hg.): Historische Authentizität, Göttingen 2016, S. 80–90. Einen Werkcharakter könnte man den Dingen zusprechen, wenn es sich bei ihnen etwa um hervorragende Stücke der Designgeschichte handelte. 39  Die Depotordnung ist natürlich auch eine

praktische Frage der Aufbewahrung, nach Größe, Materialität, Giftstoffen, Lichtempfindlichkeit, Schädlingsbefallgefahr usw. Dennoch werden thematische Zusammenhänge hergestellt.

Spuren werden drittens nicht nur hinterlassen, gefunden, offengelegt oder rekonstruiert, sondern auch erzeugt: Die Tatsache, dass im Dokumentationszentrum meist ehemalige Bürger der DDR Dinge abgegeben haben (und abgeben konnten), die sie für kulturell bewahrens- und erinnernswert hielten, zeigt, dass man es hier – aber auch im Museum und anderen Gedächtnisinstitutionen – mit einer Sondergattung von Spuren zu tun hat. Offensichtlich handelt es sich hier nämlich um intentional gelegte Spuren, um fabrizierte und gespurte Spuren.39 Sie sind keine materiellen Überreste und flüchtigen Reminiszenzen, keine historischen Ablagerungen, mit denen man es etwa in der Archäologie oder im Stadtraum zu tun hat, sondern Traditionsrelikte, um einen Begriff Johann Gustav Droysens abzuwandeln. Zugleich können die hier versammelten Dinge auch als Spurenelemente eines erinnerungskulturellen Experiments bezeichnet werden. Die derart »gelegten« beziehungsweise experimentell entstandenen Spuren wurden sodann durch das Magazin und das Museum zu »geordneten« Spuren. Nimmt man viertens das Bild einer Lektüre von Spuren ernst, so macht eine Unterscheidung von textlichen Zeugnissen und materiellen historischen Spuren keinen tiefgreifenden Sinn: Sowohl das Ding als auch der Text müssen »recodiert« und rekontextualisiert und in Interpretationszusammenhänge gesetzt werden, um 249

Kontexte der Herstellung und des Gebrauchs oder aber der Entstehung und Rezeption zu rekonstruieren. Das macht aus den zunächst uneindeutig »stummen« Dingzeugnissen letztlich konventionelle Informanten historischer Sinnbildung, anhand derer man Informationen gewinnt, ihnen an die Seite stellt und gegebenenfalls einschreibt. Zwar treffen sie anders als Texte keine dezidierten »Aussagen« – aber welche Aussagen wären schon interessant, wenn man sie nicht interpretieren würde? Spuren fordern damit fünftens zu Interpretationen heraus, weil sie zunächst uneindeutig erscheinen, und sie bilden in ihrer Offenheit besonders gute Ausgangspunkte für Erzählungen und Begründungszusammenhänge. Die Spur, eine Anordnung im Raum, die über den Verlauf der Zeit Auskunft gibt, uns nah ist und zugleich Ferne und Abwesenheit signalisiert, hat eine offensichtliche Affinität zur Erzählung als »Synthesis des Heterogenen« (Paul Ricœur). Der juristisch-kriminalistische Indizienbeweis beziehungsweise die klassische Detektivgeschichte, zu deren Grundvoraussetzung eine rekonstruierbare, intentionale Handlung gehört, die dann in eine kausale Herleitung mündet, ist dabei aber nur eine Variante unter vielen möglichen Spuren-Erzählungen. Im Gegensatz dazu fungierten die hier zur Spur erhobenen Dinge zwar als Zeugnisse und Indizien ihrer Zeit, aber nicht als Beweis oder gar als »Geständnis«. Beim Gang in das Dokumentationszentrum gab es weder einen Verdacht noch einen Fall und die erkennungsdienstlichen Maßnahmen richteten sich weniger auf die Echtheit oder Materialprüfung der Dinge im Sinne einer klassischen inneren und äußeren Quellenkritik, sondern eher auf das Unerzählte der Dinge, ihre dichte Beschreibung, das Verborgene hinter den Zeichen und ihre nicht zu hintergehende Mehrdeutigkeit. Gewürzdose, Campingbesteck, Heißluftschweißgerät und Kriminal-Quartett erlangten so den Status von Indizien für mögliche Geschichten.

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Querstromlüfter QL I, VEB Elektroinstallation Oberlind, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

ZUR KÜHLUNG ERHITZTER GEMÜTER DER QUERSTROMLÜFTER QL I DES STAATLICHEN KULTURHAUSES ERNST THÄLMANN, EISENHÜTTENSTADT ANNE SUDROW

1  Dieser Beitrag wurde 2015 verfasst.

Literatur, die nach diesem Zeitpunkt erschien, wurde daher nicht berücksichtigt. 2  Anne Sudrow: Sozialistische Produktgestal-

tung oder »Produktgestaltung im Sozialismus«? Eine historische Re-Lektüre von Martin Kelms programmatischer Schrift von 1971, in: Christian Wölfel, Sylvia Wölfel, Jens Krzywinski (Hg.): Gutes Design. Martin Kelm und die Designförderung in der DDR, Dresden 2014, S. 118–131.

Vom Suchen und Finden Am Anfang standen Konstruktion und Form.1 Ich suchte im Sammlungsbestand des Museums nach Beispielen für DDR-Industrieprodukte mit hoher Gestaltungsqualität. Hier waren meine Auswahlkriterien geprägt von Fragestellungen eines früheren Forschungsprojekts, das sich mit der Designförderung als Wirtschaftsfaktor in der DDR und mit der praktischen Arbeit von professionellen Formgebern in der Produktentwicklung in den DDR-Industriebetrieben beschäftigte.2 Ich wollte ein Produkt finden, das in einem Industriebetrieb der DDR durch einen professionellen Produktgestalter geformt worden war. Bekanntlich war dies keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Gerade in den metallverarbeitenden Betrieben fand ja die Produktgestaltung vorwiegend durch Ingenieure – oft ohne gestalterische Vorbildung – statt. Im Raum für elektrische Geräte im Depot sprang mir unmittelbar ein Gerät ins Auge: der »Querstromlüfter« QL I des VEB Elektroinstallation Oberlind, eines Betriebes des Kombinates VEB Elektrogerätewerk Suhl in Sonneberg. Es fiel mir auf, weil es nicht nur unter ästhetischen, sicherheitstechnischen und Materialaspekten herausragende Qualitäten aufwies. Die Form schien mir auch eine technische Innovation zu »beherbergen«: Der Tischventilator funktionierte offenbar nach einem neuen technischen Prinzip. Anstatt, wie bei herkömmlichen Ventilatoren, im »Laufrad« die »Flügel« von einem Zentrum ausgehend anzuordnen (Axialprinzip der Lüftung genannt, da der Luftstrom parallel zur Drehachse des Laufrads verläuft), waren hier die Lamellen, die den Luftstrom erzeugten, auf einer Walze angeordnet, die sich um eine horizontale Achse dreht (Tangentialprinzip genannt, da der Luftstrom quer zur Drehachse des Laufrads verläuft). Wie ich später erfuhr, ist die technische Bezeichnung hierfür »Tangentiallüfter«. Alle sichtbaren Teile bis auf den Metallbügel, der als Ständer diente, waren aus Kunststoff hergestellt. Welch ein beglückender Moment, die Funktion des Produkts auf einen Blick erfassen zu können und gleichzeitig noch einen Erkenntnisgewinn zu erzielen: Ja, auf diese Weise könnte man dieses technische und gestalterische Problem auch lösen! Sogleich stellte sich eine Heiterkeit ein: Das Produkt hatte Witz! War intelligent!

Regte die Vorstellungskraft an! Auf den ersten Blick stellte es zugleich eine gestalterische und eine technische Innovation dar. Und durch seine visuelle Zugänglichkeit sowie seine warme und leichte Kunststoff-Materialität schien es zutiefst nutzerfreundlich. Das Objekt lag in einer Kiste mit vielen weiteren, gebraucht aussehenden Objekten desselben und eines ähnlichen Typs. Daraus schloss ich, dass es sich um ein weithin verfügbares Gerät handelte, was tatsächlich im Alltag der DDR Verwendung fand. Auch dies war ein Auswahlkriterium für mich, wollte ich mich doch nicht nur mit einem kuriosen Unikat oder einem auf wenige Nutzer beschränkten Luxusprodukt beschäftigen. Das individuelle Objekt, für das ich mich schließlich entschied, wies deutliche Gebrauchsspuren auf, war durch vielfachen Betrieb an bestimmten Stellen verschmutzt (zum Beispiel Staubansammlung im Schirm des Ventilators) und war zudem gekennzeichnet durch ein Schild, das auf den Eigentümer und Nutzer des Objekts hinwies: eine Inventarnummer »1101« des »Staatlichen Kulturhauses Ernst Thälmann«. Der Lüfter hatte offenbar zur Kühlung durch die staatliche oder regionale oder betriebliche Kulturpolitik erhitzter Gemüter seinen Beitrag geleistet.3 Analyse dreier Objekte Um die Eigenschaften des von mir ausgewählten Produkts zu erfassen und zu ermessen, untersuchte ich es vergleichend mit zwei anderen Objekten. Da war einmal das Objekt vom Typ QL I selbst, mit dem Aufkleber »Staatliches Kulturhaus Ernst Thälmann«. Zweitens wurde in der Sammlung ein vom Modell her gleiches Objekt noch in der Originalverpackung mit Garantieschein und Bedienungsanleitung aufbewahrt. So konnten diese ebenfalls als Informationsquelle ausgewertet werden. Hieraus gingen der oben genannte Hersteller und ein Herstellungsdatum hervor: Dieses Objekt verließ das Werk als Produkt Nummer 378.771 am 17. September 1975. Der »Bedienungsanleitung« war zu entnehmen, dass das Gerät sowohl stehend als auch hängend, als »Wandlüfter«, eingesetzt werden sollte. Und drittens gab es ein weiteres Modell des Querlüfters vom selben Hersteller, den Typ QL II, der entweder zeitlich auf den Typ QL I in verbesserter Ausführung folgte oder einfach eine andere Modellgröße darstellte und zur selben Zeit produziert wurde. Am ersten Objekt waren deutliche Gebrauchsspuren zu ent­ decken: Kratzer am Gerätekörper (Zylinder), fettige Ablagerungen in den Mulden und Vertiefungen am Gerätekörper, Staubschichten an bestimmten Punkten in der Abdeckung des rotierenden Zylinders (Walze). Es hat eine Breite von 15,5 cm, eine Höhe (im 254

3  Vgl. dazu Annette Schuhmann: Kulturarbeit

im sozialistischen Betrieb. Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970, Köln/Weimar/Wien 2006.

Seitenansicht mit drehbarem Plexiglasschirm, der den Luftstrom lenkt, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

waagerechten Zustand des Zylinders) von 13,5 cm beziehungsweise 18,5 cm (im senkrechten Zustand des Zylinders) und eine Tiefe (des Bügels) von 8,5 cm. Das Objekt wiegt 650 g. Der QL I besteht aus drei Teilen: dem Gerätekörper, dem Bügel (Ständer) und dem Kabel. Der Gerätekörper umfasst das Gerätegehäuse, das den Motor birgt, und die zylindrische Rotationswalze, die den Luftstrom erzeugt. Beide sind aus dem gleichen gelblich gefärbten Kunststoff. Die Art des Kunststoffs wäre noch genauer zu identifizieren. Der Bügel (Ständer) ist aus einem ver255

chromten Metall. Fast genial sind die vier »Gummifüße« (so die Bedienungsanleitung), vier auf das Metallrohr gefädelte Gummirohrabschnitte, die das Gerät selbst bei der Vibration, die der Motor erzeugt, am Platz halten. Der Metallbügel steht fest auf der Unterlage, der Zylinder ist über 270 Grad stufenlos kippbar, kann auch ganz aufrecht stehen. Der Zylinder des Gerätekörpers ist zweigeteilt: in die Fassung mit dem Motor im Gehäuse und die Rotationswalze mit Lamellen, die von einem Schirm aus durchsichtigem Plexiglas ummantelt ist. Der Plexiglasschirm hat die zwei oben beschriebenen Öffnungen, die den Blick (und Zugriff) auf die Lamellen der Rotationswalze freigeben. Die Walze, aus Kunststoff, ist aus zwei gleichen Gussteilen gefertigt, die bei der Produktion gegenläufig ineinandergesteckt wurden. Die Walze sitzt auf der zentralen Achse des Motors. Das Gehäuse des Motors ist aus demselben gelblichen Kunststoff, aus dem auch die Rotationswalze besteht. An einigen 256

Inventaraufkleber des Staatlichen Kulturhauses Ernst Thälmann, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

Lamellen und am Schaft ist das Gehäuse ausgeblichen und heller als an anderen Stellen – am Endstück des Gehäuses, wo sich die Lüftung für den Motor befand. Ein Metallband ist um den Schaft des Plexiglasschirms gelegt, um diesen am Gehäuse zu befestigen, aber dennoch die Verdrehung des Schirms zu ermöglichen. Über die Drehung des Schirms kann vom Nutzer der Luftstrom gelenkt werden. Dadurch bleibt das Gerät sehr flexibel. Der Plexiglasschirm besteht aus zwei Hälften. An der Spitze läuft der Schirm in einem leicht erhabenen Kreis in zwei Hälften zusammen, die ebenfalls, wie am Schaft, mit einem Metallband zusammengehalten werden. Beide Metallbänder schließen nicht ganz. Im Inneren des Schirms hat sich unregelmäßig Staub angesammelt. Der Staub liegt vor allem in dem sehr schmalen Stück zwischen beiden Öffnungen im Schirm. Das Gehäuse besteht aus zwei Teilen: dem Schaft und dem Endstück. Im Schaft befindet sich die Beschriftung des Stufenreglers (An-aus-Schalter) und die Befestigung des Bügels (Ständer). Auf dem Endstück sind beidseitig Lüftungen für den Motor und das Typenschild angebracht. Darauf steht: »220V. 50 Hz. 15W. Made in GDR«. Auf dem Endstück, unter dem Typenschild, befindet sich außerdem das Kabel des Geräts, das mit einer Aluminiummanschette an einem Gummischlauch befestigt war. Auf dem Schaft des Gehäuses klebt ein Etikett mit der Aufschrift: »Staatl. Kulturhaus ›Ernst Thälmann‹ Inv[entar]-Nr. 1101«. Das Etikett hat einen roten Rahmen. Vom Museumsfachmann Andreas ­Ludwig, der die Sammlung in Eisenhüttenstadt maßgeblich aufgebaut hat, erfuhr ich, dass das Objekt, da es keine Inventarnummer des Dokumentationszentrums enthielt, direkt vom Kulturzentrum in die Sammlung gelangte. Vermutlich lag dieses Kulturhaus in Eisenhüttenstadt. Das Objekt vom Typ QL II weicht vom ersten Objekt in folgenden Punkten ab: Es hatte um einiges größere Dimensionen: 18 cm breit, 15,5 cm (im waagerechten Zustand des Zylinders) beziehungsweise 23 cm (im senkrechten Zustand des Zylinders) hoch und 10,5 cm tief. Es wiegt 950 g. Die gelbliche Farbe des Kunststoffs des Rotationskolbens und des Gehäuses ist viel homogener und es ist offenbar ein neuerer Werkstoff, der weniger ausblich beziehungsweise länger farbecht blieb. Das Kabel ist am Gehäuse nicht mehr mit einer Aluminiummanschette befestigt. Doch der Bügel (Ständer) ist genauso verchromt und mit vier »Gummifüßen« versehen wie beim Modell QL I. Auf dem Typenschild steht: »Typ QL II. 220 V. 50 Htz. 25W. Made in GDR«. Dessen Leistung beträgt also 25 Watt im Gegensatz zu den 15 Watt des Modells QL I. Und auch hier weist die englische Bezeichnung 257

»Made in GDR« darauf hin, dass das Produkt auch, wenn nicht ausschließlich, für den Export produziert wurde. Experimentalbetrieb Bei einem experimentellen Betrieb des Geräts QL I ergab sich, dass der Luftstrom aus dem rechteckigen Fenster kommt, dessen obere Kante das Eck im Plexiglasschirm bildet. Der Schirm hat zwei Öffnungen. Vor allem aber fiel auf, wie extrem leise das Gerät betrieben werden kann. Es hat eine viel geringere Geräuschemission als herkömmliche Standventilatoren, weist aber gleichzeitig eine hohe Wirksamkeit (starker Luftstrom in zwei Stufen) auf. Des Weiteren fiel auf, dass die Kunststofflamellen keinerlei Verletzungsgefahr für unvorsichtige Nutzer darstellen. Historische Objektrecherche Bei der Recherche zur Geschichte des Objekts erlebte ich einige Überraschungen. In (nichtwissenschaftlichen) Darstellungen auf Webseiten von Sammlern im Internet wird das Produkt beziehungsweise sein Entwurf auf 1969 datiert. Als sein DDR-Formgestalter wird Kurt Boeser angegeben. Die Datumsangabe deckt sich in etwa mit dem Garantieschein des zweiten Objekts von September 1975. Offenbar wurde bis zu diesem Zeitpunkt noch der Typ I des Querlüfters beim VEB Elektroinstallation Oberlind produziert, während gleichzeitig oder bald darauf dann zum Typ II übergegangen wurde. Diese Datierung muss noch in schriftlichen Archivdokumenten verifiziert beziehungsweise genauer geklärt werden. Bei der weiteren Hintergrundrecherche erwies sich aber zu meiner großen Überraschung, dass eine westdeutsche Firma bereits 1961 ein Produkt auf den Markt gebracht hatte, mit dem das DDR-Produkt nicht nur die Grundidee des Tangentiallüfters als Tischventilator gemein hatte. Es glich ihm auch von der Gestaltung her so sehr, dass sich der Verdacht aufdrängte, dass es sich hier um einen direkten Transfer gehandelt haben muss. Dabei geht es um das Produkt »Tischlüfter Multiwind HL 1« des Elektrogeräteherstellers Braun aus Kronberg im Taunus. Hier ist sogar der Name des Designers bekannt: Dabei handelte es sich um den in der westdeutschen und US-amerikanischen Designgeschichte recht bekannten Formgeber Reinhold Weiss. Reinhold Weiss war Absolvent der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm und von 1959 bis 1967 bei der Firma Braun als Produktgestalter tätig. Seit 1962 war er stellvertretender Leiter der Designabteilung bei Braun und prägte neben seinem Kollegen Dieter Rams entscheidend das Gestaltungskonzept der Firma in den 1960er Jahren. 1967 zog er nach Chicago, wo er seither für verschiedene US-amerika258

nische Firmen arbeitete. Sein Tischlüftermodell Braun HL 1/11 (1961) und das Nachfolgemodell HL 70 (1971) sind, wie ich feststellte, sogar in der Designsammlung des Museum of Modern Art in New York vertreten – neben fünf anderen Produkten von Reinhold Weiss für die Firma Braun. Über die Verbreitung und Erschwinglichkeit des Produkts in der BRD ist, wie beim DDR-Produkt, bislang wenig bekannt. So ist noch unklar, ob es sich um ein exklusives Luxusgut handelte oder ob es als technisches Konsumgut breitere Bevölkerungsschichten erreichte. Auf Fotos von John F. Kennedys Friedensansprache in der Frankfurter Paulskirche bei seinem Deutschlandbesuch im Juni 1963 ist ein solcher Tischlüfter zu erkennen.4 Die Herkunft des Produkts aus den Traditionen der »Kaderschmiede des westdeutschen Designs« in der frühen Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs, der HfG Ulm, erklärt nun den spektakulär neuen Ansatz in Konstruktion und Formgebung des Produkts, die hier eine untrennbare Einheit bilden. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass die Produktidee ursprünglich von Reinhold Weiss stammt und von ihm für die westdeutsche Firma Braun entwickelt wurde. Das Prinzip des Tangentiallüfters wurde offenbar schon 1959 von Dieter Rams in einem Produkt für Braun verwendet: für den »Heizlüfter H 1«. Er galt damals als technische Neuheit, da er als kleines und kompaktes Gerät über eine Leistung von 2000 Watt verfügte und mit einem Tangentialgebläse ausgestattet war.5 In Anbetracht dieser Vorgängermodelle, die das technische Prinzip des Tangentiallüfters – zum Heizen statt zum Kühlen – bei den Produkten der Firma Braun schon anwandten, erscheint dann auch die technische Innovationsleistung des HL 1 beziehungsweise des QL 1 nicht mehr ganz so sensationell. Diese Vorwegnahme des technischen Prinzips des Lüfters durch ein anderes Braun-Produkt ist zudem ein weiteres Indiz dafür, dass die ursprüngliche Produktidee vermutlich tatsächlich von Braun und Reinhold Weiss stammte und das DDR-Produkt ein Lizenzprodukt oder eine Nachahmung war.

4  http://www.chicagotribune.com/suburbs/

evanston/news/chi-sp-like-a-jewelry-boxbuilder-spent-decades-crafting-house-­ now-­on-market-20141216-story.html, letzter Zugriff: 15.01.2017; seither Seite von Europa aus durch Paywall geschützt. 5  1982 erschien das letzte von ins-

gesamt sieben Heizlüftermodellen von Braun, das Modell »H 10«.

Geschichte und Prozesse des West-Ost-Transfers Ein Gang in die Bibliotheken und ins Archiv, und damit ein Blick in die öffentlich zugänglichen Informationen und Akten des Amts für Industrielle Formgestaltung der DDR, war spätestens an dieser Stelle unumgänglich. Hiervon erhoffte ich mir Aufschluss über den verwickelten Fall des »Technologie«- und Gestaltungstransfers zwischen beiden deutschen Staaten, den der Querstromlüfter darstellte – dies wurde immer deutlicher. Ein Blick in das Standardwerk zur Geschichte des DDR-Designs aus der Feder Heinz Hirdinas von 1988 erbrachte eine Kurzbiografie des Gestalters Kurt 259

Boeser: 1939 in Zwickau geboren, studierte er von 1955 bis 1959 an der Hochschule für industrielle Formgestaltung in Halle und war danach drei Jahre als Formgestalter im VEB Zentrallaboratorium Elektrogeräte, Karl-Marx-Stadt, angestellt. Von 1970 bis 1973 war er Mitglied eines Kollegiums bildender Künstler, des »Ateliers für Gestaltung« in Karl-Marx-Stadt und damit freischaffender Designer.6 Er gestaltete auch andere Elektrogeräte für den VEB Oberlind. Mein Versuch, mit Vermittlung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (Sammlung Industrielle Gestaltung) persönlich mit Kurt Boeser in Kontakt zu treten, blieb erfolglos. Im Bundesarchiv in Berlin, wo die staatlichen Akten der DDR aufbewahrt werden, suchte ich nach Dokumenten und Informationen über das Produkt und seinen Herstellungsbetrieb. Fündig wurde ich allerdings trotz mehrtägiger Recherche kaum. Im Bestand des staatlichen Amts für Industrielle Formgestaltung (AiF) der DDR gab es mehrere Akten zur Organisation des Industriedesigns von Produkten im VEB Oberlind. Ihnen konnte ich entnehmen, dass über alle Elektroprodukte im Konsumgüterbereich ein sogenanntes Gestaltungsgutachten des Amtes erstellt werden musste, in dem Gutachter des Amtes die formale Qualität des Produkts bewerteten. Der VEB Elektroinstallation Oberlind in Sonneberg war »Leitbetrieb der Artikelgruppe 7: Heiz- und Klimageräte«, unter die neben Dunstabzugshauben und Heizlüftern auch Tischlüfter und der Querstromlüfter fielen.7 Über einzelne andere Produkte aus der Zeit war jeweils eine eigene Akte mit der Korrespondenz zwischen dem Amt für Industrielle Formgestaltung und den Verantwortlichen im Unternehmen angelegt worden. Ein solcher Vorgang zum Querstromlüfter aber fehlte. Vermutlich existierte diese Akte, war aber zuletzt an einer anderen Stelle im Bestand abgelegt worden und nun nicht auffindbar. Dafür gaben die Akten interessanten Aufschluss über die Organisation der Produktgestaltung im VEB Oberlind und über die Frage, welche Qualitätskriterien die Produkte nach Ansicht des AiF, der Produktionsplaner und der Gestalter erfüllen sollten. So ging aus den Akten hervor, dass noch im Mai 1972 das AiF feststellte, dass sich die Produktgestaltung im Unternehmen »in einem unbefriedigenden Zustand« befand. Zu diesem Zeitpunkt gab es überhaupt nur einen fest angestellten Formgestalter (Roland Bauer) für den gesamten Sektor Haushaltsgeräte. Dieser erste professionelle Formgestalter war im Herbst 1970 eingestellt worden. Als Bauer seine Arbeit aufnahm, wurden die Planstellen für weitere fest angestellte Gestalter und die Arbeitsräume von der Direktion jedoch gestrichen. Stattdessen wurden Verträge mit frei260

6  Heinz Hirdina: Gestalten für die Serie. Design

in der DDR 1949–1985, Dresden 1988, S. 371. 7  Kombinat Elektrogerätewerk Suhl, Leit-

betrieb der Erzeugnisgruppe Elektrische Haushaltsgeräte, Struktur der Erzeugnisgruppe Elektrische Haushaltsgeräte, 1. Februar 1979, in: BArch Berlin, DF 7/2082.

8  Martin Kelm, AiF, an Generaldirektor

der VVB Elektrische Konsumgüter, 11. Juli 1972, in: BArch Berlin, DF 7/2082. 9  Zum Kontext dieser Forderung im Aufbau

der DDR-Designförderung unter Kelm in den 70er Jahren vgl. Sudrow, Produktgestaltung. 10  VEB Elektrogerätewerk Suhl, Konzep-

tion zum Aufbau und zur Arbeitsweise einer zentralen, kombinatsspezifischen Formgestaltungseinheit im VEB ZLE Karl-Marx-Stadt, o. D. [1972], in: BArch Berlin, DF 7/2082. 11  AiF, Gegenwärtiger Stand der Qualitäts-

entwicklung Gestaltung im Kombinat VEB Elektrogerätewerk Suhl und den Betrieben seiner Erzeugnisgruppe […], 3. Dezember 1980, in: BArch Berlin, DF7/2082. 12  Vgl. hierzu Atelier für Gestaltung,

Karl-Marx-Stadt, an das AiF, 26. Oktober 1978, Betr.: Geschmacksmusterrecherche zur Entwicklung der Raumheizlüfter RHL 5–6, in: BArch Berlin, DF 7/1984. Hier ermittelte das AiF Geschmacksmuster eines Nürnberger und eines norwegischen Unternehmens.

beruflich tätigen Formgebern, unter der Leitung von Kurt Boeser, abgeschlossen – mit der Begründung fehlender Raum- und Stellenkapazitäten im Betrieb. Der Großteil der Geräte wurde damals also von freiberuflichen Gestaltern aus Karl-Marx-Stadt und Leipzig entworfen.8 Martin Kelm, der Leiter des AiF, hielt dies für unzureichend und forderte den Aufbau eines eigenen Gestaltungsbüros im Unternehmen selbst. Die elektrischen Konsumgüter des Kombinats und der Betriebe der Erzeugnisgruppe, darunter des VEB Elektrogerätewerk Suhl, sollten dringend von professionellen Formgebern gestaltet werden, die in einer »Formgestaltungseinheit« im Unternehmen angestellt und deren Arbeit systematisch in die Produktionsplanung und Produktentwicklung einbezogen werden sollte.9 Hierfür schlug er dem Unternehmen vor, schrittweise insgesamt sechs Diplom-Formgestalter, einen Diplom-Grafiker, fünf Modellbaufacharbeiter und einen Modellbaumeister sowie eine Sekretärin einzustellen.10 Im August 1980 waren in der nunmehr geschaffenen »Zentralen Gestaltungseinheit« sieben Formgestalter, eine Werbegrafikerin und zwei Modellbauer für die Formgebung der Produkte im Kombinat VEB Elektrogerätewerk Suhl und in den Betrieben seiner Erzeugnisgruppe beschäftigt. Dies hielt das AiF für immer noch zu wenig, um die Qualität der elektrischen Konsumgüter auf ein mit dem »Weltstand« vergleichbares Niveau zu heben.11 Die Dokumente lassen erkennen, dass die Arbeit der Formgestaltungseinheit beziehungsweise des AiF in den siebziger Jahren auch eine Produktrecherche und einen internationalen Vergleich umfasste: die Mitarbeiter überprüften, welche Geschmacksmuster die Unternehmen in der BRD und in anderen westlichen Ländern hatten schützen lassen, die das DDR-Produkt eventuell berührten.12 So war mit ziemlicher Sicherheit auch die Nähe des Querstromlüfters zum Braun-Produkt bekannt. So beginnt hier eigentlich erst der Fragenkatalog, der zu dieser spannenden Transfer-Geschichte zwischen Ost- und Westdeutschland noch zu klären ist: Wie kam der VEB Elektroninstallation Oberlind dazu, ein dem Produkt eines westdeutschen Unternehmens so ähnliches Fabrikat in der DDR zu produzieren? Handelt es sich bei dem QL I und dem QL II jeweils um Lizenzprodukte der Firma Braun in der DDR, um einfache »Inspiration« durch die westdeutsche Firma oder gar um (nicht genehmigte) Plagiate? Kann hier überhaupt von einer eigenständigen Gestaltungsleistung gesprochen werden? Und wenn ja: Worin bestand diese genau? Immerhin erhielt der Querstromlüfter 1969 eine Goldmedaille auf der Leipziger Herbstmesse. Welche Unterschiede sind zwischen dem HL 1 aus der Bundesrepublik und dem QL 1 aus der DDR zu erkennen und wie lassen sie sich erklären? Auf wel261

che Kriterien und Eigenschaften des Produkts wurde hier – in der DDR einerseits und in der BRD andererseits – besonders Wert gelegt (Materialeinsatz, Produktionsmöglichkeiten etc.)? Was kosteten die Produkte jeweils und wie erschwinglich waren sie im Vergleich zu einem durchschnittlichen Monatsgehalt in der DDR und der BRD? Warum galt gerade die Firma Braun als nachahmenswert oder als interessant für eine Kooperation beziehungsweise als Messlatte der deutsch-deutschen Exportkonkurrenz? Bislang erkennbare Unterschiede zwischen dem Ost- und dem Westprodukt waren folgende: Erstens nimmt von den Proportionen her im Ostprodukt die Trommel mit den Lamellen größeren Raum ein als der Sockel mit dem Motor, was die Funktionalität des Produkts vergrößert, während im Westprodukt die Trommel und der Sockel jeweils genau die Hälfte des Zylinders darstellen. Zweitens ist der Ständer des Geräts ein auffälliger Unterschied: Im Ostprodukt ist dies ein Metallbügel, der mit vier »Gummifüßen« (so die Gebrauchsanleitung) versehen ist, die das Verrutschen des Geräts durch die Vibration verhindern. Im Westprodukt war dies in der frühen Version ein mittig am Zylinder angebrachter, asymmetrischer Metallfuß, der auf einer Metallplatte steht. In der späteren Version von 1971 ist der Metallfuß durch eine Stehvorrichtung aus Plexiglas ersetzt, in die der lose Zylinder hineingelegt wird oder solitär senkrecht auf den Tisch zu stellen ist. Der Bügel ist in der Ostversion dort befestigt, wo in der Westversion der neueren Variante der runde Ein-aus-Schalter angebracht ist. (In der alten Version konnte man auch in der Westversion Aus und zwei Geschwindigkeiten des Ventilators einstellen.) Zweitens befindet sich das Kabel im Westprodukt (in beiden Versionen) nicht an der flachen Hinterseite des Zylinders, sondern an der runden Außenseite. Bei QL I und II handelt es sich also, wenn man die ostdeutschen mit den westdeutschen Modellvarianten vergleicht, keineswegs um einen unveränderten Nachbau, sondern um eine Adaption der Form und der Konstruktion. Es fällt auf: Formal und konstruktiv gesehen weist das DDR-­Objekt in wesentlichen Aspekten des Produkts Veränderungen auf. In mancher Hinsicht sind sie vielleicht eine Verbesserung des Westprodukts. Wie kam es zu diesen Änderungen? Und wer genau nahm sie vor? Alle diese Fragen können nun allerdings nur durch (weiteres) historisches Quellenstudium zu den Objekten beantwortet werden. So bleibt hier als Zwischenstand für die weitere Recherche zu resümieren, dass die kulturelle »Tiefenbohrung« anhand eines bestimmten Objekts wie dieses Querstromlüfters unmittelbar zu ganz grundlegenden Fragen der DDR-Wirtschaftsgeschichte und des Ost-West-Verhältnisses geführt hat. Dies war umso erstaun262

licher, als der Westbezug in der Recherche zunächst gar nicht intendiert war. Ist das nicht symptomatisch für die so vielfältig verflochtene deutsch-deutsche Geschichte, die in beiden Staaten in offizieller Lesart gerne auf die jeweils eigene Hälfte reduziert wurde? Auf weiterhin offene Fragen der DDR-Geschichte lassen sich somit – auf der Spur der Objekte – neue und unerwartete Antworten finden … wie auch wieder ganz neue Fragen.

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Zigarettenkästchen, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Irmgard Zündorf).

EIN SOUVENIR UND SEINE GESCHICHTE IRMGARD ZÜNDORF

In der Sammlung des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR sind unendlich viele Einrichtungs- und Nutzgegenstände, Kleidungsstücke, Verpackungen oder Spielzeuge versammelt, die alle gleichzeitig fremd und bekannt erscheinen. Eines davon auszuwählen und auf seine Quellenfunktion hin zu untersuchen fiel nicht leicht. Um die Wahl einzuengen, konzentrierte ich die Recherche auf ein Objekt, das zugleich »ungewöhnlich« wie auch »typisch« für die Alltagskultur der DDR sein sollte. Das Objekt, das schließlich in den Blick geriet, war Teil einer größeren Gruppe von ähnlichen, aber nicht gänzlich gleichen Kästchen, die im Regal über- und nebeneinanderlagen. Sie waren jeweils aus Holz, relativ klein und wiesen vergleichbare Verzierungen auf. Die Kästchen zeichneten sich auf den ersten Blick weniger durch Handwerkskunst denn durch simple, aber nicht sonderlich sorgfältige Bastelarbeit aus. Die erste Schlussfolgerung war daher, dass es sich vielleicht um private Arbeiten nach einer einheitlichen Anleitung handelte. Bei der Öffnung mehrerer Kästchen wurde allerdings deutlich, dass sie sowohl aus individuell als auch aus industriell gefertigten Teilen bestanden, denn innen waren sie mit passenden Plastikeinsätzen versehen. Die Kästchen waren somit gleichzeitig einzigartig und doch auch seriell, was sie speziell, aber auch typisch erscheinen ließ. Daher fiel die Auswahl auf diese Objektgruppe, aus der ein Artefakt zufällig herausgezogen wurde. Im Folgenden wird das Objekt zunächst genau beschrieben, um anschließend seine Einzelheiten und Besonderheiten mittels weiterer Recherchen einzuordnen. Dafür wurden sowohl die Aufzeichnungen zum Objekt im Dokumentationszentrum eingesehen als auch online und in der Literatur nach Hintergrundinformationen recherchiert. Auf diese Weise konnte das Material als Grundlage für Erkenntnisse über die Alltagswelt in der DDR dienen. Bei dem ausgewählten Objekt handelt es sich um ein rechteckiges Holzkästchen mit einer Höhe von 5 cm, Seitenlängen von 12 und 11 cm sowie einem Gewicht von 264 g. Das rechteckige Kästchen steht auf vier etwa 0,5 cm hohen Füßen, die mit Metallnägeln an seiner Unterseite befestigt sind. Die Seitenteile und der Deckel sind außen mit folkloristischen Blumenelementen in den Farben Braun-Rot, Orange und Grün bemalt sowie mit Lötarbeiten in Form von Kreisen und Punkten versehen, die sich auch auf

den Füßen und an der Innenseite des Deckels finden. Sowohl das Kästchen als auch die Verzierungen scheinen in Handarbeit und dabei eher laienhaft gefertigt zu sein. Dies wird vor allem dadurch deutlich, dass die Seitenlängen des Kästchens nicht ganz identisch und die Verzierungen nicht überall gleichmäßig angebracht sind. Öffnet man die Schachtel, werden im Inneren zwei cremefarbene Plastikeinsätze sichtbar. Diese dienen zur Aufbewahrung von bis zu 20 Zigaretten, was unter anderem daran ersichtlich ist, dass noch vier Zigaretten der Marke F6 darin liegen und in dem Kistchen verteilt Tabakkrümel zu finden sind. Die Plastikeinsätze passen in der Größe genau in die Schachtel. Ein Einsatz ist am Deckel befestigt und wird dort von einer Holzfassung ummantelt, die die Zigaretten in den Plastikeinsätzen festhält. Der andere Einsatz ist auf dem Boden angebracht. Durch ein Scharnier und eine Verbindung zum Deckel des Kästchens klappt der am Boden befestigte Plastikeinsatz bei Öffnung auseinander, so dass die Zigaretten halb aufrecht angeboten werden. Außen am Boden des Kästchens ist ein kleiner Zettel befestigt, auf dem in gedruckten kyrillischen Buchstaben etwas vermerkt ist. Rückfragen bei Kolleginnen und Kollegen ergaben, dass es sich um eine bulgarische Aufschrift handelt und dort sinngemäß geschrieben steht, dass das Kästchen eine Zigarettendose für 20 kurze Fil266

Das Objekt im Sammlungsdepot, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Irmgard Zündorf).

Aufgeklapptes Zigarettenkästchen, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Irmgard Zündorf).

terzigaretten der Produktionsgenossenschaft (TPK) »Fortschritt« vermutlich aus Plewen ist. Der Ort ist nicht mehr ganz zu erkennen, da der aufgeklebte Zettel an der Stelle abgerissen ist. Auf dem Zettel sind zudem der Preis für die Schachtel mit 4,50 LB (bulgarischer Lew), das Herstellungsdatum 15. August 1977 und die Herstellungsnummer 113–73 vermerkt. Preis und Datum sind mit einem Stempel angebracht, alle anderen Informationen sind auf den Zettel gedruckt. Es handelt sich somit um eine Art Etikett, das sowohl unveränderliche als auch variable Daten enthält: Fest standen die Bezeichnung des Produkts, der Hersteller und der Herstellungsort, veränderbar waren das Datum und der Preis. Die Schachtel weist deutliche Gebrauchsspuren auf. So sind an den Füßen, die die einzigen etwas filigraneren Stücke des Objekts darstellen, Stücke abgesplittert. Ebenso weist eine Seitenwand einen Riss in der Nähe der Scharnierstellen auf, was auf häufiges Öffnen der Schachtel schließen lässt. Der Deckel lässt sich nicht ganz senkrecht öffnen, sondern nur bis zu einem Winkel von ca. 60 Grad. Der Versuch, ihn weiter zu öffnen, könnte zu dem Riss im Holz geführt haben. Die erste oberflächliche Betrachtung des Objekts hatte zunächst zu dem Schluss geführt, dass das Kästchen, das sich nicht richtig 267

öffnen lässt und dessen Verzierungen und Seitenwände ungleichmäßig sind, Ergebnis einer privaten Bastelarbeit ist. Der indus­ triell hergestellte Plastikeinsatz und vor allem das gedruckte Etikett widersprachen jedoch dieser Mutmaßung. Danach handelt es sich um ein in Bulgarien produziertes Kästchen, das in einem bestimmten Betrieb in relativ großer Anzahl für den Verkauf hergestellt wurde, und zwar in Handarbeit mit industriell gefertigtem Einsatz. So weit das Ergebnis der alleinigen Auseinandersetzung mit der Materie. Im zweiten Schritt wird versucht, Hintergrundinformationen über das Objekt zu sammeln, um es so besser einordnen zu können. Dafür wurde zunächst im Museum recherchiert und darauf aufbauend mit den Schenkern Kontakt aufgenommen. Die bis dahin gewonnenen Informationen wurden durch Recherchen im Internet sowie in der Fachliteratur ergänzt. Laut Eingangsbuch des Museums ist das Objekt 2006 durch die Schenkung eines Mannes aus Spremberg in die Sammlung gelangt. Unter der dort vermerkten Adresse findet sich im Telefonbuch nur der Name einer weiblichen Person. Die Kontaktaufnahme erfolgte zunächst über einen Brief, in dem das Interesse erläutert und ein kurzes Telefoninterview zur Geschichte des Kästchens angefragt wurde. Wenige Tage später erfolgte ein Anruf und die im Telefonbuch genannte Person war auch direkt am Telefon. Es stellte sich heraus, dass der Schenker ihr Sohn war, der sich ebenfalls im Haus befand. Dieser erläuterte, dass er zwar das Käst268

Unterseite des Zigarettenkästchens mit Artikelaufkleber, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Irmgard Zündorf).

chen an das Dokumentationszentrum abgegeben habe, es jedoch nicht ihm, sondern seinem inzwischen verstorbenen Schwiegervater gehört hatte. 1978 habe er seine spätere Frau, die Tochter des Kästchenbesitzers, kennengelernt und sei seitdem mehrmals bei seinem zukünftigen Schwiegervater zu Besuch gewesen. Dort habe er das Kästchen häufig gesehen, da darin immer Zigaretten aufbewahrt und angeboten worden seien. Sein Schwiegervater habe als stellvertretender Leiter bei der Spremberger Post gearbeitet. Laut der Erzählung des Schwiegervaters habe dieser 1977 als »Auszeichnungsreise« eine Schwarzmeerrundfahrt geschenkt bekommen. Von dieser Reise habe er das Kästchen mitgebracht. Für ihn sei die Reise etwas Besonderes gewesen, weswegen das Kästchen auch als Erinnerungsstück diente. Gleichzeitig sei es aber auch ein Gebrauchsgegenstand gewesen, denn sowohl der Schwiegervater als auch der Schwiegersohn seien Raucher gewesen und natürlich hätten sie F6, »die beste Zigarette der DDR«, geraucht. Nachdem sein Schwiegervater lungenkrank geworden war, habe er nicht mehr rauchen dürfen, allerdings weiterhin Gästen Zigaretten in dem Kästchen angeboten. Jedoch hätten immer weniger Personen das Angebot angenommen. Das Kästchen habe daher an Bedeutung verloren und damit auch die letzten Zigaretten, die noch darin lagen. Nach dem Tod des Besitzers wurde der Haushalt aufgelöst.1 Wenige Tage nach diesem ersten Telefonat rief die Tochter des Kästchenkäufers an und bestätigte die bisherigen Erläuterungen. Zudem erklärte sie, dass bei der Haushaltsauflösung ein Aktenordner des Vaters mit einem selbst verfassten Lebenslauf gefunden worden sei. Darin sei deutlich geworden, dass er auch für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR gearbeitet hatte. Offensichtlich sei auch diese Tätigkeit ein Grund für die »Auszeichnungsreise« gewesen. Die Tochter habe bis zu dem Aktenfund nichts von seiner Arbeit für die Staatssicherheit gewusst.2 Die Akte sowie die noch im Haushalt aufgefundenen DDR-Objekte wurden dem Dokumentationszentrum in Eisenhüttenstadt zur Übernahme angeboten, dessen Mitarbeiter kurz darauf die Objekte abholten – darunter auch das Kästchen. 29 Jahre nach seinem Erwerb hatte das Objekt sowohl seinen Erinnerungswert als auch seinen Nutzwert verloren. Es wurde jedoch nicht als wertlos eingestuft, sondern als ein Objekt der Alltagskultur der DDR, das in dem entsprechenden Dokumentationszentrum aufbewahrt werden sollte.

1  Telefonat mit A.K., Spremberg,

7. August 2017. 2  Telefonat mit B.K., Spremberg,

10. August 2017.

Im nächsten Schritt erfolgte eine Onlinerecherche nach den Begriffen »bulgarisch Handwerk Zigaretten Holz«, um herauszufinden, ob das Objekt selten oder vielleicht doch eher typisch war. Das Ergebnis zeigte verschiedene Verkaufswebsites für gebrauchte Gegenstände, auf denen eine Vielzahl vergleichbarer Holzkästchen 269

in deutscher Sprache zum Verkauf angeboten wird. Die Kästchen weisen alle ähnliche Holzlötarbeiten und Ornamente auf sowie die gleichen Farben und teilweise auch entsprechende Innenausstattungen mit Plastik-Zigarettenhalterungen. Offensichtlich wurden solche Objekte in größerer Zahl hergestellt, in die DDR exportiert und dort aufbewahrt. Inzwischen haben sie jedoch ihren Erinnerungswert verloren, so dass sie zum Verkauf angeboten werden. Mit der Hintergrundinformation ausgestattet, dass es sich bei dem vorliegenden Objekt um ein relativ typisches Souvenir aus Bulgarien handelt, können weitere Recherchen zum Thema DDR-Auslandsreisen durchgeführt werden. Dabei stellt sich heraus, dass Bulgarien ein beliebtes Urlaubsziel der DDR-Bürger war, die nur mit einer Reisegenehmigung in das »befreundete sozialistische Ausland« fahren durften.3 Zu diesen »befreundeten« Ländern zählten die UdSSR, die ČSSR, Ungarn, Polen, Rumänien und eben auch Bulgarien. Letzteres war mit seiner Schwarzmeerküste, verschiedenen Gebirgszügen sowie dem milden Kontinental- bis mediterranen Klima für den Tourismus besonders attraktiv.4 Für DDR-Bürger war das Land jedoch vor allem ab Mitte der 1970er Jahre relativ teuer. Laut Statistischem Jahrbuch der DDR vermittelte das Reisebüro der DDR von 1970 bis 1974 jährlich zwischen 80.000 und 100.000 Reisen für Bürger der DDR nach Bulgarien. Nach 1974 nahm die Zahl stetig ab und lag 1977 nur noch bei rund 50.000.5 Ein Grund dafür dürfte die im Juli 1973 in Kraft getretene Preiserhöhung für Lebensmittel in bulgarischen Urlaubszentren gewesen sein. Die Erhöhung traf vor allem DDR-Reisende, da der nichtkommerzielle Wechselkurs 1963 auf 24,38 Lewa für 100 DDR-Mark festgesetzt worden war und bis Ende der 1970er Jahre nicht geändert wurde. Westdeutsche Reisende hingegen bekamen seit 1974 für 100 DM 64,45 Lewa, was eine deutliche Verbesserung des Umtauschkurses darstellte.6 Die Anzahl westeuropäischer Touristen in Bulgarien nahm in den 1970er Jahren deutlich zu. Sie waren als Devisenbringer in dem wirtschaftlich von der UdSSR abhängigen Land besonders willkommen.7 Bulgarien gehörte zu den wirtschaftlich am wenigsten entwickelten Ländern Europas und war als rohstoffarmes Land traditionell landwirtschaftlich geprägt.8 Der Tourismus versprach eine neue Einnahmequelle, die systematisch ausgebaut wurde.9 Ein Urlaub in Bulgarien war somit bei DDR-Bürgern zwar beliebt, aber auch teuer. Der Käufer des hier betrachteten Kästchens musste die Reise jedoch nicht selbst bezahlen. Wie oben erläutert, erhielt er eine »Auszeichnungsreise«. Dieser relativ ungewöhnliche Begriff bezeichnete laut dem Wörterbuch »Sprache in der DDR« 270

3  Heike Wolter: »Ich harre aus im Land

und geh, ihm fremd«. Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 164 f.; Christopher Görlich: Urlaub vom Staat. Tourismus in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2012. 4  Magarditsch A. Hatschikjan: Tourismus,

in: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.): Südosteuropa-Handbuch, Bd. VI: Bulgarien, Göttingen 1990, S. 388–393, hier S. 388. 5  Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demo-

kratischen Republik, Berlin (DDR) 1978, S. 367. 6  Jörg Lesczenski: Urlaub von der Stan-

ge. Reiseveranstalter und der Wandel des Pauschaltourismus in beiden deutschen Staaten (1960–1990), in: Werner Plumpe, André Steiner (Hg.): Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960–1990, Göttingen 2016, S. 173–257, hier S. 234 ff. 7  Ulf Brunnbauer: Gesellschaft und ge-

sellschaftlicher Wandel in Südosteuropa nach 1945, in: Konrad Clewing, Oliver Jens Schmitt (Hg.): Geschichte Südosteuropas: vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2011, S. 651–707, hier S. 676. 8  Ilse Grosser: Land- und Forstwirtschaft,

in: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.): Südosteuropa-Handbuch, Bd. VI: Bulgarien, Göttingen 1990, S. 333–370, hier S. 333 f. 9  Mary Neuburger: Smoke and Beers.

Touristic Escapes and Places to Party in Socialist Bulgaria 1956–1976, in: Cathleen M. Giustino, Catherine J. Plum, Alexander Vari (Hg.): Socialist Escapes. Breaking Away from Ideology and Everyday Routine in Eastern Europe, 1945–1989, New York 2013, S. 145–163.

eine »Reise, die ein Werktätiger als Anerkennung für geleistete Arbeit oder für langjährige Mitgliedschaft (z. B. in einer Massenorganisation) geschenkt bekam.«10 Aus den Erläuterungen der Tochter wird zudem deutlich, dass die Reise nicht allein ein Zeichen der Anerkennung für die gute Mitarbeit bei der Post, sondern auch für die Tätigkeit beim Staatssicherheitsdienst gewesen sein dürfte. In jedem Fall war die Reise etwas Besonderes, so dass von ihr ein Souvenir mitgebracht werden sollte. Dieses durfte offenbar verhältnismäßig teuer sein, denn ein Souvenir-Kästchen für ca. 19 DDR-Mark war bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 900 Mark kein Schnäppchen.11 Die auf den ersten Blick laienhaft wirkende Machart des Objekts ist wahrscheinlich kein Zeichen mangelnder Sorgfalt, sondern soll es als individuelles, regionales Kunsthandwerk ausweisen. Dies würde auch den hohen Preis erklären. Laut Etikett wurde das Objekt jedoch wahrscheinlich nicht in einer Urlaubsregion, sondern in Plewen hergestellt, einer Industriestadt inmitten eines landwirtschaftlichen Nutzgebietes im Nordosten Bulgariens, rund 300 km von der Schwarzmeerküste entfernt. Die Information zum Herstellungsort und auch das Etikett, das das Objekt als eines auswies, das in größerer Stückzahl produziert wurde, hielten die Käufer jedoch nicht vom Erwerb ab. Die konkreten Informationen zur Herkunft waren offenbar ähnlich irrelevant wie bei heutigen Souvenirs, die häufig tatsächlich in Niedriglohnländern weitab des gewählten Urlaubsortes hergestellt werden.12

10  Birgit Wolf: Sprache in der DDR. Ein

Wörterbuch, Berlin/New York 2000, S. 14. 11  Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demo-

kratischen Republik, Berlin (DDR) 1978, S. 106. 12  Zur Geschichte des Souvenirs siehe

Ulrich Schneider (Hg.): Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Köln 2006. 13  Zum Wandel des Rauch-Verhaltens

siehe Gerulf Hirt u. a.: Als die Zigarette giftig wurde. Ein Risiko-Produkt im Widerstreit, Kromsdorf/Weimar 2017.

Die genauere Betrachtung des Objekts führte bereits zu dem Schluss, dass es nicht nur zur Erinnerung aufbewahrt, sondern auch genutzt wurde. Diese Vermutung hat das Gespräch mit dem Schenker bestätigt. Das dekorative Holzkästchen, in dem Zigaretten einzeln und ohne ihre Verpackung aufbewahrt und präsentiert wurden, verweist auf eine Zeit, in der das Rauchen ein gesellschaftlich respektierter Akt war, der sowohl in öffentlichen Einrichtungen und Büros als auch in privaten Wohnungen vollzogen wurde.13 Gastgeber boten verschiedene Rauchwaren ebenso an wie Getränke oder Essen. Das aufgestempelte Herstellungsjahr 1977 passt in diese Zeit. 2006, als das Objekt an das Dokumentationszentrum übergeben wurde, war es dagegen kaum noch üblich, Zigaretten in eigens dafür gedachten Behältnissen aufzubewahren und anzubieten. Dass das Kästchen für die Präsentation von Zigaretten und nicht zum Beispiel von Pralinen hergestellt wurde, gibt zudem einen Hinweis auf das Herkunftsland Bulgarien. Eine kurze Länderrecherche zeigt, dass in dem wirtschaftlich relativ schwachen Land 271

in großen Mengen Tabak angepflanzt und zu Zigaretten verarbeitet wurde.14 Innerhalb der Ostblockstaaten galt der bulgarische Orienttabak als von besonders guter Qualität.15 Das Souvenir zeigt somit in der Machart und der Funktion Bezüge zu Bulgarien. Die letzte Recherche zum Objekt bezieht sich auf die im Kästchen zurückgelassenen F6-Zigaretten. F6 gilt als typische DDR-­ Zigarette und zählt zu den wenigen DDR-Marken, die sich bis heute auf dem Markt gehalten haben. F6 (die Abkürzung stand für »Filterzigarette 60er Jahre«) wurde seit Ende der 1950er Jahre in dem VEB Zigarettenfabriken Dresden als erste Filterzigarette in der DDR hergestellt. 1990 übernahm der Marlboro-Konzern Philip Morris die Dresdner Zigarettenfabriken und führte die Marke F6 fast unverändert weiter. Diese Entscheidung erwies sich als Erfolgsrezept. Andere westliche Konzerne wie zum Beispiel Reemtsma passten die übernommenen DDR-Zigaretten in Tabakmischung und Verpackung dem westdeutschen Geschmack an, was zur Abwanderung der bisherigen Kunden dieser Marken führte. Philip Morris baute dagegen die F6 gezielt als »Ostzigarette« auf und warb mit dem Slogan »Der Geschmack bleibt«.16 Kauf und Genuss sollten somit ein Zeichen für das Bekannte und Bewährte sein, das sich trotz aller Veränderungen, die die Menschen aus der DDR nach 1990 durchleben mussten, erhalten hatte. Im Jahr 2010 lag der Marktanteil der F6 im Osten Deutschlands bei 18 Prozent, im gesamten Bundesgebiet hingegen nur bei 3,5 Prozent.17 Die Werbung scheint funktioniert zu haben, denn auch der letzte Besitzer des Kästchens schwärmte von der Qualität der F6 und die im Kästchen zurückgelassenen Zigaretten können ebenfalls als Wertschätzung dieses Produkts gewertet werden. Die Dinge sprechen nicht – wie die Volkskundler/Ethnologen immer wieder betonen18 –, aber sie haben uns trotzdem etwas zu sagen, wie der vorliegende Beitrag zeigt. Dafür muss jedoch ihre Sprache beziehungsweise dafür müssen ihre Zeichen entschlüsselt und interpretiert werden. Sie beinhalten Informationen, die sie für die Forschung besonders interessant machen. Das ausgewählte Kästchen, das anfangs nur ein beliebiges Objekt aus der Sammlung des Dokumentationszentrums war, wurde im Verlauf der Betrachtung und weiteren Recherche zur Quelle. Der erste Blick zeigte, dass es sich um ein relativ teures Kästchen aus Bulgarien handelte, das 1977 teils handwerklich und teils industriell hergestellt und anschließend häufig benutzt wurde. Durch Recherchen zu Bulgarien als Urlaubsland für DDR-Bürger in den 1970er und 1980er Jahren konnte der Rückschluss auf ein Urlaubs272

14  Grosser, Land- und Forstwirtschaft, S. 342. 15  Mary Neuburger: The Taste of Smoke:

Bulgartabak and the Manufacutring of Cigarettes and Satisfaction, in: dies., Paulina Bren (Hg.): Communism Unwrapped. Consumption in Cold War Eastern Europe, Oxford 2012, S. 91–115. 16  Hirt, Zigarette, S. 143 ff. 17  Birger Nicolai: Diese Ostmarken haben sich

im Westen behauptet: F6, in: WELT ONLINE v. 2. Oktober 2010, https://www.welt.de/wirtschaft/article10028896/Diese-Ostmarken-haben-­ sich-im-Westen-behauptet.html?wtrid=onsite. onsitesearch, letzter Zugriff: 02.08.2017. 18  Vgl. Thomas Thiemeyer: ­Geschichte

im Museum. Theorie – ­Praxis – Berufs­felder, Tübingen 2018.

souvenir gezogen, durch Nachfragen beim früheren Besitzer konnten die Mutmaßungen über den Erwerb und die Nutzung des Objekts bestätigt und konkretisiert werden. Auf diese Weise kann das Objekt als Quelle für die Tourismusgeschichte und speziell die Geschichte des DDR-Tourismus in Bulgarien dienen. Einige wenige Erkenntnisse kann es zudem zur Konsumgeschichte liefern. Um konkretere Angaben zum Kauf und Gebrauch entsprechender Kästchen zu machen, müssten weitere Objektgeschichten recherchiert werden. Sich anschließende Recherchen zum Etikett, der Herstellungsnummer, dem Betrieb »Fortschritt« sowie der Industriestadt Plewen könnten darüber hinaus Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Bulgariens leisten. Die Untersuchung des Objekts hat gezeigt, dass es als Quelle Erkenntnisse zur Zeitgeschichtsforschung beitragen kann. Die Materialität des Kästchens vermittelt Einblicke in die Geschichte, die sich allein aus schriftlichen Quellen nicht erlangen lassen. Um weitere Erkenntnisse zu gewinnen, war es jedoch wichtig, möglichst viele zusätzliche Informationen zur Verfügung zu haben. In diesem Fall lieferten das Etikett und das Eingangsbuch des Dokumentationszentrums wichtige Daten, die die Einordnung der Quelle hinsichtlich Autor (Hersteller), Datum (Herstellungsdatum, Abgabedatum), Ort (Herstellungsort, Aufbewahrungsort), Zweck und Benutzung erleichterten. Das Objekt diente somit sowohl als eigenständige Quelle als auch als Hinweisgeber für weitere Recherchen.

273

TEIL 3

  ALLTAGS­ SAMMLUNGEN

EINFÜHRUNG ALLTAGSSAMMLUNGEN ANDREAS LUDWIG

Alltagssammlungen erweckten in den 1980er Jahren die Hoffnung, mit den einfachen, alltäglichen Dingen vergangene Lebenswelten rekonstruieren zu können und damit einen Blick »von unten« zu ermöglichen, der die, auch gesammelte, Elitenperspektive zumindest ergänzen würde. Der Wertbegriff, etwa im Sinne von Unikaten, oder die Vorstellung von Aura, zum Beispiel durch Bindung des Objekts an eine historische Persönlichkeit oder ein historisches Ereignis, spielten beim Alltagssammeln keine Rolle. Heute gelten Alltagssammlungen als Belastung und als Strandgut einer Musealisierungswelle oder, wie es ein Museumskustos einmal ausdrückte, als »Schüttware«. Die immer gleichen Objekte, teils industrielle Massenproduktion, ohne Provenienznachweis, in schlechtem Erhaltungszustand und ähnlich schlechtem Dokumentationsstand, werden als überflüssig und ohne Erkenntniswert angesehen. Das Problem ist indes nicht neu und wurde – im Sinne des Sammelns1 – bereits in den 1980er Jahren thematisiert.2 Raffen oder Gewichten als Sammlungsstrategien einer vorausschauenden Sicherung beziehungsweise eines strengen kuratorischen Auswahlverfahrens konturieren die Quellenbasis späterer wissenschaftlicher Arbeit mit Museumssammlungen. Die Sammlungen von Alltagskultur gehören zur ersten Kategorie, mit der Folge, dass ihnen ein unterschiedsloses Zusammentragen und damit eine fehlende wissenschaftliche Basis vorgeworfen wird. Allerdings, um noch einmal auf den oben genannten Titel zurückzukommen: Ohne Raffen gibt es kein späteres Gewichten.

1  Aber nicht des Entsammelns, das als

Entlastungsstrategie in den letzten J­ ahren vermehrt diskutiert wurde. 2  Christian Kaufmann: Raffen oder Ge-

wichten – zwei unterschiedliche Zielsetzungen für die Sammeltätigkeit der Postmoderne, in: Hermann Auer, Deutsches Nationalkomitee des Internationalen Museumsrates ICOM (Hg.): Museologie. Neue Wege – Neue Ziele. Bericht über ein internationales Symposium, München/ London/New York/Paris 1989, S. 149–155.

Vor dieser kontroversen Sicht auf museale Sammlungsphilosophien und -strategien stellt sich die Eisenhüttenstädter Sammlung als Ergebnis eines »raffenden« Sammelns im Zuge des massiven Austauschs von Gebrauchsgütern der untergegangenen DDR in den 1990er Jahren als breiter Objektfundus dar und gerade diese Breite liefert das Potenzial des Gewichtens durch die Zeitgeschichte. Was Forschende vorfinden, ist ein nichthierarchisches Objektarchiv, das kaum durch kuratorisches Eingreifen vorstrukturiert ist. Zwar ist die alltagskulturelle Sammlung kein Abbild historischer Lebenswelten, sondern den Zufällen des Abgabeverhaltens von Schenkern, von Funden oder der Möglichkeit von Übernahmen geschuldet, ermöglicht in ihrer Breite aber, durch ein multiples Zusammenkommen bedingt, auch eine Breite von

Zugriffen. Bedeutsamkeit, in der aktuellen museologischen Debatte als Signifcance bezeichnet,3 entwickelt sich entlang eines Wechselverhältnisses von Forschungsfragen und Sammlungsinspektion. In den nachfolgenden Beiträgen soll der Frage nachgegangen werden, welche Möglichkeiten eine Alltagssammlung zur DDR für die zeithistorische Forschung bietet, und zwar sowohl mittels einer »history from things« wie auch mittels einer »history with things«.4 Im Unterschied zum vorausgehenden Abschnitt dieses Buches, in dem das Einzelobjekt im Zentrum stand, geht es hier um Objektgruppen, die hier alsKonvolute bezeichnet werden. Als Konvolute werden in der Regel durch ihre Provenienz als zusammengehörig ausgewiesene Objekte bezeichnet, im Falle der Alltagskultursammlungen größere Schenkungen, Übernahmen aus einer Institution oder Funde an einem Standort. Es handelt sich dabei um Konvolute, die bereits vor der Musealisierung, also der Aufnahme in die Museumssammlung, entstanden sind. Hier wird der Konvolutbegriff jedoch erweitert, indem er auch die Bildung einer zusammengehörigen Sammlung, virtuell und temporär unter einer wissenschaftlichen Fragestellung, umfasst. Konvolute werden als Gruppierungen gebildet, um Fragen nachzugehen, die sich in der Sammlungstektonik nicht wiederfinden. Konvolute sind grundsätzlich auch Ergebnis der Produktion von Dingbedeutsamkeit.5 Sie entsteht vor der Musealisierung durch Ordnen und Auswahl durch Schenkerinnen und Schenker sowie nachträglich durch Interviews oder im Zuge des Forschungsprozesses. Analog zu den musealen Depotordnungen, die entweder nach konservatorischen Gesichtspunkten oder nach einem thesaurusähnlichen Ablagesystem organisiert sind, entspricht die museale Ordnung in der Regel weder der Provenienz der Objekte noch einzelnen inhaltlichen Fragestellungen. Depotordnungen bilden eine Megastruktur, deren Logik sich nach dem Verantwortungsbereich des Museums und den nachgelagerten Sammlungsbereichen bestimmt. Im Eisenhüttenstädter Dokumentationszentrum sind die Sammlungsobjekte nach 35 pragmatisch festgelegten Funktionsbereichen geordnet, wie sie sich im Verlauf der Bestandsbildung herausgeschält haben. Abgebildet wird die ursprüngliche Gebrauchsfunktion der Objekte. Hinzu kommt eine Provenienzkategorie, in der persönliche Konvolute erfasst sind, die auch gesondert gelagert werden.6 Die bereits 2011 im Dokumentationszentrum gezeigte Ausstellung »Aufgehobene Dinge. Ein Frauenleben in Ost-Berlin« beruhte auf einem solchen Konvolut, das aus einem Nachlass von mehr als 5000 Objekten besteht. In ihr wurden, ausgehend von der 278

3  Regine Falkenberg, Thomas Jander (Hg.):

Assessment of Significance. Deuten – Bedeuten – Umdeuten, Berlin 2018. 4  Stephen Lubar, W. David Kingery (Hg.):

History from Things. Essays on Material Culture, Washington, D.C. 1993. 5  Gottfried Korff: Einleitung. Notizen zur

Dingbedeutsamkeit, in: Museum für Volkskunde Baden-Württemberg (Hg.): 13 Dinge. Form, Funktion, Bedeutung, Stuttgart 1992, S. 8–17. 6  Persönliche Konvolute bestehen über-

wiegend als Dokumentensammlungen, teils auch als Objektsammlungen.

Analyse des Objektbestands, vier Interpretationsrichtungen eingeschlagen: eine fotografische Dokumentation aller Objekte, die zu diesem Konvolut gehören, eine Rekonstruktion des ursprünglichen Verwahrzusammenhangs, eine biografische Kontextualierung sowie der Versuch einer Interpretation, in deren Zentrum die Frage stand, wie das Konvolut zustande gekommen ist.7 Die Ausstellung enthielt also biografische, lebensweltliche, kulturhistorische und museumstheoretische Aspekte und dies zeigt, dass Konvolute wie auch Einzelobjekte polyvalent sind und deshalb unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können. Ebenso können sie ihren »Aggregatzustand« ändern, indem sie im Zuge der Bearbeitung von einem materiellen Archiv zu einer Arbeitssammlung werden.

7  Andreas Ludwig, Karl-Robert Schüt-

ze: Aufgehobene Dinge, Berlin 2011. 8  Hans Linde: Sachdominanz in So-

zialstrukturen, Tübingen 1972. 9  Arjun Appadurai (Hg.): The Social

Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986. 10  Tilmann Habermas: Geliebte Objekte.

Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt am Main 1999, S. 40, S. 128.

Drei der folgenden Beiträge beziehen sich auf solche biografisch identifizierbaren Konvolute und deuten deren zeithistorische Reichweite in unterschiedliche Richtungen an. Ein erster Zugriff ist die Rekonstruktion privater Lebensverhältnisse durch Objektkonvolute in der Museumssammlung. Die Sammlungsobjekte zeigen hier keine inhaltliche Dichte, sondern erscheinen anfangs eher als Sammelsurium, das nur durch die gemeinsame Provenienz zusammengehalten wird – und auch nur dadurch Sinn erhält. Es handelt sich um eine exemplarisch analysierte Dingausstattung8 im privaten Umfeld. Anna Katharina Laschkes Beitrag über »Familiendinge« handelt von der biografischen Phase der Familiengründung und ihren Auswirkungen auf die materielle Ausstattung junger Familien. Die Hypothese lautete, gestützt auf Hinweise wie den sogenannten Ehekredit und die in Zeitschriften vorgestellten Möbelangebote und Einrichtungsvorschläge für diese Zielgruppen, dass es in dieser Lebensphase zu einer vermehrten Ausstattungsaktivität kommt, die Rückschlüsse auf soziale Kontexte und das Verhältnis von Familie und Staat zuließe. Diese Hypothese hat sich nicht bestätigt. Die Konvolute in den Museumssammlungen enthielten eher Spielzeug als andere Ausstattungsgüter und durch Interviews mit den Schenkern wurde deutlich, dass offenbar langfristig angelegte Erwerbsmuster bestanden, also eine Praxis, die auf eine mehrere Zeitschichten umfassende Ausstattung und damit auf eine differenzierte Einstellung zur materiellen Welt verweist. Es geht hier nicht um den »Lebenslauf der Dinge«,9 sondern um Dinge im Lebenslauf, die »materielle Biographie der Eigentümer«.10 Die Analyse dieser aus Schenkungen entstandenen Konvolute ist eine nachträgliche (Re-) Konstruktion von Bedeutung, wobei offen bleiben muss, ob die finanziellen Umstände des Dingerwerbs beziehungsweise die Einstellungen zu den Dingen vor gut 30 Jahren die gleichen waren wie heute: In einem Fall wird Kontinuität und eine distanzierte 279

Einstellung zum Materiellen behauptet, in einem anderen auf die Lebensumstände hingewiesen, die zu langfristiger Planung und familiärer Netzwerkbildung gezwungen haben. Die beiden daran anschließenden Beispiele beziehen sich auf das Konvolut als vormuseale Sammlungsbildung. Das Interesse der Konvolutbildner, also der Schenker an das Museum, besteht in der Tradierung biografischer Zusammenhänge, die in das kulturelle Erbe eingehen sollen.11 Die Schenkungen sind oft mit der Bereitschaft zu Interviews verbunden, in denen auch die Bedeutung des Konvoluts beschrieben und damit die eigene Biografie beglaubigt wird. Beide der hier beschriebenen Sammlungen haben einen beruflichen Hintergrund, sie dokumentieren die Teilnahme der Schenker am »Projekt DDR«, das sie als Innovation ebenso gesehen haben wie als Möglichkeit zur beruflichen Selbstverwirklichung. Beide Karrieren wurden abgebrochen, offenbar aus politischen Gründen. Die Musealisierung nach 1990 bot eine neue Gelegenheit, über einen Zeitschnitt hinweg erneut auf die DDR als Moderne12 und die jeweils damit verbundenen individuellen Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft zu verweisen. Gegenüber dieser Sicht auf die späten 1950er und die 1960er Jahre stellte sich die Honecker-Zeit als negativ, als Stillstand dar, aus Sicht der Modernisierer als Irrtum – so jedenfalls legt es die Komposition der Schenkungen nahe und so wird es in begleitenden Interviews angedeutet. Was diese Konvolute noch zeigen, ist eine Dichte und thematische Zusammengehörigkeit der Objekte und der dazugehörigen Dokumente. Dies ist Anregung für analytische Schneisen, die aus den Dingen heraus entwickelt werden können und die Themengebiete betreffen, die im Schatten der historiografischen Beschäftigung mit der DDR unbemerkt geblieben sind. Am Beispiel der Sammlung eines Gebrauchsgrafikers werden nicht nur Fragen der Alltagsästhetik von Verpackungen und ihren Veränderungen in den 1950er Jahren thematisiert. An diesen Objekten, die als Produkte einer Konsumgüterindustrie im Sozialismus gekennzeichnet sind, lässt sich darüber hinaus das Ende der Nachkriegszeit erkennen, also eine Art Normalisierung gegenüber den Behelfen dieser Zeit, sowie der Beginn einer Rationalisierung der Konsumgüterindustrie durch Normierung von Produkten und Verpackungen. Am Beispiel der zweiten hier vorgestellten Sammlung ist es vor allem der erzieherische Aspekt einer »sozialistischen Wohnkultur«, die parallel zum industriellen Wohnungsbau ab der zweiten Hälfe der 1950er Jahre entstand. Damit verbunden ist die These der 280

11  Vgl. hierzu Katja Böhme, Andreas

Ludwig: Lebensweltliche Dingordnung. Zum Quellencharakter musealisierter Alltagsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen 13 (2016), H. 3, S. 530–542. 12  Katherine Pence, Paul Betts (Hg.):

Socialist Modern. East German Everyday Culture and Politics, Ann Arbor 2008.

Herausbildung einer eigenständigen Konsumkultur13 in der DDR, aber die Sammlung verdeutlicht ebenso die Intentionen und Vorstellungswelten der Protagonisten. Der dritte Typ des Konvoluts ist die nachträgliche Konstruktion eines inhaltlichen Zusammenhangs aus dem gesamten Sammlungsbestand. Dies wird an zwei Beispielen ausgeführt. Im ersten Fall ist ein konsumgeschichtliches Thema, Kaffee, das Bindeglied zur Zusammenstellung unterschiedlicher Objekte, die wiederum aus der Komposition ihres Vorkommens in der Museumssammlung heraus entwickelt wurde. Es ist diese Such- und Ordnungsbewegung, die überhaupt erst Strukturierungen des Themas nahelegte Während beim Thema Kaffee in der DDR in der Forschungsliteratur vor allem die Mangelsituation hervorgehoben und als Krisensymptom gewertet wird sowie Kaffee als Gegenstand des privaten west-östlichen Warenaustauschs behandelt wurde,14 entwickelten sich aus den musealen Objekten ein anderes Narrativ beziehungsweise mehrere Entwicklungslinien. Rekon­ struiert wurde eine sektorale Elektrifizierung des Haushalts ab der ersten Hälfte der 1950er Jahre, die Suche nach der angemessenen Form von Elektrogeräten für das Kaffeekochen, die Ausstattungen, die das Kaffeetrinken als Handlung kontextualisieren, sowie distinktive Aspekte. Dabei ist die »Kaffeekultur« in der DDR mit der der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre hinein weitgehend identisch, das heißt, es wirken langfristige Trends, die sich in Werkzeugen und Ausstattungen spiegeln.

13  Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis.

Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999. 14  Volker Wünderich: Die »Kaffeekrise«

von 1977. Genussmittel und Verbraucherprotest in der DDR, in: Historische Anthropologie 11 (2003), S. 240–261.

In einem zweiten Beispiel geht die Konvolutbildung ebenfalls von einer historiografischen Fragestellung aus, nämlich der Knappheit an Konsumgütern in der DDR, die durch staatlich implementierte Produktionsprogramme gemildert oder sogar aufgefangen werden sollte. Die in der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur erwähnten Programme der sogenannten Konsumgüterproduktion und der »1000 kleine Dinge« wurden durch die Analyse konkretisiert, ergänzt und chronologisch zugeordnet. Die Massenbedarfsgüterproduktion der 1950er Jahre, die Kampagne der »1000 kleinen Dinge« um 1960 sowie die sogenannte Konsumgüterproduktion der 1970er und 1980er Jahre verweisen zunächst auf konsumpolitische Initiativen vor einem spezifischen wirtschaftlichen Hintergrund. Darüber hinaus war es möglich, durch eine Inspektion der Objekte und ihrer Warenverpackungen im Depot sowie durch eine Presseanalyse die im Rahmen dieser Programme produzierten Dinge überhaupt erst zu identifizieren. In diesem Zusammenhang ist das musealisierte Objekt Voraussetzung für Information und Veranschaulichung zugleich. Qualität des Produkts, Häufigkeit des Vorkommens, teils auch verbale Zuordnung 281

zum Produktionsprogramm geben Hinweise auf die Wirksamkeit der genannten Kampagnen und ihre Erkennbarkeit für die Zeitgenossen. Während Massenbedarfsgüter der 1950er Jahre nicht nur identifiziert, sondern aufgrund ihrer Verhandlung in der Presse auch kontextualisiert werden können, gilt dies für die »1000 kleinen Dinge« nicht, sie bleiben anonym. In diesem Zusammenhang wird der Konvolutbegriff, jenseits des Biografischen und der Provenienz, also weiter gefasst und als Sinnzusammenhang innerhalb der Sammlungen interpretiert. Ein solcher Sinnzusammenhang ist eine nachträgliche Konstruktion, die sich der in den Sammlungen zusammengetragenen Objekte bedient und sie ordnet.

282

Mokkamühle, VEB Dieselmotorenwerk Rostock, 1955, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

KAFFEESACHEN FUSSABDRÜCKE IN DER MUSEALEN SAMMLUNG ANDREAS LUDWIG

1  Volker Wünderich: Die »Kaffeekrise« von

1977. Genussmittel und Verbraucherprotest in der DDR, in: Historische Anthropologie 11 (2003), S. 240–261; Jörg Roesler: »Kaffeekrise« und Mangelwirtschaft. Bemühungen um die Klärung einer Episode aus der DDR-Geschichte, Berlin 2014; Die DDR im Blick der Stasi 1977. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, bearb. v. Henrik Bispinck, Göttingen 2012, Berichte v. 1. u. 19. September 1977, S. 226–254; Anne Dietrich: Kaffee in der DDR – »Ein Politikum ersten Ranges«, in: Christine Berth, Dorothee Wierling, Volker Wünderich (Hg.): Kaffeewelten. Historische Perspektiven auf eine globale Ware im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 225–247. Zur zeitnahen öffentlichen Wahrnehmung vgl. DDR: Die Bürger werden aufsässig, in: Der Spiegel Nr. 43/1977 v. 17. Oktober 1977, S. 46–65; »Muffig-erdig, irgendwie gemein«. Warum sich DDR-Bürger über ihren Kaffee beschweren, in: ebd., S. 57. 2  Monika Sigmund: Genuss als Politi-

kum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten, Berlin/München/Boston 2015. 3  Der Beitrag geht auf einen Vortrag von

Katja Böhme und dem Verfasser auf dem Workshop »Materielle Geschichte zwischen Ding und Kontext. Perspektiven für die Erschließung und Erforschung im Digitalen« am 18. November 2015 am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam zurück.

Kaffee und DDR – diese Beziehung ist in der wissenschaftlichen wie der allgemeinen Öffentlichkeit mit dem Wort Krise verbunden. Die sogenannte Kaffeekrise von 1977, in der aufgrund gestiegener Weltmarktpreise für Rohkaffee der Import reduziert werden sollte und für einige Zeit eine als »Kaffeemix« bekannte Mischung von Bohnen und »Ersatz«-Kaffee auf den Markt kam, wurde als symptomatisch für mehrere Probleme identifiziert: Sie stand für den chronischen Mangel an Devisen in frei konvertierbaren Währungen, für einen erfolgreichen Konsumentenprotest sowie für eine mangelhafte Kommunikationsstrategie der Staats- und Parteiführung.1 Diese zeithistorischen und konsumgeschichtlichen Perspektiven auf die akute Krise des Jahres 1977 verdeutlichen die Relevanz des Themas Kaffee, sie beschreiben aber eine Ausnahmesituation, die sich in einer Zeit konsumorientierter Politik abspielte, in der Kaffee eine Normalität und Kaffeekochen eine kulturelle Routine geworden war. Ein vergleichender Blick zur Referenzgesellschaft Bundesrepublik und bezogen auf eine längere historische Entwicklung, die von der Nachkriegszeit bis 1989/90 reicht, zeigt eine parallele, wenn auch deutlich verzögerte Entwicklung der Integration des Kaffees in das allgemeine Konsumniveau und Konsumverhalten:2 Kaffee wurde in den Nachkriegsjahrzehnten sukzessive von einem Luxus- zu einem Alltagsprodukt, der Verbrauch stieg kontinuierlich bis Ende der 1980er Jahre an und lag in der DDR ebenso kontinuierlich unter dem in der Bundesrepublik. Auch technisch bedingte Innovationen wie die Einführung von löslichem sowie vorgemahlenem Kaffee in Haushaltspackungen, von der Handmühle zur elektrischen Kaffeemühle, vom Kaffeefilter zur Kaffeemaschine vollzogen sich in beiden deutschen Staaten in einer zeitlich verschobenen ­Parallelität. Diese Dynamik der Integration des Kaffees in den Alltag spiegelt sich in einer spezifischen Objektkultur, die sich in Museumssammlungen als Teil einer materiellen Kultur des Alltags und Konsums erhalten hat. Auch wenn sie die eigentliche Handlungsebene des Kaufs, der Zubereitung und der sozialen und kommunikativen Situation des Verzehrs nicht einzufangen vermögen, zeigen die Dinge doch deren materiellen Rahmen. Die folgende Exploration3 dieser materiellen Seite orientiert sich an den Di-

mensionen des Konsums, wie sie die jüngere Konsumgeschichtsforschung vorschlägt: der sozialen und kulturellen Integration des Konsumierens in die jeweilige Gesellschaft4 sowie dem Zyklus des Konsums von der Nachfrage bis zur Sammlung beziehungsweise Entsorgung.5 Da es an dieser Stelle aber nicht um das Konsumieren an sich, sondern um die mit ihm verbundenen Dinge geht, gewinnt das Konzept einer Warenästhetik an Bedeutung. In ihm wird die materielle Kultur als eine grundsätzlich ästhetisierte, das heißt über den reinen Gebrauchswert hinausgehende, beschrieben und auf Identitäten bezogen interpretiert.6 Dagegen kann die in allen Ansätzen herausgestellte Subjekt-Objekt-Beziehung beim Konsum, vom Erwerb bis zur Nutzung, hier nur mitgedacht werden, denn die im Folgenden verhandelten Dinge sind in ihrem dem Konsum entzogenen Status als Museumobjekte gleichsam stillgestellt, ihre Attraktivität, ihr Gebrauch und das damit verbundene Erfahrungswissen müssen hingegen weiterer Erforschung überlassen bleiben. Die folgenden Abschnitte folgen dem Verwahrsystem der Museumssammlung und behandeln das Produkt Kaffee, die Dinge des Kaffeekochens und die Dinge der Kulturen des Verzehrs. Produkt Kaffee Im Frühjahr 1954 berichtete die Presse der DDR, dass es seit einigen Monaten wieder Bohnenkaffee zu kaufen gebe – eine Ankündigung des Ministers für Handel und Versorgung vom vorangegangenen Herbst hatte sich als zutreffend erwiesen.7 Neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war damit wieder die Möglichkeit des »normalen« Kaufs von Kaffee gegeben, der in den Nachkriegsjahren zunächst nur auf dem schwarzen Markt und seit 1949 zu hohen Preisen bei der staatlichen Handelsorganisation (HO) erhältlich gewesen war. War Bohnenkaffee bereits in den 1930er Jahren ein Luxusgetränk, dessen Konsum vom Einkommen abhing und für die Mehrheit der Bevölkerung auf Feiertage beschränkt blieb, so galt dies umso mehr für die Nachkriegsversorgungskrise. In der DDR-Presse war der Schwarzhandel mit Kaffee ein permanentes Thema, und dies bis weit in die 1950er Jahre hinein. Ebenso wird aus Zeitungsberichten deutlich, dass Bohnenkaffee auch in den Jahren nach 1945 durchaus offiziell vorhanden war, denn er wurde in besonderen Fällen ausgeschenkt, etwa an Herzkranke oder bei der Rückkehr von Kriegsgefangenen. Dass Kaffee 1954 zurück in die Geschäfte fand, war eine Folge des Konsumgüterversprechens im Neuen Kurs vom Juni 1953 und der Rekonstruktion der Kaffeeröstereien 1952.8 Es dauerte allerdings Jahre, bis die Versorgung einigermaßen gewährleistet werden konnte. 1955 betrug die Menge des in den Verkauf kommenden Kaffees in der DDR nur etwas über 4000 t, fünf 286

4  Vgl. Claudius Torp, Heinz-Gerhard

Haupt: Einleitung: Die vielen Wege der deutschen Konsumgesellschaft, in: dies. (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 9–24. 5  Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge.

Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017, S. 14 f. 6  Heinz Drügh: Einleitung: Waren-

ästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, in: ders., Christian Metz, Björn Weyand (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, S. 9–44, S. 15 ff. 7  Kummer um Kaffeemühlen, Neue

Zeit, 29. April 1954, S. 6; Berliner Hausfrauen bei Minister Wach, Berliner Zeitung, 6. Oktober 1953, S. 7. 8  Vgl. Dietrich, Kaffee, S. 239; abweichend

auf 1953 datiert bei Sigmund, Genuss, S. 87.

Verpackungsentwürfe für Bohnenkaffee, ausgezeichnet als beste Verpackung des Jahres 1962, in: Die Verpackung 1962, H. 5, S. 13.

9  Vgl. die Zahlenangaben unter der Rubrik

»Belieferung des Einzelhandels mit ausgewählten Erzeugnissen – Warenbereitstellung«, in: Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Statistisches Jahrbuch der DDR 1974, Berlin (DDR) 1974, S. 128; dass. 1981, Berlin (DDR) 1981, S. 127. Der sogenannte gesellschaftliche Verbrauch in Gaststätten und Organisationen ist hier nicht berücksichtigt. 10  Sigmund, Genuss, S. 169. 11  Zugleich erfolgte eine Festlegung der

Preise: die Sorte Kosta kostete 30 Mark/kg, Rondo 35 Mark/kg und Mona 40 Mark/kg. 12  Sigmund, Genuss, S. 246, S. 248.

Jahre später jedoch bereits 19.000 t und 1965 29.000 t. Auch danach steigerte sich das Konsumangebot an geröstetem Bohnenkaffee kontinuierlich weiter und erreichte Mitte der 1980er Jahre die 60.000-t-Marke.9 Eine Wende bedeutete der V. Parteitag der SED 1958, der das Konsumversprechen zum Kern eines erfolgreichen sozialistischen Aufbaus deklariert hatte. In seiner Folge wurden Röstmaschinen aus der Bundesrepublik eingeführt10 und damit die Röstereien für einen erhöhten Verbrauch vorbereitet. Als Teil dieses konsumorientierten politischen Programms wurden DDR-weit verkaufte Kaffeemarken eingeführt. Mit »Kosta«, »Mona« und etwas später »Rondo« wurden für den Binnenmarkt Sorten unterschiedlicher Qualität festgelegt,11 die nun in verschiedenen Röstereien hergestellt wurden. Durch diese Kaffeesorten ist, verbunden mit den markenbildenden Verpackungen, Kaffee in den Museumssammlungen nachweisbar. Mit diesen Grundsorten erschöpfte sich das Angebot jedoch nicht. 1973 wurde mit »Mocca-Fix« erstmals gemahlener Kaffee angeboten, der sehr beliebt war. Als Ende der 1980er Jahre in der DDR schließlich eine Bedarfsdeckung für Bohnenkaffee erreicht war, blieb »Mocca-Fix« weiterhin eine knappe Sorte.12 Löslicher ­Kaffee wiederum wurde als modernes Konsumprodukt zwar Ende der 1950er Jahre angekündigt und die Sorte »presto« parallel zu den 287

drei Grundsorten eingeführt, das Produkt jedoch offenbar wieder eingestellt. Zumindest liegt ein materieller Nachweis in der Museumssammlung nicht vor. Stattdessen wurde ab 1968 löslicher Kaffee aus Brasilien importiert und in der DDR lediglich umgefüllt. Bis in die 1970er Jahre hinein blieb Ersatzkaffee, bestehend aus Getreide, Zichorie oder anderen pflanzlichen Stoffen, das Standardgetränk der Mehrheit der Bevölkerung, von allem in ländlichen Gebieten.13 Im Zuge der langsamen Durchsetzung von Bohnenkaffee als Alltagsgetränk kam es zu einer Produktumstellung und Modernisierung der Produktionsbetriebe von getreideverarbeitenden Fabriken zu Kaffeeröstereien. So soll es noch in den 1960er Jahren 23 Kaffeehersteller in der DDR gegeben haben,14 nachweisen lassen sich jedoch nur acht,15 wobei die Firmennamen oft auf ihren Ursprung als Malzkaffeefabriken hindeuten. Ein Kapitel über Kaffee in der DDR ist nicht ohne die Bedeutung des »Westkaffees« für die Konsumenten zu schreiben. Nach dem Bau der Berliner Mauer stieg der Import von Kaffee aus der Bundesrepublik allein schon durch private Geschenksendungen erheblich an, und um der Knappheit an Bohnenkaffee zu begegnen, lockerte die DDR sukzessive die Mengen­beschränkungen in den sogenannten Westpaketen, bis sie nach der Kaffeekrise gänzlich aufgehoben wurden.16 1978 sollen 18,9 Prozent, 1988 bereits 30 Prozent des in der DDR konsumierten Kaffees aus dem Westen gekommen sein, wobei ein geringer Teil auch in den Devisengeschäften »Intershop« erworben werden konnte. Hier wurde, wie auch über den Genex-Geschenkdienst, neben Kaffee aus der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern auch höherwertiger Kaffee aus DDR-Produktion unter dem Markennamen »First Class« verkauft. Kaffee in der DDR war teuer, über lange Zeit knapp und von schlechter Qualität. Dennoch setzte er sich als allgemein über einen längeren Zeitraum durch und galt, wie in anderen Gesellschaften auch, als modernes Konsumgut. Damit einhergehend verschob sich die Zubereitungsweise, die im Folgenden anhand der zugrunde liegenden Gerätschaften nachvollziehbar wird.

13  Ebd., S. 164.

Kaffeekochen Kaffee wurde in der DDR bis in die 1970er Jahre hinein nur in ganzen Bohnen verkauft und so war eine Kaffeemühle im Haushalt unverzichtbar. Obwohl in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR mehrere Mühlenhersteller ansässig waren,17 bestand ein Engpass, auf den im Rahmen des Programms zur Konsumgüterproduktion im Neuen Kurs mit der Neuentwick-

16  Anfangs 250 g, ab 1974 500 g, ab 1976 1 kg,

288

14  Ebd., S. 166. 15  VEB Kaffee- und Nährmittelwerke Halle,

Konsum-Kaffeerösterei Röstfein Magdeburg, VEB Röstkaffee Leipzig, VEB Kaffee und Tee Radebeul, VEB Bero Kaffee und Extrakt Berlin, VEB Kermi Stralsund, VEB Kaffee-Großrösterei Drei Streifen Nordhausen, Marö VEB Kaffeemittelfabrik Frankfurt/Oder.

vgl. Angaben bei Sigmund, Genuss, S. 187. 17  Fa. Leinbrock in Gottleuba/Sa., Hugh

in Zella-Mehlis, VEB Schnittwerkzeuge und Metallwarenfabrik Klingenthal.

»First Class«, Dosenabfüllung zu 250 g, für verschiedene devisenabhängige ­Vertriebswege, Dokumentations­zentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

lung von zwei völlig unterschiedlichen Mühlen reagiert wurde, die jede für sich in einem spezifischen zeithistorischen Kontext stehen und deshalb hier einleitend vorgestellt werden. In einer Notiz der »Berliner Zeitung« wurde über den Einkauf von Massenbedarfsgütern durch die HO Berlin berichtet und in einer Auflistung auf eine Kaffeemühle des VEB Dieselmotorenwerk Rostock zum Preis von 19 DM hingewiesen.18 Dies ist der einzige Hinweis auf die Mühle, deren auffallendes Bakelit­ gehäuse die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit vermittelt. In der Tat geht sie auf einen Entwurf des Mühlenherstellers Dienes aus den 1920er/1930er Jahren zurück19 und wurde formgleich auch vom westdeutschen Hersteller Kissing & Möllmann und in der DDR vom VEB Werkzeugfabrik Schmalkalden produziert. Wie Formwerkzeuge für das Gehäuse und Konstruktionszeichnungen für das Mahlwerk nach 1945 in beiden Landesteilen wieder aufgetaucht sind, ist nicht bekannt.

18  Massenbedarfsgüter aller Art eingekauft,

in: Berliner Zeitung, 10. Mai 1955, S. 5. 19  http://www.industrieform-ddr.de/

wordpress/bildarchiv/haushaltsgeraete/ nggallery/haushaltsgeraete/kuechengeraet, letzter Zugriff: 20.03.2018. 20  Werbeanzeige der GHG Haushalt-

waren Berlin, in: Neue Zeit, 7. Juli 1963, S. 7. Der Preis betrug 5 Mark.

Noch kleiner dimensioniert war die Gewürz- und Mokkamühle »Mignon«, die in einem Dresdner Maschinenbaubetrieb ab 1957 hergestellt wurde. Sie wurde insbesondere als Campingausrüstung beworben.20 Ein Zusammenhang mit dem Konsumgüter­ programm liegt hier ebenfalls auf der Hand. Während der 1950er Jahre lief die Herstellung von mechanischen Kaffeemühlen auch bei den traditionellen Herstellern wieder an. Stellvertretend sollen hier drei klein dimensionierte Mokka289

mühlen vorgestellt werden. Die Firma Leinbrock21 produzierte ab 1948 eine Mokkamühle mit weiß lackiertem Holzkorpus, die noch ganz der traditionellen Gestaltung der 1920er/1930er Jahre entspricht,22 der VEB Schnittwerkzeuge und Metallwarenfabrik Klingenthal ab 1961 eine kleine Mühle mit einem runden Körper aus Polystyrol, die an eine Mühle für türkischen Mokka erinnert, und wiederum Leinbrock seit 1966 eine kleine Mühle mit Kunststoffgehäuse. Die beiden letztgenannten Mühlen waren zugleich Nachzügler einer traditionellen Produktion von Handmühlen mit einem Mahlwerk, denn bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurden einfacher gebaute elektrische Mühlen entwickelt. Elektrische Kaffeemühlen, die seit etwa 1915 zu den ersten elektrischen Haushaltsgeräten überhaupt gehörten,23 wurden in Deutschland seit den 1950er Jahren wieder produziert. In der DDR machte das Funkwerk Köpenick den Anfang, das im Rahmen des Neuen Kurses ab Ende 1953 eine elektrische Kaffeemühle in den Plan der »Massenbedarfsgüterproduktion« aufnahm.24 Die Kampagne, für eine Milliarde Mark Gebrauchsgüter herzustellen, ging auf eine Rede Ulbrichts auf dem IV. Parteitag der SED 1954 zurück und wurde von der Presse in den folgenden Jahren aufmerksam verfolgt, wichtige Produkte in Verbindung mit dem herstellenden Betrieb wurden genannt, aber auch über Probleme, Misserfolge und Fehlentwicklungen wurde berichtet. Einer dieser Problemfälle war die Kaffeemühle »Ulla« aus dem VEB Funkwerk Köpenick, deren Entwicklung nicht vorankam und die schließlich erst 1955 in we290

Kleinst-Gewürz- und -Kaffeemühle ­ ignon, VEB Feinstmaschinenbau M ­Dresden, 1957–1962, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

21  Gegr. 1864, Mühlenproduktion seit 1928

unter dem Markennamen »Leinbrock’s Ideal«, 1972 verstaatlicht, 1980 Einstellung der ­Produktion von Kaffeemühlen. Daten nach www.old-coffee-grinders.com, letzter Zugriff: 10.03.2018. 22  Entwurf mit einem holzsichtigen Körper

um 1930 vgl. https://www.deutsche-digitale-­ bibliothek.de/item/F57ZQOFFWIRKHHXSE 32N2AZI5VSKJI4J?query=kaffeem%C3% BChle&rows=20&viewType=list&thumbnailfilter=on&isThumbnailFiltered=true&offset= 80&_=1522489848662&firstHit=3C3K7ZXIIQ KXJXNJ7T6WA566CWNL2CWL&lastHit= lasthit&hitNumber=89, letzter Zugriff: 20.03.2018. 23  Dietrich Samrowski: Geschichte der

Kaffeemühlen, Teil 1: Elektro-Haushaltskaffeemühlen, München 1999, S. 7. 24  Jetzt Reißverschlüsse aus Polyamid,

Berliner Zeitung, 12. Januar 1954, S. 1.

Elektrische Kaffeemühle »Ulla«, VEB Funkwerk Köpenick 1955, unvollständig erhaltenes Exemplar, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

nigen Exemplaren zum Preis von 93 DM in die Geschäfte kam.25 Aller­dings wurde der Verkauf bald wieder eingestellt, weil, wie es in einem Zeitungsbericht hieß, das Gerät ohne »Fertigungsreife« in die Produktion gegangen sei und als Lückenbüßer für den »unkontinuierlichen Produktionsablauf« des Werkes herhalten müsse.26

25  »Ulla«, »Schnelle Elli« und »Flotte Lotte«.

Geräte zur Erleichterung der Hausfrauenarbeit. Streiflichter aus dem Leipziger Handelshof, Berliner Zeitung, 4. März 1955, S. 5. 26  Schleppende Zusatzproduktion

und die Meinung der Arbeiter, Berliner Zeitung, 21. Mai 1958, S. 5. 27  Fülle von Anregungen für den eigenen

Betrieb, Neue Zeit, 29. Juli 1959; Massenbedarfsgüter …, Neue Zeit, 21. Oktober 1959; Thema »Kaffeemühle« – im Funkwerk funkts noch nicht, Berliner Zeitung, 24. Juli 1960. 28  Hauptstadt hat aufzuholen, Neues

Deutschland, 15. September 1960. 29  Wie steht’s um die Konsumgüter?,

Neues Deutschland, 26. April 1961.

1958 wurde dann ein Nachfolgemodell angekündigt, dessen Produktion sich jedoch wiederum verzögerte, unter anderem weil es kein Prüfzeichen vom Deutschen Amt für Material- und Warenprüfung in der DDR (DAMW) erhielt, die Herstellung von zahlreichen Zulieferbetrieben abhing und sich Mängel in der Nullserie herausgestellt hatten.27 Im Mai 1960 wurde daraufhin die Werksleitung abgelöst, aber auch im Herbst des Jahres waren von 22.500 geplanten Geräten nur 250 produziert.28 Zu diesem Zeitpunkt scheint die Massenproduktion dennoch angelaufen zu sein. Allerdings, so die Kritik, sei die neue Mühle »Kopena« mit 4 kg Gewicht viel zu schwer und für Privathaushalte ungeeignet. Sie werde deshalb vor allem in Lebensmittelgeschäften eingesetzt.29 Das seit Jahresende 1953 vorangetriebene Projekt, eine elektrische Kaffeemühle für den Bevölkerungsbedarf zu entwickeln, war also erst sechs Jahre später umgesetzt und hatte durch Hans Merz, Mitarbeiter des Instituts für angewandte Kunst, Berlin, auch ein professionelles Design erhalten. Diese Verzögerung zeigt exemplarisch die Probleme, die aus der Beauftragung von Investitionsmittel herstellenden Betrieben, Konsumgüter herzustellen, die für diese Aufgabe aber nicht vorbereitet waren. 291

Dennoch handelte es sich bei der »Kopena« um ein hochwertiges Gerät, das mit einem traditionellen Mahlwerk ausgestattet war – ein Konzept, das zu diesem Zeitpunkt bereits überholt war, da 1957 sogenannte Schlagwerkmühlen30 entwickelt waren, die den Bedürfnissen in Privathaushalten besser entsprachen. Sie waren von leichterer Bauart und aufgrund der kleineren Elektromotoren preisgünstiger. In der Bundesrepublik wurden 1958 bereits 480.000 dieser Mühlen verkauft, im Folgejahr waren es 1,4 Millionen, und nicht zuletzt aufgrund mehrerer Preissenkungen war 1977 eine Marktsättigung von 77 Prozent erreicht.31 Die DDR nahm diese Entwicklung zeitnah auf und 1957 wurde mit der »­Pirouette« P 1 eine erste Schlagwerkmühle angeboten, deren Produktion der Hersteller, der VEB Galvanotechnik Leipzig, ebenfalls im Rahmen der Konsumgüterproduktion begonnen hatte. Nur vier Jahre später wurde bereits ein Nachfolgemodell präsentiert, das außer in Leipzig auch beim VEB Elektroinstallation Oberlind hergestellt wurde. Dort war bereits zeitgleich ab 1957 eine eigene Mühle entwickelt worden, deren modernisierte Fassung ebenfalls 1961 auf den Markt kam. Der Betrieb wurde zum zentralen Hersteller für elektrische Kaffeemühlen. Während die Produktion der »Pirouette« im Laufe der 1960er Jahre auslief, wurden für die »SWM« (Schlagwerkmühle) bis in die 1980er Jahre noch mehrere Nachfolgemodelle entwickelt. 292

Mahlwerkmühle »Kopena«, VEB Funkwerk Köpenick, 1959, Entwurf: Hans Merz, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

30  Der Kaffee wird nicht gemahlen, sondern

von einem rotierenden Messer zerschlagen. Das Konstruktionsprinzip geht auf Labormühlen zurück und fand auch bei den sogenannten Mixern Anwendung. 31  Samrowski, Geschichte, S. 34, S. 43.

Die maximalen Produktionszahlen mit 2,3 Millionen Stück pro Jahr wurden Ende der 1960er Jahre erreicht, danach ging die Zahl zurück, weil in den Geschäften mehr und mehr gemahlener Kaffee angeboten wurde.

Elektrische Schlagwerkmühle »Pirouette« P 1, VEB Galvanotechnik Leipzig, ab 1957, Werksentwurf, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: ­Andreas Ludwig).

Elektrische Schlagwerkmühle SWM II/1, VEB Elektroinstallation Oberlind, ab 1961, Entwurf: Klaus Musinowski, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

293

Elektrische Kaffeemühlen galten in West- wie in Ostdeutschland als adäquates Konsumgut für eine moderne Lebensweise. So warb der Werbeverband für die Elektroindustrie IKA electrica mit dem Hinweis: »die praktische Oberlinder Kaffeemühle ist in ihrer eleganten Zweckform ein Schmuckstück im modernen Haushalt«.32 Die weltweite Parallelität in Bezug auf moderne Konsumgüter zeigte sich auch im Design der Dinge. In einer anhand von französischen und westdeutschen Elektrokaffeemühlen entwickelten Typologie wurden die Gehäuse in Dosen-, Fass-, Pilz- und Pyramidenstumpfform unterschieden,33 was anhand der hier gezeigten DDR-Modelle unschwer nachzuvollziehen ist. Darüber hinaus zeigten sich weitere Parallelentwicklungen. Die früheste ist die Integration der Schlagwerkmühle in die Liste der Zusatzgeräte für Küchenmaschinen, Mixer und Handrührgeräte. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist das Multifunktionsgerät »Purimix«, an 294

Motorblock des Handstaubsaugers und Mehrzweckgeräts Omega »­Purimix«, 7000.2, mit Kaffeemühlen- und Mixer­ aufsatz, VEB Elektrowärme Altenburg, Werksentwurf, 1950er Jahre, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

32  Werbeanzeige, Das Magazin 1963, H. 8. 33  Samrowski, Geschichte, S. 11, S. 37 ff.

Kaffeeautomat »Kaffeeboy«, Allhoft & Wöphe KG, Leipzig, Werksentwurf, um 1965. Die Maschine wurde bis in die 1980er Jahre vom VEB Elektrogeräte Leipzig unter der Bezeichnung AKA K 500 gebaut, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

34  Es handelt sich um ein Durchlaufprinzip, bei

dem heißes Wasser eingefüllt und die Maschine nach dem Durchlauf auf den Kopf gestellt wird. 35  UKAM (Universalkaffeemaschine), VEB

Otto-Buchwitz-Werk, Bergbaumechanik Dresden; »Kaffee-Floh«, Helmut Behrens KG, Berlin-Buchholz, beide ab 1958. Kaffeemaschine »Mokkadur«, Otto Bengtson KG, Berlin-Lichtenberg (später PGH bzw. VEB Elektromechanik Berlin-Kaulsdorf ), in zwei Größen ab 1958.

dessen Motorteil diverse Haushaltsgeräte angeschlossen werden konnten, darunter auch eine Kaffeemühle. Die Elektrifizierung des Kaffeekochens seit den 1950er Jahren führte zur Evolution eines eigenständigen Typs einer Kaffeemaschine, wie sie in Deutschland über Jahrzehnte dominant war. In der DDR waren die ersten Maschinen zunächst noch an die Formensprache traditioneller Gerätschaften angelehnt, so die Wendemaschinen »UKAM« und »Kaffeefloh« nach dem Prinzip der Napoletana34 sowie die Kaffeemaschine »Moccadur«, die an einen Samowar erinnert.35 Eine andere Lösung bot die Kaffeemaschine »Moccadolly«, deren Form sich an einen hohen Wassertopf anlehnt, wie er beim Tauchsieder üblich ist. Zu dieser Gruppe mit traditioneller Formensprache gehört auch die »Aracati«, die an eine Espressokanne erinnert. Sie bestand aus einem Aluminium-Gusskörper und funktionierte nach dem sogenannten Druckprinzip. 295

Die bis heute verbreitete Form einer Kaffeemaschine, in der ein Glasbehälter unter einen Auslauf für den Kaffee gestellt wird, kam dann Mitte der 1960er Jahre auf den Markt. Nach dem für Espressokannen typischen Druckprinzip arbeitete der »Kaffeeboy«, nach dem Durchlaufprinzip die Kaffeemaschine K 104.36 Mit beiden Maschinen wurde eine völlig neue Form eingeführt, die sich von den bisherigen Formgebungen der früheren Maschinen klar abhob.

Sonja Filter, Willibald Böhm KG, Polyethylen, Siebeinsatz aus Polyamidgewebe, Produktion seit Ende 1960er Jahre, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

Vor allem mit den auf dem Durchlaufprinzip beruhenden Kaffeemaschinen wurde die verbreitete Zubereitungsform des Filterkaffees fortgesetzt, bei der ein Kaffeefilter mit eingelegtem Filterpapier oder Nylonnetz auf eine Kaffeekanne aufgesetzt wird: Das heiße Wasser läuft durch den Filter, daher die Bezeichnung Durchlaufprinzip. 36  Mehrere Nachfolgemodelle wurden bis

Ende der 1980er Jahre beim VEB Elektromechanik Berlin-Kaulsdorf entwickelt.

296

Speise-, Kaffee- und Mokkageschirr »Daphne«, VEB Porzellanwerk »Graf von Henneberg« Ilmenau, Gestaltung: Ilse Decho, 1963, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Erich Müller/ Georg Eckelt).

Kaffeekulturen Hinter der Wahl des Geräts zeigen sich nicht nur veränderte Zubereitungsformen, sondern auch unterschiedliche Kaffeekulturen. Sie sollen in ihrer Verbindung von materieller Kultur und sozialer Situation abschließend kurz dargestellt werden. Im Zentrum der Kaffeekultur steht die Kaffeetafel im Kreise der Familie oder als sogenannter Kaffeeklatsch. Die soziale Integration einer größeren Personengruppe erforderte eine entsprechende Ausstattung, unter anderem, aber nicht allein, das mindestens sechsteilige Geschirr mit großer Kaffeekanne, Sahnekännchen und Zuckerdose. Von diesem sogenannten Service wurden in der DDR von allen Porzellan- und Steingutherstellern die unterschiedlichsten Modelle hergestellt, eine fast unüberschaubare Produktvielfalt von Formen und Dekoren, von der nur wenige Entwürfe bekannt sind, sofern sie unter designgeschichtlichen ­Aspekten als »gute Form« identifiziert wurden. Zu ihnen gehört das Service »Daphne«, das aufgrund seiner schlanken Gestalt und der Waffelstruktur seiner Oberfläche für die »funktionale« Epoche des DDR-Designs in den 1960er Jahren steht. Die Auflösung der sonntäglichen Kaffeerunde und die Integration des gemeinsamen Kaffeetrinkens in eine die moderne Lebenswelt repräsentierende soziale Situation zeigt eine Werbeanzeige für die 297

Werbeanzeige für die Kaffeemaschine »ISSI«, VEB Elektrowärme Sörnewitz, in: Guter Rat, Nr. 652, 1960, Umschlagrückseite.

Kaffeemaschine »ISSI«. In ihr sollte darauf hingewiesen werden, dass das Gerät so formschön ist,37 dass es auch auf dem Wohnzimmertisch aufgestellt werden kann, der hier bereits kein Esstisch mehr, sondern ein, wenn auch nicht zur Höhe des Sessels passender, »Nieren«-förmiger Beistelltisch ist. Allerdings findet das Gerät hier wenig Aufmerksamkeit, da sich alle Augen auf den Fernseher richten. Dieses Bild einer Modernisierung des Lebensstils wirft die Frage nach weiteren sozialen Situationen des Kaffeetrinkens und deren Sachausstattungen auf – dem Café und dem Arbeitsplatz, also dem Kaffeetrinken außer Haus. Aus Statistiken zur Verteilung des Kaffeekonsums in der DDR wird deutlich, wie stark sich die Gewohnheiten verändert haben. In den Jahren zwischen 1961 und 1968 verfünffachte sich der Kaffeeverbrauch in Gaststätten, er blieb aber insgesamt mit knapp 5 Prozent des Gesamtverbrauchs im Jahr 1978 in der DDR noch gering.38 Ebenso änderte sich die Konsumumgebung: Was mit Café und Gaststätte gemeint sein 298

37  Ein Argument, das auch in an-

deren Werbeanzeigen für elektrische Haushaltsgeräte auftaucht. 38  Sigmund, Genuss, S. 178 f., S. 246.

Konstruktionsskizze für das Hotel- und Gaststättengeschirr »rationell«, produziert im VEB Porzellanwerk Colditz, ab 1973. Entwurf: Margarete Jahny, Erich Müller, Skizze: Erich Müller, undatiert, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

39  Vgl. Andreas Ludwig: Erich Müller –

Glasmaler und Gestalter, in: Kreiskalender Oder-Spree 2003, S. 95–101, hier S. 99 f. 40  Sigmund, Genuss, S. 244. 41  Ebd., S. 263.

konnte, unterlag einem zeitlichen Wandel, was funktional gleich blieb, sind die Dingausstattungen. Für die Gaststättenausstattung schon beinahe ikonisch ist das sogenannte »Mitropa-Geschirr«, das um 1970 von Margarete Jahny und Erich Müller am Zentralinstitut für Formgestaltung mit dem Ziel, ein robustes Alltagsgeschirr herzustellen, entwickelt worden war und schnell zur Standardausstattung von Cafés, Gaststätten und Kantinen wurde. Es beruht auf dem Prinzip der Stapelbarkeit und trägt den programmatischen Namen »rationell«.39 Weit höher als in Cafés oder Gaststätten war der Konsum von Kaffee am Arbeitsplatz, der 1978 15 Prozent des gesamten Kaffeeverbrauchs in der DDR betrug,40 wobei unklar bleibt, ob der Verbrauch in Kantinen oder der private Konsum am Arbeitsplatz gemeint ist. Letzterer soll infolge der Kaffeekrise von 1977, als der neue eingeführte Mischkaffee »Kaffee-mix« die Automaten in den Kantinen zusetzte, erheblich angestiegen sein, wobei auf Tauchsieder zurückgegriffen wurde, die wegen Brandgefahr eigentlich nicht erlaubt waren.41 Möglicherweise liegt hier die anhaltende Beliebtheit des »Aufgegossenen« begründet. 299

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die materielle Kultur rund um den Kaffee eine eigene Produktkultur bildet, die sich in einer Museumssammlung in Sedimenten einer konsumhistorischen Entwicklung und sozialer Praxen erhalten hat und von der hier nur einige (wenige) Beispiele aufgeführt werden konnten. Während eine Analyse der Vielzahl von Formen und Dekoren des Kaffeegeschirrs unter ästhetischen Gesichtspunkten einen eigenen Beitrag über Geschmackskulturen bilden würde, ist unter funktionalen Aspekten hier zumindest auf Fehlendes hinzuweisen: Untersetzer, Tropfenfänger, Kannenhauben, Thermoskannen, Camping­ausstattungen, Aufbewahrungsdosen, Filterpapiere und Filter bilden nur einen engeren materiellen Umkreis des Kaffeetrinkens, der sich mühelos auf Bestecke, Tischdecken und Tortenplatten ausdehnen ließe. Soziale Kontexte finden sich in der materiellen Kultur in indirekter Weise wieder. Die Komposition, Menge, typologische und ästhetische Vielfalt sowie die zeitliche Zuordnung der musealisierten Dingausstattungen erweisen sich als Spuren einer sozialen Praxis, deren Routinen, Kontexte und Bedeutungen sich in anderen Quellen finden: Literatur und Film seien hier als Beispiele genannt. Private Fotografien, die neben Personenkonstellationen auch die zeitliche und typologische Schichtung der materiellen 300

Gaststätte im Konsum-Kaufhaus ­ otsdam, um 1980. Das GaststättenP geschirr »rationell« ist auf dem Tisch erkennbar, Archiv Zentralkonsum eG.

Im Büro eines Ost-Berliner Betriebes, im Hintergrund der Tauchsieder, undatiert, Privatbesitz.

Kultur rund um den Kaffee im Gebrauch zeigen könnten, sind eine weitere Quelle. Dennoch geben bereits die hier beschriebenen »Kaffeesachen« erste Aufschlüsse über die Integration eines Verbrauchsguts in historische und gesellschaftliche Kontexte. In erster Linie sind es zwei Entwicklungen, die anhand der materiellen Kultur nachvollzogen werden können: erstens die schrittweise Verbreitung des Kaffeekonsums in der DDR von einem sonntäglichen Genuss zu einem verbreiteten und an unterschiedlichen Orten praktizierten Alltagskonsum. Zweitens die Gerätschaften als Teil einer umfassenden Modernisierung und Elektrifizierung der Hauswirtschaft sowie des öffentlichen Konsums, mithin von Versorgungs- und Herstellungspraktiken. Aus dem Engpass an Handkaffeemühlen wurde bereits Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre eine Produktkultur des modernen Lebensstils. Durch einen vergleichenden Blick auf die Bundesrepublik wird zugleich deutlich, dass die DDR einer allgemeineren Entwicklungstendenz folgte und letztlich, trotz wiederholter Engpässe und hoher Preise, eine Konsumkultur entwickelte, die sich in eine zumindest westeuropäische Entwicklung einpasste. Konsumgesellschaftliche Leitvorstellungen, auch das soll festgehalten werden, lassen sich nicht nur an der Bedeutung westlicher Kaffeemarken festmachen, sondern sind offenbar ebenso Leitmotiv einer auf Angemessenheit gerichteten Wirtschaftsplanung. 301

Familiendinge im Depot: Tretroller und Kinderwagen, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

FAMILIENDINGE ZWISCHEN ENTBEHRLICHKEIT UND BEDEUTSAMKEIT ANNA KATHARINA LASCHKE »Nur wer die Materialität aller Sozialität erkennt, kann am 1 Ende sinnvoll Gesellschaftstheorie betreiben.«

1  Julia Reuter, Oliver Berli: Dinge befrem-

den – Eine Abschweifung, in: dies. (Hg.): Dinge befremden. Essays zu materieller Kultur, Wiesbaden 2016, S. 1–9, hier S. 3. 2  Siehe zum von Alf Lüdtke stammenden, für

die zeitgeschichtliche Forschung adaptierten Begriffs »Eigensinn« Thomas Lindenberger: Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2. September 2014, http://docupedia.de/zg/ lindenberger_eigensinn_v1_de_2014, DOI: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.595.v1. 3  Bei Alltagskultur gehe es, so Andreas Ludwig,

»[…] um die Sammlung von materiellen Dokumenten einer auf industriellen Massenproduktion fußenden Gesellschaft und um die Erfassung der Zusammenhänge zwischen Gegenstand (musealem Objekt), gesellschaftlichem Gebrauch und individueller Bedeutung.« Siehe hierzu Andreas Ludwig: Alltag, Geschichte und objektbezogene Erinnerung. Bemerkungen zur Konzeption eines Museums der Alltagskultur der DDR, in: ders., Gerd Kuhn (Hg.): Alltag und soziales Gedächtnis. Die DDR-Objektkultur und ihre Musealisierung, Hamburg 1997, S. 61–81, hier S. 70. 4  Die Sammlungsexploration fand im Zuge

des Dissertationsprojekts der Autorin zu den materiellen Ausstattungen junger Familien der späten DDR statt. Siehe hierzu auch die Projektbeschreibung auf der Website des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam unter URL: https://zzf-potsdam.de/ de/forschung/projekte/schrankwand-schnuller-froesi-heft, letzter Zugriff: 09.09.2018.

Wird eine Familie gegründet, so werden vermehrt Dinge angeschafft: Eine gemeinsame Wohnung muss eingerichtet, ein Haushalt ausgestattet, eine Erstausstattung für Kinder zusammengestellt werden. Meist tragen sich diese Ausstattungen anschließend viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Viele dieser Familiengründungsdinge begleiten die Familien oftmals weit über ihre Entstehungszeit hinaus. In der späten DDR der 1970er und 1980er Jahre war die Phase der Familiengründung dabei von besonderen Rahmenbedingungen gesäumt (Stichworte: Wohnungsbauprogramm, Ehekredit, Konsumgüterproduktion), die auch zu einer besseren materiellen Ausstattung der jungen Familien führen sollten und die sich ganz unterschiedlich in den jeweiligen familiären Dingwelten materialisierten. So entstanden aus gebrauchten, geerbten, umfunktionierten, selbst gemachten und auch neu erworbenen Dingen historisch spezifische, ganz eigen-sinnige2 Lebens- und Dingwelten, Gebrauchs- und Bedeutungszusammenhänge. Als sich jene veränderten oder auflösten, die Dinge ihre Funktion oder auch ihre Bedeutung für die Familien erbracht hatten, wurden sie aus diesen Zusammenhängen entnommen, abgegeben, umfunktioniert, weggeworfen, verkauft oder, wie hier geschehen, einem die Objekte bewahrenden Museum geschenkt. So hat sich ein Teil der damaligen Familiendinge bis heute erhalten: Einige Objekte – vor allem persönlich Bedeutsames wie Fotoalben, aber auch Haushaltsgegenstände oder Möbel – sind weiterhin im Privatbesitz, während sich andere, gleichsam ent-zeitlicht und ent-räumlicht, in Museumssammlungen befinden. Von diesen abgegebenen Objekten ausgehend, stellten sich am Beginn der Sammlungsexploration zu Familiendingen zwei Fragen: Wie bilden sich erstens in einem partizipativ entstandenen, alltagskulturellen Museumsbestand3 wie dem des Dokumentationszentrums DDR-Familiengründung und DDR-Familien ab? Und was kann zweitens anhand der aufgefundenen, musealisierten Alltagsdinge über die späte DDR-Gesellschaft und soziale Prozesse von Anpassung und Abgrenzung von FamiliengründerInnen der 1970er und 1980er Jahre ausgesagt werden?4

Familien(gründungs)dinge: wenig Privates, zahlreiche Spieldinge Der Bestand des Dokumentationszentrums versammelt Gegenstände, die die Schenkenden als Dinge »ihres« DDR-Alltags abgaben. Die dadurch entstandene große Bandbreite und Offenheit kann als eines der großen Potenziale der Sammlung gelten, denn sie ermöglicht die Untersuchung vielfältigster Themen ausgehend von Objekten. Wenn es hier speziell um Familiengründungsdinge geht und davon ausgehend abgegebene Dingensembles als Familienschenkungen ausgemacht werden, so ist dies ein durch den Forschungszusammenhang nachträglich hergestellter Sinnzusammenhang, der nicht gleichzusetzen ist mit den Schenkungsintentionen. Zunächst galt es also zu ergründen, wie sich Familiengründung und Familie überhaupt im Museumsbestand niedergeschlagen hatten. Ausgangspunkt der Exploration waren zunächst Einzelobjekte: Gezielt wurde in den Eingangsbüchern nach Dingen gesucht, die auf das Vorhandensein von Familie mit Kind(ern) schließen ließen. Wie die weiteren Forschungen zeigen sollten, verwiesen nur wenige Objekte dabei direkt auf Familiengründung, denn nur in Ausnahmefällen wurden persönliche Dinge wie Fotografien oder Dokumente, wie zum Beispiel Ehekreditunterlagen, dem Museum geschenkt. Aus diesem Grund gerieten Objekte in den Blick, die eher indirekt auf Familiengründung, vielmehr aber auf das Vorhandensein von Familie mit Kind(ern) verwiesen. Hierzu zählen vor allem Kinder- und Kindheitsobjekte, von der Windel über Baby- und Kinderkleidung bis zum Zwillingskinderwagen. Kindermöbel und Kinderwagen, zentrale Familiengründungsdinge, sind zwar in den Sammlungen mehrfach vorhanden, waren aber nur in wenigen Fällen Bestandteil der später als Abgaben von FamiliengründerInnen identifizierten Schenkungen. Während ein Großteil der im Dokumentationszentrum versammelten Kindermöbel aus ehemaligen DDR-Kinderbetreuungseinrichtungen stammt, wurden Kinderwagen aufgrund ihres hohen Anschaffungspreises zu DDR-Zeiten meist selbst entliehen oder nach Gebrauch weiterverkauft. Daher materialisierten sich diese auch seltener als zunächst angenommen im Sammlungsbestand. So geriet schließlich Spielzeug, das in mehr als 10 Prozent der rund 2000 für das Dokumentationszentrum gelisteten Schenkungen und/oder Dauerleihgaben und damit in großer Zahl vorhanden ist, zu einem zentralen Marker für das (wahrscheinliche) Vorhandensein von Familie. Kurzum: Auf den ersten Blick ließen sich in der Sammlung nur wenige direkt als Familiengründungsdinge auszumachende Objekte finden. Dafür fanden sich viele Dinge, die als Familiendinge Teil eines Familienalltags gewesen sein konnten. 304

Von diesen materialen Befunden ausgehend, wurden in der Folge mehr als 200 SchenkerInnen kontaktiert, deren ganz unterschiedlich große (von einem bis hin zu mehreren Hundert Objekten) und ganz unterschiedlich zusammengesetzte Abgaben mehrheitlich Spielzeug enthielten. Etwa die Hälfte meldete sich zurück,5 jedoch passten nur knapp 40 Personen in das gesuchte Raster »FamiliengründerInnen der Ära Honecker«. Die ursprüngliche Annahme, dass das in den Sammlungen gefundene Kinderspielzeug eines der zentralen Familiendinge sei und auf Familiengründung in der DDR verweise, erwies sich somit als mehrheitlich korrekt.6 Aus den passenden Personen wurden anschließend rund 20 für das Vorhaben ausgewählt. Neben dem fast in allen ausgewählten Abgaben zu findenden Spielzeug gab es auch einige besondere Funde: Darunter war ein Zwillingskinderwagen, ein Brautkleid, Ehekreditunterlagen sowie in einigen wenigen Fällen auch Baby- und Kleinkindausstattung (Rasseln, Windeln, Kleidung, Fahrradsitz für Kleinkinder und vieles mehr).

5  Es gab ungefähr 90 Rückläufer, weil die

Adressen nicht mehr stimmten. Eine sich anschließende Anfrage beim Einwohnermeldeamt konnte in der Folge noch weitere aktuelle Kontaktdaten generieren. 6  Teilweise führte sie jedoch auch etwas

in die Irre: So schenkten viele, die selbst Kinder in der späten DDR gewesen waren, ihr damaliges Kinderspielzeug dem Museum oder waren die Schenkenden beispielsweise FamiliengründerInnen früherer Jahre. 7  Vgl. zur Fotografie als Erinnerungsanlass

Jutta Buchner: Technik und Erinnerung. Zur symbolischen Bedeutung von Technik in lebensgeschichtlichen Erinnerungsschilderungen, in: Rolf Wilhelm Brednich, Heinz Schmitt (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur, Münster/New York/München/ Berlin 1997, S. 195–206. Sogar in zwei Fällen, in denen die ausgewählten Objekte falsch zugeordnet und daher nicht von den Interviewten geschenkt worden waren, funktionierten die Objekte als Erinnerungsauslöser und waren die im Anschluss an die Fühlbox durchgeführten Interviews weitaus objektzentrierter und in ihren Erzählungen objektreicher (durch Erinnerung an weitere Dinge der Familienzeit) als die vorab geführten und weitgehend »objektlosen« narrativen Interviews.

Nachdem in Vorbereitung des Forschungsvorhabens erste narrative Interviews zur materiellen Ausstattung der DDR-Familien nur wenige Hinweise auf Dinge und Dingensembles der Familienzeit geliefert hatten, musste eine andere Art des methodischen Zugriffs erdacht werden. Die ausgewählten Einzelpersonen und/oder Paare wurde daher in eigens entwickelten »objektzentrierten Interviews« im Dokumentationszentrum mit einer Auswahl aus den von ihnen abgegebenen Gegenständen konfrontiert: In einer sogenannten »Fühlbox« wurde ein von der Forschenden ausgewähltes Objekt aus den jeweiligen Abgaben für die ­SchenkerInnen nicht sichtbar platziert. Durch Hineingreifen in diese Box mussten die Schenkenden zunächst erfühlen, um welches ihrer abgegebenen Objekte es sich handelte. Damit sollte ein verstärkt haptischer Zugang, quasi ein Zu-Griff, zu den Objekten genutzt werden, der sich von der sonst gängigen Praxis (Objekt sehen und benennen) abhebt und die Phase des Objekt-Wiedererkennens künstlich verfremdet und verlängert. Es stellte sich heraus, dass dieser Zugang, ähnlich wie Fotografie, in der Mehrheit erfolgreich als Erinnerungsauslöser funktionierte.7 Im Anschluss wurden die Objekt­geschichten (Erwerb, Nutzung etc.) sowie Schenkungs­ motivationen erfragt und die Schenkenden zu ihrer Familiengründung in der DDR samt deren Dingwelten befragt. Weil das Forschungsprojekt ausgehend von musealisierten Objekten Prozesse sozialer Ausdifferenzierung untersucht, wurde nach dieser ersten Runde gut die Hälfte der ausgewählten FamiliengründerInnen im Sinne einer möglichst breiten sozialen Streuung typologisch ausgewählt. So finden sich vom Arbei305

ter bis zum Selbstständigen, vom Plattenbaubewohner bis zum Eigenheimbesitzer, vom (Groß-)Städter bis zum Dorfbewohner, von Verheirateten bis zu Unverheirateten, von der Ein-Kind- bis zur Drei-Kind-Familie Vertreter ganz unterschiedlicher sozialer Schichten und Lebensstile unter den gewählten SchenkerInnen. Doch trotz aller Unterschiede waren es ähnliche Objekte, die als wichtige Familiengründungsdinge benannt wurden, darunter vor allem Möbel (Schrankwand, Couch, Schlafzimmereinrichtung, Kindermöbel) und Haushaltsausstattungen (vom Geschirr bis hin zur voll- oder teilautomatischen Waschmaschine), von denen sich jedoch nur wenige Dinge in den Sammlungen des Museums erhielten. Die Ausgewählten wurden schließlich daheim besucht und in dokumentierten Wohnungsrundgängen wurde ergründet, welche DDR-Dinge immer noch als für das eigene Leben bedeutsam aufgehoben werden. Dieser Schritt war zentral, um auch die Bedeutung der musealisierten, also abgegebenen und damit vermeintlich entbehrlichen Objekte einschätzen zu können. Es zeigte sich, dass vor allem Privates, wie Fotoalben oder Dokumente, aufgehoben wird. Damit wird auch das bereits zu Beginn konstatierte Fehlen privater Dinge in den Sammlungen des Dokumentationszentrums erklärt. Daneben sind es Erinnerungsstücke, wie Urlaubssouvenirs, besondere Kinderspielzeuge, Selbstgemachtes, aber auch praktische und noch funktionierende Dinge, die in den Haushalten verblieben sind. Rund die Hälfte der Befragten besitzt beispielsweise noch die zu Familienzeiten angeschaffte hochpreisige DDR-Schrankwand. Zwar steht diese in der Regel nicht mehr im Wohnzimmer, sondern im Keller oder aber der Laube, ist aber vor allem aufgrund ihrer Funktionalität (Stauraum) bislang nicht entsorgt worden. Eine große Beständigkeit zeigt sich auch im Aufbewahren von Haushaltsgegenständen: So findet sich bei fast allen der elf Schenkenden noch Besteck, Geschirr oder sonstiges Küchen­zubehör aus der DDR. Die Argumente für das Aufheben sind breit gestreut: Langlebigkeit und Funktionstüchtigkeit der Objekte, die Zeitlosigkeit und Formschönheit des damals gekauften Geschirrs oder auch der Umstand, dass viele dieser Haushaltsausstattungsdinge zur Eheschließung geschenkt wurden und daher ebenso einen emotionalen Wert für die SchenkerInnen besitzen. Die sich an die Wohnungsrundgänge anschließenden Gespräche ermöglichten weiterhin, dass in den Sammlungen weitere vorhandene, aber auf den ersten Blick nicht als Familiengründungsdinge erkennbare Objekte identifiziert werden konnten. Ein Beispiel hierfür ist eine Couch, die in den 1980er Jahren zur Erstausstattung der Wohnung einer unverheirateten Eisenhüttenstädterin mit zwei Kindern gehörte. Doch, wie oben beschrieben, waren es weniger die Dinge der Familiengründung als vielmehr ausschnitt306

haft Dinge des Familienalltags, die in den Sammlungen zu finden waren. In Kombination von objektzentrierten Interviews, Wohnungsrundgängen und sich anschließenden lebensgeschichtlichen Interviews wurde so versucht, die durch die Familiengründung initiierten familiären Ding-Welten zu rekonstruieren, um daran individuelle wie gesellschaftlich spezifische Besonderheiten ausmachen und vergleichen zu können.

8  Vgl. hierzu Ludwig, Alltag, S. 72 ff. 9  Vgl. zum Konzept der »Objektbiographie«

Igor Kopytoff: The Cultural Biography of Things. Commodization as Process, in: Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 64–91; Nina Hennig: Objektbiographien, in: Stefanie Samida, Manfred K.H. Eggert, Hans Peter Hahn (Hg.): Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2014, S. 234–237. Im Begriff der Objektbiographie drückt sich die fast nicht zu trennende Verbindung zwischen menschlicher Biografie und Dingen aus. 10  Martina Heßler: Abfall als Denkobjekt.

Eine Re-Lektüre von Michael Thompsons »Mülltheorie« (1979), in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 13 (2016), H. 3, http://www.zeithistorische-forschungen. de/3–2016/id=5413, Druckausgabe: S. 543–549. 11  Die lose wirkende Ansammlung von Dingen

wird hier in Abgrenzung zu Konvoluten, die zu einem bestimmten Thema oder aus einem bestimmten Zweck zusammengestellt und geschenkt wurden, verstanden. Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Ludwig: Wohnkultur. Ein Selbstzeugnis der Aufbaugeneration, in diesem Band.

Bei einer objektbasierten, dinghistorischen Analyse, wie sie hier vorgenommen wird, gilt es zu bedenken, dass die geschenkten DDR-Alltagsdinge keine reinen Abbildungen des Gewesenen sind, sondern auf dem Weg zum musealisierten Kulturgut mehrfach Selektions- und Umdeutungsprozesse durchliefen.8 Wie ›wertvoll‹ ein Objekt dabei im jeweiligen Stadium seiner ­Objektbiographie9 ist und vor allem wem es wofür bedeutsam erscheint, geht dabei keineswegs allein in seinem ökonomischen Wert auf oder bemisst sich ausschließlich an dem Material, aus dem es gefertigt wurde. Vielmehr ist die Bedeutsamkeit, der Wert eines Dings »(auch) eine Folge variabler kultureller Zuschreibungen […].«10 Wem ein Objekt wann, warum und wofür bedeutsam oder entbehrlich erscheint, hängt maßgeblich von der Perspektive ab, mit der die Dinge und Dingansammlungen11 betrachtet werden. Für die musealisierten Alltagsdinge bedeutet dies, dass sich der Wert eines Objekts für die Abgebenden anders bemisst als beispielsweise für die aufbewahrende Gesellschaft und deren Kulturinstitutionen oder für dingbasierte wissenschaftliche Forschungen, die sich dem musealen Bestand mit bestimmten Erkenntnisinteressen und Fragestellungen nähern. Familiengründungsding Brautkleid: entbehrliche Materialität, bedeutsame Erinnerungen Ein Beispiel hierfür stellt der Fund eines Brautkleids in den Sammlungen dar. Nur wenige Brautkleider wurden dem Museum geschenkt, darunter das ausgewählte Objekt. Sein schlichter Schnitt und der steif wirkende Stoff mit seinem eigenwilligen Muster heben es deutlich von den anderen musealisierten Brautkleidern im romantisch-verspielteren Stil ab. Stoff und Schnitt (langer Rock, langärmelig) lassen vermuten, es habe sich um ein Kleid für eine Winterhochzeit gehandelt. Dazu wurde ein zugehöriges Taillenband des gleichen Stoffs und eine weiße, zur Bräutigamsausstattung gehörende Fliege geschenkt. Im Eingangsbuch war vermerkt worden, dass das Kleid Anfang der 1970er Jahre in Berlin gekauft worden sei. Da die aus über 100 Dingen bestehende Schenkung weiterhin diverse Babyausstattungsdinge – von Kleidung bis hin zu Babyrasseln – be307

Brautkleid, 1973 in Ost-Berlin gekauft, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

Hochzeitsfliege, 1973 in Ost-Berlin gekauft, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Britt Scheffler).

inhaltete, schienen die materialen Spuren eindeutig auf Familiengründer der späten DDR zu verweisen. Die Schenkerin wurde kontaktiert und mit dem Gürtel und der Hochzeitsfliege in der »Fühlbox« konfrontiert. Die Erwartung der Forschenden, eine besonders bedeutungsvolle Objektgruppe zum emotional aufgeladenen Thema Eheschließung gefunden und für das Interview ausgewählt zu haben, wurde erst einmal enttäuscht. Die Abgebende erkannte die Dinge umgehend und äußerte zum zugehörigen Kleid: »Entsetzlich hässlich! Und es gab nichts Besseres in Berlin beim […] Hochzeitsausstatter […].«12 Sie habe es kaufen müssen, da die Auswahl an Hochzeitskleidern damals so gering gewesen sei und für das Selbernähen – eine der für die DDR bekannten Ausweichstrategien, um den vorhandenen Engpässen zu begegnen – habe es an schönen Stoffen gemangelt. Auch die steif wirkende Materialität, die darauf hatte schließen lassen, es habe sich um eine Winterhochzeit gehandelt, ist irreführend: Das Paar heiratete im Frühling. Als nach dem Tragegefühl gefragt wird, antwortet die Schenkerin, es sei unbequem, fast »hart« gewesen, aber »die Emotionen« hätten das überwogen. Doch allein die ungeliebte Materialität des Kleides erklärt nicht, warum 308

12  Alle wörtlichen Zitate entstam-

men dem Gespräch v. 15. Februar 2017 im Dokumentationszentrum.

das für die Schenkerin einmal bedeutsam gewesene Objekt nun entbehrlich schien und an das Museum abgegeben wurde. Es ist die Gemengelage aus einer später in Scheidung endenden Beziehung und der Auflösung des Kellers, in dem das Kleid samt Zubehör jahrelang aufbewahrt worden war, die schließlich in der Schenkung des Objekts samt zugehöriger Hochzeitspost mündete. Auf die Frage nach der Schenkungsmotivation antwortet die ehemalige Besitzerin, das Kleid sei zu »hässlich« zum Verkaufen gewesen und »zum Wegschmeißen oder so war es mir […] zu schade!« Daher habe sie sich entschieden, es mitsamt anderen entbehrlichen, aber einmal bedeutsam gewesenen Familiendingen einem Museum zu schenken: »[L]ass es da in Erinnerung an die DDR-Zeit hängen!« Dieses Beispiel verdeutlicht, dass ein Objekt im Laufe seiner Objektgeschichte verschiedene Stadien der Bedeutsamkeit und Entbehrlichkeit durchlaufen kann. Dabei können durchaus beide Pole zeitgleich zusammenfallen: War das Ding Brautkleid für die Forschende bedeutsam, weil es ein Indiz für die Familiengründung der Schenkerin in der späten DDR darstellte, erschien es der Schenkerin zugleich für ihre heutigen eigenen Ding-, Lebensund Gebrauchszusammenhänge als entbehrlich. Dass es jedoch einmal bedeutsam war, zeigt sich nicht nur in der Verknüpfung des Objekts mit den Erinnerungen an ihre Hochzeit und in der jahrzehntelangen Aufbewahrung. Die mittlerweile vergangene Bedeutsamkeit zeigt sich auch in der Übergabe des Objekts an das an den DDR-Alltag erinnernde Dokumentationszentrum.

13  Biografische Objekte könnten nicht nur die

lebensgeschichtlichen Narrationen untermauern, sondern diesen mitunter auch zuwiderlaufen. Die Ansammlung von Dingen, wie sie hier auch bei der Analyse der Schenkungen ausgewählter FamiliengründerInnen untersucht wurde, kann als eine »nichthierarchisierte Biografieerzählung« verstanden werden, die sich anders organisiert als eine mündliche Lebenserzählung. Somit hätten Dinge das Potenzial, eine mitunter »andere« Geschichte zu erzählen. Vgl. hierzu die Ausführungen zu biografischen Dingen in »Persönlich, nicht privat« von Katja Böhme in diesem Band.

Von entbehrten Alltagsdingen zu DDR-Familiendingwelten Werden Museumsobjekte als Quellen benutzt, so sind es nicht nur die Einzelobjekte, sondern auch die abgegebenen Dinge in ihrer Komposition, ihrer jeweiligen Schenkungszusammensetzung, die Hinweise auf vergangene Lebens- und Dingzusammenhänge geben können. Diese Schenkungen, als kleine Einheiten und stets nur einen kleinen Ausschnitt der gewesenen Dingwelten darstellenden Abgaben an das Museum, werden hier daher als »materialisierte Lebenserzählungen« interpretiert: In den Dingen und um die Dinge herum werden Menschen und Lebenssituationen sichtbar gemacht. Die genaue Analyse von Dingen und Dingensembles ermöglicht dabei Einblicke in Lebensbereiche, die in mündlichen Lebenserzählungen aufgrund ihrer Beiläufigkeit nur selten Erwähnung finden. Zudem können sie erzählte Lebensgeschichten ergänzen, korrigieren oder vermögen es gar, diesen zu widersprechen.13 Da die Auswahl und Entscheidung zur Übergabe der Dinge an ein 309

Museum als ein aktiver Verarbeitungsprozess zu bewerten ist, mit dem sich SchenkerInnen zu ihrer eigenen Biografie verhielten und positionierten und auch gesellschaftliche Veränderungen verarbeiteten,14 sind sowohl materialisierte als auch verbalisierte Lebenserzählungen als retrospektive Konstrukte zu bewerten. Dennoch kann ein die beiden stets verwobenen Lebenserzählungen kombinierendes Vorgehen gewinnbringend eingesetzt werden, um einem vermeintlich banalen, aber individuell wie überindividuell und historisch spezifischen Alltag samt seinen beiläufigen Dingen nachzuspüren. Eine alltagskulturelle Sammlung, wie sie im Dokumentationszentrum besteht, ist damit mehr als eine Ansammlung entsorgter, für die Ex-NutzerInnen bedeutungslos gewordener Gegenstände. Alltagsdinge vermitteln nämlich »nicht nur einen Eindruck davon, in welchem Mikrokosmos von Objekten des täglichen Gebrauchs sich ein Individuum oder eine soziale Gruppe bewegte«, sondern erlauben es auch, »Rückschlüsse auf die ökonomische Situation und die soziale Stellung ihrer Besitzer zu ziehen.«15 Dinge, Dingbesitz, Dinganeignung und Dinggebrauch sind stets mit einer spezifischen historischen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und sozialen Situation verzahnt, zu der sich die Einzelnen verhalten mussten und müssen. Eine objektbasierte, dinghistorische Untersuchung muss folglich nicht nur die individuelle Ebene, sondern diese vielmehr in Verflechtung mit überindividuellen Strukturen und Prozessen untersuchen und beschreiben. Um zu verdeutlichen, wie durch die Analyse von musealisierten Dingansammlungen nicht nur auf die individuellen Familiendingwelten und -biografien geschlossen werden kann, sondern wie auch »Strukturen, Prozesse und Handlungen«16 der DDR-Gesellschaft »dahinter« sichtbar gemacht werden können, werden anschließend zwei Familienschenkungen exemplarisch analysiert. Beide Abgaben eint, dass sie keine direkten Familiengründungsdinge enthalten, sondern vor allem Spielzeuge aus den 1970er und 1980er Jahren in unterschiedlicher Ausführung und Anzahl als Marker für Familie fungierten. Zudem wurden sie in einem ähnlichen Zeitraum an das Dokumentationszentrum abgegeben (2000er Jahre), weisen einen ähnlichen Umfang auf (ca. 120–140 Objekte) und beinhalten sowohl Kinder- als auch Erwachsenendinge. Weiterhin lassen sich in beiden Dingensembles Objekte zu den Themenkomplexen Spielzeug und Selbermachen finden, jedoch sind sie in ihrer Gewichtung und Zusammensetzung ganz verschieden. Damit lassen sie sich auch als Verweise auf jeweils anders grundierte Identitäten und soziale (Selbst-)Verortungen lesen. 310

14  Ludwig, Alltag, S. 73. 15  Anke Ortlepp: Alltagsdinge, in:

Samida/Eggert/Hahn (Hg.), Handbuch, S. 161–165, hier S. 162. 16  Jürgen Kocka: Sozialgeschichte, in:

Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 265–269, hier S. 266.

Familienabgabe I: Erzählter Mangel versus materielle Vielheit Die erste Dingansammlung, auf deren Spur die Registrierkasse von PIKO17 geführt hatte, umfasst rund 120 Objekte, die 2007 und 2009 als Dauerleihgabe abgegeben wurden.18 Die Familie, deren Objekte hier einen bruchstückhaften Einblick in ihre damalige Familiendingwelt geben, besteht aus vier Personen. Während der Vater der Familie Gubener ist, war seine Frau aus beruflichen Gründen Anfang der 1970er Jahre zugezogen. Sie lernten sich im Betrieb, einem Chemiefaserwerk, kennen, in dem er als Elektriker, sie als Chemielaborantin tätig war. 1974 folgte die Hochzeit des Paares, 1975 wurde ihr Sohn geboren, 1978 die Tochter. Das Paar hatte bereits vor seiner Hochzeit ein Eigenheim aus seiner Familie übernommen, das nicht nur verschuldet, sondern auch sanierungsbedürftig war. Insofern nahm das Paar mit dem staatlichen Ehe- auch einen Baumaßnahmenkredit in Anspruch, um die Instandsetzung des Hauses angehen und sich eine erste Grundausstattung an Möbeln leisten zu können. Darunter befanden sich eine Schlafzimmereinrichtung und eine Waschmaschine. Doch nicht nur die Sanierungsarbeiten am Haus, auch die Bewirtschaftung des großen Gartens als Nutzgarten zur Selbstversorgung und die Vereinbarkeit von Beruf, Haushalt und Familie werden als sehr beschwerlich beschrieben. Die finanziellen Verpflichtungen waren groß: Die Übernahme und Instandsetzung des Eigenheims und die Rückzahlung von Krediten bei relativ geringem Einkommen waren nur möglich, weil das Paar es verstand, umfangreiche Ausweichstrategien zu schaffen. Nur so konnten sie sich trotz knappen Familienbudgets stets gut ausstatten. 17  Vgl. den Beitrag der Verfasserin, »Was Mutti

macht, lernt man mit PIKO«?, in diesem Band. 18  Insgesamt wurden für die Objekte zu diesem

Konvolut 119 Inventarnummern vergeben, unter manchen Inventarnummern werden jedoch mehrere Objekte gelistet. Der Großteil der Objekte (Anzahl: 103) wurde im Frühjahr 2007 geschenkt und aufgenommen, im Sommer 2009 folgten weitere 16 Objekte. Leider stellte sich im Forschungsprozess heraus, dass die Familie noch weitere Objekte an das Museum hatte abgeben wollen, damalige Mitarbeiter aber nur ausgewählte Objekte angenommen hatten. Damit wird die partizipative Sammlungsstrategie des Museums in diesem Fall verfälscht, der Selektionsprozess für dieses Dingensemble muss damit als noch ausgeprägter eingeschätzt werden. Welche konkreten Auswirkungen das hat, kann nur vermutet werden, denn die Schenkenden konnten die nicht genommenen, aber angebotenen Dinge nicht mehr genau rekonstruieren. Da es sich bei den anderen angebotenen Dingen jedoch auch um Technikgeräte und Spielzeug gehandelt habe, ist zu vermuten, dass sich die Schwerpunkte des Konvoluts durch weitere Objekte nicht verlagert hätten.

Dieses zeigt sich auch in der an das Museum getätigten Abgabe, die zu mehr als 80 Prozent aus Kinderspielzeug für drinnen und draußen besteht. Damit ist sie die an Spielzeug reichste unter allen für das Forschungsprojekt ausgewählten. So finden sich vom Schaukelpferd aus Holz, diversen Spielen und Puzzles, Spielen für draußen (Federball, Buddelzeug), verschiedenen Plüschtieren und Puppen bis hin zu elektrischem und elektromechanischem Spielzeug Kinderdinge für Jungen und Mädchen in großer Zahl. Zwischen zahlreichen eher kleinen und günstigen Spielzeugen aus Plaste und Plüsch fallen vor allem ein ca. 75 cm großer Teddybär sowie kostspielige elektrische und elektromechanische Spielwaren wie die PIKO-Registrierkasse oder der Kinderkochherd von VEB Metallspielwaren Zöblitz auf. Anhand der Gestaltung, des verwendeten Materials oder auch recherchierter Herstellungszeiträume der Objekte kann eine zeitliche Einordnung vorgenommen werden: So stammen die Dinge mehrheitlich aus den 1970er und 1980er Jahren, was darauf hin311

weist, dass die Familie in diesem Zeitraum gegründet wurde. Die Zusammensetzung und der gute Erhaltungszustand der meisten Spieldinge lassen den Schluss zu, dass der Nachwuchs der Familie recht viel Spielzeug besaß und einiges in die Spielzeugausstattung investiert wurde. Im Material lässt sich bereits erkennen, was die Mutter der Familie später im Interview betont: Die Ausstattung der Kinder, sowohl mit Kleidung als auch mit Möbeln und Spielzeug, besaß für sie oberste Priorität. Auch aus einer selbst in der Kindheit erlebten Mangelerfahrung heraus habe man gewollt, »dass es [den Kindern] an Nichts fehlte […]!«19 Zu Weihnachten und Geburtstagen wurden die Kinder daher mit reichlich Geschenken ausgestattet, im Frühling gab es neues Spielzeug für draußen sowie Dreiräder, Fahrräder oder Roller. Hierfür griffen sie auch auf gebrauchte Gegenstände zurück, die sie Nachbarn oder Kollegen abkauften und aufarbeiteten. Zugleich wird verbalisiert, dass die Familie nur über wenig Beziehungen und ein kleines soziales Netzwerk verfügte. Westkontakte bestanden nicht: »Von drüben haben wir keine Beziehungen gehabt!«20 Das Fehlen eines, gerade für die Beschaffung von bestimmten Gütern in der DDR so wichtigen, weiten Be312

Abgegebenes Kaufmannsladenzubehör: PIKO-Registrierkasse samt Einkaufs­ körbchen aus ­Metall, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

19  Frau K. im Interview am 19. Ja-

nuar 2017 im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. 20  Herr K. im Gespräch am 30. Mai

2017 im Haus der Familie in Guben.

Sohn der Familie mit Weihnachtsgeschenken, darunter oben links die PIKO-Registrierkasse, Anfang 1980er Jahre (Foto: Privatbesitz).

ziehungsnetzes, das durch das Zugezogensein von Frau K. und die geringe Anzahl der vor Ort lebenden Familienangehörigen von Herrn K. bedingt war, wird dabei als großer Nachteil vor allem bei der Beschaffung von Gegenständen thematisiert: »Wer […] Beziehungen hatte, der hatte alles! […] Und wenn wir denn was wollten, und sind hingekommen, wir haben dann bloß noch die Reste abgekriegt.«21 Alternativ mussten besondere Anstrengungen unternommen werden, um an die gewünschten Dinge zu kommen: So berichtet das Paar mit großer Heiterkeit von einer Fahrt mit dem Moped nach Cottbus im tiefen Winter, wo sie im Konsument-Kaufhaus einen großen Teddybären kaufen wollten. Dieser Bär war das Weihnachtsgeschenk für ihren damals knapp neun Monate alten Jungen – »ist größer gewesen als mein Sohn!«22 – und begleitete die Familie viele Jahrzehnte, bis er schließlich als Teil der Dauerleihgabe an das Museum übergeben wurde.

21  Frau K. im Interview am 19. Januar 2017. 22  Ebd.

Trotz der als sehr angespannt beschriebenen finanziellen Lage der Familie gab es, so schildert Frau K., aber »bei uns immer viele Geschenke! Ich habe mir immer ganz doll Mühe gegeben für meine Kinder […]. [Weil] wir ja auch keine Möglichkeit hatten, 313

von Fremde[n] irgendwas zu kriegen oder so. Da bin ich wirklich immer auf Zack gewesen und habe versucht, meinen Kindern eben auch das Gleiche zu bieten […].«23 Durch diese den Kindern gebotene Ausstattung habe man sich von vielen anderen Familien in der Umgebung abgehoben. Innerhalb der Abgabe stehen jenem reichen Materialbefund an Spieldingen nur einige wenige Erwachsenendinge im Bereich Tech­nik gegenüber. Dabei gehörten die vier zu DDR-Zeiten hochpreisigen Fernsehgeräte24, wie der Familienvater im Schenker­ gespräch erzählt, zu seiner privaten kleinen Sammlung an DDR-­ Radio- und -Fernsehgeräten. In Auswahl abgegeben, weil die Familie die Geräte aufgrund eines Wasserschadens in den Lagerräumen nicht mehr adäquat verwahren konnte, stehen sie für die Technikaffinität und die Sphäre der Freizeitgestaltung des gelernten Elektrikers. Im Zusammenspiel mit der erzählten Familien­ biografie verweisen sie aber auch auf die Technikbegeisterung der ganzen Familie, denn die K.s waren begeisterte Hobby-­Schmal­ filmer. So drehten sowohl Frau als auch Herr K. seit ihrer Familiengründung kleine Filme und verewigten besondere Tage und Erlebnisse in einer Art Privatarchiv. Wie bei der Ausstattung der Kinder wird auch hier die Besonderheit des eigenen Hobbys betont, denn Schmalfilmen sei damals nicht so verbreitet und sehr 314

Der Teddy als jahrelanger Spielgefährte, vermutlich Ende 1970er/Anfang 1980er Jahre (Foto: Privatbesitz).

23  Frau K. im Gespräch am 30. Mai 2017. 24  »Stella 1001« (1968–1973, VEB Fernseh-

geräte Staßfurt), »Turnier 6« (1963–1965, VEB Rafena-Werke) »Sybille II« (um 1964, Fernsehgerätewerk Staßfurt) und »Patriot« (bis 1960, VEB Rafenawerke). Der handschriftlich eingetragene Modellname ist im Eingangsbuch des Museums schlecht lesbar, daher ist unsicher, ob es sich hierbei wirklich um das Gerät »Patriot« handelt, das bis 1960 produziert wurde. Der »Turnier 6« der Rafena-Werke kostete bspw. 1950 Mark. Siehe hierzu die Website www. radiomuseum.org, auf der Technikaffine aus der ganzen Welt Informationen zu Radiogeräten zusammentragen, https://www.radiomuseum. org/r/rafena_turnier_6_1171108_20001. html, letzter Zugriff: 14.02.2018.

Schmalfilmen als Familienhobby, Tochter und Vater der Familie mit Schmalfilmprojektor, 1980er Jahre (Foto: Privatbesitz).

25  Frau K. im Gespräch am 19. Januar 2017. 26  Hierzu weist das Konvolut weitere Dinge

auf: Neben der Nähmaschine lassen sich »Strickliesel«, eine Vorrichtung zur Anfertigung von Strickschnüren, ein Stickrahmen und ein Webrahmen für Kinder finden. Dabei erstrecken sich die beiden verdinglichten Erwachsenenbereiche Technik und Handarbeit bis in die Spielwelten der Kinder hinein: So zeugen die Anschaffung von elektrischem oder elektromechanischem Spielzeug und beispielsweise ein Webrahmen für Kinder davon, dass versucht wurde, die eigenen Interessen (Technikaffinität, Handarbeit, handwerkliche Fähigkeiten) und Aufgaben ins Kinderzimmer zu transportieren und den Kindern bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln.

kostspielig gewesen: »Wir waren auch […] in der ganzen Gegend die Einzigen, die sich das geleistet haben, das Hobby.«25 Neben der Anschaffung einer Kamera samt Leuchte und eines Projektors für das Abspielen wurden im Laufe der Jahre erhebliche Summen in die Filme und deren Entwicklung gesteckt. Dabei scheint die breite Ausstattung der Familie, die sich bruchstückhaft auch in der Sammlung niedergeschlagen hat, zunächst im Widerspruch zum in den Interviews fortlaufend thematisierten finanziellen Mangel zu stehen. Die Fülle an Familiendingen war jedoch nur mach- und bezahlbar, weil Kredite und Anleihen bei Freunden und Familie aufgenommen wurden und das Familienbudget durch das Selbermachen erheblich entlastet wurde. Dieser Umstand verdeutlicht, dass zwei Einkommen, anders als gemeinhin angenommen wurde, in diesem Fall eben nicht ausreichten, um ein auskömmliches Leben in der DDR zu führen. Neben dem Einmachen von angebautem Obst und Gemüse aus dem selbst bewirtschafteten Nutzgarten, das überwiegend der Selbstversorgung diente, nähte, strickte und häkelte die Schenkerin auch noch für Bekannte und Freunde, um die Haushaltskasse aufzubessern. Die Sphäre des Selbermachens materialisiert sich in dem abgegebenen Erwachsenending Koffernähmaschine »Veritas«.26 315

Nachdem die eigene, 1972 angeschaffte versenkbare Tischnähmaschine kaputtging, konnte die Koffernähmaschine in den 1980er Jahren von der Mutter der Schenkerin übernommen werden. Ein großes Glück, denn man hätte sich das damalige Spitzenmodell, das gut 1400 Mark kostete, nicht leisten können. Doch nicht nur das Objekt selbst trägt materiale Spuren und verweist damit auf den DDR-Hintergrund. Das Besitzen und Gebrauchen der Nähmaschine lässt zusätzlich Bezüge zum weiteren gesellschaftshistorischen Kontext zu, denn Selbermachen war eine der bekannten Strategien, um der Mangelwirtschaft beziehungsweise der schlechten Versorgungslage der DDR zu begegnen. Was aber ist nun anhand dieser, in diesem Fall besonders fragmentarischen, Dingansammlung, über die soziale Realität der DDR-Familie zu erfahren? Auf die Frage, wie es um ihre soziale (Selbst-)Verortung in der DDR stand, merkt das Paar retrospektiv an: »[…] da gab’s keine Unterschiede!«27 Die Ausstattung sei natürlich individuell verschieden gewesen: Der Betriebsleiter habe ebenso in der Platte gewohnt wie der Arbeiter, nicht selten habe der Arbeiter sogar eher einen Trabbi besessen als der Vorgesetzte, Armeeangehörige hätten besser verdient und daher andere Möbel kaufen können, aber, so Herr K.: »Beim Biertrinken ist es auch egal!«28 Im Gegensatz dazu wird jedoch nicht nur von der Ausstattung der Kinder oder dem Hobby Schmalfilmen als etwas Besonderem erzählt. In den Gesprächen klingt noch Weiteres an, das durchaus auf ein Sich-Abgrenzen der Familie anhand von und mit Materialitäten hinweist. Dazu zählt beispielsweise die eigene Ausstattung mit Möbeln beziehungsweise das Arrangement der Möbel. So beschreibt Frau K.: »Ich wollte nicht so wie alle! Ich war schon immer anders […] und habe mir auch ’ne andere Schrankwand ausgesucht gehabt.«29 Auch hier unternahm sie besondere Anstrengungen und fuhr extra nach Ost-­ Berlin, um dort die gewünschten Möbel auszuwählen und zu bestellen. Sie habe zudem mehrfach ihre Couch neu bezogen, die Lampen mit ähnlichem Stoff bespannt und gemeinsam mit ihrem Mann zur Schrankwand passende Beistelltische aus Regalbrettern gebaut. Stets habe sie großen Wert darauf gelegt, dass die Dinge aufeinander abgestimmt seien. Immer wieder klingt so an, dass Dinge und Dingbesitz zentrales identifikatorisches Moment vor allem in Frau K.s Lebenserzählung sind. Wollte die Familie mit anderen, die bessere Bedingungen durch Beziehungen und/ oder Westkontakte hatten, mithalten? Sind die Dinge also Ausdruck eines Strebens nach sozialem Aufstieg und damit Ausdruck einer materiell grundierten Identität? Zugleich ist insbesondere in Frau K.s Erzählungen aber auch ein Aufopferungsnarrativ auszumachen, denn die Dinge konnten in dieser Form eben nur unter 316

27  Frau K. im Gespräch am 30. Mai 2017. 28  Herr K. im Gespräch am 30. Mai 2017. 29  Frau K. im Gespräch im Dokumen-

tationszentrum am 19. Januar 2017.

großen Anstrengungen, zulasten der eigenen Zeit und Kraft und unter Aufbringung vieler Entbehrungen ermöglicht werden: »Ich habe eigentlich für mich gar nichts, nein, nicht eine Minute habe ich für mich gehabt. [Ich] habe immer nur gearbeitet. Immer!«30 Ihr Mann hingegen betont, wie gut man sich dennoch habe aufstellen können. Die Familie besaß stets Fernsehgeräte,31 ein von beiden genanntes zentrales Familiengründungsding. Das Paar fuhr zunächst ein »Jawa«-Motorrad und über die Jahre drei, stets gebrauchte und aufgearbeitete Autos der Marke Saporoshez.32 Auch das Wohnen im übernommenen Elternhaus, wenngleich es mit viel Arbeit, Mühen und hohen selbst zu tragenden Kosten einherging, stellte für Herrn K. einen Luxus dar: »Es stand ja immer die Frage [im Raum]: Will ich jetzt da [in eine Plattenbauwohnung] rein? Und das heißt, oben rechts, die zwei Fenster, das sind deine! Oder will ich hier […] mit Garten, habe ein Haus, wo ich zu jeder Zeit rein- und rausgehen kann und wo ich […] vier Eingänge und Ausgänge habe, wo ich […] zu jeder Zeit in den Garten ’rausgehen [kann]!«33 Es sei viel teurer gewesen, als in einem Neubau zu wohnen, aber der Nutzen für die gesamte Familie sei nicht zu unterschätzen gewesen. Frau K. betont hingegen, dass es »immens viel Arbeit« gewesen sei und: »[M]an musste viel zurückstecken auch!«34 30  Ebd. 31  Ab Mitte der 1980er Jahre besaß die Familie

sogar einen Farbfernseher, den sie sich vom Erlös des Autoverkaufs anschaffte und der rund 6500 Mark gekostet habe. Auch hier wird die Technikaffinität insbesondere von Herrn K. deutlich. 32  Die in der DDR unter »Saparosch« (eigent-

lich Saporoshez) oder »Sapo« bekannten Autos wurden seit 1960 in der Sowjetunion hergestellt und in die DDR importiert. Da die Qualität jedoch zu wünschen übrig ließ und sich die Modelle daher nur einer geringen Beliebtheit bei den DDR-Bürgern erfreuten, wurde der Import 1979 gestoppt. Somit waren in der DDR der 1980er Jahre, und damit auch für die Familie K., lediglich gebrauchte »Sapos« zu kaufen. Im Vergleich zum »Trabant« waren sie deutlich preisgünstiger und schneller zu bekommen, mussten aber oftmals häufig repariert werden. Vgl. zur Geschichte des »Saparosch« und seinen Mängeln auch https://www.mdr.de/ zeitreise/ddr/saporoshez108.html, letzter Zugriff: 28.03.2018. Die Familie ersetzte ihr Auto mehrmals durch ein etwas neueres Modell. 33  Herr K. im Gespräch am 30. Mai 2017. 34  Frau K. im Gespräch am 30. Mai 2017. An

dieser unterschiedlich formulierten Wahrnehmung des Alltags könnten beispielweise auch genderspezifische Zuschreibungen und Prozesse noch weiter untersucht werden.

So offenbart sich bei der genauen Analyse materialisierter und erzählter Lebensgeschichte insgesamt ein Bild von der sozialen Lage der Familie. Diese war sowohl geprägt durch einen Mangel an Finanzen als auch durch das Vorhandensein eines nur kleinen Beziehungsnetzwerks, was dazu führte, dass besonders große Anstrengungen unternommen werden mussten, um sich materiell gut auszustatten. Familienabgabe II: Ein vielfältig ausgestatteter DDR-Alltag Ganz anders stellt sich sowohl die damalige familiäre Situation als auch die Schenkungszusammensetzung im zweiten ausgewählten Fall dar. So unterscheidet sich die Schenkung vor allem deswegen von der ersten, weil das Verhältnis von Erwachsenen- und Kinderdingen genau umgekehrt ist. Unter den rund 140 zwischen 2002 und 2009 geschenkten Objekten der in einem kleinen brandenburgischen Dorf nahe der polnischen Grenze lebenden Familie L. sind nur vereinzelt Kinderdinge zu finden, darunter das Spiel »Lustige Hüte« (SPIKA, VEB Plasticart Annaberg-Buchholz), eine Unterlage für einen Wickeltisch mit Landschafts- und Tiermotiven, eine braune Pittiplatschfigur aus Kunststoff für EVP 6,80 M und ein defekter Spielzeugbauernhof. Ein im Eingangsbuch mit »Kleid« eingetragenes Objekt entpuppt sich bei der Suche im Depot als Kinderkleid, doch damit erschöpft sich der Kindheits317

Selbst genähtes Damenkleid, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

objektanteil in dieser Schenkung bereits. Der restliche Teil des Konvoluts besteht aus Hausrat, Heimwerkerobjekten, mehrheitlich aber aus Kleidungsstücken. Damit sind die in der ersten Abgabe ausgemachten Bereiche Selbermachen und Kinderdinge zwar ebenso erkennbar, werden hier aber noch flankiert von zahlreichen Erwachsenendingen aus den Bereichen Hausrat, Heimdekoration und Kleidung. Rund die Hälfte des Konvoluts besteht aus geschenkter Kleidung: von gekauften und selbst genähten Kleidungsstücken aus Ost und West, Kleidern, Arbeitskitteln, Gürteln und intimen Dingen wie Nacht- und Unterwäsche bis hin zu starke Gebrauchsspuren aufweisender Kleidung. Nur wenig Kinderkleidung, wie beispielsweise eine Kinderschürze, findet sich darunter. Die Größen der für Männer und Frauen bestimmten Kleidungsstücke sind auf eingenähten Etiketten ablesbar, was deren industrielle Fertigung erkennen und Rückschlüsse auf den DDR-Kontext zulässt. Ebenso geben sie Hinweise auf mögliche Körpergröße und Statur der ehemaligen Besitzenden: Die TrägerInnen waren schlank und von durchschnittlicher Größe. Des Weiteren sind folgende Auffälligkeiten am Material zu finden: Der starke Verschmutzungsund Abnutzungsgrad einiger Kleidungsstücke spricht dafür, dass es sich hierbei um Arbeitskleidung handeln könnte. Die zweite Besonderheit liegt darin, dass sich einige selbst genähte Damenkleider in dem Konvolut befinden. So weisen diese keine Etiket318

Jeanshemd aus einem Westpaket mit Aufdruck »U.S. ARMY«, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

ten auf oder sind angesichts unregelmäßigerer Nahtführung als selbst gemacht einzuordnen. Eine dritte Auffälligkeit sind zwei Jeanshemden, eines davon von der Firma »Levi’s«, eines mit der Aufschrift »U.S. Army«, die laut Vermerk im Eingangsbuch des Museums aus einem »Westpaket« in den familiären Besitzstand gekommen sind. Im Vergleich zur beschriebenen stark abgenutzten Kleidung sind die Jeanshemden in einem sehr guten Zustand. Dieser pflegliche Umgang mit den West-Hemden lässt auch auf den Wert schließen, den sie für die Besitzenden hatten. Dabei ist die spezifische Zusammensetzung aus gekaufter und selbst genähter Kleidung, die Vermengung von Stücken wie den augenscheinlich besonderen, wenig abgenutzten, mehrheitlich selbst genähten Kleidern und benutzten, Spuren tragenden Arbeitsstücken durchaus ein Hinweis auf das Leben der Familie in der DDR. So nähte man offensichtlich auch selbst oder ließ nähen, um dem bekannten Mangel an schönen Kleidungsstücken zu begegnen, besaß West-Kontakte und integrierte die hierüber erhaltenen West-Dinge in die eigenen Dingwelten. Die Funde der verschmutzen und als Arbeitskleidung interpretierten Stücke verweisen darüber hinaus auf das Selbermachen und Heimwerken, zu dem sich noch weitere Objekte im Konvolut finden lassen: beispielsweise zehn abgegebene Tapetenreste sowie ein Set Strumpfstricknadeln und ein Reißverschluss zum 319

Einnähen. Gerade Reißverschlüsse waren oftmals Mangelware in der DDR und wurden daher vielerorts gehortet. Die beiden letztgenannten Objekte sind dabei vermutlich Frau L. zuzuordnen und würden bestärken, dass sie, wie viele DDR-Frauen, mithilfe von Nähmaschine, Strick- und Häkelnadeln Kleidung auch selbst herstellte. Die abgegebenen selbst genähten Kleider würden diese Annahme stützen. Daneben geben die gut 40 Objekte zum Thema Hausrat und Heimdekoration einen weiteren Einblick in die damaligen Dingwelten der Familie: Campingbesteck und Reisefön als Verweise auf die jährlich gemachten Reisen der Familie, Tortenheber oder auch (selbst gemachte?) Häkel- und Strickdeckchen. Da im Vergleich zum ersten Konvolut vor allem aufgefallen war, dass sich unter all den geschenkten Dingen nur wenige Kinderdinge befinden, galt es zu fragen: Ist Familie hier nicht, wie bei Familie K. der Fall, das zentrale identifikatorische Moment? Im Zusammenspiel aus materialisierter und erzählter Lebens­ geschichte ergibt sich jedoch, dass Familie durchaus der zentrale Bezugspunkt gewesen ist. Jedoch wurden die Kinderdinge mehrheitlich behalten, statt, wie bei Familie K., ins historisch Bewahrenswerte überführt und an ein Museum gegeben. Die Bedeutsamkeit der Kinderdinge, die zudem auch weiterhin, durch die Enkelkinder, benutzt werden und daher nicht funktionslos geworden sind, drückt sich hier also vielmehr im Behalten aus.35 Vor allem zeigt die Lebenserzählung aber auch, dass das alltägliche (Familien-)Leben anders strukturiert war als bei Familie K.: Herr und Frau L. stammen aus dem Dorf, in dem sie heute noch leben und damals ihre Familie gründeten (Hochzeit 1981, im gleichen Jahr Geburt der Tochter, 1982 Geburt des Sohns), und waren hier ganz anders vernetzt, als es die K.s in der Kleinstadt waren. Da beide, Herr und Frau L., kinderreichen Familien entstammen und viel Familie vor Ort ansässig war/ist, lebten sie eingebunden in ein großes familiäres Netzwerk, von dem sie in vielerlei Hinsicht, so auch materiell, profitieren konnten. Zum einen wohnten sie bis zum Einzug in ihr Eigenheim Anfang der 1990er Jahre mietfrei im Hause von Herrn L.s Vater und dessen Frau, was es Frau L. nach der Geburt der Kinder ermöglichte, insgesamt vier Jahre zur Kinderbetreuung daheimzubleiben.36 Durch zahlreiche Kontakte konnten viele Dinge, die im Dorf und im Umland schwer zu bekommen waren, organisiert werden. Ansonsten seien auch ihre Berufe (er war Autoschlosser, sie Uhrmacherin) von »gutem Tauschwert« gewesen.37 Mangel, wie er in der Erzählung von Familie K. stets thematisiert wurde, wird nur am Rande beschrieben, und man habe diesem mit dem Selbermachen, einer bereits in den Herkunftsfamilien erlernten Strategie, gut begeg320

35  Einige der Dinge sind auch überarbeitet und

in die heutige Dingwelt eingepasst worden: so ein Kinderstuhl, dem durch eine selbst genähte Husse mehr Modernität verliehen wurde, oder ein Kindertisch, der zu einem Beistelltisch im Wohnzimmer umfunktioniert wurde. Viele andere DDR-Dinge, wie ein Teil der vom Ehekredit angeschafften Couch oder ein DDR-Radio im »Party-Keller«, sind immer noch in Gebrauch und im heutigen Wohnraum des mittlerweile allein lebenden Paares zu finden oder lagern auf dem Dachboden. 36  Frau L. schildert, dass sie aufgrund der nah

aneinander liegenden Geburten ihrer Kinder nahtlos von einem ins nächste Mütterjahr übergegangen sei. Zwei Jahre habe sie so anteilig noch Geld erhalten, dann zwei Jahre aber kein Einkommen mehr gehabt. Finanzierbar sei das u. a. gewesen, weil man keine Miete habe zahlen müssen und die Familie nahe bei ihnen lebte. 37  So habe sich bspw. Herr L. abends

noch ab und an in die Garage gestellt und Reparaturen vorgenommen.

nen und so die Grundversorgung an Nahrung oder Kleidung aufbessern können. Kleidung spielt nicht nur in der Schenkung, sondern auch in der mündlichen Lebenserzählung der Schenkerin eine große Rolle: So wurde beispielsweise beim gemeinsamen Durchsehen alter Familienfotoalben stets betont, wie gut die Kinder angezogen seien und dass die Mischung aus DDR- und selbst genähter Mode sehr schön gewesen sei. Ebenso berichtet die Schenkende, dass sie an ihrer Arbeitsstelle stets ein bisschen »schicker« gekleidet gewesen sei, was das Nebeneinander von alltäglichen und eher schicken Kleidungsstücken auch im Konvolut erhellen kann. Die Schenkungsmotivation wird nicht direkt geäußert, aber es wird angenommen, dass die Kleidungsstücke abgegeben wurden, weil sie aus dem Gebrauch genommen und aus der Mode gekommen waren und zudem sowohl Herr L. als auch Frau L. nach dem Ende der DDR nicht mehr in ihren alten Berufen tätig waren. Der Familienalltag zwischen Kinderbetreuung (die Kinder gingen in einen wenige Kilometer entfernten Ort in den Kindergarten), Haushalt, Hausbau (ab Mitte der 1980er Jahre), Berufstätigkeit (hierfür pendelte Frau L. mit dem Zug in die näher gelegene Kleinstadt) und auch der Selbstversorgung (Nähen, Stricken) bewegte sich in ähnlichen Bahnen wie der der Familie K. Jedoch wird rückblickend der Alltag als weitaus weniger entbehrungsreich oder mühevoll geschildert. Es erscheint geradezu so, als sei ihr Leben in der DDR unbehelligt von vielen Schwierigkeiten gewesen, die Familie K. aus ihrem damaligen Alltag erinnerte. Auch habe Geld für Familie L. nur eine untergeordnete Rolle gespielt: »Ich bin eigentlich immer schon – wir sind eigentlich ’ne Familie […], die (.) sich nicht nach Geld ausrichtet. Wir sind schon immer zufrieden, mit dem, was […] wir haben und wie es ist!«38 Sicherlich liegt dies vor allem darin begründet, dass sie so gut eingebunden in sozialen und vor allem großfamiliären Strukturen lebten, dicht vernetzt und materiell dadurch gut ausgestattet waren. So erscheint die Bewältigung des Alltags hier vielmehr als ein Mitversorgen, während bei Familie K. vor allem das beschwerliche und mühsame Einzelkämpferdasein samt Beschaffungsmaßnahmen geschildert wird.

38  Frau L. im Gespräch am 24. Fe-

bruar 2017 im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

Abschließend soll festgehalten werden, dass die Dinge und Dingensembles bei der Abgabe für Verschiedenes standen: Einerseits verweisen sie damit auf heutige beziehungsweise zum Zeitpunkt der Abgabe retrospektive Bewertungen des damaligen eigenen DDR-Alltags. Da nur bestimmte Dinge abgegeben wurden, sind diese heute zwar für die Schenkenden entbehrlich; sie sind aber zugleich bedeutsam, weil sie als erinnerungswürdig für das eigene 321

Leben in der DDR eingestuft wurden und daher in ausgewählten Dingensembles an das Museum übergeben wurden, statt entsorgt zu werden. Somit trägt die materialisierte und auch erzählte soziale Verortung immer auch Züge eines Sich-selbst-Verortens. Andererseits finden sich auch zahlreiche Hinweise darauf, was aus dem jeweiligen Alltag in der DDR erinnert werden soll und was den Alltag ausmachte. So will Frau L. dabei die Vielfalt und auch die Ästhetik ihres Familienalltags – vergegenständlicht in den vielfältigen Kleidungsstücken für Erwachsene aus West und Ost, gekauft und selbst genäht – erinnert wissen. Familie selbst oder Familiengründung materialisiert sich in ihren Abgaben nur am Rande, was aber nicht heißt, dass diese für ihren DDR-Alltag weniger wichtig gewesen wäre. Vielmehr erscheint das Leben in und mit der (Groß-)Familie wie ein Subtext, etwas Mitlaufendes, Selbstverständliches, das auch im Material keiner besonderen Betonung bedarf. Anders stellt sich die Situation bei Familie K. dar: Hier schlägt sich im Material der hohe Stellenwert nieder, der der Ausstattung der Kinder und der eigenen Kleinfamilie eingeräumt wurde. Allerdings konnten die zahlreichen Materialitäten damals nur unter großen Anstrengungen ermöglicht werden, denn der Familienalltag war sowohl von einem Mangel an Geld als auch durch das Fehlen eines größeren sozialen Netzwerks geprägt. Die Erzählungen rund um Dingbeschaffungen waren damit nicht nur im damaligen Familienleben selbst viel präsenter als bei Familie L. – auch in den retrospektiven Narrationen zum Familienalltag schlagen sich diese viel stärker nieder. Die abgegebenen Dinge stehen hier daher für einen entbehrungsvollen, arbeitsreichen DDR-Familienalltag, der nur bewerkstelligt werden konnte, weil man zahlreiche Ausweich- und Selbermachstrategien entwickelt hatte. Fazit Familiengründung selbst materialisierte sich, wie diese Exploration gezeigt hat, in den Beständen des Dokumentationszentrums nur in seltenen Fällen direkt. Das liegt vor allem darin begründet, dass viele Familiengründungsdinge entweder bereits entsorgt und ersetzt, weitergegeben oder aber auch behalten wurden. Die jeweilige Familiengründung samt ihrer Dingwelt kann also anhand des Materials nur indirekt erschlossen werden. Aus diesem Grund gerieten hier die als Familiendinge bezeichneten Objekte als Schlüssel zu vergangenen Ding- und Lebenswelten mit spezifischen Gebrauchs- und Bedeutungszusammenhängen in den Fokus. Zentral dabei war, dass sich Hinweise auf die spezifische soziale Situation der Familien auch in den Abgaben an das Museum materialisierten. Die Analyse dieser materialisierten Erzählungen mitsamt den erzählten Lebensgeschichten vermochte es so, exemplarisch 322

ein Bild davon zu zeichnen, wie Anpassungs- und Abgrenzungsmechanismen anhand von und mit Materialitäten in der späten DDR-Gesellschaft vollzogen wurden. Familie ist dabei, wie anhand der zwei ausgewählten Abgaben gezeigt wurde, in beiden Lebenserzählungen zentraler Bezugspunkt, jedoch materialisiert sich diese unterschiedlich. Zugleich zeigte sich, dass sich die Bedeutsamkeit von Dingen nicht nur im Abgeben an eine die Dinge bewahrende Kulturinstitution, sondern eben auch im Behalten ausdrücken kann.

323

Etikett Lausitzer Süßmost, VEB Lausitzer Früchtekombinat Sohland, 1961, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

FLÜCHTIGE DINGE EINE VERPACKUNGSAMMLUNG ANDREAS LUDWIG

1  Eichstädt, J. Pietsch: Wie kann die Qualität

der Konserven-Etiketten verbessert werden, in: Die Verpackung 4 (1963), H. 3, S. 19 f. Vgl. auch Anordnung über die Etikettierungspflicht, vom 15. Mai 1960, in: Gesetzblatt der DDR (GBl. der DDR) 1960, Teil I, S. 378. 2  Standardgrundmaß 80 × 120 cm, auf Grund-

lage eines Abkommens über die Austauschbarkeit von Transportverpackungen zwischen europäischen Eisenbahngesellschaften im Jahr 1961, heute bekannt als Europalette. 3  Zentrale Arbeitsgruppe im Institut für

Werbemethodik (Hg.): Die Grundzüge der sozialistischen Werbung in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (DDR) 1960.

1961 beklagte die Zeitschrift »Die Verpackung« die Einfallslosigkeit von Konservenetiketten und erhob mit Hinweis auf die bevorstehende Verbreitung von Selbstbedienungsgeschäften die Forderung, der Verpackung von Waren mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Dazu gehörten die »farbenfrohe, inhaltsbetonte bildliche Darstellung einiger Früchte«, vereinheitlichte Inhaltsangaben und genormte Etikettenformate.1 Standardisierung und gestalterische Aufmerksamkeit für den werbenden Charakter von Produkt­ verpackungen sind die beiden Seiten einer offiziellen Konsumorientierung, die in der DDR nach dem V. Parteitag der SED 1958 eingesetzt hatte und die vor dem Hintergrund einer zeitgleich angestrebten Handelsmodernisierung durch Selbstbedienung an Bedeutung gewann. Für etwa ein Jahrzehnt kam es zur Entwicklung zahlreicher Normen, bei der so gut wie jede Verpackung eine eigene TGL (Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen) erhielt und die in der Übernahme der internationalen Maßeinheiten für Transportverpackungen2 gipfelte. Dies führte zur gestalterischen Überarbeitung von Verpackungen und Etiketten. Fachzeitschriften wie die 1960 gegründete »Die Verpackung. Zeitschrift für neuzeitliches Verpackungswesen« und das »Mitteilungsblatt Standardisierung Verpackung« (1961–1967) auf der technischen Seite, aber auch »form+zweck«, seit 1957 zunächst als Jahrbuch, ab 1964 als Zeitschrift erschienen, und die bereits seit 1954 erscheinende »Neue Werbung. Fachzeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Werbung« widmeten sich dem Thema Produktverpackung. In den Industriezweigen, vor allem in den Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB), wurden professionell ausgebildete Gebrauchsgrafiker eingestellt, Werbeabteilungen und Normierungsausschüsse gebildet, etwa die »Leitstelle zur Standardisierung Verpackungen aus Papier und Karton«. Vor diesem Hintergrund fand in den 1960er Jahren eine Verdichtung des Interesses an Verpackungen statt, die den Blick auf diese Produktkategorie des Alltags lenkt. Beim Kauf von Dingen waren und sind sie oft vordergründiger Anreiz und ebenso eine Entscheidungs- und Orientierungshilfe. Im Laufe der Nutzung der Dinge, die sie anpreisen und schützen sollen,3 werden sie jedoch schnell verschlissen, wenn nicht gleich weggeworfen. Sie sind deshalb flüch­tige Dinge, denen zumeist auch wenig Wert beigemessen wird.

Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Verpackungen in Museumssammlungen oft eine randständige Existenz führen. Der folgende Beitrag geht, ausgehend von einer berufsbedingten Beispielsammlung im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, den Verpackungen als »Gesicht« der Warenwelt und ihrem zeitgeschichtlichen Kontext nach. Berührt wird das Grenzgebiet zwischen Industrie und Gestaltung, weshalb in einzelnen Abschnitten der wirtschafts-, konsum- und kulturgeschichtliche Hintergrund ausgeleuchtet wird. Doch zunächst zum Sammler selbst und der Provenienz der Verpackungssammlung. Der Sammler Heinz Weber wurde 1929 geboren und arbeitete nach dem Abitur zunächst in einer Werbeagentur. Nach einer Lehre als Plakatmaler war er bei der staatlichen HO und in der Organisation der Konsumgenossenschaften als örtlicher Werbeleiter tätig. Durch den »Konsum« wurde er dann Anfang der 1950er Jahre zum Studium an die Fachschule für Grafik, Druck und Werbung4 in Berlin-Oberschöneweide delegiert. Nach Studienabschluss gingen seine Frau5 und er nach Leipzig. Nach Tätigkeiten als Werbeassistent in der Papiermaschinenfabrik Freiberg und Typograf der Zeitschrift »Fotofalter« beim VEB Fotokinoverlag Halle wurde er Berater bei der VVB (Vereinigung Volkseigener Betriebe) Verpackung und war Mitglied im Arbeitskreis Verpackungsmittel in Leipzig, dem Gutachtergremium für neue Verpackungsentwürfe. Aus dieser Tätigkeit ging auch seine Sammlung hervor, die er aus Interesse dauerhaft weiterverfolgte. Weber arbeitete später an der Universität Leipzig, wo er 1973 aus politischen Gründen entlassen wurde. Er arbeitete anschließend freiberuflich, teils an gemeinsamen Projekten mit seiner Frau Ruth.6 Provenienz 37 Plakate, 61 Schachteln und Banderolen sowie 176 Etiketten für Gläser, Flaschen und Dosen hat der Leipziger Gebrauchsgrafiker Heinz Weber im Kontext seiner Berufstätigkeit beim Gutachterausschuss der VVB Verpackung Leipzig als Beispielsammlung für, seinem Urteil nach, gutes Design zusammengestellt. Die Sammlung deckt einen Zeitraum von etwa 30 Jahren ab und dokumentiert die Entwicklung der Gestaltung vor allem von Etiketten von den frühen 1960er bis in die 1980er Jahre. Einige der Sammlungsobjekte sind rückseitig kommentiert, so dass sie Gestaltern zugeordnet werden können, die sonst meist anonym geblieben sind. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt Anfang der 1960er Jahre und spiegelt die damalige Modernisierung des Verpackungswesens nach dem V. Parteitag der SED, auf die weiter unten genauer eingegangen wird. Im Zuge dieser auf die Steigerung und Moderni326

4  1892 als städtische Handwerkerschule

gegründet und 1932 als Höhere Graphische Fachschule Berlin profiliert. Die Fachschule wurde 1967 in Fachschule für Werbung und Gestaltung umbenannt und 1993 abgewickelt. 5  Biografische Angaben Ruth Weber

siehe http://www.leipziger-biographie. de/edE, letzter Zugriff: 16.01.2018. 6  Biografische Angaben nach einem gemeinsam

mit Helga Lieser durchgeführten Interview mit Heinz und Ruth Weber v. 26. Mai 2005 sowie einem Schreiben von Frau Weber v. 24. Januar 2018. Anlass des Interviews war ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt über die Konsumgenossenschaften in der DDR.

Dosenetikett Heringsfilet in Tomaten-Joghurtsoße, VEB Fischverarbeitung RostockMarienehe, um 1962. Gestaltung: H.E. Männel, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

Dosenetikett Heringsfilet in Pilztunke, VEB Fischverarbeitung RostockMarienehe, Anfang 1960er Jahre, Gestaltung: unbekannt, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

sierung der Konsumgüterproduktion ausgerichteten Politik entstanden neue Verpackungsgestaltungen, die im Folgenden an drei Beispielen aus der Sammlung Weber gezeigt werden.

7  Fisch in Dosen, in: Neue Werbung

1964, H. 12, S. 30 f., hier S. 30.

Fischdosen Hering, Makrele, Sardinen und Thunfisch sind ein verbreitetes Konsumgut, das als pasteurisierte Konserve haltbar gemacht und oft in flache, ovale Dosen verpackt wird. Etiketten verweisen auf den Inhalt und die hier angeführten Beispiele entstammen einer gestalterischen Modernisierung, die von der Werbeabteilung der VVB Hochseefischerei in Auftrag gegeben wurde. Während zuvor naturalistische oder symbolhafte Darstellungen des Inhalts üblich waren, wurde die Gestaltung zu Beginn der 1960er Jahre »flächig und farbenfreudig«.7 Dies gilt besonders für den Entwurf eines Etiketts, das mit der Meeresfarbe blau und einem grafisch gestalteten Fisch den Grundton bestimmt. Neben Angaben zu Gewicht, Preis, Herstellerbetrieb, Haltbarkeitsdatum und dem Signet des Herstellers wird die Geschmacksrichtung durch ebenfalls stilisierte Darstellungen von Tomate, Zwiebel und Kräutern visualisiert. Beim zweiten Beispiel steht die Gestaltung des Fischs im Vordergrund. Sie ist naturalistischer, der Fisch auf den ersten Blick als Hering erkennbar und die Geschmacksrichtung »Pilz« durch eine dominierende braune Farbgebung kenntlich gemacht. 327

links: Gewürzbeutel für Piment, Konsum-Gewürzmühle Schönbrunn, nach 1962, Gestaltung: »G«; der Gestalter konnte nicht ermittelt werden, Dokumentationszentrum Alltags­kultur der DDR. rechts: Gewürzbeutel für Muskatnüsse, Thurm und Wunder Nachf., Böhlitz-Ehrenberg b. Leipzig, vor 1964, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

Die neue Etikettengestaltung steht in zeitlicher Verbindung mit einer Werbeoffensive der VVB Hochseefischerei, die wiederum auf einer verbesserten Fischversorgung beruhte. Ab 1960 verfügte die DDR über Verarbeitungsschiffe, die den Fischfang im Atlantik ermöglichten. In der Folge wurde Fisch mit dem Slogan »Fisch auf jeden Tisch« als förderlich für die Gesundheit beworben und ein fröhlicher anthropomorpher Hering als Werbefigur eingesetzt.8 Zugleich agierte der Werbeleiter der VVB Hochseefischerei zwischen 1960 und 1972 als »Fischkoch« im DDR-Fernsehen.9 Wie lange die hier vorgestellte Gestaltung der Fischkonserven Bestand hatte, ist nicht genau nachzuvollziehen. Ein Werbeblatt der Fischindustrie von 1967 jedenfalls zeigt wieder eine weniger grafische als vielmehr naturalistische, auf Farbfotografien beruhende Gestaltung ihrer Produkte.10 Gewürzbeutel Ebenfalls aus dem Beginn der 1960er Jahre stammt eine Sammlung von Gewürzbeuteln, in der alte und neue Gestaltungen zusammengestellt sind. Sie zeigen den Inhalt, wie auch beim obigen Beispiel, grafisch und in einer leicht abstrahierten Weise hervorgehoben und auf einem farbigen Untergrund. Einzig der Gewürzname, der Preis, das Gewicht und das Herstellersignet sind zusätzlich angegeben, so dass die Entwürfe sehr klar, beinahe reduziert erscheinen. 1962 wurde in der Zeitschrift »Die Verpackung« die neue Gestaltungslinie vorgestellt,11 die sowohl in neutraler Ausführung als auch für die wichtigsten Gewürzmühlen der DDR eingeführt wurde. In der Sammlung befinden sich Beutel ohne Herstellerangabe sowie solche mit dem Signet der Konsum-­Gewürzmühle Schönbrunn.12 Ein Gegenbeispiel sind die gleichfalls in der Samm328

8  Die auf dieser Werbefigur basierende Werbe-

kampagne ist 1960 bis 1964 in zahlreichen Publikumszeitschriften nachzuweisen. 9  Simone Tippach-Schneider: Das große

Lexikon der DDR-Werbung. Kampagnen und Werbesprüche, Macher und Produkte, Marken und Warenzeichen, Berlin 2002, S. 103 f. 10  Fischkonserven aus dem Sil-

ber des Meeres, Werbeblatt, 6-seitig, VVB Hochseefischerei 1967. 11  Bildseite, in: Die Verpackung 1962, H. 1, S. 2. 12  Konsum-Gewürzmühle Schönbrunn,

1873 als Privatbetrieb gegründet, 1948 enteignet, von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) den Konsumgenossenschaften zugeschlagen.

Volumenverpackungen für für ­Makkaroni und Spaghetti, Muster: Makkaroni, Kon­ sum-Teigwarenfabrik Riesa, vor 1964; Mildensteiner Eier-Spaghetti, Helmut Rücker KG Teigwarenfabrik Seisnig/Sa.; »Anker« Eier-Makkaroni, VEB (K) AnkerTeigwarenfabrik, Löbau, Sachsen, 1962; Zeitzer Eier-Spaghetti, VEB (K) Zeitzer Lebensmittelindustrie, Zeitz, vor 1964; Schmidt Eier-Makkaroni, Chemnitzer Teigwarenfabrik Hugo Schmidt KG, Zschopau (Erzgeb.), vor 1964; »Burg« Eier Makkaroni, Otto Fischer, Maccaroni- und Eierteigwarenfabrik KG, Dohna (Kr. Pirna), 1962, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

329

lung zusammengetragenen Gewürztüten eines privaten Betriebes,13 die in ihrer figürlich-situativen Gestaltung auf die jeweilige Herkunftsregion der Gewürze verweisen, indem sie das Gewürz jeweils einem Menschen in die Hand geben. Obwohl diese Hervorhebung des Exotischen im Vergleich altmodisch anmutet und auf der seit dem späten 19. Jahrhundert verbreiteten Bewerbung für »Kolonialwaren« beruht, sind die Verpackungen in etwa zeitgleich im Handel gewesen, wie die Preisangabe in DM zeigt. Die Gestaltungen des Jahres 1962 wurden ab den 1970er Jahren jedoch von neuen abgelöst, die zwar zumeist weiterhin dem Prinzip der Pflanzendarstellung folgten, aber durch eine Vielzahl von Produktangaben das Erscheinungsbild verwässerten. Nudelverpackungen 1963 tagte der »Arbeitskreis Verpackungsmittel« bei der VVB Verpackungsmittel Leipzig, um über die Einführung genormter Verpackungen für Teigwaren zu diskutieren, mit dem Ziel, eine »optimal ausgerichtete sozialistische Produktion« zu erreichen.14 Ausgangspunkt, und dies zeigt das auf den Nudelverpackungen angebrachte Signet, war die Einführung standardisierter, sogenannter »Volumenverpackungen« für Schüttgüter wie Mehl, Zucker oder Reis, die nun auch auf Teigwaren angewendet werden sollten. Kritisiert wurde in dieser Debatte um Normung und Standardisierung die bis dahin herrschende Gestaltungsvielfalt, die, so hieß es, den weitgehend identischen Produkten nicht entsprechen würde, verbunden mit der nicht näher ausgeführten Erwartung, dass sich die Zahl der damals 22 Teigwarenproduzenten in der DDR durch »Profilierung« wohl verringern würde. Hintergrund war die historisch gewachsene Struktur dieser Lebensmittelbranche, die 150 Verpackungsgrößen bewirkte, die nun auf nur noch acht Größen reduziert werden sollten.15 Die Sammlung enthält Verpackungsbeispiele der konsumgenossenschaftlichen Nudelproduktion in Riesa, Erfurt, Magdeburg und Cottbus sowie staatlicher und privater Produktionsbetriebe aus den Jahren zwischen 1962 und 1964, wie die unterschiedlichen, auf den Packungen aufgedruckten Haltbarkeitsdaten und Preisangaben ausweisen.16 Die Verpackungen wurden offenbar im Rahmen der Gestaltungs- und Normierungsdiskussion im Arbeitskreis Verpackungsmittel als Muster verwendet, wie ein Herstellerstempel verrät. Auffallend ist die vorwiegend auf Schrift beruhende Gestaltung, die lediglich durch die Darstellung einer Terrine für Suppeneinlagen durchbrochen wurde. In der Debatte über geeignete Entwürfe von Teigwarenverpackungen wurden jedoch stilisiert-bildhafte Entwürfe diskutiert, die sich vor allem auf 330

13  Fa. Thurm und Wunder Nachf.,

Böhlitz-Ehrenberg b. Leipzig. Die Firma produzierte bis 1972 und war dann Teil der VEB Gewürzmühle Leipzig-Markrahnstädt. 14  Werner Miersch: Nudeln, Mak-

karoni, Spaghetti …, in: Neue Werbung 1963, H. 8, S. 24–27. 15  Horst Bohnefeld: Einführung der Volumen-

verpackung lohnt. Auch die Teigwarenindustrie ist zur Volumenverpackung übergegangen, in: Mitteilungsblatt Standardisierung Verpackung 1963, H. 7, S. 11–13, S. 11. 16  Die Währungsbezeichnungen in der DDR

lauten bis 1964 DM, 1964 bis 1967 MDN (Mark der Deutschen Notenbank) und ab 1967 M.

Volumenverpackung für Teigwaren, ­Muster, Konsum-Teigwarenfabrik ­Erfurt, nach 1964, Dokumentationszentrum ­Alltagskultur der DDR.

den Eiergehalt der Nudeln bezogen.17 Die grafisch-stilisierten Verpackungen wurden bereits Ende der 1960er Jahre wieder aufgegeben, als für die gesamte Teigwarenindustrie der DDR eine Einheitsverpackungsserie entwickelte wurde, auf der fertige Gerichte im Farbfoto abgebildet waren.18

17  Realisiert durch den Hersteller Möwe-­

Nudeln mit Abbildung eines aufgeschnittenen Eis, vgl. Verpackung für Teigwaren, in: Die Verpackung 1962, H. 2, S. 13. 18  Horst Bonkas: Neue Verpackungsfamilie

für Teigwaren, in: Die Verpackung 1969, H. 2, S. 52 f. Zusätzlich wurden Klarsichtbeutel aus Polyethylen oder Zellglas üblich. 19  ZK der SED und Ministerium für Handel

und Versorgung (Hg.): Durch sozialistische Gemeinschaftsarbeit im Handel zur mustergültigen Versorgung der Bevölkerung. Handelskonferenz des ZK der SED und des Ministeriums für Handel und Versorgung im Leipzig am 30. und 31. Juli 1959, Berlin (DDR) 1959.

Verpackungsfragen Hintergrund der intensiven Auseinandersetzung um eine zeitgemäße und der sozialistischen Konsumpolitik angemessene Verpackung, wie sie sich in der hier beschriebenen Sammlung widerspiegelt, war einerseits der kontinuierliche Mangel an Verpackungsmaterialien, der sich bis 1989 in Form von »Behelfsverpackungen« zeigte, und andererseits die Einführung der Selbstbedienung ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Die mit ihr verbundene Mischung aus Rationalisierung und Modernität, also von ökonomischen und kulturellen Gesichtspunkten, ist das konsumpolitische Signum der späten 1950er und der 1960er Jahre, das sich auch in Warenverpackungen zeigte. Ausgehend vom konsumpolitischen Kurs des V. Parteitages der SED 1958, der eine Steigerung der Produktion von Konsumgütern zum Kern hatte, wurde die Verpackungsindustrie zu Rationalisierung und Normierung gezwungen. Auf der vom ZK der SED und dem Ministerium für Handel und Versorgung organsierten Handelskonferenz, die am 30./31. Juli 1959 in Leipzig stattfand, wurde als Rationalisierungsweg unter anderem die Einführung von Selbstbedienungsgeschäften beschlossen, die bis 1961 die Hälfte des Einzelhandelsumsatzes bei Lebensmitteln realisieren sollten.19 Geschäftsausrüstungen, Registrierkassen, aber auch neu gestaltete 331

Warenverpackungen als »stumme Verkäufer« wurden notwendig und mögliche Lösungen auf einer nachfolgenden »Lehrschau der Standardisierung« vom 15. November bis 20. Dezember 1959 in Leipzig vorgestellt.20 Dort präsentierte sich unter anderem die Verpackungsindustrie mit dem Plan, standardisierte Verpackungen einzuführen. An der kommenden Standardisierung der Verpackungen wirkte eine Reihe von Akteuren mit, so die Staatliche Plankommission, bei der eine Arbeitsgruppe Verpackungsmittel gebildet wurde, der Industriezweig VVB Verpackungsmittel Leipzig, das Institut für Verpackung und Papierverarbeitung Dresden, das Deutsche Amt für Material- und Warenprüfung (DAMW) und das Institut für angewandte Kunst. Die Überarbeitung von Verpackungen betraf Lebensmittel und industrielle Konsumgüter, die Indus­ trie, den Einzel- und den Großhandel sowie die unterschiedlichen Verpackungsmaterialien wie Karton, Glas, Holz, Metalle und Kunststoffe. Dies belegt auch die systematische Dokumentation in der 1960 neu gegründeten Zeitschrift »Rationalisierung Verpackung«. In einem einführenden Beitrag erläuterte der Hauptdirektor der VVB Verpackung, Erich Schuppe, dass angesichts des bestehenden Wirrwarrs nun eine »neue Entwicklungsperiode in der Verpackungswirtschaft« entstehe. Maßstab sei einerseits der Entwicklungsstand in der Bundesrepublik, andererseits die Modernisierung des Binnenhandels der DDR, deren Auswirkungen nicht mehr auf Betriebsebene zu lösen seien, sondern nur durch eine »radikale Standardisierung«.21 In drei Verordnungen wurden die Rahmenbedingungen festgelegt, unter anderem 1958 die Verantwortlichkeit der Produzenten für die Warenverpackung und die Einbeziehung in den Plan als letzte Stufe der Produktion 196522 sowie die Etikettierungsplicht.23 Jenseits dieser eher technisch-organisatorischen Regelungen setzten Überlegungen über die Auswirkungen ein, die Verpackungen im neuen Umfeld des Selbstbedienungsgeschäfts haben würden. Hier wurde auf die werbende und »erzieherische« Wirkung der Warenverpackung abgezielt, also gestalterische Fragen, die bereits 1957 zur Bildung einer Abteilung Verpackungsgestaltung beim Institut für angewandte Kunst führten,24 und im gleichen Jahr eine Verpackungsausstellung in Berlin organisiert wurde.25 Die Forderung lautete, das Verpackungswesen zu einem Teil der sozialistischen Kultur zu entwickeln.26 Die Umsetzung auf einer konkreteren Ebene setzte mit einer Ist-Analyse ein. So stellte die Zentralstelle für Werbung der Lebensmittelindustrie fest, dass es für zwei Weizenmehlsorten 250 unterschiedliche Bezeichnungen gebe, insgesamt 3600 verschiedene Etiketten für alkoholfreie Ge332

20  Sch.: Standardisierungsschau, in:

Neue Zeit, 14. Oktober 1959, S. 6. 21  Erich Schuppe: Ziele und Auf-

gaben der Verpackungswirtschaft, in: Die Verpackung 1960, H. 1, S. 4. 22  Anordnung über die Prüfung und Ver-

wendung von Packmitteln. Vom 19. Juli 1958, in: GBl. der DDR 1958, Teil I, S. 631 f.; Anordnung über die Planung, Leitung und Organisation des Verpackungswesens. – Verpackungsordnung – Vom 1. Juli 1965, in: GBl. der DDR 1965, Teil III, S. 96–101. 23  Neue Anordnung über die Etikettie-

rungsplicht, in: Neue Zeit, 25. Juni 1960. 24  Horst Giese: Verpackungsstrategien,

in: form+zweck 1977, H. 6, S. 7–9. 25  Aufruf, in: Neue Werbung 1957, H. 2, S. 3. 26  Georg Rahm: Verpackung – Dienst

am Verbraucher, in: Jahrbuch Forum und Zweck 1958/59, S. 52–62, hier S. 56.

tränke bei lediglich acht unterschiedlichen Sorten, was den 900 bestehenden Herstellerbetrieben geschuldet sei, sowie 320 unterschiedliche Etiketten für Mineralwasser.27 Während Einigkeit über eine notwendige Neugestaltung herrschte, konkurrierten unterschiedliche Akteure um die Meinungshoheit über das neue »Aufgabenfeld Verpackungsgestaltung«. Seitens der Werbefachleute wurde dafür geworben, Verpackungen als Mittel der »Bedarfslenkung« zu interpretieren.28 Gut gestaltete Verpackungen würden einerseits Vertrauen in die Produkte schaffen und seien andererseits notwendig, um der Ware im Umfeld des Selbstbedienungsgeschäfts Geltung zu verschaffen. Deshalb seien nur noch professionell ausgebildete Gebrauchsgrafiker mit der Verpackungsgestaltung zu betrauen, so die Forderung.29 Während diese Argumente seitens der Mitarbeiter des Instituts für Werbemethodik bei der DEWAG30 eher grundsätzlicher Art waren und zugleich auf ein Interesse der DEWAG an Aufträgen in diesem Arbeitsfeld schließen lassen, bildeten die Vereinigungen Volkseigener Betriebe ihre eigenen Verpackungsausschüsse unter Einbeziehung von Werbefachleuten und Gestaltern. Wettbewerbe um die »Beste Verpackung des Jahres«, ab 1962 durchgeführt, präsentierten konkrete, von einer Jury als vorbildlich eingestufte gestalterisch-praktische Entwürfe.31

27  Klaus Schmidt: Von Apfelgetränk bis Zucker.

Standardisierte Verpackungen kommen auf den Markt, in: Neue Werbung 1964, H. 12, S. 27–29. 28  Gerhard Dietrich: Werbemethodische

komplexe Gestaltung von Verpackungen, in: Die Verpackung 1963, H. 3, S. 24 f. 29  Peter Günter: Verpackung Werbung

Verkauf – eine untrennbare Einheit, in: Die Verpackung 1961, H. 5, S. 21–23. 30  Deutsche Werbe- und Anzeigengesell-

schaft, ein Betrieb der SED. Das Institut für Werbemethodik bestand 1956–1962, vgl. Tippach-Schneider, Lexikon, S. 150–152. 31  W. Schuster: Der Wettbewerb um die

beste Verpackung des Jahres, in: Die Verpackung 1962, H. 5, S. 10–15. Vgl. auch Aufruf zur Durchführung des überbetrieblichen Wettbewerbes um die Schaffung der besten Verpackung des Jahres, in: Standardisierung Verpackung, H. 7, Januar 1963, S. 27; Peter Meerheim: »Beste Verpackung« des Jahres 1963, in: Neue Werbung 1964, H. 5, S. 28–31.

Im Kontext dieser Debatte um angewandte Gestaltung ist die hier beschriebene Sammlung von Verpackungsmaterialien entstanden. Sie zeigt, über ein berufliches und persönliches Interesse hinaus, den historischen Kontext einer durch Standardisierungsziele angestoßenen, intensiv geführten Debatte um ein funktionelles und modernes Erscheinungsbild grundlegender Produkte des Massenbedarfs im Spannungsfeld zwischen Standardisierung und produktadäquater Ästhetik. Es stellt sich abschließend die Frage, inwieweit diese für die späten 1950er und die frühen 1960er Jahre typische funktionale Haltung die Warenwelt der DDR nachhaltig geprägt hat. Zahlreiche Beispiele für Verpackungsgestaltungen aus späteren Jahren, die sich in den Sammlungen des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR erhalten haben, zeigen eine ästhetische Akzentverschiebung hin zum Dekor und zum Einsatz von »realistischer« Farbfotografie, auf die bereits oben in Bezug auf Teigwarenverpackungen hingewiesen wurde. Ganz offenbar ist die Mehrzahl der in der Museumssammlung erhaltenen Warenverpackungen späteren Datums oder die oben gezeigten Neugestaltungen der frühen 1960er Jahre hatten nicht die Bedeutung, die durch die hier diskutierte Sammlung suggeriert wird. Andererseits verweisen Fotografien von »Kaufhallen« auf diese zurückhaltenden 333

Verpackungen. In der Rückschau32 der Jahre nach 1990 schienen DDR-Verpackungen aus der Zeit gefallen, aber dies verweist jenseits des mit dieser Charakterisierung verbundenen negativen Urteils vor allem auf die für die DDR typische Vorgehensweise anlassbezogener Modernisierungsschübe. Die Sammlung von Etiketten und Verpackungen entstand aus einem solchen Modernisierungsprojekt, in das der Sammler beruflich eingebunden war. Für die Museumssammlungen bedeutet ein solches Konvolut Erkenntnisgewinn und Blickschärfung zugleich. Ohne die berufsbezogen ausgelöste Sammlung eines Zeitgenossen wäre die Kenntnis über Produktverpackungen und ihre historische Kontextualisierung in dieser Dichte kaum möglich, da es sich um zwar zeitgenössisch werbewirksame, aber doch um Wegwerfartikel handelt. Mithin sind Warenverpackungen in Museen auch wenig gesammelt worden, sie sind eine Art »Beifang« musealer Sammlungstätigkeit. Zugleich dient eine Sammlung wie die hier vorgestellte der Blickschärfung, indem sie verbreitete Urteile über die Gestaltungsarmut von Warenverpackungen aus der DDR 334

Getränkekartons, Sammlung Weber im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

32  Georg C. Bertsch, Ernst ­Hedler,

Matthias Dietz: SED. Schönes Einheits Design, Köln 1990.

korrigiert und auf die Bedeutung der Gebrauchsgrafik für ein zeittypisch intendiertes und anlassbezogenes Erscheinungsbild verweist. Zu konstatieren bleibt an dieser Stelle aber auch das anhaltende Interesse des sammelnden Gebrauchsgrafikers, der sich der Bedeutung von Warenverpackungen im Alltag bewusst blieb und später unter anderem bei Spaziergängen an der Ostseeküste angeschwemmte Getränkeverpackungen aufgelesen und in seine Sammlung integriert hat. Eine sammelnde Dokumentation des Möglichen.

335

Schrankwand, Marx-Möbelfabrik Friedrichroda, Foto: Foto-Spelda, Tabarz. Druckvorlage Werner Sütterlin, 1972, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

WOHNKULTUR EIN SELBSTZEUGNIS DER AUFBAUGENERATION ANDREAS LUDWIG

Hinter dem Grauschleier drucktechnischer Auszeichnungen wird das Arrangement einer zeitgemäßen Wohnzimmerausstattung sichtbar: eine Schrankwand mit kräftig gemustertem Holzfurnier, bestückt mit einem Fernsehgerät, dessen Gehäuse eine passende Holzmaserung aufweist, auf ihm ein Strauß Trockenblumen arrangiert, einige Bücher, dekorative Elemente von der Elefantenskulptur bis zur Gießkanne, ein Sessel und ein Zeitschriftenständer. Zusammen ergeben sie ein Szenario der Behaglichkeit und des moderaten Komforts. Alle Ingredenzien eines Programms privaten Wohlbehagens sind in dieser Fotografie vereinigt. Sie war für eine Veröffentlichung zur Wohnkultur, organisiert nach den gängigen Typenprojekten des industriellen Wohnungsbaus der DDR, vorgesehen, die jedoch nicht erscheinen konnte. Der Verfasser, Werner Sütterlin, war im Jahr zuvor von seiner Position als Chefredakteur der Zeitschrift »Kultur im Heim« aus politischen Gründen zurückgetreten und unterlag seitdem einem Publikationsboykott.1

1  Werner Sütterlin: Erläuterungen zum

Manuskript »Praktisches Wohnen« (1971/72), handschriftl., v. 10. Januar 1997. Alle nicht anders gekennzeichneten archivalischen und Bildmaterialien befinden sich im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Sammlung Sütterlin.

Die Fotografie und das Manuskript »Praktisches Wohnen«, zu der sie gehört, sind Teil einer umfangreichen Schenkung des Verfassers an das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, die mit dem Wunsch verbunden war, das Museum als Ort langfristiger kultureller Bewahrung für eine Rehabilitation der Intentionen und der praktischen Tätigkeit seiner Generation in der DDR zu nutzen. In mehreren Abholungen, begleitenden Gesprächen sowie einem Interview wurde deutlich, wie stark die berufliche Tätigkeit des Tischlers, Innenarchitekten und Redakteurs mit den jeweiligen Zeitumständen verbunden war und wie sehr das eigene Tun als Teil des Aufbaus einer neuen Gesellschaft, die er zu überzeugen trachtete, interpretiert wurde. Dieses im Folgenden vorgestellte Konvolut aus Fotografien, Zeichnungen, Texten und Objekten ist eine dichte Dokumentation über die Entwicklung einer materiellen Kultur des Wohnbereichs über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren. Es ist zugleich ein Ego-Dokument, das die Tätigkeit des Schenkers in der DDR als Akteur im Sinne einer DDR-spezifischen, mit dem Kulturargument konnotierten Vorstellung von Lebensweise dokumentiert.

Biografie Werner Sütterlin gehörte der sogenannten Aufbaugeneration der DDR an.2 1929 als Sohn des Magdeburger Fotografielehrers Karl Sütterlin geboren, absolvierte er ab 1946 eine Lehre als Bau- und Möbeltischler und verdiente anschließend seinen Lebensunterhalt als Radiobastler, bevor er ab 1950 an der Fachschule für angewandte Kunst Magdeburg3 Innenarchitektur studierte. Noch während des Studiums kam Sütterlin 1953 als Praktikant an die Redaktion der Zeitschrift »Holz und Wohnraum«,4 die er im Auftrag des Berliner Verlags Die Wirtschaft unter dem neuen Titel »Möbel und Wohnraum«5 als eine Handwerk und Industrie gleichermaßen berücksichtigende Fachzeitschrift konzipierte. Hier wurde er zum verantwortlichen Redakteur und entwickelte mit Kollegen 1956 im Zuge der aufkommenden Diskussion über industrielle Formgestaltung die Zeitschrift »Kultur im Heim«,6 der er bis 1971 als Chefredakteur vorstand. Der Titel der Zeitschrift war programmatisch: Publiziert werden sollten gestalterisch gelungene Beispiele aus der DDR-Produktion von Möbeln und den unterschiedlichsten Wohnaccessoires, mit dem Ziel einer Erziehung zum Geschmack. Dieses Ansinnen kommt in vielen Beiträgen der Zeitschrift zum Ausdruck. Als Chefredakteur und als Verfasser einiger weit verbreiteter Publikationen über praktische Fragen des Einrichtens und der Selbsthilfe im Heim war Sütterlin der zentrale Akteur der Propagierung eines modernen Wohnund Lebensstils in der DDR. Wie Sütterlin in seiner »Chronik des Wohnens« berichtet,7 war der Grund seines Ausscheidens eine Kontroverse um die zu publizierenden Inhalte. Mit der Anordnung von 1971, nur noch im Fachhandel der DDR erhältliche Produkte zu publizieren, ging der kulturell-erzieherische Charakter der Zeitschrift verloren, eine Linie, die Sütterlin nicht mitging. Die Schenkung Das hier vorgestellte Schenkungskonvolut enthält neben Ausgaben der Zeitschriften »Kultur im Heim«, »Holz und Wohnraum«, »Möbel und Wohnraum« sowie »Magazin für Haus und Wohnung« auch Manuskripte zur Überarbeitung für Neuauflagen von Veröffentlichungen, an denen Sütterlin beteiligt war, darunter das »ABC des Wohnens« und »Praktikus«, Letzteres zusammen mit Max Pause, einem der leitenden Mitarbeiter der Zeitschrift »Magazin für Haus und Wohnung«. Übergeben wurden weiterhin Konsumgüter, deren gestalterische Qualität den Schenker überzeugt und die er sich gleichsam begleitend zu seiner beruflichen Tätigkeit angeschafft hatte. Sütterlin hat diesen Teil der Schenkung in detaillierten Listen dokumentiert und teilweise mit Hinweisen auf die gestalterische oder konsumgeschichtliche Bedeutung der jeweiligen Objekte versehen. Hinzu kam 338

2  Vgl. zur generationellen Schichtung der DDR

vgl. Hartmut Zwahr: Umbruch durch Ausbruch und Aufbruch: Die DDR auf dem Höhepunkt der Staatskrise 1989. Mit Exkursen zu Ausreise und Flucht sowie einer ostdeutschen Generationenübersicht, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 426–465, S. 450. 3  Vgl. Norbert Eisold: Die Kunstgewerbe- und

Handwerkerschule Magdeburg. 1793–1963, in: Die Kunstgewerbe- und Handwerkerschule Magdeburg 1793–1963 (Ausstellungskatalog), Magdeburg 1993, S. 15–51. 4  Holz und Wohnraum, erschienen

1953 im Fachbuchverlag Leipzig. 5  Möbel und Wohnraum, Verlag Die

Wirtschaft Berlin, 1953–1991. 6  Alle Angaben aus dem Interview von

Petra Gruner und Andreas Ludwig mit Werner Sütterlin, 1. September 1995. 7  Werner Sütterlin: Chronik des Woh-

nens in der DDR – 1953 bis 1960, Ms., 20 S., undatiert (ca. 1997).

eine Sammlung von Plakaten sowie Fotografien des Vaters Karl Sütterlin, Lehrer für Fotografie an der Gewerbeschule Magdeburg. Schwerpunkt der Schenkung ist jedoch eine Sammlung von mehr als 600 Fotografien aus der Redaktion der Zeitschrift »Kultur im Heim«. Sie zeigen die typologische und ästhetische Entwicklung von Möbeln in den 1950er und 1960er Jahren ebenso wie deren Zuordnung zu den verschiedenen Typen des industriellen Wohnungsbaus der DDR vor Einführung der dann dominierenden Typen »P 2« und »WBS 70«. Die Schenkung von Werner Sütterlin an das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR erfolgte in mehreren Schritten zwischen 1995 und 1998 und war, wie er im Gespräch betonte, als Akt der Sicherung eines inzwischen historischen Zeitabschnitts gestalterisch ambitionierter und innovativer Möbelherstellung im Sinne einer DDR-spezifischen Moderne8 gedacht. Modernisierung Die Neugründung einer Zeitschrift für Wohnkultur in den Jahren 1956/57 steht in engem Zusammenhang mit zwei Modernisierungsvorgängen in der DDR, der Abkehr von der Architektur der »Nationalen Tradition«,9 einer Stilvorgabe, wie sie Sütterlin noch während seiner Ausbildung praktiziert hatte, und der damit verbundenen Industrialisierung des Bauwesens sowie der Industrialisierung der Möbelindustrie, die eine Professionalisierung der Gestaltung zur Folge hatte.

8  Interview Sütterlin, S. 15. 9  Idealtypisch in der Berliner Stalinallee

und in der Neuen Stadt Eisenhüttenstadt verwirklicht, vgl. dazu ausführlich Werner Durth, Jörn Düwel, Niels Gutschow: Architektur und Städtebau der DDR, 2 Bde., Frankfurt am Main/New York 1998. 10  Berliner Zeitung, 14. November 1953.

Dieser Modernisierungsschub führte zu einer Typisierung im Wohnungsbau, die auch einschneidende Konsequenzen für den Möbelbau hatte. Dies betraf zunächst den Stil des Mobiliars und die Vorstellungen einer zeitgemäßen Wohnkultur im Sozialismus. In der Ausstellung »Besser leben – schöner wohnen!«, die im November 1953 am Berliner Alexanderplatz gezeigt wurde, hatte man noch den direkten Vergleich zwischen historischen Stilen und einer als zeitgemäß betrachteten Stilrichtung für Möbel gezogen, deren Beispiele von der Deutschen Bauakademie, der volkseigenen Möbelindustrie und dem Handwerk bereitgestellt wurden.10 Diese Festlegung auf eine an historischen Stilen orientierte Innenarchitektur, die eine, wenn auch späte, Auswirkung der sogenannten Formalismusdiskussion der frühen 1950er Jahre war, hatte verbindlichen Charakter, indem sie durch einen Ministerrats­ beschluss festgeschrieben war. In ihm hieß es: Die Innenarchitektur der Wohnungen für die Werktätigen und der gesellschaftlichen Bauten gewinnt im Zusammenhang mit dem neuen Kurs besondere Bedeutung. Die ständige Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung verlangt auch auf dem Gebiete des archi339

Werner Sütterlin: Entwurfszeichnung für eine Wohnzimmerausstattung, 1952, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

tektonischen Innenausbaus sowie der Gestaltung von Möbeln, Beleuchtungskörpern, Textilien usw. grundlegende Verbesserungen. Die […] Qualität der Möbelproduktion entspricht nicht den Anforderungen. Besonders stark tritt in der gesamten Innenarchitektur der kunstfeindliche Formalismus auf, der die nationalen Traditionen der Innenarchitektur und der Möbelkunst mißachtet.11

Anhand einer begleitenden Publikation12 wird deutlich, dass die Neuentwürfe der Möbelindustrie vor allem am Klassizismus und am Biedermeier orientiert waren – beide wurden als progressives Erbe interpretiert –, ausgiebig von Dekoren und Intarsien Gebrauch machten und Wohnungen bürgerlichen Zuschnitts mit eigenem Arbeits- und Speisezimmer zugrunde legten, wie zeitgleich im Referenzprojekt des Neubaus der Berliner KarlMarx-Allee entstanden. Diese Möbel wurden indes von den Verbrauchern kaum geschätzt und so setzten sich gleichsam unter der Hand weniger dekorative Modelle durch, die der offiziellen Kunstdoktrin widersprachen.13 340

11  Aus dem Beschluß des Ministerrates

über die neuen Aufgaben der Innenarchitektur und der Möbelindustrie vom 21. Januar 1954, in: Deutsche Bauakademie, Ministerium für Leichtindustrie (Hg.): Besser leben – schöner wohnen!. Raum und Möbel, o. O., 1954, S. 103–110, hier S. 103. 12  Ebd.; zur Ausstellung S. 75 ff. 13  Andreas Lauber: Wohnkultur in der

DDR. Dokumentation ihrer materiellen Sachkultur. Eine Untersuchung zu Gestalt, Produktion und Bedingungen des Erwerbs von Wohnungseinrichtungen in der DDR, Eisenhüttenstadt 2003, S. 52 f.

Die zweite Modernisierung betrifft die Möbelindustrie. Sie war traditionell stark zersplittert und produzierte in den 1950er Jahren noch weitgehend auf handwerklicher Basis. In der DDR bestanden 1956 nur 612 Möbel produzierende Industriebetriebe, jedoch 17.000 Handwerksbetriebe.14 Diese kleinteilige Struktur des Industriezweigs widersprach der Forderung nach einer vermehrten Produktion von Konsumgütern, wie sie im Juni 1953 im sogenannten Neuen Kurs formuliert worden war, jedoch auch der Notwendigkeit, für Neubauten geeignete, schlanker dimensionierte Möbel in großen Serien herzustellen. Während eine durchgreifende Mechanisierung und damit Massenfertigung erst im Verlauf der 1960er Jahre erfolgte, zeigten sich erste Ansätze einer Hinwendung zur seriellen Fertigung und damit indirekt zu einer Neuinterpretation der Möblierung bereits frühzeitig. Ab 1953 wurden zentrale Entwicklungsbüros der Möbelindustrie, seit 1955 in allen Bezirken der DDR Wohnraumberatungsstellen und schließlich eine Kommission für Formgestaltung der Möbelindustrie beim Ministerium für Leichtindustrie eingerichtet.15 In diesen Zusammenhang der Propagierung einer neuen »Wohnkultur« und der Entwicklung eines den Realitäten angepassten Produktangebotes fällt die Gründung der Zeitschrift »Kultur im Heim«.

14  Ebd., S. 26. Bis 1963 änderte sich dieses

Verhältnis nur unwesentlich, es bestanden 350 Volkseigene Betriebe, 260 halbstaatliche Betriebe, 250 Privatbetriebe, 420 Produktionsgenossenschaften des Handwerks und immer noch 10.900 reine Handwerksbetriebe, vgl. ebd., S. 28. 15  Im Interview verweist Sütterlin explizit auf

diesen Modernisierungszusammenhang als Hintergrund für die Gründung von »Kultur im Heim« sowie als Grundlage enger Kooperationsbeziehungen zwischen Herstellern und Redaktion, vgl. Interview Sütterlin, S. 15. 16  Werner Sütterlin: Ärgerliches!, in:

Kultur im Heim 1962, H. 4, S. 39.

Erziehung zum Geschmack »Guten Geschmack kann sich niemand kaufen!«16 Dieses Zitat aus einer Philippika Werner Sütterlins gegen die Gedankenlosigkeit des Möbelhandels bringt die Intention und die Komposition der Zeitschrift »Kultur im Heim« auf den Punkt. Sie war zu gleichen Teilen dem Versuch einer Geschmacksbildung wie dem Versuch einer Einflussnahme auf die Möbelproduzenten verpflichtet, verstand sich also als Vermittlungsinstanz, die die Entwicklung der ökonomischen Voraussetzungen in der DDR ebenso berücksichtigte wie die internationalen Trends im Bereich der Wohnkultur, die in »Kultur im Heim« regelmäßig veröffentlicht wurden. Dies wird bereits aus dem Editorial einer »Nullnummer« deutlich, die anlässlich der Leipziger Herbstmesse 1956 von der Redaktion der Zeitschrift »Möbel und Wohnraum« erstellt worden war: Viel wurde gebaut in unserem ersten deutschen Arbeiter-und-BauernStaat. Keine Paläste, keine Mietskasernen, sondern Häuser, die in ihrer Architektur unsere Lebensfreude steigern, moderne Wohnungen, in denen der Werktätige Kraft für den neuen Arbeitstag schöpfen kann. Über die Außenarchitektur und die Grundrissgestaltungen wird seit Jahren eine rege Diskussion mit der Bevölkerung geführt. Die Innenarchitektur kam dabei bisher in der Öffentlichkeit zu kurz. Doch ist hier vieles getan worden, um auch die Wohnräume und Einrichtungsgegenstände unserem neuen gesellschaftlichen Leben anzupassen. An341

Darstellung zum Siebenjahrplan auf der Leipziger Messe, um 1960, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

gesichts der großen Perspektiven, die die 3. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands unserem Volk gegeben hat, ist es doppelt notwendig, alle Werktätigen mit unserem Streben nach einer realistischen Wohnkultur vertraut zu machen.17

17  Zum Geleit, in: Kultur im Heim,

Sonderheft der Redaktion »Möbel und Wohnraum«, 1956, Sonderheft 2, S. 2. 18  Interview Sütterlin, 1. September 1995, S. 17.

Wie diese neue »realistische« Wohnkultur aussehen sollte, war nach Auskunft des späteren Chefredakteur Sütterlin noch unklar. »Kultur im Heim« entwickelt sich letztlich experimentell und aus einer kritischen Haltung gegenüber den geltenden Geschmackskonventionen heraus. Die Beiträger gehörten wie der Chefredakteur einer Generation nach 1949 ausgebildeter Fachleute an,18 die den Innovationsschub mittrugen und zugleich von der Hinwendung zur verstärkten Konsumgüterproduktion im Neuen Kurs und später durch die Festlegungen im Siebenjahrplan19 profitierten. Mit Jahresbeginn 1957 erschien »Kultur im Heim« regelmäßig mit vier Ausgaben pro Jahr. Die Hefte waren trotz einer hohen Startauflage von 100.000 Exemplaren20 »Bückware« und wurden als Einrichtungsratgeber genutzt. Inhalte wie Titelgestaltung spiegelten während der 1950er und 1960er Jahre Konstanten, aber auch 342

19  Gesetz über den Siebenjahrplan zur Entwick-

lung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik in den Jahren 1959 bis 1965, v. 1. Oktober 1959, in: Der Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks des Volkes, Berlin (DDR) 1959, S. 159–312. Eine vorrangige Produktionssteigerung u. a. von Möbeln, bedingt durch das Planziel des Neubaus von knapp 700.000 Wohnungen und deren Ausstattung mit Einbauküchen, S. 169, S. 254. 20  Interview Sütterlin, S. 17; die Auflage im Jahr

1988 betrug 360.000 Exemplare und lag damit im unteren Drittel der Publikumszeitschriften, vgl. Dietrich Löffler: Publikumszeitschriften und ihre Leser. Zum Beispiel: Wochenpost, Freie Welt, Für Dich, Sibylle, in: Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«. Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999, S. 48–68, S. 50. Sütterlin, S. 10, gibt die Auflagenhöhe für die späten 1950er und die 1960er Jahre mit 220.000 an.

Kultur im Heim, Sonderheft 2, erschienen zur Leipziger Herbstmesse 1956, Titelseite; Kultur im Heim 1965, H. 3, Titelseite.

eine Verschiebung der Prioritäten wider: Die Zeitschrift berichtete über neue Produkte von Möbeln über Tapeten bis zum Porzellan, gab aber auch Einrichtungsbeispiele und widmete sich den Möglichkeiten individueller Wohnraumgestaltung, für die sie zahlreiche kunstgewerbliche Accessoires wie Vasen oder ­Ziergestecke ­vorschlug. Es handelte sich mithin nicht um eine »Möbelzeitschrift«, sondern um ein Geschmack vermittelndes Unternehmen, das stark von den Vorstellungen der Redaktion geprägt war. Besonders die Titelseiten der einzelnen Hefte21 geben einen Eindruck von einer zeitgenössischen Kultur im Heim, die teilweise wie Traumbilder eines privaten Dingarrangements wirkt. Das Erscheinungsbild kulturvollen Wohnens, ja eines dezidierten Willens zum »guten Geschmack«, bildlich dargestellt im sorgfältigen Arrangement des Raums, änderte sich jedoch bereits im Verlauf der 1960er Jahre schrittweise hin zu einer nüchternen Abbildung neuer Einrichtungsstücke.

21  Einige Bildvorlagen haben sich

als Großdias im Format 18 × 24 cm in der Sammlung erhalten. 22  Letztmalig in Heft 2/1971 als

Chefredakteur aufgeführt.

Werner Sütterlin verließ die Redaktion von »Kultur im Heim« im Jahre 197122 aufgrund einer veränderten kultur-, konsum- und werbepolitischen Strategie, nach der nicht besprochen werden durfte, was nicht in ausreichendem Maße für die Bevölkerung zur Verfügung stand. Im Interview verwies Sütterlin zudem auf die knappe Warendecke, die bei Möbeln durch eine hohe Exportquote begründet war und die das DDR-Binnenangebot beein343

trächtigte.23 In der Tat wird bei der Durchsicht von »Kultur im Heim« deutlich, dass das Warenangebot stagnierte und die Produktion der seit den späten 1960er Jahren eingeführten »wandfüllenden« Kombinationsmöbel24 und Schrankwände noch nicht dem Bedarf entsprach. Ab Jahresbeginn 1971 veröffentlichte die Zeitschrift eine Serie von Einrichtungsvorschlägen für die gängigen Typen des industriellen Wohnungsbaus, die vom Leiter der Berliner Wohn­beratung und Mitglied des Redaktionsbeirats, ­Herbert ­Nowakowski, erarbeitet worden war. Wie es scheint, handelte es sich um eine Art Notmaßnahme, die mit dem Wechsel in der Chefredaktion zusammenhing und mit der man sich offenbar Zeit für die Entwicklung einer neuen Ausrichtung der Zeitschrift verschaffen wollte. In einer redaktionellen Notiz verwies der Verfasser darauf, dass die aufgeführten Möblierungsbeispiele bis zu zwölf Jahre alt und die Möbel deshalb teils nicht mehr im Handel erhältlich seien.25 Entgegen der Intention, den Lesern neue Entwicklungen in der DDR und Einblicke in internationale Trends zu bieten, musste sich »Kultur im Heim« mit den Mängeln der Konsumgüterindustrie auseinandersetzen. Alles in allem ließ sich das Profil der Zeitschrift damit nicht mehr aufrechterhalten und der Wechsel auf der Position des Chefredakteurs war dafür nur ein Indiz. Praktisches Wohnen Werner Sütterlin arbeitete nach seinem Ausscheiden aus der Redaktion von »Kultur im Heim« als Innenarchitekt im Institut für Wohnungs- und Gesellschaftsbau an der Bauakademie der DDR. Er hat, jenseits seiner grundsätzlichen Stellungnahmen zur Wohnkultur, immer auch die praktische Seite des Sich-Einrichtens mit den verfügbaren Möglichkeiten im Blick gehabt und, teils gemeinsam mit Kollegen, mehrere Ratgeberbücher für Selbsthilfe in der Wohnung veröffentlicht, unter anderem das »ABC des Wohnens«, »Rat und Tat«26 und den »Praktikus«, der bis 1980 16 ständig aktualisierte Auflagen erlebte.27 Einer dieser Ratgeber ist die oben erwähnte nicht veröffentlichte Schrift »Praktisches Wohnen«, die von besonderem Interesse ist, weil sie sich eng an die gängigen Neubautypen der DDR anlehnte. Erhalten haben sich zwei Ordner, die das Manuskript und den Abbildungsteil der geplanten Publikation in ihrer für den Verlag vorgesehenen Ordnung enthalten. Neben Fotografien zu Möblierungsvorschlägen enthalten sie stereometrische Raumskizzen und Grundrisslösungen, also ein komplettes Einrichtungs­programm. Manuskriptordner wie die über die geplante Publikation »Praktisches Wohnen« bilden jedoch nur einen Teil der Sammlung. Wer344

23  Interview Sütterlin, S. 19 f. Ähnliches Vor-

gänge werden auch über die Zeitschrift »Guter Rat« berichtet, vgl. Torben Müller: Vom Westen lernen, heißt improvisieren lernen. Guter Rat – eine sozialistische Verbraucherzeitschrift, in: Barck/Langermann/Lokatis (Hg.), »Mosaik«, S. 69–76, S. 69. Offensichtlich hatte es jedoch schon zuvor Probleme mit staatlichen Stellen gegeben, die Sütterlin auf den veränderten kulturpolitischen Kurs zurückführt, der auf dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 beschlossen worden war. Vgl. Günter Agde (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991. 24  Vgl. Andreas Ludwig: »Hunderte von

Varianten«. Das Möbelprogramm Deutsche Werkstätten (MDW) in der DDR, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), H. 3, S. 449–459. 25  Vgl. u. a. Kultur im Heim 1971, H. 1, S. 44. 26  Autorenkollektiv unter Leitung von Werner

Sütterlin: Rat und Tat. Anleitung zur Wirtschaftspflege, Leipzig 1971; eine zweite Auflage erschien 1973, eine dritte 1979. Eine vierte Auflage in Höhe von 15.000 Exemplaren wurde 1990 zwar noch gedruckt, war aber nicht mehr absetzbar und wurde makuliert, vgl. handschriftl. Hinweis von W. Sütterlin, März 1998. 27  Werner Sütterlin, Edgar Schellenberg (Abb.):

ABC des Wohnens (Passat-Bücherei, 58), Berlin 1963; Autorenkollektiv (unter Federführung von Werner Sütterlin): Praktikus. Anleitung zur handwerklichen Selbsthilfe, Leipzig, 1. bis 15. Aufl. 1963–1980. Eine Überarbeitung war 1986/87 fertiggestellt, jedoch keine Neuauflage gedruckt, vgl. handschriftl. Vermerk von W. Sütterlin v. März 1998. Am »Praktikus« war kongenial Max Pause, Tischler, Gewerbelehrer und Redakteur der Selbsthilfezeitschrift »Magazin für Haus und Wohnung« (1962–1991), beteiligt. Zur Biografie vgl. Interview des Verf. mit Max Pause am 22. Januar 1998.

Angewandte Moderne auf Bucheinbänden: ABC des Wohnens, 1. Aufl. 1963; und Praktikus, 1. Aufl. 1963.

Titelentwürfe für den »Praktikus«, vermutlich von Werner Sütterlin, Wasserfarben, farbiger Karton, undatiert, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR.

345

Praktisches Wohnen, Abbildungsmappe für Wohngebäude Typ IW 60, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Es handelt sich um eine erste, 1958 eingeführte Variante der unter dem Namen Plattenbau bekannten Tafelbauweise

ner Sütterlin hat bei seinem Ausscheiden aus der Redaktion von »Kultur im Heim« einen Teil des redaktionellen Fotomaterials behalten und es zum Nachweis seines beruflichen Wirkens dem Dokumentationszentrum übergeben. Kern der Fotosammlung sind 554 Fotografien von Möbeln und Raumarrangements, überwiegend der späten 1950er und der 1960er Jahre, die von Friedrich Weimer, dem gleichsam offiziellen Fotografen des Industriezweigs VMI (Vereinigte Möbelindustrie), angefertigt worden waren.28 Der Bestand ist nach Wohnräumen, Möbelgruppen und Serien des industriellen Wohnungsbaus gegliedert. Die Fotografien wurden offenbar nachträglich aus ihrem redaktionellen Gebrauchskontext in ein typologisches System überführt, das der Schenker in Schmuckkassetten der Staatlichen Möbelindustrie, vermutlich für die Leipziger Messe angefertigt, untergebracht hat. Ein Teil der Fotografien ist gestempelt, andere ohne Verfassernachweis. Dennoch ist bei einer Reihe von Fotos aufgrund der angehefteten Druckvermerkfahnen eine Verwendung in »Kultur im Heim« nachweisbar. Verwahrkontext Die von Sütterlin für die redaktionelle Arbeit von »Kultur im Heim« zusammengetragenen Fotografien bilden ein Kompendium der Raumausstattungen, wie sie für die DDR gedacht, produziert und für eine öffentliche Aufmerksamkeit komponiert wurden. Die funktionale Unterteilung der Wohnung in einzelne Lebensbereiche sowie in die unterschiedlichen familiären Konstellationen bildet sich in den Fotografien ab, diese sind jedoch in eine nachträgliche Sachordnung gebracht worden, so dass sich die ursprüngliche Ordnung der Fotografien und ihre Kontextualisierung in der Redaktionsarbeit nicht mehr rekonstruieren lassen. Zudem, und das macht ihre Nutzung als historische Quelle problematisch, 346

28  Der fotografische Nachlass von Friedrich

Weimer befindet sich in der Deutschen Fotothek, an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, jedoch wurden die Bilder mehrfach, u. a. in den Zeitschriften »form+zweck« und »Deutsche Architektur«, verwendet und finden sich, außer im Dokumentationszentrum, auch im Archiv der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle; vgl. hierzu die Titelabbildung bei Katharina Pfützner: Designing for Socialist Need. Industrial Design Practice in the German Democratic Republic, London/New York 2017.

Schmuckkassette »Sozialistische Möbelindustrie der Deutschen Demokratischen Republik« zur Leipziger Messe mit passepartourierten Fotografien von Sitzgruppen, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

29  Erstmals vorgestellt in Kul-

tur im Heim 1968, H. 4.

zeigen sie nicht eine lebensweltliche Realität der Durchmischung, von Anschaffungszyklen, Selbsthilfelösungen, Geschmackspräferenzen und individuellen Nutzungen, sondern eine Reinform, ein zielgerichtetes Arrangement von Warenangebot und Stilmanifestation. Was sie darüber hinaus abbilden, ist der historische Wandel von Möbeltypen und gedachten Nutzungskonfigurationen zwischen Mitte der 1950er und Ende der 1960er Jahre, ebenso auch gesellschaftliche Prioritätensetzungen. Gemeint ist damit unter anderem der Wandel der Küche von der Wohn- zur Arbeitsküche, wie er durch den industrialisierten Wohnungsbau festgeschrieben wurde. Bei einer geplanten Küchengröße von vier bis fünf Quadratmetern Grundfläche blieb gerade genug Raum für die notwendigen Arbeiten. »Kultur im Heim« zeigte diesen Wandel anhand der schrittweisen Veränderung des Küchenmobiliars: Küchentisch und Büffet wurden durch die Koch-, Nass- und Vorbereitungs­ strecke der Einbauküche ersetzt, bis am Ende die »Ratio-Küche«29 mit ihren genormten Einzelmodulen stand. 347

Fotografie und Druckbild einer Sitzgruppe, Kultur im Heim 1962, H. 3, S. 18, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

348

Suche nach Lösungen durch Standardisierung Ein vergleichbarer Prozess betrifft das Wohnzimmer, dessen Ausstattung mit zentralem Tisch, »Anrichte«, Sessel und Sofa sich sukzessive zu einer Wohnlandschaft aus Schrankwand und gepolsterter Sitzgruppe als Standardarrangement des Möbelbaus wie auch der Einrichtungsvorschläge veränderte. Sonderzonen wie der am Rand des Wohnzimmers am Fuß der »Durchreiche« etablierte Esstisch oder ein Schreibtisch für das abendliche Fernstudium bilden funktionale Lösungen für eine Mehrfachnutzung des Wohnzimmers. Die Fotografien zeigen in diesem Zusammenhang eine Suchbewegung, die im Folgenden anhand des Fernsehers nachvollzogen werden soll. Als ab Mitte der 1950er Jahre Fernsehgeräte in größeren Zahlen produziert wurden,30 musste für sie eine Standortlösung gefunden werden, denn es handelte sich um ein neues, zusätzliches Gerät, das eine neuartige »Tätigkeit« des stillen Sitzens und Schauens hervorrief, und damit um eine zusätzliche Funktion des Wohnzimmers. Ein Fernsehgerät war deutlich größer und voluminöser als die gängigen Radioapparate und optisch aufgrund der Bildröhre dominant. Die Fotografien zeigen Lösungsversuche, in denen das TV-Gerät zunächst den Platz einnahm, den zuvor das Radiogerät innehatte: auf eine flache Kommode gestellt, gern auch in der Raumecke platziert. Andere Vorschläge zeigen das Gerät freistehend im Raum oder vor das Fenster gestellt. Die Probleme blieben jedoch immer die gleichen: Ausgeschaltet störte der Fernseher die Bewegungsfreiheit und aufgrund der schwarzen Bildröhre die Sinne, während er eingeschaltet von möglichst vielen Personen gleichzeitig zu sehen sein musste.

30  Die Dynamik der Durchsetzung des Fern-

sehens verdeutlichen die folgenden Angaben: Der Grad der Ausstattung mit Fernsehgeräten in der DDR stieg zwischen 1963 und 1967 von 42 auf 74 Prozent, wobei der Anteil der vor 1960 gekauften Geräte im Jahr 1967 16 Prozent betrug, vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hg.): Statistisches Jahrbuch 1969 für die Deutsche Demokratische Republik, Berlin (DDR) 1969, S. 358. 31  Implosionsgeschützte Kompakt-

geräte kamen mit den Typen »Ines« und »Stella« 1968 auf den Markt. 32  Martin Warnke: Zur Situation der

Couchecke, in: Jürgen Habermas (Hg.): Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt am Main 1979, S. 673–687.

Eine Lösung bot die seit Ende der 1960er Jahre aufkommende Schrankwand mit ihren standardisierten Nutzungsmöglichkeiten und ihrer wandfüllenden Dominanz. In ihr erhielt das inzwischen kompakter konstruierte Fernsehgerät31 seinen Platz zugewiesen, in angemessener Sichthöhe und integriert in eine optische Struktur. Parallel wurde experimentiert, wie sich die Zuschauer optimal für gute Sicht positionieren konnten. Das Fernsehgerät stand anfangs in einem Winkel von 45 Grad zum Esstisch, so dass mit einer Drehung des Stuhls alle sehen konnten. Hier wird seine kommunikative Wirkung deutlich; die zuvor aufeinander gerichteten Blicke folgten nun einer einzigen Richtung, sie waren vom Gegenüber abgewandt. Von der Unbequemlichkeit des stillen Verharrens auf Esstischstühlen einmal abgesehen, war eine Reorganisation des Wohnzimmers durch veränderte Nutzungsgewohnheiten unumgänglich. Es entstand eine offenere Sitzgruppe, die sogenannte Couchecke,32 die zum zentralen Ort des Wohnzimmers wurde 349

und Kommunikation, Verzehr und Fernsehen gleichermaßen ermöglichte und so eine Konkurrenz der Funktionen auflöste. Die lebensweltlichen Konsequenzen sind bekannt: statt Abendbrottisch nun Schnittchenteller, statt Brettspiel Fernsehspiel. Auch wenn die Fotografien in »Kultur im Heim« diese sozialen Situationen nicht abbilden, zeigen ihre Möbel und Raumarrangements doch die Vorstellungen über ihre Nutzung. Zusammenfassend lässt sich sagen: Werner Sütterlin hat sich in der Rolle eines Pioniers bei der Implementierung und Durchsetzung einer zeitgemäßen Wohnkultur in der DDR gesehen und seine Funktion als Chefredakteur der Zeitschrift »Kultur im Heim« verdeutlicht seine zentrale Position in der publizistischen Begleitung eines modernen privaten Lebensstils. Sütterlin sah sich als Modernisierer sowie als Pragmatiker mit ästhetischem Anspruch und die von ihm verantworteten Hefte von »Kultur im Heim« vermitteln den Duktus einer »Erziehung zum Geschmack«. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Möbelentwürfe und Wohnraumarrangements ästhetisch kaum von zeit350

Standgerät vor dem Fenster, in Kombination mit einem bereits »wandfüllend« interpretierten Leitermöbelsystem Montagesatz Sibylle, VEB Möbelwerk Stralsund, ab 1962, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: unbekannt).

Fernsehgerät, integriert in »Schrankwand« Kehr-Baukastensystem, Dieter Kehr Möbelwerkstätten KG, Markranstädt, 1968, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: vermutlich Friedrich Weimer).

33  Christopher Neumaier, Andreas Ludwig:

Individualisierung der Lebenswelten. Konsum, Wohnkultur und Familienstrukturen, in: Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 239–282, hier S. 241.

gleichen Vorstellungen in der Bundesrepublik: Cocktailsessel und Nierentisch, später, nach der Einführung des Fernsehens, Couchecke und zunehmend wandfüllende Behältnismöbel bis hin zur Schrankwand, dazu viele dem Zeitgeschmack entsprechende Accessoires sowie ein Hang zum liebevollen Arrangement bilden die optischen Grundlagen einer Wohnkultur der Wiederaufbaujahre und sind Signum eines steigenden Wohlstands, der zunächst in die Ausstattung des privaten Lebensumfelds floss.33 Zugleich sind diese Tendenzen aber auch Zeichen eines Sich-Einrichtens in der DDR und damit materielle Symbole, nicht nur im Hinblick auf die Intentionen meinungsbildender Akteure, sondern auch in ihrer gedruckten Form, die als Anregung und Angebot zugleich wirkt. Im Zuge des Kalten Krieges und der bis 1961 anhaltend hohen Flüchtlingszahlen bedeutete die Investition in ein eigenes Heim auch so etwas wie eine Dokumentation des Hier-bleiben-Wollens und eines Vertrauens in die Zukunft, also Normalität. Durch die im Zuge des V. Parteitages der SED 1958 formulierte Politik der ökonomischen Konkurrenz durch Lebensqualität wurde dem Projekt »Kultur im Heim« eine zusätzliche politische Bedeutung beigemessen: Die dort formulierten Vorstellungen mussten alltagspraktisch auch umsetzbar sein. Diese 351

Vermittlung einer konkreten Utopie zeigte sich hier in der spezifischen Verknüpfung von Konsumangeboten und Realisierungskontexten. Kontinuierlich wurden Einrichtungsmöglichkeiten am Beispiel der seit Mitte der 1950er und in den 1960er Jahren entwickelten Neubautypen des industriellen Wohnungsbaus konkretisiert. Dies entsprach durchaus den Anschaffungsmodalitäten, denn Möbel wurden bei Familiengründung und Bezug einer eigenen Wohnung gekauft. Es ist kein Zufall, dass in der Hauptstraße der Neuen Stadt Eisenhüttenstadt ein »Möbelkaufhaus« errichtet wurde und gemeinsam mit Autosalon und Kulturhaus das zentrale Bauensemble dieser sozialistischen Musterstadt wurde. Die von Werner Sütterlin zusammengetragene und dem Museum übergebene Sammlung von Fotografien, Dokumenten und Objekten bildet deshalb ein Konvolut, das die ästhetischen, zeithistorischen und politisch-programmatischen Entwicklungen in der DDR nicht nur bündelt, sondern auch konkretisiert, indem es den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre herstellt. Zugleich ist die Sammlung aber auch Selbstzeugnis einer Aufbaugeneration, von deren privaten Lebens- und politischen Handlungszielen und ihrer Etablierung in der DDR-Gesellschaft.

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Möbelkaufhaus in Eisenhüttenstadt, um 1960, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Fricke).

Audiokassette, Bastelbeutel, Konsumgüterproduktion, VEB Chemiefaserwerk Premnitz, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

MASSENBEDARFSGÜTER ANDREAS LUDWIG

»Versorgung« bedeutet einen Auftrag erfüllen, darin erweist sich die Richtigkeit der neuen Macht, ihre Legitimation gegenüber der Bevölkerung, das tägliche Leben organisieren zu können. Dies ist ein traditionelles Konzept des Staatseingriffs und der Staatsfürsorge. In der DDR wurde der Versorgungsaspekt als Verlängerung der Kriegs- und Nachkriegspolitik bis zum Ende der Warenbewirtschaftung 1958 betrieben, um dann als planwirtschaftliches Element der Planung von Verbrauch bis 1990 Grundlage der Produktion und Verteilung von Konsumgütern aller Art zu sein. Die Hinwendung des Staates zur verstärkten Produktion von Konsumgütern ist demnach eine interventionistische Maßnahme, die das Sicherheit suggerierende Paradigma der Versorgung unterstreicht und bestätigt.

1  ZEFYS Zeitungsinformationssystem,

http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/.

Mit dieser These setzt sich der folgende Beitrag auseinander. Zunächst erwies es sich als äußerst schwierig, überhaupt Objekte der politisch induzierten Konsumgüterproduktion zu identifizieren, da die wenigen Hinweise in der Forschungsliteratur ebenso unkonkret sind wie Hinweise in Firmenfestschriften. Zumeist beschränken sie sich auf Gerätetypen. Als hilfreich erwies sich eine Auswertung der DDR-Presse, die teilweise digitalisiert vorliegt.1 Hier wurden gerade in den 1950er und teils noch Anfang der 1960er Jahre einzelne Produkte diskutiert. Der nächste Schritt war der Gang in die Sammlungsdepots des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, um diese Objekte aufzufinden und weitere, vor allem aufgrund von Hinweisen direkt am Objekt, zu identifizieren. Aus allem ergab sich eine, wenn auch begrenzte, Liste nachweisbarer Produkte aus der Konsumgüterproduktion. Auch wenn der überwiegende Teil dieser Objektkategorie aufgrund der Quellenlage versteckt bleiben muss, erwies sich ihre kommunikative Bedeutung als groß. Vor allem in den 1950er Jahren nahm die Presse großen Anteil am Fortschritt oder an Hindernissen der sogenannten Massenbedarfsgüterproduktion. Diese politische Aufladung von Alltagsobjekten erweist sich hier als Besonderheit der materiellen Kultur und ihrer Integration in die DDR-Gesellschaft. Danach bricht die Überlieferung allerdings ab, so dass das Programm der Konsumgüterproduktion der 1970er und 1980er Jahre vor allem im kommunikativen Gedächtnis überliefert wird. Aus allem wird deutlich, dass Alltagsprodukte der DDR identifizierbare Objekte sind und nicht Teil einer anonymen, durch Markenkommunikation vermittelten Warenwelt.

Politische Intervention zur vermehrten Produktion von Konsumgütern für die Bevölkerung ist eine Konstante der Wirtschaftspolitik der SBZ und der DDR, angefangen von der Herstellung einfacher Haushaltsgeräte in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bis hin zu Elektrogeräten und Freizeitausrüstungen in den 1980er Jahren. Die Konsumgüterproduktion entwickelte sich einerseits entlang der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und unterlag zugleich den damit verbundenen strukturellen Veränderungen. Während in den späten 1940er und zu Beginn der 1950er Jahre die sogenannte Notproduktion das Notwendigste für die von Kriegsfolgen betroffene Bevölkerung zur Verfügung stellen sollte, entwickelte sich mit dem Programm der Produktion von Massenbedarfsgütern eine Zusatzproduktion innerhalb der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie, die sich teilweise hin zur Organisation spezialisierter Abteilungen und eigener Produktionsstätten verstetigte. Dies ist eine Entwicklung, die auch die sogenannte Konsumgüterproduktion der 1970er und 1980er Jahre kennzeichnet. Der kampagnenhafte Eingriff in die Wirtschaftsplanung hatte teilweise nur kurzfristige Erfolge, weil viele Betriebe die Herstellung von Konsumgütern für den Bevölkerungsbedarf als reine Zusatzproduktion auffassten, die nach einiger Zeit wieder aufgegeben wurde. Die Prioritäten lagen bei der Kernproduktion, also vor allem Investitionsgütern. Aufgrund dieser kampagnenmäßigen Entwicklungsschübe entstand eine eigene Objektkultur, bei der unterschiedlichste Konsumgüter als Ergebnis politischer Interventionen identifizierbar werden und als solche auch wahrgenommen wurden. Zwischen 1945 und 1990 gab es mehrfach politische Initiativen zur gesteigerten Produktion von Konsumgütern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erforderten die Zerstörungen, die Fluchtbewegungen und die Teilung des deutschen Wirtschaftsgebietes in Besatzungszonen eine Notproduktion, mit der besondere Mangelerscheinungen aufgefangen werden mussten. Nach einer ersten Phase der Rekonstruktion und der Normalisierung bewirkte das 1952 beschlossene Programm des »Aufbaus des Sozialismus« unter anderem verstärkte Investitionen in die Schwerindustrie. Unter dem Eindruck der Unzufriedenheit der Bevölkerung im Juni 1953 wurde eine Kurskorrektur vorgenommen und der sogenannte Neue Kurs propagiert, der ab Ende des Jahres auch ein Programm zur zusätzlichen Produktion von »Massenbedarfsgütern« umfasste. Nachdem auf dem V. Parteitag der SED 1958 ein konsumpolitisches Paradigma der Überlegenheit des Sozialismus durch Verbrauch beschlossen worden war, begann eine konsumorientierte Entwicklungsphase der DDR, die bis Ende der 1960er Jahre anhielt. Dennoch blieben Mängel in der Versorgung akut und soll356

ten unter anderem durch das Programm »1000 kleine Dinge« von 1961 behoben werden. Schließlich wurde in den 1970er Jahren ein »Konsumgüterprogramm« beschlossen, das die Produktionsausfälle der 1972 verstaatlichten Privatindustrie ausgleichen und mehr und neue Konsumgüter verfügbar machen sollte. Diese nur grobe und lückenhafte Chronolgie der Bestrebungen zur Verbesserung der Versorgung mit Konsumgütern spiegelt sich in den einzelnen historischen Phasen zuordenbaren Produkten. In den wechselnden Bezeichnungen für die Produktionsprogramme lässt sich zudem ein Bemühen um eine jeweils zeitgemäße Neuformulierung des Immergleichen erkennen.

2  Vgl. als Beispiele für die Britische Zone

Ernst Helmut Segeschneider: Zeichen der Not. Als der Stahlhelm zum Kochtopf wurde (Ausstellungskatalog Westfälisches Freilichtmuseum), Detmold 1989; für die Amerikanische Zone der Wochenschaubericht in Welt im Film 54/1946, https://www.filmothek.bundesarchiv.de/video/583486?set_lang=de, letzter Zugriff: 26.05.2018; für die Sowjetische Zone Objekte der Notproduktion bei Bergmann-­ Borsig unter https://berlin.museum-digital.de/ index.php?t=objekt&oges=868, letzter Zugriff: 26.05.2018. 3  Gemeint sind Handkarren; aufschlussreich

ist die umgangssprachliche Bezeichnung, die auf die zeitgenössische Lebensmittelbeschaffung des »Hamsterns« verweist, mit der die städtische Bevölkerung Nahrungsmittel bei Bauern zu beschaffen suchte. 4  Kommission für Betriebsgeschichte i. A.

der Betriebsparteiorganisation (Hg.): Polyester contra Pulver. Zur Geschichte des VEB Chemiefaserwerk »Friedrich Engels« Premnitz, Berlin (DDR) 1970, S. 101; Ohne Kapitalisten geht es besser. Zur Chronik des VEB Bergmann-Borsig. Zum 10jährigen Bestehen unseres volkseigenen Betriebes Bergmann-Borsig, Berlin (DDR) o. J. (1959), S. 31. 5  Dresden: »Wir kurbeln an!«, Berliner

Zeitung, 3. November 1945; Vera Reise: Als man Kochtöpfe aus Stahlhelmen machte, Berliner Zeitung, 27. Juni 1987; siehe auch das Plakat der Industrie- und Gewerbeausstellung »Weißenseer Messe« vom Januar 1946 in: Gerhard Keiderling: Berlin 1945–1986, Berlin (DDR) 1987, S. 93. 6  Leipzig im Spiegel der Presse, Neues

Deutschland, 7. März 1947; W.S.: Treuhandbetriebe heute – volkseigene Betriebe morgen, Neues Deutschland, 2. Oktober 1948. 7  Da es zu den in der DDR hergestellten Blei-

stiften keine Forschungsliteratur gibt, wurde auf Sammlerseiten im Internet zurückgegriffen.

In einer Auswertung des Sammlungsbestandes des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR konnten einzelne in der Presse erwähnte Gegenstände identifiziert werden, die im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Von der Notproduktion zur Planbeauflagung Unmittelbar nach Kriegsende wurde versucht, eine Produktion von dringend benötigten Konsumgütern aufzubauen. In allen Besatzungszonen Deutschlands erfolgte zunächst eine Konversion von Rüstungsgütern zu einfachen Haushaltsgegenständen.2 Diese Produkte waren vor allem für Ausgebombte und Flüchtlinge notwendig. Es wurden aber auch Gebrauchsgüter aller Art, insbesondere Blechwaren aus noch vorhandenen Materialresten, hergestellt. So produzierte Bergmann-Borsig in Berlin neben Bügeleisen und Elektrokochern auch »Hamsterwagen«3 und Pflüge, das Chemiefaserwerk in Premnitz medizinische Aktivkohle aus Filterkohle aus Gasmasken, Sandpapier und Tapetenkleister.4 Verbreitet waren »Industrieausstellungen«, die als Ideengeber für Industrie- und Handwerksbetriebe zur Herstellung solcher Produkte gedacht waren.5 Ab 1947 wurden Forderungen laut, diese Behelfsmaßnahmen zugunsten einer Wirtschaftsplanung einzustellen. Es erfolgte der Übergang zu einer Konsumgüterproduktion, die auf den traditionellen oder vermuteten Kompetenzen der jeweiligen Betriebe beruhte.6 Hierzu gehörten mit Bleistiften und Fotoapparaten Beispiele unterschiedlicher zeitgenössischer Dringlichkeit, die in den Museumssammlungen aufgefunden wurden und im Folgenden vorgestellt werden. Bleistifte der Marken »Sirus«, »Phoenix« und »Saxonia« sind Produkte aus der sogenannten Notproduktion der Nachkriegsjahre. Sie wurden vom VEB Leipziger Pianofortefabrik und einem Privatbetrieb in der Oberlausitz hergestellt.7 Der VEB Leipziger Pianofortefabrik mit Sitz in Leipzig-Böhlitz-Ehrenberg war 1945 durch Enteignung des Klavierherstellers Ludwig Hupfeld AG ent357

Klappkarton für zwölf Bleistifte, Leipziger Pianofortefabrik, Böhlitz-Ehrenberg, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Das Logo zeigt einen aufgeklappten Konzertflügel, der auf den Bleistiften selbst sowie in Verbindung mit den Buchstaben »PF« auf der Verpackung abgebildet ist.

12er-Karton für Bleistifte der Marke Saxonia, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

standen.8 Die Bleistiftproduktion wurde vermutlich 1949 aufgrund einer Produktionsbeauflagung durch die Deutsche Wirtschaftskommission aufgenommen und lief 1965 aufgrund eines Hinweises von Walter Ulbricht auf der Leipziger Messe aus.9 Zweiter Bleistifthersteller war der private holzverarbeitende Betrieb Karl Knobloch KG in Steinigtwolmsdorf/Oberlausitz. Hier wurden nach 1945 und bis etwa 1965 Bleistifte der Marke »Saxonia« hergestellt. Beide Hersteller waren holzverarbeitende Betriebe mit unterschiedlichen Produktionsschwerpunkten und so stellt sich die Aufnahme der Herstellung von Bleistiften als Notproduktion dar, die einerseits einem dringenden, unmittelbaren Bedarf entsprach, sich andererseits aber von der Herstellung von Kohleschaufeln und Ähnlichem dadurch unterschied, dass hier eine systematische Produktion aufgebaut wurde. Hintergrund ist der Zusammenbruch von wirtschaftlichen Beziehungen zu den anderen Besatzungszonen, denn Bleistifte wurden von verschiedenen Herstellern vor allem in der Region um Nürnberg produziert. Die bis 1965 anhaltende Produktion von gewissermaßen »fachfremden« Herstellern in der DDR war daher eine Folge des Kalten Krieges. Ab Mitte der 1960er Jahre wurden dann alle Bleistifte von der Firma KOH-I-NOOR aus der Tschechoslowakei importiert und die Herstellung in der DDR eingestellt. 358

8  Hinweise nach einem längeren Beitrag

unter www.lexikaliker.de/2009/02/sirius-­ bleistift-nr-2/, letzter Zugriff: 17.09.2014. 9  Vgl. www.lexikaliker.de/2009/06/spuren-

suche/, letzter Zugriff: 17.09.2014; Dieter Brückner, Eberhard Russek, Rolf Günter: Das moderne Büro eindrucksvoll vorgestellt. Delegation des Politbüros mit Walter Ulbricht besuchte Ausstellungen des Industriezweigs Büromaschinen, Schuhe, Sportartikel, Musikinstrumente, Neues Deutschland, 9. September 1964.

Fotoapparat DEKO Pionier, VEB Fotochemische Werke Berlin, 1947 bis ca. 1955, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Die Kamera zum Preis von 9,95 DM war für Rollfilme im Mittelformat konzipiert und mit einem Sucher ausgestattet. Der Bildauslöser war ein einfacher Aluminiumstift, der hinter dem Objektiv angebracht war.

Anders verhält es sich mit einem zweiten Objekt, einem einfachen Fotoapparat. Er wurde vom unter Zwangsverwaltung stehenden Betrieb Kodak AG Filmfabrik Köpenick hergestellt. Das Berliner Werk war 1923 als Glanzfilm AG gegründet und 1927 an Kodak verkauft worden. 1941 nach Kriegseintritt der USA als »Feindvermögen« deklariert, stand das Werk nach 1945 zunächst unter staatlicher Verwaltung und wurde 1956 in einen Volkeigenen Betrieb umgewandelt, den VEB Fotochemische Werke Berlin. Warum ein Hersteller von Filmen und Entwicklerchemikalien wie Kodak Köpenick in den Nachkriegsjahren Kameras herstellte, ließ sich nicht ermitteln. Auch ist unklar, wer die Komponenten – Gehäuse, Objektive, mechanische Teile – lieferte. Bei der Produktion von Fotoapparaten kann, im Gegensatz zu den oben erwähnten Bleistiften, nicht von einem unmittelbaren und dringlichen Bedarf ausgegangen werden, denn in der SBZ und späteren DDR bestand eine qualifizierte Kameraindustrie im Raum Dresden. Massenbedarfsgüterproduktion »Massenbedarfsgüterproduktion« bezeichnet die politisch induzierte Kampagne zur vermehrten Produktion von Konsumgütern im Zuge des im Juni 1953 ausgerufenen Neuen Kurses. Sie hatte ihren Höhepunkt zwischen September 1953 und Mai 1954, wirkte jedoch im Sinne einer politischen wie sprachlichen Bezugnahme weiter, bis sie zunächst einen modifizierten Sinn bekam und schließlich um 1960 durch das Programm »1000 kleine Dinge« ersetzt wurde. Im Kern ging es, wie bereits bei der Notproduktion in der Nachkriegszeit und später ab den 1970er Jahren beim Programm der Konsumgüterproduktion, um die ausreichende Versorgung mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen, wobei deren Definition schwankte und teils simple Alltagsgüter wie Ofenrohre und Flaschenöffner, teils moderne Konsumgüter wie elektrische Kaffeemühlen umfasste. Im Kontext der politischen Dimension materieller Kultur ist besonders die Aufforderung an die Investitionsgüter herstellenden Betriebe wichtig, eine zusätzliche Produktion von Massenbedarfsgütern für den Bevölkerungsbedarf 359

einzurichten, um den Mangel an Industriewaren zu bekämpfen. In der Presse wurde über den Fortschritt bei der Produktion von Massen­bedarfsgütern intensiv berichtet, so dass in den Sammlungen des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR eine Reihe von Produkten identifiziert werden konnte, die im Rahmen dieser Kampagne entwickelt und produziert wurden. Politischer Hintergrund ist die Ausrufung des Neuen Kurses durch die SED am 11. Juni 1953. Mit ihm war die Rücknahme wirtschaftlicher und politischer Verschärfungen verbunden, die im Zuge des »Aufbaus des Sozialismus« seit der 2. Parteikonferenz der SED 1952 stattgefunden hatten. Teil des Neuen Kurses war die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung und darin inbegriffen auch die Mehrproduktion von Konsumgütern. Die damit eingeleitete Orientierung auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse führte unter anderem zu einer Rücknahme von Investitionen bei der Schwerindustrie und der Umlenkung der Mittel auf die Konsumgüterindustrie. Die entsprechenden Änderungen im Wirtschaftsplan für das zweite Halbjahr 1953 wurden auf einer Sitzung des Ministerrats der DDR am 14. September 1953 beschlossen. Priorität wurde nun der besseren Versorgung des Landes gegeben und die Aufforderung an die Großbetriebe gerichtet, Abteilungen für Massenbedarfsgüter zu schaffen.10 Auf der einige Tage später, am 17. September 1953, stattfindenden 16. Tagung des ZK der SED wurde das Programm detaillierter beschrieben.11 Ein Schwerpunkt des dort von Walter Ulbricht vorgelegten Rechenschaftsberichts waren Forderungen an die sogenannte Leichtindustrie zur vermehrten Produktion von auch qualitativ verbesserten Industriewaren für den Bevölkerungsbedarf. Ausgangspunkt war eine Zustandsbeschreibung des Leiters der Staatlichen Plankommission, Bruno Leuschner, über die das »Neue Deutschland« berichtete:12 Der Mangel an Waren und die unregelmäßige Belieferung führe zur Hortung von Gütern, die ihrerseits den Mangel verstärke. Es fehlten Tausende von Kleinigkeiten, die man nicht im Einzelnen von oben planen könne. Um diesen Zustand zu beheben, fehle es einerseits an ökonomischen Anreizen, die Produktion zu steigern, andererseits an Eigeninitiative der Betriebe. Man wolle künftig weniger reglementieren und als finanziellen Anreiz eine Erhöhung des sogenannten Direktorfonds13 vorschlagen sowie die Möglichkeit von Investitionskrediten schaffen. Weiter wurde angeregt, dass der Einzelhandel Waren direkt bei den Betrieben beziehen solle. In der Folge wurde die Produktion von Gebrauchsgegenständen über den Plan hinaus fortdauernd propagiert. Das »Neue 360

10  Der Ministerrat kontrolliert die Ver-

wirklichung des neuen Kurses, Neues Deutschland, 15. September 1953. 11  Walter Ulbricht: Der Weg zu Frie-

den, Einheit und Wohlstand (16. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 17. bis 19. September 1953), Berlin (DDR) 1953. 12  Genosse Bruno Leuschner auf dem

16. Plenum des ZK der SED: Mehr Initiative der Werkleiter bei der Herstellung von Massenbedarfsgütern, Neues Deutschland, 24. September 1953. 13  Unter dieser Bezeichnung wurden freie

Verfügungsmittel des Betriebes geführt.

Deutschland« machte deutlich, dass es sich bei dem Programm der Massenbedarfsgüterproduktion keineswegs um eine kurzzeitige Maßnahme handle. Man könne für den Mangel nicht nur die Leichtindustrie verantwortlich machen, sondern müsse auch Schwerindustrie und Maschinenbau in die Verantwortung nehmen, wo Maschinen, Rohmaterialien und Produktionsabfälle verfügbar seien. Die Gewinne aus der Zusatzproduktion, das war der ökonomische Anreiz, würden zur Hälfte dem »Direktorfonds I« zufließen und könnten daher für Prämien an die Beschäftigten verwendet werden. Die andere Hälfte ginge an den »Direktorfonds II« und stehe damit für Investitionen und Kredite zur Verfügung.14

14  Schafft überall Abteilungen für

Massenbedarfsgüter, Neues Deutschland, 21. November 1953. 15  Ministerrat betätigt Volkswirtschaftsplan

1954, Berliner Zeitung, 13. Dezember 1953. 16  Verordnung über die Erhöhung und

Verbesserung der Produktion von Verbrauchsgütern für die Bevölkerung. Vom 17. Dezember 1953, in: Gesetzblatt der DDR, 1953, Teil I, Nr. 135 v. 31. Dezember 1953, S. 1315–1329. 17  Auszug aus der Verordnung des Ministerrats,

Neues Deutschland, 20. Dezember 1953.

Mitte Dezember 1953 wurde der Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1954 von der Regierung beschlossen und die umfassende Erweiterung der Massenbedarfsgüterproduktion als Kernstück bezeichnet.15 In der entsprechenden »Verordnung über die Erhöhung und Verbesserung der Produktion von Verbrauchsgütern für die Bevölkerung«,16 die in Auszügen im »Neuen Deutschland« abgedruckt wurde,17 wurde zunächst mit einiger Offenheit konstatiert, dass weder Sortiment noch Qualität von Konsumgütern bisher den Vorkriegsstand erreicht hätten. Dies entspreche weder der zunehmenden Kaufkraft der Bevölkerung noch den technischen Möglichkeiten der in den vergangenen Jahren geschaffenen industriellen Basis. Auch würden sich durch die zum 1. Januar 1954 zurückgegebenen SAG-Betriebe (Sowjetische Aktiengesellschaft) neue Möglichkeiten für die Produktion von Konsumgütern ergeben. Neben der Schwerindustrie seien auch Privatbetriebe, Handwerker und die örtliche Industrie in die Aufgabe einzubeziehen. Die Verordnung enthält eine detaillierte Mängelliste von Nahrungsmitteln, Kleidung, Gebrauchsgütern sowie eine Auflistung der zu verbessernden Produktionen. Ein ganzes Maßnahmenbündel wurde beschlossen, das hier nur teilweise wiedergegeben werden kann: Steigerung der Produktion von Massenbedarfsgütern auf 125 Prozent des Standes von 1953; Einrichtung von Abteilungen für Massenbedarfsgüterproduktion in den Großbetrieben; Verankerung der Massenbedarfsgüterproduktion in den Betriebsplänen der Volkseigenen Betriebe; Einführung von Fabrikmarken zur Kennzeichnung der Produkte und zur Kontrolle ihrer Qualität; Zweckbindung von Materialbelieferung; Verankerung der Massenbedarfsgüterproduktion im Staatsplan und ihre Nachweisung in der staatlichen Statistik; Erarbeitung einer differenzierten Erzeugnisnomenklatur für die örtliche Industrie in den Räten der Kreise; Erlaubnis zu Herstellung und Verkauf von Konsumgütern durch Handwerker; Musterausstellungen mit neuen Konsumgütern; Verfügung über die Gewinne aus der Pro361

Warenkatalog für Massenbedarfsgüter der dem Ministerium für Schwerindustrie zugeordneten staatlichen ­Betriebe, ­undatiert, Dokumentationszentrum ­Alltagskultur der DDR (Foto: Anna Katharina Laschke).

duktion von Konsumgütern in den Betrieben; Gewinnzuschlag von 6 bis 8 Prozent für Massenbedarfsgüter; Eröffnung von Krediten für Investitionen durch die Deutsche Notenbank. Einige dieser Maßnahmen zeigten eine erhebliche Wirkung, wie die Möglichkeit zur Kreditvergabe, die zur Einführung sogenannter halbstaatlicher Betriebe, aber auch zur Modernisierung der Produktion in der meist privaten Konsumgüterindustrie führte, bis die Verstaatlichungswelle von 1972 dies beendete. Insgesamt blieb die erhoffte schnelle Wirkung des Programms jedoch aus, weil sich einerseits zu wenige Großbetriebe beteiligten, andererseits die Entwicklung hochwertiger Konsumgüter Zeit brauchte und die Betriebe deshalb zur Planerfüllung auf einfache Gebrauchsgegenstände zurückgriffen, deren Produktion zunächst auch nicht koordiniert wurde. Entsprechend wurden positive wie negative Beispiele in dichter Folge in der Presse publik gemacht. Eine erste öffentliche Bilanzierung erfolgte 1954 durch die Ausstellung »Maschinenbauer auf neuem Kurs«, die in der Sporthalle in der Berliner Stalinallee neu entwickelte Konsumgüter des Industriezweigs vorstellte und zu der zusätzlich 9700 Produktvorschläge von Besuchern eingereicht wurden.18 362

18  Für eine Milliarde DM mehr In-

dustriewaren in die Geschäfte!, Neues Deutschland, 21. April 1954.

Elektrisches Heizgerät, Werksentwurf, »Zentrum« Produktionsgenossenschaft des Elektro-Mechaniker- und Lackierer-Handwerks, 1956, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

19  Walter Ulbricht: Aus dem Rechenschafts-

bericht des Zentralkomitees, in: Über den weiteren Aufschwung der Industrie, des Verkehrswesens und des Handels in der Deutschen Demokratischen Republik. Aus dem Rechenschaftsbericht des ZK, den Diskussionsreden und dem Schlußwort des Genossen Walter Ulbricht auf dem IV. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin, 30. März bis 6. April 1954, Berlin (DDR) 1954, S. 10; Neues Deutschland, 21. April 1954. 20  Zum Berliner Beispiel vgl.: Die 150

Millionen aus Berlin. Unser Anteil an der Milliarde DM für Massenbedarfsgüter der Republik, Berliner Zeitung, 16. Mai 1954. 21  Vgl. u. a. Noch sehr viel ist zu tun für

die Milliarde. Das Ergebnis einer Untersuchung über das Angebot von Massen­ bedarfsartikeln in einigen Städten, Neues Deutschland, 25. Mai 1954.

Zur Beschleunigung des Programms griff die SED zum üblichen Kampagnenstil. Auf dem IV. SED-Parteitag im April 1954 forderte Walter Ulbricht eine zusätzliche Produktion von Massenbedarfsgütern in Höhe von einer Milliarde Mark im Jahr 1954.19 Wiederum erfolgte in der Presse eine Berichterstattung über die Erfüllung dieser Forderung, die sich bis in das Jahr 1955 hinzog. Aus den Berichten ist einerseits zu erfahren, welche Betriebe was herstellten, welche Betriebe Defizite aufwiesen und was die neu eingerichteten Verwaltungseinheiten in den Kreisen und Bezirken der DDR an Koordinationsarbeit durch Steuerung der Produktanarchie leisteten.20 Andererseits wird immer wieder auf die Forderung nach innovativen Produkten eingegangen, um die sogenannte »Kohlenschaufelmentalität« zu überwinden. Volkskorrespondenten wurden in die Geschäfte geschickt, um die Verfügbarkeit von Waren zu prüfen.21 Noch 1956 wurden die kleineren, örtlich gesteuerten Betriebe wegen ihres Planrückstands gerügt, der Grund sei: »[…] die geringe Bereitschaft oder Fähigkeit, sich auf die Produktion solcher Konsumgüter einzustellen, die den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen. Wir betonen nochmals, daß dieser Schritt zur Produktion neuartiger preiswerter Konsumgüter, die die Bevölkerung 363

Verlängerungskabel in Kabeltrommel aus Bakelit, VEB Kabelwerke Oberspree, ab 1954, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

verlangt, unbedingt vollzogen werden muß, auch wenn er manchmal den unbequemen Bruch mit alten Traditionen bedeutet.«22 Hier kommen die ebenfalls im Zuge des Neuen Kurses gebildeten Produktionsgenossenschaften des Handwerks zum Tragen, die im Verlauf der 1950er Jahre eine Vielzahl von einfachen, teils auch elektrischen Konsumgütern herstellten. Ein Beispiel sind die Kaffeemaschinen der PGH Elektromechanik Berlin-Kaulsdorf, aus der später, bei Ausweitung der Produktion, ein Volkseigener Betrieb mit Monopolstellung entstand. Andere Produktionsgenossenschaften haben nur zeitweise Konsumgüter hergestellt, weil sie im Zuge der Verstaatlichungswelle von 1972 auf Reparaturen und Dienstleistungen beschränkt wurden. In den Jahren 1955/56 lässt sich eine Verschiebung des Diskurses feststellen, indem die Einführung technisch fortgeschrittener Produkte ins Zentrum der Debatte rückte und sich die Argumentationsbasis veränderte. Nicht mehr die Versorgung mit Alltagsdingen stand jetzt im Vordergrund, sondern die Einführung moderner Konsumgüter für die werktätige Frau: »In der Verordnung vom 17. Dezember 1953 über die Produktion von Massenbedarfsgütern gab es einige Forderungen, auf deren Erfüllung die Frauen noch heute sehnlichst warten.«23 »Wenn wir die Preise bei Haushaltsgeräten betrachten, so glaubt man, einige Leute meinen, diese Geräte seien Luxusartikel. Dabei sind es Gebrauchsgegenstände, die bald jeder berufstätigen Frau helfen sollen, damit ihr neben den vielen Haushaltspflichten Zeit bleibt, neue Kräfte zu 364

22  Über die Arbeit der SED nach dem XX. Par-

teitag der KPdSU und die bisherige Durchführung der Beschlüsse der 3. Parteikonferenz. Bericht des Politbüros, gegeben vom Ersten Sekretär des Zentralkomitees Genossen Walter Ulbricht. 28. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 27. bis 29. Juli 1956, Berlin (DDR) 1956, S. 60. 23  Erleichterung der Hausarbeit für die

Frau, Neues Deutschland, 26. Februar 1956, erschienen zum Thema »Die Grundfragen des Zweiten Fünfjahrplans werden diskutiert« im Vorfeld der 3. Parteikonferenz der SED.

Elektrischer Staubsauger »Steppke«, VEB Elektroapparatewerk »J.W. Stalin« Berlin-Treptow, ab 1954, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

sammeln, sich ihrem Kind zu widmen, zu fachlicher Qualifizierung und zur politischen Arbeit.«24 Haushaltsgeräte bildeten in der Tat einen Schwerpunkt der Massenbedarfsgüterproduktion Mitte der 1950er Jahre, wie zum Beispiel Kaffeemühlen, über die bereits oben berichtet wurde.25 Einige Gerätschaften waren dabei einfache Konstruktionen, wie die Kabeltrommel, die der VEB Kabelwerke Oberspree für den Bevölkerungsbedarf herstellte – ein Massenprodukt, das sich noch in den 1990er Jahren zahlreich in Privathaushalten und Büros fand.

24  U. Diehl, Vorstandsmitglied des

DFD: Forderungen berufstätiger Frauen an die 3. Parteikonferenz der SED, Neues Deutschland, 22. März 1956. 25  Siehe den Beitrag von And-

reas Ludwig in diesem Band.

Ebenfalls um Massenprodukte handelt es sich bei den folgenden Beispielen. Der Staubsauger »Steppke« wurde vom VEB Elektroapparatewerk (EAW) »J.W. Stalin« in Berlin-Treptow im Zuge des Programms der Massenbedarfsgüterproduktion entwickelt. Die einfache Konstruktion aus Elektromotor, Holzgriff, Staubbeutel und verschiedenen Aufsätzen wurde zunächst in Berlin hergestellt, die Produktion später an den VEB Elektroinstallation Oberlind abgegeben, dann jedoch teilweise wieder an das EAW zurückgegeben. Der »Steppke« ist ein Übergangsprodukt. Als erster nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR hergestellter elektrischer Staubsauger erfüllte er die Forderung nach modernen Konsumgütern zur Erleichterung der Hausarbeit, präsentierte sich jedoch zugleich als funktionales Minimalgerät, dessen ingenieurtechnischer Hintergrund ebenso sichtbar war wie der Rückgriff 365

Elektrischer Rasierapparat TR 011, VEB Bergmann-Borsig, Berlin-Wilhelmsruh, Werksentwurf, ab 1955, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

Elektrischer Rasierapparat TR 014 »Bebo Sher«, VEB Bergmann-Borsig, Berlin-Wilhelmsruh, Entwurf: Jürgen Peters, 1961, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig).

366

auf ähnliche Vorkriegsmodelle, etwa das Modell »Kobold« der Firma Vorwerk. Die Produktion von Staubsaugern wurde später auf den VEB Elektrowärme Altenburg konzentriert, der Staubsauger unter dem Markennamen »Omega« herstellte. Weiter zu einem regelrechten Markenprodukt, das ebenso aus der Produktionsauflage für Massenbedarfsgüter resultierte: dem Elektrorasierer »Bebo Sher«. Er war vom VEB Bergmann-­Borsig entwickelt worden, einem Betrieb für Industrieausrüstungen, insbesondere Kraftwerksanlagen.26 Mit der Zusatzproduktion bei Bergmann-Borsig sollte ein Engpass behoben werden, denn Elektrorasierer wurden bis dahin nur vom VEB Elektrogerätewerk Suhl produziert.27 Nach dem Ausgangsmodell entwickelte Bergmann-Borsig eine Reihe von Nachfolgemodellen, die teils von bekannten Industriedesignern gestaltet wurden. Unter der Bezeichnung »Bebo Sher« entwickelte sich der Rasierer seit 1968 zu einem Markenartikel in der DDR.

26  Zur Betriebsgeschichte vgl. Bernt

Roder, Bettina Tacke (Hg.): Energie aus Wilhelmsruh. Geschichte eines Berliner Industriestandortes, Berlin 2009. 27  Vormals Fa. Kober, die bereits seit 1945

einen Elektrorasierer produziert hatte. 28  Ein weiteres Beispiel ist das vom

VEB Fettchemie Karl-Marx-Stadt entwickelt Geschirrspülmittel »fit«. 29  Staatliche Plankommission (Hg.): Tausend

kleine Dinge, Reparaturen und Dienstleistungen (Aus dem Beschluß des Ministerrats vom 11. Februar 1960), o. O. 1960.

Die Geschichte des Trockenrasierers ist insofern eine besondere, als sie eines der wenigen Beispiele ist, in denen ein Produkt aus dem Programm der Massenbedarfsgüterproduktion dauerhaft Teil der Konsumkultur der DDR wurde und durch werkseigene Weiterentwicklung, nicht zuletzt hinsichtlich einer professionellen Produktgestaltung, zu einem Markenartikel28 avancierte. Viele Objekte dieser Phase bleiben temporäre Erscheinungen, die sich typologisch, gestalterisch oder technologisch überlebten. Andere wiederum bildeten einen Übergang zu einer Massenproduktion von Konsumgütern, die dann meist von spezialisierten Betrieben der Konsumgüterindustrie übernommen wurden. Zugleich lässt sich kaum abschätzen, wie es um die Herstellung einfacher Produkte stand, denn diese sind meist ohne Herstellerangabe und lassen sich zudem kaum datieren. Immerhin kann indirekt konstatiert werden, dass hier ein anhaltender Mangel bestand, denn 1960 wurde ein Nachfolgeprogramm, die Herstellung der »1000 kleinen Dinge«, ausgerufen.29 Dies lässt im Rückschluss vermuten, dass die Kampagne zur Produktion von Massenbedarfsgütern nicht erfolgreich genug war, um die Versorgung nachhaltig zu verbessern. Im Gegensatz zum Programm der Herstellung von Massenbedarfsgütern in den 1950er Jahren war die Kampagne zu den »1000 kleinen Dingen« auf die privaten Kleinbetriebe, die Produktionsgenossenschaften des Handwerks und die sogenannte örtliche Industrie gerichtet, die außerhalb des Staatsplans standen. In einer Analyse wurde festgestellt, dass viele dieser Betriebe ihre Produktion einfacher Konsumgüter eingestellt hatten, um als Zulieferer von Komponenten praktisch Lohnproduktion für die großen Volkseigenen Betriebe zu fertigen. Nunmehr sollten die ört367

lichen Wirtschaftsräte für eine Wiederaufnahme der Produktion einfacher Konsumgüter sorgen. Insgesamt war die Produktion von Konsumgütern als Aufgabe seit 1953 politisch implementiert und setzte sich Ende der 1950er Jahre in drei Richtungen fort: als Abgabe der Verantwortlichkeit auf die lokale Ebene der Wirtschaftsplanung, als Modernisierungsdiskurs im sogenannten Chemieprogramm30 von 1959 und als sozialistische Konsumpolitik auf dem V. Parteitag der SED 1958. Diese Vektoren staatlich implementierter Wirtschaftspolitik blieben über die 1960er Jahre hinweg wirksam. Konsumgüterproduktion Auch nach dem Wechsel in der politischen Führung der DDR von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 blieb das Problem eines ausreichenden Angebots von industriellen Konsumgütern ­virulent, möglicherweise noch verstärkt durch die 1972 vorgenommene Verstaatlichung der verbliebenen privaten und »halbstaatlichen« Betriebe, die in erster Linie Konsumgüter hergestellt hatten. Auch die Zentralisierung der Industriestruktur durch die Kombinatsbildung ab den 1970er Jahren, die zu einer Eingliederung kleiner Betriebe führte, bewirkte eine Neuaushandlung der Erzeugnispalette, die sich offenbar auf die Produktion von Gebrauchsgütern auswirkte. Wiederholt wurde deshalb auf Parteitagen der SED von 1976 und 1981 die Wiederaufnahme von Programmen einer »Zusatzproduktion« von Konsumgütern durch die Kombinate gefordert. Konkretisiert wurden diese Forderungen auf der 7. Tagung des ZK der SED im November 1983, bei der die Festlegung getroffen wurde, dass Produktionsmittel herstellende Kombinate mindestens 5 Prozent ihrer Produktion für Konsumgüter aufzubringen hätten.31 Damit war das sogenannte Programm der Konsumgüterproduktion eingeleitet. Auch die Herstellung der »1000 kleinen Dinge« wurde in den 1970er Jahren wiederum politisch eingefordert und noch einmal bei der Bildung von Kombinaten in der sogenannten bezirksgeleiteten Industrie 1981 präzisiert.32 Grundsatz dieser zusätzlichen Konsumgüterproduktion sollte die Ausnutzung von Fertigungstechnologien und Produktionsabfällen sein. Die Konsumgüterproduktion wurde also eine Nebenproduktion interpretiert. Die Schwerpunkte dieser nun auch offiziell so bezeichneten Konsumgüterproduktion lagen bei den »1000 kleinen Dingen«, worunter neben einfachen Haushaltswaren nun auch Artikel für den Camping- und Freizeitbedarf sowie elektroakustische und elektrische Haushaltsgeräte subsummiert wurden. Es zeigt sich demnach eine gewisse Schwerpunktverlagerung, die auf veränderten 368

30  Katja Böhme, Andreas Ludwig: 50 Jahre

Chemiekonferenz der DDR. Metaphorik eines Versprechend und Durchdringung des Alltags, in: WerkstattGeschichte H. 50, 2009, S. 25–32. 31  Vgl. Doris Cornelsen, Andreas Koch, Horst

Lambrecht, Angela Scherzinger: Konsumgüterversorgung in der DDR und Wechselwirkungen zum innerdeutschen Handel, Berlin 1985, S. 201; eine aus Zeitungsmeldungen zusammengestellte Liste der Konsumgüter, die von der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie hergestellt wurden, in: ebd., S. 209–212. 32  Ebd., S. 195 mit Verweis auf Beschlüsse des

Ministerrats vom 26. Februar und 7. Mai 1981. Eine Übersicht der örtlich hergestellten Konsumgütergruppen findet sich in ebd., S. 198–191.

Stuhl aus Polyurethan, VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt, nach 1972, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas ­Ludwig). In den 1980er Jahren wurde mit »­Variopur« eine umfangreiche Serie von Möbeln aus Polyurethan entwickelt.

33  Claudia Erdmann: Graphitelektrode und

Zierkeramik. Konsumgüterproduktion in der DDR, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin 1999, S. 73–83; Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): abc des Ostens. 26 Objektgeschichten, Cottbus 2003, S. 44 f. 34  Cornelsen u. a., Konsum-

güterversorgung, S. 208.

Konsumbedürfnissen beruhte. Im Gegensatz zu den 1950er und 1960er Jahren, als es noch eine Vielzahl von Herstellerbetrieben für Konsumgüter gegeben hatte, wurden diese nun Teil des Produktionsprofils von Kombinaten, die dafür teilweise eigens gesonderte Produktionsabteilungen oder sogar »Konsumgüterwerke« einrichteten. Eine detaillierte Übersicht über die dort hergestellten Artikel existiert nicht, so dass hier lediglich Beispiele angeführt werden können. So stellte der VEB Elektrokohle Lichtenberg Zierkeramik her, das VEB Transformatorenwerk »Karl Liebknecht« in Berlin-Oberschöneweide elektrische Rasenmäher,33 der Bergbaubetrieb VEB Mansfeld Kombinat Handbohrmaschinen, ein Betriebsteil, in dem vor allem die beim zurückgehenden Kupferabbau frei gewordenen Arbeitskräfte Beschäftigung fanden.34 Zum Teil unternahmen die Kombinate erhebliche Investitionen, um der Forderung nach mehr Konsumgütern nachzukommen. So kaufte der VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt, eigentlich eine Raffinerie, zu Beginn der 1970er Jahre eine komplette Fabrik in Italien, um Möbel aus Kunststoff herzustellen. Der sogenannte »Z-Stuhl« ist ein Massenprodukt und ein oft zitiertes Beispiel für »DDR-Design« geworden, obwohl das Design nicht aus der DDR stammte. 369

Kleingebäckpresse Typ 102, VEB Robotron Büromaschinenwerk Sömmerda, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Das Werk war auf die Herstellung von Rechen- und Buchungsmaschinen sowie Computern spezialisiert.

Heftklammergerät »Optifix«, VEB Robotron Optima Büromaschinenwerk Erfurt, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Das Werk war wichtigster Hersteller von Büroschreibmaschinen.

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Babykostwärmer BT 031, VEB Kabelwerk Köpenick im Kombinat Kabelwerk Oberspree »Wilhelm Pieck«, 1985, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Der Betrieb produzierte hauptsächlich Eisenbahnkabel.

Schleifaufsatz für Messer und Scheren zu den Handrührgeräten RG 25 und RG 28, VEB Kabelwerk Oberspree »­Wilhelm Pieck«, Berlin-Oberschöneweide, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Foto: Andreas Ludwig). Der Betrieb war Hersteller von Industrieund Haushaltskabeln.

371

Die sogenannte Konsumgüterproduktion entwickelte sich innerhalb der Kombinatsstruktur der DDR zu einem Subsystem, bei dem weder die Anwendung vorhandener Technologien noch die Verwendung von Produktionsabfällen immer nachvollziehbar war. Hochtechnologiebetriebe wie das Kombinat Robotron produzierten einfachste Gerätschaften, Investitionsgüterbetriebe Haushaltsgeräte. Die folgenden Beispiele sind dafür exemplarisch. Die Beispiele zeigen, wie Ergebnisse der zusätzlichen Konsumgüterproduktion während der 1970er und 1980er Jahre eigentlich den Charakter landläufiger Konsumgüter angenommen hatten. Alltägliche Gebrauchsgegenstände, Möbel sowie Haushalts- und Zusatzgeräte als Ergebnis einer Sonderproduktion zu definieren verweist auf die mit der Kombinatsbildung und zentralisierten Wirtschaftsplanung verbundenen Probleme und die Kapazitätsengpässe der eigentlichen Konsumgüterindustrie. Dass es sich um Dinge aus dem Programm der Konsumgüterproduktion handelte, wurde von einigen Betrieben aktiv kommuniziert, etwa durch Hinweise auf den Verpackungen, ließ sich aber auch unschwer anhand indirekter Hinweise ablesen. Wenn Heftklammergeräte oder Gebäckpressen von einem technologisch führenden Kombinat produziert wurden, sind diese Hinweise ebenso deutlich wie öffentlich. Zusammenfassung Kehren wir noch einmal zum eingangs thematisierten Versorgungsaspekt staatlicher Politik zurück: Der historische Verlauf staatlich implementierter Produktion von Gebrauchs- und Konsumgütern hat gezeigt, dass es zu periodischen Interventionen kam, deren Hintergrund eklatante Defizite bei der Versorgung der Bevölkerung waren. Dies gilt für 1945 ebenso wie für die Jahre ab 1953/54 und die 1970er und 1980er Jahre. Nach den unmittelbaren Kriegsfolgen waren es vor allem Defizite der nach politischen Schwerpunktsetzungen gesteuerten Planwirtschaft, die solche Interventionen auslösten. So war das Programm der Produktion von Massenbedarfsgütern ab 1954 unmittelbare Folge der Fehlsteuerungen im Zuge des »Aufbaus des Sozialismus« seit 1952, das Programm der Konsumgüterproduktion die Antwort auf Fehlentwicklungen, die mit der Verstaatlichung der Privatindustrie und der zunehmend zentralisierten Kombinate zusammenhing. Gleichzeitig wird deutlich, wie sich der – antizipierte – Bedarf veränderte. Dominierten anfangs einfache Gebrauchsgüter, so wurden schon ab 1954 höherwertige Konsumgüter hergestellt, die eine Normalisierung der Lebensverhältnisse andeuteten und symbolisierten. Die Konsumgüterproduktion ab den 1970er Jahren machte zusätzliche Güter verfügbar, die nicht mehr dem Grund372

bedarf eines Versorgungsparadigmas entsprachen – dies aber bei anhaltenden Defiziten der Versorgung mit einfachsten Dingen des täglichen Bedarfs. Die hier verhandelten Waren ließen sich in einer Museumssammlung, die vornehmlich durch Schenkungen aus der Bevölkerung zusammengekommen ist, auffinden. Dies lässt zwei Schlüsse zu: Erstens handelte es sich bei den Gegenständen der verschiedenen Phasen von Zusatzproduktion offenbar um weit verbreitete Objekte, die Programme waren also wirksam. Zweitens hatten die Dinge für ihre Besitzer einen besonderen Wert, sonst wären nicht veraltete Gegenstände wie eine Boxkamera aus Bakelit oder eine dysfunktionale, nicht mehr vollständige Kaffeemühle nach Jahrzehnten an das Museum abgegeben worden. Dies beantwortet jedoch noch nicht die Frage, ob die Dinge bewahrt wurden, weil sie als Objekte einer Zusatzproduktion bekannt waren, oder ob sie als Agenten der modernen Lebensweise, als die sie in einer früheren Lebensphase gegolten haben mögen, bewahrt wurden. Wenn Letzteres zutrifft, wofür es Anhaltspunkte aus einem früheren Projekt des Dokumentationszentrums gibt,35 würde die Ausgangsthese der Versorgungspriorität staatlicher Politik durch das Argument des Fortschrittscharakters der Dinge ergänzt. Die Presseberichterstattung im Umfeld der Kampagne um die Massenbedarfsgüterproduktion der 1950er Jahre ist dazu ein Hinweis, der aber für die Konsumgüterproduktion späterer Jahre fehlt. Die Objekte der Massenbedarfs- und Konsumgüterproduktion fügen sich, so hat die Recherche ergeben, umstandslos in die Vielfalt der Sammlungsbestände ein. Dort sind sie, typologisch geordnet, in der Nachbarschaft ähnlicher Gerätschaften auffindbar. Unter der Fragestellung des historischen politischen und gesellschaftlichen Kontextes von Alltagskultur werden sie jedoch als Ergebnisse einer Politik der Bedarfsdeckung, in einigen Fällen wohl auch der Bedürfnisbefriedigung, erkennbar und sind damit immer auch politisch kontextualisierte und historisch kontextualisierbare Objekte.

35  Frau G. aus Berlin schenkt dem Museum et-

was. Interview mit Frau G, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.): Alltagskultur der DDR. Begleitbuch zur Ausstellung »Tempolinsen und P 2«, Berlin 1996, S. 103–108.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Katja Böhme ist Zeithistorikerin mit dem Schwerpunkt Kultur- und Sozialgeschichte. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt, in der Stiftung Berliner Mauer und am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zurzeit arbeitet sie als Referentin für Zeitgeschichte und Erinnerungskultur in der Senatsverwaltung für Kultur und Europa, Berlin. Linda Harteman (geb. Krayer) ist Sozialwissenschaftlerin/Sozialpädagogin (M.A.). Im Rahmen ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit den politischen und persönlichen Dimensionen des Stadtumbaus in Frankfurt (Oder) und arbeitete unter anderem im Museum der Dinge an der Ausstellung »Masse und Klasse. Gebrauchsgrafik in der DDR« mit. Anna Katharina Laschke studierte Geschichte, Deutsche Philologie und Public History an der Freien Universität Berlin. Sie ist Mitarbeiterin des Projekts »Materielle Kultur als soziales Gedächtnis einer Gesellschaft« und Doktorandin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam mit einer Arbeit über die materiellen Ausstattungen von FamiliengründerInnen in der späten DDR. Arne Lindemann ist Prähistoriker und Referent beim Museumsverband des Landes Brandenburg. In seiner im Abschluss befindlichen Doktorarbeit untersucht er die Entwicklung musealer Urgeschichtsbilder und deren politische Instrumentalisierung in der NS-Zeit und der DDR. Andreas Ludwig ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-­ Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. 1993 bis 2012 konzipierte er als Leiter des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt das Sammlungsprofil des Museums und organisierte zahlreiche Ausstellungen und Publikationen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die materielle Kultur, Alltagsgeschichte sowie Fragen der Musealisierung in der Zeitgeschichte.

Florentine Nadolni ist Kulturwissenschaftlerin und Soziologin. Sie war 2015 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Werkbundarchiv – Museum der Dinge und ist seit 2017 Leiterin des Kunstarchivs Beeskow – Archivierte Kunst aus der DDR und des Dokumentationszen­trums Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt. Susan E. Reid is Professor of Transnational and Modern European History at Durham University, UK. She has published widely on painting, architecture, visual and material culture, gender and consumption in the Soviet Union, with a focus on the Khrushchev era and Cold War. Eli Rubin is a professor of history at Western Michigan University in Kalamazoo, Michigan, USA. He is the author of Synthetic Socialism: Plastics and Dictatorship in the German Democratic Republic (2008) and Amnesiopolis: Modernity, Space, and Memory in East Germany (2016), and co-editor of the forthcoming Ecologies of Socialisms: Germany, Nature, and the Left in History, Politics, and Culture. Wolfgang Ruppert Prof. Dr., Studium an der Universität München, lehrte seit 1983 im Studiengang Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld, seit 1988 Kultur- und Politikgeschichte an der Universität der Künste Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Dinge und Künstlergeschichte. Veröffentlichungen unter anderem: »Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert« (1998, 3. Aufl. 2017), »Künstler! Kreativität zwischen Mythos, Habitus und Profession« (2018), (als Hg.) »Künstler im Nationalsozialismus. Die ›Deutsche Kunst‹, die Kunstpolitik und die Berliner Kunsthochschule« (2015). Achim Saupe ist Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und wissenschaftlicher ­Koordinator des Leibniz-Forschungsverbunds Historische Authentizität. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichtstheorie, Geschichte der Historiografie, Geschichtskultur in der Moderne, Geschichte des Selbst. Er veröffentlichte unter anderem »Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman« und über Fragen historischer Authentizität.

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Anne Schmidt ist Historikerin. Sie wurde 2004 an der Universität Bielefeld promoviert. Zwischen 2002 und 2008 arbeitete sie als Ausstellungskuratorin in Deutschland und der Schweiz; von 2008 bis 2017 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, beschäftigt. Derzeit schließt sie ihr zweites Buch ab, das die Entstehung und Entwicklung der Werbeund Kreativindustrien im 20. Jahrhundert untersucht. Sie forscht zu wissenschafts-, kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Themen, zur Geschichte der Gefühle, der Medien- und Kommunikationsgeschichte sowie zu Fragen der Public History. Jana Scholze ist Associate Professor an der Kingston University in London, wo sie den Masterstudiengang Curating Contemporary Design leitet. Nach einer langen Karriere als Kuratorin am Victoria and Albert Museum gilt ihr Forschungsinteresse derzeit kuratorischen Formaten. Joes Segal ist Historiker und Hauptkonservator des »Wende Museum of the Cold War« in Los Angeles. Seine Publikationen befassen sich mit etlichen Aspekten der Kunst- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sein letztes Buch, »Art and Politics: Between Purity and Propaganda«, erschien 2016. Anne Sudrow ist promovierte Historikerin und freie Autorin. Von 2012 bis 2018 war sie Projektleiterin im Bereich Wirtschaftsgeschichte am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung und 2016/17 Gastprofessorin für Technikgeschichte an der Technischen Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Wirtschafts-, Technik- und Designgeschichte, zuletzt »Unternehmen Sport. Die Geschichte von adidas« (2018, mit Koautoren). Annette Vowinckel studierte Geschichte und Kunstpädagogik an den Universitäten Bielefeld, Köln und Jerusalem. Sie wurde 1999 mit einer Arbeit über »Geschichtsbegriff und Historisches Denken bei Hannah Arendt« in Essen promoviert und habilitierte sich 2006 am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zur Kulturgeschichte der Renaissance. Seit 2014 leitet sie die Abteilung »Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft« am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und lehrt Geschichte an der HU Berlin.

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Irmgard Zündorf hat Geschichte, Politik und Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum studiert und an der Universität Potsdam am Fachbereich Geschichte promoviert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin unter anderem am Haus der Geschichte in Bonn und im Militärhistorischen Museum Dresden. Seit 2009 ist sie am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) zuständig für den Bereich Wissenstransfer und Hochschulkooperation. In dieser Funktion koordiniert sie den Studiengang Public History, den das ZZF zusammen mit der Freien Universität Berlin anbietet.

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